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GRÜNDEISS

DER

GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE

VON

Dr. JOHANN EDIARD ERDMAIVIV,

ORDENTLICHEM PROFESSOR DER PHILOSOPHIE AN DER UNIVERSITÄT ZD HALLE.

ERSTER BAND. PHILOSOPHIE DES ALTERTHUMS UND DES MITTELALTERS.

BERLIN 1866.

VERLAG VON WILHELM HERTZ.

(UESSERSCHE BUOHUANDLUNO.)

«»

Das Kecht der Uebersetzung wird vorbehalten.

Vorwort zum ersten Baude.

Die Eiitstehungsgeschichte dieses Grundrisses kann vielleicht dazu beitragen, dass nicht ausser den vielen verdienten auch noch unverdiente Ausstellungen an demselben gemacht werden.

Da Schleier maclier's Ausspruch: „ein Professor, der seinen Zu- hörern Sätze in die Feder dictirt, nehme eigentlich für sich das Privilegium in Anspruch, die Erfindung der Buchdruckerkunst zu ignoriren," mir zwar von Vielen vergessen zu werden, aber von Keinem widerlegt zu seyn scheint, so habe ich, wo es mir wün- schenswerth schien, dass meine Zuhörer das von mir Vorgetragene in, nicht nur von ihnen sondern von mir selbst redigirten, kur- zen Sätzen nach Hause trügen, Grundrisse zu einigen meiner Vor- lesungen drucken lassen. Für die Geschichte der Philosophie hielt ich einen solchen nicht für nöthig. Lange Zeit habe ich auf die sich wiederholende Anfrage, welches Compendium ich empfehle, da der Grundriss von Teimemann vergriifen war, der von 3J(ir~ buch voraussichtlich nie vollendet werden wird, endlich lieber iver/'s fleissige Arbeit damals noch nicht zu erwarten stand, nur Rem- hold anrathen können, so Vieles dessen Buch auch zu wünschen übrig lässt. Als ich aber sah, wie (was .den Verfasser selbst ge- wiss erschreckt hätte) Scf/n-effler's kurzer Grundriss, und zuletzt ganz elende Nachbildungen dieser flüchtigen Arbeit, die einzige Quelle wurden, aus der die studirende, besonders die aufs Exa- men hinsteuernde, Jugend ihre Kenntnisse schöpfte, da versuchte ich, einen Grundriss zu entwerfen, der meinen Zuhörern in conci- ser Form wiedergäbe, was ich vorgetragen hatte, zugleich alier

IV Vorwort zum ersten Bande.

bei jeder Partie anzeigte , wo für eine tiefer gehende Beschäftigung Rath und Belehrung zu finden sey. Für die alte Philosophie konnte, da wir die vortrefflichen Werke von Brundis und Zeller und die verdienstliche Sammlung der wichtigsten Belegstellen von Preller und Ritter besitzen, und eben so konnte für die Gnosti- ker und Kirchenväter dieser Gesichtspunkt festgehalten werden, und darum enthalten die ersten fünfzehn Bogen dieses Grundris- ses nur in sehr wenigen Partien Ausführlicheres als meine Vorle- sungen zu geben pflegen. Hätte ich mein Buch in dieser selben Weise zu Ende führen können , so wäre wohl zu dem Titel „Grund- riss" die nähere Bestimmung „für Vorlesungen" hinzugekommen, und es wäre anstatt in zwei, in einem einzigen Bande erschienen. Dass dies aber nicht möglich seyn werde, ward mir sogleich klar, als ich zu der Bearbeitung der Scholastiker kam. So grosse Ach- tung ich vor den Arbeiten Tiedemcmn's unter den Aelteren , //. Rit- fer's und Haurenu's unter den Neueren habe, so viel Dank ich ferner den Specialarbeiten über einzelne Scholastiker schuldig bin, mit so anerkennender Bewunderung endlich ich vor der Riesen- arbeit stehe , der sich Pranil hinsichtlich der mittelalterlichen Lo- gik unterzogen hat, so fand ich doch bei den Philosophen seit dem neunten Jahrhundert so Vieles, wovon mir die bisherigen Darstel- lungen ihrer Lehre nichts sagten, ich sah mich ferner so oft ge- nöthigt, von der hergebrachten Anordnung und Zusammenstellung abzugehn, dass, namentlich weil ich mich jeder Polemik in die- sem Buche enthalten wollte, zur Begründung meiner Ansicht eine grössere Ausführlichkeit nothwendig ward. Das Aufnehmen von Citaten in den Text war ohnedies geboten, da wir eine Chresto- mathie mittelalterlicher Philosopheme , wie sie Preller und Ritter für das Alterthum gegeben haben , nicht besitzen. Jener beschrän- kende Zusatz „für Vorlesungen" musste wegfallen, denn nur einen sehr abgekürzten Auszug aus dem , was die letzten vier und zwan- zig Bogen dieses Bandes enthalten , kann ich in die wenigen Wochen zusanmiendrängen, welche in meinen Vorlesungen dem Mittelalter ge- widmet sind. Durch diesen verschiedenen Charakter, welchen da- durch das erste und den die beiden anderen Drittheile dieses Bandes bekamen, ist es gekommen, was manchem Leser auffallen möchte,

Vorwort zum ersten Baude. V

dass bei mir die Philosopliic des Mittelalters mehr als das Dop- pelte des Raumes einnimmt, welcher dem Alterthimi gewidmet ward. Wer mir dies als ein Missverhältniss zum Vorwurf machen, und mich als auf nachahmungswerthe Muster auf so manche neuere Darstellungen der Geschichte der Philosophie hinweisen wollte, der möge erstlich bedenken, dass, wo Brandis. ZeUer u. A. mich von der Ptichtigkeit ihrer Behauptungen überzeugt hatten, ich natür- lich ihre Begründung nicht mit hereinzunehmen brauchte , dagegen aber jede meiner Behauptungen, die mit hergebrachten Meinungen streitet, begründet werden musste. Zweitens aber möchte ich bemer- ken , dass mich das Beispiel derer nicht zur Nachahmung reizt, die damit anfangen, zu behaupten , das Mittelalter habe keinen gesunden Gedanken zu Tage gefördert, und dann sich um dasselbe nicht weiter kümmern, es sey denn dass sie sich von Teimemaiin ir- gend ein Curiosum erzählen lassen, um doch mitsprechen zu kön- nen. Es mag eine sehr veraltete Ansicht seyn, aber ich halte es für besser , zuerst die Lehren dieser Mcänner zu studiren , und dann zu fragen, ob sie, die uns unter Anderem unsere ganze philoso- phische Terminologie geschenkt haben, der Dogmatik gar nicht einmal zu gedenken, wirklich für gar Nichts zu rechnen sind? Ich weiss sehr gut, dass, was wir selbst herausgebracht, und nicht von einem Anderen uns haben sagen lassen, uns eben deswegen wich- tiger zu erscheinen pflegt als Anderen, ja vielleicht als es ist; und so will ich nicht gegen den streiten, welcher mir etwa vorwerfen wollte, dass, weil ich selbst mich so lange mit dem Uühnundus Lullns habe abquälen müssen, ich nun meinem Leser mit einer so ausführlichen Darstellung von dessen grosser Kunst zur Last falle. Aber für ganz unnütz werde ich diese Aus- führlichkeit nur dann erklären , wenn der Tadler mir sagt , er habe (glücklicher als ich) aus den bisherigen Darstellungen der Lull'- schen Lehre sehr gut entnehmen können, wie es gekommen sey, dass die Zahl der Lullisten einmal fast der der Thomisten das Gleichgewicht hielt, dass Giordano Bruno für diesen Mann sich begeisterte, dass Leibiütz ihn so hoch stellte und ihm so Vieles entlehnte u. s. w. Was diese Auseinandersetzung soll, ist dies: dem Tadel der nicht gleichen Ausführlichkeit will sie als Ent-

VI Vorwort zum ersten Bande.

schuldiguiig dies entgegen setzen, dass, wo ich nur sagte, was auch anderswo zu finden ist, ich kurz seyn durfte, dort aber, wo ich von dem abweiche, was Andere sagen, ausführlich seyn niusste.

Der zweite und letzte Band dieses Grundrisses, der die Ge- schichte der Philosophie von Descartes bis auf unsere Tage be- fasst und ein vollständiges Namenregister enthält, ist unter der Presse, und der Druck desselben wird, so viel an mir ist, weder eine Unterbrechung noch eine Verzögerung erleiden,

Halle am 13'^" Üctober 1865.

Erdmauii.

f II h a 1 1

des e r s l e D Baude s.

Seit.-

Eiiileitiiiig §. 1 14 . . ^

Erster Theil.

PIiiloso|»Iiic des Altertliums §. 15-115 . n

Einleitung §.15 ^^

Quellen und Bearbeitungen §. 16 12

Erste Periode §.18 48 1^

I. Die reinen Physiologen §.21 29 l-'J

A. Thaies §.22 ^^

B. Ana.\imandros §.24 ^'

C. Anaximencs §26 ^^

D. Diogenes ApoUoniates §.28 21

II. Die reinen Metaphysiker §.30—41 23

A. Die Pythagoreer §.31 33 24

B. Die Eleaten §.34 41 34

a. Xenophanes §.34 34

b. Parmenides §.36 36

c. Melissos §.38 38

d. Zenon §.40 39

III. Die metaphysischen Phy^iolugen §-42 48 . . .' 42

A. Herakleitos § 43 42

B. Empedokles §. 45 . ., 48

C. Die Atomiker §47 52

Zweite Periode §. 49—91 5G

I. Anaxagoras §.52 ^^

IL Die Sophisten §.54 62 62

III. Sokrates §.63 66 69

IV. Die sokratischen Schulen §.67 73 76

V. Plato §. 74—82. . . . ' 84

VI. Aristoteles §. 83 91 . 115

Dritte Periode §. 92—115 157

I. Die Dogmatiker §.95 98 159

II. Die Skeptiker §.99 104 . 109

III Die Synkretisten §.105—114 175

Schlussbemerkung §. 115 1^1

VIII Inhalt.

Seite

Zweiter Theil.

Philosophie des Mittelalters §. hg -257 . 195

Einleitung §.116 120 195

Erste Periode §.121 148 198

I. Die Gnostiker §. 122—125 199

IL Die Neuplatoniker §.126—130 203

III. Die Kirchenväter §.131—148 219

Zweite Periode §.148 225 245

I, Jugendperiode der Scholastik §. 152 177 247

A. Die Scholastik als Religions- und Vernunftlehre §. 154 102 . 248

B. Die Scholastik als blosse Vernunftlehre §. 163-164 .... 277

C. Die Scholastik als blosse Religionslehre §. 165 173 .... 281 II. Glanzperiode der Scholastik §.178 209 304

A. Muselmänner und Juden §. 181 190 307

B. Christliche Aristoteliker §. 191 208 319

Alexander §.195 323

Bonaventura §. 197 329

Albert §.199 202 336

Thomas und Thomisten §. 203. 204 357

Lullus §.206 377

Dante §. 208 397

III. Verfallperiode der Scholastik §. 210 225 403

Roger Bacon §.212 405

Duns Scotus §.214 413

Occam §.216 428

Pierre d'Ailly §.219 442

Gerson §. 220 446

Raymund von Sabunde §. 222 450

Nicolaus von Cusa §. 224 457

Dritte Periode §.226-257 466

I. Die Philosophie als Gottesweisheit §.229 234 470

A. Die speculative Mystik §. 230 470

B. Die praktische Mystik §.231 477

C. Die theosophische Mystik §. 234 486

II. Die Philosophie als Weltweisheit §. 235 256 502

A. Die Renaissance §.236 239 502

B. Die Naturphilosophen §. 240—250 515

Paracelsus §. 241 515

Cardanus §.242 526

Telesius §.243 533

Patritius §.244 537

Campanella §.246 542

Bruno §.247 553

Bacon §.249 569

C. Rechtsphilosophen §.251 256 584

a. Die kirchlichen Naturrechtslehrer §. 252 585

b. Die widerkirchliche Politik §.253 589

c. Die kirchlich indifferente Politik §.254 593

d. Die naturalistische Rechtsphilosophie §. 256 606

Schlussbemerkung §.257 620

Einleitung.

§• 1-

Gäbe es keine andere Beliandlungsweise der Geschichte der Phi- losophie, als die bloss gelehrte, der alle Systeme gleich wahr weil blosse Meinungen sind, oder die skeptische, die in allen gleiche Irr- thümer sieht, oder endlich die eklektische, für die in allen sich Stücke der Wahrheit finden, so hätten Die Recht, welche im Interesse für die Philosophie vor der Beschäftigung mit ihrer Geschichte entweder überhaupt oder doch den Anfänger warnen. Ob es eine bessere gibt und welches die rechte ist, kann nur entschieden werden durch eine Erörterung des Begrifies der Geschichte der Philosophie.

§.2.

Die Philosophie entsteht, indem bei dem Thatbestande des Da- seyns (der Welt) nicht stehen geblieben, sondern zum Erkennen seiner Gründe, endlich seines absoluten Grundes , d. h. seiner Noth- wendigkeit oder Yernünftigkeit, fortgegangen wird. Darum aber ist sie nicht ein Werk bloss des einzelnen Denkers ; vielmehr sind in ihr die theoretischen und praktischen Ueberzeugungen der Menschheit eben so niedergelegt, wie in den Maximen und Grundsätzen die Le- bensweisheit des Einzelnen, in Sprüchwörtern und Gesetzen die der Völker. Wie ein Volk seine Weisheit und seinen Willen durch den Mund seiner Weisen und Gesetzgeber, so spricht der Weltgeist die seinige, oder die Welt die ihrige durch die Philosophen aus. Sagt man daher anstatt Philosophie Welt Weisheit, so steht in diesem Worte Welt im genitho snbjecli und ohjecti zugleich.

§.3.

Wie unbeschadet seiner Einheit das Individuum durch die ver- schiedenen Lebensalter hindurchgeht, so ist der Weltgeist nachein- ander der Geist der verschiedenen Zeiten und Jahrhunderte. Wird

Erdmann, Gesch. d. Philos. 1. i

Z Einleituug §§. 4 6.

mit derselben Metonymie, die anstatt Weltgeist Welt sagen lässt, anstatt Zeitgeister Zeiten , anstatt Geist des Jahrhunderts Jahrhun- dert, gesagt, so hat jede Zeit ihre Weisheit, jedes Jahrhundert seine Philosophie. Die, welche sie zuerst aussprechen, sind die Philosophen dieser verschiedenen Zeiten. Sie sind die eigentlichen Zeitverstän- digen, und die Philosophie einer Zeit, als ihr Selbstverständniss, formulirt nur was in dieser Zeit unbewusst gelebt, instinctartig ge- wirkt hat, spricht ihr Geheimniss aus.

§• 4.

Die Abhängigkeit von einer bestinnnten Zeit, in welche jede Philosophie dadurch kommt, dass sie nur für sie die letzte Wahr- heit ist, thut ihrem absoluten Charakter eben so wenig Abbruch, als die Pflicht aufliört unbedingt zu seyn , weil den verschiedenen Le- bensaltern Verschiedenes Pflicht ist. Dass die Philosophie, als Frucht, der Blüthe einer Zeit stets folgt, hat sie oft als Grund des Verder- bens erscheinen lassen, das sie doch nie hervorruft immer nur ver- räth. Namentlich wird alle unbefangene Pietät nicht durch sie erst vernichtet, sondern hat aufgehört, ehe philosophische Regungen sich zeigen können.

§. 5.

Wie der Weltgeist durch die verschiedenen Zeitgeister hindurch- geht, worin die Weltgeschichte besteht, so sein Bewusstseyn, die Weltweisheit, durch die verschiedenen Zeitbewusstseyn hindurch, worin eben die Geschichte der Philosophie besteht. Dort wie hier geht Nichts verloren, vielmehr wird, was die eine Zeit und Philo- sophie zu ihrem Resultate hat, für die folgende StoÖ" und Aus- gangspunkt. Darum ist der Unterschied, ja der Widerstreit, der philosophischen Systeme kein Beweis dagegen , dass in allen Philo- sophien sich nur die eine Philosophie entwickle, sondern spricht ge- rade für diese Behauptung.

§. 6.

Jedes philosophische System ist ein Resultat des, oder der, vor ihm aufgestellten, und enthält den Keim zu den ihm folgenden. Die von, in der Regel nur scheinbaren, Autodidakten hergenommenen Ausnahmen , so we die Thatsache , dass in der Regel gegen solche Kindschaft Einspruch gethan wird, stossen, da sie gar nicht directe Schülerschaft zu seyn braucht, die erste Behauptung nicht um. Eben so wenig wird die zAveite dadurch beseitigt, dass kein Philo- soph der Vater des weiter gehenden Systems seyn will. Dies ist we- gen der Beschränktheit , ohne die nichts Grosses geleistet und also auch kein System aufgestellt wird, nothwendig, und wiederholt sich

Einleitung §§. 7 9. 3

deswegen überall. Es beweist aber Nichts, weil die eigentliche und volle Bedeutung eines Systems nicht von dem , der es gründet , son- dern erst von der Nachwelt richtig gewürdigt werden kann, die auch darin auf einem höheren Standpunkt steht, als er.

§. 7.

Die Geschichte der Philosophie kann richtig , d. h. als das was sie ist, nur dargestellt werden mit Hülfe der Philosophie, da nur diese in Stand setzt in der Reihe der Systeme nicht planlosen Wech- sel, sondern Fortschritt, d. h. Nothwendigkeit nachzuweisen, und da weiter ohne ein Bewusstseyn über den Gang des Menschengei- stes es nicht möglich ist zu zeigen, wie er in seiner Weisheit gegan- gen ist, Nachweis der Nothwendigkeit aber und solches Bewusstseyn nach §. 2 Philosophie war.

§. 8.

Eine philosophische Behandlung der Geschichte der Philosophie interessirt sich, gleich der bloss gelehrten, für die feinsten Unter- schiede der Systeme, erkennt mit der skeptischen an, dass sie sich bekämpfen, und gibt dem Eklektiker darin Recht, dass in ihnen al- len Wahrheit enthalten ist. Indem sie aber nicht, mit der ersten, den einen Faden der wachsenden Erkenntniss aus den Augen ver- liert, nicht mit der zweiten das Resultat als gleich Null ansieht, nicht mit dem Dritten in jedem Systeme nur Stücke der entwickelten Wahrheit, sondern in jedem die ganze Wahrheit nur unentwickelt anerkennt, verleitet sie weder wie die erste dazu, Philosopheme für blosse Einfälle und Meinungen zu halten , noch erschüttert sie vde die zweite das zum Philosophiren nothwendige Vertrauen zur Ver- nunft, noch endhch macht sie gleichgültig gegen die Abhängigkeit von einem Princip, d. h. gegen die systematische Form, wie die eklektische Behandlung.

§.9.

Nicht nur dass sie jene Gefahren für das Philosophiren nicht hat, sondern indem eine solche Darstellung über die Geschichte der Philosophie philosophiren lehrt, ist sie nicht ein Ableiten vom Phi- losophiren sondern eine praktische Anleitung dazu. Ja, wo das In- teresse für Philosophie dem für ihre Geschichte gewichen ist, und namentlich eine Scheu vor streng philosoplüschen, z. B. metaphysi- schen Untersuchungen sich zeigt, da ist vielleicht eine philosophi- sche Darstellung der Geschichte der Philosophie das beste Mittel den, der nur erzählt haben will, zum (Mit -) Philosophiren zu brin- gen, und dem welcher die Wichtigkeit metaphysischer Bestimmun- gen bezweifelt, zu zeigen wie oft ganz verschiedene Welt- und Le-

1*

4 Einleitung §§. 10. 11.

bensanschauungen nur an dem Unterscliiede zweier Kategorien hin- gen. Unter Umständen kann die Gescliichte der Philosophie, die im Systeme der Wissenschaft den Schluss bildet, das seyn, worüber zu philosophiren dem, der erst damit den Anfang macht, am Meisten anzurathen ist.

§. 10. Da ein jedes Philosophiren ein bestimmtes seyn muss, und da eine Entwicklung nicht als vernünftig dargestellt werden kann, wenn sie nicht zu einem Ziele hingeführt wird, so muss eine jede philoso- phische Darstellung der Geschichte der Philosophie die Farbe desje- nigen Systemes tragen, welches der Darsteller als den Schluss der bisherigen Entwicklung ansieht. Das Gegentheil unter dem Namen der Unbefangenheit oder Unparteilichkeit fordern heisst Widersinni- ges anmuthen. Die Gerechtigkeit , die allerdings von einem jeden Historiker gefordert werden muss, ist Pflicht auch des philosophi- renden Historikers. Besteht sie bei jenem darin, dass er erzählt, nicht wie er selbst sondern wie die Geschichte, über diese oder jene Erscheinung geurtheilt hat, so hat dieser zugleich dieses Urtheil als vernünftig nachzuweisen d. h. es zu rechtfertigen. Darin allein be- steht die Kritik die er üben nicht nur darf sondern soll.

§. 11. Sowol dass die Geschichte ein philosophisches System auftre- ten als dass sie es durch ein weitergehendes ablösen Hess, muss die philosophische Kritik, in welcher deshalb ein positives und negati- ves Moment zu unterscheiden ist, als nothwendig darthun. Diese Nothwendigkeit aber ist eine zwiefache: das Auftreten und Ver- drängtwerden eines Systems hat welthistorische Nothwendigkeit, in- dem jenes durch den Charakter der Zeit, deren Verständniss das System war, bedingt ist, dieses wieder dadurch dass die Zeit eine andere wurde (vgl. §. 4). Von beiden wird wieder die philosophie- historische Nothwendigkeit dargethan, wenn in dem Systeme die Conclusion nachgewiesen wird, zu der die früheren die Prämissen bilden, und wenn andrerseits gezeigt wird, dass weiter gegangen werden musste, um nicht auf halbem Wege stehen zu bleiben. Nur dies, dass ein System nicht bis zu dem fortging, was unmittelbar aus ihm folgt , darf als sein Mangel bezeichnet werden , nicht aber darf zum Maassstab seiner Beurtheiluug ein System genommen wer- den, das durch Zwischenstufen von ihm getrennt ist. Wie die Ge- schichte den Cartesianismus durch den Spinozismus, nicht aber durch die Kantische Lehre corrigirt hat, so darf auch der philoso- phische Kritiker den Descartes nicht an Kunf, sondern nur an Spl-

Einleitung §. 12. LiteiaUir §.13. 5

noza messen. Die Befolgimg dieser Regel sichert einen philosophi- schen Darsteller der Geschichte der Philosophie davor, beschrcänkter Weise sich in ein System zu veiTennen, ohne dass ihm dadurch zu- gemuthet würde das seinige zu verleugnen.

§. 12. So\Yol die Epochen der Geschichte der Philosophie , d. h. die Zeitpunkte, an denen ein neues Princip geltend gemacht ^Yird, als auch die von ihnen beherrschten Perioden, d. h. die Zeiträimie, wel- che dazu nöthig sind, jenes Neue von seinem revolutionären und despotischen Charakter zu befreien, gehen den Epochen und Perio- den der Weltgeschichte parallel, so aber dass sie ihnen der Zeit nach, weiter oder näher, nach-, niemals vorgehen. Die Epoche machenden Systeme können für das Verständniss der Vergangenheit keinen Sinn haben, desto mehr werden es die eine Periode abschhes- senden. Anhänger der ersteren werden daher, wenn sie die Ge- schichte der Philosophie behandeln , eher als die der letzteren Ge- fahr laufen, die historische Gerechtigkeit zu verleugnen.

§• 13. Literatur. Bis zum Ende des achtzehnten Jahrhimderts suchen alle Dar- stellungen der Geschichte der Philosophie nur das gelehrte i), skep- tische ^) oder eklektische '^) Interesse zu befriedigen. Von da an gibt es keine einzige , welche nicht mehr oder minder philosophisch ge- färbt wäre. Nicht dies ist an den Meisten derselben zu tadeln, dass der Darsteller sein eigenes System als den Schluss der bisherigen Entwicklung ansieht , sondern dass sich dasselbe fortwährend laut macht, ehe die Darstellung zum Schluss gekommen ist. Dies gilt schon von dem Ersten , welcher die Geschichte der Philosophie un- ter einen philosophischen Gesichtspunkt stellt, dem Franzosen De- yerando^). Eben so wenig sind die Deutschen, die seinem Bei- spiele folgten, davon frei zu sprechen. Kant, der selbst nur Winke gegeben hatte (in der Kritik der reinen Vernunft) wie die Geschichte der Philosophie philosophisch zu behandeln sey, hinterhess die Aus- führung seines Gedankens seinen Schülern. Sein System war aber zu sehr ein Epoche machendes , als dass es zu richtiger Würdigung der Vergangenheit hätte führen können. Daher bei den Historikern der Kantischen Schule das, oben §.11 getadelte, Vergleichen auch der ältesten Systeme mit liChren die erst im achtzehnten Jahrhun- dert aufgestellt werden konnten, ein Verfahren das die sonst so werthvollen Arbeiten von Tennemann ^) so sehr entstellt. Fir/fte's Lehre konnte weder lange herrschen , noch zu historischen Studien

6 Einleitung.

anspornen ; so hat sie für die Behandlung der Geschichte höchstens dies Resultat gehabt, dass noch mehr als bei Kant der Kanon sich feststellte, dass der Fortschritt in der Ausgleichung von einseitigen Gegensätzen bestehe. Viel nachhaltiger war die Wirkung der Schcl- lingschen Philosophie ^) wobei nur zu bedauern war, dass ein fertig an den Stoff gebrachtes Schema die individuellen Unterschiede ver- wischen Hess. Die eigenthümlichen Ansichten über die Geschichte (namentlich der alten) Philosophie, die Schleiermacher in seinen Vorlesungen entwickelte, waren, als sie nach seinem Tode veröffent- licht wurden^), dem lesenden Publicum durch Andere^) längst be- kannt. Etwas war dies auch der Fall hinsichtlich HegcVs, mit des- sen Betrachtungsweise einzelner Partien der Geschichte der Philo- sophie, oder auch ihres Ganges Schüler^) und Leser seiner Schrif- ten^**) die Welt viel früher bekannt machten, als derselben seine Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie vorgelegt wur- den ^^). Die meisten der, aus IlegeVs Schule hervorgegangenen, historischen Arbeiten behandeln nur einzelne Zeiträume, doch ver- suchen einige ^2) auch die Geschichte der Philosophie im Ganzen darzustellen. Ihnen schliessen sich an die Ueberblicke die von an- deren, doch aber verwandten Standpunkten aus versucht wurden ^^^ Der speculative Eklekticismus hat in Frankreich i*), derselbe in Deutschland hat bei uns, das Interesse für historische Arbeiten sehr gesteigert, und wir danken ihm Darstellungen der Entwicklung theils der ganzen Philosophie ^ ^) theils einzelner philosophischer Proble- me ^ß), in welchen die Nachwirkung Schellingscher und Hegelscher Ideen sichtbar ist. Selbst diejenigen haben sich ihnen nicht ganz entziehen können, welche in ihren Darstellungen sich auf einen ganz anderen, dem Kantischen mehr verwandten, Standpunkt stellen ^^), oder gegen jede philosophische Behandlung der Geschichte als eine Construction a priori polemisiren i^).

1) Stanley History of philosophy 1655 erschien als: Historia philosophica au- ctore Thoma Stanlejo. Lips. 1712. II Voll. kl.-Fol.

2) P. Bayle Dictionnaire historique et critique. 1695—97 II Voll. 1702 U VoU. 1740 IV Voll. Fol. Weniger entschieden zeigt die skeptische Tendenz: Dietrich Tiedemann Geist der speculat. Philosophie. Marburg 1791 97. 6 Bde. 8.

3) Jo. Jac. Brucker Historia critica philosophiae a mundi incunahulis. Lips. 1766. 67. VI VoU 4. GleichfaUs eklektisch ist: Joh. Gottl. Buhle Lehrbuch der Geschichte der Philosophie und kritische Literatur derselben. Götting. 1796 1804, 8 Thle. 8.

4) J. M. Degerando Histoire comparee de l'histoire de la philosophie. Paris 1804. III Voll. 2. Aufl. 1822. IV VoU. Deutsch als: Vergleichende Geschichte der Systeme der Philosophie mit Kücksicht auf die Grundsätze der menschlichen Erkennt-

Literatur §. 13. Eintheilung §. 14. 7

niss, übers, von W. G. Tennemann. Marburg 1806. 2 Bde. 8. (Zum Maassstab der Beurtheiluiig wird der englisch-französische Empirismus und Sensualismus genommen.)

5) W. G. Tennemann Geschichte der Philosophie. Leipzig 1794 ff. 12 Bde. (un- vollendet). Dess. Grundriss der Geschichte der Pliilosophie. 1812. 5. Aufl. v. Wendt. 1829. (Ausgezeichnet durch die reiche Literatur. Oft übersetzt.)

6) Joh. Gottl. Stech die Geschichte der Philosophie. 1. Theil. Riga 1805. Fr. Ast Grundi'iss einer Geschichte der Philosophie. Landsh. 1807. 2. Aufl. 1825. Thadä Anselm Bixner Handbuch der Geschichte der Philosophie. 3 Bde. Sulzb. 1822 ff. Als Supplement gab V. Phil. Guwpoitch im J. 1850 einen vierten Band zu der 2. Aufl.

7) Fr. Schleiermacher Geschichte der Philosopliie , lierausg. von H. Bitter. Ber- lin 1839. (Schleiermacher' s WW. 3. Abth. 4. Bds. 1. Theil.)

8) u. A. in H. Bitter's Geschichte der ionischen Philosophie. Berlin 1821.

9) So Bötscher in s. Aristophanes und sein Zeitalter 1827, wo Hegel' s Ansich- ten über den Sokrates entwickelt sind.

10) Windischmann kritische Betrachtungen über die Schicksale der Philosophie in der neueren Zeit u. s. w. Frkf. a. M. 1825. Dess. Die Philosophie im Fortgange der Weltgeschichte. Bonn 1827 ft'. Erster Theil, die Grundlagen der Philosophie im Morgenlande. Erstes Buch : Sina. Zweites Buch : Indien.

11) G. W. Hegel' s Vorlesungen über Geschichte der Philosophie, herausg. von Michelet (WW. Bd. 13—15). Berlin 1833.

12) G. O. Marbach Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (Abth. I Alter- thum, Abth. U Mittelalter, Abth. III fehlt). Lpz. 1838. 41. A. Schtvegler, Ge- schichte der Philosophie im Umriss. 3. Aufl. 1857. 4. Aufl. 1864.

13) C7i7: J. Braniss , Uebersicht des Entwickelungsganges der Philosophie in der alten und mittleren Zeit. Breslau 1842.

14) V. Cousin Cours de philosophie (Introduction). Paris 1828. Dess. Cours de l'histoire de philosophie I u. IL Paris 1829.

15) H. C. W. Sigicart Geschichte der Philosophie vom allgemeinen wissenschaft- lichen und geschichtlichen Standpunkt. Stuttg. u. Tüb. 1844. 3 Bde.

16) A. Trendelenburg Geschichte der Kategorienlehre. Berl. 1846.

17) E. Reinhold Handbuch der allgemeinen Geschichte der Philosophie für alle wissenschaftlich Gebildete. Gotha 1828—30. 3 Bde. Dess. Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. 1837. (3. Aufl. in 3 Bdn.) Jak. Fr. Fnes die Geschichte der Philosophie dargestellt nach den Fortschritten ihrer Entwicklung. Halle 1837. 40. 2 Bde.

18) Heinr. Bitter Geschichte der Philosophie. Hamburg 1829 ff. 12 Bände. (Bd. 1 4 alte Philosophie; Bd. 5 12 christliche Philosophie und zwar 5 und 6 pa- tristische, 7 und 8 scholastische, 9—12 Philosophie der neueren Zeit. Das Werk reicht nur bis zu Kant excl. ; die weitere Darstellung gehörte nicht in den Plan des Verfassers.) Fr. Ueberveg Grundriss der Geschichte der Philosophie von Tliales bis auf die Gegenwart. 1. Thl. Berlin 1863. 2. ThI. 1. u. 2. Abth. 1864. (3. Abth. Neuere Philosophie fehlt.)

§. 14.

Eintheilung.

Wie die Weltgeschichte durch den Eintritt des Christenthums

und die Kirchenreformation in drei Hauptperioden zerfällt, gerade

so sondern sich in der Geschichte der Philosophie die philosophi-

8 Einleitung. Eintheilung §. 14.

sehen Systeme, welche noch ganz ohne Einfliiss christlicher Ideen entstanden sind, und wieder die, welche unter dem Einfluss der durch die Reformation erwachten Ideen sich entwickelten , von den zwischen beiden liegenden ab, weil von diesen keines von beiden ge- sagt werden kann. Wir bezeichnen diese drei Hauptperioden als die des Alterthums, des Mittelalters und der Neuzeit.

ERSTER THEIL.

PHILOSOrHIE DES ALTEETHÜMS.

Einleitung.

§• 15. Dazu , sein eignes Wesen denkend zu erfassen , kann der Men- schengeist erst dort versucht und fähig seyn , wo er sich seiner spe- eifischen Würde bewusst ist. Da er dazu im Oriente, ausgenom- men bei den Juden, nicht kommt, so können weder die Regehi des Anstandes und der äusseren Gesittung, welche die Chinesischen Weisen aufgestellt haben ^), noch die pantheistischen und atheisti- schen Lehren zu denen der indische Geist in der Mimansa und durch Kapila in der Sankhya gelangt, oder die Verstandesübungen zu denen er in der Nyaja sich erhebt ^j, noch endhch die verworrenen halb rehgiösen und halb physikalischen Lehren der alten Perser 3) und Aegyptens-*) uns dahin bringen von einer vorhellenischen Philoso- phie , oder gar von vorgriechischen Systemen zu sprechen. Da erst der Grieche das yvä9i ßiavröv veniimmt, so heisst philosophiren, oder das Wesen des Menschengeistes begi-eifeu wollen , occidenta- lisch, mindestens gi'iechisch, denken, und die Geschichte der Phi- losophie beginnt mit der Philosophie der Griechen.

1) Deu idealisireuden Lobpreisungen der chinesischen Weisheit bei Windisch- mann, Schmidt u. A. ist mit Erfolg namentlich Stuhr entgegen getreten.

2) Die Berichte Colebmkc's , Balentyne's , Böeis , Max Müller' s geben die Daten zu einer Beurtheilung, welche die E.xtreme der früheren Vergötterung und der späte- ren Verachtung vermeidet.

3) Die Träumereien Rohde's u. A. sind längst vergessen , der spätere Urspnmg vieler Lehren des Zend-Avesta erwiesen.

4) Aristoteles, der die Aegj'ptischen Priester als die ersten Philosophen nennt, weiss doch kein Philosophem derselben anzuführen. Roth der in neuerer Zeit mehr als alle Uebrigen auf den Aegyptischen Ursprung aller Philosophie pocht, nemit doch die Lehre der Aegypter stets Glaubenslehre , und spricht dem Bierekydes , der ihr am Nächsten geblieben sey, selbst deft wissenschaftlichen Werth ab.

§• 16. Quellen und Bearbeitungen der Geschichte griechi- scher Philosophie. Da die Schriften der älteren Philosophen Griechenlands ganz oder dem grösseren Theile nach verloren gegangen sind, so hat man aus den Berichten Solcher zu schöpfen, denen sie noch vorlagen.

12 Alte Philosophie. Einleitung.

Trotz dem dass historische Arbeiten über einzelne Philosophen schon vor Sokrates verfasst worden sind , nach Sokrates aber keine ein- zige Schule existirt hat, die nicht mehrere dergleichen Arbeiten ge- liefert hätte , und kaum eine , aus der nicht Abhandlungen über die verschiedenen Richtungen in der Philosophie hervorgegangen wären, so hilft uns dies doch wenig, da die meisten der Werke, deren Ver- fasser und Titel der eiserne Fleiss eines Jonsins ^) und Fabricius ^) zusammengestellt hat, verloren gegangen sind. Für uns sind die ältesten Quellen : Plato , Aristoteles , Cicero, Seneca, die alle nur beiläufig , um die eigenen Ansichten zu entwickeln , die Anderer ci- tiren , und bei denen darum kaum auf Treue gerechnet geschweige denn auf Vollständigkeit Anspruch gemacht werden darf. Wäre die Schrift des Plutarch über die Meinungen der Philosophen 3) wirklich acht , so wäre sie jedenfalls die älteste Darstellung der verschiede- nen Systeme die wir haben. Jetzt ist erwiesen, dass sie nur ein Auszug ist , der aus der ächten Schrift des Plutarch gemacht wor- den ist, die noch Stohaios '^) vor sich hatte und excerpirte. So kön- nen die ziemlich gleichzeitig erschienenen Werke des Sextos Empei- rikos^J und des Diogenes *^) von Laerte vielleicht älter sein als je- nes Pseudoplutarchische Buch. Sie sind unsere wichtigsten Quellen, obgleich beide, nur aus entgegengesetzten Gründen, mit Vorsicht zu gebrauchen sind. Die, einem Zeitgenossen von Beiden, dem Arzte Galemis, zugeschriebene philosophische Geschichte ist nicht sein Werk, enthält aber manche brauchbare Notiz. Wichtig sind auch, weil sie manches jetzt Verlorene noch besassen, die späteren Commentatoren des Aristoteles^), so wie einige unter den Kirchen- vätern*), Die Zusammenstellung der wichtigsten Sätze aus den Schriften der Genannten , die zu verschiedenen Zeiten gemacht wor- den sind ^), sind die verdiensthchsten Vorarbeiten zu den Bearbei- tungen der griechischen Philosophie. Bei diesen selbst, ist nament- lich in Deutschland der Fortschritt so schnell gewesen, dass Arbei- ten die vor einigen Jahrzehenden mit Recht gerühmt wurden ^^-^^ heute vergessen sind, weil so viel bessere i^) seitdem erschienen.

1) Joannis Jonsii Uolsati de scriptoribus historiae philosophicae Libri II. Francof. MDCLIX. *

2) J. Alb. Fabricü Bibliotheca graeca Hainb. 1705 seq. XIV. 4.

3) nXouTapx,ou TC£p\ Ttöv apeoy.ovTwv tol? cpiXoao<pot; (de placitis philosojjhorum) ed. Buddaeus Basil. 1531. 4. (Ich eitire nach ed. C'orsinus Florentiae 1750. 4.)

4) Icoavvou 2T(oßa{ou ^xXoywv cpuatxcjv StaXexTtxwv xal iQäDcü'j ß'.ßXia öuo. (Jo. Stob, eclogarum physicarum et ethicanim libri duo.) (Ich eitire nach ed. Heereu 1792 1801 3 Bde.)

5) Ss^Toij 'E[jL7i£tp txoO TCpö? Maäv5(J.aTtxoijs ßtßXJa evösxa {Sext. Emp. adv. Mathematic. Libri XI. ed. Fabricius Lips. 1711 Fol. editio emendatior Lips. 1842. 8.

Quellen §. 16. Eintheilung §. 17. 13

6) AioYEvou; AaepTiou Ttepl ß'.tSv xai yvojjlwv y.al d-:zo(^izyy.dT(ii'i tcjv ev 91X050- 91a £uSo>c',,u.r,aavT«v ßtßXta Si'xa erschien zuerst 1475 in Eom Fol. dann 1570 hei Henr. Stephamis. Dessen Commeutare, so wie die des Casaubonus und Menagius, nahm Pear- son in seine Ausgabe auf: London 1664. Fol. Diese ist, fehlerhaft von Meibom Amst. 1692. 2 Bde. 4., viel besser von Hübner "L^z. 1828 2 Bde. Text, 2 Bde. Com- mentar, wieder abgedruckt. Ich citire nach ed. Gahr. Cobet Paris. 1850 bei Didot.

7) Vor Allen Simiüicius , welcher die verloren gegangene historische Schrift des Porphyrius noch vor sich hatte. Nach ihm Joh. Philoponos.

8) Justinus Martjjr besonders in seiner Cohortat. ad Graecos. Ich citire nach der Ausgabe von 'Otto Jenae 1842 seq. 3 Bde. 8. Clemens Alexandnnus besonders in den 2TpcotJ.aT£'.?. Ich citire nach Si/lbtirg's Ausgabe. Paris 1641. Origeues beson- ders in der Schrift gegen Celsvs. Eicsebius besonders in den 15 BB. euayYsX'.y.-f]? TrpoTia- pacj/CSüT]? (Praeparatio evangelica). Ich citire nach Heinichen Lpz. 1852 2 Bde. 8. Hippohjtus, besonders in dem ersten Buche seines durch Miller wieder entdeckten Wer- kes, den flüher dem Origenes zugeschriebeneu von Gronovius aufgefundenen Philosophu- meuis {Hippolyti refutationis omnium haeresium libb. X. reo. lat. vertt. L. Duncker et F. G. Schneidewin 2 Voll. Gott. 1856 59. Augustinus. Vor Allem in seiner Civitas Dei und den Retractationen.

9) Henr. Stephani Poesis philosophica 1573. Fr. Gedike: M. Tullii Ciceronis historia philosophiae autiquae, aliorum auctorum locis illustr. Berol. 1782. 2te A. 1808. H. Bitter et L. Preller: Historia philosophiae graeco-romanae ex fontium locis con- texta. Hamburgi 1838. 3te A. Gothae 1864. Fr. Guil. Aug. Mtdlack Fragmenta phi- sophorum graecorum Parisiis ed. Didot. 1860.

10) Wüh. Traug. Krug Geschichte der Philosophie alter Zeit , vornehmlich un- ter Griechen und Römern. Lpz. 1815. II. A. 1827.

11) Chr. Aug. Brandis Handbuch der Geschichte der griechisch-römischen Phi- losophie 1. Th. Berl. 1835 (bis zu den Sophisten) 2. Th. 1. Abth. 1844 {Sohrates und Plato) 2. Abth. 1853. 57 (die ältere Akademie und Aristoteles). 3. Th. 1. Abth. (Uebers. der Aristotel. Lehre und Erörterung der Lehren seiner Nachfolger) 1860. Dess. Geschichte der Entwicklungen der griechischen Philosophie und ihrer Nachwirkungen im römischen Reiche. Erste grössere Hälfte Berlin 1862. Ed. Zeller die Philoso- phie der Griechen, eine Untersuchung über Charakter, Gang und Hauptmomente ih- rer Entwicklung. Erster Theil Tübingen 1844 (H.A. 1856). Zweiter Theil f^/S'o/tm«cs, Plato, Aristoteles) 1846 (II. A. 1859). Dritter Theil (die Nacharistotelische Philoso- phie) 1852. CIL A. 1865.)

§. 17. Daraus , dass das Räthsel seines und alles Daseyns lösen wol- len griechisch denken heisst, folgt nicht dass der philosophirende Geist sogleich Griechisches denke, oder sich in seinem über alles Barbarentlium erhobenen Griechenthum erfasse. Vielmehr wie der Mensch nur dadurch über alle Thierstufen sich erhebt, dass er sie alle in seinem vormenschlichen (unreifen) Zustande durchläuft, so reift die griechische Philosophie dem Ziele, jenes Fundamental- Problem (§. 15) im griechischen Geiste zu lösen, so entgegen, dass sie auf die darin enthaltene Frage zuerst im.vorgriecliischen Sinne antwortet. Späteren Philosophen erscheinen die aus dieser Perio- de der Unreife aus demselben Grunde als „Träumer", aus dem wir das embryonische Leben ein Traunüeben zu nennen pflegen.

14 Alte Philosophie. Erste Periode. (Unreife.)

Was für die Menschheit auf ihren vorgriechischen Stufen Princip ih- res religiösen und sittlichen Seyns und Lebens gewesen war, das wird hier zum Princip der Philosophie formulirt, und auch wenn wirklich keine Einwirkungen je einer volksthümlichen Bildungsstufe auf je einen griechischen Philosophen Statt gefunden hätten, könnte ein Parallelismus behauptet und begriffen werden.

Vgl. A. Gladisch Einleitung in das Verständniss der Weltgeschichte. Erste Ab- theilung , die Pythagoreer und die alteu Schinesen , ziveite Abth. die Eleaten und die alten Inder. Posen 1844. Dess. die Religion und die Philosophie in ihrer weltge- schichtlichen Entwicklung und Stellung zu einander. Breslau 1852. Dess. Empedokles und die Aegypter, eine historische Untersuchung. Leipz. 1858 (begründet und führt weiter aus, was in: Das Mysterium der Aegyptischen Pyramiden und Obelisken Halle 1846 und in: Empedokles und die alten Aegypter 1847 in Noacks Jahrb. für specul. Philos. angedeutet war). Dess. Herakleitos und Zoroaster, eine historische Untersu- chung Leipz. 1859 (weitere Ausführung dessen, was der Verf. in BergTc's und Caesar's Zeitschr. für Alterthumswissensch. 1846 Nr. 121 und 122 und 1848 Nr. 28, 29, 30 gezeigt hatte). Dess. Anaxagoras und die alten Israeliten (in Niedners Zeitschr. für histor. Theol. 1849 Heft IV. Nr. XIV).

Der alten Philosophie erste Periode.

Die griechische Philosophie in ihrer Unreife.

§. 18. Wie überall , so tritt auch in Griechenland die Philosophie her- vor, wo dem heroischen Erkämpfen der Bedingungen des Daseyns der Genuss desselben , der Arbeit um die Nothdurft des Lebens der Luxus des künstlerischen Schaffens und des Denkens, dem unbe- wussten Entstehen der Sitte die durch Angriffe dagegen uothwendig gewordene Formulirung zum Gesetz gefolgt ist, kurz wo das unbe- fangene Leben der Reflexion Platz gemacht hat. Den Uebergang zur wirklichen Philosophie machen die Reflexionen, die mehr nur nationalen Inhalt haben, die Sinnsprüche und Sprüchwörter. Dass die Schöpfer derselben, die Weisen (Salomone) Griechenlands, mei- stens auch als Gesetzgeber thätig waren, ist eben so erklärlich wie dass der unter ihnen, dessen Sinnspruch die Aufgabe aller Phi- losophie enthält, nicht nur zu ihnen gezählt wird, sondern als der eigenthche Anfänger der Philosophie gilt. Achtung vor der Sieben- zahl , verbunden mit vorwiegender Neigung für Einen oder den An- dern hat in die Angabe, wer zu diesen Weisen zu zählen sey, Ver- schiedenheit gebracht.

Einleitung §§. 18 20. 15

§. 19.

Dazu dass nicht nur Gesetze und Sittensprüclie , sondern Re- flexionen über das Ganze des Daseyns, und also Philosophie, ent- stehe, niuss das frische Daseyn noch mehr ersterben, der Verfall schon beginnen. Sind die Bedingungen dazu ohnedies schon in Co- lonien, diesen aus der verständigen Berechnung hervorgegangenen, zu raschem Glänze aufblühenden, Städten oder Staaten, ganz be- sonders gegeben , so kommt für die griechischen Colonien noch be- sonders dies in Rechnung , dass ihr Verkehr nnt nicht-griechischen Völkern gerade bei ihnen das Entstellen von solchen Philosophien möglich machte;, die (§. 17) auf die Frage nach dem Räthsel alles Da- seyns im vorgriechischen Geiste antworten sollten. Die ionischen Co- lonien in Kleinasien und den Inseln sind daher aus vielen Gründen die Wiege der Philosophie geworden , von da sind selbst die ausge- gangen , welche in anderen Gegenden den Funken geschlagen haben, aus dem die Flamme einer ganz anderen Philosophie geworden ist, als die der drei Milesier, die zuerst philosophireii lehrten.

§. 20.

Der Pracht des Orients zugewandt, kann der ionische Geist, wie er in der Poesie an dem objectiven Epos, in der Religion an den dem Naturcult zugewandten Mysterien seine Befriedigung fand, so wo er philosophirt nur eine realistische Naturphilosophie hervor- bringen. Nach dem Inhalt ihrer Lehre nennen wir die ersten grie- chischen Philosophen blosse oder reine Physiologen und ver- stehen darunter, in Uebereinstimmung mit dem Aristoteles, die welche das Räthsel des Daseyns gelöst meinten, wenn der Urstoff angegeben war, aus dessen Modificationen Alles besteht. Auf die Frage: was ist die Welt und was ist der Mensch? erfolgt hier die Antwort: sie sind nur materieller Stoft", eine Antwort die freilich mehr aus der Seele der Naturvölker heraus gesprochen ist, als dass sie dem Geiste der Griechen entspricht. Materialistisch kann sie aber nicht genannt werden, so lange der Gegensatz von Materie und Geist, Stoff und Kraft, noch unbekannt ist. Es ist unbefange- ner Hylozoismus.

I.

Die rciuen Physiologen.

H. Ritter Geschichte der ionischen Philosophie. Berlin 1821.

§.21. Wo der herrschende Geist das Wesen, nach dem er sucht, mit dem materiellen Substrate gleich setzt, dessen Modificationen alle

16 , Alte Philosophie. Erste Periode (Unreife).

Dinge seyn sollen, ist er nicht unbeschränkt in der Wahl solches Urstoffes. Je mehr ein Stoff bestimmt gestaltet ist, und sich ge- wissen Modificationen entzieht, um so weniger, je gestaltloser und modificabler er ist, um so mehr wird er dazu geschickt seyn. Da- rum wird das Flüssige zum Urstoff aller Dinge gemacht. Dasjenige Flüssige, welches sich überhaupt zuerst als solches darstellt, das ferner welches dem Strandbewohner als das mächtigste aller Ele- mente und in den meteorischen Erscheinungen als der grössten Viel- gestaltung zugänglich, das endlich welches dem zuerst von den My- then sich losreissenden Geiste am verehrungswürdigsten erscheint, ist das Wasser, namentlich als Meer. Dass also Thaies, der erste eigentliche Philosoph das Wasser zu dem Urstoffe , oder Elemente, machte, dessen Modificationen alle Dinge seyn sollten, ist ganz begreiflich, obwohl diese Lehre dem Griechen, der sich als mehr und besser fühlte denn als verdichtetes Wasser, vielleicht frevel- haft und als ausländische Weisheit vorkommen mochte.

§.22. A. Thaies. Tlinles, in Milet Ol. 35 geboren, soll Ol. 58 noch gelebt haben. Seine mathematischen und astronomischen Kenntnisse, die er in früh verlorenen metrischen Schriften niedergelegt haben soll, eben so seine politische Scharfsicht, weisen auf eine verständige Rich- tung. Daher er der Weisen Einer. Philosoph ist er indem er, zu- erst von Allen, nach einem bleibenden Urstoffe sucht, der allen Dingen als das Substanzielle zu Grunde liegt, aus dem sie sind und in das sie zurückgehen; das Wasser, das er als dieses Substrat ansieht, wird ihm sogleich zur räumlichen Unterlage auf der die Erde, diese Hauptsache des Alis, schwimmt. Ob die Bemerkung dass aller Saame und alle Nahrung feucht, oder ob theogonische Mythen ihn zu seiner Annahme gebracht haben, war schon dem Aristoteles ungewiss. Spätere unter den Alten haben das Erstere, Neuere das Zweite als gewiss behauptet, und Jenen ist auch das ein Grund gewesen, dass die Gestirne vom verdampfenden Wasser sich nähren. Gewiss falsch ist Cicero' s, von ihm selbst übrigens zu- rückgenommene, Behauptung dass noch ausser dem Urstoffe Tliales eine Weltseele , oder die Andrer , dass er einen allgemeinen Welt- verstand als Princip angenommen habe. Mit seinem unbefangenen Hylozoismus stimmt es , alle Dinge als beseelt , oder Alles voll Dä- monen und Götter, jede physikalische Bewegung als Zeichen von Leben anzusehn. Auch der Ausspruch der ihm zugeschrieben wird, dass zwischen Leben und Sterben kein Unterschied sey, passt dazu. Wo , wie hier , dem Urstoff eine bestimmte Qualität zugeschrieben

I. Die reinen Physiologen. A. Thaies. B. Anaximandros- §. 23. 24, 1. 1. 17

wird, da ist es conseqiieut, alle Unterschiede als nur quantitative zu fassen. Daher ist, was Arisloteles von gewissen Physiologen sagt, dass sie durch Verdichtung und Verdünnung des Urstoffes Alles entstehen Hessen , wohl mit Recht von Späteren auf den Tlia- les bezogen worden. Neben dem Thaies wird öfter auch Hippon genannt, wahrscheinlich ein Samier von Geburt, dessen „Feuchtes" wohl von dem Wasser des T/tales nicht verschieden war. Der Um- stand allein, dass ein im Perikleischen Zeitalter lebender Mann sich bei der Lehre des TIkiIcs befriedigen konnte , würde hinreichen des Aristoteles abfälliges Urtheil über ihn zu begründen.

Die Belegstellen für diesen §. liefern besonders Diog. Laert. Lib. I cap. 1 , und (Piciido-J Hntarch de Plac. phil. 1 , 2. 3. 7. 8. 26. II, 1. 13. 22. 24. 28. III, 9,

10. 15. IV, 12. Die aus anderen Autoren finden sich ziemlich vollständig bei Preüer et Hitter 1. c. 1, §. 14 18.

§. 23. Der, schon von Aristoteles richtig angedeutete Grund, dass ein Stoff, welcher so bestimmter Natur ist, wie das Wasser, durch seinen Gegensatz gegen manche physikalische Qualitäten sie aus- schliesse , so dass sie unmöglich aus ihm abgeleitet werden können, dieser nöthigt zu einer andern Fassung des Principes. Nicht dieses wird weggelassen, dass es ein materieller Stoff, sondern nur die bestimmte, ausschliessliche, Qualität. Wie des Thaies Lehren Man- chen an die Homerischen vom Okeanos als dem Vater der Dinge erinnert haben, so ladet des zweiten Milesischen Philosophen Theorie von dem unbestimmten Urstoffe dazu ein, eine Anlehnung an dasHe- siodische Chaos zu vermuthen.

§. 24. B. Anaviniauilros.

ScMeiermacTur Ueber Anaximandros von Milet. Akademische Vorlesung vom

11. Nov. u. 24. Dec. 1811. WW. 3te Abtheil. 2ter Bd. p. 171 ff.

L Anaximandros^ der Sohn des Pra.viades, ein Milesier, acht und zwanzig Jahr jünger als Thaies . ist schwerlich wofür er ausge- geben wird, ein Schüler desselben, obgleich er, wie seine Kennt- nisse und Ei-findungen beweisen, die astronomisch -mathematische Richtung mit ilmi gemein hat. Seine in poetischer Prosa verfasste Schrift führte wahrscheinlich den Titel tisqI g)v6E(og.

2. Als das Princip, das er zuerst agy/j nannte, sah er, weil, wie Aristoteles bemerkt, jedes Bestimmte ein Relatives ist, das an, was er (ineiQov, nach Anderen auch aögiatov genannt, und stets dem £l8o- Ttertoi^^hov entgegengesetzt hat. Es ist das bei allen Veränderungen Unveränderliche und darum Unsterbliche. Jedenfalls ist es als ma- teriell zu fassen, nur darf der Gedanke eines todten Materiellen noch

Erdmann, Gesch. d. Phil. I. O

18 Alte Philosophie. Erste Periode (Unreife).

nicht zugelassen werden. Weil es , wie das Chaos des Ilcsiod, nur der Grund alles qualitativ Bestimmten ist, dasselbe potentiell (se- minaUter) in sich enthält, deswegen können Arisfoteles und Theo- ])hrnst ; mit Hinweisung Vivd Anuxagoriis und Empedol.ies, es als Gemisch bezeichnen. Dass die Stellen des Aristoteles, wo er von Solchen spricht, die ein Mittelwesen zwischen Luft und Wasser zum Princip machen, und welche von vielen Commentatorcn oxii Aiui.vi- maiidros bezogen werden, wirklich auf ihn gehen, hat Sehlciermaeher sehr unwahrscheinlich gemacht.

3. Bei einer qualitätslosen Ursubstanz können niclit, wie bei Thaies , alle qualitativen Unterschiede auf graduelle, d. h. quantita- tive zurückgeführt werden. Darum lehrt AnaximatuJros .^ dass sich aus dem Unbestimmten die qualitativen Gegensätze ausscheiden {h'dVTiörrixciq eKKQivea&ai). An den zuerst hervortretenden Gegensatz des Kalten und Warmen schliesst sich erst später der des Trocknen und Feuchten. Schlelcrmuchers scharfsinnige Hypothese , dass vor dem letzteren auf die eine Seite das ungeschiedene Warme (Feuer- Luft) zu stehen kommt, das vielleicht Aristoteles im Sinne hat, wenn er von einem Mittelwesen zwischen Luft und Feuer spricht, auf die andere Seite aber das ungeschiedene Kalte (Erde -Wasser) welches vielleicht die Tcgcotr} vyQaala ist, als deren Ueberbleibsel (nach ausgeschiedener Erde) Annximundros das Meer bezeichnet haben soll, diese gewinnt noch mehr Wahrscheinhchkeit durch die Art wie derselbe sich die weitere Entwicklung dachte. Indem sich näm- lich die cylinderförmige Erde, als das Centrum, vom übrigen All absondert, bildet dieses ihr gegenüber eine warme Sphäre. Die Zusammenfilzungen dieser feurigen Luft sind die Gestirne, die im Gegensatz gegen das ewige än.HQov die gewordenen, oder auch himmlischen , Götter genannt werden. (Nach anderen Nachrichten soll die platte Erdscheibe von dem Strome des Oceans umflossen seyn, dessen jenseitiges Ufer durch den Rand der Himmels-Halb- kugel gebildet wird. Diese Halbkugel besteht wie Baumrinde aus undurchsichtigen Schichten, durch deren Löcher das Sonnen-, Mond- und Steruenlicht fällt wenn sie sich nicht, wie in den Finsternissen, verstopfen.) Durch die Einwirkung des warmen Umgebenden auf den Erdschlamm entstehen in diesem Blasen , aus welchen die or- ganischen Geschöpfe und in deren weiterer Entwicklung endlich Menschen entstehn, welche daher ursprünglich als Fische gelebt haben. Wie alle Dinge aus dem Unbestimmten hervorgehn, so auch in dasselbe zurück, „Strafe gebend für die Ungerechtigkeit nach der Ordnung der Zeit", was mit Schleiermacher auf ein periodisches Ausgleichen des einseitig sich Vordrängens eines der Gegensätze

I. Die reinen Physiologen. B. Aiiaximandros. C. Anaximenes. §. 25. 26, l. 19

ZU beziehen, allerdings sehr nahe liegt. Uebrigens scheint Annxi- mdvdi'os viele solcher Aus- und Rückgänge angenommen zu haben, so dass die Vielheit der Welten, die er gelehrt haben soll, viel- leicht eine successive war. Jede dieser Welten ist , verglichen mit dem cicp&aQxöv, ein vergänglicher Gott.

Aristot. Phys. I. 4. und Sim^lic. ad Phys. besonders fol. G. 32. 33. Liog. Laert. II. 1. Plnt. Plac. phil. I, 3. 7. U, 15. 16. 20. 21. 22. 24. 25. 28. lU, 3. 7. 10. 16. Y. 19. Stob. Ecd. I, p. 292. 294. 496. Ritter et Pt-eUer §. 51 57.

Der Vortheil, welchen des Amiximdiithos Lehre gewährt, dass zu seinem Princip das Trockne und Warme in nicht feindhcherem Verhältniss steht als das Kalte und Feuchte, wird durch den Xach- theil aufgewoge«, dass aus dem Qualitätslosen ein Qualitatives eigentlich nicht abzuleiten ist. Er bildet darum die entgegenge- setzte Einseitigkeit zu Thaies, über den er doch auch hinausgeht, da bei ihm die Urfeuchte schon das Secundäre war. Indem Ann- .riDinvfh'os den bequemen Ausdruck des Hervorgehens oder Aus- scheidens einführt, hat er eigentlich die qualitative Bestimmtheit, die er eben aus seinem Principe ausschloss, durch eine Hinterthür wieder hineingelassen. Wer das, was ihm unbewusst geschieht, mit Bewusstseyn thut, nämlich dem ÜTtsLQoi' eine qualitative Be- stimmtheit beifügt, wird, weil er den Aiiaximandros versteht, über demselben stehn und zugleich gewisser Massen zu dem Standpunkt des Tlialcs zurückkehren. Diess heisst natürlich nicht, dass er dem Principe dieselbe Qualität beilegen wird, wie Tliales , denn diese war ja eine ausschliessliche gewesen. Sondern indem der jüngere Genosse des Thaies und Aiiaximandros als ürstoff aller Dinge die unendliche Luft setzt, hat er die Einseitigkeit Beider überwunden, indem sein Princip nicht etwa die Summe, sondern die negative Einheit der ihrigen ist.

§. 26. C. Aua\iinenes.

1. Anaximenes^ des Enri/strafos Sohn, aus Milet , kann frei- lich nicht Ol. 63 geboren und zur Zeit der Eroberung von Sardes gestorben seyn, wie Diogenes nach Apollodor erzählt. Die Zeit- bestimmung durch ein historisches Factum lässt weniger einen Schreibefehler vermuthen, als die durch eine Zahl, aber auch sie ist unbestimmt, weil sowol die Eroberung durch Ki/ros als die durch die Griechen gemeint seyn kann. Wahrscheinlich ist Ana- ximenes ein Zeitgenosse des Thaies und Aiiaximandros. Vom Letzteren wird er Schüler genannt, dem Ersteren nähert er sich durch seine Lehre; vielleicht hat er Beide gekaimt und gehört,

2*

20 Alte Philosophie. Erste Periode (Unreife).

wocliircli die mittlere Stellung zwischen ihnen auch genetisch erklärt wäre. Seine im ionischen Dialekt verfasste Schrift hat TLeophrast noch gekannt und in einem eignen Aufsatz besprochen. Aus ihm und dem Aristoteles scheinen alle Späteren ihre Nachrichten ge- schöpft zu haben.

2. Auch Amiximeiies sucht nach einem allem Bestimmten zu Grunde liegenden, darum allgemeinen und unendlichen, Principe, er will es aber zugleich qualitativ bestimmt haben. Wenn er nun nicht wie Thaies vom Wasser, sondern von der Luft sagt sie sey Princip und sey das Unendliche, aus welchem Alles hervorgehe, so bewog ihn dazu vielleicht die Betrachtung, dass das Wasser manche Quahtäten nicht annehmen kann, gewiss aber die, dass der belebende Athem den er mit der Seele als Eins ansieht, und dass der das All umgebende Himmel, Luft ist. Wie bei Tluiles das Wasser, so trägt bei ihm die Luft die, wie ein Blatt in ihr schwebende, Erde. Die Ableitung des Einzelnen betreffend, so steht fest, dass er Alles durch Verdichtung und Verdünnung ent- stehn lässt, und wahrscheinlich der Erste war der bei dieser Ab- leitung ins Detail ging. Wenn er aber zugleich den Gegensatz des Kalten und Warmen einführt, so erscheint er auch hierin wie- der als der, welcher die Ableitungsweise des Tludes mit der des Anaximandros vermittelt, eine Vermittelung, die sich bei ihm leicht dadurch macht, dass ja das Warm- und Kalt -Hauchen nur ein Verdünnen oder Verdichten des Athems sey. Der, wahrscheinli- cheren, Nachricht dass er aus der Luft Wolken, aus diesen Was- ser, aus diesem, durch Niederschläge, Erde habe entstehen lassen, steht eine andere gegenüber, nach w^elcher die Erde das erste Product war. Vielleicht ist in der letzteren von dem Erdkörper, der alle Elemente enthält, in der ersteren von dem Erdelement die Piede. Der Erdkörper bildet den Mittelpunkt der Welt, und ihm sind die sich um ihn bewegenden, aus Erde und Feuer be- stehenden Gestirne entsprungen. Was an und für sich wahrschein- lich, wird durch ausdrückliche Zeugnisse bestätigt, dass Alles wieder in Luft zurückkehren solle.

Diog. Laert. 11, 2. Plut. plac. phil. I, 3. II, 11. 14. 16. 19. 22. 23. 29. III, 4. 5. 10. 15. Ritter et Preller §. 19 24.

§• 27. Mit dem Anaximenes schliesst sich eine Gruppe von Erschei- nungen zu einem Kreise ab, da die Thesis „qualitativ", die Anti- thesis „qualitätslos" und die Synthesis „doch qualitativ", keine wei- tere Fortbildung erheischt noch zulässt. Materiell ist auch wirklich in der rein physiologischen Ptichtung nichts mehr gethan. Dagegen

I. Die reinen Physiologen. D. Diogenes ApoUoniates. §. 28, 12. 21

tritt ein Mann auf, der die stillschweigenden Voraussetzungen, von welchen die Milesier ausgingen, weil sie von einem andern Standpunkte aus bestritten wurden, zu beweisen sucht und also, wie dies immer durch die Yertheidiger einer Ansicht geschieht, die Lehre der Physiologen formell fördert. Da der Standpunkt, auf welchem die Voraussetzungen der milesischen Philosophen, die Einheit und die Materialität des Principes, bekämpft werden, höher steht als der ihrige, so kann Biogenes von Apollonia als Pieactio- när bezeichnet werden. Wie Alle, die eine überwundene Sache vertheidigen , zeigt er in seinen Leistungen eine grosse subjective Bedeutung, ohne dass durch ihn die Sache objectiv sehr gefördert wurde. Dass Schleiermacher ihn mit solcher Liebe behandelt, während IJcgel ihn nicht einmal erwähnt, findet hierin seine Er- klärung.

§• 28. D. Diogenes ApoUoniates.

Schleiermacher L'eber Diogenes von Apollonia. Akad. Vorl. 1811. WW. HI, 2. p. 149. W. Schorn Anaxogorae Clazomeuii et Diogenis Apolloniatis fragmenta etc. Bonuae 1829. Fr. Panzci-hictcr Diogenes ApoUoniates etc. Lips. 1830.

1. Diogenes ist zu Apollonia auf Kreta geboren, also dorischen Stammes, hat aber, wie Alle die m^l <pvamg schrieben, sich des ionischen Dialekts bedient. Seine schwerlich abzuleugnende Gleich- zeitigkeit mit dem Anaxagorus ist nur durch sehr gezwungene Annahmen damit zu vereinigen , dass er den Anaxivienns gehört habe. Wahrscheinlich hat er seine Lehre durch Ueberlieferung kennen gelernt, so al>er auch die des Anaximandros. Das Werk, aus welchem Fragmente zu uns herübergekommen sind, war viel- leicht sein einziges, und die übrigen die angeführt werden nur Unterabtheilungen desselben.

2. Wie seine historische Stellung dies verlangt, fordert Dio- genes eine grössere formelle Vollendung der Lehre durch Aufstel- lung eines festen Princips und einfache und würdige Darstellung. Darum versucht er erstlich zu beweisen, was bis dahin stillschwei- gende Voraussetzung gewesen war, dass der Urstoff nur einer und Alles nur Modification dieses Einen sey. Wäre dem nicht so, so gäbe es keine Mischung und ül)ei:haupt kein Verhältniss Verschie- dener, es gäbe ferner keine Entwicklung und keinen Uebergang, da alles dies nur denkbar ist wenn Eines (ein Bleibendes) über- geht. Gibt es aber nur einen einzigen Grundstoff, so ist eine unmittelbare Folgerung daraus, dass es kein eigentliches Werden, sondern nur Verändrung gibt. Zweitens ist Diogenes mit Bewusst- seyn, was seine Vorgänger unbewusst gewesen waren, Leugner

22 Alte Philosophie. Erste Periode (Unreife).

alles Immateriellen, Nicht nur, dass er seinen Urstoff, dessen Modificationen alle Dinge sind, ausdrücklich auixa nennt, son- dern er weiss bereits, dass ein Unterschied zwischen Materie und Geist gemacht wird, und offenbar im Gegensatz zu sol- chem Dualismus behauptet er, dass der Verstand, der ihm mit der Lebenskraft und Empfindung zusanmienfällt , der Luft imma- nent, und sie nicht ohne ihn zu denken sey. Darum empfange auch Alles, selbst die unorganischen Wesen, vorzüglich aber der Mensch, durch's Athmen Leben und Erkenntniss. Physiologische Instanzen, so die schaumartige Natur des Saamens, sollen dazu dienen, die belebende Natur der Luft zu beweisen. Dieser Versuch, gegen den Dualismus den frühern Monismus festzuhalten, macht aus dem unbefangnen Hylozoisraus eine materiahstische Lehre.

3. Wie Anaximandros leitet auch Diogenes das Einzelne vermöge des Gegensatzes vom Kalten und Warmen ab, wie Ana- x'uiieves identificirt er ihn mit dem des Dichten und Dünnen, setzt dann aber beide noch dem des Schweren und Leichten gleich. Da er dem Annximnndros entlehnt haben soll, dass das Meer ein „Ueberbleibsel" sey, so ist die Nachricht, dass er ein Mittel wesen zwischen Luft und Feuer zum Principe gemacht habe, wohl dahin zu modificiren, dass dieses Mittelwesen, gerade wie bei Aiutxi- incmdros , schon ein Secundäres war. Durch Trennung des Leich- ten und Schweren entsteht die Erde und die Gestirne, deren kreis- förmige Bewegung eine Folge der Wärme seyn soll. Indem dieselben sich von den Ausdünstungen der Erde nähren, wird sie immer trockner und geht der völligen Vertrocknung entgegen. Was er dann ferner von der bimsteiuartigen Natur der Gestirne gelehrt hat, ist wohl dem Empedohles oder Anaxayoiuis abgeborgt, und hat viel- leicht mit dazu beigetragen, ihm den Vorwurf des Atheismus zu- zuziehn. Alle einzelnen Dinge haben au der Luft Theil, aber jedes auf verschiedene Weise und je nach dem verschiedenen Grade der Wärme, Trockenheit u. s. w. Die Luft selbst scheint nicht nur verschiedene Wärme- sondern auch Dichtigkeitsgrade bei ihm zu haben. Die einzelnen menschlichen Seelen sind auch nur durch ihre verschiedene Theilnahme an dem Lebens- und Erkenntniss- principe verschieden. Ueberhaupt hat Diogenes, wofür auch seine Untersuchungen über die Adern sprechen, besonders das Leben- dige , vor Allem den Menschen, zum Gegenstand seiner Forschung gemacht.

Diog. Laert. IX, 9. Phd. plac. phil. II, 1. 8. 13. 23. 32. III, 2. IV, 5. 16. 18. V, 15. 20. 23. Simplic. ad Phys. fol. 32. 33. Bitter et Prdler §. 25 34. Am Vollständigsten findet sich Alles lieisammen bei Panzerhieter 1. c.

II. Die reinen Metaphysiker. §. 29. 30. 23

§. 29.

Ist Philosophie Selbstverständniss des Geistes, so ist der Nachweis, dass ein philosophisches System sich selbst nicht ver- steht, auch ein Beweis dass es nicht ganz (d. h. nicht die voll- endete) Philosophie, und also darüber hinauszugehen ist. So aber verhält sich's mit den reinen Physiologen. Verstünden sie sich selbst, so würden sie sich eingestehn, dass nicht an dem Wasser oder der Luft ihnen liegt, sondern an dem, was das Bleibende, Substanzielle und Wesentliche in Allem ist, und dass nicht dies sie über das Pflanzliche und Thierische hinaustreibt, dass es thie- risch und pflanzlich, sondern dass es wechselt und blosse Erschei- nung ist. Eigentlich also handelt es sich gar nicht um sinnlich percipirbare Stoffe, sondern das Interesse dreht sich um Gedan- kenbestimmungen, Kategorien. Dieses zu finden verhindert den Geist die paradiesische Pracht des Orientes, in der die Aussen- welt den Menschen so beschäftigt, dass selbst der, welcher an- fängt zu reflectiren, wie Diogenes, doch immer wieder meint, er interessire sich ftir die warme Luft. Die Abenddämmerung der occidentalischen Welt dagegen , ladet den Geist zum 'Grübeln über sich selbst ein, in dem er die Entdeckung macht, dass nicht, was dem Sinne als das Modificabelste sich zeigt, das Räthsel alles Da- seyns löst , sondern nur Solches , was durch das Denken gefunden wird. In den Colonien Grossgriechenlands, welche, sey auch ihr Ursprung ein andrer, mehr oder minder alle dorischen Geist ath- men, treten die reinen Metaphysiker auf, welche zu den reinen oder blossen Physiologen den diametralen Gegensatz bilden. Su- chen diese aus materiellem Stoße Alles abzuleiten , so jene Alles aus Gedankenbestimmungen zu deduciren. Den Bruch mit der physiologischen Anschauung bezeichnet der Umstand , dass die er- sten Metaphysiker lonier sind, welche aber aus dem Lande der Naturphilosophie auswandern.

II. Die rc'iueu Metaphysiker.

§• .30. Welche Gedankenbestimmungen zuerst als die wesentlichen und Alles entscheidenden hervortreten müssen, ist durch die bisherige Entwicklung der Philosophie vorgezeichnet. Ist alle Maimigfaltigkeit durch Verdichtung und Verdünnung erklärt , so muss der Geist, wo er sich über sich selbst besinnt, zu dem Resultate kommen, dass ihm alle Wesensunterschiede zu Unterschieden des Einfacheren und

24 Alte Philosophie. Erste Periode. (Unreife.)

Vielfachem, des Minder und Mehr, das heisst zu Zahl -Unterschie- den geworden sind. Sind aber die Unterschiede des Wesens nur solche der Zahl, so liegt auch die Consequenz nahe: dass Wesen und Zahl dasselbe sei. Wenn noch das, so viel weiter fortgeschrit- tene, Denken des P/ato das Verhiiltiiiss des Substanziellen und Ac- cidentellen gern als das des Einen und Vielen bezeichnet, so ist es erklärlich, dass, wo der Flug des metaphysischen Denkens erst be- ginnt, diese quantitativen Kategorien ganz auszureichen scheinen. Bilden sie doch, wie Philosophen des Alterthums und der Neuzeit richtig bemerkt haben, gleichsam ein Mittleres zwischen dem Physi- schen vmd Logischen, und geben so das bequemste Mittel, den gros- sen Schritt von diesem zu jenem, durch Theilung zu erleichtern. Die mathematische Schule des Pytluiyorus zeigt deshalb die ersten An- fänge der Metaphysik.

A. Die Pythagoreer.

§.31. a. Geschichtliches.

Ed. Roth Geschichte unserer abendländischen Philosophie etc. Mannheim 1846. 1858. 2. Bd. p. 261 fT.

Der unzuverlässige Charakter, den die drei aus dem Alterthum zu uns gekommenen Biographien des Pythagoras haben, die Wider- sprüche weiter, die gegen sie von mehr nüchternen Berichterstattern erhoben worden sind, haben kritische Untersuchungen nöthig ge- macht, welche, je nachdem der Kritiker für die Originalität alles Griechischen schwiirmte, oder aber Indo- oder Aegyptomane war, zu entgegengesetzten Resultaten geführt haben. In den letzten Jahr- zehenden war die erstere Einseitigkeit die vorherrschende, darum er- scheint die entgegengesetzte, wie sie z. B. von Böth repräsentirt wird, heut zu Tage als Neuerung, was sie in früherer Zeit nicht war. Darüber dass Pythagoras als Sohn des Steinschneiders M7ie- sarchos in Samos geboren und dass er ein Nachkomme tyrrhenischer Pelasger gewesen ist, was vielleicht seine Neigung für mystische Gebräuche erklärt, darüber sind Alle einig. Dagegen lassen die Meisten unter den Neueren ihn Ol. 49, d. h. zwischen 584 und 580 V. Chr. geboren werden, in seinem vierzigsten Jahre sein Vaterland verlassen und nach zwölfjährigen Reisen in lonien, Phönicien und Aegypten , sich in seinem 52. Jahre in Krotoii in Grossgriechenland niederlassen und seine Schule gründen, während liölh , besonders dem Jamhlichos folgend, als sein Geburtsjahr 569 v. Chr. angibt,

n. Die reinen Metaphysikev. A. Pythagoreer. a. Gescliichtliclies. §. 31. 25

und behauptet er habe bereits in seinem 18. Jahre Samos verlassen, dann zwei Jahre lang den Unterricht des Plierchjdes empfangen, zwei weitere auf Keisen in Phönicien, dann zwei und zwanzig in Aegypten, endlich zwölf in Babylon zugebracht, wohin ihn Knmhyses mit anderen Aegyptischen Gefangenen geführt habe. Erst dann, also in seinem 56. Jahre sei er nach Samos zurückgekehrt, in seinem 60. nach Grossgriechenland gekommen, wo er 20 Jahre lang in Kroton, dann von dort vertrieben in Tarent und Metapont noch 19 Jahre gelebt habe und in seinem 99. Jahre gestorben sei. Ganz eben so wie über die Chronologie, so gehen auch über die eigentlichen Quel- len der Pythagoreischen Lehre die Ansichten auseinander. Wäh- rend die Neueren meistens die Nachricht des Alterthums, dass Py- thagoras ein Schüler des AncLrimandros und Phcrclnjdes gewesen sei, nur kurz berühren und das Erstere Avegen des anderen Charak- ters der Lehre unwahrscheinlich das Andere nichtssagend nennen, weil wir von der Lehre des Pherckudes Nichts wissen, legt Böth auf Beides ein grosses Gewicht. Die Lehre des Pherelydes ist nach ihm die ganz unveränderte Aegyptische Lehre, nach welcher die Gottheit als die Viereinigkeit des Geistes, des ürstoffes, der Zeit, und des Raumes gefasst, aus dieser in Weise der Emanation der Ursprung des Welt-Ei's abgeleitet sei u. s. w. Mit dieser von Phere- kydcs ganz unwissenschaftlich vorgetragenen Lehre bekannt gewor- den, habe Pythagorns dann andere lonier, z. B. den Ana.rimandros, dessen Lehre gleichfalls ägyptischen Ursprungs, kennen gelernt und sei dann in Aegypten selbst so gründlich mit der Weisheit dieses Landes bekannt geworden, dass er als der Hauptcanal anzusehen sei, durch den sie nach Griechenland gelangte. Theologie und Geo- metrie ist es, die Pijthagoras in Aegypten gelernt haben soll, in die Arithmetik dagegen, in der er vielleicht noch grösser als in der Geo- metrie, sollen ihn die Chaldäer eingeweiht haben, die er in Baby- lon traf. Das Alterthum berichtet zu einstimmig von einem in ein eigenthümliches Geheimniss gehüllten Bunde, zu dem die weiter fortgeschrittenen Schüler des Pyllxigords gehörten, als dass das Da- seyn eines solchen bezweifelt werden könnte. Während die Meisten in der neuern Zeit diesem Bunde eine religiöse, vielleicht auch po- litische, durchaus aber keine wissenschaftliche Bedeutung zuschrei- ben, weicht auch hierin Piöth von ihnen ab. Diejenigen, welche nicht nui' den öffentlichen Vorträgen des Pythagonts über die Regeln der Sittlichkeit, über Unsterblichkeit u. s. w. beizuwohnen pflegten (Akus- matiker), sondern wirklich seiner Schule angehörten, wurden, nach vorausgegangener moralischer und intellectueller Prüfung aufgenom- men, und zuerst, besonders durch Musik und Mathematik (daher

26 Alte Philosophie. Erste Periode. (Unreife.)

Mathematiker), streng geschult. Die unter den Schülern, welche sich bewährten (Mancher ward förmlich ausgeschlossen) wurden mit religiösen Weihen für mündig erklärt, und mit den eigentlich tief- sten Lehren bekannt gemacht, welche mit der Aegyptischen Theo- logie und Kosmologie übereinstimmten, die nur in sofern modificirt wurden, dass hier Dionysos an die Stelle des Os'iris trat u. s. w. Weil nun Einige unter den Schülern mit dieser Dogmatik nie be- kannt gemacht wurden, die doch so weit in die Lehre des Pythago- ras eingedrungen waren, dass sie erkannten: Alles, was sie wuss- ten, sei eigentlich nur das Vorspiel zu der eigentlichen Wissen- schaft, so war es möghch, dass diese nun sich nach einer andern Metaphysik umsahen, die sie mit der in den unteren Classen gelern- ten Zahleiilehre verbinden könnten. So sey es gekommen, dass aus den mathematisch geschulten Jüngern des Pythagoras erstlich ächte Schüler desselben hervorgingen {IHM nennt sie Pythagoriker) deren Ehrfurcht vor den mitgetheilten Lehren sie verhinderte das, was sie in oder nach den Lehrstunden niedergeschrieben hatten , zu veröf- fentlichen, so dass es eben darum bis zu den Xeuplatonikern verbor- gen blieb. Zweitens aber sey namentlich durch den aus der Schule gestossenen Uippasos, der mit der Pythagoreischen Zahlenlehre die dualistische Metaphysik Zorousters verschmolzen habe, welcher De- inoledcs der frühere Leibarzt am Persischen Hofe, und überhaupt die krotoniatische Medicinerschule anhing, jene Metaphysik der un- ächten Schüler des Pythagoras {Roth nennt sie Pythagoreer) ent- standen , welche zuerst die Lehre von den Gegensätzen, endlich so- gar die abgeschmackte Theorie, dass die Zahlen das Wesen der Din- ge ausmachen, unter des Pythagoras Namen in Cours gebracht hät- ten. Zu diesen Letzteren gehöre nun vor Allen Pldlolaos. Da nun die neuere Kritik die uns überlieferten Fragmente des Timaios, Okel- los Lculianos, Eiinjtos, ArchyUis für unächt erklärt hat und ausser den unbedeutenden iqvaa l'm] nur die von Böchh gesammelten Frag- mente des PhiloJaos als acht gelten lässt, da ferner Plalo seine Zahlen- und Ideenlehre ganz dem Philolaos dankt, so sei es erklär- lich wamm die Neuzeit als Lehre des Pythagoras und der Pytha- goriker ansieht, was Pythagoreer und Platoniker daraus gemacht haben. Hätte man nicht die Zeugnisse des Alterthuras verachtet, welche den Pythagoras seine Weisheit aus Aegypten holen lassen, und hätte man die Lehre Aegj^otens besser erkannt, so hätte man schon früher einsehn können, dass wir uns hinsichthch des Mangels an Quellen gar nicht zu beklagen haben, indem die s. g. Orphica von Pythagoras selbst Geschriebenes enthalten, namentlich den lE^og Xöyog für die tiefer eingeweihten Schüler. Selbst wenn, was

II. Die reinen Metaphysiker. A. Pythagoreer. b. Die Lehre. §. 31, 1. 27

sich schwerlich behaupten lässt, Böfh in Allem was er sagt Recht hätte, so würde doch in Folge seiner Untersuchungen, in den bishe- rigen Darstellungen der Geschichte der griechischen Philosophie, da er ja selbst eingesteht dass die Lehre der Pythagoriker keinen, die der Pythagoreer einen ungeheueren Einfluss auf die spätere Ent- wicklung gehabt habe, nur dies zu ändern sein dass der erste Urhe- ber der Philolaisch- Platonischen Lehre hinfort nicht mehr Pythago- rnSf sondern Hippasos genannt würde. Dies wäre doppelt unerheb- lich, da nach des Aristoteles Vorgang alle Späteren sich wohl ge- hütet haben, von einander zu sondern, was Pythagoras selbst ge- lehrt, und w^as seine Nachfolger hiuzugethan halben.

§. 32. b. Die Lehre der Pythagoreer.

Böckh Philolaus des Pythagoreers Lehren nebst Bruchstücken seines Werkes. Berk 1819. H. Bitter Geschichte der ijythagoreischen Philosophie. Berlin 1827. Dagegen: E. Beinhold Beiträge zur Erläuterung der pythagor. Metaphysik. Jena 1827. Brandis Ueber Zahlenlehre der Pythagoreer und Platouiker im 2. Jahrg. des Rhein. Museums. n

1. Als den Grund, warum die Pythagoreer nicht einen sinnli- chen Urstofif annahmen , sondern in den Elementen der Zahlen die aller Dinge sahen, gibt Aristoteles erstlich an, dass die Zahlen Prin- cip alles Mathematischen seyen, zweitens, dass alle Harmonie auf Zahlenverhältnissen beruhe, drittens, dass sich in so vielen Natur- erscheinungen gewisse Zahlen immer wiederholen. Zu diesen objee- tiven Gründen ist dann als subjectiver der gekommen, dass die Zahl die richtige Erkenntniss vermittelt, den Grundsatz aber dieser gan- zen Periode, dass Gleiches durch Gleiches erkannt werde, auch die Pythagoreer nie verleugnet haben. Darüber, wie sie das Vcrhält- niss zu den Dingen gedacht haben, widersprechen sich die Nachrich- ten. Zu den beiden der Alten, dass nach ihnen die Zahlen die Dinge selbst, d. h. dass sie die immanente Wesenheit der Dinge seyen, und wieder: dass sie Urbilder der Dinge, nach welchen diese gebildet seyen, ist in neurer Zeit die Behauptung Uöt/i's gekommen, dass die Zahlen nur als symbolische oder tropische Bezeichnung gedient hät- ten , so dass weil nach Pythagorischer (d. h. ägyptischer) Lehre die Materie aus zwei Stoffen zusammengesetzt ist, man nun die Materie „die Zwei" genannt habe , wie wir von den „Zwölfen" sprechen und die Apostel, oder von der bösen „Sieben" und die Todsünden mei- nen. Nimmt man den Pitilolaos als den Repräsentanten der streng wissenschaftlichen Pythagoreer, so ist ihre Lehre: dass die Zahlen die eigen thchen Dinge sind, so dass bei ihnen die Entwicklung der Zahlen, nicht nur durch Synekdoche sondern wirklich, mit der Ent-

28 Alte Philosophie. Erste Periode. (Unreife.)

Wicklung der Dinge, das Zahlensystem mit der Welt, zusammen fällt.

2. Das, woraus alle Zahlen sind, ihr Grund oder ihr Princip, was eben darum oft ihr Ursprung (jovr]) auch wohl ihr erzeugender Vater genannt wird, ist das Eins (ev) oder die Einheit (fiovag)^ die weil sie alle Zahlen in sich enthält, oft als die Zahl überhaupt be- zeichnet wird. Aus der Eins als ihrer gemeinschaftlichen Wurzel gehen nun die Zahlen hervor vermöge des, für das ganze System so wichtigen, Gegensatzes des Unbestimmten {aneiQov oder auch aoQi- erov) und des Begrenzenden {rd nsQaivovTa, was PIrdo prägnanter ro TtsQag nennt). Ist man gleich berechtigt das Hineinführen der ivdvTia zur Ableitung der Dinge eine Anlehnung an Anaximimdros zu nen- nen, so ist doch der grosse Unterschied nicht zu übersehen, dass an die Stelle der physikalischen Gegensätze Kalt und Warm u. s. w., hier ein logischer getreten ist; ja, dass dasselbe Wort, dessen sich Aiiaximandros zur Bezeichnung des Principes bedient hatte, hier nur eine und sogar, wie sich sogleich zeigen wird, die untergeord- nete Seite desselben bezeichnet, zeigt das bewusste Hinausgehn über den milesischen Physiologen. Das Begrenzende wird fortwäh- rend als das Höhere und Mächtigere bezeichnet, über beiden aber steht die Einheit, die sie als gebunden in sich enthält ; daram heisst sie Harmonie und es wird gleichbedeutend ob von der Zahl oder von der Harmonie gesprochen wird. Diese gegensatzlose Einheit ist der höchste Gedanke in diesem Systeme, ist also der Gott desselben und es ist von wenig Bedeutung, ob früher oder ob später ausdrück- hch der Name Gott oder Gottheit dafür gebraucht wird. Das Her- vortreten der Zahlen aus der Eins, oder der Dinge aus Gott, ge- schieht nun vermöge dieses Gegensatzes. Da er selbst aber in der aller verschiedensten Weise gedacht wird, und sich frühe, nament- lich zehn verschiedene Fassungen desselben tixirt haben , so ist es sehr leicht zu vereinigen , dass nach Einigen die Pythagoreer alles aus der Zahl, nach Anderen alles aus den zehn Gegensätzen abge- leitet haben. Die letzteren sind secundäre Principien, nicht das pri- mitive Element, dies ist nur die Eins. Der Gegensatz des Geraden und Ungeraden, der unter diesen zehn auch vorkommt, war wohl für die, über die Zahlen speculirenden, Pythagoreer der erste der ihnen auffiel, und vielleicht kam man erst durch rückwärtsschrei- tende Abstraction dazu, den Keim zu diesem Gegensatz unter den Zahlen schon in der gemeinschaftlichen Wurzel aller anzunehmen. Das Ungerade als das dem Begrenzenden Entsprechende, wird als das Höhere genommen, und der Vorzug der ungeraden Zahlen auf die Macht gegründet die sie zeigen indem sie zu einer andern ge-

II. Die reinen Metaphysiker. A. Pythagoreer. b. Die Lehre. §. 32, 2. 3. 29

fügt, deren Natur ändern, ferner darauf dass sie allein Anfang, Ende und Mitte haben, endlich darauf dass sie alle Differenzen von Quadratzahlen und also, räumlich gedacht, umfassende, begreifende, Gnomonen sind. Wenn das Eins, weil es über allen, also auch die- sem Gegensatze steht, als das agzioTceQiTTov bezeichnet wird, so ist dies Wort nicht in dem bei den Mathematikern gewöhnlichen Sinne zu nehmen. Dass die ungeraden Zahlen höher gestellt werden als die geraden, hat GJadlscIi in seiner Parallehsirung der pythagorei- schen Lehren mit den chinesischen urgirt, und wieder hat der Um- stand, dass unter den Gegensätzen sich auch der zwischen Licht und Dunkel, Gut und Uebel, findet, im Alterthum und in der Neuzeit Viele dahin gebracht, Entlehnungen aus dem Parsismus anzunehmen. Wenn unter den verschiedenen Ausdrücken für diesen Gegensatz auch "h y.cil nX^&og vorkommt, so zeigt dies einerseits den Vorzug, der der einen Seite eingeräumt wird, hat aber andrerseits zur Folge, dass Missverständnisse möglich sind darüber, ol) das Princip selbst, oder nur ein Moment gemeint sey. Die Distinction die spätere Schrift- steller zwischen ^övag und fV gemacht haben, ist dadurch dass ge- rade was der Eine 'iv nennt bei dem Anderen ^lövng heisst, unfrucht- bar geblieben, die zwischen erstem und zweitem Eins, die auch vor- kommt, ist jedenfalls deutlicher. Das dem (zweiten) Eins gegenüber- stehende Moment der Vielheit, wird manchmal auch övag, und spä- ter um es von der Zweizahl zu unterscheiden Svag aÖQiavog, genannt. Geometrisch wird dieser Gegensatz als der zwischen Rechteck und Quadrat, logisch als der zwischen Bewegtem und Ruhendem, phy- siologisch als der zwischen Weibhch und Männlich, Links und Rechts gefasst, immer so, dass das erste Glied des Paares das amiQov, das zweite die Tct^alvovxa vertritt.

3. Lidem die, indem absoluten Eins gebundenen Gegensätze ' sich ausserhalb desselben begegnen, entsteht das System der Zahlen oder Dinge. Da die arithmetische Anschauimg von der geometri- schen noch nicht so wie später getrennt ist, so werden nicht nur die Zahlen, sondern auch die Momente der Zahl, sogleich räumlich ge- dacht, und darum fällt der Begriff des Unbestimmten mit dem des Leeren, als der unbestimmten Räumlichkeit zusammen, das dann wohl auch als das Hauchartige, (Bestimmbare) gefasst wd. Ihm gegenüber steht dann das Begrenzende als das das Leere erfüllen- de Räumliche, das öfter in dem Worte Himmel (d. h. All) zusam- mengefasst wird. Daher der, zuerst frappirende, Ausdruck, dass indem der Himmel das Leere in sich hinein-ziehe oder athme, da- durch SiaGtri^axu und also Vielheit entstehe, dem unsere abstracte Sprachweise, ganz ohne den Gedanken zu verändern, den substi-

30 Alte Philosophie. Erste Periode. (Unreife.)

tuiren würde: in die Einheit tritt der Gegensatz und dadurch ent- steht Vielheit. Alle Vielheit, darum auch die Vielheit der auf einan- der folgenden Momente und also Zeit. Je mehr die räumhche An- schauung sich vordrängt, desto mehr nähert sich diese Metaphysik der physikalischen Theorie, daher kann es kommen, dass Aristote- les den Pythagoreern vorwirft, ihre Zahlen seyen nicht unräumlich gewesen, und dass ein jüngerer Pythagoreer, Eliphantos, sie so körperlich fasste, dass er damit der Atomistischen Theorie vom Lee- ren und Vollen ganz nahe kam. Sind die Zahlen die Dinge, und bilden sie zugleich ein System, so ist es begreiflich, dass erst bei den Pythagoreern das All als Ordnung (xo'ö.ao?) gedacht und bezeich- net wird. War aber die uicht-explicirte Zahl, oder das Eins, das- selbe mit der Gottheit, so kann weder der Ausdruck befremden, dass die Welt von einem Verwandten beherrscht werde, noch auch dass sie eine Entfaltung {IvegyEia) Gottes genannt wird. Aus diesem Ausdruck und dem Ausspruch eines Pythagoreers , dass nicht das Erste das Vollkommenste sey, sondern das Spätere, mit Ritter zu schliessen, die Welt stehe im Evolutionsverhältniss zu Gott, scheint um so mehr zu kühn, als jener Ausspruch vielleicht nur von dem Verhältniss kleinerer und grösserer Zahlen gilt. Consequent ist es, wenn die Welt hier als Correlat der Gottheit, und darum als ewig und unvergänglich, gefasst wird.

4. Das Einzelne der Ableitung betreffend, so entsteht durch das erste Zusammentreffen des IV und des 7tli]d-og, d. h. durch die erste Vervielfältigung der Einheit, die Zweizahl övag (nicht die 8vag doQiörog) , welche zugleich die Linie oder die erste Dimension ist, ganz wie der Punkt mit der Einheit zusammenfällt , von der er sich nur durch »sölq, d. h. Räumlichkeit unterscheidet. Beide zusammen, geben die xQtag, die erste vollständige Zahl, die zugleich die Zahl der Fläche als das 81%^] öiaaraTov ist. Die vollkommenste Zahl aber ist die Vierzahl {tEZQaKxvg) nicht nur weil sie die Zahl der vollständi- gen {rgiin diaaratöv) RäumHclikeit ist, sondern weil in der Zahlen- reihe 1 : 2 : 3 : 4 die wesentlichen harmonischen Verhältnisse gegeben sind, die ccQiiovia oder 8ia nasäv, 8ia 7CEVTS oder Si o^slmv, öia rea- GÖiQav oder avkknßa. Ist aber die Vierzahl: das alle harmonischen Verhältnisse enthaltende Räumliche, so ist die Verehrung dersel- ben, d. h. des harmonisch geordneten Alls , sehr erklärlich. Weil l_j_2-j-3-f 4 = 10, so ist die dUag nur die weiter ausgeführte Te- traktys, und ist, wie diese, nicht nur ein Symbol, sondern der al- ler exacteste Ausdruck, für die Welt. Wenigstens in der- späteren Ausbildung der Lehre erscheint die Welt als zehn göttliche Kreise, deren äusserster der Feuerkreis oder Fixsternhimmel ist, innerhalb

II. Die reinen Metaphysiker. A. Pytliagoreer. b. Die Lehre. §. 32, 4. 5. '31

dessen sich die (mit Inbegriff der Sonne und des Mondes) sieben Planetenkreise , ferner der Kreis der Erdbahn , endhch der der Ge- gen-Erde, die uns den directen Anblick des Centralf euers verbirgt, das wir nur als reflectirtes (Sonnen- und Mond-) Licht sehen, um jenen Heerd des Zeus bewegen. In früherer Zeit, wo die Erde als der stillstehende Mittelpunkt gedacht wurde, war die Vorstellung dass die sieben sich bewegenden und also vibrirenden Planeten ein Heptachord bilden ganz erklärlich, mit den zehn bewegten Kreisen ist sie nicht verembar, darum weiss P/nlolnos Mchts von der Musik der Sphären, die wir nur deswegen nicht merken, weil wir sie im- mer hören. Als Weltkörper unterliegt die Erde wie der ganze Kos- mos dem Gesetze der Xothweudigkeit, andrerseits aber bildet sie den Mittelpunkt der sublunarischen Welt, des ovQavog, oder der ^^'elt des Veränderlichen, wo auch der Zufall seine Macht zeigt. Hier hn Tellurischcn tritt sogleich bei der Lehre von den Elementen der ganz andere Charakter hervor, den die pythagoreische Physik im Vergleich mit der ionischen hat. Nicht auf den physikalischen Gegensatz des Kalten und Warmen, sondern auf den arithmetischen des ersten Geraden und Ungeraden, wird der der Erde und des Feuers zurückgeführt, und das Wasser, als beide enthaltend, als das erste Gerad- Ungerade bezeichnet. Andere begründen geome- trisch, indem sie jedem Elemente als Urgestalt (seiner Atome) je einen der fünf regelmässigen Körper zuweisen, wo denn dem Feuer das Tetraeder, der Erde der Cubus, dem Wasser das Ikosaeder, der Luft das Oktaeder, endlich das Dodekaeder dem Alles Umfas- senden zugeschrieben wird. Auch in den physiologischen Functio- nen wollten sie die Vierzahl nachweisen, ja Eitrytos, ein Schüler des Pliilolaos, soll so weit in's Detail gegangen sein, dass er ver- sucht hat, jedem Dinge die sein Wesen ausdrückende Zahl zuzu- weisen.

5. Zur Physik der Pythagoreer gehört auch , was sie von der Seele , d. h. dem Lebensprincipe , sagen. Schon der Welt schrei- ben sie eine solche zu, sie soll von dem Mittelpunkte des Alls aus Alles durchdringen, als die Alles beherrschende Harmonie. Da- rum wird sie, ja manchmal sogar. der Schwerpunkt des Alls, das Eine genannt anstatt des Einigenden. Ob sie als die Substanz der einzelnen Seelen, ob als ihr Urbild, ob endlich als das Ganze wo- rin sie als Theil enthalten, zu fassen, das würde, wenn wir mehr von dem dritten Buche des Philolaischen Werkes besässen, zu ent- scheiden seyn. Dass die Seele des Menschen als Harmonie seines Körpers gefasst wird, ferner dass sie, wie die Weit selb.st, eine Zehnzahl und darum die Welt zu erkennen ün Stande sey, enthält

32 Alte Philosophie. Erste Periode (Unreife).

offenbar die Keime zur späteren Lehre vom Makro - und Mikro- kosmus und stimmt zu den sonstigen Leliren der Pythagoreer ; die Behauptung dagegen dass der Leib ein Kerker der Seele, so wie die damit zusammenhängende von der Seelenwanderung, hat ein mehr exotisches Gepräge. Beide Behauptungen , so wie die Lehre von Dämonen und Luftgeistern scheinen mit der Zahlenlehre in keinem Zusammenhange zu stehn. Desto mehr, was von ihrer Er- kenutnisstheorie und Ethik überliefert worden ist. Für beide ist die Unterscheidung eines unvernünftigen und vernünftigen Theils, ausser welchen wohl schon, als vermittelndes Drittes, der Bvfiog, angenommen wird, die psychologische Grundlage, die dadurch, dass die einzelnen Seelen -Functionen besonderen Organen des Leibes zugewiesen werden, selbst physiologisch begründet erscheint. Dass die Erkenntniss dem vernünftigen Theile vindicirt wird, versteht sich von sell)st. Vermittelt wird die Erkenntniss durch die dem Truge unzugängliche Zahl; was sich der mathematischen Bestimmt- heit entzieht ist unerkennbar, weil es unter der Erkenntniss steht. Vier Grade der Erkenntniss werden wahrscheinlich erst in späterer Zeit unterschieden , und mit den ersten vier Zahlen verglichen ; der vovg geht einheitlich auf seinen Gegenstand , der Wissenschaft soll die Zweizahl, der Meinung die Dreizahl, der Walniiehmung die Vierzahl entsprechen. Der sittliche Geist, den das ganze Wesen und auch die Lehre des Pytliayoras athmet, hat Einige dazu ge- bracht zu behaupten, seine Philosophie sey dem grösseren Theile nach Ethik, Dies ist unrichtig, denn dazu, das sittliche Handeln nicht nur anzurathen sondern in seinem Wesen zu erfassen, wer- den nur schwache Versuche gemacht. Was Aristoteles an ihnen tadelt, dass sie für die Gerechtigkeit eine mathematische Formel aufgestellt haben, ist als consequent vielmehr zu loben ; selbst dass sie diesel1)e als «^f&jttd? iGaKig Xaog bezeichnet haben, ist wenn man bedenkt, dass sie die Gerechtigkeit nur als vergeltende den- ken, erklärhch. Auch die Nachricht, dass sie die Tugend als die Gesundheit der Seele definirt hätten, in der das ImsiQov (das Sinn- liche) unter das Maass gebracht werde, ist nicht unglaublich trotz der Annäherung an Platonische und Aristotelische Formeln. Noch mehr tritt diese darin hervor, dass sie die Gerechtigkeit besonders im Staatsleben betrachtet, und hier die gesetzgebende und rich- tende Function mit der hygieinischen (gymnastischen) und ärztli- chen verglichen haben, womit der Platonische Gorgias wörtlich übereinstimmt. Im aristokratischen Sinne haben sie das nXi'jd'og., die Masse, verachtet und Anarchie als das grösste Uebel bezeich- net. Selbst in dem Widerwillen gegen Bohnen hat man, vielleicht

II. Die reineil Metaphysiker. A. Pytlmgoreer. b. Die Lehre. §. 33. od

nicht mit Unrecht, eine politische Demonstration gegen die demo- kratische Stellenbesetzuug durchs Loos sehen wollen. Dass alle Praxis auf das Gebiet des Veränderlichen beschränkt ist, war wohl einer der Gründe, warum sie dieselbe so viel niedriger stellten als die Theorie und diese, namentlich die Beschäftigung mit der wissenschaftlichen Zahlenlehre, die wahre Glückseligkeit nannten.

Arüt. Met. A. u. A. Arist. Phys. De coelo. De auim. Simplic. ad Ar. Phys. Diog. LaeH. Vni, 1. —. Plut. plac. phil. I, 3. 7, 8. 11. 14. 15. 21. 23. 24. 25. II, 1. 4. 6. 9. 11. 13. 21. 24. 25. 29. 30. lU, 1. 2. 5. 15. 16. 17. IV, 2 8. 13. 14. IG. 20. V. 1. 3. 15. 20. 24. 26. Stob. Edog. Jamblich, vita Pythg. Theolog. arithm. Ritter et Preller §. 62 128.

§. 33. Die Nothwendigkeit, dass auch über den Pythagoreischen Standpunkt hinausgegangen werde, ist nachgewiesen sobald ge- zeigt wurde, dass er eigentlich etwas ganz Anderes will als er erreicht, denn dann ist er kein volles Verständniss seiner selbst, wie doch die Philosophie seyn sollte: das Bestreben der Pythago- reer geht offenbar darauf, das Eine auf Kosten des Vielen, und über dasselbe, zu erheben, eg zum alleinigen Absoluten zu ma- chen. Immer aber wird es zu einer, dem Vielen diametral entge- gengesetzten , darum aber ihm coordinirten Seite , zu seinem blos- sen Correlat, wodurch es eigentlich aufhört Princip zu seyn. Zu diesem Widerspruch zwischen Wollen und Können, bringt sie, so nothwendig dieselbe auch gewesen war, die mathematische Fas- sung ihrer Lehre. Wird der Unterschied zwischen Princip und Principiat als ein numerischer gefasst, so kann, da Zahl Zahl ist, es nicht ausbleiben , dass beide in gleichen Rang gestellt werden, ja, da die höhere Zahl die niedrigere mit, und also mehr als sie, enthält, so kann es kommen, dass sich das Verhältniss zwischen Princip und Principiat umzukehren, wenigstens scheint. Indem die Pythagoreer das Viele auch als das Andere oder Bewegte be- zeichnen, und also dem Gegensatz dazu die Bedeutung des Sel- bigen und Beharrenden gegeben haben, fangen sie selbst an, statt der quantitativen Kategorien qualitative anzuwenden. Werden an- statt der von ihnen gebrauchten die angewandt, die als die ab- stracteren ihnen zu Grunde liegen, das unveränderliche Seyende und das Wechselnde und Werdende, so wird der Geist nicht nur sich besser verstehn als da, wo er (ionisch) mit dem gemeinschaft- lichen Urstoff der Dinge sich befriedigte, sondern es wird ihm auch gelingen was dort misslang, wo (pythagoreisch) die mannig- faltigen Dinge Vervielfältigungen des Principes waren. Wie die Pythagoreer die Uebergangsstufe von der Physiologie zur Meta-

Krdmann Gesch. d. Phil. I. o

34 Alte Philosophie. Erste Periode (Unreife).

physik repräsentiren , so die Eleaten die reine Metaphysik selbst in ihrem äussersten, antiphysiologischen, Extrem.

B.

Die Eleaten.

Brandis Commentationes Eleaticae. Altonae 1813. Karsten Philosophiae graecae veteris Reliquiae. Bruxell. 1830. seqq.

§. 34. a. X e n 0 p h a n e s.

Vict. Cousin Nouveaux fragmens philosophiques. Paris 1828. p. 9 95.

1. Xenophoves , des Orthomenns oder des De.rinos Sohn ist im ionischen Kolophon geboren. Hinsichtlich der Chronologie sind die directen Angaben des Timaios und Apollodoros bei Clemens Alexnndrhws , nicht zu vereinigen und man muss sich eine An- nahme bilden, bei der die constatirten Facta bestehen können, dass er den Thaies und Pythagortts als berühmte Weise erwähnt, dass Ileraldit ihn kennt, dass er die Gründung Elea's (oder Ve- lia's), wo er, wie es scheint nach einem langen Wanderleben durch viele Städte Siciliens und Grossgriechenlands, gewohnt, besungen hat, endlich dass er mindestens zwei und neunzig Jahre alt ge- worden ist. Die Nachricht der Alten, seine Blüthe falle in Ol. 60 scheint damit vereinbar, obgleich auch sie, z. B. von BrniuUs, ist angefochten worden. Ausser seinen Gedichten epischen Inhalts hat er Lehrgedichte verfasst und als Rhapsode abgesungen; Sil- len sind sie wohl genannt weil darin oft eine satyrische Ader fliesst. Aus den Fragmenten daraus, die zuerst //. Stephanus, dann FYil- leborn, Brandis, endlich Karsten gesammelt haben, muss man auf viele Kenntnisse bei ihm schliessen.

2. Nach Plato haben die Eleaten was wir das All nennen, das Eine genannt; da aber alle ihre Beweisführungen für seine Einheit in der Polemik gegen das Werden bestehn, so ist offenbar Eines bei ihnen der Name für das unveränderliche Seyende, eine Bezeichnung welche auf pythagoreische Einflüsse zu schliessen be- rechtigt, auch wenn die Nachricht falsch seyn sollte die den Xe- nophanes vom Pythagoreer Telavges Unterricht empfangen lässt. Eine Polemik gegen Pythagoreische Lehre liegt in der Behauptung des Xenophancs , dass das Eine nicht atlime. (Vgl. oben §. 32 sub 3.) Zu jener Platonischen Nachricht tritt ergänzend die Ari- stotelische, dass Xenophanes das ganze All anschauend gesagt habe, dieses Eine sey Gott. Da die Zeit Mannigfaltigkeit enthält, so ist das Eine oder die Gottheit ewig. Mit der Vielheit ist die Unbestimmtheit (das arceiQov) von dem Einen negirt, und der Ari- stotelische Tadel, dass es unentschieden bleibe, ob Xenophanes

II. Die reinen Metaphysiker. B. Die Elcaten. a. Xeuophancs. §. 34. 35

sein Princip als Tcmzgaa^svov gefasst habe, kein verdienter. Die Kugelgestalt, die Xcnophanes der Gottheit zugeschrieben haben soll, ist bei dem, dem das All die Gottheit zeigt, erklärlich, und eine Folge davon, dass ihr jede Mannigfaltigkeit von Functionen, darum auch von Organen, abgesprochen wird. „Ganz sieht sie und ganz hört sie." Wo alle Vielheit ausgeschlossen ist kann von Po- lytheismus, wo kein Werden statuirt wird, von einer Theogonie nicht die Rede seyn, daher der Spott über die Volksreligion, der Hass gegen Homer u. s. w.

3. Hinsichtlich der Physik des Xenophanes streiten die Nach- richten. Die Ableitung aus vier Elementen ist zu sehr als Empe- dokleisch beglaubigt, als dass sie schon von ihm angenommen werden dürfte. Dass Alles aus der Erde abgeleitet worden sey, ist mit den Behauptungen des Aristoteles nur zu vereinigen, wenn die Erde nicht als Element sondern als .Weltkörper verstanden wird, in welchem Falle mit dieser Nachricht die andere vereinbar wäre , dass aus Wasser und Erde (Urschlamm) er Alles habe ent- stehen lassen, Dass Xenop/nmcs , wie noch Andere sagen, schon die Pannenideische Consequenz gezeigt habe, alles Sinnliche als Schein zu fassen, ist nicht recht glaublich, und viel wahrscheinlicher was wieder Andere sagen, dass er selbst gescliwankt habe. Dies würde auch erklärlich machen, warum er schon früh für einen Skeptiker angesehen worden ist, trotz dem dass es kaum eine Lehre gibt, die so dogmatisch wäre, wie die eleatische.

Diog. Laert. IX , 2. Tlac. Phil. II, 4. 13. 18. 20. 24. 25. III, 2. 9. 11. V, 1. Preller et Bitter §. 129 140. Fragmente gesammelt bei Hcnr. Ste- phanus in Poes, philos. p. 35 38. Brandts 1. c. Sect. I. Karsten 1. c. I, 1. Mullach fragmenta pliilos. graec. p. 99 108.

§. 35. Das Eine ohne alle Mannigfaltigkeit, das Seyende ohne alles Werden, ist zwar eine nur durch Denken zu erfassende Abstraction, doch aber liegt ihr selbst noch eine andere zu Grunde, aus der und einer nähern Bestinmiung sie zusammengesetzt, die also ihr Element ist. Das ist die, als deren Participation sich das Seyende selbst bezeichnet, die reinste aller Gedankenbestimmungen, das Seyn. Geht die Philosophie auf .den allerletzten oder absoluten Grund (§. 2), so wird sie nicht bei dem stehn bleiben können, dem ein Anderes zu Grunde hegt, oder an dem es Theil hat, son- dern zu diesem selbst fortgehn müssen. Es ist darum nicht nur eine unwesentliche Aenderung der Terminologie, wenn der Nachfolger des Xenophanes die Pythagoreische Zahlbestimmung ganz weglässt, und an die Stelle des durch ein Participium (ö'r) bezeichneten Ab-

3*

36 Alte Philosophie. Erste Periode (Unreife).

soluten eines setzt, das er nicht besser glaubt benennen zu können, als mit dem Infinitiv Seyn. Parmenidcs ist der Vollender der ab- stracten Metaphysik, die sich der Physiologie entgegen stellt.

§. 36. b. Parmeiii des.

1, Parmcnides f Sohn des Pyrrhes, ein Eleate, wird Schüler des Xenophancs, von Andern der Pythagoreer, genannt, deren Lebensweise ihn vielleicht mehr als ihre Lehre angezogen hat, Nach Plato muss er Ol. 64 oder 65 geboren seyn. Die allgemeine Achtung, die er wegen seines moralischen Werths und seiner Bür- gertugend genoss, hat Pldlo und selbst Aristoteles, der keine Vor- liebe für eleatische Lehren verräth , auch seiner wissenschaftlichen Bedeutung gezollt. Das metrisch verfasste, nt^i rpvöeag überschrie- bene, Werk des Parmcvides beginnt mit einer Allegorie von der Sextos Empeirikos, der^deu Anfang des Gedichts uns überheferF, im Wesentlichen die richtige Deutung gibt. Es zerfiel, wie die Lehre des Parmeiiides, in zwei Theile, deren erster die Wahrheit und das Wissen, der zweite den Schein und die Meinung behandelt.

2. Die Wahrheit wird erlangt, indem man nicht der sinnli- chen Vorstellung sondern der reinen Vernunfterkenntniss folgt. Der Hauptsatz der sich hier ergibt ist, dass nur das Seyn Wahr- heit habe , dem Nichtseyn gar keine zukomme , weswegen auch das Leere geleugnet wird. Der Grund, dass es ja sonst kein Wissen geben könnte, zeigt das, durch keine Skepsis erschütterte, Ver- trauen der Vernunft zu sich selbst. Das Seyn ist Eines, es schliesst, weil dies ein Nichtseyn enthielte, alles Werden und eben so jede Vielheit und Mannigfaltigkeit aus, mag diese nun in räumlichen, mag sie in zeitlichen Unterschieden bestehn. Frei von jeder äus- seren Determination , ist es das in sich selbst durch innere Noth- wendigkeit Beruhende; aus beiden Gründen wird es als Kugelge- stalt gedacht. Nicht grenzenlos, denn dann wäre es mangelhaft, aber durch kein Anderes ausser ihm begrenzt, hat es nicht einmal eine denkende Vernunft, deren blosses Object es wäre, sich ge- genüber. Dasselbe ist was da denkt und welches gedacht wird, das Seyn ist Vernunft und dem Gedanken kommt Seyn zu. Neben diesem allein wahren Seyn hat eine andere Gottheit nicht Platz, daher lässt Parmenides die Volksgötter, als sich der Erkenntniss entziehend, dahingestellt; wenn er dann wieder den Eros, als den Vater der Götter bezeichnet, so bedeutet wohl dieser Name, eben so wie das, was er öfter den Dämon genannt hat, die Alles zu- sammenbindende Nothwendigkeit, welche er auch Aphrodite scheint genannt zu haben.

IL Die reinen Metaphysiker. B. Die Eleaten. b. Parmenides. §. 36. 37. 37

3. Ein Standpunkt me dieser, duldet keine Ableitung des Mannigfaltigen. Nur das Zeugniss der Sinne zwingt zu der An- nahme desselben. Da aber die Sinne das Seyn nicht wahrnehmen, da sie vielmehr täuschen, so ist die Mannigfaltigkeit nur ein Schein, die Physik ist ihm bloss die Lehre von den Meinungen und warum der Mensch mit der Meinung behaftet ist, weiss Parmenides nicht zu begreifen sondern nur zu beklagen. Obgleich Nichtseyn nur Schein, ist die Welt doch nicht so aller Wahrheit entblösst, dass er nicht suchen sollte mit dem Wissen in sie hineinzudringen. Die beiden Principien, auf die er alle Mannigfaltigkeit zurückführt, und die bald Flamme und Nacht , bald Warmes und Kaltes , bald Feuer und Erde heissen, wiederholen den Hauptgegensatz des Seyns und Nichtseyns, und darum wird das Eine als das sich selbst Gleiche, das Andere als das Scheinbare, Unerkennbare u. s. w. bezeichnet. Beide Entgegengesetzten mischt und verbindet die Macht, die auch das Männliche dem Weiblichen zuführt, jene oben erwähnte Liebe des Alls, oder die Alles beherrschende Freundschaft. Wie jedes einzelne Ding, so ist auch jeder Mensch ein Gemisch jener Ele- mente; aus dem LTrschlamm entstanden ist er um so vollkommner, je wärmer er ist, und wie er durch seine feurige Natur fähig ist, das Seyn zu erkennen, so unterwirft ihn seine irdische Beschaf- fenheit der Meinung, d. h. er erschaut das Nichtseyn. Weil keines dieser Elemente ohne das andere vorkommt, deswegen kann ge- sagt werden dass das höhere und niedere Erkennen dasselbe (d. h. wohl: nur graduell verschieden) seyen. Des Parmenides Vorstel- lungen vom Weltgebäude sind entweder unrichtig tiberhefert oder durch seltsamen vVusdruck unverständlich. Sie haben ihn nicht verhindert für seine Zeit wichtige astronomische Kenntnisse zu haben.

I)io(j. Lacrt. IX, 3. Plac. phil. I, 24. 25. II, 7. 26. III, 1. 11. 15. IV, 5. V, 7. 11. PreUer et Bitter 1. c. §. 141 153. Fragmente gesammelt bei //. Stephanus in Poes, philos. p. 41 46. Brandis 1. e. comment. II. Karsten 1. c. I, P. II. Mullach 1. c. p. 109—130.

§. 37. Wie die physiologische Richtung von Anaximenes, so ist die metaphysische von Parmenides injhrer höchsten Vollendung dar- gestellt. Wie dort, so ist auch hier ein immanentes Weiterführen nicht, wohl aber ein Vertheidigen gegen Andersdenkende inöghch. Diese Vertheidigung , die bei der anfänglichen Philosophie nur ge- gen Weitergehende Statt haben konnte und also reactionär seyn musste (vgl. §. 27), kann dies auch hier seyn, sie kann aber auch gerichtet seyn gegen den überwundenen, niedriger stehenden, Stand- punkt der Physiologen. Diese letztere Aufgabe macht Melissas zu

38 Alte Philosophie. Erste Periode (Unreife.)

der seinigen. Sie ist die leichtere und geringere Kraft genügt zu ihrer Lösung, wie zum Schwimmen mit dem Strom. Noch mehr, da jeder Kampf gegen einen anderen Standpunkt es nothwendig macht, sich mit diesem einzulassen und also ihm sich anzunähern, so wird der reactionäre Kampf gegen den höheren Standpunkt, wenigstens formell, über den eignen hinausführen, der gegen den niedrigem aber unter ihn herabfallen lassen. Es geschieht daher dem Mel'tssos nothwendig, was Aristoteles an ihm tadelt, dass er ein minder feiner Denker sey als die anderen Eleaten und dass er das Gedaukenmässige sinnlich, d. h. ihre metaphysischen Bestim- mungen zu physikalisch, gefasst habe.

§. 38. c. Melissos. (Pseudo-J Aristoteles de Xenophane (i. e. Melisso) Zenone et Gorgia c. 1 et 2.

1. Melissas f des Itlmgenes Sohn, ein Samier, als Feldherr ausgezeichnet, heisst Schüler des Purmenides, für dessen Lehre ihn vielleicht nur Schriften gewonnen hatten. Um Ol. 84 blühend schrieb er ein Werk in Prosa und im ionischen Dialekt, das nach Einen TtfQi (pvatag nach Anderen hzqX övxog hiess, und von dem Fragmente erhalten sind. Er sucht im Literesse der eleatischen Lehre die seiner Stammverwandten, der Physiologen, zu widerle- gen. Das, dieser Absicht entsprechende, negative Resultat einiger unter seinen Argumentationen hat ihm den unverdienten Vorwurf des Skepticismus , dagegen sein Eingehn auf den Standpunkt sei- ner Gegner den nicht immer unverdienten zugezogen , dass er die Reinheit der eleatischen Abstractionen getrübt, und den Parme- nides etwas roh gefasst habe.

2. Wie Parmemdes , schiebt auch Melissas die religiösen Vor- stellungen als der Erkenntniss sich entziehend, bei Seite. Sein Gegenstand ist das iov, das er, dem Xennpl/mies sich wieder an- nähernd, an die Stelle des Parmenideischen dvcu setzt. Wie er es gemeint hat, wenn er wirklich von dem Seyenden das einfach Seyende unterschieden hat, ist nicht klar. Nachdem er gezeigt warum das Seyende nicht entstehen noch vergehen könne, folgert er aus dieser zeitlichen sogleich auch die räumliche Unendlichkeit, und gibt also zum Aerger des Aristoteles die Bestimmtheit auf, die das Absolute bei Xenoplnmes und Parmeiiides gehabt hatte. Einheit, Untheilbarkeit, Unkörperlichkeit, und Unmöglichkeit jeder Bewegung, wird weiter von dem Seyenden prädicirt. Sowohl ge- gen die Verdichtung und Verdünnung als auch gegen die Mischung und Trennung wird polemisirt und damit die Behauptung verbun- den, dass das Leere, und also die Bewegung in dasselbe, un-

II. Die reinen Metaphysiker. B. Die Eleateu. c. Melissos. d. Zenon. §.39.40. 39

möglich sey. Kaum einer der Physiologen wird also nicht be- rücksichtigt.

3. Mit ähnlicher Inconsequenz wie Purmenides behauptet Me- lissos, dass die Mannigfaltigkeit nur ein Product der Sinnentäu- scliung sey, indem die Sinne uns überall Uebergang vorspiegeln, wo doch in Wirklichkeit nur unl)ewegliches Seyn ist, und statuirt doch eine wissenschaftliche Erkenntniss derselben, oder eine Phy- sik. Dass er Feuer und Erde als die Grundstoffe angenommen habe, ist bei seinem Verhältniss zu Parnteuides wahrscheinlich. Der Uebergang von diesem zu Empedolies ist so leicht, dass die an- dere Nachricht, dass Melissos sicli ganz dem Letzteren angeschlos- sen habe, kaum im Widerspruch mit der ersteren steht.

Diog. LaeH. IX, 4. Preller et i?ztte»' §. 160 167. Die Fragmente s. Brandis 1. e. Sect. III. Karstfin 1. e. Mullach p. 261 265.

§. 39. Neben Melissos als dem rückwärts gewandten Vertheidiger eleatischer Lehre steht Zeno, welcher sie als die Neuerungen be- kämpfender Reactionär in Schutz nimmt. Die Aufgabe ist eine verzweifelte und bedarf darum grosser Kraft. Daher die subjective Bedeutung des Mannes. Tiefsinnig Neues zu finden, darum han- delt es sich nicht , sondern allen erdenklichen Scharfsinn aufzubie- ten um das Gefundene sicher zu stellen. Deshalb Ausbildung der formellen Seite des Philosophirens, die den Zcno zum Diogenes Jpo/loniates seiner Schule macht. Da der Standpunkt, gegen welchen Zeno seinen Meister vertheidigt, den Grundgedanken des- selben mit dem entgegengesetzten verbindet, so ist es begreiflich, warum Zeno seine Vertheidigung so führt, dass er in den Lehren der Gegner Widersprüche nachweist. Die Dialektik als die Kunst Widersprüche zu entdecken hat darum den Zeno zu ihrem Erfin- der, seine Dialektik aber, oligleich sie nur ein negatives Resultat hat, auch später im skeptischen Interesse ausgebeutet worden ist, steht doch ganz im Dienste des durchweg dogmatischen Eleatismus.

§.40. d. Zenon. (Pseudo-J Aristot. de Melisso Zenone et Gorgia c. 3 et 4.

Zenon, der Eleate, ein Sohn des Teleufagoras , nach Einigen ein Adoptivsohn des um fünf und zwanzig Jahre älteren Purme- nides , ein Mann von eben so viel politischer Einsicht als Helden- muth und Charakter, hat unter anderen in Prosa geschriebenen Werken schon in seiner Jugend eines zur Vertheidigung des Pnr- meuides verfasst, das besonders berühmt geworden ist. Die, dem Dialog sich wenigstens annähernde, Form und die häufige Anwen-

40 Alte Philosophie. Erste Periode (unreife).

dung des Dilemma haben, ausser dem Iiihalt, dazu beigetragen, dass er der Erfinder der Dialelitik genannt worden ist. Diese Dialektik ist negativ, weil seine Absicht nur war, den Gegnern der eleatischen Lehre den VorAMirf der Widersprüche zurückzugeben.

2. Hatte Parmenides nur der alle Vielheit ausschliessenden Einheit, nur dem alles Werden negirenden Seyn, nur dem Behar- renden ohne alle Bewegung, Wahrheit zugeschrieben, so geht das Bestreben des Zenon darauf, zu zeigen dass durch die Annahme der Vielheit, des W^erdens und der Bewegung man sich in Wider- sprüche verwickele. Der Beweis der in dem Nachweise besteht, dass, ein wirklich Vieles angenommen. Ein und dasselbe ein Be- stimmtes und doch ein Unbestimmtes wäre, beruht darauf dass jede Vielheit eine bestimmte (Zahl) ist und dennoch eine Unend- lichkeit (von Brüchen) enthält. Er argumentirt mit der endlosen Theilung, nur dass er die 6ixoro(xia darin räumlicher fasst, dass er dem Gedanken des Unterschiedenseyns sogleich den (durch Etwas) Geschiedenseyns substituirt. Auch unendlich gross, weil unendlich Vieles enthaltend, und unendlich klein, weil aus lauter Kleinsten bestehend, werde das Viele seyn. Gerade wie das Viele, so be- kämpft Zcvon das Werden. Sowol wenn es aus Gleichem als wenn es aus Ungleichem Statt finden solle, enthalte es einen Wider- spruch. Endlich aber wird die Möglichkeit der Bewegung bestrit- ten. Von den vier Beweisen, die Aristoteles als Zenonisch an- führt, beruhen die ersten beiden wiederum auf der durch endlose Theilung hervorgebrachten Unendlichkeit einmal des zu durchlau- fenden Raumes, das andre Mal des Vorsprungs, den vor dem Achill (Hector oder) die Schildkröte hat. Der dritte Beweis lässt sich erst zugeben dass der fliegende Pfeil in jedem Augenblick an einem Punkte ist (d. h. ruht) und zieht daraus ganz richtige Folgerungen. Der vierte endlich scheint die Bewegung nur als Veränderung der Entfernung zu nehmen, und daraus dass ein sich Bewegendes dem Ruhenden langsamer, dem Entgegenkommenden schneller näher kommt, zuerst zu folgern dass bei gleicher Geschwindigkeit und gleicher Zeit doch die Resultate verschieden seyn können, dann aber noch alle möglichen Absurditäten. Bei der Bedeutung, welche der Raum für die Bewegung, und nach Zenon auch für die Viel- heit hat, ist es begreiflich dass er auch in diesem Begrifl" nach einem Widerspruch sucht. Derselbe soll darin liegen, dass der Raum nicht ohne Raum zu denken sey und also sich selber vor- aussetze.

3. Wie den übrigen Eleaten, so ist auch ihm die Erkenntniss der Sinne trügerisch. Vielleicht um dies zu beweisen, ist jener

n. Die reinen Metaphysiker. B. Die Eleaten. c. Zenon. §. 41. 41

Eleuchus (t/^oqoos) erfunden welcher zeigt, dass die Sinne nicht gel- ten lassen, was mau doch vernünftiger Weise zugestehen müsste. Wenn Sophisten und Skeptiker später diesen und ähnliche an- wandten, so gehört doch Zenon nicht zu ihnen, und die Nachricht dass er auch die Existenz des Einen geleugnet habe, ist wohl durch Missverständniss entstanden. Vielleicht einer Stelle, die auf- behalten ist, wo, wiederum von endloser Theilbarkeit sprechend, er auf die Unmöglichkeit letzter Einheiten (Atome) zu deuten scheint. In ähnlicher Inconsequenz, wie seine Vorgänger, gibt auch er eine Physik. Die Nachrichten sagen er habe die vier Ana- ximandrischen Gegensätze als Elemente, Freundschaft und Streit als formende Principien, die Nothwendigkeit als regelndes Gesetz genommen, und die Seele als Gemisch jener vier Elemente gefasst. Die Prämissen zu allen diesen Sätzen sind gegeben, die Annähe- rung derselben an des EmpMoklcs Lehre aber so stark, dass die Nachricht, Zenon habe später das Lehrgedicht des Empcdokles commentirt, erklärlich wird. Sollte er aber da noch den Ueber- gang eines Elements ins andere gelehrt haben, so wäre die Ab- weichung principiell. Wahrscheinlich Ijlieb er auch hier dem Ana- ximandros näher stehn, an den auch seine (wahrscheinlich succeS- sive) Mehrheit der Welten erinnert. Es scheint, als wenn an diese Lehre er Polemik gegen Jlemhlif und Atomiker angeschlossen hätte.

Diog. Laert. IX, 5. Plac. pliil. 1 , 24. V, 4. Bitter et Preller §. 154—159. Mullach 1. c. p. 266 270.

§. 4L Der Gegensatz zwischen Stoff und Kategorie, vh] und Xdyog nach Aristoteles, ist von den Pythagoreern auf den Gegensatz des Vielen und Einen , von den Eleaten endlich auf den des Nichtseyns und Seyns reducirt, auf Formeln deren sich noch Pinto als der ganz adäquaten Ijedient. Indem nun die Eleaten durchzuführen versuchen, wozu die Pythagoreer nur Neigung gezeigt hatten, das Seyn mit Ausschluss des Nichtseyns festzuhalten, werden sie zu reinen d. h. antiphysikahschen Metaphysiken!, und bilden, wie dies Pluto mit Recht hervorhebt, das entgegengesetzte Extrem zu den Physiologen. Gerade diese extreme Stellung aber, welche sie ein- nehmen, macht, dass sie wider Willen stets das wieder statuiren, was sie eben zu leugnen versuchten. Natürlich; denn soll das Seyn gedacht werden mit Ausschluss alles Nichtseyns, das Eine im Ge- gensatz zu aller Vielheit, so stellt sich neben dem Gedanken jenes ersten der des zweiten so ein, wie neben der Concavität einer Fläche die Convexität ihrer anderen Seite. Die Eleaten sind, wie Aristoteles richtig sagt, „gezwungen" gewesen neben ihrer Wissen-

42 Alte Philosophie. Erste Periode (Unreife).

Schaft vom Seyn eine Theorie von dem aufzustellen, was sie doch für Schein erklärten. Besteht der Fortschritt, wie früher (§. 25) bemerkt worden, darin dass mit Wissen und Willen gethan wird, was auf einem früheren Standpunkt unbewusst (gezwungen) ge- schah , so wird im Namen des Fortschritts eine Philosophie postu- lirt seyn, welche das Seyn und das Nichtseyn, das Eine und das Viele, darum aber auch die Metaphysik und die Physik verbindet. Die metaphysischen Physiologen, oder physiologischen Me- taphysiker, nehmen daher die höhere Stellung gegen die bisher betrachteten Gruppen ein, welche wenigstens zweien von ihnen „den ionischen und sikelischen Musen" Plato mit unverbesserlicher Genauigkeit angewiesen hat. Wenn Aristoteles sie zu den Physio- logen rechnet, so übersieht er, dass seine eigne Begriffsbestim- mung auf sie nicht mehr passt, da sie nicht aus Stoiflichem „allein" Alles ableiten.

in.

Die metapliysischeii Pliysiologeu.

§. 42. Der erste Schritt, der in dieser Pachtung gemacht wird, ist: zu zeigen dass das, was Purmenidcs geleugnet hat aber immer wieder statuiren muss, das Nichtseyn, eben so wie das Seyn Prä- dicat von Allem sey. Sind sie es beide, so ist die Einheit beider, das Werden, trotz des darin liegenden Widerspruches die eigent- lich allein wahre Kategorie. Zu diesem rein metaphysischen Fort- schritt kommt dann als zweiter hinzu, dass die Kategorie sogleich auch physikalisch angeschaut wird. Zu seiner physischen Erschei- nung kann das Werden keinen natürlichen Stoff haben, sondern nur einen natürlichen Process. HeraklU, der diesen doppelten Schritt über die Eleaten hinaus macht, sieht das Werden in dem Verüüchtigungs - , besonders dem Verbrennungsprocess. Von einer Unterscheidung des Materiellen und Geistigen, des Physischen und Ethischen ist hier noch nicht die Rede, und die verschiedenen Grade des Feuers sind zugleich verschiedene Stufen des Lebens und der Erkenntniss. Was sich der Einwirkung des Urfeuers ent- zieht oder verschliesst, trennt sich vom Allleben und der Allver- nunft und verfällt dem Tode , so wie dem Idiotismus und Egoismus.

§. 43.

A.

Uerakleitos.

Schleiermacher Herakleitos der Dunkle u. s. w. in Wolf und Buttmann Museum der Alterthumswisseusch. I Bd. 1808. Später in: Schi. Sämmtl. WW. II, 2. p.

III. Die metaphysischen Physiologen. A. Herakleitos. §. 43, 1. 2. 43

1 146. Beiiiays Heraclitea. Bonnae 1848. Bess. Heraklitische Studien und : Neue Bruchstücke des Heraklit im Rhein. Mus. Ferd. Lassalle Die Philosophie Heraklei- tos des Dunklen von Ephesos. Berlin 18.58. 2 Bde.

1. Herakleitos , der Solin des Bhjson, nach den Meisten in Ephesus geboren , soll um Ol. 69 geblüht haben und als Sechziger gestorben seyn. Aus einer vornehmen Familie stammend, in wel- cher das, von ihm seinem Bruder überlassene, Ehrenamt des ßa- ciXzvg erblich war, ist er stets ein Verächter der Masse gebheben. Die polemische Art in der er den Thaies, Xcnop/fanes und Py- thagoras erwähnt, so wie sein Pochen darauf, dass er Autodidact, beweisen dass seine Vorgänger ihn besonders dadurch gefördert haben, dass sie seinen Widerspruch hervorriefen. Sprüchwörthch ist sein Halten an der eignen Ueberzeugung geworden. Seine Schrift tibqI (pvascog, von Späteren wegen eines Platonischen Ausdrucks „Musen" genannt , hat vielleicht noch mehr ethische und politische Weisungen enthalten, als die erhaltenen Bruchstücke vermuthen lassen. Spätere Ausleger, deren er viele gehabt hat, mochten diese Lehren von den übrigen scheiden und so das Entstehen mehrerer Abtheilungen seines Werks, endlich der Sage, dass er mehrere geschrieben habe, veranlassen. Sein düsterer gedrungener Cha- rakter spiegelt sich in seinen Schriften, die, vom Sokrates als schwer verständhch bezeichnet, ihm früh den Beinamen des Dun- keln gegeben haben. Neben dem Tiefsinn derselben und Entleh- nungen ausländischer Ijehrcn trugen vielleicht stylistische Gründe mit dazu bei.

2. Im Gegensatz zu den Eleaten, welche nur dem Seyn Wahr- heit zugeschrieben, das Nichtseyn geleugnet hatten, behauptet He- raJilU dass Alles, oder auch dass Ein und dasselbe, sey und nicht sey. Damit ist an die Stelle des eleatischen Seyns seine Einheit mit dem Nichtseyn d. h. das Werden getreten, und der Gedanke dass Alles werde und Nichts ruhe , dass Alles in einer steten Ver- änderung begriffen sey, sowohl die Dinge als das betrachtende Subject, dem er deshalb ausdrücklich das Seyn abspricht, dieser Gedanke wird in den mannigfaltigsten Wendungen von ihm ausge- sprochen. Fiel dem Xcnophanes das Seyende mit dem unterschieds- losen Einen zusammen, und hatte Parmenides den Eros oder die Freundschaft über Alles gesetzt, so gefällt sich dagegen llerahlil darin, Alles als sich Widersprechendes zu fassen, er preist den Streit, tadelt den Homer wegen seiner Friedenshebe, denn Ruhe und Stillstand {axÜGiq) ist nur bei den Todten. Mit diesem steten Fluss der Dinge hängt die Unsicherheit der Sinne zusammen. Die- sen nämlich ist jener Fluss, den die Vernunfterkenntniss wahr-

44 Alte Philosophie. Erste Periode (Unreife).

nimmt, verborgen, und weil was wir sehen starr und todt, des- wegen sind Augen und Ohren schlechte Zeugen. (Man vergleiche damit des Contrastes halljer was Melissas lehrt §. 38, 3.) Viel- leicht dass der Vorzug, der dem Geruch gegeben wird, sich darauf gründet , dass er die Verflüchtigung percipirt und also am Meisten durch Formwechsel bedingt ist.

3. Ein zweiter Gegensatz zu den Eleaten ist, dass hier das Princip auch physikalisch angeschaut wird. Das Werden physika- lisch geworden tritt einmal in der Zeit hervor, die wirkhch nach Sextos Empeirihos von Herallit zum Princip gemacht worden seyn soll (während Xeiiophanes und eben so Parmeindcs sie geleug- net hatten) , dann aber in einer concreteren Weise in dem ele- mentaren Process der Verbrennung. Nicht etwa in einer schaf- fenden Gottheit hat HernMit den Grund des Alls gesucht, sondern es war stets ein ewig brennendes Feuer. Dieses als einen Stoff ansehn, durch dessen Verdichtung und Verdünnung die Mannig- faltigkeit erklärt würde, wäre ein Missverständniss. Sondern ver- schiedene Grade des Verbrennungs - oder auch Verflüchtigungs- Processes sieht HernMit in den verschiedeneu Naturpotenzen, die als nvQoq TQOTtai in dem Verhältniss zu einander stehn, dass Jedes den Tod des Anderen lebt, in Allen aber der Verbrennungsprocess der Maassstab des wahren Seyns ist, wie das Gold Werthmesser der Dinge. Dieser Inbegriff alles Piealeu wird dann sogleich als das auch räumlich Begi^eifende gedacht und erhält die Namen des Tc^QiExov, des TiegiodiKov tivq u. s. w. Die beiden Formen des Wer- dens, das Entstehen und Vergehn, erscheinen, wie jenes im Feuer- process, so diese im Steigen und Fallen desselben, in jener 68og avco xßTO) , bei der die räumliche Richtung nicht wesentlicher ist als die Steigerung und Schwächung. Das Starr- und Kaltwerden ist das Herunterkommen.

4. Die untrennbare Verbindung der beiden Momente des Wer- dens wird von Herallit in den verschiedensten Formen gelehrt. Bald indem er beide Wege als einen bezeichnet, bald indem er von einem Abwechseln des Verlangens und der Sättigung spricht, oder auch von einem Spiel in welchem die Welt producirt werde, bald indem er sagt, dass die Nothwendigkeit die beiden Gegen- strömungen regle. Als Namen kommen für diese Macht vor: El- (xaQuivyj, Jal^cov , Tvcop/ , JiKt] U.A. Persisch-magische Einflüsse hat man wohl mit Recht darin gefunden, dass die Dienerinnen dieser Macht, welche er den Saamen alles Geschehens und das Maass aller Ordnung nennt, Zungen genannt werden. Dagegen schliesst sich HevfMit der vaterländischen Mythologie an, wenn

ni. Die metaphysischen Physiologen. A. Herakleitos. §. 43, 4. 5. 45

er neben den Zeus (d. h. das Urfeuer) als die beiden Seiten seines Wesens den Apollon und den Dionysos stellt. In dieser doppelten Richtung, d. h. Scala, werden die Extreme gebildet von der star- ren Erde unten und dem beweglichen Feuer oben, welches als Element (Hephaistos) von dem in allen Elementen verborgenen Urfeuer (Zeus) unterschieden wird. Das Letztere ist das im Kreis- lauf der Elemente Bleibende, daher nie als solches Hervortretende. Das Feuer , als der extreme Gegensatz zur starren Leiblichkeit wird als das bewegende und beseelende Priucip gedacht. Zwischen ihm und der Erde steht in der Mitte das Meer, halb aus Erde halb aus feuriger Luft bestehend, darum jene niederschlagend diese ausdünstend, und oft der Saame der Welt genannt. Das Ueber- gehn in die starre Leiblichkeit wird darum bald als Verlöschen bald als Feuchtwerdeu bezeichnet, das Feurigwerden dagegen ist ein Lebendigerwerden. Darum ist, selbst wenn der bei den Stoi- kern vorkommende Ausdruck UTtvocoaig Heraklitisch Aväre, darunter kein Untergang zu verstehn, sondern vielmehr in dem ewigen Kreis- lauf aller Dinge, dessen Ablauf das grosse Jahr des Hernklits seyn mochte, der eine Wendepunkt, welchem als der diametral entgegengesetzte das Werden zum Erdschlamm gegenüberstünde. 5. Eine Bestätigung seiner Ansicht fand Heraklit in den me- teorischen Erscheinungen, zu denen er auch die Gestirne rechnet. Sie sind ihm Ansammlungen glänzender Dünste in den nachenför- migen Höhlungen des Himmels, oder Zusammenfilzungen von Feuer, immer aber entstanden und genährt durch die Ausdünstungen der Erde und des Meers. So besonders die Sonne, die täglich ihr Licht ausstrahlt und verliert, und täglich sich durch jene Nahrung erneut. Weil die Ausdünstung eine doppelte ist , eine dunkle und feuchte, so wie eine trockne und leuchtende, so werden Tag und Xacht , Verfinsterungen und meteorische Lichterscheinungen daraus erklärt, dabei aber ilu-e strenge Gesetzmässigkeit hervorgehoben. Mehr noch als in den elementaren Naturpotenzen kreuzen sich in den aus ihnen zusammengesetzten organischen Wesen die beiden entgegengesetzten Richtungen. Vielleicht weil sie hier schwerer zu erkennen, sagt Ilerallif dass die verborgene Harmonie besser sey als die offenbare. Vereinzelte Aeusserungen weisen darauf hin, dass er eine Stufenfolge von Wesen annahm. Weil in derselben Nichts des Lebensprincipes ganz entblösst ist, deswegen ist ihm Alles voll Götter und Dämonen, und ein Gott nur ein unsterbli- cher Mensch, wie der Mensch ein sterblicher Gott. Aber auch der Mensch ist von seiner bloss leiblichen Seite genommen, etwas Werthloses, er heisst der von Natur Vernunftlose. Leben, Seele

46 Alte Philosophie. Erste Periode (Unreife).

und, da dies mit Bewusstseyn und Erkennen Eins ist, auch dieses, kommt ihm nur zu durch Theilnahme an dem allbelebenden Feuer und seiner reinsten Erscheinung, dem Umfassenden. Dies ist das al- lein Vernünftige, an welchem die Seele, je wärmer und trockner sie ist um so mehr, daher in warmen und trocknen Ländern leichter, Theil nimmt. Consequenter Weise ist ihm das Hineintreten der Seele in den Leib ein Feuchtwerden, also ein Erlöschen und Ster- ben. Dagegen ist das Sterben des Leibes das eigentliche Wieder- aufleben der Seele.

6. Weil das eigenthch Vernünftige das Umfassende ist, des- halb ist die Vernunft das Allen Gemeinsame {%oiv6v) und der Ein- zelne hat nur Theil an ihr , wenn er durch alle Eingänge , nament- lich die Sinne, sich von ihr durchdringen lässt, und, gleich der Kohle die dem Feuer nahe bleibt, von ihr durchglüht ist. Nicht nur der Schlaf, dieses Mittelding zwischen Leben und Tod, wäh- rend dessen sich die Thore der Sinne schliessen, und der Mensch nur durch das Athmen an dem Umfassenden Antheil hat, sonst aber in seiner eignen Welt lebt, isolirt den Menschen, sondern eben so schliesst sich der Mensch ab durch seine bloss subjective Meinung, die Hernidit für eine Krankheit erklärt, von der freilich Keiner ganz frei ist, indem Jeder den kindischen Spielen des Mei- nens nachhängt, und den Wahn hegt, es sey die Vernunft in ihm seine eigne. Bei diesem Hervorheben des Gemeinsamen gegen die isolirende subjective Betrachtung, war es begreiflich, dass ihm die Sprache als das eigenthche Mittel des Erkennens galt, und dass er der Erste war, der sie einer philosophischen Betrachtung un- terzog. Auch seine ethischen Lehren stimmen ganz mit seinen übrigen zusammen: Das Feurigwerden fällt ihm mit dem Guten, das Starr- und Todtwerden mit dem Uebel zusammen. Wie jene beiden Bewegungen , so gehören auch Gutes und Böses zusammen, und bilden die Harmonie, wie sich in der Form des Bogens oder der Lyra entgegengesetzte Spannungen harmonisch vereinigen. (Dass anderwärts anstatt des Bogens der Pfeil genannt wird, lässt Lns- salle auch an dieser Stelle eine Anspielung auf die doppelte Wirk- samkeit des Apollon vermuthen.) Darum ist auch hier nicht die Ruhe , sondern der Streit das Höchste. Was im Theoretischen die Meinung, das ist hier der sich überhebende Eigenwille. Dieser muss unterdrückt werden, so schwer dies auch ist, und wie dort der Koivoq löyog SO ist hier das Gesetz das Höchste. Mehr als für die Mauern soll der Bürger für die Gesetze der Stadt kämpfen. Darum ist auch, was Uernklit vom Menschen verlangt: die Erge- bung unter die Nothwendigkeit, als Frucht der Erkenntniss, dass

III. Die metaphysischen Physiologen. A. Ilerakleitos. §. 44. 47

das wechselnde Uebergewicht des Guten und des Uebels viel bes- ser ist, als was die eigensüchtigen Wünsche verlangen. Weil auf solcher Einsicht beruhend, deswegen ist diese Ergebung eine freie, und die Polemik gegen Astrologie und andere fatalistische Ansich- ten streitet nicht gegen die Forderung dieser Resignation.

Diog. Lah-t. IX, 1. Plac. phil. I, 3. 13. 23. 27. 28. II, 17. 21. 24. 25. 27. 28. 32. III, 17. IV, 3. V, 23. Tieüer et Bitter 1. c. §. 35—50. Gesammelte Fragmente bei Henr. Stephanus 1. c. p. 129 155. Schleiermacher 1. c. Bernai/s 1. c. LassaUe 1. c. MuUach 1. c. p. 315 329.

§. 44. Die Polemik des Hernklit gegen die Eleaten drückt seinen vornehmeren Standpunkt herab zu einer, der ihrigen entgegenge- setzten, Einseitigkeit. Noch mehr geschieht dies bei seinen Schü- lern. Wenn Kratylos ^ den Meister überbietend es nicht niu' für unmöglich erklärt zweimal, sondern auch nur einmal in denselben Fluss zu steigen, so macht er dadurch den IlerakfU zu einem Leugner alles Seyns. So kann es kommen, dass die Skeptiker, die nur das Nichtseyn statuiren, ihn zu sich, so ferner dass jiri- stoteles ihn zu den blossen Physiologen rechnet, worin ihm zwar Unrecht geschieht, aber nicht ohne Grund. Neben dem, von lle- raklit zu Ehren gebrachten Werden das Eleatische Seyn festzu- lialten , ohne dabei in abstracte Metaphysik zurückzufallen, ist da- her die Aufgabe. Es wird mit den Eleaten und im Gegensatz zu Herakiit unveränderliches Seyn angenommen werden müssen, das aber, im Gegensatz zu ihnen, als physikalischer Stoff und, im He- raklitischen Geiste, als Vielheit gedacht wird. Also Vielheit un- veränderlicher Grundstoffe. Es wird weiter, mit Herakiit und im Gegensatz zu den Behauptungen der Eleaten, \\irkhcher Process angenommen werden, dieser aber mrd nicht, wie bei Herahiit, ein Brennen ohne Substrat seyn , sondern ein Process an Substra- ten, dem aber, anders als bei den reinen Physiologen, bewusster Weise metaphysische Principien zu Grunde liegen. Der Mann, den Nationalität und Bildungsgang befähigten, diesen Fortschritt zu machen, und in seiner Lehre Alles zusammenzufassen, was die bisherigen Philosophen gelehrt hatten, so dass es keine einzige Schule gibt, zu der er nicht mit scheinbarem Rechte wäre gezählt worden, bei dem das chaotische Urgemisch des Anaximandros, das Wasser des Thaies , die Luft des Jiia.iimencs , die Erde und das Feuer des Parmenides und Ilcraklif , die Liebe der Eleaten, der Streit des Herakiit, die Verdichtung und Verdünnung des T/ia- les und Anaximenes, die Mischung und Scheidung des Anaximim- dros, endlich die Herrschaft der Zahlenverhältnisse in den Mischun- gen wie bei den Pythagoreern, Anerkennung findet, ist Empedokles.

48 Alte Philosophie. Erste Periode (Unreife).

§. 45.

B.

Empeilokles.

Fr. Q-uü. Sturz Empedoeles Agrigentiuus. Lips. 1805. Karsten 1. c. Vol. II. Amst. 1838. Lommatzsch Die Weisheit des Empedokles. Berl. 1830. Steinhart Art. Empedokles in Ersch u. Gruber's Encyclopädie.

1. Empedokles . Sohn des Meton in Akragas (Agrigent) auf Sicilien als Spross einer vornehmen Famihe geboren, hat wahrschein- lich von Ol. 72 bis Ol. 87 gelebt. Durch patriotische Gesinnung, Beredsamkeit und ärztliche Kunst berühmt, hat er der letztern und manchem Ausserordentlichen in seiner Lebensweise den Namen eines Zauberers zu verdanken. Sein Tod ist frühe mit fabelhaften Umständen im entgegengesetzten Interesse ausgeschmückt. Be- deutende Gewährsmänner lassen ihn mit pythagoreischer Lehre vertraut seyn, und wenn auch die Chronologie verbietet ihn zu einem persönlichen Schüler des Piithngorns zu machen, so haben ihn doch auch noch Neuere Pythagoreer genannt. Andere, darauf fussend dass Nachrichten ihn zum Schüler des Parmcnides machen, nennen ihn einen Eleaten. Die Meisten endlich rechnen ihn nach dem Vorgange des Aristoteles zu den Physiologen. Die Zusam- menstellung mit Hernklit bei Plato^ gerechtfertigt auch durch den Einfluss den er von dem Ephesier erfuhr, weist ihm seine eigent- liche Stelle an. Von den Schriften des Empedokles , deren Titel verschieden angegeben werden, sind von zweien, der Schrift nsgl (pva^cog und den na^aQ^olg Fragmente erhalten. Einige der Neue- ren halten die letzteren, so wie auch die larQiKa, für Abtheilungen der erstgenannten Schrift.

2. Mit den Eleaten hält Empedokles dem von ihm für un- möghch erklärten Entstehen gegenüber, das unveränderliche Seyn fest. Indem er aber das von den Eleaten geleugnete Moment der Vielheit und Materialität anerkennt, wird ihm das Seyn zu einer Vielheit unveränderlicher Grundstoffe, deren Vierzahl er zuerst gelehrt, deren Uebergang in einander er geleugnet hat. Ihre Be- zeichnung mit den Namen der Volksgötter , dabei der Vorzug den er dem Feuer als dem Zeus gibt, erinnert an TIeraklit, die Vier- zahl an die Pythagoreer. Zu diesen unveränderhchen Substraten (^'i^cJjuatß, vXiKCil uQiai) kommen zwei principielle Kräfte oder for- mende Principien, Freundschaft und Streit, d. h. die, zunächst nur physikahsche, Anziehung des Verschiedenartigen, und ihr Gegen- theil, durch welche die starre Ruhe der Eleaten vermieden, an die Stelle aber des Heraklitischen substratlosen Processes ein Pro- cess an den Substraten , die Veränderung , mit ihren beiden Ana- ximandrischen Formen Mischung und Trennung, gesetzt wird. Jene

III. Die metaphysischen Physiologen. B. Empedokles. §. 45, 3. 49

beiden tliätigen Priiicipien sind untrennbar verbunden und ihre Ein- heit heisst bald Xoth^Yendigkeit bald Zufall. Aus einzelnen Aeus- serungen des Empedokles zu folgern, ihm sey die Freundschaft mit dem Feuer , der Streit mit den übrigen Elementen zusammen- gefallen, hiesse die Klarheit seiner Lehre trüben. Richtiger als ihn so zu einem blossen Physiologen zu machen, ist es mit Ari- stolrics anzuerkennen, dass er neben den materiellen Substraten die tliätigen Principien als bewegende Ursache gedacht habe.

3. Als der primitive Zustand der Materie wird ein iiiyixa an- gegeben, das oft i)ythagoreisch als das Eine, eleatisch als das Seyende , ferner als das All oder die ewige Welt , gewöhnlich aber nach seiner Gestalt als der arpatoog bezeichnet wird, welchem na- ttu'lich keine bestimmte Qualität zukommt, und das, als ein sol- ches cmoiov , dem chaotischen Unbestimmten des Anaxhnandros entspricht. Da solches Gßmischtseyn , welches so innig ist, dass es keinen leeren Pvaum duldet, den Gedanken sehr kleiner Theile involvirt . so hat man den EmpedoUes theils mit den Atomikern identificirt, theils ihm die Anschauungen des Anaxurioras geliehen, ja selbst die Ausdrücke, die diesem einmal zugeschrieben werden. Ausser dem Grpcdooq . als dem Ganzen, kann natürlich kein Seyn weiter angenommen werden, und alle Vorstellungen von einer trans- seendenten Gottheit sind entweder dieser Lehre geliehen oder In- consequenzen derselben. Eben so wenig ist daraus, dass nicht die einzelnen Sinne (welche der Perception der einzelnen Elemente bestimmt sind) , sondern der vovg den Sphairos percipirt , mit man- chen Aelteren und Neueren zu schliessen, Empedol/es habe einen ■/,6a(iog voYiTÖg im Platonischen Sinne gelehrt. In dem ursprüngli- chen Mischzustande ist natürlich nur die Freundschaft wirksam, oder wenigstens der Streit auf ein Mindestes zurückgedrängt. Da- bei liegt die Verwechslung der Einheit und des Einigenden so jiahe , dass es nicht befremden darf, wenn das Eine und die Liebe als Synonyma vorkommen. Indem in jenem Gemisch sich der Streit geltend macht, trennen sich die Ungleichartigen , und es ist mit Unrecht eine Inconsequenz genannt worden , dass bei ihm der Hass (das Gleichartige) vereine. Jetzt vereinigen sich die gleichen Theile, d. h. es erfolgt die Scheidung der Elemente. In welcher Reihenfolge sie sich ausschieden, darüber streiten die Xachrich- ten. Weil es eine Scheidung des Ungleichartigen ist, deswegen ist nach Empedokles der Himmel ohne Liebe geworden, und die Elemente der Welt sind vom Hass beherrscht. Nur ein Theil aber des Ganzen tritt in diese Sonderung und nur in diesem, dem xoöftog, heiTScht der Streit, nicht aber in dem übrigen All. Nur

rnlinarin , Gosoli. d Tliil. I. A

50 Alte Philosophie. Erste Periode fUnreife).

selten wird iin Heraklitischen Sinne der ungeschiedene, chaotisch bleibende, Theil des Sphairos als todte Materie bezeichnet, ge- wöhnlich sieht Empedokles (eleatisch) darin das Höhere und lässt eben darum allendlich Alles in diese Negation jeder Besonderheit wieder zurückgehn.

4. Nur die einfachen Elemente danken natürlich ihre Sonder- existenz dem Streit; die anderen, besonders die organischen, We- sen sind, als sehr zusammengesetzt, Product der Liebe, durch welche die ursprünglich einzeln aus dem Boden hervorwachsen- den Glieder zusammengehalten werden, und deren immer grössere Macht sich in der Stufenfolge immer zusammengesetzterer Wesen zeigt. Ausser der Zahl der Componenten bedingt auch das Ver- hältniss der Mischung, welches sogar (pythagoreisch) in Zahlen ausgedrückt wird, die Vollkommenheit der Organismen. Sogar der Mensch aber, der vollkommenste und darum zuletzt hervor- getretene, ist als besonderes Wesen nichts Ewiges, und die See- lenwanderung vertritt hier die Unsterblichkeit. Dass der Mensch selbst aus ihnen besteht, setzt ihn in Stand, alle sechs Principien zu percipiren. Das Feuer in ihm percipirt das Feuer ausser ihm u. s. w. Bei der Betrachtung der Sinneswahrnehmungen scheint er sehr ins Detail gegangen zu seyn und Vieles durch die Annahme von Poren erklärt zu haben. Nirgends ist die Mischung der Ele- mente inniger als im Blute. Dies ist ihm deshalb der Sitz des v6i]^a, d. h. des Complexes aller Perceptionen. Die Erkenntniss durch die Sinne ist, weil sie auf das Einzelne (ein Element) geht, trü- gerisch, sie vermag nur das Getrennte, daher nicht den Sphairos zu erfassen, anders dagegen das vorj^ia, Avelches selbst der Verein der Perceptionen, auch das durch Liebe Geeinigte erkennt. Wie Lebens- und Erkenntnissprincip hier noch ganz zusammenfallt, eben so der Begriff des Uebels und des Bösen. Nur iti dem, der Scheidung verfallenen, KÖa^og soll es dessen geben, jenseits, im aq)aiQog, ist Alles gut. Die asketischen Regeln, welche Empedokles gibt, sind auf die Achtung vor allen Erscheinungen der Liebe gegründet. Was, namentlich in den Katharmen, von religiösen Lehren enthalten ist, betrifft namentUch das jenseitige Leben, so- wohl der Seligen im Göttersitze, als der schuldbeladenen in rast- loser Flucht durch die Welt Gejagten. Es zeigt viele Berührungs- punkte mit Pythagoreischen Lehren, stimmt aber nicht immer zu den eignen des Empedohles. Gleiches gilt von den Aeusserungen über die Volksgötter, wo er darunter nicht, wie oben, die Grund- stoffe versteht. Ausführlich dargestellt und richtig gewürdigt hat diese Lehren Zeller (a. a. 0. 2tp Aufl. Bd. I p. 547 ftV).

m. Die metaphysischen Physiologen. Uebergang zu den Atomikern. §. 46. 51

Diog. LaeH. VUI, 2. Plac. phil. I, 3. 5. 13. 15. 17. 18. 24. 26. 30. II. 1. 6. 7. 8. 10. 11. 13. 20. 21. 23. 27. 30. HI, 8. 16. IV, 5. 9. 13. 14. 16. 17. 22. V. 7. 8. 10. 11. 12. 14. 15. 18. 19. 21. 22. 24. 25. 26. 27. 28. PieUer et Hüter

§, 168 181. Die gesammelten Fragmente s. b. Henr. Stephanus 1. c. p. 17 31.

Sturz 1. c. Karsten 1. c. MnUach 1. c. p. 1 14. (Comment. 15—80).

§. 46.

Der Vorwurf, den man dem HeralUt mit einem Anschein von Recht, seinen Nachfolgern ganz mit Recht, machen konnte, dass sie eigentlich nur das Nichtseyn statuirten , diesen wird dem Em- pedokles Niemand machen. Wohl aber den entgegengesetzten: Das Leere, dieses physikalisch angeschaute Nichtseyn, wird aus- drücklich von ihm geleugnet. Nicht nur dass dies eine Art von Recht gibt, ihn ganz zu den Eleaten zu rechnen, es verwickelt ihn auch in Widersprüche, welche vielleicht Plato bewogen ihn so weit unter HeraLlU zu stellen. Dass alle Mannigfaltigkeit nur durch öiaort'jaaTcc, d. h. durch das Zwischentreten des Leeren, ent- steht hatten die Pythagoreer gezeigt; dass Bewegung nur möglich sey vermöge des Leeren, wussten schon die Eleaten. Da nun durch dieses beides aber die Welt entsteht , so wird ihre Realität behauptet, die Bedingungen derselben aber geleugnet. Ein glei- cher Widerspruch ist es, wenn dem in die Scheidung getretenen Theil des Alls der Ehrennahme des y.oGfiog ertheilt, dann ihm aber der ungeschiedene Theil des Sphairos , also die chaotische Unord- nung der Ordnung, vorgezogen wird, ganz zu geschweigen der untergeordneten Widersprüche, dass der Leugner des Leeren so Vieles durch Annahme von Poren erklärt u. s. w. Der durch solche AVidersprüche geforderte Fortschiitt wird darin bestehn, dass im Gegensatz zu den Eleaten und IhralVd der metaphysische Grund- satz geltend gemacht wird, dass Seyn und Nichtseyn ganz gleiche Berechtigung haben, und dass dies, weil die Zeit der blossen Me- taphysik zu Eiide , in einer Physik durchgeführt wird , in der den vielen unveränderlichen Substraten, als dem Sepi, das Leere als das Nichtseyn gegenül)ersteht , beide aber durch Lieinandertreten das physikalisch angeschaute Werden, Bewegung und Veränderung, hervorbringen. Der Atomismus der Abderitischen Philosophen' macht diesen Fortschritt. Selbst wenn die Vertreter desselben nicht, was bei seinem Hauptrepräsentanteu nachweislich ist, ihre Vorgänger in der Pliilosophic gekannt hätten, würden wir daher sagen müssen, dass ihr Standpunkt alle bisherigen überrage, weil in sich vereinige.

4*

52 Alte Philosophie. Erste Periode (Unreife).

§• 47.

C.

Die Atomiker.

F. Papcncordt De Atomicorum doctrina. Berol. 18.32. F. G, A. Mullach De- mocriti Abderitae Operum fragmeiita. Berol. 184.3.

1. Da vom Levlipjws fast Nichts bekannt ist, indem die Zeit- angaben schwanken, von seinen Schriften Nichts auf uns gekom- men ist, und es vielleicht nur auf einem Missverständniss beruht, dass T/teop//rast ihm eine demokritische Schrift soll zugeschrieben haben , so ist sein Landsmann und Schüler oder jüngerer Gefährte, der Abderite DcmolrHos , des Ilegesisiratos Sohn, um so mehr als der wahre Repräsentant des Atomismus anzusehn, als er in sein Werk wohl Alles aufgenommen haben möchte, was Jener ge- lehrt hat. Um Ol. 80 geboren, hat Demoh-it sein grosses Ver- mögen auf Reisen ausgegeben, um in allen damals bekannten Län- dern Schätze des Wissens zu sammeln , mit denen beladen er in seine Heimath zurückkehrte, wo er in sehr hohem Alter gestor- ben ist. Von den vielen Werken, die Tlirasifllos in Tetralogien zusammengestellt hat, sind manche vielleicht Unterabtheilungen grösserer Werke. Die wichtigsten waren wohl sein ^syctg und fii- KQog 8i(xyioai.iog , die im Zusammenhange die Atomenlehre und Welt- Construction enthielten. Ihnen gehören wohl viele der Fragmente an, die erhalten sind. DemokrWs Styl war trotz einzelner Solö- cismen im Alterthum berühmt.

2. Die Uebereinstimmung der atomistischen Lehre mit der eleatischen, welche von alten Gewährsmännern durch historische Zusammenhänge erklärt wird, zeigt sich darin dass beide ein wirk- liches Werden (der Vielen aus Einem oder des Einen aus Vielem) leugnen. Weiter darin dass sie das Raumerfüllende als das ov fassen und ihm unveränderliche Realität zuschreiben , endlich dass sie das Leere als das fit} ov bezeichnen. Eben so aber stimmen die Atomiker, und hier wohl auch nicht ohne historische Zusam- menhänge , mit dem Herahlil überein , und es wird diesem Gegner der Eleaten , ganz wie ihnen , Recht und Unrecht zugleich gegeben in dem Satz, der die Summe der atomistischen Metaphysik ent- hält: Das Seyn ist nichts mehr als das Nichtseyn. Das Weitere aber ist, dass diese Gedankenbestimmungen zugleich physikalisch gefasst werden: das Seyn als das Volle {iilriQig), Raumerfüllende iexzQiov), Körperliche (ec5/ita), das Nichtseyn als das Leere (xivov), nach Anderen auch als das Dünne {iiävov). Die eigenthümliche Formuhrung dieses Gegensatzes in 8lv und ^ri6lv kann mit Ichts und Nichts wiedergegeben werden. Dass durch das Hineintreten

111. Die metaphysischeu Physiologen. C. Die Atomiker. §. 47, 3. 4. 53

des Leeren in das Seyn, dieses zu einer Vielheit wird, ist eine schon den Pjthagoreern geläufige Vorstellung. Das Seyn besteht daher aus einer unendlichen Menge sehr kleiner und, nur darum, unsichtbarer ö-pj^iara oder idiai, die weil sie gar keine Zwischen- räume haben nafmh'jQi], weil keine haben können döiaiQera, axo^a sind. Das Leere dagegen, wie es die Zwischenräume unter den Urkörperchen bildet, gibt die öiaGn'i^ara oder noQoi; wie es sie alle umgibt ist es das eigentlich so genannte Leere oder auch das fXTiziQov, mit welchem Namen ja auch schon die Pythagoreer es bezeichnet hatten. In dieser unendlichen Leere existirt eine un- endliche Menge von Welten, vielleicht von einander durch hautar- tige Wände geschieden, aber alle aus gleichen Atomen bestehend, wie verschiedene Werke aus den gleichen Buchstaben. Die Atome zeigen durchaus keine qualitativen Unterschiede, sie sind ctnoici, nur durch Grösse und Gestalt verschieden.

3. Nur durch Annahme eines wirklichen Leeren, ohne welches Alles eine einzige continuirliche Masse wäre, glauben die Atomiker Mannigfaltigkeit und Veränderung erklären zu können. Diese letz- tere reducirt sich auf die Bewegung, welche entweder ein umge- bendes Leeres oder aber , wenn sie Verdichtung oder Verdünnung ist, leere Räume im Innern, Poren, voraussetzt. Ganz wie Em- pcdokles lehren also auch die Atomiker ein Werden nur an dem unveränderlichen Seyn, und die Uebereinstimmung wird zu einer wörtlichen, wenn sie das Entstehen leugnen und es durch Mischung und Scheidung ersetzen. Nicht minder stimmt es mit Empedokles überein, dass die Nothwendigkeit {avüy/A], ölv)], dfiagfiivt]) diese Mischungen und Trennungen regle. Sie allein mag wohl auch die feuerähnliche Weltseele seyn, als die nach einer alten Nachricht Demohit Gott soll erklärt haben. Da diese regelnde Macht den Atomen nicht immanent ist, nach Aristoteles nicht natürlich son- dern gewaltsam wirkt, so ist sie nicht mit Unrecht Zufall genannt worden, und DemohriVs Polemik gegen dieses Wort will bloss sagen dass Nichts ausserhalb des Causalzusammenhanges stehe. Alles einen Grund habe. Die welche ihm auch eine teleologische Betrachtung leihen , vergessen dass er im Gegensatz zu dem vovq des Aiiaxuyoras (s. §. 52, 3.) ausdrücklich eine cpvGig äkoyog be- hauptet.

4. Die, selbst qualitätslosen, Atome geben qualitative Unter- schiede indem schon die grössere oder geringere Zahl derselben eine grössere oder geringere Dichtigkeit und also auch Schwere gibt, womit sogleich auch die verschiedene Wärme gesetzt seyn soll. Dazu kommt dass die Atome auch verschiedene Gestalt und

54 Alte Philosophie. Erste Peiüode (Unreife).

Grösse haben, und dass sie in verschiedener Lage und verschie- dener Ordnung sich verbinden können. So bestehen die Elemente aus Atomen von verschiedener Grösse, das Feuer aus den klein- sten und rundesten. Ihm ähnlich, aus, den Sonnenstäubchen ähn- lichen, Atomen bestehend, denkt sich Demolrit die Seele, welche den ganzen Körper durchdringt und sich im Athmungsprocess durch stetige Aufnahme ähnlicher Atome erneut. Wegen der allgemeinen Verbreitung dieser Atome wird keinem Körper die Beseelung ganz abgesprochen. Da Beseelung und erkennendes Princip nicht un- terschieden werden, so ist die Erkenntnisstheorie rein physikalisch : Von den Gegenständen ausströmende Bilder treffen unmittelbar oder mittelbar das Sinnesorgan, und erregen dadurch Empfindun- gen. Da nun von diesen viele, namentlich die des Gesichts, nicht sowol angeben wie die Gegenstände an sich (irc?)) beschaffen sind, als vielmehr wie sie uns afficiren oder für uns (vo'ftro) sind, so muss zwischen der täuschenden ((thot/tj) und wahren (yvi]air]) Erkenntniss unterschieden werden. Die letztere, die Vernunft -Erkenntniss oder öidvoia geht auf die zu Grunde liegende (h ßvOa) Wahrheit, näm- lich auf die Atome, gTündet sich aber ganz wie die andere auf materielle Einwirkung und betrifft Erscheinungen (cpaivofisva).

5. Ethische Bestimmungen sollte man auf diesem Standpunkte kaum erwarten. Doch sind eine Menge von Sittensprüchen und ethischen Forderungen aufbewahrt worden , deren Autor Demokrü seyn soll. Sie haben sich noch gemehrt, seit man angefangen hat auch die ihm zuzuschreiben, die früher dem Demohrafes beigelegt wurden, so dass die Kritik bereits anfängt, wieder zu sichten. Weil einige dieser Sentenzen nicht recht zu dem Materialismus der Lehre zu passen schienen, ist die Ansicht geltend gemacht worden, sie seyen früher, der Diakosmos im späteren Alter ver- fasst worden. Von vielen aber der Weisheitssprüche wird man noch weniger leugnen können, dass ein Greis sie erfand, als von der Atomenlehre, die vielleicht schon dem Jünglinge üemokrU überliefert wurde, llebrigens wäre er nicht das einzige Beispiel, dass das Leben andere Maximen aufdrängt, als die entworfene Theorie. Was den Inhalt seiner ethischen Rathschläge betrifft, so stimmt das Preisen des Gleichmuths (bvsgtcö) ganz gut zu seinem Nothwendigkeitssystera ; manche seiner Aussprüche sind ziemlich trivial, andere zeugen von einem welterfahrenen Sinn und einem liebevollen Herzen, noch andere kann nur ein alter Hagestolz er- sonnen haben. Die , welche die Sittlichkeit mit dem Gedanken an die G()tter zusammenbringen, möchten am Schwersten mit seinen sonstigen Lehren zu vereinigen seyn, da es bekannt ist, dass er

III. Die metaphysischen Physiologen Sclilussbemerkuug. §. 48. 55

den Glauben an die Götter nur aus der Furcht vor Gewittern und dergleichen abgeleitet hat.

Aristot. de gen. et toir. luid auch sonst. Diog. Latrt. IX , 6 et 7. Plac. phil. L 1. 3. 7. 17. 18. 23. 25. 2G. II, 1. 3. 7. 15. 16. 20. 25. lU, 1. 2. 10. 12. 13. 15. lY. 1. 3. 4. 5. 7. 8. 10. 1.3. 14. 19. V. 2. 3. 5. 7. 16. 20. 2.5. Dazu Sto- baeus sowol iu den phys. als eth. Ekl. Preller et Ritter §. 75 91. Die Frag- mente am Vollständigsten bei MiiUach Fragm. phil. gr. p. 330 382.

§. 48. Mit den Atomikeiii schliesst sich die Periode der Männer, de- ren Lehre dem Aristoteles eine „träumende" Philosophie schien, weil sie die eigentlich griechische Weisheit nur im Embryoneuzu- stande zeigen. Sein Urtheil über dieselben : sie hätten noch keinen Unterschied zwischen dem Erkennenden und Erkannten gemacht, kann auch so ausgedrückt werden : Die eigenthümliche Würde des Menscheugeistes kommt noch nicht ziu* Anerkennung, und gibt dann den Grund an, warum dem griechischen Volke ihre Lehren als exotische Gewächse erscheinen mussten , selbst wenn die Weit- gereisten sie nicht wirklich aus dem Auslande gehabt hätten. Nicht dem Griechen, wohl aber den Naturvölkern ist es aus der Seele gesprochen, was die reinen Physiologen behaupten, dass Alles, der Mensch mit einbegriffen , modificirter materieller Stoff ist. Die absolute Herrschaft der Zalil und des mathematischen Gesetzes, welche der Pythagoreer verkündet, ist viel mehr Etwas, was der Chinese in seinem abgezirkelten Leben als was der heitere Grieche täglich erfährt. Die Absoi"ption aller Sonderexistenzen in einer einzigen Substanz , wie sie der Eleatisinus lehrt, erscheint eher als der Nachklang des indischen Pantheismus, denn als Grundsatz des hellenischen Geistes. Die Verwandtschaft der Heraklitischen Lehren mit denen persischer Feueranbeter hat sowol im Alterthum als in der Neuzeit historische Zusammenhänge zwischen beiden behaupten lassen, und auch wer sich nicht überzeugen lässt durch das, was vorgebracht ist , um den Empedokles als einen Schüler ägyptischer Priesterweisheit darzuthun, wird die Verwandtschaft seiner Lehre mit ihr nicht ableugnen können. Die Atomiker endlich, welche alle früheren Systeme beerben, können als die be- zeichnet werden, die nicht sowol das Wesen einer einzigen Vor- stufe des griechischen Geistes formuliren, als vielmehr das ganze Vorgriechenthum , wie es auf dem Sprunge zum Griechenthum steht.

56 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glauz).

Der alten Philosophie zweite Periode.

Der griechischen Philosophie Glanzperiode. (Attische Philosophie.)

§. 49. In dem Herzen Griechenhmds, in Athen, war bisher nicht phi- losophirt worden , weil es Anderes zu thun hatte : Griechenland zu befreien u. s. w. Erst nach diesen Leistungen geniesst es der, nach Aristoteles dazu erforderlichen, Müsse. In dieser Zeit aber hat der frühere Zustand, wo der eine Geist alle Athener so durchdrang dass die höher stehenden alten Geschlechter nicht als Junker ge- hasst, die Niedrigem nicht als Pöbel verachtet wurden, aufgehört. Das Ansehn und die Reichthümer welche Athen zugeflossen, haben in dem Einzelnen üebermuth und Eigennutz hervorgerufen, und immer mehr entwickelt sich die pöbelhafte , d. h. des Gemeingeists baare , Gesinnung der Masse , so dass der Edelste unter den Athe- nern, der diesem Zeitalter seinen Namen gegeben hat, sie benu- tzen, und in sofern nähren, muss um seine, d. h. des Staates, Zwecke zu verwirklichen. Er sowol als alle Uebrigen , die auf der Höhe der Zeit stehn, hätten gelächelt, wenn Einer wie Diogeiics ApoUoiüates behauptet hätte : der Masse wohne der Geist inne, oder wie Hcrahlit: Alles sey des Göttlichen voll. Als aber Anu- xagoras in Athen mit der allgemeinen Weltformel auftrat: der Geist ist es, der die Masse seinen Zwecken gemäss bestimmt, da mussten , mit dem Per'tldes selbst alle Uebrigen , in denen die neue- ren Ideen lebten, in ihm ihren Mann, den wahren Zeitverständigen erkennen. Von den Anhängern der alten Zeit ward, wie immer, der welcher ihren Verfall nur verkündigte, als der Urheber dieses Verfalls gehasst und verfolgt.

§. 50. Neben dieser welthistorischen Nothwendigkeit (vgl. §. 11), wel- che der Dualismus des Aimxagoras hat, ruft ihn auch dies her- vor, dass die bisherige Entwicklung der Philosophie ihn als noth- wendige Consequenz fordert : da nach den Atomikern die einzelnen materiellen Theilchen nicht eine qualitative Beschaffenheit haben, vermöge der sie sich, wie bei Empedokles , suchen oder fliehen, so muss freilich behauptet werden, dass in dem Materiellen kein Grund liegt, sich so und nicht anders zu verbinden. Da aber doch wieder ausdrücklich behauptet wird, diese Verbindung geschehe nicht grundlos, sondern ly. loyov, so haben die Atomiker zwei Sätze

Einleitimg. 1. Anaxagoras. §. 51. 52. 57

ausgesproclieu , aus denen als Prämissen nur die «ine Conclusion gezogen werden kann : der Gnind jener Verbindung, d. h. der Be- wegung, liegt im Immateriellen. Da nun weiter die Gründe der Bewegung, die im Immateriellen liegen. Beweggründe oder Motive heissen , so ist durch jene beiden Sätze der Atomiker die Behaup- tung , dass es ausser dem Materiellen Immaterielles gebe , welches nach Motiven das Materielle bewegt , d. h. einen nach Zwecken wir- kenden Verstand (i'o€'s), diese ist so nahe gelegt, dass der Ato- miker selbst es für nöthig hielt, dagegen zu polemisiren.

§• 51. Anaxayorus ist der Vater der Attischen Philosophie, nicht nur weil er die Philosophie nach Athen verpflanzt, sondern weil er ihr das Thema gegeben hat, das sie hier durchzuführen hat. Seine Behauptung, dass der vovg das Höchste sey, und die darin ent- haltene Forderung, dass überall nach dem Wozu"? geforscht wer- den müsse, hat Keiner der folgenden aufgegeben. Trotz des Un- terschiedes zwischen den Sophisten . die in dem i'org nur Pfiffigkeit und dem Aristoteles der darin die sich selbst denkende Allvernunft sah, trotz des Gegensatzes dass „wozu?" bei Jenen heisst: wozu nütze? und bei Diesem: in wiefern berechtigt? bewegen sich Beide innerhalb der vom Jnaxat/oras zuerst gesteilen Aufgabe. Eben so Alle , die z^Nischen die Sophisten und Aristoteles fallen. Im Ana- xagorns hat die griechische Philosophie ihren embryonischen Zu- stand, in dem sie ^'orgriechisches lehrte, überwunden. Das Prin- cip seines und alles Daseyns setzt der Geist hier nicht mehr in ein Element, oder in die mathematische Regel, oder in das Zu- sammentreifen der Atome, sondern in das, worin er über alles Na- türliche hinausgeht. Dies erst heisst im griechischen Sinne das Problem der Pliilosophie lösen, darum ist die Philosophie des Anaxagorns nicht Spiegel irgend einer Stufe des Vorgriechenthums, sondern dessen was der Grieche, was insbesondre der Athener erlebt. Dass darum Sokrates, diese Incarnation des Antibarbaren- tliums, dass Aristoteles, in dem die Attische Philosophie zum Ab- schluss kommt, den Anaxagoras im Gegensatz zu den früheren Träumern als den ersten ansehen, der gewacht, d. h. ein vernünf- tiges Wort gesprochen, habe, ist begreiflich.

I.

Aiia\agoras.

§. 52.

J. T. Hemsen Anaxagoras Clazomenius. Gotting. 1821. Ed. Schaubach Anaxa- gorae Clazomenii Fragmenta. Lips. 1827. W. Schorn s. §. 28. Breier Die PhUo- sophie des Anaxagoras nach Aristoteles. Berliu 1840

58 Alte Philosophie. ZM'eite Periode iGlanz).

1. Anaxagoras , des llegesibulos Sohn, ist in Clazomenae walirsclieinlicli Ol. 70 geboren und kann also nicht, wofür er gilt, ein persönlicher Schüler des Anuximenes gewesen seyn. Nachdem er lonien mit Aufopferung seines Vermögens im Interesse der Wis- senschaft verlassen hatte, wählte er, nach Einigen sogleich, nach Anderen erst nach vielen Reisen, Athen zu seinem Wohnort. Wich- tiger als seine Reisen und der Verkehr mit seinem Landsmann Hermotimos möchte für seine wissenschaftliche Ausbildung gewor- den seyn die Bekanntschaft mit den Lehren der früheren Physio- logen, des zwar etwas jüngeren aber früher schreibenden Ewpe- dohies und endhch des Lenhippos. Dass Demokril ihm Plagiate an Aelteren vorwirft, bezieht sich vielleicht auf diesen ihren ge- meinschaftlichen Lehrer. In Athen hat er dreissig Jahre lang als Lehrer der Philosophie gewirkt, und nicht nur die Freundschaft des Perlktcs gewonnen, sondern auch einen Kreis von Männern um sich versammelt, zu dem Arc//elaos , Emipides , Tlmkijdidüs^ vielleicht auch Soh-alcs u. A. gehörten. Sie alle waren den Alt- gesinnten verdächtig, zum Theil vielleicht als Atheisten verrufen. Die physikalischen Kenntnisse des Anaxayorus ^ sein Bestreben das zu erklären worin die Masse nur Wunderzeichen sah (z. B. den Steinregen, woraus die Sage entstand, er habe ihn vorherge- sagt) — seine allegorische Erklärungsweise der Homerischen My- then, alles dies Hess den Verdacht der Gottlosigkeit gegen ihn entstehn , aus dem, vielleicht bei Gelegenheit seiner im späten Al- ter veröffentlichten Schrift, die Anklage hervorging. Einkerkerung dann Verbaniuuig oder Flucht aus Athen folgten. Er begab sich nach Lampsakos wo er bald darauf, Ol. 88, 1 , starb. Ausser einer im Kerker ausgearbeiteten mathematischen Schrift, hat er (viel- leicht nur) ein Werk tczqX (pvasag verfasst, von dem Fragmente sich erhalten haben.

2. Wie Empcdokles und die Atomiker leugnet Anaxagoras das Werden der materiellen Substanz und gibt nur eine, in Mi- schung und Trennung bestehende Veränderung derselben zu, bei der das Substrat sich weder mehrt noch mindert. Mit Anaximan- dros und Empedohles denkt er sich als das Primitive einen chao- tischen Zustand , in welchem das Verschiedenste gemischt und da- her kein Einzelnes wahrnehmbar (l'vöijAov) Avar. Aber er ist mit den Atomikern darin einverstanden, dass es dieser Bestaudtheile nicht nur viererlei gab, sondern unendliche an Zahl und an Gestalt. Endlich wieder wird, im Unterschiede von den Atomikern und in Uebereinstiinmuug mit Empedohles, die qualitative Verschiedenheit dieser Bestaudtheile behauptet , so dass nicht nur Grösseres mit

I. Anaxagoras. §. 52, 3 O"

Kleinerem, sondern Gold und Fleisch und Holz u. s. w. im fein vertheilten Zustande zu einer Masse ohne Lücken und Poren ver- einigt war. Darum ist auch hier nicht eigentlich von einem Ge- misch von Elementen die Rede, sondern die Dinge youi^ara d. h. nqäyyiara sind gemischt und ihre feinsten, bis ins Unendliche im- mer noch qualitativen Moleculen \Yerden ensQ^axa oder wohl auch mit den Atomikern t^eai genannt. Für die Beschreibung dieses Zustandes, welchen Anuxagorus selbst av^i^ihg, auch fiiyft«, ge- nannt hat ward nun der klassische Ausdruck der Anfang seines Werks: o^nov nävra ygri^aza rjv, eine Fonucl welche auch abgekürzt und substantivisch gebraucht ward. (Durch Missverständniss Ari- stotelischer Stellen, in welchen Anaxagorus getadelt wird, dass er was Aristoteles o^ioiofisQij nennt, d. h. complicirte Substanzen, für Grundstoffe ansehe, ist früh die Nachricht entstanden, Anaxa- gorus habe die Urbestandtheile als 6f.ioLou.eQii, ja sogar er habe sie [gegen alle Analogie] als ofioiofiiQeiai bezeichnet. Höchstens konnte zugegeben werden dass bei ihm onoiofisQsia ziu' Bezeichnung des Mischzustandes gebraucht sey, aber auch dies ist unwahrsceinlich.) Die Verbindung der einzelnen Bestandtheile ist so innig, dass da ihre Theilbarkeit ins Unendhche geht , man nie auf ein letztes ganz Ungemischtes kommt, und daher gesagt werden muss dass in Je- dem Alles enthalten ist, eine Behauptung die, von Gegnern des Aiiuxagoras bestritten, ihn selbst in grosse Schwierigkeiten ver- wickelt, wenn nicht unter „Jedem'' Dinge, unter „Allem" Stoffe verstanden werden.

3. An diese form- und bewegungslose Masse, in der sich das aneiQov des Aitaximaiulros , der acpal^og des Empedolles , und die Verbindung kleinster Theilchen der Atomiker wieder erkennen lässt, tritt nun nicht etwa eine scheidende und verl)indende Nothwendig- keit, denn diese leugnet er gerade, sondern der votSj, eine ^^is- sende Macht mit deren Einführung zugleich die teleologische Be- trachtung provoch-t ist. Im entschiedenen Gegensatz zu dem (von Aristoteles s. §. 48 formulirten) Grundsatz der vorigen Periode werden dem erkennenden vovq die entgegengesetzten Prädicate von denen beigelegt die dem Erkannten (der Masse) zukommen: Er ist ci^iyTqq Und ist der Eine und darum erkennt er die Masse, die liiliq ist, und die als das Viele und utcziqov bestimmt war. Wäh- rend alles Materielle Allem einwohnt, so der vovg nicht, weil er leidenlos ist, eben darum aber beherrscht er das Andere. Das Scheiden und Verbinden wird hier zu einem zweckmässigen Formen und Ordnen, und dem Werden des öiccKOG^og bei den Atomikern entspricht hier das active öiaKOG^iHv von Seiten des vovq. Freilich

60 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

begnügt sich Anaxagoras damit, nur das Princip auszusprechen. Wo er ins Einzehie übergeht, gibt er nicht den Zweck sondern nur die Art, höchstens den Grund der Veränderung an, so dass es hier fast unwesentlich wird, ob sie auf eine wissende, ob auf eine blinde Macht zurückgeführt wird. Mit Recht wird dies von Pluto als ein Rückfall auf einen niedrigem Standpunkt getadelt. 4. In dem durch den vovq eingeleiteten Scheidungsprocess ver- einigen sich die qualitativ Gleichen und nach dem Vorwiegen des Einen oder Andern werden die, wie gesagt nie völlig reinen, Substanzen genannt. Wie bei Empedokles geht auch hier nicht Alles in die Scheidung ein, und der ungeschiedene Rest ist wohl das „die Vielen (Dinge) Umgebende", wovon er spricht. Die Schei- dung wird als successive von einem Mittelpunkte ausgehende in immer weiteren Kreisen und zu immer mächtigerem Umschwünge sich ausbreitende gedacht, und in Folge dessen der Aether als das Warme, Leichte und Lichte, aus dem auch die glühenden bimstein- artigen Körper, die man Sterne nennt, entstehen, dem Kalten, Feuchten und Schweren entgegengesetzt, das im Centrum, der Erde, vorwaltet. Wie die Elemente, so sind auch die organischen Wesen Zusammensetzungen der Urtheilchen. Die letztern entstehen aus dem Urschlamm, wie bei Änaximmidros , und kommen erst später dazu sich fortzupflanzen. Je vollkominner organisirt ein Körper ist, um so mehr ist der vovq in ihm mächtig, und wirkt in ihm Erkenntniss und Beseelung. Sind darum selbst die Pflan- zen derselben nicht baar, so steigt sie doch bei dem mit Händen begabten Menschen zu Erfahrung und Verstand. Verglichen mit diesem geben die Sinne keine sichere Erkenntniss, wie denn auch oft ihre Vorspiegelungen (z. B. die weisse Farbe des Schnees) vom Verstände widerlegt werden (indem er lehrt dass Schnee Wasser und also nicht weiss ist). Es scheint, als hätte schon Anaxago- ras an die Unsicherheit der Sinne sehr subjectivische Ansichten über das Erkennen geknüpft. Ethische Sätze, die man auf diesem Standpunkte viel eher erwarten sollte als auf den früheren, sind uns nicht überliefert worden.

Diog. Laärt. II, 3. Plac. pliil. I, 3. 7. 17. 29. 30. U, 8. 13. 16. 20. 21. 23. 25. 30. III. 1. 2. 3. 5. 15. 16. IV, 1. 19. V, 7. 19. 20. 25. Preüer et Eitter §. 58 70. Gesammelte Fragmente : Ausser in den oben genannten Werken in Mullach fragm. phil. graec. p. 243 251.

§. 53. Die Philosophie des Anaxagoras muss einer andern Platz ma- chen, nicht nur weil die Zeit, deren Ausdruck sie war, vergeht und an die Stelle der Perikleischen Leitung Athens die Demagogen-

üebergang zu den Sophisten. §. 53. Di

herrschaft Kleoiis und viel Schlechterer tritt, sondern weil ein in- nerer Mangel dies fordert. Dass der Verstand über Alles gehe und dass Alles teleologisch zu betrachten sey, das ist so lange ziemlich nichtssagend, als nicht entschieden wird, ob unter Ver- stand der zu verstehen sey, der sich in der Schlauheit der Subjecte oder der, der sich in der Ordnung der Welt zeigt?, und als nicht näher bestimmt wird, was denn eigentlich Zweckmässigkeit heisse. Da Anaxogoras die erste Entscheidung von der Hand weist, indem er ausdrücklich sagt: aller Verstand sey gleich, der grössere (d. h. allgemeine) wie der kleinere (d. h. particulare) , muss es ihm un- möglich werden zu entscheiden, ob die Welt dazu da ist, dass sie uns nütze, oder dazu, ihre Bestimmung zu erfüllen. In dieser Unentschiedenheit nuiss er alles Wozu bei Seite lassen; er ver- zichtet auf alle teleologische Betrachtung. Und doch war die Ent- scheidung nahe genug gelegt. Ist nämlich die Masse an sich geist- und verstandlos, so sind die Zwecke welche der Verstand an sie heranbringt, ihr äusserliche, und sie wird durch Gewalt ihnen ge- mäss gemacht. Nennt man nun solche Zwecke, weil sie an dem gegenüberstehenden Material, wie es an ihnen, ihre Grenze oder ihr Ende haben, endliche, so wird die erste Bestimmung die das, vom Amixagoras unbestimmt gelassene. Wozu erhalten wird, diese seyn, dass darunter nicht die den Dingen immanente, son- dern die endUche, Zweckmässigkeit verstanden wird. Sobald aber der Zweck näher bestimmt ist, hört auch die Unbestimmtheit hin- sichtlich dessen auf, was Verstand genannt war. Verstand mit endlichen Zwecken zum Inhalt, ist die Verständigkeit oder Klug- heit, die in den verständigen, ihren Nutzen suchenden Subjccteu existirt. So sehr es darum als ein Rückschritt erscheinen mag, dass der Satz des Anaxagoras: der Verstand regiert die Welt, / hier den Sinn erhält : Klugheit regiert sie . so ist es doch ein Ver- dienst das Unbestimmte näher bestimmt, zu haben , und dass diese von den Sophisten gegebene nähere Bestimmung die nächstlie- gende ist, dafür sprechen die Annäherungen, nicht nur des Ar- chelaos sondern des Aunxagoias selbst, an die Sophistik. Des Ersteren Satz dass Recht und Unrecht nur auf willkührlicher Sa- tzung bemhe, ist eine Ergänzung zu der Behauptung die dem Letztern zugeschrieben wird: Nichts sey an sich, alles nur für uns wahr.

62 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

u.

Die Sophisten.

Qeel Historia eritica Sophistarum. Ultraj. 1823. Baumhauer Quam vim Sophi- stne habueiünt etc. Ultraj. 1S44.

§. 54.

Indem den Sophisten Nichts über das verständige Subject geht, und sie zeigen, Avie Alles nur dazu da ist, um von dem Menschen theoretisch und praktisch beherrscht zu werden , sind sie für Grie- chenland ganz das geworden , was die Weltweisen des achtzehnten Jahrhunderts (§. 293) für uns : Väter der Bildung. Die Aehnlichkeit beginnt bei dem Namen, den beide sich beilegen, denn Aufklären und Klugmachen ist ganz dasselbe. Sie geht über auf das, was als Ziel des Unterrichts l)estimmt wird, denn der duvög der Einen entspricht ganz dem starken oder vorurtheilsfreien Geiste der Anderen, die Tugend welche Jene zu lehren versprechen , der Vernünftigkeit und dem Lichte, welches diese zu verbreiten sich rühmen. Endlich aber ist auch das Mittel, deren sich Beide bedienen, ganz dasselbe. Die avTiloyiKy] rixvt], die nach dem Zeugniss der Gegner, und dem Eingeständniss der Sophisten selbst, ihre eigenthche Waife, ist nur die Kunst: von verschiedenen Gesichtspunkten aus die Dinge verschieden darzustellen, d. h. die Kunst des Räsonnements, durch welches Vielseitigkeit, dieser Feind und Gegensatz der beschränk- ten Einfalt, hervorgebracht wird. Weil gar keine Einfalt dem Rä- sonnement widerstehn kann , deswegen auch nicht die fromme Ein- falt, und die Einfalt der Sitten. Darum erscheint der Räsonneur nicht nur sich als ein gewaltiger, sondern Anderen, zumal den Einfältigen , als ein gefährlicher Mensch. Die Aufklärung hat ihre Gefahren, die Sophisten machen das Volk zu gescheidt, und die Worte Aufklärer und Sophist werden aus Ehrennamen zu Schelt- worten.

§. 55.

Ein Unterschied zwischen der Sophistik und der Aufklärung (ks achtzehnten Jahrhunderts liegt darin, dass in jener mehr als in dieser auch die praktische Herrschaft des Menschen über Alles berücksichtigt wird. Daher wird nicht nur darauf hingearbeitet, den Menschen von seinen beschränkten Ansichten, sondern auch von der Beschränktheit seiner Mittel zu befrein , nicht nur ihn vor- urtheilsfrei sondern auch ihn vermögend zu machen. Diese Mittel haben, vermögend seyn, heisst nicht nur sondern ist: Geld haben, darum wird dem Sophisten, gerade wie dem Kaufmann, Gelderwerb ein Maassstab der Geschicklichkeit und Gegenstand seines Unter- richts. Auch hiezu führt am Sichersten das Räsonnement, denn

II. Die Sophisten. §. 56. 57. 63

da in jener Zeit Geld gewinnen ohne Processe unmöglich war, der Process aber durch Ueberredung der Pächter gewonnen ward, d. h. dadurch dass man seiner Sache möglichst viele gute Seiten abge- wann, so führte die avTiXoyiKt] reyvr] am Sichersten zu der Kunst rov T^rroa Xoyov y.Qsirrco tcoihv , wie die' Sophistische Formel lautete. So schUmm diese Kunst ist , so hat sie doch in ihrem Gefolge die Ausbildung der Grammatik , Stylistik und Pihetorik gehabt, die alle erst seit den Sophisten existiren. So Aveit diese auch sonst von einander abweichen mögen, in ihren Bemühungen um die Kunst der Beredsamkeit oder wenigstens ihren Vorarbeiten dazu, verei- nigen sich Alle, und selbst ihre Gegner haben ihnen darin das Verdienst nicht abgesprochen.

§. 5(3.

Mit der geschichtlichen Stellung der Sophistik , so wie mit der Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, ist unvereinbar der streng wissenschaftliche Beweis und eine auf ein einziges Princip sich be- rufende Weltanschauung. Jener erscheint als pedantisch, diese als einseitig. Beides aber ist ungebildet. Um möglichst viele Ge- sichtspunkte zu gewinnen, ist es uothwendig, dass die verschie- densten Lehren benutzt, Anlehen aus allen möglichen Systemen gemacht werden. Ein skeptisch gefärbter Eklekticismus ist überall der Standpunkt des aufgeklärten Mannes, darum auch hier. Und dennoch hat die Sophistik nicht nur, wie das bisher gezeigt wurde, für die Allgemeinbildung, sondern für die systematische Philosophie eine grosse Bedeutung. Nicht nur die oben (§. 53) nachgewiesene, dass sie aus der bisherigen Entwicklung folgt, sondern auch die, dass sie die folgende möglich macht. Nur die Fertigkeit, im Kä- sonnement sich auf alle möglichen Staudpunkte zu stellen , macht es dem Geiste möglich sich auch auf den ganz neuen des Sokra- tismus zu versetzen, nur durch die Uebung, die Gegensätze zwi- schen den verschiedenen Seiten eines Gegenstandes aufzusuchen, wird er scharfsichtig genug mit Platonischer Dialektik die in ihm selbst hegenden Widersprüche zu entdecken. Und wieder nmsste ein Gemenge der Weisheit gegeben seyn, die der dorische und ionische Geist erzeugt hatte , damit durch den hindurchschlagenden Funken Sokratischer Genialität daraus die Attische Weisheit werde, die, nicht als ein Gemenge, sondern als höhere Einheit, jene bei- den in sich vereinigt.

§. 57.

Nur in dem Sinne, dass es verschiedene Elemente sind, die in dem Einen und dem Anderen vorwiegen, kann dem Protagoras als dem der sich an Hcrahlit anschhesse, Gorgins als der durch

^■^

64 Alte Philosophie. Zweite Perlode (Glanz).

die Eleaten Gebildete, eutgegengestellt werden. Der, oft bis zur gegenseitigen Bekämpfung gehende, Gegensatz zwischen ihnen zieht daraus Nahrung, aber er liegt noch mehr in der Richtung: Profa- goras bestimmt als sein eigentliches Ziel das Tüchtig - (d. h. Prak- tisch gescheidt) macheu, Gorgins will nur räsonnirender Rhetor seyn und dazu bilden. Die Wichtigkeit der Sprachwissenschaft erkennen beide an, und theilen sich in ihre Bearbeitung so, dass Protagoras mit den Wörtern und Wortformen, Gorgias mit der Satzbildung besonders sich beschäftigt. In gleicher Achtung mit Beiden stehen Prodikos, wie es scheint der sittlich strengste, und Hippiris der gelehrteste unter den Sophisten, die aber, da Erste- rer , weil die Praxis ihm über Alles ging , der Zweite wieder weil ihm theoretische und praktische Vielseitigkeit das Höchste ist, sich nicht, wie jene Beiden, mit besonderer Vorliebe dem einen oder andern Meister anschliessen. Auch sie beschäftigt die Sprache, den Prodihos besonders von Seiten der Correctheit des Ausdrucks, den Hippids aber von Seiten des Rhythmus und Silbenmaasses. Ausserdem unterwirft er die Staatsgesetze seinem Räsonnement. Um diese Hauptfiguren rangiren sich die unbedeutenderen Sophi- sten so, da,ün Auf imoir OS , Anliphon . Kritius zu Prof ngoras , die beiden eristischen Klopffechter Euilifdemos und Dionysidoros we- gen ihrer rhetorischen Künste zu Gorgias. endUch Polos, trotz der Anregung die er von Gorgins empfangen haben mag, wegen der Grundsätze die er hinsichtlich der Staatsgesetze vertritt, zum Hippias gestellt werden kann.

§. 58. a. P r 0 1 a g 0 r a s.

J. Frei Quaestiones Protagoreae. Bonnae 1845.

1. Protagoras, der Sohn des Artemort , nach Anderen des Maiandrios, ist wohl nur weil er in Abdera geboren ist, zu einem Schüler des zwanzig Jahr jüngeren Demokrit gemacht worden. Der enge Zusammenhang seiner Lehren mit denen des Ileraklif ist mit Recht schon früh hervorgehoben, schliesst aber nicht aus, dass er früh auch die Quellen keimen lernte, aus welchen Demo- krit und Anaxagoras geschöpft hatten , ältere atomistische Lehren. Zuerst in Sicilien, dann seit seinem dreissigsten Jahre in Athen, hat er durch seinen Unterricht Ruhm und, da er zuerst ihn für Geld gab, Schätze erworben. Die Tüchtigkeit und Stärke {6hv6xyi<;) die er durch seinen Unterricht beizubringen verhiess, weswegen er auch sich Sophist im Sinne des Klugmachens nannte, bestand im geschickten Verwalten des Eigenthums und der städtischen An- gelegenheiten. Da eine solche nicht denkbar war, ohne dass man

II. Die Sophisten, a. Protagoras. §. 58, 2. 65

jedem Rechtshandel gewachsen war, so ging der Unterricht darauf, zu correctem, schönem, vor Allem aber zu überzeugendem öffent- lichen Reden anzuleiten. Grammatik, Orthoepie, besonders aber die Kunst aus Allem Alles zu machen, indem es von verschiedenen Seiten dargestellt wurde , waren daher die liChrgegenstände. Auch Zucht und Sitte, ohne die Keiner zu einer Geltung im Staate kom- men wird, fanden an ihm ihre Lobpreiser, wie er denn in seiner Politik ultraconservativ erscheint. Auch schriftlich hat er seine Lehren verfasst, und die Titel vieler seiner Werke haben sich er- halten. Eine Schrift, welche die Götter betrifft, ward öffentlich verbrannt und veranlasste seine Verbannung aus Athen, während der er gestorben ist.

2. Die Heraklitische Lehre vom Fluss aller Dinge, die Prota- goras im Sinne der Herakliteer auffasst, bringt ihn dahin nocli weiter zu gehn als Demokr'ii . und alle Empfindungen ohne Aus- nahme als bloss subjective Affectionen zu fassen. Dazu kam viel- leicht noch der, schon von Leucipp ausgesprochene, Satz von der Gleichberechtigung des Seyns und Nichtseyns, kurz Protagoras behauptet dass jeder Behauptung die ganz entgegengesetzte mit demselben Rechte entgegengestellt werden kann, weil für den Einen dies, für den Andern jenes wahr ist, ein Seyn an sich aber es über- haupt nicht gibt. Dieser Subjectivismus erhält seine entsprechendste Formel in dem Satz : dass jeder einzelne Mensch das Maass aller Dinge ist, worin von theoretischer Seite gesagt ist, dass wahr ist was mir wahr, von praktischer: dass gut ist was mir gut ist. So ist das Wahrscheinliche an die Stelle des Wahren, das Nützliche an die Stelle des Guten gesetzt. Mit dem Letzteren stimmt dann auch, dass die Wohlberathenheit als die höchste Tugend gepriesen wird. Dass bei einem solchen Subjectivismus alle objectiven, allge- mein gültigen, Bestimmungen ihre Bedeutung vedieren ist klar. Eben darum hat weder das Athenische Volk sich durch seine be- scheiden klingenden skeptischen Aeusserungen hinsichtlich der Exi- stenz der Götter beschwichtigen, noch Plato durch die Declama- tionen über die Schönheit der uns von den Göttern geschenkten Tugend blenden lassen. Uebrigens hat Protagoras die hohe Ach- tung, in der er stand, durch seinen moralischen Werth verdient, und durch diesen ist es auch gekommen, dass eine Lehre welche das vergötterte, was Herahiit als Krankheit bezeichnet hatte, die individuelle Ansicht, bei ihm selbst ungefährlicher ward.

Erdmann, Gesch. A. Philos. I. {^

Alte Philosopliie. Zweite Periode (Glanz),

§. 59. b. Prodikos. F. Q. WelcJcer Prodikos von Keos Vorgänger des Sokrates. iKl. Sclnv II, p. 393 ff.) (Früher im Rhein. Mus. 183.B, 1.)

Prodihos , in Julis auf der Insel Keos geboren , scheint gegen Ol. 86 nach Athen gekommen zu seyn , wo er gegen vierzig Jahre, wie es scheint olme l^nterbrecliung, gelehrt hat, theils in längeren Cursen, theils aber auch in einzelnen abgelesenen Vorträgen über diesen oder jenen Gegenstand, die, je nachdem sie ein grösseres oder kleineres Publikum versprachen, >Yohlfeiler oder theurer be- zahlt wurden. Auch l)ei ihm war der eigentliche Zweck des Un- terrichts, für Haus- und Staatsverwaltung zu bilden theils durch Reden, welche die Mitte halten zwischen Wissenschaft und Parä- nese, theils wieder indem er anleitete dergleichen Reden zu hal- ten. Nicht wie bei Hippl.ns vielseitige Kenntnisse, sondern viel- mehr richtiger Sprachgebrauch sowie Kraft und ausdrucksvolle Malerei der Sprache , sind bei ihm die wirksamen Mittel , zu denen noch das Anführen beliebter Dichteraussprüche kommt. Die im Platonischen Profa/joras reproducirte Rede über die Tugend des lleralles, die aus dem Pseudoplatonischcn Axiochos bekannte Her- absetzung des Lebens und Anpreisung des Todes, das Lob des Landlebens und die Erhebung der Tugend über den Reichthura, alles dies macht erklärlich, warum auch die Gegner der Sophisten vom Prodikos mit grösserer Achtung sprechen. Seine Deutung dass die Götter Naturpotenzen seyen , ist kein Beweis dass er sich mehr als Andere mit der Physik beschäftigt habe. Sein Haupt- verdienst, mit dem auch die Wirkung zusammenhängt, die er auf spätere Redner geübt hat, war wohl die genaue Erörterung der Wortbedeutungen , mit der die Anweisung zu wirksamen Wortspie- leu und dergleichen zusammenhängen mochte. Daher der Ruf und der hohe Preis der Fünfzig Drachmen Vorlesung.

, §. 60. c. Gor glas. (Pseudo -) Ariat. de Melisso Zenone et Gorgia c. 5 et 6. Fo»» de Gorgia Leon- tino. Halae 1828.

1. GorgiaSf Sohn des Kar- oder Cliarmaniidus ^ ein Leonti- ner von Geburt, hat wahrscheinlich von Ol. 72 bis Ol. 98 gelebt und wird oft als ein Schüler seines Zeitgenossen Empedokles, dem er in seinen physikalischen Ansichten Manches entlehnt haben mag, bezeichnet. Mehr noch hat wohl Zcno auf ihn eingewirkt. Aus- gezeichnet als Redner, ward er 01.88, 1 von seinen Landsleuten als Gesandter nach Athen geschickt, wo er nicht nur die erbetene

II. Die Sophisten, c. Gorgias. §. 60, 2. 67

Hülfe gegen Syracus auswirkte, sondern aufgefordert ward bald zurückzukehren , und seinen Aufenthalt in Athen zu nehmen. Dies geschah und er hat theils in Athen , theils in anderen , namentlich thessalischen, Städten als Sophist im späteren Sinne des Worts, d. h. als räsonnirender Rhetor gelebt. Seine Reden waren nicht gerichtliche, überhaupt nicht eigentliche Gelegenheitsreden, sondern wurden im Hause oder in Theatern vor dem sich versammelnden Pulilikum gehalten. Auch Stegreifsreden und Disputationen über jedes eben aufgegebene Thema hielt er, und trotz der Eitelkeit und eines gewissen Schwulstes in denselben, gefielen sie sehr. Er wollte nur Redner seyn und spottete derer die sich Tugendlehrer nannten. Ob die zwei Prunkredeu, die unter seinem Namen auf uns gekommen, acht sind, ist (wenigstens hinsichtlich einer) strei- tig. Andere Xachrichten erwähnen mehrere Reden sowie eine Rhe- torik, die verloren gegangen sind. Von seiner Schrift tcbqI cpvaicag ' }} rov fo) ovTog haben wir durch die Pseudo- Aristotelische Schrift und Se.vfos Kmpeirilos Nachricht. Darnach ist der Gedankengang darin dieser gewesen:

2. Es ist Nichts, denn weder Seyendes, noch Nichtseyendes, noch endlich Solches was zugleich ist und nicht ist, kann seyn. Eben so wenig kann das Eine oder das Viele, das Gewordene oder das Ungewordene seyn. Gesetzt aber, es gäbe Seyendes, so wäre es unerkennbar, denn es ist leicht zu zeigen, dass unsere Vorstel- lung von einem Gegenstande nicht dem Gegenstande gleich ist. Endlich aber, wenn es auch Etwas gälje, und wenn es auch er- kennbar wäre, so wäre es nicht mittheilbar, denn die Worte durch welche wir unsere Gedanken mittheilen, sind etwas Anderes als diese letzteren, die ganz individuell, eben darum nicht mittheilbar sind. Das Resultat dieser Deduction, deren ganze Disposition übrigens den, in der Klimax sich gefallenden, Redner verräth, ist natürlich ein völliger Sulyectivismus , der trotz der Verschie- denheit der theoretischen Grundlage darin zu gleichem Resultate kommt, wie der des Pro(agorn.s, dass, da alle objective Gegen- ständlichkeit wegfällt, dem Subjecte freigestellt wird Alles so dar- zustellen , wie es ihm beliebt. Darum haben von ihm nicht minder als vom Protüfjoras die eristiscben Redenschreiber gelernt, die, von den streitenden Parteien abzulesende Flaidoyers für jeden mög- lichen Fall, verfassten oder gar vorräthig hatten. Des Pinto Sa- tyre gegen Euihydemos und Dinnysodoros scheint oft dem Gor- gias zu gelten,

5*

68 Alte Philosopliip. Zweite Periode (Glanz).

§.61. d. H i p p i a s.

h. Spengel de Hippia Eleo in s. nvvccytoyri rfivwv. Stuttg. 1828.

Hippins aus Elis , ein Zeitgenosse des Prodilos hat, ^^elleicht in Athen weniger als in Sicilien und auch in Sparta, durch Vor- träge und Stegreifantworten auf alle möglichen Fragen Paihm und Vermögen erworben. Die Fülle des Wissens, mit der er gern prahlt , scheint wirklich sehr gross gewesen zu seyn , und hat wohl den Aristoteles gegen ihn milder gestimmt. Von seiner schrift- stellerischen Thätigkeit wissen wir wenig. Von der Rede über Le- bensweisheit, die Plato erwähnt, behauptet Pbilostratos sie sey ein Dialog gewesen. Ob er ein Sammelwerk, das seine Gelehrsam- keit documentirte wirklich geschrieben hat, scheint nicht entschie- den. Wenn Proiagorns und Gorgins durch geistreiche Gesichts- punkte und Antithesen , so mochte er mehr durch immer neue No- tizen die er auskramte, blenden. Daher die Spöttereien Jener über ihn, und sein stolzes Herabblicken auf ihre Unwissenheit. Die Sprache hat er besonders von ihrer musikalischen Seite ins Auge gefasst. Die Erscheinungen der Natur haben ihn nicht weniger interessirt als die Sitten der Menschen, der Barbaren nicht minder als der Hellenen. Die vielfache Beschäftigung damit trug wohl mit zu dem skeptischen Resultate bei, zu dem er hinsichtlich der Staatsgesetze kam, dass dieselben lediglich ein Product des Be- liebens seyen, luid dass es ein allgemeines, an sich gültiges na- türliches Recht nicht gebe. In diesem negativen Resultate stim- men mit dem IJippids überein Polos , der übrigens den Gorgiajs zum Lehrer gehabt haben soll, und Thrasymochos von dem nicht zu entscheiden ist , ob er sich dem Einen oder dem Anderen mehr angeschlossen habe.

§. 62.

Indem die Sophisten die Lehren der frühern Philosophen durch Vermengen derselben neutralisirt , und dabei durch ihre Behand- lungsweise zum Gemeingut aller Gebildeten gemacht haben, ist eine Rückkehr zu bloss einem derselben nicht mehr möglich. In- dem ferner der Hauptgesichtspunkt die Zweckmässigkeit oder Nütz- lichkeit ist, haben sie auch dies zu etwas Selbstverständlichem gemacht, dass vor Allem nach dem Wozu? gefragt werden muss. Dies bleibt unvergessen auch da, wo aus dem Boden der Sophistik eine Philosophie hervorgeht die, eben weil jene ihr Boden ist, sie aufzehrt, negirt. Die Nothwendigkeit dazu liegt darin, dass das Princip der Sophistik weiter, über sie hinaus, führt. Das Nütz- liche haben die Sophisten als das allendliche Ziel des Denkens

m. Sokrates. a. Leben. § 63, 1. 69

und Handelns gesetzt. Nun liegen aber in dem Begriffe des Nütz- lichen die beiden entgegengesetzten Bestimmungen , dass es einmal das dem Zweck Gemässe, also erreichter Zweck ist, und dass es wieder zu Etwas nützt , d. h. Mittel ist zum Zweck. Das Bewusst- seyn, welches diese Kategorie anwendet, macht zwar in jedem be- stimmten Falle die Erfahrung, dass was ihm eben Zweck war, eigentlich mu' Mittel ist, es denkt aber bei dem Einen nicht an das Andere, oder wenn ihm einmal dieser Gegensatz auffällt, be- ruhigt es sich damit dass es Beides durch das sophistische Einer- seits und Andrerseits auseinander hält, so dass was in einer Be- ziehung Zweck ist, in einer andern Beziehung Mittel seyn soll. Verstünde es sich und verstünde es die von ihm gebrauchte Ka- tegorie, so müsste es einsehen, dass diese beiden Bestimmungen zu einem einzigen Gedanken verbunden werden müssen, der an die Stelle des Nützlichen zu treten hat. Umgekehrt aber, wenn der Geist diese neue Gedankenbestimmung anstatt der früheren zu der seinigen macht, so zeigt dies dass er die nächst höhere Stufe des Selbstverständnisses, d. h. der Philosophie, erstiegen hat. Ist nun aber in dem was man Selbstzweck oder Idee nennt, Mittel und Zweck wirklich Eins, su ist der Idealismus die eigent- liche Consequenz oder die Wahrheit des subjectiven Finalismus, und Sokrates, in dem zuerst die Philosophie sich auf den Stand- punkt idealer Betrachtung stellt, hat den nächsten Fortschritt über die Sophistik hinaus gemacht, die er mit Recht bekämpft, ohne die aber er selbst nicht hätte auftreten, noch Anhang finden können.

ni.

Sokrates.

§. 63. a. Leben. Senophons Memorabilieu. Hato's Dialoge. Dioc/. La'ert. II , 5.

1. Sokrates, des Bildhauers Sophroidskos und der Hebamme Pliuinarele Sohn ist in Athen Ol. 77, 3 (409 v. Chr.) geboren und soll zuerst des Vaters Kunst getrieben haben, die er indess früh verlicss um ganz der Philosophie zu leben. Mit so viel Recht er sich in ihr völlige Originalität zuschreibt, so braucht mau darum doch nicht zu leugnen, dass sein Freund und Lehrmeister in der Musik, Dämon, so wie die Nähe Thebens, wo l*liUolaos lebte, ihn mit Pythagoreischen Lehren bekannt gemacht, dass er schon in seiner Jugend Gespräche mit den bedeutendsten Eleaten ge- führt, dass er auf des Eurlpides Rath den Ileraklil mit Anerken- nung gelesen, dass er endlich, vielleicht durch früheren Umgang

70 Alte Philosopliie. Zweite Periode (Glanz).

mit dem Autor, vielleicht durch Archelaos veranlasst auf des Ana- xagoras Buch mit Begeisterung sich geworfen, freilich es, wegen der mangelnden teleologischen Begründung, enttäuscht von sich ge- than habe. Sein vielfacher Umgang mit den Sophisten, bei deren Einem er sogar eine Vorlesung bezahlt hat (Prodilos), steht eben so fest. Freilich seinen eigentlichen philosophischen Unterricht erhielt er bei allen diesen nicht, sondern durch den Umgang mit den allerverschiedensten Menschen , der ihm immer mehr das gab, worin er selbst, und nach seiner Ansicht auch der dem C/türcpI/on ertheilte Orakelspruch, seine eigentliche Weisheit setzte: die Er- keuntniss der eignen Unwissenheit.

2. Leidenschaftlich an seiner Stadt hängend, hat er dieselbe nur verlassen, wenn die Pflicht der Vaterlandsvertheidigung es for- derte , dann aber in allen Feldziigen durch Härte gegen Strapazen, Tapferkeit, Besonnenheit, Sorge um seine Mitkämpfer und neidlose Anerkennung ihrer Verdienste Bewunderung erregt. Den Veräch- ter der Masse, wie Soh-ates es war, konnte überhaupt nicht die Demokratie, den wahren Vaterlandsfreund nicht die, welche er vorfand, anziehn. Daher seine Polemik gegen die Lieblings -Insti- tution der Demokratie, das Loos bei der Stellenbesetzung; daher ferner seine Zurückhaltung von aller directen Betheiligung an Staats- geschäften. Die beiden Male wo er sich daran betheiligt, hat er nicht ohne Gefahr seine Selbstständigkeit, das eine Mal dem Wil- len der Masse, das andere Mal der Willkühr der dreissig Tyran- nen gegenüber gezeigt. Nicht mehr Sinn als für die Staatsgeschäfte hat Sokratcs für das häusliche Leben gehabt und den Zornaus- brüchen der Xantl/ippe gereicht zur Entschuldigung, dass über seinem höheren Berufe ihr Gatte die Last des zerrütteten Haus- wesens ganz auf ihr ruhen liess.

3. Diesen höheren Beruf erfüllte er, indem er, den ganzen Tag sich herumtreibend, mit Jedem anband um mit ihm zu phi- losophiren. Vorzugsweise waren es schöne und geistreiche Jüng- linge, denen er nachstellte, so dass die, mit Recht uns anstössige in Athen herrschende Galanterie gegen Jünglinge, von ihm ver- geistigt und mindestens erträglich gemacht wird. Nicht nur die Jünglinge aber , an die er sich wandte , wurden von ihm bezaubert, sondern den verschiedensten Naturen war er unwiderstehlich und ward sein Umgang zum Bedürfniss. So sieht man den stolzen praktischen Kritkis, der später freilich sein bitterster Feind ward, neben dem liederlichen Genie Al/dbiades, den tugendstolzen An- üst/ienes neben dem mit Geschmack geniessenden Aristipp, den streng logischen Ei/hiid und den Meister der Dialektik Plato neben

III. Sokiates. h. Lehre. § 6i. I. 71

dem kindlich fi'ommen llcriufxjcnes und dem wackern aber alles speculativeu Talentes ledigen Xenophon, den scliwärmeriscben Jüng- ling Chürcphon neben dem besonnenen eben so jungen Charmidas und dem reflectiit sentimentalen alternden Euripides das bilden, was mau nicht sowohl die Schule als den Kreis des »So/ m/t's nen- nen muss. Die Anziehungskraft die er ausübte, ist erklärüch: das, namentlich dem Griechen so verkehrt erscheinende, Missver- hältniss der äusseren HässKchkeit und inneren Schönheit, das zu- erst nur in Erstaunen setzt, reizt bald zur Bewunderung. Arm und bedürfnisslos trotz der späteren Kyniker, ist er doch zugleich das Muster eines fein gebildeten Mannes, dem als ihrem Liebling die Grazien attische Urbanität schenkten. Xach einigen hat glück- liches Naturell , nach Anderen nur Sokratische lü'aft ihn zum edel- sten der Menschen gemacht , der nachdem er im Verborgenen den schweren Kampf gegen böse Neigungen durchgekämpft hat, nichts mehr zu überwinden noch zu fürchten hat, und eben deswegen den Genuss nicht verschmäht, weil er sicher ist, nie sich darin zu verlieren. In dieser Sicherheit kann er in Lagen sich begeben, die für jeden Andern zweideutig sind, nicht aber für ihn, der, ein wahrer avrovQyÖQ, sich zimi schönsten Bilde griechischer Tu- gend ausgeprägt hat.

§. 64. b. Lehre. Schleiermacher Der Werth des Sokrates als Philosophen (1815). WW. II. Sü- rem Ueber Aristophanes' Wölken. 1826. Eötscher Aristophanes uud sein Zeitalter. 1827. (Darin Heyels Ansichten.) Brandts Ueber die angebliche Subjectivität des So- krates. 1828 im Ehein. Mus.

L Sokrates selbst setzt wiederholt die wahre Weisheit in die Erfüllung des Delphischen Rufes :• Erkenne dich selbst. Dadurch ist der Mensch erst wahrhaft bei sich, denn die GioffQoGvvt] ver- einigt in sich die Begriffe des Bewusstseyns überhaupt, des Wis- sens vom Wissen, der theoretischen Selbstkenutniss und der prak- tischen Herrschaft über sich; ihr Gegensatz, der Zustand des acpQOiv, der ganz uothwendig ccAoXaaia, ist nicht viel besser als Wahnsinn. Trotz dem, dass also auch von ihm zum Gegenstand des Wissens nicht der Himmel mid die Sterne, sondern der Mensch gemacht wird, kann er doch veiächthch vom Protagoras sprechen dem der einzelne Mensch das Höchste war. Nicht nag av&Qanog wie bei Protagoras . sondern o 'ävd-Qanog ist bei Sokrates das Maass aller Dinge, jenes fällt ihm mit n vg, dieses mit o &s6g zu- sammen. Mit dem Standpunkte der Sophisten verglichen erscheint der Sokratische als Objectivismus , mit dem vorsophistischen ver- glichen macht er das Recht des Subjectes geltend.

72 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

2. Die beiden Bestimmungen, dass im Subject alle Wahrheit, liegt, aber nur sofern es allgemeines ist, machen sich in der Me- thode des Sokrates so geltend, dass einerseits alles Lernen nur als Erinnerung, alles Lehren als Entbinden des (oder als Schöpfen aus dem) Lernenden gefasst, zugleich aber dies festgehalten wird, dass nur im gemeinsamen Denken, im Gespräch, wo die Einzel- ansichten sich neutralisiren , die Wahrheit gefunden werde. Da- rum ist die Unwissenheit des So/>rafes. die ihn zum fortwähren- den Ausfragen bringt, nicht ein (noch dazu fünfzig Jahre lang wiederholter) Scherz, sondern voller Ernst, die dialogische Form des Philosophirens hat bei ihm dieselbe Nothwendigkeit, wie bei den, die Ansicht vergötternden und alle Verständigung leugnenden, Sophisten die monologische. Der qpiAoAoyo?, cpdkaiQog, der Un- fruchtbare der nicht gebären kann wohl aber entbinden, sucht nach dem , was aus dem Menschen hervorgebracht wird , wo er seine Vereinzelung aufgibt, d.h. er will nicht Meinungen , sondern Wissen. Als das Eigenthümhche der Sokratischen Gesprächfüh- rung gibt daher Arhtoleles mit Recht au , dass die Induction der Weg, die Begriffsbestimmung das Ziel sey. Von dem Einzelnen wird ausgegangen, in demselben aber nachgewiesen dass es nicht festzuhalten sey, und so, besonders durch jene berühmte Ironie, zuerst die Rathlosigkeit hervorgebracht , in Folge der die einseiti- gen Bestimmungen weggelassen, und im günstigsten Falle die allge- meinen Gattungs1)egTiffe gefunden werden, die mit den dazu ge- suchten specifischen Differenzen die Begriffe geben, die Solrates an die Stelle der Ansichten setzen will, von denen das Gespräch ausging. Wo sich, wie sehr oft, kein positives Resultat ergibt, sondern nur das negative der Rathlosigkeit, da kann es kommen, dass der Mitunterredner sich wie geneckt vorkommt, und meint Soh'ates habe ihn nur confus machen wollen, selbst aber wisse er das Bessere. Er irrt, ganz eben so wie wieder die Skeptiker irren , die den Sokrates zu den Ihrigen zählen. Das Wissen, das sie leugnen, ist der leitende Stern bei seinen Untersuchungen.

3. Geht man von dem Wie seines Forschens zum Inhalte des- selben über, so ist ihm, wie dem Anaxagoras und den Sophisten, das Wozu? die Hauptsache; er tadelt den Anaxagoras dass er nur die Gründe der Naturerscheinungen angebe , und wo er selbst die Natur betrachtet, wie in dem Gespräch mit Aristodemos bei XeiwpJwn, geschieht es ganz teleologisch. An diese Naturbetrach- tung schhessen sich dann die Aussprüche über den Alles beherr- schenden und ordnenden Weltverstand, dessen Verwandtschaft mit dem vovg des Anaxagoras auf der Hand liegt. Im Ganzen aber

III. Sokrates. b. Lehre. §. 64, 3. 73

interessirt ihn die Natur ^Yeuig: Bäume und Felder lehren ihn Nichts aber Menschen , und darum ist für ihn die Hauptfi'age die: wozu der Mensch da ist und handelt? Hier stellt er nun, ganz wie er der Meinung der Sophisten das Wissen entgegengestellt hatte, ^0 dem, was nur für Einen oder den Andern Zweck ist, d. h. dem Nützlichen, das Gute entgegen oder das was Zweck ist an und für sich. Damit ist die Philosophie, die bis auf den So- h'ates nach einander Physik und Logik (theils als Mathematik, theils als Metaphysik), endlich aber Beides gewesen war, zur Ethik geworden, und der Erbe des Sokrates kann aussprechen, was seit- dem unerschütterliches Axiom geblieben ist, dass Logik, Physik und Ethik die wesentlichen Theile der Philosophie sind. Das Gute ist dem Sokrates eben so sehr Object des Wissens wie Inhalt des Thuns. Wie es nämlich für ihn unvereinbar ist das Gute zu wis- sen und es nicht zu thun, eben so erklärt er es für unmöglich, das Gute zu thun ohne Einsicht. Das Wissen ist so mit dem Wesen der Tugend Eins, dass er ausdrücklich sagt : Niemand könne wissentlich böse seyn und wissentliches Fehlen stehe höher als unwissentliches. Darum wiederholt er immer, dass die Tugend iniGTi'jfH] sey, und, in so weit überhaupt Etwas lehrbar ist, gelehrt werden könne. Sein xaAoxcvya^ov , das ihm mit der Glückseligkeit zusammen fällt , ist gewolltes und erkanntes Gutes. Die glückliche Naturanlage ist ihm deswegen eben so wenig schon Tugend, wie ihm die auf Gewohnheit beruhende Zucht und Sittlichkeit genügt. Vielmehr fordert er eine, die sich der Gründe des Handelns be- wusst ist, und dieselben auch Anderen mittheilen kann; keine fremde Autorität hat zu bestimmen, sondern nur die eigne Ein- sicht. Der Tugendhafte hat mit den Gesetzen des Staates gleich- sam einen Vertrag geschlossen , den er hält. Wenn dieses Beto- nen der eignen Einsicht Manche dahin gebracht hat vom Subjec- tivismus der Sokratischen Ethik , ja von ihrem sophistischen Cha- rakter zu sprechen, so darf doch nicht übersehen werden, dass mit derselben Energie er stets gegen die Sophisten, welche das Belieben oben an stellten, dies festhält dass das Gute in der Ge- setzlichkeit bestehe, in der Uebereinstimmung nicht nur mit dem geschriebenen Gesetz, sondern auch der Sitte und dem Herkom- men. Wie Ernst es ihm damit ist, hat er gezeigt indem er ge- storben ist treu den vaterländischen Gesetzen. Diese beiden Be- stimmungen sind in ihm so Eins, dass man ganz ohne Widerspruch sagen kann: Sokrates folgt, wie die Sophisten, nur seinem Belie- ben , und wieder : im Gegensatz zu ihnen macht er die vaterländi- schen Gesetze zur Norm des Handelns. Ihm beliebt nämlich nie

74 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

etwas Andres , als was sie gebieten. Zu ihm spricht ihre Stimme als die subjectivste aller Empfindungen, als Ohrenklingen.

4. Nennt man die mit objectivem Inhalte erfüllte Subjectivität Gewissen, so hat Sohratcs zuerst das Princip des Gewissens gel- tend gemacht. Das Gewissen ist jener Gott, oder jenes Dämoni- sche, das jeder Mensch in sich vernimmt, und welches eben das Maass ist aller Dinge. In ihm selbst gestaltet sich's aber so, dass sich damit zugleich ein warnendes Vorgefühl verbindet, das ihn von schädlichen, aber sitthch gleichgültigen, Handlungen abhält. Das sichere Sichgehen -lassen, das ihn so anziehend macht, liegt darin dass er ganz seinem natürlichen und sittlichen Genius folgt ; wo Sokrates den SohTates befragt, ist er am Besten berathen. Freilich, weil in ihm die Tugend geniale Virtuosität ist, deswegen zeigt er sie mehr, als dass er sie zu beschreiben wüsste. Wo er es thut, ist es immer die Selbstbeherrschung, die er preist, sey es nun dass er sie ganz formell bestimmt als bei sich selbst und mit sich Eins Seyn, sey es dass er mit Rücksicht auf die natür- lichen Triebe die Bedürfnisslosigkeit göttlich nennt, und von dem "Weisen fordert, er solle Herr und nicht Sklave der Lust seyn. Weil dies Alles aber nur verschiedene Erscheinungen der acoq)Qo- avvr] sind, deswegen betont er, dass es nur ein Gut und eine Tu- gend gebe, so wie nur ein Gegentheil derselben: die Unwis- senheit.

§. 65. c. Schicksal.

P. W. Forchhammer Die Atliener uud Sokrates etc. Berl. 1837.

Dass das eigne Gewissen entscheiden soll, was Recht ist und was nicht , das ist eine Neuerung für den Standpunkt der antiken Sittlichkeit. So lange diese noch unerschüttert, werden ihre Re- präsentanten nicht ängstlich jede neue Regung als gefährlich an- sehn. Und A\ieder, so lange nur hergelaufene Fremdhnge den Egoismus predigen , so lange hat dies nicht viel auf sich. Anders aber, wenn überall Zucht und Sitte wankt, und nun des eignen Staates edelster Sohn eine neue Weisheit verkündigt. Dies ruft die Reaction derer hervor, die nach der guten alten Zeit sich zu- rücksehnen. Bis zur Spiessbtirgerlichkeit war dies der Fall bei Aristophüues und so greift dieser, der die Person des Sokrates scheint geschätzt zu haben, sein Princip auf das Heftigste an, und stellt ihn dem Volke vor als den schlimmsten aller Sophisten, welcher lehre neue Götter (die Wolken) anbeten, und die Söhne überhaupt um ihre Pietät bringe, insbesondere aber den Alldbia- des zum undankbaren Sohn Athens gemacht habe. Dieser scherz-

III. Sokrates. c. Schicksal. §. 65. 66. 75

haft gehaltenen, aber sehr enistlicli gemeinten, Anklage folgte selu' charakteristisch während der kurzen Periode der Thrasybuli- schen Reaction die gerichtliche Anklage, die gerade dieselben Beschuldigungen vorbrachte. Ob alle drei Ankläger, der Dichter- ling Meletos , der Rhetor Lijhon und der Lederarbeiter Jnytos, nur aus persönlicher Rache, oder ob der Letzte aus (auch sonst uns bekanntem) Eifer für die alte Zeit gehandelt, ist schwer zu entscheiden. Gewiss trug zur Verurtheilung des SofiTates bei, dass pohtische Gegner über ihn richteten. Aber auch sonst ist sie er- klärlich, da hinsichtlich der religiösen Neuerungen seine Verthei- digung, indem sie sein dämonisches Zeichen den vom Staate ag- noscirten Orakeln gleichstellt, eigentlich die Richtigkeit der An- klage beweist, ganz abgesehn davon dass Mancher unter den Rich- tenden an das gedacht haben mag, was nicht erwähnt werden durfte: dass Sokraies, indem er es verschmäht hatte, in die eleu- sinischen Mysterien sich einweihen zu lassen, die Ehrfurcht vor denselben nicht gezeigt habe, die jeder gute Athener vor ihnen hegte, und dass es vielleicht kein Zufall sey, wenn ihm so Nahe- stehende wie Euripldes und Al/dbutdes das Heilige entweiht hat- ten. Auch der zweite Klagepunkt wird eigentlich, da Solrrates zugibt , wo er besser als die Eltern den Beruf der Kinder erkenne, sie dem gemäss angewiesen zu haben, zugegeben. So gross und erhaben endlich Sohrdtes erscheint indem er sich als verdiente Strafe die Erhaltung im Prytaneion zuspricht, so ist dies doch eine Erhabenheit im modernen Sinne und die Erbitterung der Rich- ter und des Volks ist sehr erklärlich. Diese dauert auch nach seinem Tode fort, denn fünf Jahre nach demselben hielt es Xeno- piion noch für uöthig, durch seine Memorabilien dem zu begegnen. Das Benehmen des Sohutcs nach seiner Verurtheilung, die Stand- haftigkeit mit der er die, durch Freunde gefahrlos gemachte, Flucht ablehnt, endlich sein Tod, der erhabenste den je ein blosser Mensch gestorben ist, alles dies ist in den wunderschönen Schilderungen Pldto's verewigt. Sohraies trank den Schierlingsbecher Ol. 95, 1 (im April des Jahres 399 v. Chr.). Er ist eine tragische Figur, weil er durch den Conflict eines neuen und höheren Princips mit einem abgelebten, dem aber das Recht des langen Daseyns zur Seite steht, untergeht. Er ist eine prophetische Natur, weil die- ses sein Princip das ist^ das die Zukunft beherrschen soll

EiUer et Preller §. 194—209.

§. 66. An die Stelle des von den Sophisten vergötterten subjectiven Meinens und des endlichen Zwecks hat Sokrates das Wissen und

76 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

die Idee gestellt; indem seine Philosophie eben so Subjectivismus ist , wie Objectivismus , ist sie eben Idealismus. Die Idee erscheint aber in ihm in ihrer Unmittelbarkeit, als Leben, der Idealismus als Solrates selbst, in dem er sich incarnirt hat. Darum fällt bei ihm die Frage was gut ist? mit dem Befragen seines Genius, die Erkenntniss der Wahrheit mit der Selbsterkenntniss zusammen, und wie für ihn selbst, so identificirt sich Beides auch für seine Gegner: seine Philosophie zu widerlegen war nur möglich indem man ihn tödtete. Nur in ihm aber durchdringen sich die beiden Momente, deren Einheit die Idee ist; sobald sie aus der Indivi- dualität dieses Tugendvirtuosen entlassen werden, fallen sie aus- einander. Dies geschieht wo er, was in ihm lebt, auszusprechen versucht. Da spricht er manchmal gerade wie ein Sopliist, dass unter Umständen Stehlen u. s. w. uns gut und also nicht zu ta- deln sey, imd ein andermal gerade wie der ehrliche Bürger der guten alten Zeit, für den nur Gesetz und Sitte der Väter über Recht und Unrecht entscheidet. Der Widerspruch existirt nur ausser ihm, wo er sich ausspricht, in ihm selbst nicht, denn da ihm nützlich nur das ist, was Gesetz und Sitte fordert, kann er ohne Gefahr bloss seinen Nutzen suchen. Gerade wie die in ihm gebundenen Elemente frei werden, wo er sie aus sich entlässt, gerade so wenn er den Sokratismus, den er in seine Schüler ge- pflanzt hat, verlässt, d. h. stirbt. Seine Individualität hinwegge- nommen und es fehlt das Band, welches das Entgegengesetzte verband: der Sokratismus zerfällt in einseitige sokratische Rich- tungen.

IV.

Die Sokratische» Schulen.

§. 67. Die kleineren sokratischen Schulen suchen , was Sokrates ge- wesen war, mit Bewusstseyn zu erfassen, und auf die Fragen: was ist das Gute? was ist das Wissen? nicht nur wie er zu ant- worten : „Kommt und seht ! philosophirt mit mir und Ihr sollt es erfahren!", sondern eine Antwort zu formuliren, wobei der leitende Gesichtspunkt freilich immer ist, was auch der Bedeutendste im- mer ausspricht: vom Solratcs zu lernen. Dies ist um so mehr nothwendig und also ein Fortschritt , als nach des Sokrates eigner Forderung überall au die Stelle der unmittelbaren Stimme des Ge- nius (des heiligen Künstlerwahnsinns) das auf Gründe gestützte Wissen treten soll, und also auch der geniale Sokratismus des Stifters dem durch die Reflexion hindurch gegangenen, klar be-

IV. Die Sokratischen Schulen. A. Die Megariker. §. 68. 1. 77

wussten, Platz machen miiss. Keiner dieser Schulen freilich ge- lingt es, mehr als nur eine Seite des Sokratischen Wesens zu er- fassen. Aber selbst diese Einseitigkeit dient, als unerlässliche Bedingung, dem Fortschritte der Philosophie. Durch sie nämlich wird klar, was doch auch zum Selbstverständniss des Sokratismus gehört, in wie weit derselbe mehr als die früheren Standpunkte in sich enthalte. Der Urheber und Neuerer weiss nur, dass er nicht auf einem derselben steht, sie befriedigen ihn alle nicht. Dass seiner nicht nur ein andrer sondern mehr ist als jene, wird durch den Nachweis bewiesen, dass er was sie leisten auch, aus- serdem aber noch Weiteres erreiche. Indem jetzt die kleineren Sokratischen Schulen zeigen, wie viele vorsophistische Metaphy- sik und Physik und wie viele Sophistik aus der theoretischen Seite des Sokratisnuis gezogen werden kann, indem ferner durch sie klar wird, wie das Gute des Sohuitrs eben sowol logisch als physisch als ethisch gefasst werden kann, haben sie dem vorge- arbeitet, dass der selbstbewusste Sokratismus sich rühmen kann. Alles zu verbinden, was bisher gelehrt war über die Gründe des Seyns, und eine Ethik aufzustellen, die Platz hat für logische, physische und ethische Tugenden. Concreter ausgedrückt: Ohne Megariker, Kyrenaiker und Kyniker war kein Plaio , ohne diesen kein Aristoteles möglich.

§. 68.

4.

Die megariker.

G. L. Spalding Vindiciae philosophorum Megariconim tentantur. 1792. Deycks De Megaricorum doctriiia. Bonnae 1827. //. BtHrr Bemerkungen über die Megari- sche Schule. Rhein. Mus. II. Heft 3.

1. Der Stifter dieser Schule, Euldeides, ein Megariker, nach Andern ein Geloer, war ehe er sich mit Eifer dem Snlrates an- schloss, in eleatische Lehren eingeweiht, und hat als er (schon zu Sohrates'' Lebzeiten) in Megara zu lehren anfing, nicht nur die Dialektik des Zeno eifrig geübt, sondern auch die All -Einslehre des Parmenides in einer eigenthümhchen Weise mit der Ethik des Sokrnies verschmolzen. Mit Plato befreundet, soll er Dialo- gen geschrieben haben, von denen einige dieselben Titel führten wie Platonische. Sie sind nicht zu uns gelangt. Seine Nachfol- ger scheinen sehr einseitig die Dialektik dazu angewandt zu ha- ben, Verwirrung in die gewöhnlichen Vorstellungen zu bringen. Daher der Name Dialektiker und Eristiker, der ihnen beigelegt ward. EuhuUdes und Alcxinos werden als Erfinder neuer Fang- schlüsse , Diodoros Kronos weil er die Möglichkeit der Bewegung

78 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

mit neuen Gründen betritt, genannt. Stiipo scheint weder mehr das Ethische in Betracht gezogen zu haben. Verwandt mit der megarischen Lehre war wohl die des Eleers Phaidon , dessen Schule seit Mencdemos die eretrische Schule genannt ward und ziemlich gleichzeitig mit der megarischen erlosch.

2. Dass Evhiid zu seinem eigeiithchen Gegenstande das Gute gemacht hat, dass ihm Tugend, Einsicht, Gott, i'ovg u. s. w. nur andere Namen dafür sind, zeigt ihn als entschiedenen Sokratiker Wenn er dann aber wieder das Gute das Eine nennt, weil sein Wesen in der Einheit mit sich oder der Unveränderlichkeit be- stehe, oder auch das Seyn, indem das Gegentheil des Guten gar nicht sey , wenn wahrscheinlich schon er selbst , gewiss aber seine Nachfolger, die Realität desselben durch Polemik gegen die Mög- lichkeit des Werdens und der Bewegung beweisen wollen, so ist es dem Cicero nicht zu verdenken , wenn er als Urheber der me- garischen Lehre die Eleaten nennt. Dass Sohrafcs von der Tu- gend behauptet hatte , sie sey nur eine , schliesse alle Vielheit aus, dass er sie oft als Uebereinstimmung mit sich selbst geschildert hatte, macht, wenn man dazu nimmt wie Bewegung und Vielheit als Wechselbcgriffe gelten, eine solche Verschmelzung des Sokra- tismus mit der All - Einslehre möglich, in der freihch nur die for- melle Seite des Sokratischen Tugcudbegriffes zu ihrem Rechte kommt. Auch die Untersuchungen über das Wissen, der Gegen- satz in den die Vernunfterkenntniss zur Meinung gestellt wird, weil jene es mit dem Einen und Allgemeinen zu thun habe, alles dies ist ganz Sokratisch, Dagegen ist es wieder eleatische Furcht vor aller Besonderheit, welche die Megariker nicht zu dem con- creten , die spezifische Differenz enthaltenden Begriff durchdringen, sondern sich bei dem abstracteii, alle Besonderheit ausschliessen- den Allgemeinen beruhigen lässt. Diesen Sinn hat es , wenn nicht dem Kohl der gewaschen wird, sondern nur dem Gattungsbegriff desselben Realität zugeschrieben wird, und diesen Grund wenn Pinto im Pannenides die transscendenten Ideen der Megariker verwirft, zwischen denen und den wirklichen Dingen das Dritte, Vermittelnde, fehle. Wenn sonst noch von den Megarikern erzählt wird, dass sie den Gegensatz von Möglichkeit und Wirklichkeit geleugnet hätten, so ist dies ein Lieblingssatz fast jedes Pantheis- mus gewesen. Bei ihnen ist er auch so ausgesprochen, dass es keine Möglichkeit dieses Mittlere zwischen Seyn und Nicht- seyn gebe, und ist dann später für ihre Ansichten vom hypo- thetischen Urtheil wichtig geworden.

Diog. Laert. II, 10 et 11. PreUer et Ritter 1. e §. 228 243.

IV, Die Sokratischen ScTiulen. B. Die Kyrenaiker. §. 69. 70. 12. 79

§. 69. Der Vorwurf, den später Aristoteles den Pytliagoreern ge- macht hat , dass in ihrem Tugendbegritf das Material aller Tugen- den, die natürlichen Triebe, ganz unberücksichtigt geblieben, passt ganz auf die Ethik der Megariker. Sie ist formalistisch, wie in neuerer Zeit die Wolfische oder Kantische, weil auf die individuelle Verschiedenheit, die Xaturanlage, gar keine Rücksicht genommen wird. Es ist, als wenn die jedenfalls wichtige Entdeckung der Sophisten, dass das Einzelwesen die Xorm für Alles, gar nicht gemacht worden wäre. Eben so ist, indem sie das eleatische Eine festhalten, ganz ignorirt, dass /7er«A7«7 die Berechtigimg des Wer- dens, dass die Atomiker die Realität des Vielen nachgewiesen haben, und dass, wenn mit diesem Beiden die Wahrnehmung zu thun hat, diese nicht ohne Weiteres als Wahn und als täuschende Meinung verworfen werden darf. Dieser einseitigen Fassung des Sokratismus, durch die er aus seiner Höhe über jenen früheren Standpunkten zu ihnen herabgezogen, weil zu ihrem Gegensatz gemacht wird, muss ergänzend eine Auffassung entgegentreten, welche gerade das, was die Megariker aus dem Sokratismus aus- geschlossen hatten , besonders betont. Den Gegensatz zu den Me- garikern bildet die kyrenaische Schule.

§. 70.

B.

Die Kyrenaiker.

Fr. Meidzins Vita Aristippi. Halae 1719. 4. A. Weridt De philosophia Cyre- naica. Lips. 1835.

1. Jrisilpjjos, in dem üppigen Kyrene als Sohn eines reichen Kaufmanns erzogen, kam, vom Ruhme des Solnäes angezogen, als ein feingebildeter Lebemann nach Athen, und ward so von ihm gefesselt, dass er ihn nicht wieder verliess , auch nach seinem Tode wo er als Lehrer auftrat stets für einen Sokratiker gelten wollte, obgleich die meisten Anderen, die sich so nannten, ihn, nicht nur weil er Geld für seine Vorträge nahm , zu den Sophisten stellten. Er hat nicht Unrecht, denn wirklich ist es eine Seite des Sokratischen Wesens, die er über Alles stellt, und, wenn auch travestirt, liegt selbst in dem Aristippischen k'xa ovx l'^oftat etwas Sokratisches. Von den vielen Schriften die ihm zugeschrieben worden sind, hat Manches vielleicht seinen Nachfolgern angehört. Erhalten hat sich davon Nichts.

2. Wie alle Philosophen nach Anaxagoras , so ft-agt auch Ari- stipp: wozu ist Alles?, und indem ihn, wie den Sokrntes, nur der Mensch interessirt , werden alle Untersuchungen nur um des hoch-

80 Alte Philof?opKie Zweite Periode (Glanz.)

sten menschlichen Zweckes , cl. h. um des Guten halber , angestellt. Was, wie die Mathematik , den Zweckhegriff ausschhesst wird ver- achtet. Auch die Logik und Physik sind an sich ohne Interesse, bekommen aber eines, indem sie zu Hülfsmitteln für die Ethik werden. Da nach Solrates die Tugend ein Wissen war, so wer- den die Untersuchungen über das Wissen überhaupt [mqX maxswg) um so mehr den logischen Theil der Ethik bilden müssen , als Irr- thümer vielleicht den höchsten Zweck verfehlen lassen. Das Re- sultat ist, dass da alles Wissen ein Wahrnehmen ist, die Wahr^ nehmung aber nur das eigne Afficirtseyn percipirt, wir nur von unseren eignen Zuständen wissen. Diese und ihre Ursachen {nä&i] und alx'icii) bilden den Inhalt des physikalischen Theils seiner Leh- ren. Alle Zustände werden auf die der heftigen, massigen und fehlenden Bewegung zurückgeführt, und die erste und dritte als Schmerz [növog) und Apathie der zweiten, welche Lust (j/<5or>/), ent- gegengestellt. Welcher dieser Zustände zu suchen, welcher zu fliehen sey, das ward in dem eigentlich ethischen Abschnitte des Systems {n^qi aiQsrav, tceqI cp^vKtäv) abgehandelt. Die Entschei- dung fällt zu Gunsten der Lust aus, die für das einzige Gut er- klärt wird, nur möchte man darin, dass als Grund angeführt wird: alle Menschen suchen die Lust, eine Entfernung von dem „jeder Mensch" des Profagoras und eine Annäherung au das „der Mensch" des Sokrates sehen können. Unter Lust versteht Jri- stipp nur das momentane (fiovoxQovog) Wohlseyn, namenthch von seiner physischen Seite, daher Leibesübungen ihm Tugendmittel sind. Der Weise erwählt niemals den Schmerz, selbst wenn er dadurch Lust erkaufen sollte. Sein Wahlspruch ist den Genuss des Augenblickes ergreifen , nicht um sich von ihm beherrschen zu lassen , sondern die Lust zu beherrschen wie der Reiter das Ross. Der Leichtsinn, der im Genuss nicht an die Zukunft denkt, unter- scheidet den Hedonismus des Aristipp , von der abwägenden, be- rechnenden. Glückseligkeitsichre des Epiknr und seiner Anhänger. Auch hier wird übrigens ein Sokratisches Element darin anerkannt werden müssen, dass Arisüpp so wenig als Solrates, allein ge- niessen mag, und die Kunst mit Menschen zu leben von ihm am Höchsten gepriesen wird. FreiUch, wenn er hinzusetzt: wie ein Fremder, so betont das wieder die Genussseite des Umganges, und die Aristippische Freude an der Geselligkeit, wird Niemand mit dem Eros des Sokrates, der auf das gemeinschafthche Philosophi- ren geht, identificiren. Eben so wenig aber auch mit dem isoli- renden Egoismus der Sophisten. Selbst wo Aristipps Aeusserun- gen ganz mit den Sophistischen übereinstimmen, neutralisirt er

IV. Die Sokratischen Schulen B. Die Kyrenaiker. §71. 81

sie durch andere, welche zeigen welchen Eindruck er von Soh'a- ics erfahren hat. So wenn nach ihm Nichts von Natur, Alles nur durch Satzung Kecht ist , wird dies dadurch ungefährlich , dass er sagt der Weise würde, wenn es keine Gesetze gäbe, gerade so leben, wie wo es dergleichen gibt. Ueberhaupt lassen viele uns überlieferte Charakterzüge des Aristipp in ihm einen Mann erken- nen, der manchem Kyniker und Stoiker als Tugendmuster hätte dienen können.

3. Die Nachfolger des Aristipp scheinen sich bald von ihm zu entfernen und dem späteren Standpunkt der Epikureer anzu- nähern. Viele derselben haben dann selbst Schulen gebildet, die nach ihnen genannt werden. Ausser dem Jüngern ^4r««/«/>p, einem Tochtersohn des Stifters der Schule, wird Theodoros nebst den T/ieodoriacis genannt , der über die momentane Lust die mehr re- flectirende Freude stellt, und der, wie noch mehr sein Schüler Encmeros, die Mythen in blosse Geschichte verwandelt. Ilegesias und die Ueyesiuci haben im Gegensatz zu Aristipp die Schmerz- losigkeit als das Höchste gepriesen und consequenter Weise den Tod über das Leben gestellt. Aniiikeris und sein Anhang schei- nen sich wieder dem ursprünglichen Hedonismus mehr angenähert zu haben. Doch werden auch sie von Vielen ganz zu den Epiku- reern gestellt.

Diog. Laert. II, 8. n-eUer et RiUer 1. c. §. 210 219.

§• 7L Die Verwandlung der Sokratischen Ethik in Logik sowol als in die in Sorge für physisches Gesund- und AVohlseyn zieht dieselbe von ihrer Höhe herab. Wer ihren Gegensatz gegen solche Einsei- tigkeiten behauptet, wird in sofern sich den wahren Sokratiker nennen dürfen. In dem Bekämpfen je einer dieser Einseitigkeiten muss nothwendig eine Annäherung je an die andere hervortreten, und der Tieferblickende müsste dahin gelangen, Beiden nicht nur Unrecht sondern auch Recht zu geben, und mit Bewusstseyn zu vereinigen was Jene lehren. Wo der hiezu nöthige Tiefsinn man- gelt, wird nur das Negative, dass Beide nicht im Rechte sind, festgehalten werden. Dadurch wird aber der Sokratismus, der ihnen entgegengestellt wird, in einer andern Art einseitig: Sokrntes, indem davon abstraliirt wird, was Vorsophistisches und Sophisti- sches in ihm sich findet, ist abstract aufgefasst und darum ist der Sokratismus der Kyniker ein abstracter und übertriebner, nach Plafo ein „rasender" Soki'atismus.

Erdraann , Gesch. d. Phil. 1. Q

82 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

§. 72.

C.

Die Hyuiker.

Chappuis Antisthene. Paris 1854. Ad. Müller de Antisthenis Cynlci vita et scriptis. Marb. 1860.

Aiüisthenes, der Sohn eines gleichnamigen Atheners und einer thrakischen Mutter, kam erst nachdem er sich unter Gorgias zum Sophisten und Rhetor ausgebildet hatte, zum So/.rnfes , an dem ihn Nichts so fesselte, wie die gottähnliche Bedürfnisslosigkeit. Diese aber auch so sehr dass, als nach des Sohrntes Tode er im Gymnasio Kynosarges (daher der Name der Schule) als Lehrer der Philosophie auftrat, er nur mit seinen Schülern vom Sokrates zu lernen behauptete. Sein starrer , von Sokrates so fein gerügter , Tugendstolz lässt es ihn nur zu einer übertriebnen Copie des edelsten der Sterl^lichen bringen. Von den sehr vielen Schrif- ten, die ihm beigelegt wurden, hat schon das Alterthum ihm die meisten abgesprochen. Der Rhetor scheint sich in denen sehr ge- zeigt zu haben , die ihm wirklich angehörten. Ausser ihm werden als Repräsentanten seines Standpunkts genannt: Diogenes von Si- nope, den vielleicht ihm aufgebürdete Anekdötchen noch mehr zum Muster unverschämter Rohheit gemacht haben , als er es verdient, und nächst diesem Krntes, durch welchen die kyuischen Lehren in die der Stoa hinübergeleitet werden.

2. Hatte die Erziehung zum Sophisten dem Anfisthenes nahe gelegt, wie Aristipp auf die subjective Befriedigung das grösste Gewicht zu legen, so hinderte wieder der Umstand, dass Gorgias eleatisch gebildet war, vor jedem einseitigen Individualismus. Da- rum ist ihm weder, wie dem Protagoras, was jeder Mensch, noch wie dem Aristipp was die Menschen im Allgemeinen , sondern das ist ihm der höchste Zweck , was das Allgemeine im Menschen, was die Vernunft, fordert. Dies und dass die Tugend uvu- eine ist, dass sie in der Einsicht, ihr Gegentheil in der Unwissenheit be- steht, dass sie lehrbar ist, ist in völliger Uebereinstimmung mit Sokrates gelehrt, und stimmt gut dazu, dass stets, als auf das erste Erforderniss, auf die Sokratische Kraft hingewiesen wird. So- bald aber näher bestimmt wird , was denn dieses vorgehaltene Mu- sterbild eigentlich ist, so wird es klar, dass Antisthenes an dem Sokrates nur das wahrgenommen hat, was Megariker und Kyre- naiker ausser Acht Hessen, und wieder dass, wo er mit ihnen über- einstimmt, er nicht zu verbinden vermag, was jeder von beiden hervorgehoben hatte. Das Letztere zeigt sich besonders in dem, was wir von seinen logischen Untersuchungen wissen. Indem die

IV. Die Sokratischen Schulen. C. Die Kyniker. §. 72, 3. 83

Megariker nur den GattimgsbegrifFen, die Kyrenaiker nur den Ge- genständen der Wahrnehmung Realität zuschrieben , haben sie sich in das getheilt, was des Snlrates concreter Begriff in sich ent- halten hatte. Antistlienes fühlt dies ; indem er aber mm verlangt, man solle nie vom Einzelnen Allgemeines aussagen , sondern einer- seits in identischen Sätzen sprechen, andrerseits die Dinge aufwei- sen, kommt bei ihm nie zusammen, was Solrntes sowol in der Induction als auch der Definition verknüpfte. Das zuerst Bemerkte wieder, dass er nur einer beschränkten Auffassung dessen fähig gewesen sey, was Solrntes war, das zeigt sich ganz besonders in seinen eigenthch ethischen Untersuchungen, zu denen er, wie es scheint ohne sich viel mit Physik zu beschäftigen, übergegan- gen ist.

3. Der Sokrates, von dem Antistlienes lernen will, ist nur der, welcher allen Strapazen trotzt, vor die Silberläden tritt um sich zu freun dass er so Vieles nicht brauche, keine Schuhe trägt u. s. w. ; den Sokrates dagegen, der an Agathons Tafel mit solcher Sicherheit dem Genuss sich hingeben kann, den hat er nie gesehen, und darum meint er, Sokrates thue immer das was ihm schwer werde. Der Kampf gegen Schmerzen und Sinnenlust, der növog wird im bewussten Gegensatz zu Aristipp, als das w^ahre Gut, die Lust dagegen als das Uebcl bestimmt, welches der Weise zu fliehen habe um, sich selber genügend, mit sich selbst umzugehn. Zu dieser Anti-Aristippischen Formel musste freilich Antistlienes kommen , da das Leben in der Gesellschaft nur daraus hervorgeht, dass der Mensch sich nicht genügt. Aber auch das in den sittli- chen Gemeinschaften; daher werden hier Ehe, Familie, Vaterland zu, dem Weisen gleichgültigen, Dingen, ein moralischer Egoismus, der schlecht zu der Leidenschaft passt, mit der sein Meister an seiner Stadt hing. Ja selbst der Hedonismus beschämt ihn, wenn an den von beiden adoptirtcn Satz, dass alle Gesetze nur durch Satzung gelten, Aristipp die Versicherung knüpfte der Weise handle immer in Uebereinstimmung mit ihnen, Antistlienes dagegen die Tugend der Befolgung der bürgerlichen Gesetze entgegenstellt. Wie den natürlichen Trieben, eben so wird auch dem gewöhnlichen Meinen die Vernunft entgegen gestellt, daher die negative Stel- lung, die Antistlienes allem Dämonischen und Mantischen gegenüber, oft sogar im bewussten Gegensatz 7AI Sokrates, einnimmt, und die ihn dahin gebracht hat, in den Mythen der Volksreligion bloss Allegorien zu sehen. Wahrscheinlich moralische, wie manche Sophisten.

Diog. Laert. VI, 1. 2 Preller et Jtitter 1. c. §. 220 227.

6*

84 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

§. 73. Die allgemeine objective Vernünftigkeit , als welche Anaxago- ras (wenigstens auch) den vovg gedacht hatte, ist durch die sitt- liche Genialität des Sokrates in ihm subjeetiv {äv&QcoTtog nach Pro- tagoras) geworden, so dass wenn er seinen eignen Genius befragt, der Gott daraus antwortet, und er als höhere Einheit über jenen beiden Philosophen steht. Wo jene Genialität sich zurückzieht, da fallen die beiden Momente so auseinander , dass die Megariker das erstere {vovg , ^£6g , eV) , also den Inhalt des Sokratischen Wollens betonen, die Kyrenaiker dagegen das zweite, und darum Alles in den Genuss (r/^ovjj, läqa) setzen, der bei Sohrulcs immer das Wollen des Vernünftigen begleitet. Ihre Einseitigkeit konnte An- iisthenes tadeln, konnte im Gegensatz zu den Megarikern das Recht der Subjectivität, den Kyrenaikeru gegenüber den objectiven Inhalt des Guten festhalten; indem er aber nicht vermochte Bei- des ganz als Eins zu fassen, war auch, was er mit Bewusstseyn reproducirte , nicht der ganze Solrates sondern nur eine Seite desselben. Diese Versuche aber, die einzelnen Seiten des Sohra- tes bestimmter zu fassen, sind nur Vorspiele dazu, dass sie alle zusammengenommen und so der Idealismus, der in Sokrates nur gelebt hatte, als bewusster und begriffener Sokratismus dargestellt wird. Auch in der Hinsicht als begriffener, dass sein Zusammen- hang mit der Vergangenheit erkannt wird. Hatten die Megariker gezeigt, für wie viel eleatische Metaphysik die sokratische Lehre Platz hat, hatte Arisilpp auf ihre Berührungspunkte mit Prota- goras und also mit heraklitischer und atomistischer Physik hinge- wiesen, hatte endlich Anüsthenes bewiesen dass man Sokratiker seyn und dennoch ein Dialektiker bleiben könne in Weise des durch Zeno und Empedokles gebildeten Gorglas, so bleibt dies Alles unvergessen. Zugleich wird aber auch noch die letzte der vorsophi- stischen Weltanschauungen, die Pythagoreische, in bewusster Weise dem Sokratismus einverleibt. Der Repräsentant des allseitig be- griffnen Sokratismus ist Philo, bei dem es darum kein Zufall ist, wenn er alle seine Untersuchungen an die Person des Sokralesy in dem die Philosophie persönlich geworden, anknüpft.

V.

Piaton.

§. 74.

Plato's Leben.

Diog. Laert. Lib. III. Olympiodori et Anonymi vitae Piatonis in Diog. Laert.

ed. Didot. Appendix p. 1 14.

1. Aj'istoklcs, erst später Piaton zubenannt, ist zu Athen als

V. Piaton. Plato's Leben. §. 74. 1-2. 85

der Sohn des Anston und der Periküone Ol. 87, 3 (429 v. Chr.) geboren, und z^Yar am 21. Mai wo man Apollons Geburt in den Thargelien feierte, woran spätere Verehrer allerlei Fabeln ange- schlossen haben. Aufwachsend mitten in der künstlerischen und wissenschaftlichen Herrlichkeit, welche des Perikles vierzigjährige Wirksamkeit seiner Vaterstadt gebracht hatte, dabei aber steter Zeuge der Uebelstände, die eine ausgeartete Demokratie im Ge- folge hatte , wäre er wohl Aristokrat geworden , auch wenn er nicht von beiden Eltern her zu den vornehmsten Geschlechtern und seine nächsten Verwandten nicht zur Ohgarchen- Partei gehört hätten. Dazu kam dass die Männer, die auf seine Entwicklung den gröss- ten Einfluss hatten, yov AW&iSokratcs, der Demokratie nicht hold waren. Sein Dorismus ist eben so wenig ein Beweis von geringem Patriotismus , wofür Niehulr ihn erklärt , we die Anglomanie Mon- tesquieiCs und andrer Fr-anzosen im achtzehnten Jahrhundert dies war. Dass Pluto als er das gehörige Alter erreicht hatte, wie alle Uebrigen die Feldzüge die es gerade gab mitgemacht habe, ist kaum zu bezweifeln, obgleich die directe Angabe des Aristo- xeiios und Aeliun , da sie hinsichtlich zweier eine Unmöglichkeit enthält, hinsichtlich des dritten ihren Werth verliert. Oh Drukon, sein Lehrer in der Musik, ob namentlich der durch Pythagoreer gebildete Epicharmos zur Entwicklung seiner philosophischen Ideen l)eigetragen , oder ob ihn bloss zu dichterischen Versuchen gebracht haben, ist schwer zu entscheiden. Gewiss ist dass, als er im zwanzigsten Jahre zu Sokrates kam, er seine Poesien verbrannte, und von da ab sich nur der Philosophie widmete. Schon vor die- ser Zeit hat er, wie der Phädon anzudeuten scheint, die Lehren der ionischen Philosophen und des Ancuagorus kennen gelernt, auch hat er Unterricht vom Herakliteer Kraiylos erhalten. Nach Aristoteles muss er auch pythagoreische und eleatische Lehren, wenigstens oberüächlich , gekannt haben , ehe er sich dem hingab, den als seinen eigentlichen Lehrer er stets gefeiert hat.

2. Nach der Hinrichtung des Sokmtes , die ihn mit Widerwil- len gegen jedes politische Treiben erfüllte, begab er sich nach Megara zum Euklid und ward hier veranlasst , sich gründlicher als bisher mit der eleatischen Lehre zu beschäftigten. Es folgten dann Reisen. Zuerst wohl nach lonien , dann nach Kyrene und Aegyp- ten, wo er sich mit Mathematik beschäftigte, zugleich aber der Aristippischen Lehre, die hier ihren Hauptsitz hatte, entgegentrat. Am Ehiflussreichsten ward seine Pteise nach Italien, wo er mit Pythagoreern in nähere Berührung trat, die u. A. ihn auch von seinem Widerwillen gegen Betheiligung am Staatsleben zurückge-

86 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

bracht haben mögen. Ein , durch den mit ihm befreundeten Dion eingeleitetes, Verhältuiss zum älteren Dionysios konnte natürlich keine Dauer haben. In Folge des Bruchs ward Plalo seiner Frei- heit beraubt, deren Wiedererlangung er dem Dazwischentreten des Kyrenaikers Annikeris dankt. Nach seiner Rückkehr in Athen er- öffnete er, zuerst in den Hainen des Akademos, seine Schule, die später in den erkauften Garten am Hügel Kolonos verlegt ward. Die beiden Unterbrechungen abgerechnet, welche zwei fruchtlose Reisen nach Sicilien veranlassten (die erste um den jüngeren Dio- nysios der Tugend und Wissenschaft zu gewinnen, die zweite um ihn mit Dion auszusöhnen) hat Plalo seinen Lehrerberuf bis an seinen Ol. 108, 1 erfolgten Tod fortgesetzt.

§. 75. Plato's Schriften.

1. Alle Schriften des Plalo sind sorgfältig gearbeitete, exo- terische d. h. nicht für die Schule sondern einen gebildeten Leser- kreis berechnete, Dialoge von mimisch - dramatischer Schönheit, jederfür sich ein Ganzes und alle doch wieder Glieder eines grös- seren Ganzen. Die untergeschobenen auszuscheiden ist von je das Bestreben der Kritiker gewesen, die nicht immer, weil sie den Standpunkt Plato's zu ideal oder wieder zu untergeordnet fassten, vor Einseitigkeiten sich gehütet haben, so dass Mancher sogar Schriften, die Aristoteles als Platonisch citirt oder andeutet, be- zweifelt hat. Ausser diesen Schriften Plato's sind noch, wenn auch lückenhafte, Nachrichten über seine esoterischen, d. h, nicht dem Inhalte sondern der Form nach auf die Schule beschränkten , Vor- träge besonders durch Aristoteles zu uns gekommen, auf welche gleichfalls Rücksicht zu nehmen ist.

2. Schon im Alterthum sind Versuche gemacht worden, die Platonischen Dialoge in eine systematische Ordnung zu bringen. Der seltsame Einfall des Alexandrinischen Grammatikers Aristo- pl/anesj nach theatralischen Gesichtspunkten Trilogien zusammen- zustellen , ist nicht ganz durchgeführt und verdient nur Erwähnung weil einige Ausgaben des Plato diese Ordnung befolgen (die Al- dina, die Basler, die Tauchnitzsche Stereotypausgabe). Für die Anordnung des zu Tibcriiis' Zeit lebenden Tlirasyllos, welcher den Dialogen auch ihre zweiten Titel beigelegt hat, nach Tetralogien, lässt sich anführen, dass wenigstens zwei solche Tetralogien un- zweifelhaft von Plato selbst beabsichtigt waren. Einige ältere Handschriften und Ausgaben befolgen diese Ordnung. Endlich ist noch die Zusammenstellung des Serranos nach Syzygien anzufüh-

V. Piaton. Plato's Schriften. §. 75, 3. 87

reii, welche in die, lange Zeit allein citirte, Ausgabe des Ilenrkus Stephanus und von da in die Bipontina übergegangen ist,

3. In der neueren Zeit hat man gefühlt, dass eine Anordnung der Platonischen Schriften nur Werth habe, wenn sie auf Unter- suchungen über die Genesis und den Zusammenhang seiner Lehren sich stütze , und die Ehre den Anfang gemacht zu haben gebührt Tennemünn (System der Platonischen Philosophie. 4 Bde. Leipz. 1792—95), wenngleich sein Unternehmen daran scheitern musste, dass er auf die chronologischen Daten in Pluto selbst Alles zu gründen suchte. Epoche machend für die Anordnung der Plato- nischen Schriften , wie für ihr Verständniss wurde die Uebersetzung des Pluto von Sclileiermurher (Platon's Werke. Berl. 1804—1828. 6 Bde.), der in den begleitenden Einleitungen die von ihm ange- gebene Reihenfolge, so wie ihre Zusammenstellung in drei Grup- pen : versuchende, dialektische und darstellende rechtfertigt. (Diese Reihenfolge befolgt die Ausgabe von J. Bekker.) Mit Rücksicht auf Scldeiermacher wurden die Werke von Ast (Platon's Leben und Schriften, 1816) und das viel besonnenere oft aber hyperkri- tische von Socher (Ueber Plato's Schriften. München 1820) verfasst. Was der Letztere versucht hatte, bestimmte Zeitpunkte festzustel- len , welche dazu dienten , Schriften verschiedner Perioden zu un- terscheiden gelang viel besser C. F. Hei'innnn (Geschichte der Pla- tonischen Philosophie. P und einziger Band. 1839), welcher die Reise nach Megara und den Antritt des Lehramtes als solche Punkte bestimmte. Obgleich von einem ganz anderen Princip aus- gehend, zeigt doch Hcrmunns Anordnung sehr viele Berührungs- punkte mit der Schleiermacherschen. Die wichtigsten Abweichun- gen betreffen den Parmenides und Phädros, deren ersterem Her- munii die Stelle anweist wie vor ihm Zeller in seinen Platonischen Studien, und deren zweiter nach ihm, wie auch nach Stallbumn u. A. als Programm beim Antritt des Lehramts geschrieben ward, und also in die dritte Periode gehört. Kritische Beurtheilungen und Modificationen dieser Anordnungen wurden gelegentlich in den Einleitungen gegeben, mit denen Stullhunm seine kritische Aus- gabe der sämmtUchen Platonischen Dialogen begleitet hat, in mehr zusammenhängender Weise in den werthvollen Einleitungen, mit welchen Steinliarl die seit 1850 erscheinende, jetzt vollendete, Uebersetzung des Pluto von Hier. Malier (7 Bde. 1850-60) aus- gestattet hat. Endlich werden alle diese verschiedenen Ansichten sorgfältig berücksichtigt und an einzelnen Punkten modificirt in F. SusemiliVs Genetischer Entwicklung der Platonischen Philoso- phie, 2 Bde., 1855—60, zu welcher dann ganz neuerlichst die Schrift

88 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

von Uebei'weff, Untersuclmiigen über die Aechtheit und Zeitfolge Platonischer Schriften, Wien 1861, gekommen ist.

§. 76. Plato's Lehre.

Van Heusde Initia philosophiae Platonicae. Lugd. Bat. 1825. 2te Aufl. 1842. Ed. Zeller Platonische Studien. Tübingen 1839.

1. Ehe die Dialektik, Physik und Etliik, in welche die Plato- nischen Untersuchungen so naturgemäss zerfallen, dass diese Ein- theilung des Systems die Platonische genannt werden muss, möge er sie nur angedeutet , möge er sie ausdrücklich als die wahre be- hauptet haben, ehe sie dargestellt werden, sind die, in den ver- schiedensten Dialogen zerstreuten Untersuchungen zu betrachten, welche den propädeutischen Zweck haben, den Leser zu dem Pla- tonischen Standpunkt zu erheben. Die negative Aufgabe darin ist, den Standpunkt des Lesers als unhaltbar nachzuweisen, wo- durch derselbe gleichsam zum Anlaufspunkte wird, der den Sprung möglich macht (Rep.). Wie jeder philosophische Schriftsteller, so setzt auch Pluto in allen seinen Lesern die allgemein herrschen- den Vorstellungen, in den philosopliisch gebildeten die Bekannt- schaft mit der Philosophie des Tages voraus. Da nun als diese für die Meisten die Lehre der Sophisten und nur für einen kleinen Kreis die des Sokrates und der Sokratiker galt, mit welchen letz- teren ihn Pietät gegen den Meister , dankbare Achtung gegen man- chen Schüler, verband, so besteht die negative Seite seiner pro- pädeutischen Untersuchungen in der offenen Bekämpfung der ge- wöhnlichen Vorstellungen und der Sophistik, und in der mehr ver- steckten Polemik gegen den Sokratischen Standpunkt.

2. Die Mangelhaftigkeit der gewöhnlichen Vorstellung von ihrer theoretischen Seite wird so nachgewiesen, dass das Vertrauen zu der siunhchen Wahrnehmung (al'ö^jjöig im Parm.) erschüttert, und gezeigt wird, dass ihr Gegenstand ein stets wechselnder sey (Theaet.) sie also keine feste Sicherheit sondern höchstens Wahrscheinlich- keit {iUaGLa Rep.) gewähre. Nicht viel anders ist es da, wo vermittelst der Erinnerung mehrerer Wahrnehmungen (Phäd.) das entsteht, was Piato bald mit der sinnlichen Wahrnehmung unter den gemeinschaftlichen Namen <5o^« stellt, dann aber als höhere oder richtige Vorstellung von jener unterscheidet, bald aber schlecht- weg öo'l« nennt. Ihre Gewissheit ist zwar grösser als die der Wahr- nehmung, aber sicher ist dieselbe doch nicht, da das Bewusstseyn der Gründe mangelt und man also Etwas nur als Thatsache gel- ten lässt. In dieser TÜang (Rep.) oder höheren Ws,ci das zu sehn, was wir Erfahrung nennen , dazu sind wir um so mehr berechtigt

V. Plato. Plato's Lehre. Propädeutisches. §. 76, 2. 3. 89

als Pluto selbst (Gorg. 465. a. cf. Pliädr. 62) sie als lixmiqia y.ul TQißn der Tsxvrj, welche die Gründe kennt, entgegenstellt, und, gerade wie später Aristoteles, dem, der niu- diese öö'^a hat, die Fähig- keit des Belehrens abspricht, höchstens das Ueberreden zugesteht (Tim.), Das Ziel aller dieser Erörterungen ist , ein Irrewerden an den bisherigen Vorstellungen hervorzubringen, jene Verwunderung (Theaet.) ohne welche Keiner zu philosophiren anfängt, und die mit dem Bewusstseyn des Nichtwissens (Alkib. I) zusammenfällt. Ganz ähnliches Misstrauen sucht er nun hinsichtlich des prakti- schen Bestandtheils der Vorstellung hervorzurufen. Die gewöhn- liche Tugend, das gewöhnHche für gut und schlecht erklären, ist Werk der Ge\Yohnheit und bildet den Gegensatz zur philosophi- schen oder selbstbewussten Tugend (Meno, Phädo). Das in- stinctartige Halten an der Väter Sitte, die geniale Staatskuust eines Perlklesj sie sind, wie der heilige Wahnsinn der über den Dichter kommt, ein glücklicher Zufall. Es fehlt die Sicherheit dass ein solcher Routinier tugendhaft bleiben, oder seine Staats- kunst weiter fortpflanzen werde (Protag. Meno). Dazu kommt dass einem solchen Abgerichtetseyn das abgeht, was allein einer Handlung Werth gibt: die Einsicht dass, und die Vollbringung weil, sie gut ist. Im gewöhnlichen Sinne heisst tapfer auch wer- aus Furcht kämpft (Phädo), die ächte Tugend dagegen fällt so mit dem Bewusstseyn der Gründe zusammen, dass solches Wis- sen , wie schon Sokratcs gelehrt , sogar das Böse adelt , seine Abwesenheit das Beste verdirbt (Hipp. min.). Wie also die theo- retischen Ansichten des gewöhnlichen Bewusstseyns ohne Wahr- heit, so sind seine praktischen Grundsätze ohne Werth, und der theoretischen Verwunderung entspricht die praktische, welche das Eiugeständniss enthält, dass man nicht ^^^sse was gut sey.

3. Bis zu diesem IiTemachen an dem was bisher theoretisch und praktisch gegolten hat, gehen die Wege Puito\s und der So- phisten so wenig auseinander, dass er nicht nur oft sich der so- phistischen Wallen bedient, sondern ausdrücklich (Soph.) der So- phistik eine reinigende Kraft zuschreibt. Weiter aber bekämpft er sie , weil sie aus diesem negativen Resultat die Folgerung zog, dass der absolute Subjectivismus die einzig haltbare Ansicht sey. Kicht, wie Protayoras will, das Natürlich-Individuelle (das Schwein) im Menschen, sondern das Allgemeine (der Gott) in ihm, die Ver- nunft sey das Maass aller Dinge. Diesen Objectivismus macht er gegen die Sophisten im Theoretischen eben so wie im Prakti- \ sehen geltend. Ersteres indem er stets den Gegensatz des Mei- uens und Wissens und die Healität des letzteren betont. Er zeigt

90 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

dass es nach Protagoras gar keine Wahrheit und gar kein Wis- sen gebe, dass aber durch diese Behauptung er sich in Wider- spruch setze mit der Vernunft , weil nur von Einem und demsel- ben Entgegengesetztes werde ausgesagt werden können, und mit sich selbst weil er, der doch verspreche zur Herrschaft über die Dinge zu führen, jetzt behaupte man könne den Dingen gar nicht beikommen (Theaet). Eben so bekämpft er zweitens die prakti- schen Irrthümer der Sophisten besonders in der Person des Gor- yias und Hippias. Der Unterschied zwischen Belieben und ver- nünftigem Wollen wird urgirt, und gezeigt dass wo die Lust zum alleinigen Princip des Handelns gemacht wird, man zu dem Wi- derspruch mit sich selbst komme dass gerade die Unlust gewählt wird (Gorg.). Eben so, dass wenn der Staat nicht auf Gerech- tigkeit sondern auf Gewalt d. h. Unrecht gegründet wird, man das Trennende zum Vereinigenden mache (Rep.). Die Doppelstellung Pluto' s der Sophistik gegenüber, dass er, wie sie, verwirrt aber um eines andern Zweckes willen, lässt ihn wiederholt die Sophi- stik als Carricatiu' der wahren Wissenschaft bezeichnen (Gorg.). 4. Bis dahin werden dem Philo Sokrutes und die Sokratiker beistimmen müssen und darum hat er ein Recht, die bisher ent- wickelten Lehren dem Sokraies in den Mund zu legen. Darin aber, dass in einigen Dialogen mchi Soh-ates das Gespräch leitet, und in diesen nicht das Ethische behandelt wird , muss man einen leisen Tadel gegen den Meister finden, dass er sich so sehr auf das Ethische beschränkt habe. Verhinderte ihn hier die Pietät, offener aufzutreten, so fand eine solche Rücksicht den Sokratikern gegenüber nicht oder doch weniger Statt. In dem, vielleicht in Kyreue geschriebenen Theätet ist die Polemik gegen den Prota- goras zugleich gegen den Arislipp gerichtet, es wird ihm nach- gewiesen dass er hinter dem Meister zurückbleibe , der ja über der 5o|« ein Wissen annehme, das mit Begriff, und Erklärung be- gleitet sey und also begründen und Rechenschaft geben könne (vgl. Symp.j. Bei dieser Gelegenheit wird aber auch ein Wink gegeben, dass es über jenem Sokratischen Wissen noch ein höhe- res gebe. Offenbar ist jenes gemeint, von dem in dem gleichzeitig verfassten Kratylos „geträumt" wird, das Wissen durch Ideen. Ganz wie im Theätet der Kyrenaische Standpunkt kritisirt wird, gerade so findet sich im Parmenides die ziemlich verständliche Andeutung, dass die Megäriker, indem ihnen die abstracten All- gemeinbegriffe allein Wahrheit haben, nicht minder aber auch die Kyniker, sich dem vorsokratischen Standpunkt zu sehr angenähert hätten. Eben so werden auch die praktischen Lehren der Sokra-

V. Plato. Plato'b Lehre. Propädeutisches. §. 76, 5. 91

tiker als mangelhaft und einseitig bekämpft. Es geschieht dies besonders im Philebos , wo er den Sokraics gegen Kyniker und Kyrenaiker kämpfen lässt. Sowol in der Lust ohne Einsicht wird ein innerer Widerspruch nachge^Yieseu, als auch in der Einsicht ohne Lust. Das Gute, welches die wahre Philosophie zu ihrem Objecte hat, das liegt über jenen Einseitigkeiten in einer höheren Sphäre.

5. Zu dem negativen Resultate der bisherigen Untersuchun- gen, dass weder die allgemeinen Vorstellungen, noch die Sophi- sten, ja im Theoretischen nicht einmal Sokrutes , und die Soki'a- tiker weder im Theoretischen noch im Praktischen, das ^Yalu'e ergriffen haben, tritt nun als positive Ergänzung die Anweisung hinzu , wie man sich auf den wahren Standpunkt erhebt. Die sub- jective Bedingung ist der philosophische Trieb oder das Verlan- gen, das Wissen eben sowol zu gemessen als in Anderen zu er- zeugen, eben darum Eros genannt. Weder der Allwissende (00- (pog) noch der ganz Unwissende {a^iaO-rig) hat denselben, sondern nur der qtdöeofpog, der sich in dem Mittelzustande zwischen Ha- ben und Nichthaben befindet. Der Eros dessen Begriffsbestimmung im Phädros versucht wird, dessen Verherrhchung namentlich das Symposion gewidmet ist, ist daher der Sohn der (Wissens-) Armuth und des Reichthums. Der unterste Grad dieses Triebes ist schon in der Lust an einer schönen Körpergestalt, einer seiner mittleren in dem Verlangen des wahren Erotikers, in schönen See- len Durst nach Wahrheit zu erzeugen, sein höchster endlich in dem Verlangen anzuerkennen , welches darauf geht durch Ergrei- fen des Schönen an sich in immer neuer Selbsterzeuguug sich Un- sterblichkeit, dieses Abbild der göttlichen UnveränderUchkeit , zu erringen. Weil dieser Trieb nicht -wissendes Wissen ist, deswegen wird er auch als Vergessenhaben gedacht, und es ist schwer zu entscheiden, wie viel in jenem prachtvollen Mythus des Phädros die einzige Weise sich selbst klar zu werden, wie viel bewusste Allegorie ist. Der von den Sophisten (Euthydemos u. A.) carri- kirte Satz, man lerne nur was man schon wisse, konnut hier zu Ehren. Der philosophische Trieb ist der angeborne Keim , woraus Kunst, Sittlichkeit, Wissenschaft hervorgehn. Er kann aber und muss genährt werden. Schon jedes Lernen nährt den Geist, da- her ist der Philosoph nothwendig lernbegierig, freilich nicht schau- und hörbegierig , denn die sinnliche Wahrnehmung belehrte ja nicht, überredete nur, sondern seine Lernbegierde geht auf das Schöne. Alle Beschäftigung mit dem Schönen nährt jenen Trieb, daher die Musik, diese Vorbereitung zur Philosophie als der wahren Musik

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(Rep. Phaedo). Weiter kommt dazu die Mathematik, weil sie von dem Sinnlichen absehen lehrt, obgleich ihr Gegenstand nur noch ein Mittleres zwischen dem Sinnlichen und den Ideen, so dass sie obgleich schon ein Wissen, doch nicht das höchsteist, sondern das reflectirende, auf Voraussetzungen beruhende Denken, die öia- voia zu ihrem Organ hat (Rep.). Vor Allem aber bildet die Er- gänzung zu dem angeborenen Wissenstriebe die dialektische Kunst, deren Wesen ausführlich und im Gegensatz zu den Methoden an- derer Philosophen und anderen Wissenschaften beschrieben wird. So namentlich im Staat T^es Buch.

6. Als Kunst der Gesprächführung steht die Dialektik im Ge- gensatz zur Rhetorik der Sophisten , welche nur lehrt des Redners Einzelansicht überredend darstellen, während im Gespräch als dem gemeinschaftlichen Denken das Allgemeingültige erlangt wird. Was dabei hervortreten soll ist der allgemeine Begriff", darum ist das Combiniren des Einzelnen die Sache des Dialektikers , der sich darin als Synoptiker zeigt (Rep. Phädr.). Mittel und zugleich Correctiv für die Begriffsbildung ist das antinomische Verfahren, wo eine Begriffsbestimmung an den Consequenzen geprüft wird, die sich aus der hypothetischen Annahme derselben oder ihres Gegentheils ergeben. Nicht sowol die mehr subjective Ironie des Sohraies als das Verfahren des Eleateu Zcito wird im Parmeni- des und Sophisten als uachahmungswürdiges Beispiel hingestellt, dabei aber immer gegen Sophisten und Eristiker polemisirt, bei welchen dieses Verfahren nicht Mittel sondern Zweck ist , die auch nicht in den Begriifen selbst die Widersprüche entdecken , sondern durch herangezogene Gesichtspunkte sie, und zwar nur an die erscheinenden Dinge, heranbringen. Das Hinaufsteigen zu der richtigen, in der Definition ausgesprochenen Begriffsbestimmung ist aber nicht das Letzte. Vielmehr muss, wenn sie gefunden ist, nach in ihr selbst enthaltenen Gründen die , durch den Begriff" ge- setzte, Sphäre in die sie erschöpfenden Arten zerlegt werden. Die begriff"smässige , am Besten dichotomische, Eintheilung ist da- rum eben so sehr Sache des Dialektikers; wie es die Zurückfüh- rung auf den gemein schafthchen Begriff" war. Während der Eri- stiker von Einem zum Andern springt, steigt der Dialektiker all- mählig durch alle Zwischenstufen vom Einen zum Vielen herab. Was dann endlich das Verhältniss der Dialektik zur Mathematik betrifft, so geht jene darauf aus, alle Voraussetzungen aufzuheben, um das Princip zu gewinnen, während diese sich nie von unbe- wiesenen Voraussetzungen frei macht.

7. Nur dort, wo er dialektisch geschult ist, wird aus dem

V. Piaton. Plato's Dialektik. §. 77, 1. 2. 93

Triebe zu philosophiren die vvirkliche Philosophie: dialektisch phi- losophiren heisst wahrhaft oder recht philosophiren (Soph.). Der Eros allein macht es also nicht. Bedenkt man nun dass im Sym- posion SohruJes geradezu als der Eros selbst gefeiert wird, so beweist dies, dass Pinto die dialektische Fortbildung des Sokratis- mus als den eigentlichen Fortschritt ansieht, den er zu machen habe. Es macht dies aber ferner erklärlich, wie P/ato dazu kom- men konnte, das dialektische Verfahren dem wahren Wissen gleich zu setzen, demgemäss manchmal Dialektik und Philosophie als gleichbedeutende Worte zu brauchen, und dann wieder sich des Wortes Dialektik zu bedienen , um den Theil seiner Lehren zu be- zeichnen, welcher die BegTündung für die übrigen enthält. Im letzteren Sinne wird das Wort hinfort hier genommen.

§. 77. Plato's Dialektik.

1. Das Studium der eleatischen Lehren, mit denen sich Pinto nach dem Tode des Sokrnies ernstlicher beschäftigte , musste ihm die , vom Pnrmeiüdes so energisch behauptete Solidarität des Wis- sens mit dem Seyn (s. oben §. 36, 2) und die daraus sich erge- bende Nothwendigkeit ontologischer Untersuchungen um so mehr nahe legen, als das Beispiel der Kyrenaiker bewies, dass jede An- näherung an Heraklitisches Leugnen des Seyns, selbst Sokratiker in Gefahr brachte, alles Wissen in ein Meinen zu verwandeln. Es ist daher begreiflich, dass er im Theaetet, dem Programm seiner dialektischen Untersuchungen, den Sophisten und Kyrenai- kern , nachdem ihr Sensualismus auf den Heraklitischen „Fluss al- ler Dinge" zurückgeführt ist , die Ansichten der Eleaten entgegen- stellt. Nicht aber als Solche, welche die volle Wahrheit besässen. Schon darin dass diese Gegner der „Fliessenden ' gleichfalls mit einem Spottnamen als die „Allverfestiger" bezeichnet werden ist angedeutet, was nachher ausdrücklich, in Uebereinstimmung mit dem gleichzeitig geschriebenen Kratylos behauptet wird, dass es gar kein unbewegtes Seyn gebe, indem Alles an Veränderung und räumlicher Bewegung Theil habe, so dass, wie jeder Satz als Ver- knüpfung eines ovo^a und ^^i«a, ein unbewegliches und bewegliches Element in sich habe, eben- so auch die wahre Erkenntniss keines der beiden vernachlässigen dürfe. In beiden Dialogen wird übri- gens dieser höhere Standpunkt von Pluto nur angedeutet: ihm träume davon, sagt er.

2. Um diesen höheren Standpunkt zu finden musste mit der- selben Strenge, wie bisher der heraklitisch-kyrenaische, der elea- tisch-megarische Standpunkt kritisirt, und rausslen beide genauer

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verglichen werden. Dies geschieht nun so , dass die Gedankenbe- stimmungen, auf welchen der Gegensatz beider beruht, in der dem Zeno eigenthüralichen antinomischen Weise erörtert werden, wobei natürlich nicht Sokrutes sondern Eleaten als Leiter des Gesprächs erscheinen , darum aber auch die Sokratische Weise , in einem wah- ren Gespräch die Sache zu fördern, verschwindet, und dem Doci- ren von einer, dem blossen Zunicken von der anderen Seite, Platz macht. Im P arme nid es sucht Pinto (gegen dessen Autorschaft freilich oft, neuerlichst wieder durch IJcberireg . sehr gewicUtige Gründe vorgebracht sind) zu zeigen, dass der Eleatismus (und also auch die megarische Lehre) wenn er in Zenonischer Weise Annahmen durch daraus folgende Widersprüche widerlegt glaubt, mit seinen eignen Waffen zu schlagen sey , da seine Annahme dass das, alle Vielheit ausschhessende, Eine wirklich sey, zu gerade eben so vielen Widersprüchen führe als die entgegengesetzte (der verschiedenen Physiologen), dass es ein solches Eines nicht, son- dern nur sein Gegentheil gebe. Dass die Einleitung und der erste Theil des Gesprächs nach den Ideen zu suchen verspricht, ist in jener antinomischen Untersuchung nicht vergessen , denn die Frage wie sich das Eine zu dem Vielen (die höchste Idee zu den vielen ihr untergeordneten, und jede derselben zu den Einzelwesen) ver- hält, ist wirklich Cardinalfrage für die Ideenlehre. Ausserdem wird in dem ersten Theile entwickelt, warum die Ideen nicht als ganz von den Einzelwesen getrennte Allgemeinbegriffe zu fassen seyen, und im zweiten, freilich uur sehr im Fluge, darauf hingewiesen, dass der Vereinigungspunkt des Einen und Vielen, der mit dem der Ruhe und Bewegung zusammenfällt, als zeitlos („momentan") zu fassen sey. Denselben Gegenstand wie der Parmenides, behan- delt der Sophist. Dass hier ein unbekannter (nicht ein wirkli- cher sondern ein platonisch - idealisirter) Eleat das Gespräch leitet, scheint für das Weitergehn dieses Dialogs und also mehr für die Stcinhart\^Q\\^ Anordnung als für die Zellers zu sprechen. Die Ausdrücke sind etwas modificirt. Neben den im Parmenides ge- brauchten kommt auch Ruhe und Bewegung, besonders aber Sel- biges und Anderes vor, was mehr auf Correlata als auf contra- dictorisch Entgegengesetztes hinweist. Das Resultat bestätigt auch, dass sie sich so verhalten, dass keins ohne das andere gedacht werden dürfe, und dass eben deswegen nach dem Einen im Vie- len, nach dem Selbigen und Beharrenden in dem gesucht werden muss, dessen Wesen ist, immer Anderes zu seyn, d. h. im Ver- änderlichen und Bewegten. Wenn auch meistens in scherzhafter Weise, wird an .tlieses Resultat antinoniischer Untersuchung ein

V. Piaton. Plato's Dialektik. §. 77, 3. 95

Versuch dichotomischer Zerlegimg in Arten geknüpft, die ja (s. oben §. 76, 6) jene zur vollständigen Dialektik ergänzte.

3. Jenen Coincidenzpunkt zu suchen, dazu hatten indem sie ihn nicht befriedigten die megarisch-eleatischen Lehren den Pluto gebracht; ihn zu finden dazu verhalf ihm, dem Sokratiker, die gründlichere Bekanntschaft mit den Pythagoreern. Erst nach sei- ner Rückkehr aus Italien erscheint seine Lehre ganz begründet und zu einem vollständigen System abgeschlossen. So schon im Phädros, wo er zu verstehn gibt dass ihm die schriftstellerische Thätigkeit nicht mehr genüge , aber auch erklärt dass nur der als Lehrer auftreten dürfe , der die ganze Natur erforscht habe. Nicht nur aber im Besitz einer Physik, sondern auch in dem seiner Ideenlehre findet man den Plafo überall, wo sich .entschiedene Spuren des Pythagorismus in iJim nachweisen lassen. Darum aus- ser im Phädros, im Symposion und namentlich im Phädon. In keinem seiner Dialoge aber tritt die Begründung derselben und der Zusammenhang mit den früheren Untersuchungen so deutlich hervor als im Phile bos. In der Streitfrage ob das Gute in der Lust oder in der Einsicht bestehe, stellt sich Solrates. der weil es eine ethische Frage, hier das Gespräch leitet, zuerst auf die Seite Derer, welche sich für die Einsicht erklären, geht dann aber dazu über zu zeigen , dass , wenn man in kynischer Weise die Ein- sicht zum Gegentheil der Lust mache, dies eben so einseitig sey, als wenn die Andern übersehn dass Lust ohne Bewusstseyn, und also ohne Einsicht, unmöglich sey. Der ethische Gegensatz der Lust und Einsicht wird dann auf dieselben logischen Gegensätze zurückgeführt, um die es sich im Pannenides und Sophisten gehan- delt hatte , auf den des Vielen und Einen , des Werdens {yhioig) und Seyns (ovala). Aber auch bei dieser eleatischen Fassung bleibt Plato nicht stehn, sondern reducirt sie auf die pythagoreische Formel (s. §. 32, 2) des Unbestimmten und der Begrenzung. Wie in der bestimmten Zahl Beides vereinigt ist, so behauptet nun Plato trotz alles Vorzugs, welchen er dem zweitgenannten Mo- mente einräumt, dass die Wahrheit nur in einem Dritten, einer Einheit beider also einem (ir/.röv oder einer fiinrrj ovaia liege, wel- che ihrerseits zu ihrem Principe {aXxiov) den vovg, dieses Höchste und Vierte, habe. Abgesehn von dem Resultate, welche diese Sätze füi^die ethische Hauptfrage ergeben, dass in der Reihe der Güter dem vovq die höchste, der Einsicht aber als dem ihm Verwandteren eine höhere Stelle angewiesen wird als der Lust, ist ihre Bedeutung für die Dialektik diese, dass in ihnen ziemlich klar ausgesprochen, die ganze Summe der Platonischen Ideenlehre enthalten ist.

96 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

4. Das Eine nämlich in und über dem Vielen, das Seyn in und über dem Werden, das Selbige in und über dem Wechseln- den, das ist das was Pluto mit den allerverschiedensten Namen bezeichnet, bald als das ovrcog öv, bald als ovaia, bald als ccvto xcx&'avTÖ, bald als das avrS To , wo das die Ergänzung bildet, von dessen Idee die Rede ist, bald als das av^' sKaatov, bald als das 0 h'anv SKaarov , bald als eI§og, bald als elöog vorjröv , bald als iSsa. Der letzte Name, obgleich er wenn in der Vielzahl gespro- chen wird am Seltensten vorkommt (u. A. Rep. VI. 507 B.) , ist der welcher später sich am Meisten eingebürgert hat. Wo wir Ideen sagen, sagt PUdo meistens el'Srj. Was Pinto unter Ideen versteht ist schon dadurch angedeutet, dass er sagt es gebe so viele Ideen als gemeinschaftliche Namen. Verbindet man damit, dass er das, wozu man gelangt wenn man von den individuellen Unterschieden absieht, Idee nennt, so kann man sagen die Platonischen Ideen sind, wie auch der Name andeutet, Arten oder Gattungen, kurz Allgemeinheiten. Sieht man weiter, dass was den Tisch zum Tisch, den Menschen zum Menschen macht seine Idee genannt wird, so lässt sich der Ilerbartische Ausdruck , die Platonischen Ideen seyen reine Qualitäten gleichfalls hören. Dieses dem Gleichnamigen ge- meinschaftliche Wesen, das Pinto Idee nennt, darf aber nicht als Product nur des abstrahirenden Verstandes als eine blosse Vor- stellung genommen werden, sondern es subsistirt, hat Realität, ja da die Einzehien (die Tliiere z.B.) vergelm, das Allgemeine aber (das Thier) besteht, so ist die Idee obgleich nicht sinnlich wahrnehmbar sondern ein vorjxov, doch das eigentlich (ovrmg) Reale, das allein Substanzielle , an welchem Theil habend, die einzelnen Dinge allein existireii. Damit aber, dass die Idee das Allgemeine in einer Klasse von Individuen bezeichnet, ist ihr Wesen noch nicht erschöpft. Es muss zugleich die Anaxagorisch - Sokratische Zweckbestimmung mit hineingenommen werden , da die Idee eines Dinges nicht nur angibt was , sondern auch wozu es ist. Darum nennt Pinto die Ideen naquödyiiaxu; sie sind die Bestimmungen der Dinge im doppelten Sinne des Wortes,

5. Ist aber jede Idee nicht nur das gemeinschaftliche Wesen und wahre Seyn der unter ihr befassten Einzelwesen, sondern auch ihr Zweck, so erklären sich die verschiedenen Ausdrücke deren sich Pinto bedient, um den ganzen Complex der Ideen, den xönog voTirög wie er ihn nennt , zu einer Einheit zusammenzufassen. Im Phädon wird, mit ausdrücklicher Anknüpfung an den Annxn- gorns, davor gewarnt die Bedingungen der Existenz der Dinge für ihren Grund {akiov) anzusehn, denn dieser liege in ihrem Zweck.

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Die Zwecke nun der einzelneu Dinge werden dort mit den Wor- ten das Bessere, das Beste d, h. als das relativ Gute bezeichnet, dagegen der letzte Zweck, in dem sich alle Zwecke concentriren, als das ayaf^ov , d. h. als das nicht comparativ sondern schlechthin Gute, Nach dem eben Gesagten ist dies also das ahiov, der Grund und das Princip aller Zwecke. Hält man nun fest dass die Ideen Zwecke sind, so sind sie alle dem höchsten Zwecke, dem Guten, als ihrem Principe untergeordnet. Als die Idee der Ideen, darum als die Idee schlechthin, wird nun wirklich von Pinto das Gute , oder auch die Idee des Guten , überall hingestellt. (So be- sonders in der Repub.). Es (sie) ist eben darum Princip des Alls, weil es (sie ) Endzweck desselben ist. Es bewegt Alles , weil Alles nach ihm, dem Unbewegten strebt. Im Philebos wird nicht Idee des Guten gesagt , sondern vovg (auch ao(f>la und Zeu? kommt vor). Wie beim Sotmtes und bei den Megarikern , so ist auch bei Pinto vovg und ayad-ov ganz Und gar dasselbe. Wenn man darauf Ge- wicht gelegt hat, dass im Philebos der vovg als der Herrscher (ßaödEvg) des Himmels und der Erde bezeichnet wird, so muss man bedenken dass im Staat Pinto von* der Idee des Guten sagt dass sie in der himmlischen Region herrsche (ßaadsvei). Waren nun die Ideen die övrag ovra, so ist das Gute oder die Idee des Guten das ovr(og oVj waren sie die oiaiai, so wird sie als über ihnen stehend sTcixnva rrjg ovalag seyn. Gerade wie die unter einer Idee stehenden Einzelwesen durch Theilnahme an ihr, so haben alle Ideen durch Theilnahme an der Idee des Guten wahres Seyn, so dass -sie als die Sonne bezeichnet werden kann, durch welche Alles Wachsthum und Seyn hat.

6. Indem bei Pinto die eine Idee (der Endzweck) vSich in einer Vielheit von Ideen (Zwecken) manifestirt , hat er in seine Dialektik Alles aufgenommen, was die bisherige Metaphysik geleistet hat, und ist eben damit über sie hinausgegangen : Wie Pythagoreer und Eleaten sucht er nach dem einen und wahrhaften Seyn, und findet es. Zugleich aber hat er jenen Begriff mit dem vovg des Annxngorns und dem Guten des Snkrntcs als Eins gesetzt. Da- mit hätte er noch nicht mehr geleistet als die Megariker, er hätte eine ethische Monas, den absoluten Zweck als alleiniges Seyn. Jetzt aber haben die Untersuchungen im Parmenides, Sophisten und Philebos die Berechtigung der Vielheit gleichfalls nachgewie- sen, und durch die Hereinnahme dieses Heraklitisch-atomistischen Momentes wird jene Monas zu ^oväSig, das blosse £v zu hädBg, welcher Namen er sich ausdrücklich bedient wenn er von Ideen spricht, natürlich ohne den ethischen (Zweck-) Charakter einzu-

Erdmann Gesch. d. Phil I. 7

"^ Alte Philosophie. Zweito Periode (Glanz).

büssen. Alle diese Ideen (Einheiten) sind durch ihre Unterord- nung unter die höchste , sie alle befassende , Idee ein System, und eben deswegen können (Phileb.) an diesem Inbegriff gleichsam als Seiten desselben die Wahrheit, Schönheit und Symmetrie unter- schieden werden. Unter dem Guten also ist nichts Anderes zu verstehn, als das Princip aller, der natürlichen sowol als der sitt- lichen, Weltordnung. Dieser eine W^eltzweck ist als das oV ovrcag der Gegenstand der Dialektik, indem sie lehrt, von den Ideen, diesen Bestimmungen der Dinge, zu dem Guten, dieser Bestim- mung aller Bestimmungen, oder der Bestimmung des Alls, auf- zusteigen.

7. Nach P/afo's eigner Forderung muss aber der Dialektiker nicht nur vom Einzelnen zum Allgemeinen hinaufsteigen, sondern auch umgekehrt aus diesem jenes ableiten, und so ist die Frage zu beantworten: wie wird aus dem einen tok/toV, dem Guten, der ganze Tonog (in späterer Zeit Koa^wg) votjTÖ?, der ganze Coinplex relativer Zwecke? Schon uns scheint, da wir bei solchen Ablei- tungen von erster, zweiter u. s. w. Ordnung sprechen, die Zahl dazu unentbehrlich zu seyn, wie viel mehr dem Pinto, der mit Hülfe der Pythagoreer zu seiner Ideenlehre gekommen war, ja im Philebos geradezu die bestimmte Zahl als ein solches Mittleres zm- schen Unbestimmtem und Grenze erwähnt hatte. Aus den Nach- richten bei Aristoteles , welche sorgfältig von Trendcicnbury, Zel- ler. Bramtis. Stiscmlhl und Anderen zusammengestellt sind , geht hervor, dass, namentlich in späterer Zeit, Vlufn es hebte die Ideen mit Zahlen zu bezeichnen. Dass diese Zahlen als Idealzahlen von den gewöhnlichen unterschieden wurden, dass von ihnen gesagt wurde, sie wären nicht summirbar, sie stünden in Rangordnung, verhielten sich wie verschiedene Potenzen u. s. w. , das ist erklär- bar. Die weiteren Nachrichten zeigen grosse Uebereinstimmung mit den Pythagoreern , denn dass ihr amiqov bei Pinto (aUqov na\ (isyct heisst , wird , wer an das unendlich Grosse und Kleine denkt, kaum eine Aenderung nennen. Die zugleich geometrische Bedeu- tung der vier ersten Zahlen ist ganz Pythagoreisch, höchstens die Auffassung des Punktes bei . Pinto eigenthümlich. Gleiches gilt von der Zusammenstellung der vier ersten Zahlen und der Er- kenntnissgrade (vgl. §.32, 4. 5). Wie die besonnenem Pythago- reer mag wohl auch Pinto in seinen Deductionen nicht über die Zehnzahl hinaus gegangen seyn. Uebrigens geht mit der verän- derten Bezeichnung offenbar eine modificirte Ansicht Hand in Hand. Das grössere Verlangen die Kluft zwischen Einheit und Vielheit, daran anschliessend die zwischen Ideen und sinnlicher Existenz

V. Piaton. Platu'.< Dial.-ktik §. 77, ? 9. 99

auszufüllen, ist selbst ein Beweis, dass die letztere in Achtung gestiegeu ist, beweist also eine grössere Entfernung vom Eleatis- mus. Freilich dass diese durch immer wachsendes Pythagorisiren bewerkstelligt wird, enthält etwas dem Rückfall wenigstens Aehn- liches. Wie dem sey, man wird kaum behaupten dürfen, dass Alles, was Aristoteles von Pinto' s Zahlenlehre referirt, ganz mit dem ül)ereinstinnne, was sich in seinen Dialogen findet.

8. Bei der oben sub 1 in Erinnerung gebrachten Solidarität von Seyn und Wissen, müssen die Ideen als die ovxfog ovxa es auch seyn, welche die Sicherheit der Erkenntniss ermöglichen. Die Objecte der Wahrnehmung gewährten dieselbe nicht, sie als ein Mittleres zwischen Nichtseyn und Seyn bewirkten bloss den Augenschein, und höchstens Glauben an sie (vgl. §. 76, 2). Die Erkenntniss der Ideen, und ihrer Concentration , des Guten, gibt allein volle Sicherheit. Da sie die voriTÜ waren, wird dieses Er- kennen rovg , auch 1 07/01? , genaimt. Darum ist Objcct desselben nur das, welches, und in sofern es, Theil hat am Guten, und die Idee des Guten wird eben darum die Sonne genannt, welche die Dinge sichtbar (d. h. erkennbar) macht. Es folgt von selljst da- raus, dass die philosophische Betrachtung teleologisch seyn muss Zwischen diesem Wissen und den beiden Graden der 6d^« steht, bald mit dem höheren zusammen unter den gemeinschaftlichen Na- men ijTiörrj.ui; gestellt und dann als Siävoia von jenem unterschie- den, bald aber selbst imGr^^u] im Gegensatz gegen den voig ge- nannt, das discursive Denken, wie es namentlich in der mathe- matischen Erkenntniss, dann aber auch dort sich zeigt, wo eine Theorie in Stand setzt, den Grund der Erscheinungen anzugeben. Im Gorgias wird sie, wie später von Aristoteles, r^im] genannt. Ihr 01)ject steht als das Sempiterne zwischen dem Ewigen, womit sich die v6t]Gig, und dem Vergänglichen, womit sich die 6öi,a be- schäftigt. In dem berühmten Bilde (Rep. YII), das nebenbei noch andere Beziehungen haben mag, zeigt das Sehen der von der Sonne geworfenen Schatten der Bildsäulen , das der von der Sonne erleuchteten Bildwerke selbst, das der eben so erleuchteten Ori- ginale jener Bildwerke, endlich das Schauen der Alles erleuchten- den Sonne selbst, diese Stufenfolge.

9. Aber nicht nur das höchste, oder eigentlich alleinige, Seyn und Gewusste soll das Gute seyn , sondern auch das , durch Theil- nahme an welchem allein der denkende Menschengeist es und alles Uebrige zu erkennen vermag. Nicht nur der Dinge Wachsthum und Sichtbarkeit, auch des Auges Sehkraft soll die Sonne geben, die das höchste ov, das höchste vot^rov, endlich auch das vokitikov,

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und im Philebos vovg genannt, die bekannte Aristotelische Defini- tion (s. unten §. 87, 8) sehr nahe legt. Dass derselbe Name (vovg) das Object unseres Wissens und unser Wissen selber bezeichnet, ist erklärlich ^Yenn Philo unser Wissen so an jenem Einen Theil nehmen lässt, wie unsere Seele Theil ist der Weltseele, unser Kör- per des Weltkörpers (Phileb.). Ist aber jenes Eine die Krone und der Inbegriff der Ideen , so versteht sich's wieder von selbst, dass das Erkennen der Ideen aus uns selbst geschöpft wird. Zur Er- klärung dieses Factums ist die Präexistenz der Seele und das dem irdischen Leben vorausgehende Anschaun der Ideen, an welche der Anblick jedes Schönen die Seele wieder erinnert, von der der Phädros spricht, nicht nötliig. Eben darum aber, und weil die Präexistenz sehr oft mit der Postexistenz in Causalzusammenhang gebracht wird, endlich aber weil P/alo au einer Stelle, die gar nicht von der Wiedererinnerung handelt, entschieden behauptet, die Zahl der existirenden Seelen nehme weder zu noch ab, wird man schwerlich behaupten können, dass Alles was jener pracht- volle Mythus im Phädros enthält, blosse Einkleidung sey. Vieles darin ist nachweisbar pythagoreisch. Wie vieles Aegyptische, Phö- nicische, ob vielleicht gar Indisches sich eingemischt habe, möchte schwer zu entscheiden seyn. Die Summe der Platonischen Dia- lektik Hesse sich kurz so zusammenfassen: die Ideen geben den wechselnden Erscheinungen Halt und der Erkenntuiss Sicherheit. Man gelangt zu ihnen durch Ausgleichung der fundamentalen Ge- gensätze. Sie gipfeln und wurzeln zugleich , in der höchsten Idee, dem Guten, diesem eigentlichen Princip alles Seyns und alles Wis- sens , von dem aus sie systematisch abgeleitet werden können nur mit Hülfe der Zahlen. Sie leben im Geiste des Menschen, dessen wahres Erkennen darin besteht dass er ihrer bewusst wird.

§. 78. P lato 's Physik.

Böckh Ueber die Bildung der Weltseele in Daub's und Creuzer's Studien. III, 1 ff. H. Martin Etudes sur le Timee de Piaton. Paris 1841. 2 Volumes.

1. Wenn die Dialektik das Gute als das alleinige Wissensob- ject erwiesen hat, so kann auch die Physik nur die Aufgabe ha- ben, das Gute in seiner sinnlichen Erscheinung zu betrachten. Da aber die Erscheinungen von der Wahrnehmung percipirt wer- den , so kann natürlich eine so strenge Deduction , wie in der Dialektik, hier nicht erwartet werden. Daher die ausdrückliche Erklärung dass man sich hier oft mit dem Wahrscheinlichen be- gnügen, Mythen anstatt der Beweise gelten lassen müsse. Zu- nächst entsteht die Frage: was ist das, was zu dem Guten oder

V. Piaton. Plato's Physik. § 78, 1. 2. 101

dem Complex der Ideen hinzukommen muss, damit es Natur, d. h. Gutes in sinnlicher Erscheinung, sey? Natürlich muss dies Prädicate bekommen, die denen des Guten entgegengesetzt sind, und so wird es denn als das niemals Seyende , als das Ordnungs- lose, als das rastlos Bewegte, als das der Ideen Ledige, nicht Wiss- sondern nur Vorstellbare bezeichnet, das sich zu ihm, dem ev als das ^uxqov xal niya, zu ihm dem stets Selbigen als das immer Andere, verhalte. Dass unter diesem Principe, das seit Aristo- teles ganz allgemein vXtj , Materie, genannt wird, und von dem, nach dem Gebrauche den P/nto selbst im Philebos von diesem Worte macht, vermuthet werden kann, dass auch er es in seinen Lehrstunden so genannt habe, dass unter diesem awalnov der Welt nicht ein bestimmter Stoff zu verstehen sey, beweisen die negativen Prädicate: qualitätslos, gestaltlos, unsichtbar u. a., die ihm beigelegt werden. Was aber denn? Nach Aristoteles, und damit stimmt Plato's eigne Erklärung im Timäos, ist es der Raum. Vielleicht sagt man noch besser: die Form der Aeusserlichkeit, so dass es nicht nur die Form des Neben- sondern auch des Nach- einanders, aber durchaus nicht Zeit, oder das gemessene Nach- einander, besagte. Die Hauptsache ist, dass unter jenem hfiayBlov, welches durch das Hineintretende zu wirklicher Gestaltung wird, durchaus nicht ein irgendwie bestimmter Stoff zu verstehn ist, sondern blosse des Inhalts harrende Form ; eben darum ist es für sich genommen Nichts, es ist nur eine gewaltsame Abstraction (vo^w loytoficp (XTtTov). Wenn daher der Dualismus des Plato zwar nicht ein so grober ist, wie der des Annxogoras ^ so kann doch auch er, wie das ganze Alterthum, weil ihm der concrete Schö- pfungsbegriff mangelt, den Dualismus nicht überwinden. Erbleibt Dualist, weil er nicht nachzuweisen vermag, warum die Ideen in die sinnliche Erscheinung treten. Dass er einen Zusammenhang annimmt zwischen dem Grunde, der die eine Idee (des Guten) in eine Vielheit von Ideen spaltet und dem, warum eine jede Idee sich wieder in einer Vielheit von Dingen zeigt, das geht klar da- raus hervor, dass er hier wie dort die Ausdrücke citihqov , hikqov Kai fjiiya, nXij&og , ^i&e^ig , (ilfiijaig u. S.W. braucht, aber dass ohne Weiteres mit der Vielheit der Ideen auch schon die Vielheit der Abbilder einer jeden Idee abgeleitet, und also im Parmenides, Sophisten und Philebos schon die sinnliche Welt construirt sey, ist nicht zuzugeben, obgleich wichtige Autoritäten dies hinsichtlich des Parmenides und Sophisten, fast Alle vom Philebos, behaupten. 2. Der eben hervorgehobene Punkt ist es, bei dem sich der Mangel der Platonischen Lehre zeigt, welche im Phädros die Ideen

102 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glänz.)

in einen überweltlichen {vmQovgdviog vgl. §. 32, 4) Ort versetzt. Wegen dieser ihrer Transscendenz vermögen sie niclit von selbst in die diesseitige Welt einzugreifen, sind energielos, blosse Objecte des Schauens , nicht sich verwirklichend. Was sie von selbst nicht vermögen, das kann, soll es anders geschehen, nur durch eine hinzutretende Macht bewirkt werden, und diese ist die Gottheit, welche so der Werkmeister der Dinge ist. Die Behauptung, dass bei P/alo die Idee des Guten mit der Gottheit zusammenfalle, ist nur in sofern richtig, als in seiner Dialektik er wirklich keiner Gottheit neben jener Idee bedarf. Der Endzweck des Alls ist, da der Zweck Grund war, zureichender Grund der Ideen, wenn auch nicht nachgewiesen ist, warum der Ideen gerade so viele sind. Eben darum ist auch das (xhiov im Philebos nicht von der Idee des Guten unterschieden und die Bezeichnung vovg für dieselbe von Soh'aics und den Megarikern herübergenommen. Ganz an- ders aber gestaltet sich die Sache, wo Pluto zur Physik übergeht. Je greller der Gegensatz zwischen dem Guten als ov owcog und der Materie als dem ers^ov und also /u?) oV, desto mehr, je weni- ger grell desto weniger, bedarf es eines Dritten, um den Eintritt jenes in diese zu erklären. Darum bedarf Arisfoleles (s, §. 87, 9) und auch die Emanationslehre der Neuplatoniker (s, §. 128, 2) nicht mehr, wohl aber bedarf Pluto eines Dens ex machina. Da- bei ist der Unterschied, ob man sagt: Gott ist bei Pinto ein an- deres Wesen als das Gute, oder: er ist nur eine andere Seite an der Idee des Guten , nur für den wichtig , welcher mit Fragen zum Pinto tritt, zu deren Verständniss , und also mehr noch zu ihrer Beantwortung, Jahrhunderte vergehen mussten, z. B, nach der Per- sonhchkeit Gottes. Die Ideen, diese ewigen Urbilder, schaut Gott, er schaut sie aber so wie der Poet seine Ideale, indem er sie zugleich erzeugt (Rep,) , und pflanzt nun dieselben der Materie ein. Die Bezeichnung für Gott dass er sey od^^v (pvirai, für die Materie sie sey: Iv w ylyvtrai xo yiyv6i.uvov, ist eben so erklärlich, als dass Gott die Rolle des Vaters , der Materie aber die der Mut- ter oder auch der mütteriichen Amme, jenem des ainov d, h, des Grundes, dieser des öwmxwv oder der Bedingung übertragen wird. Der, nicht sowol zeitliche als logische, Anfang der W^elt ist dem Pinto, dass das Gute durch Vermittelung der selbst guten und neidlosen Gottheit, die Alles sich möglichst ähnlich machen will, der Materie eingepflanzt oder eingezeugt wird, und so die Welt entsteht. Darum ist sie der viog (jiovoyivrig der Gottheit, ist sUcov Tov 9eov weil sie, wie die Gottheit, gut ist; sie kann vor ihrem Entstehen der zukünftige Gott , nach demselben der wahrnehmbare

V. Piaton. Plato's Physik. §. 78, 2. 3 103

Gott, der zweite geschaffene Gott, jedenfalls aber selige Gottheit genannt ^Yerden. War der ganze Complex der Ideen ein t<^ov atSiov oder vo}]t6v , d. h. ein ewigem oder inteUigibler Organismus genannt worden, so wird, indem jetzt vernünftige Zweckmässigkeit (vovg) dem an sich Ungeordneten und also äkoyov, in welchem nur äussere Nothwendigkeit herrscht, als ihrem Leibe eingepflanzt ist, das Ebenbild jenes ersteren Organismus ein swov iwovv genannt wer- den müssen. Ueberall in diesem Organismus sind daher diese beiden Momente zu unterscheiden: das Göttliche, die Zweckmäs- sigkeit, und dann wieder das bloss Nothwendige, das jenem als unerlässliche Bedingung dient.

3. Füi' das erste Hineiutreten zweckmässigen Zusammenhanges in die Unordnung bedurfte Plato einer, die Ordnung setzenden, Gottheit. Aber auch der Bestand dieser Verbindung scheint ihm, zwar nicht der immerwährenden Dazwischenkunft der Gottheit, die er leugnet, wohl aber eines vermittelnden Gliedes zu bedürfen. Ausser dem, dass die, durch gleiche Termini angedeutete Aelm- lichkeit der Aufgaben den Gedanken nahe legte, so wie dort wo die Vielheit der Ideen abgeleitet ward, so auch hier wo erklärt werden soll wie jede der vielen Ideen wieder in einer Vielheit existirt, die Hülfe der Zahlen in Anspruch zunehmen, ausser dem ferner dass ja wiederholt die Zahlen als das Mittlere zwischen dem ro-i]t6v und ala&riröv bezeichnet waren, hat wohl auch dies den Pfafo bestimmt, dass er wie alle Menschen an dem mathe- matisch Regehnässigen eine Freude hatte , die der an einer zweck- mässigen Ordnung nahe verwandt ist, kurz: die von Zahlen be- herrschte Harmonie wird von ihm zu dem Vermittelungsgliede ge- macht, wodurch zweckmässige Ordnung als vovg an die Aeusser- lichkeit als das aaua gebunden wird. Dass sie in dieser Mittel- stellung gerade so genannt wird wie das, was im menschlichen Individuum den Leib mit der Vernunft verbindet , nämlich „Seele" ist erklärlich, und unter der Weltseele ist schwerlich etwas An- deres zu verstehn als die, das All beherrschende mathematische Ordnung oder die in ilim waltenden harmonischen Verhältnisse. Dann aber ist es auch ganz begreiflich, warum Plato die Welt- seele als eine aus doppelter Natur zusammengesetzte bezeichnet, und sie darstellt als eine Zahlenreihe, die so entsteht dass die Potenzen der ersten Geraden (2) und ersten Ungeraden (3) in einander geschoben und die Wurzel aller Zahlen (1) ihnen vorge- setzt wird, und welche wenn die von P/(tto selbst angegebenen ^Einschaltungen vorgenommen w^erden, wie Böclh dies ausführt, eine diatonische Tonleiter von etwas mehr als vier Octaven darstellt.

104 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

4, Auch die weitere Darstellung, dass die so geschaffene "Welt- seele die Form zweier , nicht in einer Ebene liegenden , Kreise mit gemeinschaftlichem Mittelpunkte erhalten habe, von denen der in- nere, in sieben Kreise gespaltene, in einer, der äussere, unzer- spaltene, in der entgegengesetzten Richtung sich bewegt, ist, wenn man an den Fixsternhinimel, die sieben Planetenkreise und die an die Weltaxe befestigte Erde denkt, ganz erklärlich. ( Gruppe'' s Versuch , Pidio viel ausgebildetere astronomische Vorstellungen zu vindiciren, ist von Bock// mit Erfolg bekämpft worden.) Vermit- telst der mathematischen Ordnung ist es möglich, dass die sinn- liche Welt Erscheinung der absoluten Zweckmässigkeit , des Guten, darin der Gottheit ähnlich, und vermöge dieser Gottähnlichkeit, so weit ihre Natur das erlaubt, der göttlichen Eigenschaften theil- haft wird. So wird die Welt, weil sie es der eigentlichen Ewig- keit nicht werden kann, wenigstens des bewegten Abbildes der Ewigkeit, der Zeit, theilhaft, in der das ruhige Ist der Ewigkeit zum War und Wirdseyn ausgedehnt ist. Damit aber Zeit sey, werden an die Planetenkreise die Weltkörper angeheftet, vor Allem Sonne und Mond , die darum vorzugsweise Organe der Zeit heissen. Aber auch Anderes kommt vermöge ihrer Gottähnlichkeit der Welt zu. So die Einheit, so die Vollkommenheit in Form und Bewe- gung. Die Kugelform ist die höchste aller Formen. Alles umfas- send erhält sich die Welt in schöner Selbstgenügsamkeit, indem im Kreislauf aller Di;\ge sie von sich selber zehrt, nichts Fremdes einathmet; endhch ist die in sich selbst zurückkehrende Bewegung ein Abbild des bei sich selbst seyenden Denkens.

5. Treten in den letzten Sätzen Eleatische Anklänge hervor, so dort wo, nicht mehr wie bisher die ganze W^elt, sondern die eine Seite derselben, das aäfxa betrachtet, und namentlich wo mehr in das Detail gegangen wird, neben den Anlehnungen an die Py- thagoreer auch die an die Physiologen. Es gibt kaum irgend einen bedeutenden Lehrpunkt der Früheren den Pluto nicht aufnähme. Wodurch er aber sich von ihnen unterscheidet und zugleich mit sich selbst, der doch die Grundbegriffe der früheren Naturphiloso- phen (im Parmenides z. B.) bekämpft hatte, in Einklang bleibt, ist die durchweg teleologische Begründung der ganzen Physik. Und zwar ist es eine Teleologie deren Ziel der Mensch, als Trä- ger der sittlichen Ordnung ist. Obgleich der Timäos der Form nach eine Fortsetzung des Staates ist , so ist doch, wie P/ato selbst erklärt, das sachliche Verhältniss dies, dass der Timäos zeigt, wie der Mensch ins Daseyn gerufen, der Staat dagegen, wie er ausgebildet wird. In jenem soll gezeigt werden, wie die Welt,

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diese unbewusste Erscheinung des Guten, endlich bei dem Men- schen, dem bewussten Vollbringer desselben, anlangt. Teleologisch ist sogleich die Ableitung der Elemente: Feuer und Erde sind noth- wendig als Mittel der Sicht- und Tastbarkeit , zwei aber bedürfen eines Vermittelnden, ja zweier, weil die Dreizahl nur Fläche und erst die Vierzahl ganze Körperlichkeit ist. (Vgl. §. 32, 4.) Das beste, ja das möglichst harmonische, Verhältniss unter diesen ist die stetige Proportion , so dass sich in der Alles umfassenden Welt das Feuer zur Luft wie diese zum Wasser und wieder dieses zur Erde verhält. Da die primitive Materie bei Pinto nur die Form der RäumUchkeit ist, so muss er die Unterschiede jener rein aus Raumfigurationen ableiten. Wie die Pythagoreer lässt er jedes dieser Elemente seine eigne Atomform haben, nur unterscheidet er sich von ihnen darin, dass ihm der Aether nur feinere Luft ist, und daher das Dodekaeder ihm übrig bleibt, welches manchmal als die Form der Sterne angegeben wird , und besonders dadurch, dass er ihrer stereometrischen Construction eine planimetrische als Begründung vorausschickt. Da nämlich die Seiten der regel- mässigen Körper entweder Dreiecke sind oder in solche zerfällt werden können, so lässt er den Raum zuerst in lauter Dreiecke zerfallen, ein planimetrischer Atomismus, bei dem die Atome der Pythagoreer zu Moleculen zweiter Ordnung werden. Dies macht es ihm möglich , den Uebergang des einen Elementes in das andre im Gegensatz zum Empedoldcs nicht nur anzunehmen, sondern anschaulich zu machen. Dagegen schliesst er sich dem Empedo- Ides an im Leugnen des Leeren , und die Unmöglichkeit desselben benutzt er so oft zur Erklärung gewisser Erscheinungen, dass er der Urheber der Theorie vom horror i-acui genannt werden kann. Auch dass die Freundschaft die kleinsten Theilchen verbindet, er- innert an Empedoldcs . dagegen an Aiwxayorus und die Atomiker dass es die gleichartigen Theilchen seyn sollen, die sich so finden. Diese Anziehung des Gleichartigen dient ihm zugleich zum Ab- leiten des Schweren und Leichten, das er mit dem Dichten und Dünnen identificirt, da, indem ja der Himmel die Erde umgibt, er eben sowol oben als unten ist, dieser Unterschied also der frühern Physiologen ihm keinen Sinn hat. Aus der Verbindung der vier Elemente entstehen die verschiedenen Stoffe, die beson- ders nach den Wirkungen betrachtet werden , die sie auf die Sin- nesorgane äussern.

6. Das eben Gesagte ist schon ein Beweis, dass Plato sich für das Unorganische weniger interessirt als für das Lebendige. Wie die Welt nämlich, um dem durch sich selbst Lebenden mög-

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liehst ähnlich zu seyn , selbst ein Lebendiges seyn musste , so auch alle Arten von Lebendigem befassen. So also zunächst Unsterb- liches. Das sind die Gestirne, die geschatfenen Gottheiten die das Volk als Götter verehrt, die Fixsterne als die ganz in sich befriedigten darum ruhigen , dann die rastlos kreisenden Planeten, endlich die Erde die ehrwürdigste der Gottheiten, die innerhalb des Himmels erzeugt sind, sie deren Kinder die olympischen Götter sind. Als entstanden shid alle diese Götter zwar nicht ewig oder von sich aus unsterblich, aber sie werden nie aufhören. Ihrer Thätigkeit ist das Hervorbringen des Sterblichen übergeben, nur mit der Ausnahme , dass im Menschen der Keim des Unsterblichen vom ersten Werkmeister abstammt, der eine bestimmte Zahl von Seelen schuf und dann, sich selbst zur Ruhe setzend, den jüngeren Göttern zur Bekleidung mit einem Leibe überliess. Die- ser Leib nun ist hinsichtlich seiner Bestandtheile gleichsam ein Extract aus dem ^vas die ganze Welt ist, hinsichtlich seiner Form wenigstens in seinem edelsten Organ eine Wiederholung des Welt- alls, und so ist, da es sich mit seiner Vernunft und Seele gerade so verhält, der Mensch die Welt im Kleinen. Ihm zu dienen, ist die Bestimmung des Uebrigen, der Pflanzen dass sie seine Nah- rung seyen, der Thiere dass sie unwürdigen Menschenseelen zum Wohnort dienen. So teleologisch wie hier alles Uebrige, wird auch der Mensch betrachtet. Die rein physikalischen Erklärungen wer- den nicht verworfen, aber für unzureichend erklärt, sie lehren nur die Bedingungen kennen unter denen , nicht den eigentlichen Grund warum ein Organ fungirt. Viel mehr Gewicht als darauf wie das Sehen zu Stande kommt, legt Plato darauf dass es den Zugang zum höchsten aller Güter, zum Wissen, eröffne.

7. Wie im Weltgauzen vernünftige Zweckmässigkeit mit star- rer Nothwendigkeit verbunden war , so erscheint in dem Menschen die an das Haupt gebundene Vernunft verknüpft mit der auf Be- friedigung der nothwendigen Bedürfnisse gehenden Begierde, die ihr Organ an dem Unterleibe hat, dem aber die Gnade der Gott- heit in der Leber auch ein Organ des Wissens gegeben hat, frei- lich des niedrigsten, des mantischen, der, dem Wahnsinn ver- wandten , Almdung. Wie zwischen beiden Organen die Brust sich findet , so ist auch der vernünftige und begierliche Theil der Seele durch den, im Herzen thronenden &v(i6g verbunden, jenem that- kräftigen männlichen Theil der sterblichen, von den zweiten Göt- tern bereiteten Seele, dessen Bestimmung ist, Werkzeug des Un- sterblichen im Menschen, der vom obersten Werkmeister kommen- den Vernunft, zu werden, und auf ihren Befehl die Begierden in

V. Piaton. Plato's Ethik. § 79, 1. 2. 107

Zaum zu halten, der aber freilich oft gerade den letzteren dienst- bar wird. Dass diese TripUcität in der Seele , welche , wegen der Aufgabe des Timäos, in diesem Dialog nur von ihrer praktischen Seite betrachtet wird, ganz der theoretischen Dreiheit von Wahr- nehmung, Vorstellung und Wissen correspondirt , ist von P/ato hinsichtlich der ersten und dritten sehr oft, hinsichtlich der mitt- leren seltner und mein- indirect, aber doch auch ausgesprochen. Da die Seele das eigentliche Lebensprincip ist , so ist es ein logi- scher Widerspruch , dass sie nicht leben sollte. Die Sempiternität derselben, sowol als Prä- als auch als Post -Existenz wird von Pinto auf das Entschiedenste behauptet, und namenthch im Phä- don sind die wesentlichsten Gründe dafür zusammengestellt wor- den , von der Unmöglichkeit an , dass ein Einfaches sich auflöse, bis zu dem Argument, dass der Besitz der ewigen Wahrheit die Ewigkeit dessen, der sie besitzt, verbürge.

§. 79. Plato's Ethik.

1. Wenn die ganze Philosophie, so muss natürhch auch die Ethik auch nur das Gute betrachten. Hier aber wird es betrachtet, wie es den Inhalt des menschlichen Wollens bildet, und das gibt, was man wol das höchste Gut zu nennen pflegt. Auch in der Be- stimmung dieses stellt sich Pfalo über die einseitigen xVufi'assungen der Früheren. Gegen die Hedoniker erklärt er sich im Theätet so sehr, dass er fast daran heranstreift, die Flucht vor der Lust anzu- rathen. Dieser zweiten Einseitigkeit aber tritt er im Philebos ent- gegen, wo er gegen beide Uebertreibungen dies geltend macht, dass nur das Schöne und also Maassvolle, gut seyn könne. Alles Maass- lose und Uebertriebne in dieser Hinsicht gilt ihm als Krankheit der Seele, ihre Gesundheit s-ieht er in der durch Einsicht bedingten Lust, in der Glückseligkeit die mit der Tugend zusammenfällt, weil diese um ihretseibst willen gewollt wird. Dieses normale Yerhältniss, die wahre Tugend, ist weder Xaturgabe , denn „Niemand ist von Natur gut", noch ist sie Product der Willkühr, denn da würden Alle tu- gendhaft seyn, indem niemand ft-eiwillig böse ist, sondern wie hin- sichtlich der Philosophie überhaupt gezeigt war, so muss auch bei der wahren (d. h. philosophischen) Tugend der sittlichen Anlage die Cul- tur nachhelfen. Die Tugend will gelehrt seyn, und die Erziehung ist in Plato's Ethik einer der wichtigsten Punkte.

2. Soh'utes hatte diese dem ^stqov aQLarov entsprechende Tu- gend in seinem Leben ohne Härte und Uebertreibungen dargestellt, dabei aber Gewicht darauf gelegt, dass die Tugend, weil Einsicht, nur Eine sey. Auch aus der Begriflsbestimraung der Tugend sucht

108 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

Plffio den abstracten Charakter zu entfernen , und fasst daher die- selbe als concrete Einheit, d. h. als einen Inbegriff oder ein Sy- stem von Tugenden. Es sind dies die berühmten Cardinaltugen- den. Im Protagoras werden noch fünf Haupttugenden augege- ben, und diese mögen wirklich vom Protagoras zuerst aufgestellt seyn, so dass Plato durch ihn auf seinen Weg gebracht wurde. Indem im Eutyphron die eine dieser Tugenden, die oWrr/? auf die Gerechtigkeit reducirt wird, ist es erklärlich, wie im Sym- posion schon bloss von vieren die Rede seyn kann. Diese nun werden (Rep.) so mit der Platonischen Psychologie in Verbindung gesetzt, dass durch die vernünftige Regelung des loyiGxiKov die aoq)la im Gegensatz zur fxcoQia^ des d'vfioeiöig die avÖQin im Gegen- satz zur öeiUa , endlich des im&v^tjTLKÖi' die acocpQoGvvr} im Gegen- satz zur ccKoknaia entsteht. Die vierte Tugend , die öiKaioavvi], welche in dem richtigen Verhältnisse aller jener Momente besteht, kann deshalb die formelle, sie kann aber auch die allumfassende Tugend genannt werden, wie denn im Staat die Ethik sich als die Erforschung des Gerechten ankündigt. Dabei ist es bei jener Identification von Heiligkeit und Gerechtigkeit kein Widerspruch, wenn dazwischen z. B. im Theaetet, im Phädros, ja im Staate selbst bei Gelegenheit der Erziehung, besonders aber in den Ge- setzen das allergrösste Gewicht gerade auf jene, und die mit ihr zusammenfallende Gottähnlichkeit gelegt wird.

3. Das Weitere aber ist, dass P/afo nicht dabei stehen bleibt, das System der Tugenden an dem isolirten Einzelwesen darzu- stellen, sondern sie im Staate, wo sie im vergrösserten Maass- stabe-zu sehn sind, betrachtet. Der Staat ist ihm der Mensch im Grossen , und der Parallelismus zwischen seiner Anthropologie und seiner Physiologie des Staates zeigt sich überall. Die gesetzge- bende und richtende Thätigkeit im Staate ist ihm ganz dasselbe was die hygieinische und therapeutische bei der Behandlung des Menschen, dort wie hier handelt es sich um Schutz der Gesund- heit (Gerechtigkeit). War aber der Mensch die Welt im Kleinen, so ergeben sich auch die Parallelen zwischen politischen und kos- mischen Verhältnissen und Gesetzen von selbst. Die ethischen und politischen Aufgaben gehen so zusammen, dass einmal nur die Tugenden der Einzelnen den guten Staat erm()glichen , andrer- seits nur der gute Staat der ganzen Tugend Spielraum gibt und sie möglich macht. Das sittliche Leben in einem guten Staate ist die höchste denkbare Sittlichkeit. Plafo beginnt seine Untersu- chungen mit der Frage, warum (nicht wie) der Staat auch nur als Nothstaat entsteht, und findet den Grund in den verschiedenen

V. Platon. Plato's Ethik. §. 79, 3. 4. 109

Bedürfnissen, welche zu einer Theilung der Arbeit und darum also, wenn auch in minimo. schon dazu führen, dass Jeder seine Stelle einnehme und das ihm Zukommende thue, worin eben die Gerech- tigkeit besteht. Viel mehr aber als in dem Nothstaat realisirt sich die Gerechtigkeit in dem organischen f Vernunft-) Staat, der wie ein einziger gerechter Mann erscheint, indem der Dreihcit der Seelenfunctionen die drei Stände (Nähr-, Wehr- und Leit- oder Lehrstand) entsprechen, deren Gerechtigkeit sich so zeigt, dass der erstere besonders die Mässigung, der zweite die^ Tapferkeit, der dritte die Weisheit repräsentirt. Nicht nur die persönlichen Verhältnisse und Erfahrungen des Pinto, sondern auch seine Me- taphysik , deren Summe war , dass das Einzelne werthlos , mussten ihn zu einer antidemokratischen Politik führen. Dem gemäss be- stimmt er die Aristokratie als die allein vernünftige Verfassung des Staates , wobei es ihm aber als ein unwesentlicher Unterschied erscheint , ob derselbe eine monarchische Spitze hat , ob nicht.

4. Je mehr Pinto einsah, dass an dem Egoismus der parti- cularen Interessen Athen zu Grunde ging, um sjo mehr schien es ihm nothwendig diesem seine Quellen abzuschneiden , und Einrich- tungen zu ersinnen bei denen die Menschen gewöhnt würden, sich über die Ganzheit, deren Glieder sie sind, zu vergessen. Zu dem Letzteren schien das Aufwachsen in ganz bestimmten Ständen, wobei das Kastenw^esen nichthellenischer Völker vielleicht nicht ohne Einfluss blieb, obgleich bei Pinto nicht die Geburt sondern die, das Talent berücksichtigende, Regierung den Stand des Kin- des bestimmt, ein gutes Mittel zu sej'n. Das Erstere wieder schien am Sichersten erreicht zu werden, wenn alles Mein und Dein, da- her das Privateigenthum, die Privathäuslichkeit, das exclusive Eigenthum an Weib und Kind u. s. w. bei den activen Bürgern, den Vertheidigeni und den Wächtern des Staates, aufgehoben wird. Dies sind die leitenden Gesichtspunkte bei seinen, schon damals von Vielen verlachten Vorschlägen, von denen übrigens keiner rein aus der Luft gegi'iffen ist, sondeiii zu denen er An- näherungen in der Verfassung fand, die er überhaupt, ohne ihre Mängel zu verkennen, am höchsten stellte, in der Spartanischen. Da gab es Heloten und Periökeu zu denen er seine Arbeiter macht, da gab es Speisegenossenschaften, da gab es mehr gelockerte Ehen, da wurden die Kinder früh ganz Eigenthum des Staates, da gab es ursprünglich ein Verbot des Geldes u. s. w. Alles dies wird nun mit, an Ucbertreibung streifender, Consequenz durchgeführt und, dem eingerissenen Egoismus gegenüber, gefordert dass der Mensch lediglich Bürger sey. Da dies nui- dort geschehen wird,

110 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

WO die Liebe zum Wahren (Guten) die durchdringt, die au der Spitze des Staates stehn, so ist die Erziehung dieser, der Wäch- ter, ein Hauptpunkt in der Politik Plaf.o\s. Mit der Musik beginnt dieselbe, die Gymnastik folgt ihr erst nach. Daran schliesst sich die Mathematik in allen ihren Theilen. Endlich im dreissigsten Jahre erfolgt die Einführung in die Dialektik, durch welche ge- schult die Fünfzigjährigen in die Staatsregieruug eingreifen , nicht aus Lust sondern weil das Wohl des Staates dieses fordert. Al- les, was irgend wie die Begierden und Leidenschaften aufregt, muss aus der Erziehung entfernt werden, daher die dramatischen Auf- führungen und eben so die Erzählung der Götterfabeln , aus wel- chen die Dramen gebildet wurden. Wie ein Staat, in dem die Philosophen herrschen, sich im Frieden gestaltet, wie er die grösste Gerechtigkeit und Glückseligkeit vereint, das hatte P/nio in sei- nem „Staate" gezeigt; der, Bruchstück gebliebene „Kritias" sollte an dem Beispiel Athens in einer fingirten Urzeit zeigen, wie ein solcher Staat auch im Kriege sich bewährt, und einen viel grösseren (Atlantis) überwindet , in dem mehr orientahsche Pracht und Sinnlichkeit herrscht.

5. Pldto sieht sehr gut ein, dass eine Aristokratie nur mög- lich ist bei einer geringen Ausdehnung des Staats. Er verlangt daher dass die Wächter nicht nur durch ihre Einwirkung bei den Eheschliessungen die VortreiTlichkeit , sondern durch Ehe- und andere Verbote die Zahl der Geburten controlliren. Abgesehn von mathematischen Gründen, welche bei Gelegenheit der sprüchwört- lich gewordenen schwierigen Platonischen Zahlen angedeutet wer- den (vgl. Fries), scheint ihm nach den Gesetzen die Zahl 5040 die beste für die Hausstände zu seyn , deren fünf und dreissig eine (PQaTQia, von diesen wieder zwölf eine (pvkrj bilden würden. Aus zwölf Phylen bestünde dann der Staat. Die Vernachlässigung der nothwendigen Rücksichten auf die normale Vergrösserung des Staa- tes u. dgl. , lässt auch den besten Staat entarten, und neben der ausführlichen Physiologie des Staates gibt Plato auch eine kurze Pathologie desselben: die Entartungen des Staates entsprechen ganz den unsittlichen Zuständen des Einzelnen. Dem leidenschaft- hch Ehrgeizigen entspricht die Oligarchie , in der die Reichen herr- schen ; dem von Begierden hin und her Gerissenen die Demokratie mit ihrer Gleichheit und ihrem blossen Schein der Freiheit. End- lich wie bei dem ayJXaaTog sich endlich eine einzige Begierde des ganzen Menschen bemächtigt, so endet überall die Demokratie in der Tyrannis , der sclilechtesten Staatsform , wie das aristokratische Königthum die beste gewiesen war.

V. Piaton. Plato's Ethik. §. 79. 6. 111

6. Und doch hat gerade die schlimmste aller Entartungen des Staates, die Gewaltherrschaft, etwas dem P/a/o AYillkommnes. So wenig er nämlich zugibt, dass sein Staat absolut unausführbar, so sieht er doch ein , dass der gegenwärtige Zustand Athens die Be- dingungen zu seiner Verwirklichung nicht darbietet. Ein neues Geschlecht, erzogen fern von der gegenwärtigen Generation, wäre allein fällig, einer Verfassung, wie sie Phito sich denkt, sich frei- willig zu unterwerfen. Da aber um in eine solche Erziehung ihrer Kinder zu wiUigen, die heutige Generation vernünftig schon seyn müsste, so scheint aus diesem Cirkel nur das herauszuhelfen, dass ein weisheitsliebender Gewaltherrscher alle diese Eim'ichtungen mit Gewalt einführte. Vielleicht schwebte dem Plato vor, was Pisi- siratos für die Solonische Verfassung geworden war, als er den Versuch machte, den jüngeren Dloiufsios der Weisheit zu gewin- nen. Das Fehlschlagen dieses Versuchs Hess ihn nicht an der Ausführbarkeit seiner Vorschläge verzweifeln. Dass sie, auch ohne diesen Tyrannen als deus ex machina, den gegebenen Verhältnis- sen angepasst werden könnten, das sollten wohl die Werke dar- thun, die später als der Staat sey es geschrieben, sey es entwor- fen wurden. In dem an den Kritias sich anschliessenden Her- mokrates sollte vielleicht gezeigt werden, dass mindestens in dorisch organisirten Staaten, wie die durch Hermohraies verbun- denen sicilischen Städte waren, durch weise Reformen das Ziel eriTeicht werden könne. Und als habe Plato, je älter er w^urde um so mehr gewünscht, die Keime zum Besseren, die in Sicilien auszustreuen er nicht mehr hoffen durfte, in grösserer Nähe auf- gehn zu sehn, macht er endlich in den Gesetzen den Versuch zu zeigen, dass selbst in seiner so verdorbenen Zeit, wenn bei Gründung einer dorischen Colonie zugleich Rücksicht genommen werde auf attische Bildung, ein Staat entstehen könne, der zwar nicht der in der Rep. geschilderte Vernunftstaat seyn werde, wohl aber der zw^eitl^este , ein Gesetzstaat nämlich, in dem gute Gesetze die Stelle der, das Gesetz unnütz machenden philosopliischen Herr- scher, vertreten. Die Nachgiebigkeit gegen die schlechte Wirk- lichkeit, die sich in der Schilderung dieses Gesetzstaates zeigt, und die zu ihrer nothwendigen Folge eine populär reflectirende, zum gemeinen Bewusstseyn sich herablassende Darstellung hat, ist nicht nur als eine, durch Pinto' s Erfahrungen auf dem politi- schen Gebiete bewirkte und darum auf dieses Gebiet beschränkte, anzusehn. Vielmehr geht sie Hand in Hand damit, dass er im- mer mehr die Unmöglichkeit einsah auf rein dialektischem Wege zu den einzelnen Ideen und von diesen zu den Dingen zu gelangen.

112 Alte Philosophie Zweite Periode (Glanz)

Das Verlangen, die Kluft zwischen dem Idealen und Realen zu füllen, das ihn dahin bringt bei der in der Siävoia wurzelnden Mathematik Anlehen zu machen, lässt ihn auch hier seine Anfor- derungen herabstimmen. Was die Gesetze im Vergleich zur Re- publik vor Allem bezeichnet , ist eine trübe oft an Bitterkeit strei- fende Weltansicht, die sich zuletzt sogar zu der, freilich nur kurz angedeuteten, Annahme einer bösen Weltseele, d. h. einer neben der die Welt beherrschenden Ordnung Alles verwirrenden Unord- nung, verirrt. Das Misstrauen an der Ausführbarkeit der Ideen, die der Athenische Gesetzgeber (Philo) dem Kretenser und La- kedämonier entwickelt, erzeugt diese Stimmung. Und doch hat der Gesetzgeber hier schon auf Vieles verzichtet , was er in der Republik noch gefordert hatte. Die Güter- und Weibergemeinschaft fehlt; es fehlt die an Kasten erinnernde Trennung der Stände, die hier durch eine auf Census beruhende Vier- Klassen -Eintheilung vertreten wird. Anderes , das bei einer besseren Ansicht von den Menschen er von ihnen erwartet hätte, wie die Theilnahme der höheren Klassen an den Wahlen , findet er nothwendig durch An- drohung von Strafen dem fingirten Staate sicher zu stellen. Ueber- haupt wird eine solche Masse von Gesetzen gegeben, dass es er- sichtlich ist, wie weniges Pluto glaubt der Genialität der Regie- renden überlassen zu dürfen.

7. Aber selbst in den Stimmungen, in welchen das resignirende Einschiebsel des neunten Buches der Republik oder in welchen die Gesetze geschrieben wurden, kommt Plaio nicht zu der entsagen- den Verzweiflung, die mit dem Glaukos im zweiten Buche des Staats als Regel ausspricht, dass die Ungerechtigkeit zum Wohl- seyn führe, der ganz Gerechte aber nach Misshandlungen aller Art auf den Kreuzestod gefasst seyn müsse. Sondern den Missklang zwischen dem was seyn soll und was ist, löst ihm die, nachdem Tode zu erwartende , Vergeltung. Die Möglichkeit derselben stand ihm durch seinen Unsterblichkeitsglauben fest. Umgekehrt aber wird, wie später bei Cicero und bei Kant, die Nothwendigkeit einer Vergeltung jenseits ihm zu einem neuen Beweise für die Un- sterblichkeit, welche in der Republik besonders so begründet wird dass, wenn selbst die Krankheit und das Verderben der Seele (das Böse) sie nicht zu Grunde richtet, dies durch Krankheit und Verderben eines Anderen, des Leibes, noch weniger geschehen könne. Ausser der Belohnung also , die in der Tugend selbst liegt, wodurch es unmöglich wird dass der Tugendhafte je ganz elend sey, hat sie auch die Folge dass, wenn der neue Kreislauf des Lebens beginnt, der wirküch Tugendhafte sich das Loos erwählen

V. Piaton. Plato's Schule. §. 80. 113

wird, welches ihn wahrhaft fördert. Dass es nicht der Götter sondern des Menschen eigne Schuld ist, die über ihn dies oder jenes Loos verhängte, dies dient nicht nur zum Trost für man- ches Missverhältniss , sondern auch zur Erklärung desselben. Die gegenwärtige Lage des Menschen ist seine eigne Wahl , die er dem gemäss traf, wozu er in einem früheren Leben geworden war. Die zweite Hälfte des zehnten Buchs der Republik kann als der erste Versuch einer Theodicee bezeichnet werden, in der durch die be- hauptete Prä- und Postexistenz der Seelen die Gottheit vor allem Anschein der Ungerechtigkeit so wie eines willkührlichen Eingi*ei- fens in die Sphäre der Freiheit sicher gestellt wird. Der Paral- lelismus der natürlichen und sittlichen Welt, der bei Plato sehr oft hervortritt, macht hier einer wirklichen Harmonie Platz.

Diog. LaeH. Lib. 111. Rittpr et Preller §. 244 280

§. 80.

Plato's Schule. Als Akademie nach dem ersten Lehrorte, als ältere später wegen des Gegensatzes zu Modificationen des Piatonismus bezeich- net, kam nach Pluto' s eignem Wunsclie seine Schule unter die Leitung seines Schwestersohnes Spmisippos. Sieben Jahre später übernahm dieselbe Xcnoliraies . der ihr fünfzehn Jahre vorstand. Das Hervortreten der Zahlenlehre, dabei ein gewisser gelehrter Zug , der diesen beiden Männern gemeinsam ist, würde, wenn man mehr von PUiU/s mündlichen Vorträgen namentlich aus seiner letzten Zeit wüsste, vielleicht weniger als Abweichung von ihm erscheinen , als wenn man bloss an seine Dialogen denkt. Die Ein- theilung der Philosophie in Dialektik, Physik und Ethik, die dem Xenokrntes zugeschrieben wird , liegt bei dem Platonischen Systeme so nahe, dass man kaum glauben kann, dass Plato sie nicht selbst ausdrücklich sollte angegeben haben. Wenigstens einen grossen Fund wird man im entgegengesetzten Falle kaum darin finden dür- fen. Die Annahme eines Neutralen zwischen dem Guten und Bö- sen weist auf einen besonnenen, nicht mit jeder Eintheilung zufrie- denen Mann, wie ihn schon der „des Sporns bedürftige" Schüler verhiess. Ausser diesen beiden sind Uerahluhs aus Pontus, Pi.i- lippos aus Opus, der Herausgeber der Platonischen Gesetze und Verfasser der Epinomis, Hestiüos aus Perinth und Eudo.cos aus Knidos als mündliche Schüler des Plato zu nennen. Polemnn, der dem Xenokrafes in der Leitung der Akademie folgte , Krates und Krantor gehören schon der folgenden Generation an, die durch Xenokrafes gebildet war. Schüler des Krantor war der Gründer der neueren Akademie Arkesilaos (s. §. 101).

Diog. Laert. IV, eap. 1—5. Bitter et Preller % 281—292. Erdmaon, Oesch. d. Philo«. 1. Q

114 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

§. 81.

Was der griechische Geist der Menschheit für alle Zeiten über- liefert hat, der Sinn für Schönheit und Wissenschaft, das concen- trirt sich mehr als in irgend Einem in Plalo. Der Platonismiis ist die griechischste aller Erscheinungen, indem er alle bisherige Philosophie in sich aufgenommen hat, und also nicht, wie die io- nische oder eleatische Lehre, eine bestimmte Stammeigenthümlich- keit, sondern das gesamnite Griechenthum in sich abspiegelt. Eben darum kann er auch erst dort auftreten , wo das Leben nicht nur in den Colonien loniens oder Grossgriechenlands, sondern wo das frische Leben Griechenlands überhaupt welkt und erstirbt. Alle Sehnsucht nach der vergangenen Herrlichkeit , die wie eine ele- gische Klage aus Plaids Schriften herausklingt, kann das Rad des Schicksals nicht auflialten. Griechenlands Zeit ist abgelaufen. Seiner Hand das Weltscepter zu entwinden und so den üebergang desselben in die Hände Rom's zu vermitteln, dazu war die ephe- mere Herrschaft eines Volks bestimmt, das, griechisch und doch so ungriechisch, den Römern ihr kommendes Weltreich vorgeträumt hat. Philipp, der den Griechen den Ruhm der Unbesiegbarkeit entriss, sein grösserer Sohn der, indem er die Schätze griechi- scher Bildung dem Orient preis gibt, das wahre Palladium Grie- chenlands, das Bewusstseyn, die geistige Elite zu seyn, den Grie- chen raubt, sie l)eide haben dem Griechenthum den Todesstoss versetzt. Einer Zeit , in der dies neue Princip zur Geltung kommt, kann die Weltformel eines Philosophen nicht mehr genügen, der einen durch seine Kleinheit grossen Staat träumt, sie bedarf eines solchen, der einen König zu erziehen vermag, zu dessen Füssen drei Welttheile liegen, der selbst, wie sein Zögling den Orient nicht zu gering achtet um in ihm zu residiren, so Nichts zu schlecht findet um es zu erforschen, der das Erobern und Aufliäufen aller Schätze des Wissens nicht für einen Raub an philosophischer Ge- nialität hält. Der dichterisch schaffende Plato muss von dem emsig sammelnden Aristoteles abgelöst werden.

§■ 82.

Auch hier aber muss, neben der welthistorischen Nothwen- digkeit eines neuen philosophischen Systems , aus dem Piatonismus selbst dargethan werden, dass über ihn hinaus- und zwar zum Aristotelismus fortgegangen werden müsse. Ersteres ist geleistet sobald gezeigt ward, dass die Forderungen, die Plato selbst an das wahre System stellt, von ihm nicht erfüllt wurden. Letzteres wenn sich zeigen sollte, dass Aristoteles sie mehr erfüllt. Im Programm zu seinen dialektischen Untersuchungen verspricht Plato,

VI. Aristoteles. Leben des Aristoteles. §. 83. 115

Über alle Einseitigkeiten, insbesondere über den Gegensatz der Physiologen und Metaphysiker hinauszugehn , die er als Anhänger des Vielen und Einen bezeichnet. Wenn er nun mit den Reprä- sentanten der einen Einseitigkeit, den Eleaten, nicht einen der anderen, z.B. den Jndiimeii es . zu vermitteln sucht, sondernden IJeruld'd, dem nach Plato\s eignem Vorgange (s. oben §. 41) die Stelle eines metaphysischen Physiologen angewiesen wurde , so wäre selbst wenn dem Plato die Vermittelung gelungen wäre, das me- taphysische Moment bevorzugt, das physiologische verkürzt wor- den. Nun aber kann ausserdem nicht geleugnet werden, dass in der Verschmelzung eleatischer und heraklitischer Lehren das elea- tische Element von PUdo viel mehr betont wird, so dass ganz wie bei den Eleaten die Materie das Nichtseyeude , darum aber auch die Physik wenn auch nicht geradezu Lehre, vom Schein, so doch ein wahrscheinlicher Mythus l)leibt u. s. w. Was Wunder wenn Arisiotelcs . der die Eleaten nicht mag, bei dem die Physik Lieblingswissenschaft isif und der darin den Amiximandros und Ih'i'ti'nUl so ausbeutet, dsi^s Scf/leiej-mttclcr den Vorwurf der Pla- giate an dem Letzteren auch auf den Ersteren hätte ausdehnen können , wenn dieser auf die Platonische Lehre von den jenseitigen Ideen als auf eine Einseitigkeit herabblickt, und mit denselben Worten sie beurtheilt, mit denen Pluto sich über die einseitig- eleatischen Megariker geäussert hatte. ,

VI.

Aristoteles.

§. 83. Leben des Aristoteles.

'ApiOTOTEÄou? ßio? xar' 'AfJL.uoviov (-4nt»iomz vita Aristotelis). 'ApiaroTeXoy; ßio; xal G'JYYpafXfJiaTa auToO ("Anonymi vita Aristotelis). (Beide u. A. in der Didotschen Ausgabe des Diog. Laert.) Francisci Pati-itü Discussiouum peripateticariim tomi I^' Basil. 1581. Fol. Ad. Stahr Aristotelia. HaHe 1830.

Aristoteles, des xVj/owmcAos Sohn , ist 01.99, 1 (385 v. Chr.) in Stageiros, später Stageira genannt, einer thracischen nachmals macedonischen Stadt geboren; wie sein Vater so war auch sein Grossvater, Maehaon, Arzt, und dieser Beruf mag, wie die Sage von der Abstammung vom Ashlepios wahrscheinlich macht, längst in der Familie sich fortgeerbt haben. Macht dies die frühe Nei- gung zur Naturwissenschaft erklärlich, so wieder der Umstand, dass yiliomac/tos Leibarzt bei Pliilipps Vater gewesen war, die spätere Verbindung mit dem macedonischen Königshause. Früh vaterlos kam der 17jährige Aristoteles zu dem 45 Jahre älteren Plato, der

116 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

in seinen Vorträgen damals wohl stark pythagorisirte. Die spä- tere Polemik des Aristoteles gegen die Platonische Lehre, eine Fortsetzung des schon frühe gezeigten Hanges , weiter zu gehn als der Lehrer, der den „Zügel" für nothwendig hielt, und die Veran- lassung gab, dass Aristote/es so oft ein undankbarer Schüler ge- nannt worden ist, hat meistens die Lehre P/atr/s zum Gegenstande wie sie in diesen Vorträgen, nicht wie sie in den Schriften Pluto' s, entwickelt wurde. Nur in der Rhetorik, im Gegensatz zu Isohra- tes , ist Aristoteles zu Pinto' s Lebzeiten Lehrer gewesen. Mit Xenokrates ging er nach Pluto" s Tode zum Hermeias. Tyrannen von Atarneus, dessen Brudeitochter später seine Frau ward. In Mytilene, wohin er nach dem Tode des Hcrmeius gegangen war, erreichte ihn die Aufforderung Philipps . die Erziehung des drei- zehnjährigen Ale.rnndcr zu übernehmen. Vier Jahre war Aristo- teles hier mehr als ein gewöhnlicher Prinzen- Erzieher, und blieb dann noch weitere vier Jahre in Macedonien, da, wenn auch seine Xaturgeschichte nicht gerade bestätigt (Hss sein Zögling aus dem Orient ihm seltne Thiere zugeschickt habe, das Verhältniss mit ihm sehr gut war. Erst als Kftllisthenes . des -Aristoteles Neffe, als Anhänger der altgriechischen Partei in Baktra ein Opfer des königlichen Misstrauens geworden war, scheint es sich getrübt zu haben, und da vertauscht Aristoteles seinen Wohnsitz in Macedo- nien mit dem in Athen , wo er dem Lyceum oder der peripateti- schen Schule vorsteht, die den ersten Namen von dem Tempel des Apollon Lykeios, vor welchem, den zweiten von den Säulen- hallen desselben erhalten hat, in welchen Aristoteles seine Vor- träge gehalten haben soll. Nur dreizehn Jahre dauerte dies. Als Eurymedon. zur Freude der Gegner Macedoniens, mit einer An- klage gegen Aristoteles auftrat, entzog dieser durch seine Entfer- nung von Athen dieser Stadt die Gelegenheit „sich zum zweiten Male an der Philosophie zu versündigen." Bald darauf ist er in Chalkis Ol. 114, 2 gestorben.

§. 84 Schriften des Aristoteles. Brandü De perditis Aristotelis de ideis libris. Bounae 1823. Ders. (Ueber d. Schicks, der Arist. Sehr.) im Rhein. Mns. 1827. I. p. 236 flf.

Der Gegensatz z\vischeu Pluto und Aristoteles , der, schon im Aeusseren sich ankündigend, in Gemüths- und Denkweise und eben so im Styl und der Behandlung wissenschafthcher Probleme sichtbar ist, zeigt siech auch darin dass, wie alle Schriften Plato's exoterische, d. h. für ein grösseres Publikum berechnete Kunst- werke, so alle Aristotelischen esoterische, d.h. Werke der Schule

VI. Aristoteles. Schriften des Aristoteles. §. 84. 117

sind. (Trotz des rühmenden Zeugnisses , das Cicero den Dialogen des Aristoteles zollt, und der meisterhaften Vertheidigung dessel- ben durch Bernays [Die Dialoge des Aristoteles. Berlin 1863], war es vielleicht keine Ungerechtigkeit des Schicksals dass sie verloren sind.) Vieles von dem, ^Yas erhalten ist, ward wohl während sei- ner Vorträge tachygraphisch niedergeschrieben und hat dann bei einem neuen Cursus als Leitfaden gedient, woraus sich die sich kreuzenden Rückweisungen erklären Hessen. Der Zustand in dem die Aristotehschen Schriften zu uns gekommen, ist zum Theil schlimm genug, doch aber besser als dass die, von Straho erzählte Geschichte vom Schicksale der Aristotelischen Manuscripte von dem Exemplare richtig seyn sollte, welchem unsere Ausgaben nachge- bildet wurden. Selbst die Metaphysik, von der Glaser jene Er- zählimg will gelten lassen, würde dann wohl einen noch traurigem Anbhck gewähren, als jetzt. Wie vieles verloren gegangen, hat aus alten Verzeichnissen und anderen Anzeichen Braiidis gezeigt. Eine Anordnung der erhaltenen Schriften nach chronologischen Ge- sichtspunkten ist unmöglich, eine nach systematischer Ordnung die einzig durchführbare. Die unrichtige Stelle, welche die Metaphysik in allen Ausgaben erhalten hat , ist , da sie dem Buche seinen Na- men gegeben hat, nicht mehr zu ändern. Von Ausgaben ist als die Princeps die Aldina Venet. 1495—98 5 Bde. Fol, ferner die griechisch - lateinische Pariser vom J. 1619 in 2Bdn. Fol. , die ins Stocken gerathene von Bul/le (Zweibrücken in 8'° ) , vor allen aber die im Auftrage der Berliner Akademie von J. Beller und Bran- dis*) veranstaltete (1831 35. 4 Bde. in 4) zu nennen.

*) Da die beiden ersten Bände der Berliner Ausgabe des Aristoteles . ivelche den griechischen Text enthalten (der dritte enthält eine lateinische Version, der vierte Auszüge aus den älteren Commentatoren) . durchlaufende Seitenzahl haben , so kürzt es die Angabe der Belegstellen ab , wenn man nach dem Vorgänge Waitz's und An- derer nur die ^itenzahl angibt. Ein vorausgeschicktes Verzeichniss sämmtlicher Aristotelischer Schriften nebst der Seitenzahl derselben in der genannten Ausgabe, wie es hier folgt , macht es dann leicht , sogleich aus der Seitenzahl bei einem Citat zu wissen , welcher Schrift es entnommen ward. 1) Das später sogenannte Organen (p. 1 184) enthält: >taTT;Yopia'. a (Categoriae) p. 1 15. TztpX 'tp\xT,\da.^ a' (de interpre- tatione) p. 17 24. 'AvaXuTtxa S* (Analytica priora et posteriora) (und zwar Kpi- T£pa ß' p. 24—70, C(7T£pa ß' p. 71—100;. ToTCtxa b' (Topica VIUj p. 100—164, Tiepl ao9'.(3-uo3v ikiyf^ui'i a (de Sophisticis elenchis) p. 164 184. Die darauf folgen- den 2) physikalischen Schriften enthalten : 9U(Jiy.i^ axpoaff'.; 3' (Physica auscultitio oder auch Physica VIII) p. 184—267, r.tpi oupavoy S' (de coelo IV) p 268—313, T.zp\ YEvsaewc xal q>Sopäc ß' (de gener. et corrupt. II) p. 314—338. MeTSwpoXoytxa 8' (Meteorologica IT) p. 338—390, -£pl xo'a.uou a (de mundo) p. 391—401. T:£p\ v|;u- X"n? y' (<^e anima 111; p. 402—435, ;x£p\ aJa5r>i{ü? xal aia^T^TOüv. 7i£pl .uvii.«.^? xott otvaii.vTjO£(i);, -£p\ ür:voü xa\ £yPtQY2?=^-"? > ~^?^ iVü:r,»((i)v , Tt£p\ }ji,axpoß'.dTY]-o? xa\

118 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

Aristoteles' Lehre. Fr. Biese Die Philosophie des Aristoteles. Berlin 1835. 43. 2 Bde.

§.85. Propädeutisches. Gliederung des Systems. 1. Obgleich die, welche den Unterschied zwischen des Pluto und Aristoteles Lehren zu einem nur formellen, und den Letzte- ren zu einem blossen Umarbeiter machen, viel zu weit gehn, so ist doch gegenüber dem entgegengesetzten Extrem, wonach sie, wie die Repräsentanten des Ideahsmus und Realismus , des Ratio- nalismus und Empirismus, einander gegenüber stelm sollen, jene einseitige Ansicht nicht ausser Acht zu lassen und es thut der Ehrfurcht vor Aristoteles keinen Al)bruch, erleichtert aber das Ver- ständniss desselben, wenn an mehr Punkten als dies gewöhnUch geschieht nachgewiesen wird, dass der Philosoph, dessen nicht kleinster Ruhm es ist , sehr viel gelernt zu haben , sehr viel gerade von Pinto gelernt habe. So wird gleich anfänglich auf das zurück- gewiesen werden müssen (s. §. 76, 1), wie Plato die Philosophie abgegrenzt hatte, um richtig zu würdigen, wie Aristoteles hier verfährt. Anknüpfend an das Factum, dass der Trieb zu wissen dem Menschen von Natur inwohiie, zeigt Aristoteles (p. 980 ff.), dass die erste Stufe des Wissens die Wahrnehmung {cdG&iqGig) sey, welche es mit dem Einzelnen (x«^' hMorov, Pinto" s xovro oder xoöz) zu thun habe. Durch wiederholte Wahrnehmungen und das, auf Erinnerung beruhende, Wiedererkennen wird daraus die Erfahrung {sfinsiQia, welcher Ausdruck bei Pinto schon vorkam). Diese hat

ßpap[i(.dTTf]TO? , TitpX v£OTY]To; xa\ YY^pw?» ^£p^ Cwfj? xa\ iaväiou , Ttept avaTiMofjs (Parva naturalia) p. 436—486, r.ipX rd Cwa latopfai (Historia auimaliuni; p. 486 638, TZzpX ?wwv fJLOptuv S* (de partibus animalium IV) p. 639—697, Ktp\ ^w'uv xivqaew; (de motu animalium) p. 698 704 , ■rztpX T:ops(ai; ^w'uv (de incessu animalium) p. 704 714, Tztpl C«(ov Yeve'ae«? i (de generatione animalium V) p. 715 789. Hier- auf folgen im 2**^" Bande nach einigen kleineren physikalischen Abhandlungen (K£p\ )^po)[j.ci(T(i)v , izzpX äxouaTwv , <puaiOYvu;j.txa , ntpX cpuTwv ß' , TüepV jaufjLaaiwv axou- afJLQCTWV, iJiYixavtxa) p. 791—858, TtpoßXY^jJ.'XTa Xt)' (Problemata 38) p. 859—967, Ktp\ (XTo'[JLWV yponxix(Z\ (de iusecabilibus lineis) p. 968 972, 'Avsji.'»^'' ^sast? y,yX Tzpo(Jr\yopioLt. (ventorum situs et appellationes) p. 973. Nach Tztpl Hsvo^dvou?, Zti'vo)- vo? xa\ FopYioi» (de Xenophane , Zenone et Gorgia) p. 974—980 3) Td [XZTo. tu (puatxd v' (Metaphysica XIV) p. 980 1093. Hierauf folgen 4) die ethischen Schrif- ten p. 1094—1353 und zwar 'HiJtxd NtxojJidxeta x' (Ethica ad Nicomachum X) p. 1094—1181, 'Hiixd (J.EYdXa ß' (Magna inoralia II) 1181 1213, 'HtJtxd Eu8Tfi[J.£tO! T)' (Ethica ad Eudemum VII) p. 1213—1249 (das 4te , 5te und Gte Buch fehlt), r.EpX apertöv xa\ xaxiwv (de virtutibus et vitiis) p. 1249—1251. IloXtnxd i' (Politica VIII) p. 1252—1342, O?X0V0fJLixd ß' (Oeconomica II) p. 1343—1353. Hierzu kommen 5) die Schriften über Rhetorik und Poetik : Tepf) pinTopixiQ Y (Rhetorica III) p. 1354—1420, 'Pv]Top'.x-n Kpo? AX£'^av8pov (Ehetorica ad Akxandruui) p. 1420 1447, TC£p\ toitqti- xy;? (Poetica) p. 1447 1462.

VI. Aristoteles. Aristoteles' Lehre. Einleitendes. §. 85, l. 2. 119

es bereits mit einem Allgemeinen Kad-ökov zu thim (p. 100), ob- gleich verglichen mit dem höheren Allgemeinen des eigentlichen Wissens der Gegenstand der Erfahrung wieder ein einzelner ge- nannt werden kann. Der Mangel der Erfahrung , den sie mit der Wahrnehmung theilt, ist dass sie nur mit dem Thatbestande (on), nicht mit den Gründen (Sia ri) zu thun hat. Darum geht über beide schon die Theorie , das Verständniss (Tsxvt]) , hinaus , welche ein Wissen um das Warum und darum schon Lehrfähigkeit ent- hält. (Bei diesem ersten Grade des Wissens hatte Pluto immer an den Mathematiker gedacht, Aristoteles denkt mehr an den theoretisch gebildeten Arzt, sonst entspricht seine rixvrj ziemlich der Platonischen Siavota.) Bleibt man nun bei den zuerst gefun- denen Gründen nicht stehn, sondern sucht und findet das ihnen zu Grunde liegende, die Principien (aQxc^i) , so entsteht dadurch eigentliches Wissen oder Philosophie. Aristoteles macht nämlich nicht, wie Plato , zwischen aotpla und cpdoaoq^la einen Unterschied. Da nun vor Allem Princip das Allgemeine ist , unter welchem Ari- stoteles sowol das Gemeinschaftliche (xar« nccvroe) versteht, als auch den schaffenden Begriff (das kkO-' avrö) , und aus Principien erkennen so viel heisst als: dass es nicht anders seyn kann, so sind Allgemeinheit und Nothwendigkeit die eigentlichen Kennzei- chen einer philosophischen Erkenntniss (p. 88). Wie nach Plato so ist auch nach Aristoteles die Verwunderung, das Gefühl des Nichtwissens und Nichtverstehns, der Anfang der Philosophie und die Philosophie das Ende von jener. Ist aber Verwunderung ein unfreies Verhalten, so die philosophische Erkenntniss ein freies, in welchem das Wissende nur sich weiss. Gewisser Massen ist das Erkennen das Erkannte, und der voü? selbst die vo^jt« (p. 431. 429). Die Philosophie ist aber auch noch in dem andern Sinne frei, dass sie überhaupt nicht dient, darum auch keinem prakti- schen Zweck. Darum entsteht sie auch, wie Plato das von der Geschichtschreibung gesagt hatte, erst dort, wo die Menschen Müsse haben. Nur um des Wissens willen forscht die Philosophie, darum mag es nützlichere Künste geben, aber eine bessere nicht. Ja man muss sie eine göttliche nennen in dem doppelten Sinne, dass die Gottheit sie übt, ^md dass sie Gegenstand derselben ist. 2: Wie Plato so grenzt auch Aristoteles nicht nur den philo- sophischen Standpunkt gegen den unphilosophischen, sondern auch die wahre Philosophie gegen andere philosophische Ansichten ab. Dabei aber hat für ihn der sophistische Standpunkt, als längst (durch Plato) abgethan, wenig Interesse. Er behandelt ihn ver- ächtlich, sieht in dem Sophisten nur einen Geldmacher , in seinen

120 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

Fangschlüssen nur Täuschungen u. s. w. Eben so stehn ihm die kleineren Sokratischen Schulen schon so fern, dass er sie wenig berücksichtigt. Dagegen ist für ihn der eigenthch zu bekämpfende Gegner der Platonische Dialektiker. Die Dialektik ist ihm keine unwahre, wohl aber eine untergeordnete Kunst, da sie nur versucht was die Sophistik zu können vorgibt, die Philosophie hat und weiss (p. 1004). Fast mit denselben Worten, mit welchen Plato gegen die Ueberhebung der Mathematik gesprochen hatte, wirft Aristo- teles der Dialektik vor , dass sie auf Voraussetzungen beruhe, wäh- rend die Philosophie keine mache, dass eben darum sie nur wahr- scheinlich mache, überrede, während die Philosophie beweise und überzeuge. Darum hat es die Philosophie mit dem Wissen und der Wahrheit , die Dialektik mit der Meinung und der Wahrschein- lichkeit zu thun (p. 104). Zur Voruntersuchung ist sie unerläss- lich, aber nur dort gehört sie hin ; wenn daher bei Pinto dialektisch philosophiren und recht philosophiren gleichbedeutend gewesen war, so setzt Aristoteles dLale/.riKcog und /.eväg als Synonyme. Indem sich also Aristoteles zu der Dialektik beinahe so stellt wie Plato sich zu den Sophisten, oder wenigstens zu den Sokratikeru, gestellt hatte, ist ihm die Philosophie die auf die Principieu, also auf das Allge- meine, gehende, nicht versuchende, sondern beweisende Wissenschaft. 3. Was die Gliederung des Systems betrifft, so kann sowol die Nachricht , dass Aristoteles die Philosophie in theoretische und praktische, als auch die andere, dass er sie in Logik, Physik und Ethik eingetheilt habe, sich auf seine eignen Aussprüche berufen. Beide vereinigen sich so , dass die erstere dahin erweitert wird, dass zu jenen beiden Theilen noch die poietische Philosophie hin- zutreten sollte (p. 1025), dass aber Aristoteles von der theoreti- schen Pliilosophie , welche die ÖEoAoytx») (später AoyiKrj genannt)

als nQcorr], die (pvoiKrj als öevTi()C( cpdoaorpicc und endlich die (i-a&rj-

^aTiKri enthalten sollte (p. 102G), die letztere so gut wie unbear- beitet gelassen hat , dass ein Gleiches von dem dritten Haupttheil des Systems gilt, der das noielv betrachten sollte, und dass also jetzt wirklich alle seine Lehrsätze entweder logische oder physi- kalische oder ethische sind (vgl. p. 105). In keinen dieser drei Theile passen die analytischen Untersuchungen , welche den hohen Werth, den Aristoteles auf sie legte, nicht verlieren, wenn man sie, seinem eignen Winke folgend (p. 1005), mit seinen Nachfol- gern als unentbehrliches Hülfsmittel {oQynvov) der eigentlich wis- senschaftlichen Untersuchungen ansieht. Sie schhessen sich an den eben gemachten Unterschied des sophistischen, dialektischen und apodeiktischen Denkens so an, dass in der Schrift von den Elenchen

VI. Aristoteles. Die analytischen Untersuchungen des Aristoteles §. 86, i 121

gezeigt 'VN'ird , vde mit den Sophisten umzuspringen sey , in den Topiken, wie man zu räsonniren und zu disputiren habe, in der Hermeneutik endlich und den beiden Analytiken, wie sich der wis- senschaftliche Beweis gestaltet. Die Schrift über die Kategorien bahnt dann den Uebergang zu den Untersuchungen der Funda- mentalwissenschaft, d. h. zu denen, welche Aristoteles schon zur Philosophie selbst rechnet, die er eben darum nicht mehr analy- tische nennt, sondern mit anderen Namen bezeichnet, unter wel- chen auch der der logischen vorkommt.

§. 86. Die analytischen Untersuchungen des Aristoteles.

Aristotelis Organon ed. Theod. Waitz. II Voll. Lips. 1844. 46. C. PranÜ Ge- schichte der Logik im Abendlaude. Ir Bd. Leipz. 1855. (2r 1861.)

1. ,Da Aristoteles das Denken und Sprechen nicht so trennt, wie es jetzt geschieht, bei ihm vielmehr \6yoq sowol Gedanke als Satz heisst, da er ferner die Gedanken und also die Wörter (wie

Philo als 8t]X(öiicixn so) als Ojuoiro^uar« xav TiQayiicircov ansieht, SO

ist es erklärlich, wie die Regeln, welche er durch Analysis des Satzes findet, ihm neben der grammatischen Bedeutung sogleich die logische bekommen , Normen für das richtige Denken zu seyu, endhch aber auch, mit mehr oder minder Consequenz , als Gesetze des realen Seyns gelten. Dieser letzte Gesichtspunkt verschwindet zwar nicht, tritt aber sehr gegen die beiden anderen zurück in der Schrift Tteg] iQ^rjviiag, was man, anstatt mit de interpretatione, besser mit de enunciatione wiedergegeben hätte (p. 16 24). Mit wörtlichem Anschluss an Pinto definirt Aristoteles, nachdem er das Wort als eine (pcavt] Grj^iarriy.Ti] Kaxa 6vv0i]Kij\' bestimmt und also von dem blossen Empfindungslaut unterschieden hat , den Satz {Xoyog) als eine Verbindung von Wörtern [avunXoy.^ cpcoväv), unter- scheidet dann aber sogleich Sätze, die keine Behauptung enthal- ten (z. B. Bitten) von denen, wo dieses Statt findet und also von Richtigkdt und Falschheit die Rede seyn kann. Diese letzteren nennt er Lrtheile (A.oyoi uTcocpavTinoi oder awoqxxvaeig , in den Ana- lytiken TiQoraaeig, lat. judicia) , und zeigt von ihnen, wie vor ihm Plato , dass ein solcher Satz nothwendig aus einem Nomen (övo^ia) und Verbum (o>},aa) bestehe, von denen jenes das vTcoy.du£i'ov (sub- stans, subjectum), dieses dagegen das xar?;yo()oi;(W£»'ov (praedicatum) ausdrücke. Dabei wird gezeigt, dass eine wirkliche Verbindung zwischen beiden nur Statt findet, wenn das Verbum eine Tiräaig hat d. h. flectirt ist, dass aber was die Flexionssylbe andeutet auch durch ein eignes Wort (tlvai) vertreten werden kann , welches dann nur die Zusammengehörigkeit (6vyxHG9ai, Copula) jener beiden

122 Alte Philosophie, Zweite Periode (Glanz.)

andeutet uikI eben darum eben sowol zum ovoiia als zum Qiifia ge- hört (daher später: verbum substantivum). Besteht das Urtheil durch die Abtrennung der Copula aus drei Wörtern , so kann das Prädicat entweder das Subject als Theil unter sich haben und wird dann von demselben ausgesagt als von dem unter ihm Befassten (xa^' imoKEiiisvov) , oder es kann umgekehrt etwas angeben was in dem Subjecte, als Substrate, sich findet (ivvTcoKEiixha), demselben inhärirt. Es ist klar dass bei jenen, den Subsumtionsurtheilen, Aristoteles an die Fälle denkt, wo das Prädicat ein Hauptwort, bei diesen , den Inhärenzurtheilen , wo es ein Eigenschaftswort ist. Je nachdem in einem Urtheil das Prädicat dem Subject zu- oder abgesprochen wird (ein KarriyoQ'rj^ia xor« oder gtto Tivog Statt findet), je nachdem ist es Koraqpafftg oder a7t6(paGi.g. Jene heisst wohl auch nQotaaig Kari]yoQiKi} (Judicium positivum) , diese GrEQrjriKt'i (j. nega- tivum). (Dadurch dass Aristoteles darauf aufmerksam macht, dass die Stelle des Subjects auch ein '6vo(ia aoQiarov wie ovk - ävd-Qconog, die Stelle des Prädicats ein ^^fi« aoQiGrov wie ov-rQi%eiv einneh- men könne, und dass die ersten Uebersetzer ccoqictov mit infinitum übersetzten anstatt mit indefinitum, ist man in der Folge dazu gekommen, neben jenen beiden allein möglichen Fällen noch den dritten [warum denn nicht auch den vierten?] zu statuiren, den man das Judicium infinitum genannt hat.) Ausser dem Unter- schiede der bejahenden und verneinenden Urtheile betrachtet Ari- stoteles auch den zwischen den Urtheilen die im Allgemeinen etwas aussagen (ai y-a^ökov anocptiGug y.al Kaxa(pci6iig) und denen, die es nicht allgemein thun {Iv (isqsi in den Analytil^en , nctd-' äKaerov in der Hermeneutik). Die Verbindung dessen was von der Qualität und Quantität der Urtheile gesagt war, gibt die Regeln über den Gegensatz zweier Urtheile. Ein bejahendes und ein verneinendes Urtheil sind avriKeijxeva (opposita), sie können dies aber avTirpan- aag (coiitradictorie) seyn wenn eines das andere nur aufiiebt oder aber havtlag (contrarie) wo es noch ausserdem eine andere Be- hauptung an die Stelle setzt. Der letztere Gegensatz wird auch der h SiafiitQov genannt und findet z. B. zwischen allgemeiner Be- jahung und eben solcher Verneinung Statt. Hier führt nun Ai'i- stoteles auch den Satz des zu vermeidenden Widerspruchs und des ausgeschlossenen Dritten ein, welche er gewöhnlich (wie Pluto immer) so begründet, dass sonst nicht feststünde was ein Wort bedeutet. An die Untersuchung über den Gegensatz der Ur- theile wird angeknüpft und mit ihr verbunden die über Modalität der Urtheile. Es wird mit Recht hervorgehoben, dass die moda- len Urtheile eigentlich zusammengesetzte {cv^inUKo^Evai) seyen, und

VI. Aristoteles Die analytischen Untersiicliungeu des- Aristoteles. §. 86, 2. IäO

genau erörtert wie die Möglichkeit zu ihrem Gegentheil nicht nur die UnmögUchkeit , sondern auch die Nothwendigkeit habe u. s. w. Der Umstand, dass hier das Wort höexofisvov im Gegensatz zu övvarov und ava^xatov , dagegen in den Analyticis gebraucht wird, um das Mögliche zu bezeichnen , hat Einige bewogen anzunehmen, dass Aristoteles zwischen logischer und realer Möghchkeit unter- scheide. Andere bestreiten dies.

2, Die Lehre vom Schluss betreffend, so Hess nicht nur der Umstand , dass er der Erste war der sie bearbeitete (p. 184) den Aristoteles so grosses Gewicht auf sie legen, sondern dass auf sie die Theorie des Beweises sich gründet , auf die es ja vor Allem bei den analytischen Untersuchungen ankonnnt. Darum heisst das Werk, worin er den Schluss behandelt, im besonderen Sinne ra. avaXvri-ACi. Zunächst kommen hier nur die 'AvctlvriKu TCQÖxfqa (p. 24 70) zur Sprache. Sie sind der bestausgearbeitete Theil im ganzen Organon. Nachdem zuerst der Schluss {övUoyiG^iög) defi- nirt ist als ein Satz , in dem aus gewissen Voraussetzungen etwas Neues mit Nothwendigkeit folgt, werden zuerst Untersuchungen darüber angestellt, welche Urtheile und wie sie umgekehrt werden können, und dann die wesenthchen Bestandtheile des Schlusses betrachtet. Die beiden iiqozäGEig (praemissae) enthalten die uKqa (extrema) und den o^o? \is6og (terminus medius). Die ersteren, der oQog TtQonog oder äy.Qoi' juft^ov (terminus major) und öqoq eaia- Tog oder cckqov h'karrov (terminus minor) , bilden in dem av^insQaa^a (conclusio) jenes das Prädicat, dieses das Subject, der Mittelbe- griflf dagegen, welcher den Grund der Verbindung enthält, ver- schwindet. Er, als die Seele des Schlusses, bestimmt die eigent- liche Natur desselben. Je nachdem er hinsichtlich seines Umfanges die mittlere, oberste oder unterste Stelle einnimmt (d^sasi. ^iaog, TiQcSrog oder h'aiatog, d. h. positione medius, supremus oder infi[r]- mus ist) , je nachdem ergel^en sich die drei einzig möglichen axrjficcra (figurae) des Schlusses. Von diesen hat die erste, weil sie allein allgemein bejahende Schlusssätze haben kann, den gröss- ten wissenschaftlichen Werth, weil die Wissenschaft aufs Allge- meine ging und der positive und directe Beweis mehr Kraft hat als der negative und indirecte. Daher schon bei Aristoteles das Bestreben, die Schlüsse der anderen Figuren auf die der ersten zu reduciren. Diese Reduction wird von ihm mit allen vier Modis der zweiten und allen sechs der dritten Figur durch avxiGxqicpHv (conversio) und anaymyri dg a^vvarov (reductio ad impossibile) vor- genommen, so dass die vierzehn möglichen Schlüsse der späteren Logiker,- so wie ihre Reductionen der zehn letzten auf einen der

124 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

vier ersten sich bereits bei Aristoteles finden. Nur bei der Be- schreibung der dritten Figur kann ihm ein Feliler vorgeworfen werden. Eine sehr gründUche Untersuchung darüber , wie sich die Sache gestaltet je nach der verschiedenen Modahtät der Vorder- sätze , zeigt , wie wenig Scheu er hatte vor trocknen , aber in die Tiefe gehenden, Untersuchungen. An sie schliessen sich die über das Auffinden richtiger Mittelbegriffe , über die Art wie durch Auf- lösen der Schlüsse man Lücken in ihnen entdecken könne u. s. w. Sie gehen bis zum Schlüsse des ersten Buches und ihnen folgen im zweiten solche, die nicht mehr, wie jene, der elementaren, son- dern der angewandten Logik angehören. Es wird da untersucht ob und wann aus falschen Prämissen ein richtiger Schluss gezogen werden kann , warum aus einem falschen Schlusssatz auf die Falsch- heit wenigstens einer Prämisse zu schliessen ist , welches die Fälle sind wo , und die Grenzen in denen , im Kreisverfahren der Schluss- satz zur Prämisse gemacht werden kann um eine Prämisse zu be- weisen, oder sein Gegentheil um sie zu widerlegen. Der Fehler des Iv ccQxrj airslßd-ai (petitio priucipü, sollte heissen conclusionis oder in principio) wird gleichfalls betrachtet und dann übergegan- gen zu den Folgerungen die, ohne strenge Beweise zu seyn, doch Glauben erwecken. (Vgl. Ileydcr Krit. Darst. und Vergleichung der Aristotelischen und Hegeischen Dialektik. Erlangen 1845.) Hierher gehört vor Allem die iKctymyi] (inductio), welche er, da vermittelst des Einzelnen auf das Allgemeine geschlossen wird, mit der dritten Figur vergleicht. Noch weniger Beweiskraft wird der Berufung auf das Beispiel {naqähiyiiti) eingeräumt, welche er nicht streng vom analogischen Verfahren scheidet, und die nach ihm besonders dem rhetorischen Gebiete angehört, wo sie eben so die Induction vertritt, wie das h&vfirjiia (der Wahrscheinlich- keitsschluss) den strengen Schluss (p. 1356).

3. Bei Weitem nicht die Abrundung wie die bisherigen Unter- suchungen zeigen die 'Avakvrma vGtiQa (p. 71 100), die wahr- scheinlich nach des Aristoteles Tode aus seinem Nachlass zusam- mengestellt wurden und welche das enthalten , was man nicht mit Unrecht seine Wissenschaftslehre genannt hat. Da alle wissen- schaftliche Erkenntniss eine bewiesene, d. h. nach dem bisher Ge- sagten: erschlossene, ist, so muss ihr eine andere vorausgehn, welche als gewiss gilt und auf die sie sich stützt. Da ist nun der doppelte Fall möglich , dass der Ausgangspunkt ein durch die Wahrnehmung Gegebenes ist, und daraus ein Allgemeines gefol- gert wird, worin das inductive Verfahren besteht, oder aber dass vom Allgemeinen ausgegangen und zum Einzelnen herabgestiegen

VI. Aristoteles. Die analytischen Untersuchungen des Aristoteles. §.86, 3.4. 125

wird, was Aristoteles als das syllogistisclie Verfahren bezeichnet. Beide zeigen den Gegensatz, dass dort von dem ausgegangen wird, was n^oq rjfiäs nQcoToi' , d. h. was für das Subject das Erste und Gewisseste ist, und zu dem an sich Ersten {cpvGzi, oder Ao'^m, oder ctTiXoig TXQÖxiiiov) übergegangen, hier dagegen der umgekehrte Weg eingeschlagen wird. (Wo nQÖTiQov und vaziQov ohne Beisatz vor- kommt ist nicht (pvan, sondern gerade nQo? rj^iäg zu suppliren. Uebrigens formulirt Aristoteles den Gegensatz des für uns und an sich Ersten auch so: was das Letzte ist in der Analysis ist das Erste in der Genesis [p. 1112].) Obgleich das inductive Verfah- ren leichter zu überreden pflegt, ist doch das deductive wissen- schaftlicher. Dieses letztere kann nun entweder auf das Dass gehn und dann erzeugt es den Beweis, oder auf das Was und dann führt es auf den ooiouög (definitio). Zunächst wird der Be- weis betrachtet und gezeigt, dass er ein Schluss aus wahren und nothwendigen Prämissen sey , eben darum nur auf Allgemeines und Ewiges gehe, in jeder Wissenschaft auf gewissen, innerhalb dieser Wissenschaft nicht zu beweisenden, Principieu und Axiomen beruhe, dass und warum der allgemeine und bejahende so wie der directe Beweis den Vorzug verdiene u. s. w. Dann wird zur Definition übergegangen , und die Berechtigung , auch sie zum syllogistischen Verfahren zu rechnen, dadurch bewiesen, dass die wahre Definition den Grund des Definirten (d. h. einen terminus medius) enthält. (Die Definition der Mondfinsterniss : „Dunkelheit durch Zwischen- treten der Erde" ist leicht in die Form eines Schlusses zu brin- gen.) Zu diesem Requisit an die Definition kommt dann das For- melle, das Aristoteles mit jener zu vermitteln nicht versucht zu haben scheint, dass die Definition ausser dem Genus die specifi- sche Differenz enthalte, was zu seiner Voraussetzung die Einthei- lung hat welche, so wichtig sie ist, doch nicht, wie bei Pinto. die Deduction ersetzen kann. Positive und negative Regeln \m\- sichtlich des Definirens schliessen sich daran an.

Cf. Kühn De notionis definitione qualem Aristoteles constitiierit. Hai. 1844. Rassmv Aristotelis de notionis definitione doctrina. Berol 1845.

4. Das Beweisen aber und das Definiren hat seine Grenzen, denn sowol wenn es sich im Kreise bewegte als wenn es ins End- (d. h. Zweck- und Ziel-) lose ginge, gäbe es kein Wissen. Diese Grenzen sind für beide zweierlei, indem es Solches gibt, was über allem Beweisen und Definiren, und wieder Solches das unter Bei- dem steht. Unter Bcidem steht der Gegenstand der sinnhchen Wahrnehmung, weil er als zufällig nicht bewiesen, als zahllose Merkmale enthaltend nicht defiuirt werden kann (p. 1039). Dage-

126 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

gen gehen über beide hinaus die allgemeinsten Gattungen und Principien, welche als einfach keine Definition gestatten, und die unzweifelhaften Axiome, welche unmittelbar gewiss sind. Solche unmittelbare, für den Beweis zu hohe, Urtheile hat jede Wissen- schaft. So auch die über alle hinausgehende Grundwissenschaft, welche, was innerhalb der untergeordneten Wissenschaften unbe- weisbar, beweist. Wie das Organ für das Einzelne und Zufällige die Wahrnehmung war , so für diese unmittelbar gewissen Urtheile der vovg, der also über die Ikigt)]^}], das mittelbare Erkennen, hinausgeht. Sein unmittelbares Erfassen ist ein Anschauen, aber kein sinnliches und vielmehr dem zu vergleichen, womit der JNIa- thematiker sich seiner Grundbegriffe bemächtigt (p. 1142). An diese anlä, die nicht weiter abzuleiten, findet sich der Geist ge- rade so gebunden, wie jeder Sinn an seine eigenthümlichen Em- pfindungen. In dieser Sphäre des unmittelbaren Erfassens gibt es nicht, wie bei dem vermittelten Erkennen, ein richtiges und falsches Wissen, sondern nur ein Wissen oder Nichtwissen, eben so ist hier der Unterschied des Dass und Was verschwunden, denn mit dem Augenblick, dass dieses Höchste erfasst ist, ist auch seine Realität unmittelbar gewiss (p. 1051, p. 203).

5. Wenn gleich die Forderung widersinnig ist, dass diese er- sten Grundlagen alles Beweises bewiesen werden sollen , so schwe- ben sie doch nicht, wie angeborne Begriffe und Axiome, ganz iii der liUft , sondern als Möglichkeit liegen jene unmittelbaren Ur- theile in dem erkennenden Geiste , treten hervor vermöge der sinn- lichen Wahrnehmung, aus welcher der Geist das Allgemeine her- vorhebt , so dass also auf dem Wege der Induction die Principien alles apodeiktischen Wissens zwar nicht bewiesen aber klar ge- macht werden. Gerade wie P/ato, den er auch deshalb lobt (p. 1095), behauptet also auch Aristoteles, dass die Wissenschaft eben so sehr zum Allgemeinen hinauf- wie von da zum Einzelnen herabsteige. Die Induction , indem sie an das sinnlich Wahrnehm- bare als an das für uns Gewissere anknüpft und zu dem an sich Gewisseren übergeht, müsste, um völlige Beweiskraft zu haben, vollständig seyn. Wäre sie dies, hätten wir eine Kemitniss von allem Einzelnen, so bedürfte es keines apodeiktischen Wissens, die Induction, welche jetzt einem Schlüsse dritter Figur gleicht, würde dann einem der ersten gleichen. Jetzt aber kann auf dem Wege der Induction nur Wahrscheinliches nicht Gewisses, nur Gemein- sames nicht wahrhaft Allgemeines erreicht werden. Wie nun von jenem zu diesem fortgegangen werden kann, das zeigt durch die That Aristoteles überall wo er das diu-ch Induction Gefundene

VI. Aristoteles. Die analytischen Untersuchungen des Aristoteles. §. 86, 5. 127

durch allgemeines Räsouuemeut der wisseuscbaftlicheu Erkeimtniss näher bringt, und dazugeben theoretische Anleitung seine Totil-kü (p. 100 164) indem sie Regeln für das dialektische Verfahren und im nahen Zusammenhange damit Anweisung geben, wie man dem sophistischen Spielen mit Worten begegne (p. 164 184). Das eigentliche Bereich des dialektischen (d. h. räsonnirenden) Denkens ist das xoii'o'v und svöo^ov. Wie es dasselbe zum Ausgangspunkte macht, so ist auch sein Zweck immer Allgemeineres und Wahr- scheinlicheres zu finden. Dadurch aber nähert es sich dem phi- losophischen Wissen, denn was Allen wahrscheinlich ist, das ist gewiss (p. 1172). Die Regeln für das dialektische Verfahren wer- den demgemäss ganz besonders dies im Auge behalten müssen, dass ein allgemeines Einverständniss erreicht werden soll, demge- mäss sind sie Regeln für das üeberreden (d. h. rhetorische) und für das Ausgleichen von Ansichten (d. h. fürs Disputiren). Im Dienste der Wissenschaft suchen sie zu zeigen , wie eine Verstän- digung über die ersten Principien der Wissenschaft erzielt werden kann. Voraussetzung ist dabei der Wille sich zu verständigen. Da nun dieses unmöglich wäre, wenn die Verständiguiigsmittel, die Worte, nicht ihre Bedeutung behielten, so ist das principium ideutitatis höchster Kanon beim Disputiren, und ein nachgewiese- ner Verstoss dagegen ist ein Nachweis, dass der Gegner seine Stellung aufgeben muss (cf. p. 996). Umgekehrt wird in den mei- sten Fällen , wo die Sophisten meinen Widersprüche nachzuweisen, gezeigt werden können, dass sie die Vieldeutigkeit eines Worts nicht beachteten. Die logische, d. h. den sprachlichen Ausdruck be- rücksichtigende, Genauigkeit wird wiederholt eingeprägt. Zum Aus- gangspunkt des Räsonnements ist Solches zu machen, was durch Autorität für gewiss gilt. Darum bei Aristoteles das emsige Nach- forschen nach dem was frühere Philosophen in ihren Schriften, mehr noch nach dem was der Geist seines Volkes in Sprüchwör- tern, vor Allem aber was derselbe in der Sprache schon nieder- gelegt hat. Seine Untersuchungen über die Bedeutung der Worte die viel seltner etymologisch den Ursprung, als lexicographisch die gegenwärtige Bedeutung ins Auge fassen, sollen ihm zeigen wie und was Alle denken. Das Weitere aber ist, dass nicht nur die Autoritäten sich widerspreclten , sondern ein von allen Seiten be- trachtendes Räsonnement in dem was ganz sicher scheint, Wider- sprüche entdeckt. Daher bei Aristoteles jenes antinomische Ver- fahren, in dem sich das eristische Verfahren der Sophisten, die Ironie des Sokrates , die negative Seite der Platonischen Dialektik (s. §. 76, 6) wiederholt, und das nichts Andres hervorbringen will

128 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

als die anoQia, weil ohne diese es keine genügende Lösung gibt (vgl. p. 995).

6, Zur richtigen Würdigung der so entstehenden Rathlosigkeit und zur Rettung vor derselben, ist nun nothwendig dass die Fra- gen richtig gestellt werden, dies aber verlangt vor Allem dass man sich nicht darüber täusche in welche Klasse des Denkbaren das gehört, was die Wissenschaften und die über ihnen allen ste- hende Wissenschaft zu ihrem Gegenstande haben. Von den Klas- sen des Denkbaren handeln theils die Topiken tlieils die Schrift KarrjYOQiai (p. 1 15), welcher letzteren freihch von bedeuten- den Autoritäten der Aristotelische Ursprung, sey es ganz sey es theilweis, abgesprochen wird. Dass bei seiner Ansicht von Spre- chen und Denken ArhfoipJes diese Klassen dadurch findet, dass er den ausgesprocheneu Gedanken, den Satz, in seine Bestand- theile zerfallen lässt, dass sich ihm dabei zunächst ergibt, dass Alles was wir denken entweder als Subject oder als Prädicat ge- dacht wird, ist sehr erklärlich. Dass weiter die Reflexion auf attributive Bestimmungen die das Subject eines Satzes bekommen kann, so wie auf die verschiedenen grammatischen Hauptformen des Verbums , welches ja die Prädicatstelle einnahm , endlich die Möglichkeit näherer Bestimmungen dessell)en durch Adverbien, der Grund gewesen sey , warum er gerade diese zehn yht] vtjg Karrjyo- Qiag oder KaxYiyoQiai annahm, so dass also die ovala oder das xl hri dem Substantiv, das noiöv dem attributiven Adjectiv, das noGÖv dem Zahlwort, das nqög n den Worten entspricht die eines ergänzenden Casus bedürfen, dass ferner noulv, tkxgihv. Ksla^ai und sxHv dem Activ, Passiv, Medium und Präteritum entsprechen, endlich nov und nori als Repräsentanten der Adverbia da stehen, dies Alles erscheint nach Trendelenhurgs gründlichen Untersuchun- gen sehr wahrscheinlich. Damit ist sehr gut zu vereinigen, dass, nachdem sich gezeigt hatte , dass alle übrigen Kategorien nur Sol- ches bezeichneten, was an der ovGla als Zustand oder Thätigkeit derselben vorkommt , nun auch andere Zustände als die zuerst auf- gezählten, Kategorien genannt wurden. Festzuhalten ist dabei im- mer, dass, da sich die Dinge in dem Denken Aller gleich spie- geln, und das Sprechen wieder das gemeinschaftliche Denken zur Erscheinung bringt, die zunächst grammatischen Hauptklassen (die, wenn Aristoteles eine ausgebildete Lehre von den Redetheilen vor- gefunden hätte, vielleicht andere geworden wären) sogleich logi- sche und weiter reale Bedeutung erhalten , so dass weil wir Alles entweder als ovaia oder als eines ihrer nä&ri denken müssen, alles Wirkliche unter die Bestimmung des Substanziellen oder Acciden-

VI Aristoteles. Die Grundwissenschaft des Aristoteles. §. 87, 1. 129

teilen fallen muss. Ovrna (Wesenheit) hat also zunächst die gram- matische Bedeutung , dass damit das mögliche Subject eines Satzes bezeichnet \Nird. Eben darum ist vorzugsweise und ist erste Wesen- heit was imr Subject uud nie Prädicat seyn kann, das Einzelwe- sen , z. B, Solches was durch ein nomen proprium bezeichnet \Ndrd. Die durch nomina appellativa bezeichneten Gattungen können so- wol die Subject- als (in Subsumtionsurtheileu) die Prädicat-Stelle einnehmen; sie werden daher Wesenheiten aber zweite genannt. Was dagegen in einem Inhärenz - Urtheile die Prädicatstelle be- kommt, nur Beschaffenheit eines Substrates ist, das ist gar nicht Wesenheit. Mit der Wesenheit nun. oder dem Was, hat es alle Wissenschaft zu thun, und die einzelnen Wissenschaften haben eben verschiedene Wesenheiten zu ihrem Objecte z. B, die Geo- metrie die räumliche, die ovr,ic( d-en] (p. 87). Da Wesenheit und wahrhaft Seyeudes dasselbe ist, so kann die Aufgabe der einzelnen Wissenschaften darein gesetzt werden, dass sie je eine Art des Seyenden darauf hin l)etrachten , was demselben zukommt. Eben deswegen hat auch eine jede ihre eignen Axiome und. Theoreme, die für die anderen ohne Bedeutung sind. Ueber ihnen allen wird diejenige Wissenschaft stehn , die , weil sie nicht eine Art der We- senheit sondern die Wesenheit an und für sich, nicht ein irgend wie bestimmtes Seyn sondern das Seyende als solches, das oV rj ov, betrachtet, und, was für dieses gilt, als allgemein gültiges Gesetz für alle Arten des Seyenden, und darum für alle Wissenschaften, ausspre- chen wird (p. 1003). Diese Wissenschaft heisst eben darum ttoco'dj q)doao(piti d. h, Grundwissenschaft. Wie dieser Name ihrem Ver- hältnisse zu den andern Disciplinen am Meisten entspricht . so der der Ontologie ihrem Inhalte. Dass bei der Wichtigkeit, welche ArisinieJes diesem Theile der Philosophie beilegt, er ihn oft Phi- losophie schlechthin nennt, ist eben so erklärlich wie dass Pinto den dialektischen Theil seines Systems öfter so genannt hatte.

Trenddenbiirg Geschichte der Kategorienlehre. Berlin 1846.

§.87. Die Grundwisseüschaft des Aristoteles. 1. Das Werk des Aristoteles , welches, weil es in der ersten Sammlung seiner Werke hinter die physikalischen Schriften ge- stellt wurde, den Namen Ta (ßißhct) fistd (pvaixä erhielt (p. 980 1093), und dadurch die Veranlassung wurde, dass die darin behandelte Grundwissenschaft später Metaphysik genannt worden ist, enthält im ersten Buche (^ p. 980 993) eine historisch-kri- tische Einleitung und geht dann im dritten p. 995—1003) das zweite A I'Acttov scheint nämlich eingeschoben zu seyn, dazu

Erdmann, Gesch. d. Phil. I. Q

130 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

über, die Axiome aufzuzählen, in welche sich das Denken über diese Gegenstände verwickelt findet. Unter diesen findet sich auch die Frage, ob es die Aufgabe einer und derselben Wissenschaft sey, die mehr formellen Principicn des Beweisverfahrens anzuge- ben, welche jede Wissenschaft muss gelten lassen und, mehr ma- teriell, das festzustellen was von allem Seyenden gilt. Diese Frage wird in dem vierten Buche (T p. 1003 1012) bejaht und als oberstes Princip des Beweisverfahrens, also als formelles Princip aller Wissenschaften, ganz wie in den Topiken, das Axiom aufge- stellt , dass man nicht von demselben Entgegengesetztes prädiciren dürfe, weil dies jede bestinnntc Wesenheit aufliebe. Nur von die- ser, d.h. von allem wirklich Seyenden, gilt jenes Axiom, so wie das des ausgeschlossenen Dritten. Dagegen soll gar nicht geleug- net werden , dass in der Möglichkeit die Bestimmungen des Seyns und Nichtseyns vereinigt seyen; dass er, was von der Möglichkeit gilt, auf die Wirklichkeit anwandte, das soll den llertthlU dahin gebracht haben, alles Wirkliche hi den steten Fluss zu setzen. Das fünfte Buch {^ p. 1012 1025) enthält synonymische Er- örterungen, welche den Gang der Untersuchung unterbrechen, und kann eben so wie das eilfte (X p. 1059—1069), welches einer an- deren Redaction der ganzen Grundphilosophie anzugehören scheint, endlich können auch die beiden letzten Bücher (M p. 1076 1087 und N p. 1087 1093), die eine Kritik der Platonischen Ideeu- lehre enthalten , wenn man einen Ueberblick über die Aristotelische Grundwissenschaft gewinnen will, zunächst überschlagen werden. Mit dem sechsten Buche (£p. 1025—1028) wendet sich die Untersuchung auf die eigentliche Ontologie, indem sie die Frage: was denn das eigenthch Seyende ist, zu lösen versucht, ganz wie Plato sich dieselbe Aufgabe in seiner Dialektik gestellt hatte.

2. Will die Ontologie eine wissenschaftliche Untersuchung seyn, so muss sie (vgl. oben §. 85 , 1) das Seyende als Solches aus Prin- cipicn ableiten. Die erste, man kann sagen vorbereitende, Frage ist also: was ist unter einem Princip zu verstehnV Die Antwort, welche der Sprachgebrauch durch die vierfache Bedeutung des Wortes cthlci und aq-p'] (causa) gibt, findet Aristoteles bestätigt durch die Geschichte. Aus dem Stoff haben die Physiologen, aus der Form die Pythagoreer, aus der bewegenden Ursache E7)ipe- dokles, aus dem Zweck Anuxagoras das Seyn zu erklären ver- sucht (p. 984). Unter v\ri (materia) oder Stoff versteht Aristoteles ein jedes i^ ov oder Woraus. Darum ist nicht nur das Erz für die Bildsäule, sondern auch der Saame für den Baum, die Prä- missen für den Schluss, die natürlichen Triebe für die Tugend,

VI. Aristoteles. Die Grundvrissenschaft des Aristoteles. §. 87. '2. 3. 131

die Töne für die Octave, ja die Cither für die Töne die aus ihr kommen , die Buchstaben aus denen es besteht , oder der Laut aus dem es entsteht , für das Wort der Stoff oder die Materie. Eben darum fällt dem Aristoteles der Stotf mit dem Unbestimmten {unn- Qov , aÖQiGxov) bloss Bestimmbaren zusammen, und daher ist in der Definition das näher zu bestimmende genus die vXi^, eben so ist Materie ihm Eins mit dem , woraus zweckmässige Ordnung erst wird , was also dieselbe noch nicht zeigt. Aus Beidem folgt, dass der blosse Stoff nicht Object des Wissens ist, d. h. nicht dass er über , sondern dass er unter dem Wissbaren steht , so dass er nur vermittelst der Analogie verstanden werden kann (vgl. p, 207). Wie diese letzte Behauptung au des PUtto vod^oq loyiG^ioq §. 78, 1 erinnert , so an andere Platonische Aeusserungen , wenn Aristoteles den Stoff als Grund aller Vielheit, als Mitursache und als weibli- ches Princip, bezeichnet. Auch wo er, ganz wie Pluto, zwischen Grand und unerlässlicher Bedingung unterscheidet , bedient er sich wie Jener für die letztere des Ausdrucks rnnüad-cu cog 8i' vhjv (vgl. p. 200). Eigenthümhch dagegen und der Platonischen Auf- fassung entgegengesetzt ist es, wenn Aristoteles immer die Ma- terie als övvauig (potevt'ui) d. h. als Vermögen und Anlage zum Geformtwerden nimmt, und auf den Unterschied zwischen ihr und der blossen arioriaig (dein Platonischen ^tj ov) hinweist, indem sie ein beziehungsweise Nichtseyendes sey (p. 192) , d. h. sie ist das Noch- nicht -seyeude, das Unvollendete. Weil ihr hier viel mehr Realität eingeräumt wird , als bei Pinto , deswegen findet sie auch, anders als bei Pinto, ihren Platz unter den Principien des wah- ren Seyns, in der Grundwissenschaft.

3. AVie hier die Abweichung vom Pinto, so tritt dagegen die Uebereinstimmung mit ihm besonders hervor, wo Aristoteles zum zweiten Princip übergeht. Schon in der Bezeichnung, denn anstatt fioog?)/' (formn, rniisn formnlis) sagt er eben so oft köyog und tlSog (p. 198. 335). Ja selbst naQciStiyiia kommt vor. Zum Stoffe als dem Principe der Passivität verhält sich die Form als das Deter- minirende; die Gestalt der Bildsäule, welche das Erz empfängt, das Verhältniss 1:2, in welches die Töne, die eine Octave bilden, hineingepasst erscheinen, die beherrschende Mitte welcher die Triebe unterworfen, das Ganze wozu die Theile verbunden wer- den, das Gesetz welches die Ordnung regelt, die specifische Diffe- renz welche das Genus zur Definition ergänzt, alles dies wird von Aristoteles als Beispiel des Formalprincipes angeführt, das sich also zu dem Stoff wie das n.iqaq zum ämiQov , wie das dg o zu dem i| ol verhält (p. 1070). Dass die Form welche an das

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132 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

Erz gebraclit wird , vorher in dem Künstler schon war, hat viel- leicht den Aufdruck ro xl tjv slvai veranlasst, dessen sich Aristo- teles mit Vorliebe für dies Princip bedient , den er vielleicht auch schon vorfand. (Essentia ist die Uebersetzimg die derselbe früh fand, später immer: (jund (jidd erat.) Fiel nun der Begriff des Un- bestimmten oder der Materie mit der 8vva^ig zusammen, so der der Form mit der ivi^ysia (actus), und es ist erklärlich dass in dem, vom Aristoteles beherrschten Mittelalter nicht nur die Worte formalis und actnalis gleichbedeutend waren, sondern dass der Aristotelische Grundsatz , dass ein ämiQov ivefjyeia ov eine contra- dictio in adjecto sey (u. A. p. 207) , dem unerschütterlichen Axiom zu Grunde gelegt wurde: infinit um actu non datur , welches oft geradezu als eben so unverbrüchlich bezeiehnet wird, wie das prin- cipium identitatis.

4. Der Ausdruck to odev )J -Aivrjöig , dessen sich Aristoteles, anstatt des von Plato gebrauchte aQxv «tvfjöfw?, bedient, um das dritte Princip zu bezeichnen, wechselt mit dem ro ahioi' rjjg fis- raßokijg ab, da seine Versuche die xlviiaig und fjisraßoh] streng zu sondern, fehlschlagen. Kürzer wird es auch a^xtj oder «irt« ki- vovöa (p. 1044) und jiivovv, auch aQp] rtig yeviöecjg (p. 1033) oder aQXV ^ivririK't] kuI yEvvrjriKr} (p, 742), ferner «^x*/ ^V9 7ton]öS(og (p.

192) genannt; auch tcoiovv ccI'tiov kommt vor, welches die bekannte Uebersetzung causa efficiens erklärlich macht. Wo dem Erz die Gestalt des Hermes mitgetheilt wird, ist das Princip dieser Um- gestaltung der Bildhauer. Da aber dieser den Impuls dazu von der im Geiste geschauten Gestalt empfing, so ist eigentlich diese das wahre Kivt^riHÖv und es fällt die causa efpciens mit der causa l'ormnlis zusammen. So namentlich bei dem Lebendigen ; was die Pflanze zum Wachsen treibt , ist ihr löyog. Uebrigens begreift sich schon hier, warum Aristoteles die Seele, dies Bewegungsprincip im Lebendigen, Form nannte (p. 414).

5. Auch das vierte Princip , das ov svbku oder rekog, die causa finalis , fällt mit den beiden zuletzt genannten zusammen, wenn man bedenkt , dass der Bildhauer nichts Andres bezweckt , als die Hermesgestalt. Darum kann das Hauen als das xl »}v ihm der Axt bestimmt werden, so dass also Z\veck und Form Eins wird, Zweck wieder und Beweggrund gilt ja auch uns noch als synonym. Eben darum aber fallen nun auch die Begriffe des Unbestimmten und Ziellosen zusammen und ami^ov und ax^Ug werden eben so zu Synonymen, wie es selbstverständlich wird, dass alles Vollen- dete etwas Bestimmtes und Begrenztes ist. Die ursprünglich vier Principien reduciren sich also (p. 198) auf die beiden der bvva^i^

VI. Aristoteles. Die Gniiidwissenschaft des Aristoteles. §. 87, 5. 6. 133

und ivsQyeia, welche letztere nun wegen der hineinspielenden Zweck- bestimmung ivTBXs'/Ha genannt wird (p. 415), und der Gegensatz des Vermögens und der Kraftthätigkeit , oder der Möglichkeit und Verwirklichung, ist das eigentliche Resultat der vorläufigen Unter- suchungen über die Principien. Da sie Correlata sind , so bekom- men diese Begriffe etwas FHessendes: Ein und dasselbe kann in einer Beziehung Verwirklichung seyn , z. B. der Baum des Saamens, und wieder in einer anderen Möglichkeit, z. B. einer Bildsäule. Daher werden hier die Bestimmungen erste und zweite eingeführt und u. A. die Seele, weil sie Bethätigung des Leibes ist, Ente- lechie , weil sie selbst aber im Denken sich bethätigt , erste Ente- lechie genannt. Erste also oder blosse Materie wäre, was gar nicht gestaltet, gar nicht schon etwas Verwirklichtes ist, und we- der letzte Materie wäre, was in sofern mit der Form zusammen- fällt als es nicht wieder zu einer neuen Verwirklichung Stoff ist (p. 1015. 1045). Wie hier die erste und zweite Materie, so wird sonst wohl auch nähere und weitere Möglichkeit unterschieden (p. 735).

6. Die vorstehenden Erörterungen geben die Daten zur Beant- wortung der ontologischen Frage. Zuerst zu der negativen, dass weder die blosse Materie noch die blosse Form Wesenheit oder wahres Seyn ist. Mit der grössten Entschiedenheit wird dies hin- sichtlich der vXri festgehalten und also der Standpunkt der Phy- siologen verworfen. Die blosse Materie ist ein Mittleres zwischen Seyn und Nichtseyu, ist das für die Wirklichkeit nur Empfäng- liche , blosser Keim derselben. Geschieht es einmal , dass sie We- senheit genannt wird, so wird ein beschränkendes syyvg hinzuge- fügt (p. 192). Aber auch der Form kommt kein substanzielles Seyn zu, und ein grosser Theil der Polemik gegen Plalo dreht sich darum , dass derselbe die Reahtät blosser siöt] annehme, dass er dieselben als von allem Stoffe getrennte, jenseits und ausser- halb der Vielen existirende Einfache setze, von denen es unbe- greiflich sey , wie die Kluft zwischen ihnen und dem Stoffe ausge- füllt werde , da sie nicht fähig seyen , sich selbst sinnliche Existenz zu geben (p. 990 ff. Met. M und N). Trotz dieser Polemik aber geschieht es dem Aristoteles selbst viel häufiger als hinsichtlich der Materie, dass er die blosse Form oicn'« nennt, was sich theils aus der höheren Stellung erklärt die auch er der I'orm einräumt, theils aber auch aus dem Umstände, dass das Wort ovaia sowol snbstantid als psaciiiid bedeutet, letzteres aber, wie gezeigt ward, wirklich mit der Form zusammenfie] (p. 1032). Wird der Begriff der ovöia als der wirklichen Wesenheit streng fest gehalten , so ist

134 Alte PLilosopliif!. Zweite Periode (GJaiiz).

sie als Einheit des Stoffes und der Form zu fassen , sie ist gleich- sam zusammengesetzt aus beiden, ist geformter Stoff, materiali- sirte Form, woher auch die Definition, welche die ganze Wesen- heit ausdrücken soll , eben so aus zwei Momenten zusammengesetzt ist, dem (fcnus und der dijjcrenlui, die dem Stoffe und der Form correspondiren. Diese Einheit {ßvv^iaig) beider ist nun nicht als ein ruhiges Seyn zu denken, sondern vielmehr als Uebergang, mit welchem Worte oiivi^aig um so eher übersetzt werden darf, als Ari- stoteles selbst sie ein ßadi^eiv nennt, unser W^ort Bewegung aber eigentlich nur der Art der mvrjoig entspricht, die Aristoteles cpoQa nennt. Es gibt für Aristoteles kein Reelles als das in die Wirk- lichkeit Ucbergehende , und in gleichem Gegensatze zu dem Flusse des Heraklit und dem Stillstande der Floaten ist ihm die Ent- wicklung das allein Reale. Dieser Begriff tritt bei ihm an die Stelle des absoluten Werdens. Einen Uebergang aus dem Nichts in das Seyn gibt es nicht, sondern nur aus dem Xochnichtseyn, dem Stoff oder der Anlage. (Auch wir sagen: in dem ist Stoff zu einem Dichter.) An die Stelle der Platonischen blossen For- men und Gattungen lässt also Aristoteles die Entelechien, d. h. die nicht jenseitigen unveränderhchen , sondern die sich als Kraft bethätigenden Formen, das sich besondernde Allgemeine, treten. In der Selbstbethätigung, welche so das Wesen alles Realen aus- macht, sind die beiden Momente des Bewegten und Bewegenden, des Passiven und Activen, zu unterscheiden. Jenes ist die Ma- terie, die also zu ihrem Zweck sich so hinbewegl;, wie das Eisen zum Magnet; indem der Zweck (die Form) sie nach sich zieht, benutzt er sie. Darum ist das eigentliche Princip aller Bewegung immer der Zweck und die Form, sie setzt, die Materie erleidet die Bewegung (p. 202).

7. Was von jedem wirkHch Substanziellen gilt, das natürlich auch von dem Complex alles Wirklichen, dem All. Auch in die- sem gibt es keinen Stillstand, es gibt KivQv^Bva \m^ y.ivovvxa, d.h. Zweckbethätigung. Indem aber jedes der Bewegten seinerseits wie- der die Bewegung mittheilt, muss man, wenn man nicht den AVi- dersinn begehen will einen wirklichen endlosen Progress anzuneh- men (p. 256) , auf ein Princip schliessen , welches nur bewegt ohne selbst bewegt zu werden, auf ein ngarov y.ivovv, welches als oxt- vrixov natürhch alle Materie (d. h. Passivität) ausschliesst, also civtv vk7]<; , blosse ivsQysia ist (piirus uetns). Darum liegt der letzte Grund eines Ucberganges zur Wirklichkeit immer in einem förm- lich oder wirklich Seyenden. Der Einwand, dass ein Unbeweg- tes nicht bewegen könne, vergisst, dass überall der angestrebte Zweck dies widerlegt , und dass der erste Beweger der Welt eben

VI. Aristoteles.. Dii- Grumhvissenschaft des Aristoteles. §. 87. 7. 8. 135

der Endzweck , das Beste , der Welt ist (p. 1072, 292). Damit ist nicht gesagt, dass Aristoteles seine Ursächlichkeit leugne, denn der Zweck hatte sich ja als die eigentliche emisa efßciens erme- sen (p. 198). Vor Allem ist Priucip der Zweck, ist ein Satz der bei Aristoteles öfter Vorkommt. So steht also alles Wü-kliche zwi- schen der ersten Materie, welcher Nichts, und dem ersten Bewe- genden , dem Alles zustrebt , das seinerseits fi^ei ist von allem Stre- ben und aller Bewegung. Indem dieses erste Bewegende alle l)losse Möghchkeit ausschliesst , ist es das nicht anders seyn Könnende, ist es ohne Vielheit und ohne Vergäughchkeit , Eines und ewig (p. 1072, 1074, 258). Nur weil es dies Alles ist, kann es ja ein Object des wissenschafthchen Erkeimens werden. Ist aber dieses Ziel alles Strebens ewig, so auch die Bethätigung des Strebens, die Bewegung der Welt ist ewig, wie sie selbst.

8. Aus dem bisher Entwickelten folgt aber noch Weiteres: War in jedem Wirkhchen das bewegende Princip der \6yoq gewe- sen, so wu-d das eine Alles Bewegende der Inbegriff aller \6yoi und Zwecke seyn müssen. Als solcher war seit Ana.aigords und hn Philebos auch von Pinto der voig bestimmt worden , sonst das ayct&öv. Beide Ausdrücke werden von Aristoteles gebraucht (p. 1075) um den Weltzweck und das wahre Object des Wissens zu bezeichnen, vorzüghch aber der des Anaxagoras , den er darum so sehr lobt dass er den vovg zum Princip der Bewegung gemacht und sich damit als über den frühereu Träumern stehend erwiesen habe (p. 256, 984); wie Vieles Pinto dem Ana.mfforns danke wird gleichfalls von Aristoteles angedeutet. Es fi'agt sich weiter, wie der vovg. diese eigentliche Gottheit im Systeme des Aristoteles, ge- dacht werden muss, wenn er wirklich immateriell und leidenlos seyn soll V Dächte man ihn sich handelnd oder auch künstlerisch schaffend , so wäre er durch einen Zweck ausser ihm bestimmt (p. 1177). Es bleibt also nur die schöne Müsse des theoretischen Verhaltens, das Denken, in welchem die Seligkeit, Unsterblichkeit und das ewige Leben der Gottheit besteht (p. 1072). Aber auch dies muss noch näher bestimmt werden. Eine Beschäftigung des voig mit irgend Etwas ausser ihm selbst, würde ihn beschränken; wie er nicht lieben kann , sondern nur geliebt werden , so kann er auch , ohne sich den Genuss der Beschäftigung mit dem Vollkom- mensten zu stören, nichts Anderes denken als sich selbst. Das Denken der Gottheit, ja ihr Wesen ist Denken des Denkens, im wandellosen Betrachten ihrer selbst besteht ihre ewige und reine Lust (p. 1074). Eben darum sind die Augenblicke, wo in der spe- culativen Betrachtung unser Geist sich selbst in dem Gedachten

lob Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

wieder findet, die, in welchen wir eine schwache Vorstellung von der Seligkeit haben, deren sich die Gottheit ewig erfreut. Wenn aber so die Untersuchungen über das Seyende zu dem Resultate geführt haben , dass das aller Realste , die reine Wirklichkeit und das Princip alles Wirklichen die eine ewige und absolut nothwen- dige Gottheit sey, so ist es erklärlich warum Aristoteles die Grund- wissenschaft Theologik nennt , so wie auch die letzten Bestimmun- gen über das Wesen der Gottheit eine Bestätigung sind davon, was oben (§.85, 1) gesagt war, dass die Gottheit Object und Sub- ject der philosophischen Betrachtung sey.

9. Die Bestimmung, dass der vovg als Denken des Denkens zu fassen sey, von Plato nur nahe gelegt (vgl. §. 77, 9), ist hier mit vollem Bewusstseyn und nachdrücklich hervorgehoben. Mit diesem Fortschritt hängt der weitere zusammen , dass der höchste Begriff, bei welchem die Grundwissenschaft anlangt, ausreicht um die daseyende Welt zu begreifen, es nicht ehies hinzutretenden energischen Principes bedarf, damit das Gute in die Form der Aeusserlichkeit eingeführt werde, nicht der dazwischentretenden mathematischen Ordnung, damit es an dieselbe gebunden bleibe (s. oben §.78, 2 u. 3). Beide Fortschritte sind eine Folge davon, dass die vh] anders gefasst ist, als bei Plato. Indem sie aus dem Nichtseyenden zum Nochnichtsey enden geworden ist, also ihr der Zug zum Seyn beigelegt worden, hat die Vielheit und die sinn- liche Existenz eine metaphysische Berechtigung erhalten und ist die Form, die diesen Zug auf sie ausübt, aus dem überhimmlischen Räume ihr näher gerückt. Nicht ein 'iv nuQa xa KoXka ist nach Aristoteles das £töo?, sondern ein sv Kaxa zäv noUdiv oder auch iv Toig TcoUoig. Eben darum haben nicht nur die Classen der Ein- zelwesen, sondern diese selbst, wirkliche Realität. Während Pinto in einseitiger Vorliebe für den Monisnuis der Elcaten die sinnliche Welt als (w^enigstens halbe) Scheinwelt ansieht, und nur mit Wi- derstreben Physiker wird, ja selbst dann gern Mathematiker bleibt, kommt bei Aristoteles der Pluralismus, fast bis zum Anstreifen an den Atomismus, zu seinem Rechte, und die Naturwissenschaft als Wissenschaft vom Qualitativen, darum von der Mathematik emancipirt , ist sein Lieblingsfach. Ist in diesem Allen sein Fort- schritt gegen Pldto unzweifelhaft, so bleibt er doch in einem Punkte demselben zu nahe , als dass er sich von allen Inconsequenzen be- freien könnte. Nur vermöge des stofflichen Elementes, das er in die Platonischen Ideen hineinnahm , sind diese zu wirksamen Kräf- ten geworden. Und doch wird dieses Element von dem ausge- schlossen, was das Wirklichste unter dem Wirklichen seyn soll.

VI. Aristoteles. Die Physik des Aristoteles. §. 88. 1. 137

aus der Gottheit. Er konnte nicht anders , denn die Zeit ist noch nicht gekommen, wo die Gottheit geAvusst wird als den növog auf sich nehmend, ohne welchen Gott in herzloser um Nichts beküm- merter Lust lebt, durch den allein aber Gott Liebe ist und Schö- pfer. Wie das ganze Alterthum, so ^ann auch Aristoteles den Dualismus nicht überwinden, weil er den Stoff aus der Gottheit ausschliesst , der also, wenn auch auf die blosse Potenzialität re- ducirt, ihr gegenüber stehen bleibt,

§. 88. Die Physik des Aristoteles, 1, Die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft, wie man sehr passend des Aristoteles Untersuchungen in seiner tpvaiKt] uxooaaig (p, 184 267) genannt hat, beginnen mit einer Aufzählung von Schwierigkeiten und Lösungsversuchen. Dann A^rd dazu übergegangen die Begriffe der Natur und des Natürlichen zu fixiren. Es geschieht durch den Gegensatz zum künstlich, oder gewaltsam. Hervorgebrachten und führt dazu, dass natürhch nur sey was von selbst geschieht , oder das Princip der Veränderung in sich selbst hat. War nun in der Grundwissenschaft als das eigentliche Princip der Veränderung der mit der Form zusammen- fallende Zweck erkannt, so wird die Natur eines Gegenstandes nicht sowol in seinem Stoff als vielmehr in dem Begriff und Zweck liegen, für welche jener das Material und die Voraussetzung bil- det (p. 194. 200), wie man denn auch nach der Form und dem Zweck die Gegenstände zu benennen pflegt. Wie die Natur des Einzelwesens, eben so ist auch Natur als Ganzes genommen der Complex vor Allem der Zwecke , welchen als Bedingungen die wir- kenden Ursachen dienen. Damit ist sogleich ausgeschlossen, dass es in der Natur Zweckloses gebe, was zweckwidrig ist ist eben deshalb auch wider die Natur, Zwar nicht der Zwecke bewusst, wohl aber zweckmässig wirkt die Natur, die darum nicht wie ein Gott, wohl aber dämonisch d. h. genial und instinctartig wie ein Künstler wirkt (p. 463), War nun die Bethätiguug des Zweckes Bewegung gewesen , so sind sowol die Eleaten , weil sie diese leug- nen, als die Pythagoreer, die als Mathematiker den Zweckbegriff ignoriren, nicht fähig eine wahre Naturwissenschaft aufzustellen, vielmehr ist die wahre Naturbetrachtung die teleologische. Diese schlicsst die Berücksichtigung des Causalzusammeiihanges durch- aus nicht aus, nur macht sie ihn nicht zur Hauptsache, sondern zur Mitursache und zur eoiulitio sine fjud noji (p. 642). Diese bis aufs Wort gehende Uebereinstimmung mit P/ato wird dadurch ge- ringer, dass Pinto den Zweck der Dinge ausserhalb ihrer, entweder

loo Alte Pliilosopliie, Zweite Periode i Glanz. 'i

in die jenseitigen Urbilder, oft aucli in den Nutzen des Menschen setzt, während Aristoieles nach dem ihnen immanenten Zweck forscht, sie selbst als Entelechien zu fassen sucht und die Bezie- hung auf die Zwecke der Menschen geradezu tadelt. Diese innere Berechtigung, welche er de!i sinnlichen Dingen, hängt mit der hö- heren Stellung zusammen, die er der vlri einräumt, und da sie mit dem civayKalov , dagegen das ^v mit dem Zweck eben so zu- sammenfällt wie bei Pinto, so ist es selbstverständHch , dass bei Aristoteles die wirkenden Ursachen viel mehr berücksichtigt wer- den, und er sich den Physiologen viel mehr annähert, als sein Vorgänger. Auf die vir], als das blosse Gwalnov , führt nun Ari- stoteles alle die Erscheinungen zurück, wo der Naturzweck ver- fehlt ward, die Missgeburten und alle Wunder, in welchen Er- scheinungen des Irrationalen der Zufall seine Macht zeigt. Wenn er von dem Physiker fordert, über dergleichen hinwegzugehn und sich an das zu halten, wo die Natur ihre Intentionen erreichte, so anticipirt er die Verachtung, welche zwei Jahrtausende später Baeon gegen die Possen der Natur aussprach. Uebrigens bringt Aristoteles zu oft die Begritfe der tvm und des aviö^xatov^ diese Gegensätze der zweckmässigen Ordnung, mit der menschlichen Willkühr zusannnen, als dass man nicht vermuthen dürfte, dass die Widerstandsfähigkeit des Stofflichen ihm den Anhaltspunkt zur Antwort gegeben hätte , wenn er sich die Frage nach dem Ursprung des Bösen aufgeworfen hätte. Da Zweck und Form dasselbe war, so flieht natürlich die Natur das Formlose und Unbestimmte. Das Bestimmtere ist stets das Bessere (p. 259). Von dem schon in der Ontologie entschiedenen Grundsatz , dass es ein wirkliches Un- endliches nicht gebe, wird in der Physik fortwährend Gebrauch gemacht , und überall , namentlich wo die endlose Theilung Schwie- rigkeiten bereitet, festgehalten, dass die Unendlichkeit nur mög- lich, nicht wirklich sey (p. 204). Wegen der Unmöghchkeit aller Ziel- und Maasslosigkeit zeigt uns auch die Natur nirgends un- vermittelte Extreme ; wo Etwas ins Maasslose strebt stellt sie ihm sein Gegentheil entgegen (p. 652). Die Untersuchungen, welche Aristoteles auf die über das Unendliche folgen lässt , betrefifen den Raum, das Leere und die Zeit. Die Unmöglichkeit des Leeren wird aus den verschiedensten Gründen gefolgert, vom Raum aber und der Zeit gezeigt, dass sie ohne Bewegung gar nicht denkbar seyen, indem jeder Raum als die unbewegte umfassende Grenze eines sich Bewegenden, der Raum als die unbewegte Grenze alles Bewegten, d. h. des Alls, die Zeit aber als Zahl und Maass der Bewegung, darum mittelbar auch der Ruhe, zu denken sey. Es

VI. Aristoteles. Die Physik des Ari;i;toteles. §. 88. 1. 2. 139

wird daraus gefolgert, dass es ohne zählenden Geist keine Zeit gäbe , und dass der Kreislauf der Gestirne wegen seiner Stetigkeit die beste Einheit zum Abzählen der Bewegungen abgelte, so wie dass Alles was weder durch Bewegung noch Euhe tangirt wird, das absolut Unbewegliche, nicht in der Zeit sey. Damit ist der Uebergang zu den Büchern der Physik gemacht, welche von den älteren Auslegern als die von den Bewegungen den vier Büchern von den Principien pflegen entgegengesetzt zu werden. Ignorirt mau, wie Aristoteles selbst sehr oft, den Unterschied von Wech- sel und Uebergang {n^xaßoU] und Kivrfiig) , so sind vier Arten des- selben anzunehmen, nämlich (relatives) Entstehen und Yergehn, YsveGig und goO'o^a, welches die Substanz, Veränderung, cdkolaßig, welche die Qualität, Wachsthum und Abnahme, aiit]aig und (p&iaig, welche die Quantität, endlich die eigentliche Bewegung, (pogä, welche das nov betrifft. Die übrigen Kategorien sollen überhaupt nicht auf den Wechsel, auf die Tilrrjaig im engeren Sinne auch die erste Kategorie nicht , weil es keine entgegengesetzten Substanzen gibt , anwendbar seyn. Alle die verschiedenen Formen des Wech- sels haben zu ihrer Voraussetzung die räumliche Bewegung (p. 260), die eben darum als die erste und hauptsächhchste in der Physik zu betrachten ist Sie ist ewig und geht darum allem Erzeugt- werden und Vergehen voraus. Diesen Charakter der Ewigkeit kann aber nur die in sich zurücklaufende Kreisbewegung haben, indem die geradlinichte entweder endlos und also unvollkommen oder hin und hergehend und also durch Ptuhepunkte unterbrochen wäre. Damit aber ist auch der Uebergang gemacht zur Unter- scheidung der Erscheinungen, in welchen die unvergänglichen, und derer in welchen sich die vergänglichen Bestandtheile der Welt zeigen. Diese fallen nicht mehr in die allgemeinen physikalischen Betrachtungen, sondern werden in

2. der Schrift über das Weltall, tisqI ovQavov (p. 268 313), behandelt und zwar so, dass die beiden ersten Bücher die kos- mologischen Untersuchungen enthalten. Wie Plato so versteht auch Aristoteles unter oigavög nicht einen Theil der W^elt, sondern die ganze (manchmal freilich auch nur den äussersten Umkreis des Alls) und er setzt sich die Aufgabe, das System aller räum- lichen Bewegungen in dem All darzustellen. Zunächst führt er sie zurück auf den Gegensatz der kreisförmigen Bewegung um ein Centrum, und der geradlinichten von oder zu dem Centrum. Die erstere nun kommt dem Himmel zu, diesem göttlichen Körper, der nicht aus dem geradlinicht nach oben strebenden Feuer, son- dern aus dem ewig kreisenden Aether besteht. Gründe- aller Art

140 Alte Philosophie. Zureite Periode (Glanz).

Sprechen dafüi', dass das All nur Eines ist, so wie auch unent- standen und unvergänglich, unveränderlich und nie alternd. Es ist begrenzt und von sphärischer Gestalt. Nicht als wenn es aus- serhalb seiner ein räumlich Existirendes gäbe; vielmehr ist was jenseits der äussersten Sphäre fällt, weder des Raumes noch der Zeit theilhaft und führt ein leidenloses Leben ; es ist das unsterb- liche Göttliche, dem als seinem Ziele jeder Punkt des Alls zustrebt. Eine besondere Seele , die dem All beiwohnte und es in Bewegung setzte, ist nicht anzunehmen. Der innere Rand des Unbewegten ist der Raum, der also nicht in der Welt, sondern in dem viel- mehr sie ist. Die Welt, nächst der Gottheit das Höchste und da- rum ein Göttliches , hat wie Alles was sich selbst , von Natur, be- wegt, nicht nur ein Oben und Unten, sondern auch ein Rechts und Links. Da wir uns auf der unteren Hälfte der Erde und also in der unteren Hälfte des Alls befinden, indem der Polarstern das untere Ende der Weltaxe angibt, so ist die Bewegung des Welt- alls , die uns als nach links gehend erscheint , eigenthch die nach rechts gehende. An dem äussersten Kreise , dem Fixsternhimmel, ist sie am schnellsten , daher zum Maass der Bewegungen am taug- lichsten. Innerhalb ihrer befinden sich die Planetensphären mit den denselben fest eingefügten, nicht rotirenden, Sternen, denen ausser der westwärtsgehenden Bewegung des Alls noch eine ent- gegengesetzte zukommt , wodurch sie scheinbar gegen die Fixsterne zurückbleiben. Aber noch eine dritte, ja einigen derselben sogar noch eine vierte , Bewegung muss den Planeten zugeschrieben wer- den, um die in der Erfahrung gegebnen Constellationen zu erklä- ren. Jeder der Planeten hat seinen unbewegten Beweger, anstatt dessen manchmal wohl auch von einer Seele des Planeten gespro- chen wird. Vielleicht dienten ihm, ähnlich wie dem Pluto, diese Stern geister dazu, sich mit der Volksreligion auseinander zu setzen. Die kugelförmige Erde in der Mitte des Alls steht still ; sie bildet das Centrum , ohne welches eine Kreisbewegung nicht denkbar ist. Ihr Mittelpunkt ist zugleich Mittelpunkt des Alls. Damit aber ist in dem Universum ein Gegensatz zwischen Centrum und Periphe- rie gesetzt, welcher die Grundlage bildet für die eigentlich phy- sikalischen Lehren, die Aristoteles in den zwei folgenden Büchern seiner Sclirift tisqI ovqkvov entwickelt, welchen sich, fast wie eine Fortsetzung, die Schrift nsgl yersascog nal (p&oQÜg (p. 313 338) anschliesst, so dass in beiden Schriften die Welt des Veränderli- chen betrachtet wird. Eine Widerlegung des Platonischen geome- trischen, wie des Demokritischen physikalischen Atomismus, fer- ner der Lehren des Empedokles und Annxagoras , beginnt die

VI. Aristoteles. Die Physik des Aristoteles. §. 88, 2. 3. 141

Erörterungen, welche dann dazu ilbergehn an jenen Gegensatz den der centripetalen und centrifugalen Bewegung d. li. des Schweren und Leichten zu knüpfen, den jene beiden atoraistischen Theorien eben so wenig erklären sollen wie die anderen Physiker. Alle Versuche der Erklärung führen entweder zu der widersinnigen Annahme eines leeren Raums, oder können wenigstens nicht er- klären, warum die grössere Masse Feuer mehr nach oben strebt als die geringere. Absolut leicht ist also was überhaupt, relativ leicht was mehr als ein Anderes durch seine eigne Natur nach oben strebt. Jenes tritt im Feuer, wie das absolut Schwere in der Erde, hervor, und darum fällt der Gegensatz beider sogleich mit dem des Warmen und Kalten zusammen. Sie verhalten sich wie Form und Stoff, da die Form das Umschliessende ist, das Leichte aber nach dem Umkreise strebt. Indem zu dem Gegensatz des Warmen und Kalten als der activen Priucipien, der zweier pas- siver, des Trocknen und Feuchten tritt, sind vier Combinationen möglich, die also die vier, als einfach erscheinenden, Körper sind, die bei Empcdohics die erste, hier dagegen die dritte Stelle ein- nehmen, da ihnen die Gegensätze, diesen aber wieder der ganz unbestimmte, nie für sich vorkommende, nur gewisser Massen seyende Stoff vorgedacht werden müssen. (Die Aehnlichkeit mit Anaximundros §. 24 ist augenfällig.) Ein besonders starker Ge- gensatz findet zwischen Feuer und Wasser und wieder zwischen Luft und Erde Statt , obgleich dies den Uebergang jedes Elements in jedes andere nicht unmöglich macht. So wird aus Dampf, dem Geraisch von Luft und Erde, durch Hinzutreten dei' Wärme Feuer u. dgl. Wenn die Elemente sich untereinander so innig mischen, dass sie nicht mehr wirklich sondern nur der Möglichkeit nach existiren, entstehen die complicirteren Substanzen und Dinge. Der Kreislauf solches Entstehens, dem ein analoges Vergehen ent- spricht, ist ewig wie der des Alls. Die Schiefe der Ekliptik ver- wandelt seine Stetigkeit in Periodicität , so dass Alles von Zeit zu Zeit wiederkehrt, wenn auch nicht als numerisch, sondern nur in seiner Art dasselbe.

3. Gewisser Massen ein Mittelglied zwischen den allgemein physikahschen Lehren und der besonderen Physik bilden die Mt- vttoooXoyLKä in ihren ersten drei Büchern (p. 338—378). In- dem sie die Erscheinungen betrachten, die zwischen der Region der Gestirne und der Erde vorgehn , versteht sichs ganz von selbst, dass die beiden Elemente zwischen dem Feuer und der Erde, na- mentlich als Athmosphäre und Ocean , die wichtigste Rolle spielen müssen. Die zwei Arten der Verdunstung, die feuchte und die

142 Alte Philosophie. Z-n-eite Pei-iode (Glanz).

trockne, ar/tt/g und avad-vfitaaig , dienen dazu nicht nur alle wässe- rigen Niederschläge, sondern auch die Winde, die elektrischen Erscheinungen , die Erdbeben u. s. w. zu erklären , kurz Alles was in die mit Dämpfen geschwängerte Athmosphäre fällt, wozu Ji'i- sloteles nicht nur die Sternschnuppen, sondern auch die Kometen rechnet. Schleiermacher hat Recht, wenn er sich wundert, dass in dieser Partie Ihrahlif nicht als Gewährsmann angeführt wird. Oberhalb der Athmosphäre bis zu den Gestirnen hin, ist es weder Feuer noch Luft, das angenommen wird als das den Eaum erfül- lende, sondern etwas Reineres als beide. Das vierte Buch der MiTEcoQoXoyiyiä (p. 378 390), das schwerlich geschrieben wurde um mit den drei anderen ein Ganzes zu bilden, enthält Untersu- chungen , welche den üebergang zum Organischen vermitteln. Sie betrefifen nämlich die durch Kälte und Wärme bewirkten Verände- rungen des Feuchten und Trocknen, die sich im Schmelzen, Sie- den, Austrocknen, eben so aber auch in der Erzeugung, Verdau- ung, im Reifen und der Verwesung zeigen sollen , und gehen dann zu denjenigen Substanzen über, welche Aristoteles die gleichthei- ligen {o^oio^tqrt) nennt, worunter er Mischungen versteht, die so innig sind dass, wie weit man auch mit der mechanischen Thei- lung gehe, man stets dem Ganzen gleichartige Theile hat. Mau denke an Holz- oder Knochensubstanz und dergleichen. Obgleich es vorkommt, dass auch Wasser ein o,aoto|it£^£'? genannt wird, so ist im Ganzen doch darunter ein Solches zu vcrstehn, welches einerseits (primäre, secundäre u. s. w.) Mischung von Elementen, namenthch des Wassers und der Erde , andrerseits aber noch nicht ein Gegliedertes ist wie das Antlitz, das zerschnitten nicht aus Antlitzen besteht. Alle Metalle unter Anderem gehören zu dem Gleichtheiligen. Diese Art von Substanzen bildet nun den Stoff und das Material, aus welchem das avo^oio^uQE?, das aus verschie- denen Gliedern zusammengesetzte Organische sich bildet.

4. Die Biologie des Aristoteles ist besonders in den beiden ersten Büchern seiner Schrift m^X fvi^jg (p. 402 424) entwi- ckelt. Die materielle Bedingung des Lebens ist ein nicht gleich- theiliger sondern organischer, d.h. aus Gliedern zusammengesetz- ter Körper, der sich von einer Maschine dadurch unterscheidet, dass sie durch Kunst, er dagegen von Natur organisch ist. Die- ser allein aber gibt noch kein Lebendiges, denn ein Leichnam wird nur uneigentlich Thier oder Mensch genannt. Sondern es muss dazu kommen der diesem Organismus immanente Zweck, welcher den , der Möglichkeit nach lebenden , Körper zum wirklich lebendigen macht, Lebensprincip oder Seele ist also die Entelechie

VI. Aristoteles. Die Physik des Aristoteles. §. 88, 4. 143

(Function) eines von Natur organischen Körpers. Die Seele als die Form und der immanente Zweck des Leibes ist daher weder Leib, noch ohne Leib denkbar, sie ist für den Leib was das Se- hen für das Auge und eine Trennung beider, oder gar eine Ver- bindung mit einem andern Leibe, ist eben so unmöglich , wie dass sich Flötenkunst in Ambosen oder Schraiedekunst in Flöten be- thätige. Die Seele selbst aber bethätigt sich weder , und da diese ihre Bethätigungen , das Empfinden u. s. w. sich zu ihr wieder wie Energien, Entelechien, verhalten, heisst sie erste Entelechie des Leibes. Ihre Functionen bilden eine Stufenfolge , indem die nie- deren als Voraussetzungen der höheren in diesen enthalten sind wie das Dreieck im Vieleck. Die allerniedrigste Äeusserung einer Seele, und deswegen auch bei der niedrigsten Form des Lebens vorhanden , ist das »genriKÖv , d. h. Ernährung und Fortpflanzirag. Diese fehlt selbst bei den Pflanzen nicht, die zwar beseelt sind und leben, aber weit unter den Thieren stehn. Unter Anderem auch deswegen, weil sie nur den für die Ernährung nothwendigen Gegensatz von unten und oben, d. h. Mund (AYurzel) und Abson- derungs- oder Fortpfianzungsorgan ( Blüthe) zeigen , nicht aber den von vorn und hinten, rechts und links. (Ein eignes Werk über die Pflanzen hat Aristoteles nicht geschrieben oder es hat sich nicht erhalten. Xur vereinzelte Bemerkungen finden sich, wo ihr Unterschied von den Thieren zur Sprache kommt.) Zu dieser un- tersten Lebensstufe tritt nun bei dem Thiere die sinnliche "Wahr- nehmung hinzu, mit dieser aber, da das Fühlen, das die Grund- lage alles ^Yahrnehmens bildet, Lust- und Unlustempfindungen gibt, ein Trieb die letzteren loszuwerden, so dass also das «jg^?;- Tixov und oQSKxiTiöv bei allen, das aivririKov x.kt« t6v xötiov bei den meisten Thieren vorkommen muss. Mit dem ersteren dieser Mo- mente bekommt der Gegensatz von vorn (d. h. Sinnen seite) und hinten, mit dem zweiten der von rechts (d. h. Hauptseite) und links eine Bedeutung. Bei dem Menschen als dem vollkommensten Wesen fällt, da er aufrecht steht, sein oben und unten mit dem der Welt zusammen. Es werden nun die einzelnen Sinne sehr ausführlich diu'chgenommen und die feinere Ausbildung des Tast- sinns bei dem ^lenschen wird mit seiner grösseren Vernünftigkeit in Zusammenhang gebracht Hier ist die Schrift 7t£^\ aia^^- c£w? y.al aia&riTüv (p. 436—409) ZU vergleichen. Allen Sin- nesempfindungen ist dies gemeinschaftlich, dass darin die Form des Gegenstandes ohne Materie percipirt wird , dass Bewegung da- bei mit im Spiele ist, und dass durch ein Medium auf die Sinnes- organe einge\\irkt wird. Auch Geschmack und Tastsinn machen

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hinsichtlich des letzteren keine Ausnahme , da ihr eigentliches Or- gan sich in der Herzgegend befindet. Durch den Gemeinsinn neh- men wir wahr, dass wir empfinden und vermögen wir die Empfin- dungen mehrerer Sinne auf einen Gegenstand zu beziehn. Das periodisch eintretende Aufliören aller Sinnesempfindungen ist der Schlaf, der eben deswegen bei allen Thieren vorkommt. Die Spu- ren der Wahrnehmungen sind Vorstellungen, das Bewahren der- selben Erinnerung fti'?/V?j. Von ihr, die auch bei den Thieren vorhanden, ist zu unterscheiden die, mehr combinirende , Wieder- erinnerung ai'dixin]Gic , die nur der Mensch hat. Es verhält sich mit dieser Steigerung wie mit der des Triebes, der bei den nie- deren Thieren nur Begierde , bei den vollkommneren auch Gemüth (d-vfiog), bei den Menschen ausserdem auch noch Wollen ist.

5. An die Untersuchungen im zweiten so wie am Anfange des dritten Buches der Schrift über die Seele, schliesst sich das an, was Aristaldes in der Zoologie geleistet hat. Die neun Bü- cher seiner Thiergeschichte {tc^qX '^cpa laroQiai, p. 486—638) (das zehnte gehört ihm nicht an) sind bestimmt, das historisch gege- bene Material übersichtlich zu ordnen, enthalten aber ausserdem eine Menge Bemerkungen von nachlialtiger Bedeutung für die phi- losophische Naturbetrachtung. Vor Allem ist hervorzuheben der Grundgedanke der späteren vergleichenden Anatomie, dass die zu einem Typus gehörigen Organe, selbst wo äussere Umstände sie unnütz machen , wenigstens als Rudiment vorkommen , ferner dass der Bau des menschlichen , als des vollkommensten , Leibes bei der Betrachtung des thierischen zur Orientirung stets im Auge behal- ten werden müsse u. a. m. Die Eintheilung in Säugethiere , Vö- gel, Fische und Amphibien, Insecten. Schaalthiere , Weichschaal- thiere und Weichthiere , wo die ersten vier Klassen als lilutfüh- rende, die letzten vier als blutlose Thiere zusammengefasst wer- den, ist Epoche machend geworden. Nicht nur Vorarbeiten zu einer Philosophie der lebendigen Natur, sondern diese selbst ent- hält die Schrift tieqI ^aav ixoqicov (p. 639 697), das, in sei- nem ersten Buche methodologisch, in den folgenden eine Organo- logie enthält, die durchweg teleologisch gehalten ist, ohne dass die Rücksicht auf die wirkenden Ursachen , namentHch bei der Er- klärung mehr accidenteller Unterschiede vernachlässigt würde. Der Unterschied der aus homoiomerischen Stoffen gebildeten Sinnes- werkzeuge, und der aus ungleichtheiligen geformten übrigen Or- gane , ein Gegensatz der auf das Herz , wegen seiner Bestimmung, keine Anwendung findet, die Bedeutung welche dem Blute beige- legt wird, aus dem sich der ganze Organismus zuerst bildet und

VI. Avistoteies Die Physik des Aristoteles. §. 88. '■. 6. 145

von dem er später sich nährt , sind besonders zu erwähnen. An diese Schrift schliessen sich dann die kleineren Abhandlungen über die Bewegung der Thiere, über den Gang derselben, und die grös- sere Schrift 71 £o) ^Mfoi' yfvsaecog (p, 715 789), so wie einige andere Abhandlungen in den Parvfs iwtnraUbvs. Die Fortpflan- zung wird als das Mittel gefasst, wodurch Pflanzen und Thiere, die als Individuen dem Tode verfallen , der Unsterblichkeit, wenig- stens der Gattung, theilhaft werden. Eine Stufenfolge der Erzeu- gung wird angenommen , in welcher die univoke vor der äquivoken den Vorzug hat, die durch Trennung der Geschlechter vermittelte die höchste Stelle einnimmt. Das , überhaupt unvollkommnere, Weibliche liefert in den Katamenien den Stoß", das Männliche durch den, einen Aether-ähnlichen Hauch enthaltenden, Saamen die Form. Wie bei der Erzeugung, so ist auch bei dem Erzeugten die leibliche Seite auf das mütterliche, die seelische auf das väter- liche Princip zurückzuführen. An die Lehre von der Erzeugung, die je nach Verschiedenheit der Thierklassen verschieden ist, schlies- sen sich Betrachtungen über die Entwickelung des Fötus, so wie über das Erwachsen und Reifen des Geborenen. Mit diesen hän- gen die über Länge und Kürze des Lebens, über Jugend und Al- ter, Leben und Tod so genau zusammen, dass man sich nicht wundern darf, wenn Artstote! rs diese kleinen Abhandlungen in den Parris natnrcüihvs. als Abschluss dessen bezeichnet, was über die Thiere zu sagen sey (p. 467).

F. N. Titze Aristoteles über die wissensch. Behandlung der Naturkunde. Prag 1819.

6. Die Anthropologie im eigentlichen Sinne , d. h. das was den Menschen specifisch von allen Thieren unterscheidet, wird im drit- ten Buche der Schrift von der Seele (p. 424— 435) abgehandelt. Dieses Unterscheidende ist der vovg, der nicht nur eine Steigerung des an die Organe gebundenen Lebensprincipes ist, sondern der, weil mit ihm eine ganz neue Reihe von Erscheinungen beginnt, ein Göttliches genannt werden kann, das zu den blossen Seelen- thätigkeiten hhizutritt. Daher der Ausdruck ^vq^AHv (p. 736). Durch ihn modificirt sich in dem Menschen Alles , was er mit den Thieren gemein hat, auf eigenthümliche Weise. Seine Bewegungen z. B. gehn aus Vorsatz und vernünftiger Berathschlagung hervor, seine Wahrnehmungen und -Vorstellungen sind mit Fürwahrhalten oder Gewissheit begleitet u. s. w. Nur der voü? ist , weil mehr als eine Function des Leibes , von diesem trennbar {imQiaxög) , unver- gänglich und ewig. Dies aber leidet eine Beschränkung. Wie in Allem, so ist nämlich auch im Geiste ein Doppeltes zu unterschei- den, das Vermögen und die Kraftthätigkeit , und da jenes das

Eidniuiia Gesch. d. Phil. 1 1/)

146 Alte Philosopliie Zweite Periode (Glanz).

Princip des Leidens gewesen war, so wird demgeniäss ein leiden- der und ein tliätiger vovg unterschieden , welcher letztere der alles Leidens ledige ist. Der erstere, TTa&ijziaog^ welcher auch vom Den- ken dasjenige befasst, was an "Vorstellungen und also zuletzt an Wahrnehmungen gebunden ist, das empirische Denken, ist nicht unabhängig von den Organen und darum ist er mit seinen Erin- nerungen u. s. w. vergänglich wie die Organe. Zu ihm verhält sich als der königliche Beherrscher der vovi; jtoi,tiTr/,6g , der, da er gewisser Maasseu selbst das ist was er erkeinit, von nichts An- derem bestimmt, ganz frei, ist. Dieser ist unsterblich und ewig. Dass es dieser thätige Geist ist , der in den Augenblicken der spe- culativen Beschäftigung im Menschen fungirt, darüber kann kein Zweifel Statt finden. Dagegen sehr viele über die Grenzen zwi- schen dem thätigen und leidenden Geiste. Noch mehr über das Verhältniss des ersteren zum göttlichen. Dafür dass nur der göttliche Geist ganz frei von allen Leiden, darum reine Kraft- thätigkeit und unsterblich sey, dass er nur für die Zeit des irdi- schen Lebens mit dem einen Individuo, nach dessen Tode mit einem anderen, verbunden sey, und daher nur von seiner, nicht aber von der ünsterbhchkeit der Einzelpersöulichkeit die Rede seyn könne , dafür kann man sich auf die älteren Aristoteliker be- rufen. Andrerseits haben V^iele, so unter den Neueren SviieU'my, Bruiidh u. A., auf Aeusserungen des Aristoteles Gewicht gelegt, welche den thätigen Geist als persönlich bestinnnt zu fassen schei- nen, woraus sich dann die persönliche Unsterblichkeit von selbst ergibt. Vergleicht man den Standpunkt des Aristoteles mit dem des Pinto und bedenkt, dass es diesem letzteren gewiss Ernst war mit der persönlichen Unsterblichkeit, so wird die Präsumtion dafür bei Aristoteles, bei dem das Einzelwesen ja viel mehr berech- tigt erscheint als bei Pluto . noch grösser seyn müssen. Freilich, wie er sich die Unsterblichkeit gedacht hat, ist, da er ausdrück- hch Erinnerungen , Vorstellungen u. s. w, als vom Körper abhängig und vergänglich bezeichnet , nicht zu entscheiden , und nur dies zu behaupten, dass die theoretische, speculative, Natur des Gei-. stes als die eigentliche und darum unverlierbare gefasst wird.

7. Dass Aristoteles, hätte er eine ausführhche Darstellung der Mathematik gegeben, dieselbe hinter die Ontologie gestellt hätte, versteht sich. Aber auch die Physik muss, worauf auch der Name der zweiten (nicht dritten) Philosophie hinweist , vor die Mathematik gestellt werden, da sie ihre naturgemässe Voraussetzung bildet. Nicht nur ist der Raum, dieser Grundbegriff der Mathe- matik, in der Physik entwickelt, sondern alle mathematischen Be-

VI. Aristoteles. Die Ethik des Aristoteles. §. 89. i. 147

gi'ifife entstehn dem Aristoteles nicht, wie uns, durch eine Con- struction <i prlofi , sondern durch Abstraction von dem Sinnlichen i| a(pai^£G£(og , SO dass sie ihm nicht, wie die ontologischen , etwas wirklich vom Körperlichen Getrenntes bezeichnen, sondern Solches was die Mathematilier nur so ansehn. Natürlich polemisirt daher Aristoteles gegen die, welche die Mathematik an die Stelle der Grundwissenschaft stellen wollen. Der Gegenstand der Mathematik ist das Quantitative. Dieses aber ist , je nachdem es zählbar oder messbar, Menge oder Grösse, womit der Unterschied zwischen Arithmetik und Geometrie gegeben ist. Die eine hat es mit Un- räumlichem, die andere mit Räumlichem zu thun. Eben darum wird auch das erste Element beider, der Punkt und die Einheit, so definirt, dass jener ^lovag d^iaiv f/ovaa , diese arly^nj K&etog sey, Definitionen, welche durch die, den Alten gewöhnliche, Verbindung des geometrischen und arithmetischen Verfahrens nahe gelegt wer- den, l'nter den vielen Unterschieden zwischen Tiltj&og und jxiys&og wird unter anderen auch angeführt, dass es im Gebiete der Men- gen kein Grösstes gebe , wohl aber ein Kleinstes , die Einheit, wäh- rend in dem andern es kein Kleinstes (Atom) , wohl aber ein Gröss- tes (den Raum) gebe. Gründliche Untersuchungen über Continuität undDiscretion, freilich mehr hn physikalischen als mathematischen Interesse, linden sich im siebenten Buche der Physik. Ausser dem, was die reine Mathematik betrifft, findet mau in des Ari- stoteles Schriften auch Winke über die angewandten Theile der- selben, so über Optik, über Mechanik oder die Kunst die natür- lichen Schwierigkeiten zu überwinden u. s. w.

§• «^J- Die Ethik des Aristoteles. 1. Ganz wie Plato, der eben deswegen seine Ethik unter den Ueberschriften Staatsmann und Staat abgehandelt hatte, so ist auch Aristoteles überzeugt, dass der Mensch seine sittliche Be- stimmung nur im Staate erfüllen kann, dessen er nicht entbehren kann, weil er kein Gott ist, und von dem sich lösend er zum bösartigsten und gefährlichsten Thier wii-d. Eben darum nennt er sehr oft alle Untersuchungen über die Tugend staatsmännische (p. 1094). Dies aber hindert ihn nicht, zuerst Untersuchungen anzustellen über die, freilich nur im Staate ganz zu realisirende, Besthnmung des einzelnen Menschen , und über die subjective Be- schaffenheit, die zu solcher Realisation erforderlich ist. Diese sind niedergelegt in den zehn Büchern, die er selbst wiederholt als seine 'H^iKa (p. lu94— 1181) citirt. Sie verhalten sich zu der Politik im engeren Sinne , wie der allgemeine Theil zum augewaud-

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148 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz). >

ten. In dem ersten Buche (p. 1094 1103) wird zuerst die Auf- gabe so fixirt , dass nicht sowol die Idee eines absolut Guten auf- gestellt , als vielmehr dargestellt werden solle , welches erreichbar ist, dass eben darum auf zufällige Umstände, kurz auf Veränder- liches , Rücksicht genommen und also auf wissenschaftliche Strenge verzichtet werden müsse. Da die Ethik als Wissenschaft nur das Warum zu dem Dass finden will, so versteht sichs von selbst, dass zu ihrem Verständniss die innere Erfahrung, dass dies oder jenes gut sey, die Vorbedingung bildet. Zuerst ist die Frage zu beantworten : welches ist das höchste durch unser Handeln erreich- bare Gut? Die Uebereinstimmung Aller, zugleich der Doppelsinn in dem Ausdruck sv jigaTTsiv bringt den Aristoteles dahin, nicht weiter zu bezweifeln, dass die Glückseligkeit, svöaifiovla, dieses Gut sey. Die neue Schwierigkeit, dass unter diesem Worte der Eine Lust, der Andere praktische Thätigkeit namentlich im Staate, ein Dritter Weisheit versteht, wird vorläufig damit beseitigt, dass diese drei sich nicht ausschliessen. Im zweiten Buche (p. 1103 1109) wird untersucht, durch welche Thätigkeit jenes Ziel erreicht wird, d. h. worin die Tugend besteht? Da jenes Ziel ein menschliches, so kann sie nur in einem specifisch menschlichen Thun bestehn, darum nicht im Vegetiren oder Leben, sondern in der Bethäti- gung des Vernunftwesens als solchen. Wenn nun in dem Men- schen die doppelte Seite der, dem Thierischen verwandten na&t}, d. h. der mit Lust und Unlust begleiteten praktischen Zustände, und der Vernunft unterschieden werden muss, so ergeben sich daraus zwei Klassen von Tugenden: einmal die ethischen Tu- genden, d. h. solche die in der Herrschaft der Vernunft über die sinnhchen Triebe, zweitens solche die in der Belebung und Stei- gerung der Vernunft bestehn. Die letzteren , die dianoetischen Tugenden, werden zunächst bei Seite gelassen und, in Ueberein- stimmung mit Pfato . der das Gute als cvfifisTQov gefasst hatte, gezeigt, dass wenn die Tugend dadurch entsteht, dass an die na- türlichen Triebe, als Material, der ogO-Sg Xoyog, als determinirende Form, gebracht wird, eine Mitte zwischen Extremen daraus her- vorgehn muss. Diese ist nicht von Natur gegeben, sondern aus dem Vorsatz hervorgegangen, auch nicht eine, die nur einmal vor- kommt, sondern durch Wiederholung Gewohnheit und bleibender Zustand geworden ist. Kurz, die Tugend ist s'§ig nQoctiQrixixTt] h lisaoTrjTi Tivi ovßa, WOZU noch um die individuelle Verschiedenheit zu wahren: rrj rcQog vjfxag hinzugesetzt wird. Der in diese Ent- wicklung hineingezogene Begriff des Vorsätzlichen bringt dazu, im dritten Buche (p. 1109— 1119) denselben so wie die verwandten

VI. Aristoteles. Die Ethik des Aristoteles. §. 89, 1. 149

Begriffe des Freiwilligen und Unfreiwilligen , des Versehns und der Absicht genauer zu erörtern, wobei Aristoteles direct gegen So- krates poleniisirt, der die Freiheit geleugnet, indirect gegen Ptato, der sie nicht entschieden genug behauptet hatte. Dann folgt im vierten Buche (p, 1119 1128) die Tafel der (ethischen) Tugen- den, deren stillschweigend vorausgesetzte psychologische Grund- lage die verschiedenen Formen der Selbstliebe und der Neigung zu seyn scheinen. Zu den Platonischen Tugenden der Tapferkeit und Massigkeit treten Liberalität, Hochherzigkeit, Ehrliebe, Milde, Offenheit, Artigkeit, und werden, nicht wie hei PI ato einem, son- dern je zwei Extremen entgegengestellt als Mitten . nicht zwischen, sondern über ihnen. Dass die Gerechtigkeit abgesondert im fünf- ten Buche (p. 1129 1138) abgehandelt wird, hat seinen Grund theils darin, dass Aristoteles sich nicht davon losmachen kann, sie mit Plato als die Grundlage aller ethischen Tugenden zu fas- sen, theils wieder dass durch die formelle Begriffsbestimmung, die sie erhält, sie den Uebergang zu bilden scheint zu der zweiten Klasse der Tugenden, theils eudhch dass durch ihre Beziehung zum Gesetzgeber sie überhaupt über die Tugendlehre hinausweist. Uebrigens ist die mathematische Formulirung des Gerechtigkeits- begrifts in dem, der geometrischen und arithmetischen Proportion entsprechend, die vertheilende und ausgleichende Gerechtigkeit die Arten bilden, ein Beweis wie trotz seiner Polemik gegen die Py- thagoreer gerade in diesem Punkte , Aristoteles die Natur des Al- les zusammenfassenden Philosophen auch hinsichtlich ihrer nicht verleugnet. Wie der Begriff der Gerechtigkeit, so weist noch mehr der der Billigkeit, als der Ergänzung des gesetzlich Bestimmten, auf Staatsverhältnisse hinüber. Das sechste Buch (p. 1138 1143) ist den dianoetischen Tugenden gewidmet. Nicht sowol eine auf ausgesprochenem oder vorausgesetztem Theilungsgrunde beruhende Darstellung disjuncter Glieder, als vielmehr eine Stufenleiter der Auffassungen der Wahrheit wird hier gegeben, und dem unmittel- bar das Wahre ergreifenden vovg der Vorzug vor Allen eingeräumt. Die Weisheit , wie sie befasst was er und was die beweisende Wis- senschaft lehrt, ist die wahre Glückseligkeit und das eigentliche Ziel des menschlichen Strebens. Für das praktische Leben aber ist von mehr unmittelbarer Wichtigkeit die Vernünftigkeit und Wohlbera- thenheit {(pQovriöis und evßovUa) , die beide auf das Einzelne gehn. Durch sie wird selbst die Kunst zu einer Tugend (Virtuosität?) und wird allen niederen Stufen der Weg zur Weisheit gewiesen als zu dem Ziel, das nur Einzelne in einzelnen Momenten erreichen. Das siebente Buch (1145—1154) untersucht die Zustände, wo die

150 Alte Philosophie. Zweite Periode (GlanzV

gewöhnlichen menschlichen Tugenden aufhören, die Verthierung, wo der Mensch gar kein Gesetz mehr gelten lässt, und die he- roische Tugend, wo er sich über das Gesetz, das nur dort gilt, wo Ungerechtigkeit ist, erhebt und sich selber Gesetz ist. Aus- serdem werden die Zustände der Abhärtung und Enthaltsamkeit nebst ihren Gegensätzen in einer Weise erörtert, die es zw^eifel- haft erscheinen lässt, ob sie wirklich Tugenden zu nennen sind oder etwas den Tugenden nur Aehnliches. Es schliesst sich daran eine Untersuchung über die Lust an, welche sowol wegen der Stelle die sie einnimmt, als auch wegen ihres Inhalts den Kriti- kern verdächtig geworden ist. Das achte und neunte Buch (p. 1155—1172) enthalten eine Abhandlung über die Freundschaft, die, so viel Treffliches sie auch enthält, doch so wenig mit dem Vorhergehenden und Nachfolgenden zusammenhängt, dass es be- zweifelt worden ist, ob sie überhaupt dem Aristoteles angehört, oder auch, ob sie bestimmt gewesen sey der Ethik einverleibt zu werden. Ausser dem Verhältniss zu Freunden kommt hier auch das zu sich selbst zur Sprache und wird dabei hervorgehoben, dass der G7cov6ciiog 6(.toyvoa^ovH savtco , Während der q)avkog im Wider- spruch mit sich selbst stehe und sich befeinde, eine Formel, die ganz mit der späteren stoischen (s. §. 97, 4) übereinstimmt. Das zehnte Buch (p. 1172 1181) kehrt wieder zu der Frage nach der Glückseligkeit zurück. Die ersten fünf Capitel enthalten eine Abhandlung über die Lust zu der die sitthche Handlungweise werden, und welche jede Tugend begleiten muss; dann wird zur höchsten dianoetischen Tugend zurückgekehrt und abermals die contemplative Weisheit als die höchste Glückseligkeit gepriesen, der freilich nur der reine Geist theilhaft werden kann, nicht die, durch ihre sinnlichen Triebe an den Leib gebundene Seele. Wenn in der Ethik des Aristoteles Vieles abgehandelt wird, was nicht zu den ethischen Tugenden, zu denen sich P/r//o'.v Tapferkeit und Massigkeit entfaltet hatten, noch auch zu den dianoetischen (Pla- io's Weisheit) passt , so kann auch hierin wieder eine Bestätigung dazu gefunden werden , dass er in sein System Alles aufgenommen habe, was die früheren geleistet hatten. Das Gestähltseyn gegen Schmerz und Genuss, welches die Kyniker so hoch stellten, tritt hier als Enthaltsamkeit und Abhärtung hervor, Anklänge an das Aristippische wird man anerkennen müssen in den Aeusseruiigen über die Lust und über die Freundschaft, so weit sie auf Genuss und Nutzen abzielt. Zu der negativen Bestimmung des Aristote- les ^ dass dies Alles nicht zu den ethischen und dianoetischen Tu- genden gehöre, so wenig wie der mehr physische Zustand der

"^^. Aristoteles Die Politik les Aristotfle? §. 89, -2. 151

Scliaam, haben Spätere die, sehr nahe liegende, positive Ergän- zung gefügt, es gebe eine dritte Klasse von Tugenden, die phy- sischen, d. h. körperlichen, als deren eine übrigens Aristoteles selbst die Gesundheit angeführt hatte (p. 408).

2. Der Schluss der Aristotelischen Ethik zeigt deutlich, dass seine UoXiriy.ä (p. 1252—1342) nicht sowol einen andern Ge- genstand , als denselben unter einem andern Gesichtspunkt betrach- ten sollen.- Es handelt sich nämlich darum, mit Hülfe kritischer Vergleichung der verschiednen Staatsformen die zu finden, in wel- cher der Mensch am Tugendhaftesten seyn kann. In dem ersten Buche (p. 1252—1260) wird als auf die einfachsten Bestandtheile des Staats auf die Verbindungen zurückgegangen, welche durch Mann und Weib, als die nicht ohne einander leben können, ent- stehn, also auf das Haus. Zu dem Hausrath, ohne welchen ein Haus nicht bestehen kann, rechnet Aristoteles auch die Sklaven, denen, weil sie innerlich unselbstständig sind, nur ihr Recht ge- schieht wenn sie als solche behandelt werden. Hellenen zu Skla- ven zu machen erscheint ihm darum , ganz wie Pldio . als ein Unrecht. Das Weib dem Sklaven gleich zu stellen ist nach ihm die Weise barbarischer Völker. Durch die Kinder vollendet sich der Hausstand und fasst dann in dem dreifachen Verhältniss des Hausvaters zu Weib, Kind und Sklaven, ein Abbild des republi- kanischen, königlichen und despotischen Lebens in sich. Durch Verdienen und Verwalten des Verdienten erhält sich das Haus. Die Winke, welche Aristoteles hinsichtlich beider Thätigkeiten gibt, sind von Späteren in den, ihm zugeschiiebenen , OiKovou.iy.otg aus- gesponneu. Landbau, Handel und die z\\ischen beiden liegende Lohnarbeit des Handwerkers gehören zur erwerbenden, das Be- herrschen der Sklaven, Erziehen der Kinder, Leiten des Weibes zur verwaltenden Thätigkeit. Wie aus mehreren Hauswesen die Gemeinde, so entsteht aus mehreren Gemeinden der Staat, zu welchem der Mensch, wie schon die Sprachfähigkeit zeigt, von Natur bestimmt ist und welcher, wenn auch sein Ursprung durch das Bedttrfuiss bedingt war , doch nicht bloss Sache der Noth ist, denn sonst könnten auch Thiere oder Sklaven einen Staat bilden, auch nicht bloss Sicherheitsanstalt wie ein Schutz - und Trutzbünd- niss, sondern zu seinem Zweck und Princip das glückhche und tugendhafte Leben hat, und der das prius für Haus und Gemeinde so ist. wie überall das aus den Ghedern bestehende Ganze für diese, weil es sie erst zu Gliedern macht. Das ganze zweite Buch (p. 1260—1274) ist einer Kritik theils politischer Theorien, theils bestehender Verfassungen gewidmet. Namentlich wird P/t/-

152 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz.)

to's Theorie erörtert und ihm der Vorwurf gemacht, dass, indem darin die Selbstständigkeit der Glieder des Staats nicht gehörig beachtet werde, die (communistischen) Vorschläge eine Menge von Tugenden , welche den Privatbesitz und eignen Hausstand voraus- setzen, unmöglich machen. Im dritten Buche (p. 1274 1288) wird der Staat definirt als eine Gesammtheit von Bürgern, unter einem Bürger aber Einer verstanden, der, im Gegensatz zum Skla- ven, um des Guten willen zu befehlen und zu gehorchen weiss und, in gleichem Gegensatz, Theil hat an der berathenden und richtenden Thätigkeit. Eine mittlere Stellung zwischen dem Bür- ger und dem Sklaven wird dem angewiesen, der als Sklave des Publikums Lohnarbeit thut, dem ßävuvßog. Da die Bürgertugend darin besteht, dass Alles für die Staatsverfassung gethan wird, so führt die Frage, ob der gute Bürger nothwendig tugendhaft sey, auf die nach der besten Verfassung. Nur die kann auf den Kamen einer guten Anspruch machen , welche das Wohl der Bür- ger bezweckt und in welcher das Gesetz herrscht. Beides kann nun Statt finden sowol bei der ßaoikeia als der aQiaroHQCitla , als endlich der noXixtia, welche eben darum als gute Verfassungen bezeichnet werden, deren jede, je nach der verschiedenen Beschaf- fenheit der Gheder eines Staats , die zweckmässigste seyn kann. Jede derselben kann, indem anstatt des Wohls des Staates das des Machthabers angestrebt wird, ausarten und die jenen drei entsprechenden TtaQSKßäasig sind die rv^awig, die ohya^iia und die 6r]iKoy.qaxia. Gründe und Gegengründe für den Vorzug der einen oder der andern dieser Verfassungen werden aufgezählt, dabei aber hervorgehoben, dass wo einmal eine Alles überragende Gott gleiche Heroentugend hervortrete, das demokratische Mittel des Ostracismus unsitthch, und die Unterwerfung unter einen solchen König das Beste sey. Im natürlichen Zusammenhange mit dem dritten Buche steht, wie seit den gründlichen Untersuchungen von BnrtJiefemy Sf. flilairc und S])en(/el die Meisten zugeben, nicht das vierte, sondern das siebente und achte Buch (p. 1323 1342). Es werden darin die Bedingungen erörtert, unter welchen die Bürger eines Staats der wahren Glückseligkeit theilhaft werden können , indem die persönliche und Bürger- Tugend ganz Eins wer- den. Unerlässhche Naturbedingung ist eine gewisse Beschaffenheit des Landes, Nähe des Meeres, nicht zu dichte noch zu dünne Bevölkerung, ein gewisses mit der geographischen Lage zusam- menhängendes Naturell der Bewohner, alles Umstände, die in Griechenland sich vereinigen. Für weiter Unerlässliches hat die Gesetzgebung zu sorgen. Sie regelt die Eigenthumsverhältnisse :

VI. Alistoteies Die Politik des Aristoteles. §. 89, 2. 153

neben den Staats- gibt es Privat -Lcändereien, beide von Sklaven, bearbeitet, da die Bürger ihre Zeit frei haben müssen. Eben so sorgt das Gesetz dafür , dass aus der jüngeren Generation gute Bürger hervorgehn. Schon die Eheschliessungen stehen unter dem, nur prohibitiv eintretenden, Gesetz. Mehr noch die Erziehung. Mit dem achten Jahre wird diese Sache des Staats. Zuerst ist sie mehr physisch. Gymnastili bewirkt Enthaltsamkeit und Abhär- tung, Musik feine Gesittung (Schaamhaftigkeit?). Vor Allem muss auf die Ausbildung der Gerechtigkeit und Mässigung hingearbeitet werden, da die Tapferkeit nur für die Kriegs-, die theoretische Weisheit nur für die Friedens -Zeit einen Spielraum findet, jene beiden aber immer. Alle Bürger sind in ihren verschiedenen Le- bensaltern Schützer des Staates nach Aussen und Bewahrer des Rechts nach Innen. Also keine Krieger- wie überhaupt keine Kaste. In dem vierten Buche (p. 1288—1301) wird nun An- stalt gemacht zu finden, bei welcher der verschiednen Verfassun- gen die eben auseinandergesetzten Forderungen erfüllt werden kön- nen. Hier kommt nun auch das eigentliche Eintheilungsprincip zum Vorschein. In dem Leben des Staates sind nämlich verschie- dene Functionen zu unterscheiden, das ßovhvonevov (Berathschla^ gen), das öUa^ov (Richten), über welchem als das y.voioi' die Macht steht , über Krieg und Frieden zu entscheiden. Je nachdem diese, die übrigens bald Sv%>afiig, bald ro thq] Tag a^yäg und noch anders genannt wird, durch Einen, durch die Reichen und Vornehmen also durch einige, oder durch alle Bürger ausgeübt wird, je nach- dem hat man eine Monarchie (gesund im Königthum, ausgeartet in der Tyrannis), Aristokratie (ausgeartet in der Oligarchie) oder Politie (ausgeartet in der Demokratie). Uebrigens ist Aristoteles so weit davon entfernt durch diese Reduction die Unterschiede zu verwischen, dass, wie er im dritten Buche fünf verschiedene For- men des Königthums aufgezählt hatte , so in dem vierten eben so viele der Demokratie und vier der Oligarchie von ihm charakte- risirt w-erden, offenbar mit steter Rücksicht auf gegebene Staaten. In dem sechsten Buche (p. 1316 1323), welches sich enger an das vierte auschliesst, als das fünfte, gibt Aristoteles, von dem Gesichtspunkte geleitet , dass es schlimmere Verbrechen nicht gebe, als gegen die Verfassung des Staates, die Umstände an, unter welchen, und die Mittel, durch welche die aufgestellten Arten der Demokratie und Ohgarchie begründet werden können. Eine da- ran sich anschliessende Betrachtung stellt das fünfte Buch (p. 1301 1316) an, in welchem auf der genausten Beobachtung ru- hende Bemerkungen über die Gründe und Veranlassungen zu Staats-

154 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz).

Umwälzungen gemacht , und zugleich die Mittel angegeben werden, wie ihnen , namentlich in Monarchien , zu begegnen sey. (Wenn man in neurer Zeit oft darauf aufmerksam gemacht hat, dass der Ruhm Montesquieu'' s zum Theil durch Entlehnungen aus Aristo- teles erworben sey, so könnte andrerseits auf das fünfte Buch der Aristotelischen Politilc verwiesen werden , wenn man für Mucc/na- velfi's Anweisungen einen Vorgänger sucht.) Was die allendliche Entscheidung über die beste Verfassung betriift, so kann diese nur hinsichtlich eines bestimmten Volks und einer bestimmten Zeit gegeben werden, also für das damalige Griechenland. Da entfernt sich Aristoteles entschieden von der Platonischen Aristokratie. Zur Demokratie hin, indem er gerade dem von PUdo zum He- lotenthume verdammten Mittelstande die grösste Macht einräumen will. Zur Monarchie hin, indem er bemerkt, dass die hervorra- gende Tugend, die doch allein zum Herrschen berechtigt ist, sich leichter bei Einem finden werde als bei Vielen. Wenn er dabei die Herrschaft des Königs beschränkt haben will durch die Macht des Mittelstandes, so denkt man unwillkührlich an die moderne Formel: Monarchie mit demokratischen Institutionen. An anderen Orten scheint er mehr für ein Mittleres zwischen Demokratie und Oligarchie zu seyn; kurz für eine reine Verfassung scheint ihm die Zeit nicht reif zu seyn, und man wird sich bei dem bestmög- lichen Gemisch derselben beruhigen müssen. Was der Aristoteli- schen Politik ihren bleibenden Werth gibt, ist das gleichzeitige Festhalten gewisser durch die Philosophie gefundener Principien und die Achtung vor gegebnen Zuständen. Weder der ideenlose Routinier noch der Doctrinair mit seinen utopistischen Planen wird in ihr seine Rechnung finden.

§. 90. Die Poetik des Aristoteles. 1. Den dritten Haupttheil des Aristotelischen Systems (vergl. §. 85, 3) ])ilden die Betrachtungen über das Schöne und das Kunst- werk. Leider besitzen wir von diesen nur die, Fragment geblie- bene UoirjTiK'^ (p. 1447 1462). (Die Rhetorik, an die man viel- leicht noch denken möchte, hat Iristoteies so sehr in den Dienst der Staatslenkung gestellt, dass er sie selbst zur praktischen Philosophie rechnet. Fast mit demselben Rechte konnte sie als Fortsetzung der in den Topiken gegebenen dialektischen Unterwei- sungen angesehen werden.) Das Schöne bildet, als das uya&6v Ttonjröv^ zu dem noay.rov ^ytvO'oi' oder dem Guten gerade denselben Gegensatz wie das künstlerische Schäften zum sittlichen Handeln. Vermöge dieses Gegensatzes wird die künstlerische Thätigkeit und

VI. Aristoteles Die Poetik de=; Aristoteles. §. !>C. 1. 2. 155

der Kunstgeniiss in nahe Nachbarschaft zur theoretischen Beschäf- tigung gesetzt. Wie diese in dem. angebornen \Yissenstriebe, so ist jene in dem damit nahezu zusammenfallenden Triebe der Nach- ahmung begründet, zu welchem der ursprüngliche Sinn für Har- monie und Rhythmus sich gesellt. Beiden wird ferner zu ihrem Ruhme nachgesagt, dass sie keinen Nutzen haben, sondern zum Luxus des Lebens gehören. Beide weiter gewcähren die reinste, keines Uebermaasses fähige , Lust. Endlich ist auch darin die Kunst der \Yissenschaft verwandt, dass sie, da sie die Gegenstände dar- stellt olci av yhoiTo, d.h. sie ideaUsirt, das Allgemeine zu ihrem Eigenthum hat und philosophischer ist , als die , bei dem Einzelnen stehen bleibende, Geschichtsschreibung. Wie Phito, so fordert auch Aristoteles, dass die Begeisterung , aus der das Kunstwerk hervor- geht, sich durch die Besonnenheit von der Raserei unterscheide; wie Jenem, so ist auch ihm die maassvolle Harmonie das eigent- liche Wesen des Schönen. Mit Pinto' s sowohl als mit den eig- nen Principien stimmt es gut zusammen, wenn er fordert, dass jeder Theil mit dem Ganzen organisch verbunden sei.

2. Von den einzelnen Künsten, zu welchen nach den allge- meinen Bemerkungen über das Kunstschöne Aristoteles übergeht, hat er in dem was wir besitzen , nur die Poesie behandelt und in- nerhalb derselben besonders das Drama. Das Epos wird mehr bei- läufig, die Lyrik gar nicht berücksichtigt. Das Wichtigste in dem Drama , gleichsam die Seele desselben ist die Fabel . gegen sie soll sogar die Durchführung der Charaktere zurückstehn. Ob dieselbe geschichtlich, oder erfunden, das ist gleichgültig, da es nicht auf die Richtigkeit, sondern auf die innere Wahrheit und Wahrschein- lichkeit ankommt. Die Einheit der Handlung ist die erste Forde- rung, die der Zeit und des Raumes, welche für den Historiker das allein Maassgebende sind, wird vom Aristoteles mehr als Ob- servanz denn als strenges Gesetz aufgeführt. Das Hinausgehn über die blosse Wirklichkeit zeigt sich in der Tragödie und Komödie auf verschiedene Weise: jene schildert ihre Helden besser, diese schlechter als sie sind. Nur die erstere wird in der Poetik behan- delt , Untersuchungen über die letztere werden versprochen. (Einige dersell)en hat Beritatfs bei einem späteren Grammatiker aufgefun- den und veröffentlicht.) Furcht und Mitleid werden als das ange- geben, wodurch sich der Zuschauer mit der Handlung identificirt, und als das zu erreichende Ziel des Drama's wird die Reinigung der Leidenschaften bestimmt. Während die Meisten hier an die Wirkung im Zuschauen denken, hat Cöl/ie und nach ihm Sta/'V diese Worte viel mehr auf die dargestellten Leidenschaften bezo-

156 Alte Philosophie. Zweite Periode (Glanz). Aeltere Aristoteliker. §. 91.

gen. Es wird dabei stets urgirt, dass die tragische Befriedigung nur möglich sei, wo Schuld und Unschuld des Leidenden zugleich gegeben ist. Ausser der Fabel und den Charakteren wird die Diction erörtert und dabei auf grammatische Untersuchungen zu- rückgegangen. War es gleich eine Verirrung, in so sklavischer Weise , wie die französischen Klassiker thaten , die Regeln der Ari- stotelischen Poetik zur Norm zu machen , so wird man doch zuge- stehn müssen, dass ein Verstoss gegen den Geist derselben sich immer gestraft hat. Wie von so vielen Wissenschaften , so ist auch von der Kunstphilosophie Aristoteles der Vater.

Diog. Laert. V, 1. Bitter et Prellej- §. 293 335.

§. 91. Die älteren Aristoteliker. Dem Theoplirastos von Lesbos, geb. Ol. 102, welcher nach des Anstotelcs Tode die Leitung der peripatetischen Schule über- nahm , folgte darin Eiidemos von Khodus. Von Beiden sind Werke erhalten. Von dem Ersteren die Charaktere, sowie eine Schrift über Empfindungen und Empfindbares. (Die Metaphyhik, die sei- sen Namen führt, ist vielleicht nicht, dagegen die dem Aristoteles zugeschriebene Schrift de Meliss. Zen. et Gorgia vielleicht wol von ihm.) Von dem Letzteren haben wir die nach ihm genannte Ethik in den Sanmilungen der Aristotelischen Werke. Beide zeigen we- nig Origiuellos, und sind sich in der gelehrten Richtung, die ihr Philosophiren nimmt , verwandt. Am bedeutendsten möchten sie in den analytischen Arbeiten gewesen sein, wo sie den hypotheti- schen und disjunctiven Schluss betrachtet haben. Die auf sie fol- genden Peripatetiker scheinen w-eniger das ganze System als ein- zelne Theile desselben behandelt zu haben, namentlich die Partie der Physik, welche die Seele betrifft. Dabei wird die Lehre im- mer mehr naturalistisch. Dass nach Cicero der Aristoteliker Ari- stoxciws. der Musiker genannt, die Seele als perfeciio corporis gefasst, dass Dilaiarchos aus Messene aus diesem ihrem Begriff ihre Sterblichkeit gefolgert habe , dass endlich Straton von Lamp- sakus, darin mit ihnen einverstanden , an die Stelle der Gottheit eine blinde Naturkraft gesetzt habe, wird auch durch andere Ge- währsmänner bestätigt. Krifoldfts, der mit zu der Gesandtschaft gehört, seit welcher in Rom Philosophie getrieben wurde, scheint, eben so wie Lylon. Ariston und Andere, die Ethik des Aristote- les popularisirt und mehr rhetorisch behandelt zu haben. Sein Nachfolger DtoiUiros von Tyrus, die noch späteren Slaseas von Neapel, Krullppos ^ sowie der unbekannte Verfasser der pseudo-

Alte Philosophie. Dritte Periode ("Verfall). Einleitung. §.92.93. 157

aristotelischen Schrift Tts^l xoGiiov vermischen die Aristotelische Lehre mit anderen Ansichten.

Diog. Laert. V. 2 4. Bitter et Preller 1. c. §. 336 344.

Der alten Philosophie dritte Periode.

Der g-riechischen Philosophie Verfallperiode. (Griechisch - römische Philosophie.)

§. 92. Indem Aristoteles den Geist als Denken seiner selbst bestimmt und ihn zugleich zum Princip von Allem macht, weil er der End- zweck von Allem , hat die T.^nbestimmtheit des AiKt.nigavds und haben die einseitigen Bestimmungen der folgenden Philosophen der allseitigen Bestimmtheit Platz gemacht , und das Griechenthum, das in dem Philosophiren des Anaxugoms , der Sophisten u. s. w, sich gezeigt hatte, ist in dem Aristotelismus begriffen. Darin liegt aber auch die Schranke dieses Systems und die Noth wendigkeit , dass die Philosophie darüber hinaus gehe. Dass in ihm nur das Grie- chenthum begriffen wurde, weist auf die welthistorische, dass aber das Griechenthiun in ihm sich als begriffenes findet, auf die phi- losophiehistorische Nothwendigkeit solches Fortschrittes hin (vgl.

§. 11)-

§.93. Wo das, durch die Macedonische Herrschaft den Händen Grie- chenlands entwundene, Scepter der "Weltgeschichte den Römern über- tragen wird, einem Volke welches, wie in den Mythen, die es zur Erklärung seines Wesens dichtet, so in dem worin es der Lehrer aller kommenden Geschlechter wurde, der Rechtsbildung, wie in seinem ernst prosaischen Wesen so in seiner Erobemngslust , dies Eine stets verräth: dass ihm die Einzelperson und seine prakti- schen Aufgaben einen absoluten Werth haben und dass durch Sum- miren von Einzelnem (den Theilen) die Ganzheit entsteht , da kann eine Philosophie wie die Aristotelische nicht mehr die Weltformel bleiben. An die Stelle einer Philosophie, die, acht griechisch, das Ganze vor den Theilen seyniässt und welche speculative Hingabe an die allgemeine Vernunft ist, muss, weil die Zeit römisch ge- worden, eine solche treten in der das vereinzelte Subject absolu- ten Werth erhält und nie sich ganz an die Sache verliert, sondern stets sein eignes Verhältniss dazu mit berücksichtigt. An die Stelle einer Philosophie, der die Theorie als das Höchste galt, muss eine

158 Alte Philosophie. Dritte Periode (Verfall).

andere treten, welche der Verwirklichung der Zwecke jede Theorie als Mittel unterordnet. Nur eine Reflexionsphilosophie, in welcher die Ethik der Haupttheil ist, kann dem römischen Geiste gefallen, denn nur eine solche kann begriflfenes Römerthum heissen.

§. 94. Zu demselben Resultate kommt man auch ohne Rücksicht auf die veränderte Zeit , wenn mau bedenkt, dass das Wesen des Grie- chenthums in der Unmittelbarkeit und Naivetät besteht, mit der der Einzelne sich vom Geiste des Allgemeinen durchdringen lässt, und dass also , wie alles Naive , so auch das Griechenthum , sobald es begriffen wird, verschwindet. Daher beginnt bei Arisloteles die Trennung jenes grösseren und kleineren i-oti^ (vgl. §. 53) , von de- nen Ana.rmjor (LS gesagt hatte, sie seyen dasselbe, und die sich bei Plato so durchdringen, dass ihm nicht möglich gewesen wäre, wie Arisloteles in seinen analytischen Untersuchungen nur das subjective Denken zu betrachten, und wieder in ganzen Partien der Thiergeschichte sich mit der blossen Realität angelegentlich zu beschäftigen, ohne zu fragen: ob darin auch die Forderungen unseres Denkens erfüllt sind. Auch die vielen räsonnirenden Er- örterungen, durch welche Aristoteles bei jeder Untersuchung erst zu dem Punkte gelaugt, auf dem Plalo von Anfang an steht, sind ein praktischer Beleg zu seiner Behauptung, dass der Geist von aussen in den Menschen komme, d. h. dass das Subject nicht un- mittelbar mit demselben Eins sey. Indem dieses Auseinanderfallen des subjectiven und objectiven Momentes der Speculation, nach Aristoteles viel weiter geht, entstehen durch die Trennung der, bei Pinto verbundenen und bei Aristoteles immer wieder vereinig- ten , Momente einseitige Richtungen , die grosse Verwandtschaft mit den kleineren sokratischen Schulen (s. §. 67 73) zeigen müssen, da ja Philo und Aristoteles nur den verklärten und vollendeten Sokratismus gelehrt hatten. Wie jene den Sokratismus, so zeigen diese überhaupt die griechische Philosophie in ihrer Auflösung. Was aber vom griechischen Standpunkt aus nur als Verfall, das erscheint vom w'elthistorischen aus auch als Fortschritt. Die jetzt auftretenden Systeme, obgleich von Griechen zuerst aufgestellt, fin- den ihren Anklang und ihre bedeutendsten Repräsentanten in der römischen Welt. Sie formuliren den Zwiespalt und das innere Un- glück, an welchem die Menschheit vor dem Eintritt des Christeu- thuins leidet. Zunächst sind hier zu betrachten die beiden dogma- tischen Systeme des Epikureismus und Stoicismus.

I. Die Dogmarikei. A Die Epikureer. §. 95. 96, i. 159

I.

Die Doginatiker.

§. 9ö. Trotz des Subjectivismus , welcher oben in der Kyrenaischen und Kynischen Lehre nachgewiesen wurde, haben beide Schulen doch immer das Subject als concretes, mit dem Ganzen verbunde- nes, gedacht, so dass im Praktischen die Losimg ist, im Frieden mit der Gesellschaft oder mit der Natur zu leben, im Theoreti- schen die eine nicht zweifelt, dass der Sinn, die andere nicht, dass das Denken, uns wirkliche Erkenntniss gebe. Nach dem Verfall des Aristotelismus treten die beiden von ihnen vertretenen Eich- tungen wieder hervor, aber abstract und mit dem Charakter der Reflexionsphilosophie. \Yas dem Aristoteles selbstverständlich war, dass unser Wahrnehmen und Denken das Reale abspiegelt, das wird jetzt in Frage gestellt und es entsteht das Bedürfniss nach einem Kriterium der Wahrheit, und wieder die Ueberzeugung des Iristoteles , dass der Mensch von Natur zum Leben in den sitt- lichen Gemeinschaften bestimmt sey und ausserhalb derselben zum schlimmsten Thier verwildere, diese wird gleichfalls aufgegeben und der einsame Weise genügt sich und weiss diese Vereinsamung als Gottgieichheit. In diesen l)eiden Punkten stimmen Epikureer und Stoiker überein, so wie auch darin dass dieses Sichgenügeu der letzte Zweck sei, auf den auch alle theoretischen Untersuchun- gen als blosse Mittel sich l)eziehen. Ihr diametraler Gegensatz liegt darin, dass jene das Subject als sinnliches, diese als denken- des fassen, jene darum ein simüiches Wahrheitskriterium und sinn- Uehe Befriedigung suchen, diese dagegen beides so wollen, dass es dem Menschen als denkendem genüge. Wie überall so ist auch hier der diametrale Gegensatz nur dadurch möglich, dass beide durch vielfache Uebereinstimmung auf einem Niveau stehn.

§. 96.

4.

Die Epikureer.

1. Eplhinos. der als Sohn eines Attischen Colonisten auf Sa- mos Ol. 109, 3 (342 v. Chr.) geboren wurde, kam in seinem acht- zehnten Jahre nach Athen, als Xenokrntes dort und Aristoteles in Chalkis lehrte. Trotz dem, dass er sich gern Autodidact nennt, dankt er jenen beiden sehr viel ; mindestens eben so viel aber dem Studium der Kyrenaiker und des Demohrit. In seinem 32'^" Jahre

160 Alte Philosophie. Dritte Periode (Verfall;.

fing er an in Mitylene, vier Jahre später in Athen zu lehren. Das Leben in seinen Gärten ist von Freunden mehr idealisirt, von P'einden mehr verschrieen, als recht ist. Von seinen vielen Schrif- ten sind nur Fragmente zu uns gekommen , die nichts Bedeutendes enthalten. Diogenes Laerluts, dessen ganzes zehntes Buch dem Epi- kur gewidmet ist, gibt nicht nur die Titel von vielen seiner Werke, sondern theilt zwei Briefe von ihm mit, so wie eine ausführliche Nachricht von seinen Lehren. Dabei hat sich Manches eingeschli- chen, was offenbar seineu Gegnern, den Stoikern, angehört.

2. Da die Philosophie nach Epthir nichts Andres seyn soll als die Fähigkeit und Kunst, glückselig zu leben, so würde, wenn nicht der Aberglaube den Menschen ängstigte und quälte, es kei- ner Physik, und wenn nicht Irrthümer dem Menschen Leid bräch- ten, es keiner Anweisung zum richtigen Denken bedürfen. Jetzt aber ist Beides dem eigentlichen Haupttheil, der Ethik, vorauszu- schicken, wobei es, eben dieser untergeordneten Stellung halber, erklärlich ist, dass die Mühe des Selbsterfindens durch Entlehnun- gen erleichtert wurde. Die Logik, oder wie die Epikureer sie nach dem Werke ihrer Meisters nannten, die Kanonik gibt eine Theo- rie des Erkennens, um zu einem sicheren Kriterium der Gewiss- heit zu kommen. Die cA'ad-i^aic. welche m\i Ar islol eleu als die erste Form des Wissens genommen wird , erhält hier zugleich die höch- ste Dignität. In ihrer Reinheit, wo sie nur die Affection des Or- gans zum Bewusstseyn bringt, nicht von einem folgenden Urtheil begleitet ist, schliesst sie jeden Irrthum aus und gibt Augen- scheinlichkeit, haQysia. Wiederholte Empfindungen lassen eine Spur in uns nach, verm()ge der wir das Aehnliche wieder erwarten. Diese nooXtjU'cig, mit welchen auch die Bezeichnung durch Worte zusammenhängen soll, erinnern sehr an die mit Hülfe der Erinne- rung entstehende Erfahrung Philo' s und Anstoteles'. Was mit der Empfindung und diesen Anticipationen übereinstimmt, das kann man als gewiss ansehn, es bildet den Inhalt einer ojjO'»} (Jo^g oder einer vnöhiyi^ig , und darum ist jede Uebereilung zu scheuen, da- mit jene Vorerwartung Zeit habe , durch die hinzugekommene Be- stätigung ein wirklich Annehmbares, 8o's,aGröv, zu werden. Andere Untersuchungen logischer Art scheint Epif.nr nicht angestellt zu haben. Die Definitionen soll er aufgehoben, über Eintheilungen und Schlüsse nichts gesagt haben , was Alles Cicero (de finib. I, 7) streng tadelt.

3. Die Physik hat den ausgesprochenen Zweck, vor den Schrecken des Aberglaubens zu schützen. Da dem Epikur die Religion ganz mit dem Aberglauben zusammenfällt, jede teleologi-

I. Die Dogmatiker. A. Die Epikureer. §. 96, 3. 4. 161

sehe Betrachtung aber gewiss, jedes Zurückführen aller Erschei- nungen auf gleiche und wenige Gesetze sehr leicht, zur religiösen Betrachtung bringt, so spottet er der erstereu (die Sprache ist nicht Zweck, sondern Wirkung der Zunge) und räth an, bei je- der Erscheinung eingedenk zu bleiben, dass dieselbe auf die aller- verschiedenste Weise erklärt werden kann. (z.B. der Sonnenunter- gang durch ihre Kreisbewegung oder durch ihr Verlöschen). Die atomistische Theorie des Denwkr'd, die aus dem zufälligen Zusam- mentreffen der im Leeren sich bewegenden xitome Alles entstehen lässt , scheint ihm darum die verständigste. Er modificirt sie nur, indem er den Atomen ausser Gestalt und Grösse (vgl. §. 47 , 4) auch Schwere zuschreibt, und sie von der geraden Linie abwei- chen lässt; jenes um die Bewegung zu erklären, dieses weil es al- lein ihr Zusammenballen erklärt, und um schon hier eine Grund- lage für die, sonst unerklärliche, Willkühr zu gewinnen. Im In- teresse für diese wollen die Epikureer auch von der Vorsehung der Stoiker nichts wissen. Unzählige Welten, verschieden an Form und Grösse, entstehen auf solche Weise. In den Räumen zwischen ih- nen wohnen, aber unbekümmert um die Welten und ohne in sie einzugreifen, die Götter, welche theils wegen des consensus gen- tium , theils um Ideale des nur geniessenden Lebens zu haben, an- genommen werden. Was die Mythen der Volksreligion betrifft, so scheint es, dass die Epikureer, wo sie dieselben nicht geradezu leugneten, dem Beispiel des Eucmeros (s. §. 70, 3) folgten. Da- her die Nachricht, dass er aus ihrer Schule hervorgegangen sey. Wie Alles, so ist auch der Mensch ein Aggregat von Atomen; so- wol die aus feinen Atomen bestehende, darum hauch- oder feuer- artige Seele, als ihre aus gröberen Bestandtheilen zusammenge- setzte Bekleidung, der Leib. Beide sind, wie alles Uebrige, auf- lösbar und obgleich ein Thor ist wer den Tod sucht, so ist doch ihn zu fürchten gleichfalls eine Thorheit, da wen er trifft ja nicht mehr ist. Der Theil der Seele, der in der Brust seinen Sitz hat, ist der edelste. Es ist der vernünftige, in dem die von den Din- gen sich absondernden elöcoka , welche die Sinnesorgane treffen, zu- letzt das Empfinden bewirken. Die Reduction aller Affectionen auf Schmerz und Lust lehrt den Uebergang

4. zur Ethik. Als selbstverständlich wird hier angenommen, dass die Lust das einzig wahre Gut sey, und dass alle Tugenden, welche die Peripatetiker preisen, nur Werth haben, weil sie zur Lust führen. Diese selbst aber wird im Gegensatz zu den Kyre- naikern einmal negativ als Schmerzlosigkeit bestimmt, dann aber, in ganz gleichem Gegensatz zu jenen, als reflectirte, indem sie in

Erdmaim, Gesch. d. Philob, 1. 11

162 Alte Philosophie. Dritte Periode (Verfall).

der grösstmögliclien Summe der Genüsse besteht , darum aber auch, wo es nöthig, durch Leiden erkauft werden soll. Die Glückselig- keitslehre des EpiLur ist nicht der leichtsinnige Hedonismus Ari- süpjfs, sie ist nüchtern und raffinirt. Weil die Lust, nach der er strebt, durch Berechnung gefunden ist, deswegen nennt er sie geistige oder Lust der Seele, allein wenn man bedenkt, was Alles unter diese geistige Lust gerechnet wird, so kann man zweifelhaft werden, ob die Kyrenaiker bei allem ^'orzuge, den sie der sinnlichen Lust geben, nicht am Ende moralisch höher stehu als die Epiku- reer. Nur als Mittel zur Lust, nicht um ihretselbstwillen übt der Weise die Tugend ; würde die Befriedigung aller Lüste von Unruhe und Furcht befrein, so würde er sich ihnen hingeben. Eben so ist es nur die Rücksicht auf Sicherheit, die den Weisen im Staate, am Liebsten in einer Monarchie, leben und den Vertrag respecti- ren lässt, den man Recht nennt. Die Ehe wird ziemlich gleich- gültig behandelt, am Höchsten die Freundschaft, diese subjectiv- ste und zufälligste aller Verbindungen gestellt, aber auch ihr der Nutzen als Grundlage zugewiesen. Die Praxis des Epilnir war besser als seine Theorie, und seine Nachfolger suchten auch die letztere zu mildern.

5. Von Schülern des Epi/.iir sind zu nennen: Mctradoros, sein Lieblingsschüler, den er überlebte, dann Ilermachos, sein Nachfolger. In der römischen Welt werden von Cicero als die ersten Epikureer Amaj'unhis und Uahirius genannt. Dann sind zu erwähnen Cicero'^ Lehrer Zeno^ so wie Pl/ärlros, von dem Frag- mente erhalten sind, die Petersen gesammelt hat. Nicht nur für uns, weil sein Werk sich erhalten hat, sondern wohl auch an sich ist der Bedeutendste unter ihnen TUns Lncretius Carus (95 52 V. Chr.), welcher in seinem berühmten Lehrgedicht {de rerum natura , Libb. VI) besonders dies sich zum Ziel setzt, die Welt von dem Schrecken zu befrein, mit dem der Aberglaube, d. h. die Religion, sie erfülle, und der mit allem Feuer dichterischer Kraft den trocknen Stoff atomistischer Physik zu verklären sucht. Die Na- tur, diese seine einzige Göttin, erscheint oft fast wie ein persönliches Wesen, eben so die Abweichung der Atome fast wie eine jedem einzelnen inwohnende Lebensregung. Die strenge Gesetzmässigkeit hält er mehr fest, als Epikur. Im Ethischen zeigt er, wie über- haupt die Römer, einen grösseren Ernst, oft auf Kosten der Con- sequenz. So weit freilich entfernt er sich nicht von dem Sinn der Epikureischen Lehre wie Andere, von denen Cicero erzählt, dass sie die reine Freude an der Tugend auch unter die Lüste gestellt haben.

Dioy. Laürt. X. Bitter et Preller 1. e. 354 372.

I. Die Dogmatiker. B. Die Stoiker. §. 97, 1. 163

§. 97.

B.

Die Stoiker.

Tiedemann System der stoischen Philosophie. 3 Thle. Leipz. 1776. Petersen Philosophiae Chrysippeae fundamenta. Altonae 1824.

1. Zenon, in Kittion auf Kypros 340 v. Chr. geboren, soll zu- erst die Sokratischen Lehren und Schriften kennen gelernt, dann aber den Kyniker Krates , den ^Nlegariker Stiipo und den Akade- miker Polemon gehört haben, und nachdem er zwanzig Jahre Schü- ler gewesen, als Lehrer der Philosophie in der aroa Ttor/Akrj aufge- treten seyn, von der seine Schule den Namen führt. Nach mehr als fünfzigjähiiger Lehrthätigkeit soll er sein, durch Massigkeit ausgezeichnetes, Leben durch Selbstmord beschlossen haben. Von seinen Schriften ist Nichts erhalten. Seine Schüler haben sich wohl von dem Kynismus mehr entfernt als er selbst; am Wenig- sten, so scheint es, der Chier Ari^ton. Unter seinen Schülern ist der durch seinen Eifer ausgezeichnete Kleontlies aus Assos in Troas, der sein Nachfolger wurde, zu nennen. Diesem folgte der Bedeu- tendste, namentlich was logische Schärfe betrifft, Chnjsippns aus Soloi, 282 209 v. Chr., „das Messer der akademischen Knoten", ein sehr fruchtbarer Schriftsteller, dessen Fragmente hagiiel 1821 gesammelt und Petersen nach aufgefundenen Papyrusrollen ergänzt hat. Des Diog. Laerl. siebentes Buch gibt ausführliche Nachrich- ten über die genannten und noch andere Stoiker. Nach Rom kommt die erste Kunde der Stoischen Philosophie diu-ch einen Schüler C/injsipp's, Diogenes j welcher mit Krilolaos (s. §. 91) und Kar- nrades (s. §. 100, 2) zu der dahin geschickten Gesandtschaft ge- hörte. Wirklich dahin verpflanzt ward sie erst durch Panaetios (175 112 V. Chr.). der ein Schüler des Anlipaler von Tarsus, und dessen Schüler Posidonios (135 51 v. Chr.) ein Lehrer Cieen/s ist. An diese schliessen sich die römischen Stoiker L. Annans Cornuius, 20 68 n.Chr., C. Mnsonius Bnfns und sein Freund der Satyriker A. Persins F/acciis, dann die griechisch schreiben- den Epiktet der Freigelassene, dessen Lehren Avir aus dem von Arrian niedergeschriebenen Eucheiridion , und Marens Aure/ins Antoninns der Kaiser, 121 180 n. Chr. , dessen Ansichten wiv aus seinen nachgelasseneu Schriften kennen.

2. Im völligen Gegensatz zu Sohruies, Pluto und Aristoteles wird von den Stoikern das Theoretische dem Praktischen so unter- geordnet, dass nicht nur die Philosophie als Kunst der Tugend, oder als Streben nach ihr, definirt, sondern der Grund warum sie

U*

164 Alte Philosophie. Dritte Periode (Verfall).

in Logik, Physik und Ethik zerfalle, darin gefunden wird, dass es logische, ethische und physische Tugenden gibt. In dem Ver- langen, möglichst bald bei der Ethik, dieser Seele des Systems, anzulangen , haben auch sie wie die Epikureer , auf dem Wege da- hin die Mühe des Selbsterfindens nicht auf sich genommen, son- dern in der Logik an Aristoteles, in der Physik an Herahlit sich angelehnt, w^elche letztere Wahl, so wie ihre Hinneigung zum Pantheismus der Eleaten, ihren Gegensatz zu den Epikureern be- dingt. Der erste Theil des Systems, welchem, übereinstimmend mit den späteren Peripatetikern , die Stoiker den Namen Logik gegeben haben, weil hier der löyog, d.h. der Gedanke oder das Wort und das Hervorbringen beider betrachtet wird, zerfällt, weil man entweder für sich oder für Andere und mit Anderen sprechen kann, in die Rhetorik, die Kunst des monologischen und die Dialektik, die Kunst des dialogischen Sprechens. Sie ist eine Hülfswissenschaft der Ethik, weil sie lehrt Irrthümer zu vermei- den. Dies geschieht einmal durch die Erkemitnisstheorie , in wel- cher die Seele zunächst wie eine unbeschriebene Tafel gedacht wird, auf der der Gegenstand, sey es nun durch wirkliche Eindrücke, sey es durch Alteration des Seelenzustandes , eine Vorstellung {(pav- TctGia) hervorbringt , aus der in Folge von Wiederholungen eine Vor- erwartung, endlich eine Erfahrung wird. Eben darum behaupten die Stoiker auch , dass die Gattungen nur unsere Vorstellungen und nichts Reales seyen. Zu diesen, auch von den Epikureern ange- nommenen, Momenten kommt nun aber, wo es zu einer wirklichen Gewissheit kommen soll, der Beifall oder die Zustimmung und Be- jahung, avy-Actrüd^zaiQ , vermöge der die Alfection der Seele für et- was Gegenständliches erklärt wird. Obgleich diese Zustimmung in manchen Fällen zurückgehalten werden kann, so doch nicht, wie die Skeptiker behaupten, in allen. Eine Vorstellung, bei der wir es nicht können und die uns also zwingt sie als objectiv zu be- jahen, ist mit Ueberzeugung, Karälri'xpK;, begleitet, so dass das eigent- liche Kriterium der Wahrheit in dem Erzwingen der Zustimmung liegt, d. h. in dem, was man später Denknothwendigkeit genannt hat. Ein solches Kriterium aber muss es geben, weil es sonst kein sichres Handeln gäbe. Aus den Ueberzeugungen wird Wissenschaft durch die kunstgerechte Form, deren Betrachtung den zweiten Hauptbestandtheil der Stoischen Logik ausmacht. Es wird hier nicht getrennt, was die Bildung des richtigen Gedankens und was ihren Ausdruck betrifft, und mit einer ausführlichen Theorie der Redetheile (deren fünf angenommen werden), so wie mit Unter- suchungen über Barbarismen und Solöcismen die über Paralogis-

I. Die Dogmatiker. B. Die Stoiker. §. 97, 2. 3. 165

men verbunden , zu deren Begründung die Lehre vom Schluss aus- führlich durchgenommen wird. Ausser einigen Aenderungen der Aristotelischen Terminologie ist besonders dies zu bemerken, dass die von Aristoteles gar nicht, von seineu Nachfolgern schon, be- rücksichtigten hypothetischen und die mehrgliediigen Schlüsse, jetzt in den Vordergrund treten. Die letzteren besonders um den apa- gogischen Beweis zu retten, um deswillen wohl auch zu dem eben angeführten Kriterium der Wahrheit die logische Bestimnumg hin- zugefügt wird, dass nur Solches als wahr gelten könne, wovon es ein Gegentheil gibt. Wie bei Aristoteles, so bildet auch bei den Stoikern den Uebergang von den formell - logischen Untersuchungen zu den realen Erkenntnissen die Lehre von den Kategorien. Dass hier,, unter verändertem Namen, nur die vier ersten des Aristote- les, welche dem Substrat und seinen Zuständen entsprechen, bei- behalten, die übrigen, w^elche Thätigkeiten ausdrücken, weggelassen werden, ist charakteristisch für ein System, das in

3. seiner Physik zu einem solchen Materialismus gelangt, wie das stoische. Die Behauptung , dass Nichts Realität und Wirksam- keit habe, als das in drei Dimensionen ausgedehnte Körperliche, wü'd selbst auf Seelenzustände, z.B. Tugenden, ausgedehnt w'eil sie wirken, d. h. Bewegungen hervorbringen. Indem aber ein fei- neres Körperliches von dem gröberen unterschieden und jenem ein activer, diesem ein leidender Charakter beigelegt wird, kann un- beschadet des völligen Materialismus der Aristotelische Gegensatz von Form mid Materie hereingenommen werden. Das formirende Princip, welches bald löyog, bald vovg, bald Seele, bald Zeus, bald Nothweudigkeit, bald Aether genannt wird, ist feuerähnlich gedacht, heisst wohl auch geradezu Feuer, nur dass es im Gegensatz zum gewöhnlichen Feuer, das bloss verzehrt, auch als das Wachsthum gebende, architektonische, gedacht wii'd. Dieses Feuer, die eigent- liche Gottheit der Stoiker, lässt, als wechselnde Formen, die Dinge aus sich heraus- und in sich zurückgehn; in ersterer Beziehung ist die Gottheit ihr Saame, in zweiter ihr Grab. Daher ihre Lehre vom Ao'yog aniQuaxiKÖg und von der hnvQwGig. Diese Modificatio- nen der Gottheit bilden eine Stufenfolge, je nachdem ihnen nur 'iiig , oder auch (pvaig , oder ausser beiden noch fvir], oder endlich nebst jenen allen auch vovff' zukommt. Auch die vernünftige Seele übrigens ist ein feuerähnlicher Körper, bei dessen Entstehung und Er- haltung das Einathmen der kühleren Luft eine wichtige Rolle spielt. Den Pantheismus, den z. B. Kleanllrs Lobgesang auf Zeus athmet, haben die Stoiker mit den religiösen Volks Vorstellungen durch phy- sikalische Deutung der Mythen in Einklang gebracht, und zeigen

166 Alte Philosophie. Dritte Periode (Verfall).

auch hierin wieder ihren Gegensatz zu den Epikureern mit ihrem Euemerismus. Vermöge dieser Umdeutung war es ihnen möglich, in einer Menge von Ansichten und Gebräuchen des Volks , die von den Aufgeklärten verlacht wurden, allen Ernstes einen tieferen Sinn zu sehn, was sowol die Epikureer als die Skeptiker gegen sie aufbrachte. Auch den Cicero. Mit dem Pantheismus der Stoi- ker geht ein völliger Fatalismus Hand in Hand. Ihre Vorsehung ist nichts Andres als das unveränderliche Schicksal.

4. In der Ethik, als der Krone des Systems, haben die Stoi- ker sich an die Kyniker angelehnt, allmählich aber von ihnen ent- fernt und zwar dadurch, dass sie den Menschen immer mehr iso- liren. Die Formel des Zeno und Kfeanth, dass der Mensch in ' Uebereinstimmung mit der Natur zu leben habe, bekommt schon bei Clinjsipp die beschränkte Bedeutung der Uebereinstimmung nur mit der eignen Natur, in Folge der auch der Weise nicht mehr die, sondern nur seine, Natur zu kennen braucht. Und so macht sich allmählich der Uebergang zu der ganz formellen Bestimmung, dass man übereinstimmend, d.h. consequent zu handeln habe , eine Formel, die hier nicht wie bei Aristoteles (s. §. 89, 1), die inhalts- vollere begleitet, sondern sie vertritt. Diese Consequenz ist die revta ratio, Avelche die römischen Stoiker rühmen. Indem die Stoiker immer mehr dazu kommen, den Menschen nur in der den- kenden Seite seines Wesens zu sehn, schliesst sich an jene formelle Bestimmung die materielle, dass die nü^i] nicht, wie Aristoteles gelehrt hatte, durch Uebertreibung krankhaft werden können, son- dern dass sie von vorn herein Uebertreibungen und krankhaft seyen. Daraus ergibt sich wenigstens eine Annäherung an den, bis dahin in der griechischen Philosophie unerhörten, Pflichtbegriff, der die Verwandtschaft der stoischen und christlichen Anschauungen, so wie die Entstehung mancher Fabeln, z. B. vom Verkehr des Seneca mit dem Apostel Punlvs, erklärt. Das na^riKov, das Cicero nur mit officium zu übersetzen weiss, ist wesentlich von der Aristote- lischen Tugend unterschieden, da es nicht, wie sie, den natürli- chen Trieb regelt, sondern negirt. In der Unterscheidung dessel- ben von dem Karöq^co^ia zeigt sich ausser dem Gradunterschied eine Annäherung an den Gegensatz des Legalen und Moralischen. Da alle nad^iq entweder Lust oder Schmerz erregen, so folgt aus der Krankhaftigkeit jener" die Werthlosigkeit dieser beiden, und dem Stoiker ist gleichgültig, sowol was dem Kyrenaiker als was dem Kyniker das Höchste war. Darum i)reist er als das Höchste die ccTccc^Hci, wie der Epikureer gleichfalls die Schmerzlosigkeit ge- priesen hatte. Sie macht unangreifbar, da der Gleichgültige sich

I Die Dogmatikev. B. Die Stoiker. §. 97, 4. 167

erhaben weiss über Allem. Der Mensch gelangt zu ihr und wird zum Weisen , indem er nur Solchem einen Werth beilegt, was, von allen äusseren Umständen unabhängig, ganz in seiner Macht steht. Darum trägt der Weise sein Glück in sich; es wird ihm nie ge- schmälert, selbst dann nicht, wenn er in die Kuh des Phaluris gesperrt würde. Dieses sich über Allem erhaben und mit sich selbst im Einklänge wissen ist so sehr die Hauptsache, dass nur dadurch die einzelnen Handlungen einen Werth bekommen: der Weise thut Alles am Besten, kann Alles, beneidet Niemand, selbst den Zeus nicht, ist König, ist reich, ist allein schön u. s. w. Der Thor dagegen kann Nichts, thut nichts gut. Ihr Gegensatz ist diametral, darum giebt es weder Individuen, die zwischen Weis- heit und Thorheit in der Mitte stehn , noch auch Zeiten des Ueber- ganges, sondern er geht plötzlich vor sich. Auch aller graduelle Unterschied innerhalb der Weisheit und Thorheit wird geleugnet. Entweder ganz oder gar nicht ist Einer Thor oder Weiser. Einige Härten des Systems wurden später dadurch gemildert, dass unter den, an sich gleichgültigen, Dingen doch unterschieden wurde, je nachdem sie „vorgezogen" oder „nachgesetzt" werden, womit, wie schon Cicero nachweist, der eben geleugnete quantitative Unterschied unter den Gütern wieder eingeschwärzt ist. Ganz eben so wird ihre prahlerische Behauptung, dass der Schmerz kein Uebel sey, ziemlich nichtssagend durch die Beschränkung, dass man ihn den- noch fliehen müsse, weil er unangenehm, weil er wider die Natur sey u. s. f. Weil das Bei sich seyn der einzige Zweck, deswegen erscheint das Leben in sittlichen Gemeinschaften ledighch als Mit- tel dazu, wenn es nicht gar als Hinderniss angesehn wird. Die Fragen , ob der Weise Ehemann , ob Staatsbürger seyn solle, wer- den z. B. von Epiktel verneint. Was die Pietät gegen Sitte und Herkommen fordert, wie Sorge für die Todten, wird verhöhnt. Kosmopolitismus und enge Freundschaft unter den gleichgesinnten Weisen, die Epiktct als Avahre Brüderschaft denkt, in der was Einem, Allen nützt, treten hier an die Stelle der natürlichen und sittlichen Bande. In vielen, vielleicht den meisten Sätzen der stoischen Ethik, wäre es leicht Vorahnungen, wenn gleich öfter carrikirte, dessen nachzuweisen, was später in der christlichen Gemeinde für wahr gilt. Dies war es, was zu allen Zeiten Chri- sten vor der stoischen Lehre Hochachtung eingeflösst hat. Auf der andern Seite enthält sie sehr Vieles , was sie dem selbstsüch- tigsten aller Völker, den Römern, werth machen musste. Dazu gehört ihr Tugendstolz, dazu weiter die Resignation in den Welt- lauf begleitet mit dem steten Bewusstseyn, dass der Selbstmord

168 Alte Philosophie. Dritte Periode (Verfall).

allem Leiden ein Ende mache. Das Hervorheben der Gesinnung als des Einzigen was in des Menschen Macht stehe, die Anerkennt- niss der eignen Ohnmacht im Verhältniss zur Gottheit und ihrer Wirksamkeit , u. A. wird bei den späteren Stoikern , einem Epiktet und Marc Aurcl , in Aussprüchen formulirt, die man oft für Ent- lehnungen aus dem Evangelio gehalten hat. Wenigstens bewuss- ter Weise waren sie es nicht. Dass bei solchen Annäherungen an das Christliche Maix Aiirel das Christenthum liasst, darf nicht befremden. Dergleichen wiederholt sich überall.

Diog. Laert. Lib. YII. Bitter et Preller 1. c. §. 373—413.

§. 98. Im Gegensatz zu der Speculation des Plafo und Aristoteles^ muss die Lehre der Epikureer und Stoiker, da sie eines Kriteriums der Wahrheit bedarf und auf festen Voraussetzungen beruht, Dogma- tismus genannt werden. Unter sich bilden sie einen Gegensatz, der, gerade weil er diametral, über sich hinausweist. Die verständige Berechnung, deren Resultat die Glückseligkeit der Epikureer ist, zeigt dass ihrer Lust das Denken immanent ist, und weiter ist dem Stoiker, um sich über die Genüsse des Lebens erhoben zu wissen, der Genuss nothwendig. Darum sind die, namentlich die römischen Epikureer, verständige Männer gewesen, und die Stoi- ker haben gewusst mit Geschmack ihr Leben zu geniessen. Diese ihre Begegnung im Leben hat zu ihrer theoretischen Ergänzung, dass ihnen ein Standpunkt entgegentritt, der die ihrigen so ver- bindet , dass je von den festen Voraussetzungen des einen aus die des anderen widerlegt werden, wobei freilich jedes positive Resul- tat verloren geht. Dies ist der Skepticismus, der sich zu der Antinomik und Aporetik des Plato und Aristoteles gerade so ver- hält, wie der Dogmatismus zu den positiven Elementen in der Speculation Beider. Das kyrenaische und kynische Element, die sich im Piatonismus und also im Aristotelismus durchdrungen hat- ten, sie hatten sich in ihrem Freiwerden in die eben betrachteten dogmatischen Reflexionsphilosophien verwandelt. Eine ganz ähn- liche Veränderung zeigt sich hier, indem die (vgl. §. 76, 6) anti- nomische Seite der Dialektik eine Rückbildung in blosse Eristik erfährt (s. §. 68, 1). Die Skeptiker verhalten sich zu den Mega- rikern ungefähr wie Epihir zum Arislipp und Chrysipp zum An- tisthenes.

II. Die Skeptiker A. Pyrrho. § 99. 169

II.

Die Skeptiker.

§. 99.

4. Pyrrho.

Pyrrhfjn aus Elis trat, nachdem er vorher Maler gewesen und auch den Feldzug des Alexander in Indien mit gemacht hatte, zuerst in seiner Vaterstadt als Lehrer auf. Neben der früheren elischen und der megarischeu Schule soll auch ein Schüler des Demoh'it , der dessen Lehre von den Sinnestäuschungen in skep- tischem Interesse ausgebeutet hatte, auf ihn eingewirkt haben. Da alle Nachrichten über ihn durch Vermitteluug des Arztes und Sillendichters Timoii aus Phlius zu uns herübergekommen sind, so ist nicht zu trennen Nvas dem Lehrer und Schüler angehört. Von dem was Diogenes von Laerte und Sextus Empiricus als Lehre des Pyrrho angeben, gehört Vieles der späteren Skepsis an. Was gewiss sein, ist auf folgende Sätze zurückzuführen : Wer das Lebensziel, die Glücksehgkeit , erreichen will, der muss fol- gende drei Punkte erwägen: wie die Dinge beschaffen sind? was unser Verhalten zu ihnen seyn muss? endhch aber: was der Er- folg dieses richtigen Verhaltens seyn wird? (Fast gleichlautend formulirt nach zwei Jahrtausenden Kant die Aufgabe der Philoso- phie.) lieber den ersten Punkt ist nichts Gewisses zu sagen, da jedem Satz seine Verneinung mit demselben Rechte entgegen- gestellt werden kann, und weder Empfindung noch Vernunft ein sicheres Kriterium abgeben , auf beide zugleich aber sich zu beru- fen eine Lächerlichkeit ist. Dann aber folgt hinsichtlich des zwei- ten, dass das einzig richtige Verhalten das ist, nichts von den Dingen auszusagen {cicpaöla) oder sein Urtheil über sie zurückzu- halten (ettox»/), denn wer sich für Etwas verbürgt, dem ist der Schade nahe. Demgemäss ist jede Entscheidung abzulehnen, auf jede Frage zu antworten : Ich bestimme Nichts, Vielleicht oder dergl, und anstatt zu behaupten : so ist es , nur zu erzählen : so erscheint es mir. Dies gilt ganz gleich von Erkenntnissen wie von sittli- chen Vorschriften, denn wie Nichts für Alle wahr, so ist auch Nichts an sich gut oder schändlich. Je mehr man nun dieser Weisung folgt, um so sicherer wird drittens die Unerschütter- lichkeit (ar«^of|tc) erreicht, welche allein den Namen der anü^na verdient. Da die gewöhnlichen Menschen stets von ihren nä^tcii geleitet werden, so kann es als die Aufgabe des Weisen bestimmt werden , den Menschen auszuziehn. Für das praktische Leben ist

170 Alte Philosophie. Dritte Periode (Verfall).

diese Skepsis ganz ungefährlich. Hier gilt die Weisung, dem zu folgen was allgemeine Gewohnheit ist, also dem was Allen gut scheint.

Diorj. Laert. IX, 11. 12. Ritter et Prellcr 1. c. §. 345 353.

§. 100.

Obgleich die Lehre des Pyrrho und Tlmon namentlich bei den Aerzten Anklang fand, so tritt doch die ganze Richtung für eine Zeitlang mehr in Verborgenheit, bis, veranlasst durch die Erörte- rungen der Dogmatiker über die Kriterien der Wahrheit, eine schulmässig ausgebildete Skeptik ins Leben tritt , und zwar zuerst in der gemilderten Form der neueren Akademie, die ihrerseits, wo sie sich im Lauf der Zeiten immer mehr dem Dogmatismus annähert , als Reaction gegen sich die Wiedererneuerung der Pyr- rhonischen Skepsis hervorruft, bereichert um eine streng wissen- schaftliche Form. Obgleich in Vielem einander verwandt, stehn sie doch in vieler Beziehung einander feindselig gegenüber, und werden deshalb in der Darstellung von einander zu trennen seyn.

§. 101.

B.

Die neiiere Akademie.

1. Arkesilnos (Ol. 115, 1 138, 4) aus Pytana in Aeolien ge- bürtig, soll zuerst von Rhetoren, dann von Theoplirast (§. 91), weiter von dem Akademiker Krantor (§. 80) gebildet worden seyn, zugleich aber auch mit Meuedemos , Dtodoros und Pij7T//on Um- gang gehabt haben, und ist nach dem Tode des Krales in der Akademie als Lehrer aufgetreten. Die dialogische Form seiner Lehren, von der einige Nachrichten sprechen, bestand vielleicht in Reden für und gegen. Schriftliches von ihm existirt nicht. Sein gutmüthiger Charakter wird gerühmt, doch aber auch allerlei Un- rühmliches ihm nachgesagt. Wegen seiner Abweichungen von Plato wird er Stifter der neueren, oder auch, je nachdem man die Mo- dificationen der Lehre zählt, der mittleren, endlich der zweiten Akademie genannt. Seine Skepsis hat er besonders im Gegensatz zu den Stoikern entwickelt, an denen er erstlich tadelt, dass sie die Ueberzeugung als ein Drittes neben die Meinung und das Wis- sen stellen, da sie doch beide begleiten kann, dann aber dass sie überhaupt eine mit Ueberzeugung begleitete Vorstellung, q)avtaaia KctruhjTiTiKi] , statuiren. Es gibt keine Ueberzeugung, da weder die sinnliche Wahrnehmung noch das Denken eine Sicherheit ge- währt. Dabei ist es ein Irrthum, dass ohne ein Kriterium der Wahrheit die Sicherheit des Handehis aufhöre; für dieses reicht die Wahrscheinlichkeit aus. Die Zurückhaltung des Urtheils führt

II. Die Skeptiker B. Die neuere Akademie. §. 101. 2 171

zur Unerschütterlidikeit , der wahren Glückseligkeit. Als der nächste Nachfolger des Arkcsiluos wird Lahjdes genannt, von dem Einige erst die neuere Akademie datiren wollen, weil Arhe- silnos noch an dem alten Orte lehrte. Dem Lahydes folgten Emm- dros und Hegesias. Sie alle verschwinden gegen

2. Kurneades von Kyrene (Ol. 141, 2 162,4), der auch als Stifter der dritten Akademie gilt, und der, in Athen sehr geehrt, als das Haupt der, im J. 158 nach Rom geschickten Gesandtschaft, hier durch seine Prunkredeu für und gegen die Gerechtigkeit den verspäteten Zorn des Odo hervorrief. Was er geschrieben hat, ist verloren gegangen. Nachrichten über ihn geben ausser Dio- genes von Laerte Se.vtns nach den Berichten seines Schülers Klei- fomachos und vor Allen Cicero. Auch Kurneades kommt zu sei- nen skeptischen Resultaten durch Bestreitung der Stoiker. Na- mentlich des Clmjsipp , von dem ganz abhängig zu seyn, er oft scherzhaft behauptet. Um die Unmöglichkeit eines Kriteriums und der, darauf sich stützenden, Ueberzeugung darzuthun, analysirt er die Vorstellung und findet , dass dieselbe ein Verhältniss habe, sowol zu dem Gegenstande, durch den, als zu dem Subjecte, in dem sie entsteht. Uebereinstimmung mit jenem gibt Wahrheit, vom Verhältniss zu diesem hängt die Wahrscheinlichkeit ab. Ueber die erstere zu entscheiden , haben wir weder an der Wahrnehmung noch an dem Denken ein Mittel. Ja, eine Vergleichuug der Vor- stellung mit dem Gegenstande ist eine Unmöglichkeit , indem wenn wir sie versuchen, es immer der schon vorgestellte Gegenstand ist , den wir in die Vergleichung ziehn. Auf eine eigentliche xa- r<!(h]t\)iq muss also verzichtet werden; selbst in der Mathematik. Wir müssen uns mit der Wahrscheinlichkeit , ni&avÖTriq, begnügen, welche verschiedene Grade hat, indem wahrscheinliche, unzweifel- hafte und allseitig geprüfte Vorstellungen unterschieden werden können. Zu welchen Widersprüchen es führe, wenn man mehr will als Wahrscheinlichkeit, davon seyen die Stoiker ein Beweis. Namentlich in dem Schlusspunkte ihrer Physik, der Lehre von Gott. Die Annahme eines unvergänglichen und unveränderlichen Wesens soll nicht nur mit den übrigen Stoischen Lehren , sondern mit sich selbst in Widerspruch stehn. So wenig von einem theo- retischen Satze gesagt werden kann, dass er absolute Wahrheit habe, so wenig von einem praktischen Grundsatz. Nichts ist von Natur oder für Alle gut, sondern Alles durch Satzung und je für verschiedene Subjecte. Wenn darum der Weise sich überall nach der bestehenden Sitte richten wird, so wird er doch in allen praktischen, gerade wie in den theoretischen Fragen sich jedes

172 Alte Philosophie. Dritte Periode (Verfall).

Urtlieils enthalten ; er wird Nichts für gewiss halten , nicht einmal dass Alles ungewiss sey. Diese Zurückhaltung, welche die Uner- schütterlichkeit zur Folge hat, soll Karneades praktisch so geübt haben, dass Kleitomachos behauptet, selbst er sey nie im Stande gewesen zu merken, welcher von zwei entgegengesetzten Behaup- tungen der Meister sich zuneige.

3. Philo von Larissa, der in Rom lehrte, wird nebst dem Cliiirmldas oft als Stifter der vierten Akademie bezeichnet. Im Anüovhüs von Askalou, den Cicero in Athen hörte und welchen man die fünfte Akademie gründen lässt, trägt die -fortwährende Polemik gegen die Stoiker die natürliche Frucht, dass die Skepsis sich mit stoischen Elementen vermischt. Diese Annäherung recht- fertigt er dadurch, dass er den Unterschied der ursprünglichen und der neueren Akademie leugnet, mit der ersteren aber die Stoiker mehr, als ihr veränderter Sprachgebrauch zugestehen wolle, übereinstimmen lässt. Diese Verschmelzung rief die Reaction der strengeren Skepsis hervor.

Diog. Laert. IV, 6. ßäter et Prellcr 1. c. §. 414—428.

c.

Rückkehr zur Pyrrhonischcu Skepsis.

§. 102. a. A e n e s i d e m. 1. Aincsidemos von Knossos, ein jüngerer Zeitgenosse des Cicero, der in Alexandrien lehrte, ward durch die Weise, in wel- cher Aidiocltos die Stoiker bekämpfte und die ihm ganz dogma- tisch erschien, wieder auf die consequentere Skepsis des Pyrrho zurückgeführt und nannte darum die (verloren gegangenen) acht Bücher Untersuchungen: Pyrrhonische. Die einzigen sicheren Nach- richten über ihn danken wir dem Pliotius; Sexlns trennt nicht immer, was Aenesidem und was seine Schüler und Nachfolger ge- sagt haben. Nur von diesen, wenn überhaupt der ganzen Nach- richt nicht ein Missverständniss zu Grunde liegt , kann gelten was er sagt, dass die Skepsis als Vorbereitung zum Herakhtismus ge- dient habe. Aincsidemos hat vielmehr die strenge Skepsis als das Ziel, die akademischen Zweifel nur als Vorübung dazu ange- sehn. Der wahre Skeptiker erlaubt sich nicht, wie der Akademi- ker, zu behaupten, dass es keine Gewissheit sondern nur Wahr- scheinlichkeit gebe. Dies wäre schon ein böy^a. Er bejaht nicht, verneint nicht, bezweifelt nicht, sondern untersucht. ZxsipLg ist nicht cySj^ig. Das Wesentliche ist, dass er gar Nichts behauptet, so dass die Ausdrücke: Vielleicht, Ich bestimme nichts u. dergl. die einzigen sind, die er sich erlaubt. Zu dieser Zurückhaltung

n. Die Skeptiker. C. Strengere Skepsis, b. Sextus Empiricus. §. 103, 1. 173

gelangt man nun am Schnellsten, wenn man Alles unter gewissen Gesichtspunkten (roTtoi oder tqötioi rijg ßxiipeag) betrachtet, deren Ahieiildemos . oder seine Schule, zehn gebraucht hat, welche Sex- tvs aufzählt. Die Verschiedenheit der gleichen Sinnesorgane bei verschiedenen Subjecten, der Widerstreit der Wahrnehmungen ver- schiedner Sinne , die Relativität der meisten Prädicate die wir bei- legen u. s. w. , sollen die Gründe seyn , warum es keine objectiv gewissen Aussagen gebe, sondern eigenthch Jeder nur seinen eig- nen Zustand beschreiben und aussagen dürfe, wie ihm Etwas er- scheine. Unter jenen Topen, welche theoretischer, praktischer, religiöser Art sind, findet sich nun auch die Unhaltbarkeit des Causalitätsbegriffes , dieses Angriffspunktes auch für manche viel spätere Skeptik. Einige Gründe gegen diesen Begriff erscheinen ziemlich flach, andere, z. B. die Behauptung der Gleichzeitigkeit von Ursache und Wirkung, gehen tiefer in die Sache ein.

2. Ein Nachfolger des Ainesidemos , Agrippa, soll die zehn Tropen auf fünf reducirt haben und als solche die Verschiedenheit des Wortsinnes, dass jedes Räsonnement auf den endlichen Pro- gress hinausführe, dass Alles relativ sey, auf bestreitbaren Vor- aussetzungen beruhe, endlich dass jedes Räsonnement sich im Kreise bewege, angeführt haben. Diogenes von Laerte gibt eine Menge von Namen an, welche die fast zwei Jahrhunderte zwischen Ainesidemos und Sextus ausfüllen sollen,

§. 103. b. Sextus Empiricus.

1, Der Arzt Sextos, wegen der von PMJinos begonnenen Rich- tung, der er angehörte, Empeirihis genannt, lebte gegen Ende des 2ten Jahrhunderts nach Christo wahrscheinlich in Athen und dann in Alexandrien. Für uns gewiss, weil seine Schriften sich erhalten haben, wahrscheinlich aber auch an sich, ist er der Be- deutendste unter den Skeptikern. Seine drei Bücher Pyrrhonischer Hypotyposen enthalten die Charakteristik des skeptischen Stand- punktes und erörtern von ihm aus die Hauptbegriffe. Nur für die Geschichte der Philosophie überhaupt , nicht für die Kenntniss des skeptischen Standpunktes insbesondere, ist sein Hauptwerk wich- tiger. Es sind dies die eilf Bücher gegen die Mathematiker, d. h. gegen alle Dogmatiker , in welchen im I.Buch die Grammatik, im 2. die Rhetorik, im 3. die Geometrie, im 4. die Arithmetik, im 5. die Astronomie, im 6. die Musik, im 7. und 8. die Logik, im 9. und 10. die Physik, im 11. die Ethik kritisirt und als unsicher dargestellt werden. Die fünf letzten Bücher werden oft auch als Schrift gegen die Philosophen angeführt, und J. Belker hat sie

174 Alte Philosophie. Dritte Periode (Verfall).

in seiner Ausgabe des Sextiis (Berol. 1842) unter der Ueberschrift TCQog Joy^axiKovg den übrigen Büchern vorausgestellt. Die Schrif- ten des Sextäs pflegen citirt zu werden nach der Ausgabe von Fnhricius Leipz. 1718. Fol. mit lateinischer Version. Ein guter Abdruck dieser Ausgabe ist in Leipzig bei Ki'tlm im J. 1842 in 2 Bdn. 8. erschienen.

2. Zuerst fixirt Sexlas den Begriff der Skepsis so, dass er den Dogmatikern, \y eiche wie Aristoteles und die Stoiker die Er- kennbarkeit der Dinge festhalten, die Akademiker entgegenstellt, welche die Unerkennbarkeit derselben behaupten. Von beiden sind unterschieden , die gar Nichts behaupten und wegen dieser Zurück- haltung Ephektiker , weil sie die Wahrheit weder meinen gefunden zu haben, noch an ihr verzweifeln, sondern sie suchen Zetetiker oder Skeptiker, weil sie in jeder Untersuchung die Schwierigkei- ten aufsuchen, Aporetiker genannt werden können. Der wahre Skeptiker behauptet nicht, dass jedem Satz der entgegengesetzte entgegengestellt werden kann, sondern sieht zu ob es nicht ge- schehen könne. Hülfsmittel bei diesem prüfenden Zusehn sind jene verschiedenen Tropen, welche auf drei zurückgeführt werden können, indem sie entweder das Verhältniss der Vorstellung zu dem Object, oder zu dem Subject, oder endhch zu beiden betref- fen; ja man kann sie alle drei als verschiedene Arten des einen Tropus von der Relativität ansehn. Gegenstand der Untersuchung sind sowol die (paivö^tva^ als die voov^uva, und da in der Unter- suchung sich findet, dass hinsichtlich beider die gleiche Berechti- gung {iGoG^evEia) entgegengesetzter Behauptungen zugegeben wer- den muss, so führt die Skepsis zur Zurückhaltung alles Urtheils, diese aber zur Unerschütterlichkeit. Der wahre Skeptiker sieht - Alles als unentschieden an, selbst dies, dass Alles unentschieden ist. An anderen Orten wird dies freilich beschränkt und der Aus- spruch, dass Alles unsicher sey, dem verglichen: Zeus ist der Vater aller Götter , der ja auch eine, freilich nur eine, Ausnahme in sich enthalte. Anstatt daher von den Gegenständen irgend etwas zu behaupten, beschreibt der wahre Skeptiker nur sein Af- ficirtwerden von ihnen, sagt Nichts über die Erscheinungen aus, sondern nur Einiges über ihr Erscheinen. Im Praktischen zeigt er dieselbe Zurückhaltung. Obgleich er überall thun wird, was der Landesgebrauch fordert, wird er sich doch sehr hüten von Irgend etwas zu sagen , es sey an und für sich gut oder schlecht. Sehr ausführlich werden die gewöhnlichen Antworten der Skepti- ker: Vielleicht, nicht mehr als das Gegentheil, Ich weiss nicht u. s. w. durchgenommen und dann gezeigt, dass, wenn es Ernst mit ihnen ist, die völlige Unangreifbarkeit die Folge seyn muss.

in. Die Synkretisten. §. 105. 175

3. Aus dem grösseren Werke des Sextus sind für die richtige Würdigung seines Slvepticismus besonders die Angriffe gegen die Logik, Physik und Ethik wichtig. Der ersteren wird die ünhalt- barkeit aller Kriterien der Wahrheit und die Unsicherheit des syllogistischen Verfahrens vorgerückt. Der zweiten werden die Schwierigkeiten und Widersprüche im Raum- und Zeitbegriff vor- gehalten. Die Ethik endlich muss sich die Verschiedenheit der sittlichen Vorschriften bei verschiedenen Völkern vorerzählen las- sen, aus der sich ergebe, dass Nichts von Natur und für Alle gut oder schlecht sey. Genug, der völlige Subjectivismus im Theo- retischen und Praktischen ist das Resultat, das sich ergibt.

Ding. Lacrt. IX, 12. Ritter et Preller 1. c. §. 467—476.

§. 104. Dass der Skepticismus beide Formen des Dogmatismus zu- gleich angriff, musste diese einander näher, und ihnen zum Be- wusstseyn bringen, in wie Vielem sie einig waren. Daher, je län- ger jener Kampf dauert, um so mehr die Lehren der Epikureer und Stoiker eine eklektische Färbung annehmen. Der Umstand, dass der römische Geist , wo er mit ihnen bekannt wird , zugleich den Skepticismus kennen lernt, so dass die Philosophie nicht von ihm erzeugt wird, sondern in Form fertiger, noch dazu ausländi- scher, Systeme an ihn gebracht wird, seine ganze Natur ferner, die ihn die Speculation niclit um ihret selbst willen, sondern we- gen praktischer (Aufklärungs - und oratorischer) Zwecke treiben und darum überall annehmbar finden lässt, was diesem Zwecke dienen kann, Beides zusammen macht es erldärlich, dass in der römischen Welt sich ein Synkretismus bildet, in welchem, je ver- verschiedner die verbundenen Elemente, um so mehr der Skepti- cismus sich als der einzige Kitt derselben erweist. Melu' oder minder sind Alle, die in Rom philosophirten , Synki-etisten gewe- sen, nur dass in den Einen wie z. B. LvcuUus, Brutus, Varro, Cato j. das stoische, in Anderen wie Pomp. Atücus und C. Cas- sius das epikureische, in noch Anderen wie im M. P. Piso das peripatetische Element vorwiegt. Der Synkretismus ist eben so sehr Dogmatismus wie Skepticismus, worin eben seine formelle Inconsequenz, und seine Hauptschwäche, als System genommen, besteht.

III. Die S^'nkretisten.

§. 105. Die Entstehung des Synkretismus ist aber nicht nur erklärlich,

176 Alte Philosophie. Dritte Periode (Verfall).

wie dies auch krankhafte Erscheinungen sind, sondern in der rö- mischen Welt ist sie eine Nothwendigkeit , und darum hat der Synkretismus der Kömerzeit eine so grosse und nachhaltige Wir- kung gezeigt. Das Princip des römischen Geistes (s. §. 93) nöthigt ihn, Avo er nach Grösse strebt, diese darein zu setzen, dass das römische Volk eine Summe vieler , wo möglich aller , Völker werde. Ein Volk aber, das sich rühmt als eine coUiuhcs entstanden zu seyn, das nicht müde wird durch Juxtaposition zu wachsen, das den Erdkreis als das ihm verheissene Land ansieht, dessen Tem- pel ein Pantheon ist, das kann die wahre und seine Philosophie nur in einer solchen sehen, welche Platz hat für alle, auch die verschiedensten Lehren. Nur unter einer Herrschaft wie die all- umfassende römische ist der philosophische Synkretismus das Ge- heimniss aller denkenden Menschen, da aber hat er sein welthi- storisches Recht, ist eine grosse, darum nachhaltige , Erscheinung. Der Synkretismus tritt aber auf in zwei wesentlich verschiedenen Formen. In der einen kann er nach seinem Hauptsitz der römi- sche, nach seinem Hauptrepräsentanten der Ciceronische, nach den Elementen, die in ihm gemischt werden, der klassische genannt werden. Da hier nur gemischt wird, was die Philosophie bereits besessen hatte, so sind es nicht neue Ideen, die sein Verdienst ausmachen, sondern die geschmackvolle Weise und die schöne Form des Philosophirens : sie sind es wegen der, als im späteren Mittelalter die Philosophie zur äussersten Geschmacklosigkeit ge- kommen war, auf Cicero als den wahren Autibarbarus hingewie- sen werden konnte (s. §. 239, 2). Ganz anders ist die Stellung des Synkretismus in seiner zweiten Form, wo er nach seinem Hauptsitz der Alexandrinische, nach seinem Hauptvertreter der Philonische, nach seinem Inhalte der hellenistische genannt wer- den kann. Das Hineinnehmen religiöser, namentlich aber orienta- lischer Ideen in die Philosophie bereichert sie so, dass, verglichen mit dem oft so tiefen Inhalt bei den Alexandrinischen Synkreti- sten, die Lehre des Cicero flach erscheinen kann. Aber da jene Ideen auf einem ganz anderen Boden erwuchsen, als die mit de- nen sie jetzt verschmolzen werden sollen , so wird die Verbindung form- und geschmacklos, oft monströs, und in der Form ist Ci- cero dem Philo weit überlegen. Eben darum hat, gleichfalls im späteren Mittelalter, als die Philosophie fast allen Inhalt verloren hatte, und sich in bloss formellen Spielereien gefiel, die Erinne- rung an Alexandrinische und ihnen verwandte Lehren als Heil- mittel gedient.

in. Syiikretisten. A. Klassischer Synkretismns a. Cicero. §. 106, 1 '2. 1<7

Der klassische Synkretismus.

§. 106. a. Cicero.

1. M. Tulliiis Cicero, 107 v.Chr. in Arpiuum geboren, 44 v. Chr. ermordet, verdankt, wie er das oft ausgesprochen hat, seine Bildung Griechenland , das er als junger Mann für mehrere Jahre zum Wohnsitz nahm. Besonders als Redner, aber auch als Staats- mann und Philosoph ist er berühmt geworden, in letzterer Bezie- hung bei der Nachwelt mehr als bei den Zeitgenossen. Zuerst vom Epikureer Phüdnis in die Philosophie eingeführt, hat er spä- ter den Unterricht des Epikureers Zeno. der Akademiker Philo und Aiüioclnis , der Stoiker Diodotns und Posidonius genossen, ausserdem aber ungeheuer viel gelesen. Seine philosophische Be- schäftigung, die er immer wieder vornahm, wenn er vom Staats- dienste zurückgedrängt war, hat besonders zum Zweck gehabt, seinen Landsleuten in der eignen Sprache und von allen Einsei- tigkeiten befreit, das zu sagen, was die griechischen Philosophen ergrübelt hatten. Darum ist er oft bloss Uebersetzer. Dabei ver- leugnet sich in der Form nie der Redner, in der Tendenz nie der praktische Römer. Das Publicum, das er sich denkt, besteht aus gebildeten und verständigen Männern höheren Standes, mit denen er im geistreichen Räsonnement sich ergeht. Wie die Sophisten in Athen den Boden für die Saat wahrer Philosophie vorbereite- ten , so hat für weitere Kreise und zu verschiedenen Zeiten Cicero ein Gleiches geleistet. Seine Werke sind durch Jahrtausende die Schulbücher gewesen , welche selbst in den dunkelsten Zeiten die Kunde von dem, und das Interesse an dem erhielten, womit sich Griechenlands Philosophen beschäftigt hatten.

2. Da der Hortensius, in welchem Cicero den Werth der Philosophie überhaupt besprochen hat, verloren gegangen ist, so sind für seine Philosophie die wichtigsten Werke : hinsichtlich sei- nes ganzen Standpunkts die, aus zwei verschiednen Redactionen verschmolzenen, nicht vollständig erhaltenen zwei Bücher (von vie- ren) Academica, für die theoretische Philosophie die Schriften de natui-a Dcorum Lil)b. III und- de divinatione Libb. II, für die prak- tische: De finibus bonorum et malorum Libb. V, die Tusculanae quaestiones Libb. V , de officiis Libb. 111 und was von seinen Bü- chern de republica erhalten ist. Die anderen Schriften praktischen Inhalts sind mehr populäre Declamationen als Abhandlungen zu nennen. Der Ausgaben seiner Werke gibt es bekanntlich sehr viele.

Erdmann, Gesch d. Phil 1. lO

178 Alte Philosophie. Dritte Periode (Verfall).

3. Dem ganzen Naturell des Cicero, so wie der Aufgabe, die er sich gestellt hatte , entsprach am Meisten ein gemässigter Skep- ticismus, wie derselbe stets die Theorie der Weltmänner zu seyn pflegt. Dies der Grund, warum er als seine Philosophie die der neueren Akademie zu bezeichnen pflegt, die ihn in Stand setze, ohne sich einem bestimmten Systeme zu verpflichten, vereinzelte Untersuchungen anzustellen und, was ihm am Wahrscheinlichsten sey, anzunehmen. Die Art der neueren Akademie, Gründe für und gegen Alles aufzusuchen, hat darum seinen vollen Beifall; sie erlaubt, was namenthch dem Redner so wichtig ist (vgl. de fato 1, Tusc. II, 3), nach Umständen dies oder jenes geltend zu machen. Endlich, was nicht ihr kleinster Vorzug, sie macht be- scheiden und schützt vor den abgeschmackten Uebertreibungen, in denen sich die anderen Systeme gefallen, die nicht auf die allge- meine Meinung achten. Zu diesen Uebertreibungen rechnet Cicero die deklamatorischen Beschreibungen des Weisen bei Epikureern und Stoikern , bei welchen es zuletzt darauf hinausläuft , dass es nie einen Weisen gegeben hat. Im Sinne dieser, ist er keiner und will es nicht" seyn. Er will auch nicht schildern was der voll- kommne Weise weiss und vermag , sondern was dem verständigen Manne wahrscheinlich ist , und wie er sich zu betragen hat. Seine Aufgabe ist nicht, ein neues System aufzustellen, sondern indem er in geschmackvoller Weise und in reiner lateinischer Sprache logische, physikahsche, besonders aber ethische Untersuchungen anstellt, dazu beizutragen, dass zu den übrigen Siegeskräuzen, die Rom den Griechen eutriss, auch der der Wissenschaften und na- mentlich der Philosophie hinzu komme (u. A, Tusc. II, 2). Nach dem Plato und den Akademikern stellt Cicero den Aristoteles und die Stoiker am Höchsten. Am Wenigsten hält er von der Lehre des Epikitr. Sie ist ihm so leichtfertig und darum so un- römisch, dass er behauptet, die Epikureer wagten in römischer Gesellschaft gar nicht, offen zu reden. Ihr eigentlicher Lehrmei- ster, Demohrit, steht ihm viel höher als sie.

4. Sondert man, was Cicero über die einzelnen philosophi- schen Disciplinen gesagt hat, so findet man über die Logik meist Negatives. Er tadelt die Epikureer , dass sie die Definitionen, die Eintheilungen , die Syllogistik vernachlässigt haben , und preist im Gegensatz dazu die Peripatetiker. Er bestreitet sowol Epikureer als Stoiker , wenn sie meinen ein sicheres Kriterium der Wahrheit zu besitzen ; ein solches gibt es nicht , obgleich die Sinne , nament- lich der gesunde Menschenverstand, einen genügenden Grad von Wahrscheinlichkeit gewähren, um mit Sicherheit handeln zu können.

m. Synkretisten. A. Klassischer Synkretisimis. a. Cicero. §. 106, ü. 179

5. Was die Physik betrifft, so liebt es Cicero auf die Lü- cken in dieser Wissenschaft, und darauf hinzuweisen, dass es kaum einen Punkt gebe, der nicht streitig sey. Er will aber gerade darum, dass das Studium derselben getrieben werde, es wird dazu dienen die Anmassung des Wissens zu dämpfen und bescheiden zu machen. Ausserdem muss man in Einem selbst den Epiku- reern Pi echt geben, nämlich dass die Beschäftigung mit der Natur- kunde das beste Mittel ist, von Furcht und Aberglauben befreit zu werden. (Nur nuiss man die Wirkung dieses Studiums nicht darauf beschränken , es erhebt auch und bessert.) In diesem Punkte haben es nun die Stoiker sehr an dem fehlen lassen, was Cicero von einem verständigen Manne, und nun gar von einem Philoso- phen, erwartet. So sehr er nämhch selbst dafür ist, dass die re- hgiösen Vorstellungen des Volks geschont werden, da sie zum Wohl des Staates für die Masse nothwendig sind, so fällt es ihm docli nicht ein, die Erzählungen von den vielen Göttern, eben so die Untrüglichkeit der Augurieu und aller übrigen Orakel für wahr zu halten, die Stoiker mit ihrer philosophischen Begründung des Polytheismus erscheinen ihm darum als Patrone des Obscurantis- mus. Eben so ist ihm, schon aus ethischen Gründen, weil da- mit keine Freiheit vereinbar, das Fatum der Stoiker ein AVahn. Er selbst kommt durch die teleologische Betrachtung der Welt zur Gottheit, wie ihm auch das vorkommende Unzweckmässige die meisten Scrupel hinsichtlich dieses Punktes macht. Er denkt sich die Gottheit als Eine, sie ist unserem Geiste wesensgleich, wie sie denn auch der Welt gerade so innewohnt wie unser Geist unserem Leibe. Diese Wesensgleichheit wird oft so hervorgeho- ben, dass es fast pautheistisch klingt. Dass Gott bald als ein immaterielles Wesen bezeichnet wird, und bald wieder mit einer feuerähnlichen Substanz oder auch dem Aristotelischen Aether iden- tificirt wird, hat seinen Grund in einem ganz ähnlichen Schwan- ken hinsichtlich des menschlichen Geistes, üebrigens will Cicei'o durchaus nicht , dass alles Einzelne auf die götthche Wirksamkeit zurückgeführt werde: gar Vieles wirkt die Xatur öderes geschieht von selbst. Ausser der Gottheit ist dem Cicero in der Physik Nichts so wichtig, wie der menschliche Geist. Dass er mehr ist, als die grob materiellen Bestandtheile der Welt, das steht ihm fest, eben so die Freiheit. Auch die Unsterblichkeit ist ihm im höchsten Grade wahrscheinhch , obgleich er davor warnt, den phi- losophischen Beweisen dafür zu viel Glauben zu schenken. Was die Beschaffenheit des Lebens nach dem Tode betrifft, so soll es

12 *

180 Alte Philosophie. Dritte Periode (Verfall).

glücklich seyn; Alles was von Strafen und Qualen erzählt wird, erklärt er für Aberglauben.

6, Mit der grössten Vorliebe beschäftigt sich Cicero mit der Ethik; früher oder später führt jede Untersuchung ihn auf ethi- sche Fragen, und er erklärt wiederholt, dass die Philosophie die Kunst des Lebens sey, und dass die Untersuchungen über das höchste Gut die Hauptsache in der Philosophie ausmachen. Der Standpunkt, den er dabei einnimmt, nähert sich in sehr Vielem dem Stoischen. In den Paradoxen commentirt er die Lieblings- formeln der Stoiker so als gehörte er ganz zu ihnen. Dabei aber mildert er durch das Hineinnehmen Peripatetischer Elemente ihre Härten. Dadurch erscheint er oft schwankend. Nur in Einem bleibt er consequent, das ist die Bekämpfung der Epikureischen Lehre, deren Darstellung und Widerlegung die ersten beiden Bü- cher der Schrift de finibus gewidmet sind. Schon bei den unter- menschlichen Wesen lasse sich nachweisen , dass es etwas Höheres gebe als die blosse Lust, nun gar bei dem Menschen, der ja selbst beim Essen mehr verlangt als imr sie. Der Tadel der Peripate- tiker, dass sie die Tugend in die Mässigung statt in die Unter- drückung der Triebe gesetzt hätten, die Behauptung, dass alle Affecte krankhaft, dass mit einer Tugend alle gegeben seyen, dass die Tugend in sich selbst ihren Lohn habe , dass das wahre Glück selbst in die Kuh des PhaUiris hinabsteigen könne u. s. w. alles dies erinnert an die Stoiker und ihre Declamationen. Dann aber besinnt sich Cicero wieder; alles dies gilt nur von dem wirklich Weisen, der nirgends vorkommt, und von dem allein man das rede factum (xaroQd-coiia) prädiciren könne, während bei dem wirk- lichen Menschen es schon hinreiche, wenn er nicht hinter dem officium {Kci&ijKov) zurückbleibe ; für das wirkliche Leben ist Glück- seUgkeit, ohne dass auch Glück dazu käme, nicht denkbar; eine massige Lust ist durchaus nicht zu verschmähn; im Grunde ist der Schmerz doch ein Uebel u. s. w. Kurz , es ist als hörte man einen Peripatetiker. Er selbst findet darin keine Inconsequenz, denn der Unterschied zwischen Stoikern und Peripatetikern soll mehr in den Worten hegen. Was er an den Stoikern besonders tadelt ist, dass sie nicht den ganzen Menschen, sondern nur einen Theil von ihm, das Geistige, ins Auge fassen, und darum das höchste Gut verkümmern, welches nur dann vollständig gefasst wird, wenn darin das der (natürlich ganzen) eignen Natur Ge- mässseyn aufgenommen ist.

7. Charakteristisch ist nun, wie Alles, was die griechischen Philosophen gelehrt hatten, von dem römischen Uebersetzer nicht

III. Synkietisten. A. Klassischer Synkretismus, b. Seneca. §. 107, 1. 181

nur in die Sprache, sondern auch den Geist seines Volks über- tragen wird. Wo der künstlerische Grieche „schön" zu sagen pflegte, da begegnet man bei Cicero immer dem Ehrenvollen und Wohlanständigen (honestum, deconim). Zwar protestirt er dage- gen, dass hier der Werth der Handlung abhängig gemacht werde von der Beurtheikmg Andrer, denn auch ungelobt bleibe das Löb- hche löblich, allein, wie sehr der bürgerliche Gesichtspunkt des Anerkanntseyns hervortritt , zeigt nicht nur die Bezeichnung tiirpe für das Schlechte, sondern die Art, wie er in der Ehrliebe der Knaben die ersten Spuren der Tugend nachweist, und dem Ruhm eine Aehnlichkeit mit der Tugend zuschreibt. Durch das Hinein- nehmen dieses bürgerlichen Gesichtspunktes modificirt sich nun auch die Unterscheidung zwischen dem juridisch und moralisch Verwerflichen , wie dies z. B. dort hervortritt , wo die buchstäbliche Befolgung der lex Voconia eine schändliche That genannt wird, während es doch sonst entschuldigt wird, wenn man mn eines Freundes willen die Gesetze rabulistisch auslegt. Das Eine ist gegen die consnehido , das Andere nicht, es ist nicht anständig wie Jener, es ist nobel, wie dieser zu handeln. Die ganz reine Subjectivität des modernen Gewissens fehlt hier noch , und es bleibt Phrase, wenn er auf den Ehrenmann die sprüchwörtliche Redens- art anwendet, dass man mit ihm im Dunkeln würfeln könne.

Ritter et Preller 1. c. §. 436—446.

§. 107. b. Seneca.

Böhm Seneca und sein "Werth. Berlin 1856. Holzhei-r Der Philosoph Lucius Annäus Seneca. Rastatt 1858.

1. Auch Lucius Annäus Seneca, geb. im J. 5 n. Chr. in Cor- duba, gest. 65 n. Chr., ist wie er das wiederholt ausspricht Syn- kretist, obgleich das Stoische Element in ihm vorwiegt. Das grosse Ansehn, welches er in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeit genoss , Hess die Sage von seiner Bekehrung durch den Apo- stel Paulus eutstehn , und diese wieder stützte seine Autorität im Mittelalter, dem, neben Plinius, Seneca der Hauptlehrer in der Physik war. Bei dem Erwachen des philologischen Interesses ge- gen Ende des Mittelalters ward er fast eben so wie Cicero cul- tivirt. Wie für diesen, so -kam auch für Seneca eine Zeit über- triebener Nichtachtung , die zum Theil noch fortdauert. Unter den vielen Ausgaben seiner Werke kann die ältere des Lipsius Antw. 1605 und die neueste von Jfaasc Leipz. 1852 genannt werden. Die meisten seiner Schriften sind populäre Behandlungen ethischer Fragen (de ira, de consolatione , de animi tranquillitate , de con-

1"'^ Alte Pliilosopliie. Dritte Periode (Vertallj.

stautia sapieiitis , de dementia) , andere betreffen die Physik (Quae- stiones naturales), noch andere Eehgiöses (de Providentia). Die grösste Vielseitigkeit zeigt sein Hauptwerk, die hundert und vier und zwanzig Briefe ad Lucilium.

2. Die Herrschaft der Vernunft über die Sinnlichkeit, die durch sittliches Handeln anzustrebende Gottähnlichkeit, welche sich in dem gleichniüthigen Ertragen aller Umstände zeigt, so dass die liu'ta^ jMiupcrtas und das pati posse diritms den Weisen charak- terisirt, die Selbstgenügsamkeit, die sogar ohne Freund leben kann, das ist was er fortwährend anräth und wofür er fast eben so oft die Autorität des Epikiir als der Stoiker anruft. Vor Al- lem ist ihm die Philosophie praktisch, j'acere doccl , höh Hlcerc sagt er; sie ist stvdhnn virtuiis ; die Tugend aber oder die Weis- heit setzt er vor Allem in die Consequenz: SapieHtis est scmpcr idem velle at.qvc idem noile. Dies, so wie die häufigen Behaup- tungen, dass der Schmerz unbedeutend, der Selbstmord letztes Auskunftsmittel sey, ist rein Stoisch, eben so wenn er sagt, dass es Eins gebe, worin der Weise selbst über der Gottheit stehe, dass er nicht von Natur, sondern durch sich, weise sey. Dann aber spricht er sich auch sehr oft gegen die Stoiker aus, sein praktischer Sinn lässt ihn ihre spitzfindigen Untersuchungen , sein Weltverstand ihre Uebertreibungcn tadeln, namentlich in dem theo- retischen Theil seiner Philosophie zeigt er eine Neigung zum Skep- ticismus der neueren Akademie.

3. Vor Allem ist ihm charakteristisch die Abtrennung der Moral von der naturalistischen Grundlage, die sie bei den Stoi- kern hatte, das Anknüpfen derselben an religiöse Motive, an ein angebornes sittliches Gefühl und an den Zorn über die verdorbene Welt, was Alles seiner Weltanschauung jene an die christliche erinnernde Färbung gibt, die Jeden überrascht. Viele blendet. Die Erhebung über die Schranken der Nationalität zum Gedanken einer rein menschlichen Tugend, die den Standesunterschied auf- hebt und keinen zwischen Feind und Freund statnirt, die Aner- kennung der Schwäche der menschlichen Natur, die manchmal caro genannt wird, die Nothwendigkeit des göttlichen Beistandes zur Tugend, die Lehre, dass die ymigQ Hingabe an Gott die wahre Freiheit sey u. s. w., alles dies hat Manche, namentlich Franzo- sen , dahin gebracht den Seneca einen vom Christenthum angereg- ten Mann zu nennen. Wir möchten ihm vielmehr die Stellung eines Vorläufers desselben anweisen, mit der es verträglich ist, dass er die Christen sceleraUssima gens nennt. Der Ausdruck

III. Syukretbteu. B. Der lielleiiisti.'^che Synkretismus §. 108. 109. 183

des Erasmus: si legns eiim ut pagamim scripsit Christiane , si iit christianum scripsit pagaiiice ist sehr treffend.

Ritter et Pi-eller 1. c. §. 452. 453.

B.

Der helleuistische Synkretismus.

J. A. D. LuttcrbecJc Die ueutestamentllcheu LehrbegriflFe. Mainz 1852. 2 Bde.

§. 108. Alexander des Grossen kurze Weltherrschaft ward von dem ewigen Werke überdauert, von dem seine Vermählung mit einer Orientalin das Symbol geworden ist. Seine Gründung Alexandria's, die fast so wichtig geworden ist, wie die Rom's, schuf einen neu- tralen Boden, auf dem das Griechenthum dem Orientahsmus, und namentlich der Form desselben begegnet, die zu ihm den schroff- sten Gegensatz bildet. Während die Schönheit des griechischen Wesens in der Lust an dem Sinnlichen wurzelt und untrennbar ist von der Ansicht, dass, was geschehen möge, von selbst ge- schieht oder Naturlauf ist , besteht die Erhabenheit des Judenthums darin, dass es den nicht- sinnhchen Gott Alles beliebig schaffen lässt, so dass es eine Natur im eigentlichen Sinne gar nicht gibt, sondern die Welt und was darinnen, nur ein, stets neues, Werk des Allmächtigen ist. Dieser Gegensatz, welcher den Griechen dahin bringt, nach Naturgemässheit, den Juden dazu, nach über- (d. h. nicht-) natürlicher Heiligkeit zu trachten, muss beide sich gegenseitig zum Aergerniss und zur Thorheit machen. Unter dem Schutze der Ptolemäer, auf die sich Alexanders Judenfreundschaft fortgepflanzt hatte, entwickelt sich, besonders durch den Umstand hervorgerufen , dass sie anfangen griechisch zu sprechen , d. h. zu denken, in den Juden ein Verlangen, Alles sich anzueignen was der griechische Geist ersonnen hatte. Und wieder die Griechen, denen die beiden grossen Macedonier den Ruhm geraubt hatten, die allein Unbesiegten und allein Gebildeten zu seyn, und deren Weisheit sich im Skepticismus bankerott erklärt hatte, suchen ihrer Armuth durch Aneignung orientalischer Ideen abzuhelfen. Aus diesem gegenseitigen Verlangen erzeugt sich ein ganz neuer Geist, den man , die gewöhnliche Bedeutung des Wortes etwas erweiternd, den hellenistischen nennen kann, er ist das Bewusstseyn des Dranges , welcher den Alexander zur Gründung seines Weltreiches trieb , und kann , wo sich Alexanders Aufgabe auf die Römer ver- erbt, nur immer neue Nahrung finden.

§. 109. Indem der Grieche den hellenischen, der Jude den orientali- schen Ideenkreis mit dem hellenistischen, d. h. aus Hellenismus

184 Alte Philosophie. Dritte Periode (Verfall).

und Orieutalismus gemischten, vertauscht, bekommt Jener ein In- teresse für Solches, was den Naturlauf zu unterbrechen scheint, für Wunder und Weissagungen. Dies streitet eben so mit dem acht griechischen Geiste, in welchem Aristoteles die Wunder mit den Missgeburten gleich stellte, Plato die Mantik dem unteren Menschen zuwies, wie es wieder mit dem altjüdischeu Geiste strei- tet, dass jetzt die geistig Begabtesten unter den Juden anfangen, mit Naturwissenschaften und ärzthcher Kunst sich zu beschäftigen, dass eine Neigung zum Fatalismus sich bei ihnen entwickelt, und dass in den Apokryphen, die in dieser Zeit entstehn, die Schön- heit gepriesen Avird. Wie bei jedem Gemisch, so ist auch bei die- sem die Möglichkeit gegeben, dass je eines der beiden Elemente vorwiege, und so werden zu den Erscheinungen des hellenistischen Geistes sowol die orientalisirenden Griechen, als die hellenisirenden Juden zu rechnen seyn. Dass bei jenen die Philosophie, bei die- sen die Rehgion die Grundlage bilden , dort die Philosopheme eine religiöse Färbung annehmen, hier an die religiöse Satzung Specu- lation sich ansetzen wird, liegt in der Natur der Sache. Eben so dass in beiden Richtungen das hinzutretende Element nur all- mählich immer sichtbarer hervortreten wird.

a. Orientalisir ende Hellenen. §. 110. Der Name Neupythagoreer, mit dem man die orientalisi- renden Griechen dieser Zeit bezeichnet, ist nur in sofern richtig, als man Cicero einen Akademiker nennen kann. Neben dem näm- lich, was sie wirklich dem Pijihügoras entnehmen, finden sich Platonische, Aristotelische, Stoische, ja selbst Epikureische Ele- mente in ihnen. Ausserdem Orientalisches, besonders Solches, wo- rin Dualismus hervortritt, mit dem sich sowol die Zahlenlehre der Pythagoreer, als auch der Piatonismus leicht verbinden Hess. Per- sische, namentlich aber Aegyptische Lehren mussten sich den, gros- sentheils in Alexandria gebildeten , Männern empfehlen. Wäre die Ansicht llöths (s. §. 31) richtig, so würde erst in dieser Zeit die ächte Lehre des Pythagoras anfangen , über die bisher allein wirk- same seiner unächten Schüler das Uebergewicht zu erhalten. Vom Niyidius Figuius haben wir durch Cicero, vom Sexlias und un- ter dessen Schülern vom Sotion durch Seneca einige spärliche Nachrichten. Beide scheinen ihre Anregung in Alexandria empfan- gen zu haben , wo der Pythagorismus mächtig sein Haupt erhoben hatte, und die untergeschobenen Schriften des Archytus , Ocellns Lucanus u. A. entstanden. Dabei scheinen sich bald zwei verschie-

III. Syukretiijteu. B. Hellenistischer S. a. Orieutalisireude Helleneu. §. 111. 185

dene Riclitimgen geschieden zu haben, von denen freilich die Repräsentanten, welche uns bekannt geworden sind, einer späte- ren Zeit angehören. Moder atiis aus Gades und ISilomachos aus Gerusa in Arabien haben die Zahlenlehre mehr betont, ApoUonius von Tyana dagegen scheint mehr die religiösen und ethischen Ele- mente des Pythagorismus ausgebildet zu haben. Wir wissen we- nig von ihm, denn der Tendenzroman des Pldlostratos , der ihn zum Gegenstande hat, ist mehr eine Quelle unserer Kenntuiss des späteren, gegen das Christenthum reagirenden Neupythagorismus im 2**"^ und 3*"' Jahrhundert nach Christo. Der grösste Theil der Orphica möchte um diese Zeit entstanden seyn.

Baur Apollouius von Tyana und Christus. Tübingen 1852.

§. 111.

1. Die bestimmteste Vorstellung eines hellenischen aber orien- talisirenden Philosophirens gewähren uns die Schriften des Plutar- chos von Chäronea (50 120 n. Chr.), die, obgleich sehr viele da- von verloren gegangen sind, uns deutlich zeigen, wie in ihm mit Platonischen, Pythagoreischen, Peripatetischen, ja (trotz seiner Po- lemik dagegen) auch Stoischen, Philosophemen sich religiöse Vor- stellungen vermischen, die Persischen und Aegyptischen Ursprung verrathen. Da Plutarch nicht einmal die Juden genau genug kennt, um ihre Religion von der Syrischen zu unterscheiden, geschweige denn dass er von christlichen Lehren Notiz genommen hätte, so muss er von manchen ihm sonst geistverwandten Männern, wie z. B. dem Numenius, geschieden, und ganz dem Alterthum zuge- wiesen werden. Freilich steht er ganz an der Grenze desselben, und diese Stellung macht es erklärlich, dass, wie Eniige durch das Studium des Seiieca , so noch Mehrere durch das des Plutarch zu einem lebendigen Christenthum gebracht worden sind. Plii- tarclis Werke sind oft herausgegeben worden. Die Ausgaben von //. Stephanns in 13 Bdn. 1572, von Reiske 12 Bde. 1774—82, von Hütten 14 Bde. 1791 1804 sind die berühmtesten.

2. Obgleich Plutarch selbst sich zu den Akademikern rechnet und oft, gerade wie sein Lehrer Attlcus, dessen Philosophiren mehr ein philologisches Commentiren des Plato scheint gewesen zu seyn, eine fast sklavische Furcht zeigt, vom Pluto abzuweichen, so entfernt er sich doch von ihm tlieils indem er seine Lehren im Aristotehschen Sinne umdeutet, theils indem er im Geiste der Nacharistoteliker die Theorie der Praxis unterordnet, theils end- lich durch seinen Dualismus, dessen Verwandtschaft mit Persischen und Aegyptischen Lehren er selbst anerkennt, und nach welchem ein gutes und ein böses Urwesen auf die indifferente Materie ge-

186 Alte Philosophie. Dritle Periode (V^erfall.)

staltend einwirken. Die böse Weltseele, von der PlcUo in den Gesetzen gesproclien hatte (§. 79, 6), ist ihm daher sehr willkom- men. Die Macht des guten ürwesens ist die grössere, es selbst daher der erste Gott. Sein Walten ist die Vorsehung. Unter derselben steht, gleichsam eine zweite Vorsehung, die Herrschaft der untergeordneten Götter, der Gestirne; unter dieser endlich die Wirksamkeit der guten sowol als bösen Dämonen, welcher Plutarch trotz aller seiner Polemik gegen allen Aberglauben, namentlich hinsichtlich der Orakel und alles Mantischen, sehr viel einräumt. Aus dem Einfluss der Gestirne folgt, da alle Constellationen von Zeit zu Zeit Aviederkehren müssen, die periodische Wiederkehr aller Begebenheiten, die Plnlarch in Uebereinstimmung mit den Stoi- kern behauptet. Wie mit den Stoikern geht es ihm auch mit den Epikureern und Skeptikern, er bekämpft sie und entlehnt ihnen doch sehr Vieles.

3. Geistesverwandte , obgleich lange nicht ebenbürtige Geistes- genossen, sind Mnxhnus von Tyrus und Apulejns^ an welche sich dann später der Christenbekämpfer Celsus schResst.

Bitter et Preller 1. c. §. 496 500.

b. Hellen! sirende Juden.

Gfrörer Philo und die ale.\audrinische Theosophie. Stuttg. 1831. Dähne Ge- schichtliche Diustelluug der jüd. alexaudr. Religionsphilos. Halle 1834. Vgl. dazu die Recensioii aoii Baur in deu Jahrb. f. wissensch. Kr. 1835. Nov. und Oeorgii in Ittgens Zeitschr. f. histor. Theol. 1839. S^es Heft.

§. 112. Von grösserer Bedeutung, nicht nur für das christliche Dog- ma, sondern auch für die weitere Entwicklung der Philosophie, ist der hellenisirende Judaismus geworden. Zuerst aus der allgemei- nen Bildung, dann in Folge des entstandenen Interesses daran aus Büchern, die kein Ort so sehr wie Alexandria zugänglich machte, eigneten sich die gebildeten Juden viele Ideen griechischer Philo- sophen, namentlich des Plaio und Aristoteles , an. Dies erzeugt, indem sie dabei festhalten, dass die Juden im ausschliesslichen Besitze der geoffenbarten Wahrheit seyen, einen Widerspruch in ihrem Bewusstseyn, dessen Lösung in der, nicht aus Reflexion, sondern von selbst und zugleich mit jenem Interesse entstehenden, Vorstellung gefunden wird, dass die Griechen ihre Weisheit, wenn auch auf einem Umwege , aus dem alten Testamente geschöpft ha- ben. Nicht weniger steht die, dem Plato und Aristoteles ent- lehnte, Ansicht von dem Unwerthe alles Materiellen, und die Lehre der Stoiker von dem Werthe nur der Gesinnung und der Gleich- gültigkeit jeder äusseren Handlung im Widerspruch mit Vielem,

ni. Synkietisteu. B. Hellemstischer S. b. HelleuisLrende Juden. §.113. 187

was das Alte Testament von Tlieophauieu und dergl. erzählt, so wie mit dem Werthe, den dasselbe auf manches ganz äusseiiiche Thun legt. Auch hier findet, nicht die Reflexion, sondern der Instinct ein Auskunftsmittel : die allegorische Erklärungsweise, nach der neben dem buchstäblichen Sinne in den bibhschen Erzählun- gen ein tieferer, namentlich ethischer enthalten seyn soll, ist keine Unredhchkeit , sondern sie ist die ganz natürliche Weise, \de die griechischen Philosopheme an die religiöse Tradition angeknüpft werden.

§. 113. Deutliche Spuren des Platonisirens finden sich schon in der, wahrscheinlich auf Befehl des Rathes der Siebzig veranstalteten, und darum LXX genannten, griechischen Uebersetzung des Alten Testaments. Sie selbst wird dann wieder Anhaltepunkt für wei- teres Hellenisiren In den Apokryphen des Alten Testaments, vor Allem in der Weisheit des (Pseudo-j Salomon geht es schon sehr weit. Melleicht gar Verfasser dieses Buchs, gewiss aber von gleichen Ansichten beseelt, war Arislohidas , der Erzieher des siebenten Ptolemäers , aus dessen 'E^riyrixiy.olg uns Clemens und Eusehius Fragmente überliefert haben. Es geht aus densel- ben hervor, dass er selbst Einschiebungen nicht verschmäht hat, um zu beweisen, dass Orpheus, Pijthaynras , Plato ihre Lehren aus dem Alten Testamente haben , und eben so dass er viele ganz Platonische Lelu'en vermöge der Allegorie aus seinen heiligen Schriften herauslas. Dass die Aegyptischen Therapeuten sich Vie- les aus der hellenisirenden , namentlich pythagorisirenden , Theo- sopliie aneigneten, kann als erwiesen angesehn werden. Streitig ist es hinsichtlich der Essener, seit gewichtige Stimmen sich da- für erhoben haben, dass iln- Standpunkt nur die consequente Durch- führung einer rein jüdischen Idee zeige. Wenigstens in ihrer spä- teren Verbindung mit den Therapeuten werden auch sie als Trä- ger des hellenistischen Geistes angesehn werden müssen. Erzeug- nisse desselben Geistes sind das Buch Henoch , der grössere Theil der zu uns herüber gekommenen sibyllinischen Weissagungen, viel- leicht auch ein Theil der Schriften, die den Namen des Heimes Trismeyislos führen, und die allerältesten Elemente der, mehr als ein Jahrtausend später ausgebildeten Cabbalah. Für uns ist der wichtigste Repräsentant dieses Standpunkts:

188 Alte Philosophie. Dritte Periode (Verfall),

§. 114. Philo Judaeus.

G^rossmanii Quaestioues Philoneae. Lpz. 1829. Steinhart v. Pliilo iu Pauly's Realeucyclopädie. V. p. 1449.

1. Der Jude Pliilo, der nicht nur die wichtigste Quelle für unsere Keuntniss dieser Richtung, sondern wohl auch ihr bedeu- tendster Repräsentant ist, wozu ihn gerade sein mehr sammeln- der als ei-findender Geist geschickt machte, ist einige Jahre vor Christo in Alexandria geboren. Obgleich viele seiner Schriften verloren gegangen sind, so ist doch der grössere und wahrschein- lich der bedeutendere Theil auf uns herübergekommen. Die Pa- riser Ausgabe von Turnehns 1525 ist 1691 in Frankfurt abge- druckt. Die Londoner von Manyey 2 Bde. 1742, die Erlanger von Pfeiffer 5 Bde. 1785, die Leipziger von Richter 8 Bde. 1828 sind die besten. Meistens in allegorisirenden Commentaren des Alten Testamentes entwickelt Philo folgende Lehren:

2. Da die Sinne täuschen und auch Vernunftgründe keine voll- ständige Sicherheit gewähren, so beruht zuletzt alle sichere Er- kenntniss auf der, im Glauben aufzunehmenden Erleuchtung, zu der als einer göttlichen Gnadengabe der Mensch sich lediglich empfangend verhält. Das Werkzeug, durch welches Gott diese Offenbarung gegeben, ist vor Allen Moses gewesen, daher die jüdischen Priester am Leichtesten zur wahren Philosophie gelan- gen können. Auch die Griechen übrigens gelangten zu ilir durch Moses, nur indireet, indem Pythogoras, Pinto, Aristoteles und alle Uebrigen aus Moses geschöpft haben. Den Inhalt der Offen- barung, und darum auch der Philosophie, Ijildet vor Allem Gott. Dieser niuss, da jede Veränderung eine Un Vollkommenheit invol- virt, als absolut unveränderlich, darum als der schlechthin (nicht werdende, sondern) Seyende, als das alle Mannigfaltigkeit aus- schliessende Eins gedacht werden. "Ev, ov, oder besser o coV , sind deswegen die besten Bezeichnungen für Gott. Wie durch die un- terschiedslose Einheit alle quantitativen, eben so sind auch alle qualitativen Bestimmungen aus Gott ausgeschlossen ; Er ist cctioios, woraus weiter folgt, dass auch der betrachtende Geist nichts in Ihm unterscheiden d. h. Ihn nicht erkennen kann. Das Verbot, Gott bei Seinem eigenthchen Namen zu nennen, wird damit ge- rechtfertigt , dass seine wahre vroa^iliq stets verborgen bleibe. Auch die vierte Aristotelische Kategorie findet , wie die zweite und dritte, keine Anwendung auf Gott; als der schlechthin Absolute steht Gott in keinerlei Relation, die Dinge sind daher nicht öi avxov.

m. Synkretisten. B. Hellenistischer S. b. Hellenis. Juden. Philo. §. 114, 3. 189

was ihn, den Heiligen, in eine verunreinigende Nähe zu der Ma- terie bringen wüi'de.

3. Der scheinbare Widerspruch , dass Philo dennoch teleo- logisch von der Ordnung in der Welt auf das Daseyn Gottes schliesst und darum die Welt das Eingangsthor in den Himmel nennt, dieser löst sich einmal dadurch, dass er eben nicht aus dem Daseyn der Mateiie auf ihre, sondern aus der Ordnung in der Materie auf deren Ursache zurückschliesst , wodurch Gott nur zum Weltorduer wird, dann aber dadurch, dass er auch die ord- nende Thätigkeit Gottes nicht unmittelbar auf den Stoff einwirken lässt, sondern ein Mittelwesen als Werkzeug, ogyavov , zwischen beide setzt , durch {8uc) welches die von {vn6) Gott gesetzte Ord- nung an die Materie kommt. Dies ]\Iittelwesen ist der Logos , der Inbegriff aller Ideen oder Urbilder der Dinge, der als der löyog yiviv.äxaxog alle Begriffe in sich enthält, in dem also die Dinge in unkörperhcher Weise präexistiren. Je nachdem dieser Welt- plan als von Gott nur gedacht, oder als schon ausgesprochen, gedacht wird, nennt Philo ihn, den Logos, entweder die Weis- heit oder das Wort {Gocpia oder ?^fia). Sein Verhältniss zu Gott wird häutig als Ausstrahlung, Emanation, beschrieben und die, jenem v.öa^oq aacö^iaxog als ihrem Urbilde nachgebildete , Welt öfter mit Plato der eingeborene Sohn Gottes genannt. Die Ueberein- stimmung mit Plato hört aber dadurch auf, dass Alles , was Vor- bedingung der wirklichen Dinge ist, von Philo personificirt und mit der, zu seiner Zeit sehr ausgebildeten. Engellehre in Verbin- dung gesetzt wird. Ausser den Musterbildern der Dinge gehört zu ihrer Existenz auch , dass Gott die Kraft und den Willen habe, sie zu schaffen u. s. w. Diese Eigenschaften Gottes, seine d^BTui, ävvd^Eig, e^ovaun werden sogleich hypostasirt und damit die esse- nischen Vorstellungen von Engeln und engelähnlichen Wesen in der, auch im N. T. erwähnten Stufenfolge, verbunden. Aber nicht nur diese Vorstellungen hellenisirender Juden, sondern eben so die orientalisirender Hellenen finden dadurch in Philo^s Lehre Platz; die Gestirne werden bei ihm zu gottähnlichen Wesen, die Dämonen zu Luftgeistern, die Heroen zu Halbgöttern, und er er- klärt den Götzendienst aus einer Ueberschätzung von Solchem, was wirklich verehrungswürdig. Da diese ganze Stufenfolge zu den Vorbedingungen der Welt gehört, so bekommt das Wort Lo- gos, der eigentliche Xame für jenes Werkzeug, bald eine weitere, bald eine engere Bedeutung. Von der späteren christlichen Lo- goslehre ist die Philonische wesentlich unterschieden, indem sein

190 Alte Philosophie. Dritte Periode (Verfall).

Logos nur Welt -Idee ist, und er deshalb ausdrücklicli erklärt, dieser Schatten Gottes dürfe nicht Gott genannt werden.

4. Gleich der Lichtstärke in immer grösseren Kreisen lässt Philo die Grade des Seyns abnehmen, und dasselbe endlich seine Grenze finden an der Materie, welche bald Platonisch- Aristotelisch nur als fii] ov, bald wieder, mehr im Einklänge mit den späteren Physiologen und den Stoikern, als ein Gemisch der trägen unbe- seelten Principien gefasst wird, welches dann der Ordner der Dinge durch Scheidung in gesetzmässige Form bringt. Je nach dem Vorwiegen der Materie oder Form ergibt sich die Stufenfolge der Wesen , welche schon die Stoiker aufgestellt hatten (s. §. 07, 3). Damit werden die Ijiologischen Lehren des Aristoteles so verbun- den, dass den Pflanzen, welchen nicht nur T^ig, sondern auch

(pvßig zukommt, auch die ■d-gsmiK')] , iisraßh]riKr] , avhjTixri (sc. 6v-

va(xic) zugeschrieben wird, die e'ixii^vxa ausserdem al'ö&t]atg, cpavta- ölci, fivii'j^y] und oQjx^ haben sollen, während nur der ^>vxri Xoyizt] (auch wohl schlechthin ^v^ri genannt) vovg oder Xoyog zukommt. Weil das Vernunftwesen, der Mensch, an allen untergeordneten Zuständen auch Theil hat, deswegen wird er die Welt im Kleinen genannt, und Philo führt hn Einzelnen durch, wie sich Unorga- nisches, Pflanzliches u. s. w. im menschlichen Organismus zeige. Er setzt aber das Menschliche dem Untermenschlichen nicht nur als Ganzes den Theileu entgegen, sondern um seine specifische Würde gehörig hervorzuheben, lässt er bei seiner Erschaffung bald ein eignes Princip, das 7tv£V(.ia d-sov thätig seyn, bald Avieder ruft er die essenischen Vorstellungen von, die Erde umkreisenden, Luftgeistern zu Hülfe.

5. Die Materie als die Schranke alles Seyns, d. h. aller Voll- kommenheit, wird consequenter Weise auch als Hinderniss des vollkommnen Handelns gefasst und die ganze Ethik des Philo kommt eigentlich auf die Weisung hinaus, sich von der Materie frei zu machen. Der Selbstmord, dies Auskunftsmittel der Stoi- ker, würde dies nicht leisten; vielmehr, da nur die Lust an die Materie bindet, ist diese zu ertödten, und ein Zustand anzustre- ben, in dem nur die Nothwendigkeit , nicht eigne Neigung, an den Leib bindet. Da in der allegorischen Schriftauslegung des Philo die Erzählungen des A. T. ausser ihrer historischen Kich- tigkeit auch noch tiefere, ethische, Wahrheit enthalten, und was von Adam und Eva erzählt wird, zugleich die Geschichte des Geistes ist, der von der Sinnlichkeit verführt wird, da in dersel- ben Aegypten das Symbol der Fleischlichkeit ist, so kann er jene ethische Forderung auch so ausdrücken : Jeder solle darnach trach-

Schlussbemerkung zur alten Philosophie. §. 115. 191

teil, ein Moses zu werden, der nur gezwungen in Aegypten lebt, dessen Wille aber ist , auszuziehn in das Land des Geistes u. s. w. Die wesentlichsten Durchgangsstufen bis zu dieser Vollendung hin, werden in den vornehmsten Patriarchen wieder erkannt.

BiUer et R-eller 1. c. §. 477 493.

§. 115.

S c h 1 u s s b e m e r k u n g. Wie das römische Weltreich den Orient und Occident, kurz die ganze civilisirte Welt befasst, so ist in dem Synkretismus Alles, was morgenländische und abendländische Weisheit zu Tage gefiirdert hat, zusammengefasst worden. Mechanisch, wie dort die Einheit des Reichs, ist hier die der verschiedenartigsten Leh- ren zu Stande gebracht, und die sie zu Stande bringen, A\ic Ci- cero oder P/ulo, erscheinen wegen jener Verschiedenheit als in- consequente Denker. Wie aber bei Gelegenheit der Sophisten gezeigt ward (§. 5G und §. 62), dass das Gemenge der verschie- densten Ansichten vorausgehen musste, ehe eine organische Ver- schmelzung derselben möglich war, gerade so gilt das Gleiche auch hier. Jenes Gemenge von ganz verschiedenen Lehren lässt jede als eine iiothwendige Ergänzung der anderen erscheinen, und macht für die Folgezeit das Geltendinachen nur einer derselben so unmöglich, wie es durch die Sophisten unmöglich geworden war, dass hinfort der Eleatismus allein herrsche. Es ist dies ein Ge- genbild dazu, dass, nachdem der abstracte Civismus des Römer- thums gewaltet hatte, jeder Versuch nur eine Nationalität gelten zu lassen, weil alle berechtigt sind, fehlschlagen musste. Weiter aber, indem jedem Synkretismus ein gewisser Skepticismus zu Grunde liegt, macht das Vermengen occidentalischer und orien- talischer AVeisheit misstrauisch gegen alle F'ormen der bisherigen Wissenschaft, gerade wie innerhalb der römischen Weltherrschaft die Menschen nicht nur frei wurden von der Nationalbeschränkt- heit, sondern irre an allen Interessen, welche sie bis dahin be- herrscht hatten. Beides aber, die Wahrheit und wieder die Un- wahrheit aller bisherigen Weisheit muss anerkannt seyn, wenn eine Weltanschauung geltend gemacht werden soll, zu der sich die bisherigen nur wie die" unreifen Anfänge verhalten. Diese über den Orientalismus und Occideiitalismus hinausgehende ist die im Orient entsprungene, im Occident ausgebildete christliche. Das Christenthum erweist sich als ein Alles umgestaltendes Prin- cip auch in dem Gebiete der Philosophie. So weit diese gelangen konnte, ohne von diesem neuen Princip einen Impuls zu erhalten,

192 Alte Philosophie. Dritte Periode (Verfall). Schluss. §. 115.

SO weit ist sie in dem Gange gediehen, der dem Zurückbleiben- den unwillkührlich den Verlauf manches weltberühmten Stroms vor das Auge führt: In der ersten Periode zeigte sich, was den aller verschiedensten Quellen entsprang, als sich allmählich einan- der nähernd , in der zweiten hatten alle diese Arme sich zu einem grossen majestätisch daher fliessenden Strome vereinigt, in der dritten ging er wieder in viele Arme auseinander, die theils im Sande des Skepticismus, theils im Sumpfe des Synkretismus sich zu verheren scheinen, in der That aber doch dem Ocean christ- licher Philosophie Nahrung zuführen.

ZWEITER THEIL.

PHILOSOPHIE DES MITTELALTERS.

EiduUim Ge>cU. d. i'ial 1.

13

Einleitung.

§. 116. Die Art und Weise, wie das Römerthum die nationalen Be- schränktheiten, von oben herab durch die Gründung eines Welt- reichs, von unten herauf durch das Hervorheben des Privat -In- teresses , auslöscht , kann ein Zerrbild dessen genannt werden, was das Christenthum leistet. Das letztere geht einmal weiter, indem es nicht nur den Unterschied der Griechen und Juden , sondern auch den der Freien und Unfreien, Mündigen und Unmündigen, negirt, und indem es nicht nur die eine Seite des Menschen, nach welcher er Rechtssubject ist, sondern die ganze Persönlichkeit desselben für berechtigt erklärt. Eben so aber geht es auch nicht so weit, indem ihm Mündigkeit und Eigeuthum nicht hinreichen, damit der Mensch einen wahren Wertli habe , sondern es dazu noch fordert, dass das Subject sich mit einem objectiven, göttli- chen, Inhalt erfülle. Diese Doppelstellung dem Römerthum ge- genüber nimmt das Christenthum dadurch ein, dass, während das letztere zwischen zwei Extremen schwankt, indem es bald (hoch- müthig) dem einzelnen Menschen eine gottgleiche Würde einräumt, bald (sich wegwerfend) Allem was menschlich ist, jeglichen Werth abspricht, das Christenthum Beides zu dem (demüthig- stolzen) Gedanken verbindet, dass der an sich werthlose Mensch durch das Aufgeben seiner werthlosen Einzelheit die Würde eines Got- teskindes erlange, eine Gerechtigkeit, die sich von der heiteren Selbstgerechtigkeit des Griechenthums durch das, in jener aufge- hobene Moment der Verworfenheit unterscheidet , und Bewusstseyu ist von wieder erlangter Einheit mit Gott, d. h. von Versöhnung mit Ihm.

§. 117. Christenthum als bewusstes Versöhntseyn der Menschheit mit Gott, kann Einheit beider, oder auch Gott -Menschheit, genannt werden , Ausdrücke , die dem bibhschen : Himmelreich entsprechen. Da das Ziel ist , dass Keiner ohne seine Schuld sich ausser dieser Einheit befinde, so muss das Versöhntseyn der Menschheit mit Gott in einer Weise beginnen , dass es Allen ohne Unterschied des Talentes und der Bildung gewiss gemacht werden kann; d. h. die

13*

196 Mittelalterliche Philosophie.

Gott - Menschheit muss zuerst als ein sinnlich percipirbarer Gott- mensch erscheinen , der und dessen Geschichte den ganzen Inhalt der Heilsbotschaft bildet, der, weil er das Christenthum in vuce, eben darum der (d. h. der einzige) Christ ist. Damit ist aber nicht gesagt, dass dieser Anfang des Christenthums die seinem Begriffe adäquate Existenzweise sey. Vielmehr, wie jeder Anfang, muss sich auch dieser aufheben; der Zustand, wo die Gottmensch- heit als ein Gott mensch existirt, muss, als der niedrigere, dem höheren (die Erniedrigiing der Erhöhung und Herrlichkeit) Platz machen, wo der Christ in den Christen existirt, wie der Mensch in den Menschen, wo das Evangelium von Ihm zum Evangelio vom Reich geworden , und an die Stelle des Wortes : Es ist nur ein Name, in dem wir selig werden, die nothwendige Ergänzung desselben getreten ist: extra ecclcslam nulla salus. Beide Sätze besagen ganz dasselbe: dass die Versöhnung mit Gott Alles in Allem ist.

§. 118. Ist Sich versöhnt wissen mit Gott das eigentliche Princip des christUchen Geistes oder des Christenthums, so wird jede Zeit als von diesem Geiste gefärbt oder als christlich zu bezeichnen seyn, in welcher diese Idee die Geister bewegt. Ein Gleiches wird von der Philosophie zu sagen seyn, wo die Versöhnungs-Idee in ihr Platz gewinnt, und mit dieser zugleich der Begriff der Sünde Wichtigkeit bekommt, der seinerseits auf den Schöpfungsbegriff zurückweist. Eine jede Philosophie, in der dies Statt findet, ist Ausdruck der christlichen Zeit, und kann nicht mehr zu den Sy- stemen des Alterthums gerechnet werden. Dabei ist nicht nur möghch , sondern von vorn herein zu vermuthen , dass die Ersten, welche in diesem neuen Geiste philosophiren, gar nicht oder we- nigstens nicht sehr innig mit der christlichen Gemeinde verbunden seyn werden. Diejenigen Glieder der Gemeinde, deren geistige Begabung gross genug ist, um Philosophen zu werden, sind an- derweitig, mit der Verkündigung des erschienenen Heils , beschäf- tigt. Und wieder: die kühle Besonnenheit, ohne welche ein phi- losophisches System nicht zu Stande kommt, ist in einer Zeit, wo nur der rücksichtslose Feuereifer (die göttliche Thorheit) das Zei- chen des wahren Gemeindegliedes ist, ein Beweis von Lauheit. In der ersten Zeit einer Gemeinde müssen apostolische Naturen Gegner der Philosophie seyn, darum sind Paulus und Lutlier es gewesen. Wie später Dcscartes und Spinoza (s. §. 2ßß. 267. 271), das heisst ein Katholik und ein Jude, die Ersten gewesen sind die den Geist des Protestantismus in der Philosophie geltend

Einleitung. §. 119. 120 197

machten, so aus ganz gleichem Grunde Häretiker und Heiden die Ersten, deren Philosophie die Einwirkung des christlichen Gei- stes verräth.

Vgl. Mussmann Grundiiss der aUgemeineu Geschichte der christlichen Philoso- phie. Halle 1830. - H. Bitter Die christliche Philosophie nach ihrem BegrifiF und ihren äusseren Verhältnissen und in ihrer Geschichte his auf die neuste Zeit. 2 Bde. Göttingen 1858.

§. 119. Wie jedes Epoche machende Princip, so tritt auch das Chri- stenthum, die grösste aller Neuerungen, negativ auf gegen das bisher Bestehende. (Nicht den Frieden bringt Er, sondern das Schwert.) Nennt man den Coraplex alles Bestehenden Welt, so wird also der neue (der christliche) Geist sich als Gegner der Welt zeigen, darum aber auch denen, welche sich als Kinder der (natürlichen und sittlichen) Welt wissen, ein Gegenstand des Ab- sehens seyn müssen. Der Hass eines Seneca, Tucitns , Trojan, Marens Aurelius. Julian, gegen eine Religion, die sich dess rühmt, dass ihr Stifter wider den Naturlauf geboren, und den Tod gestorben sey, der in der bürgerlichen Welt der schmach- vollste, ist ganz erklärlich. Die P'orderung, Geist zu seyn ver- möge der Negation der Welt, fällt mit der des Geistlichseyns zu- sammen. Sie erscheint als die höchste in der ersten Hauptpe- riode der christlichen Zeit, dem Mittelalter. Erst die darauf folgende, die Neuzeit, vernimmt das höhere Gebot, die Welt durch den Geist zu verklären, d. h. das Gebot nicht des Geistlich-, son- dern des Geistig- seyns. Den mittelalterlich Gesinnten, denen Ent- weltlichuug das Höchste war, erscheint dieses Vergeistigen der Welt als ein Rückfall zu den Aufgaben des Alterthums, als Ver- weltlichung. In Wahrheit vereinigt es , was Alterthum und Mittel- alter gewollt und gesollt hatten.

§. 120. Die Philosophie des Mittelalters kann nicht wie die des Al- terthums, welche durchweg Weltw^eisheit gewesen w^ar, zu ihren Haupttheilen die Physik und Politik machen. Diese werden zurück-, dagegen in den Vordergrund alle die Untersuchungen treten, welche das Verhältniss des Einzelnen zur Gottheit und diese selbst be- treffen. Religionslehre und Theologie werden zur Hauptsache. Neben ihnen macht sich die Moral geltend, früh mit einer aske- tischen Färbung, die der antiken Anschauung widersprechend, höchstens Anknüpfungen erlaubt an das, was beim Verfall der griechischen Speculation aufgetaucht war. Dass nicht mehr, wie im Alterthum, in weltlichen Angelegenheiten erfahrene Männer,

'9H Mittelalterlklie Philosophie. Erste Periode (Patristik).

dass unpraktische Stubengelehrte und, namentlich später, Geist- liche ihre Philosophenie entwickeln, gehört gleichfalls zu den be- deutsamen Unterschieden zwischen alter und mittelaltedicher Phi- losophie.

Der mittelalterlichen Philosophie erste Periode.

(Die Patristik. Vgl. §. 148.)

§. 121. Die negative Stellung des christlichen Geistes zur Welt zeigt sich zuerst als Flucht vor derselben. Daher die Neigung zu über- (oder vielmehr nicht-) natürlicher, mönchischer, Heihgkeit, so wie dazu, ausserhalb jeder bürgerlichen Gemeinschaft zu stehn. In dieser, von der Welt zurückgezogenen Stellung nuiss das Flämm- chen, wozu der zündende Funke geworden, erstarken, um später die Welt in Brand stecken zu können. Wie unheimliche Fremd- linge stehen in der Welt die ersten Christen, deren Grundsätze zu den bestehenden Einrichtungen nicht passen, die eben darum, wo sie mit ihnen in Berührung kommen, sie antasten, und ihre rächende Reaction erfahren. Diesem Gegensatze des neuen Prin- cips zu der bestehenden Welt entspricht im Gebiete der Philoso- phie ein ganz ähnlicher zwischen den neuen Ideen und der bishe- rigen Weltweisheit. Wo sie zuerst in Contact kommen, muss ein gewaltsames Aufbrausen erfolgen. Diese Gährung, entstanden durch das Zusammentreten der neuen Ideen mit dem alten Gedanken- kreise, ist, da jene zunächst nur als Geschichte offenbar werden, hinsichtlich ihrer Form ein Kampf zwischen Geschichte und Phi- losophem. Damit ist aber sogleich erklärlich , warum dieser Stand- punkt in der Geschichte der Philosophie von zwei diametral ent- gegengesetzten Richtungen repräsentirt wird, in welchen einer- seits den neuen Ideen die philosophische Form geopfert und Begriffsentwicklungen in Geschichte verwandelt werden, anderer- seits wieder die Achtung vor der Form des Philosophems das bloss Geschichtliche verachten , darum aber auch gegen die neuen Ideen ungerecht werden lässt. Bei den Ersteren, den Gnosti- kern, kann man daher zweifelhaft werden, ob sie zu den Philo- sophen, bei den Anderen, den Neupia tonikern, ob sie zu der christlichen Zeit zu rechnen seyen. Diese beiden Richtungen, so wie die über beide hinausgehende der Kirchenväter, in denen sich die trübe Gährung klärt, sie bilden den Inhalt der ersten Periode.

I. Die Guustiker §. 122- 199

I.

Die dnostiker.

Massud Dissertatt. praeviae in Irenaei libros. Paris. 1710. Beausobre Histolre critique de Manichee et du Manicheisme. 2 Vol. Ämst. 1734—39. Mosheim Institu- tiones liistoriae ecclesiae christiaaae. Heimst. 1748. Neander Geuetisclie Entwick- lung der vornehmsten guostischen Systeme. Berlin 1818. Matter Histoire critique du gnosticisme. 1828. 2te Aufl. 1843. v. Bavr Die christliche Gnosis. Tübing. 1835. Lipsius Der Gnosticismus, sein "Wesen, Urspning imd Entwickelungsgang. Leipz. 1860.

§. 122. Das Verlangen, was der Glaube lehrt vor der Veraunft zu rechtfertigen , muss , da die Vernunft auch den NichtChristen nicht abgeht, dazu führen, über das Verhältniss der verschiedenen Re- ligionen nachzudenken. Was daher von verschiedenen Gelehrten als das Wesentlichste bei der Gnosis angegeben worden ist: das Verhältniss der rrlong und yvomg, und wieder: das Verhältniss. des Christenthums und Judenthums fällt nothwendig zusammen. Die Gnostiker sind darum nicht nur Urheber einer rationalen Theo- logie, sondern auch einer comparativen Religionslehre, und da beides zugleich Aufgabe der Religionsphilosophie ist, dürfen sie Rehgionsphilosopheu genannt werden. Man kann es unphiloso- phisch nennen und als solches tadeln, dass der Inhalt des Glau- bens überall die Nonii bildet und demgemäss, da jeuer Inhalt Geschichte ist, an die Stelle der Begrififsdeductionen Geschichten (Genealogien der Aeonen und dgl.) treten, und die Theologie zu einer Entwicklungsgeschichte der Gottheit gemacht wird. Was die Gnosis dem Philosophen zu wenig zu thun scheint, ist dem Gläu- bigen schon viel zu viel. Dass überhaupt, wenn auch in Form der Geschichte, philosophirt wird, ist der Gemeinde anstössig, und mit Recht sieht sie zu einer Zeit, wo das Philosophiren über den Glauben als ein in Frage stellen desselben, häretisch ist, in jedem Religionsphilosophen einen Häretiker. Die ersten Spuren gnosti- scher Häresien zeigen sich schon in der apostolischen Zeit, nur nicht in der späteren schulmässigen Form, sondern mehr als Ge- heimlehreu, weil ihre antiiiomistische Tendenz sie das Licht scheuen liess. Hierher gehören die "Irrlehren der, an den Simon Magns sich anschliessenden Simonianer, hierher die Irrlehren in Corinth, Thessalonich, Ephesus, Colossä, auf welche PonJns Rücksicht nimmt, hierher endhch Cerhdlt , so wie manche von den Erschei- nungen , welche die jugendliche Gemeinde unter dem Namen des Ebionitisnuis zusammen gefasst hat. Von den jüdischen Lehren der Essener und des PI/lIo trennt sie alle die, mit dem Juden- thume unvereinbare, dem Christenthum allein angehörende Lehre

200 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode fPatristik).

von dem Fleisch Gewordcnseyn, sey es nun der Gottheit, sey es des Logos, sey es des heiligen Geistes.

§. 123.

1. Als offene, eine Stellung in der Gemeinde fordernde Secte tritt der Gnosticismus erst im zweiten Jahrhundert nach Christo auf, und zwar ziemlich gleichzeitig in Aegypten und Syrien. Die ägyptische Gnosis , welche sich in Alexandria und zwar nicht ohne Anlehnung an den hellenisirenden Orientahsmus (s. §. 112), aus- bildet, ist in philosophischer Hinsicht die interessanteste. Sie räumt zugleich dem Judenthum eine relativ sehr hohe Stelle ein, und kann mit Nemuh'?- die judaisi r ende genannt werden. Bn- silides, der zuerst hier zu nennen, erinnert durch seinen unge- nannten Gott, den er an die Spitze stellt, an Philo, eben so durch die verschiedenen hypostasirten Kräfte, deren je sieben eine der, aus dem höchsten Gotte emanirenden, Sohnschaften bilden. Auch der heilige Geist, der hier die Brücke von dem göttlichen nXrjQcojiia zu dem Gegensatze desselben bildet, war schon bei PInh vorgekommen (§. 114, 4). Eigenthümlich aber, und über den Philonischen Standpunkt hinausgehend ist die Lehre, dass die, als ungeordnetes Gemisch gedachte, Materie von Gott gesetzt sey. Dass ein, ihm untergeordneter aQXMv dazu bestimmt sey, diesen ungeordneten Stoff zu formen, darf als keine Neuerung angesehn werden. Dass derselbe bewusstlos die Absichten des höchsten Gottes vollführt, und von den Juden (die wenigen Aus- erwählten abgerechnet) für diesen selbst gehalten worden sey, hatte schon Cerivf/f gelehrt. Unter dem Archon stehen, gleichfalls in Hebdomaden vertheilt, die ihm untergeordneten Wesen, mit ihm zusammen die Zahl 365 (aßQa^ag) bildend , durch welche sich die Weltregierung (yrQovoia) vollführt. Wahrscheinlich ist dies an Aegyptische Theologumena angeknüpft, die er entweder direct von Aegyptischen Priestern, oder durch Verniittelung der Lehren des Plicrehjdes, dem er Vieles entlehnt, angenommen hat. Auch Je- sus ist ein Werk des Archon, nur dass sich ihm bei der Taufe, zur Ueberraschung seines Schöpfers , die erste Emanation des höch- sten Gottes, der vovg oder diä^ovog, verbindet, der das Erlösungs- werk vollbringt und dann den Menschen Jesus verlässt und seinen Leiden preis gibt. Das Erlösungswerk eignet der Mensch sich an durch den Glauben, den Basilides selbst rein theoretisch fasst, während sein Sohn und Schüler Isidorus dazu die praktische Er- gänzung zu geben versucht hat.

2. Viel grösseres Aufselm hat, vielleicht auch weil er nicht nur in Alexandria, sondern auch in Rom lehrte, und hier als Ketzer

I. Die Gnostiker. Judaisirende §. 123. 1. 3. 201

aus der Gemeinde geschlossen ward, des BasiUdes Zeitgenosse Vnlentinus gemacht, welcher die aus dem Urvater oder der Tiefe {TtQOTTaTcoQ , ßcO^og) hervorgehenden Kräfte, die er wegen ihrer Ewigkeit ai'covEg nennt, dem geschlechtlichen Gegensatze un- terliegen und paarweise aus dem Urgründe emaniren lässt, eine Ansicht, die wohl durch pythagoreische Einäüsse veranlasst Avurde, Dem Urgründe wird bald keine, bald das Schweigen als Gattin beigelegt, dem vocg dagegen die Wahrheit, dem Xoyog das Leben zugesellt und an die unterste Stelle der xheXrjrog und die ancfla gestellt. Durch das ungeregelte Verlangen der letzteren nach einer Vereinigung mit dem Höchsten entsteht die niedere, in der (ganz Platonisch gefassten) Materie gehaltene und darin waltende Weis- heit (Achamoth), welche den, unter ihn stehenden Demiurgos, den Gott des Alten Bundes, ihm selber unbewusst dahin bringt, ihren und aller Dinge Rückgang in die Fülle des Seyns zu vermitteln. Hierzu dient besonders der Mensch, den die Achamoth zwar zu- erst dahin bringt, durch den Genuss der verbotenen Frucht sich zum IXr/.og zu machen, dadurch aber auch in Stand setzt, das materielle Seyn selbst zu heiligen. Je nach dem verschiedenen Verhalten zur Materie ist der Mensch Hyliker, Psychiker, Pneu- matiker. Aus den letzteren wählt der (selbst psychische) Demiurg instinctartig die Könige und Propheten, zuletzt auch den, durch seine Propheten verheisscnen , Christus, der durch die Verbindung mit einem der höchsten Aeonen zum Erlösei- wird, durch den die Achamoth und alle Pneumatiker in das Pleroma übergehn, der Demiurg aber in die Stelle der Weisheit einrückt, und dort ver- harrt bis die Materie dem Nichtseyn verfällt. Unter den zahlrei- chen Anhängern des Valcnl'imis stechen die Namen Urradeon, Plolemäns und Marcus hervor. Auch der Syrer Bardesanes, ein zu Edessa , wahrscheinlich im J. L54 geborner Mann , dessen Eifer für die Ausbreitung des Christenthums ihm den Namen eines Be- kenners eingebracht hat, nähert sich in vielen Punkten dem Vn- Icnümis an , dessen Lehre er nach den Einen nur in seiner ersten, nach Anderen gerade in seiner letzten Zeit, endlich wieder nach Anderen immer, aber eigenthümhch modificirt, so dass sie nur Ausgangspunkt für ihn war, verkündigt haben soll. (Vgl. llUgenfpld Bardesanes der letzte Gnostiker. Leipz. 1864.)

3. Bis zum Extrem geht die Anerkennung des Judenthums in den, fälschlich dem Cle.uicvs von Rom zugeschriebenen Homi- lien und Recognitionen , in welchen der Apostel Petrus als der Lehrer einer judenchristlichon Gnosis vorgeführt wird.

202 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

§. 124. Den diametralen Gegensatz zu den judaisirenden Gnostikern bilden die, welche paganisirende genannt werden können, indem sie durch ihren Hass gegen das Judentimm dahin gebracht \\Tir- den, ganz heidnische Ideen an die Stelle der christlichen Lehre zu setzen. Am Meisten gilt dies von dem Karpolratcs und sei- nen Anhängern , welche dem Pytlagorns und Pluto gleiche Digni- tät mit Jpsii zuschrieben, dagegen den jüdischen Standpunkt ver- achteten , und von der etwas später auftretenden Schule des Muni, dessen theils dem Parsismus, theils dem Buddhaismus entlehnte Lehren der Grund waren , dass er als Häretiker hingerichtet ward. Seine Reformversuche haben zum Zweck, die christliche Lehre durch das Ausscheiden der jüdischen, und durch das Hineinneh- men dualistischer Elemente zu der, von Paulus versprochenen, hö- heren Erkenntniss zu bringen. Seine Sectc, die Manichäer, erhielt sich ziemlich lange. Nicht so weit, wie die eben Genannten, gehen in ihrer paganisirendefi Tendenz die, mit Valcnihws verwandten Ophiten und die, vielleicht mit BnsUldes zusammenhängenden Kai- niten, welche gerade dem, was nach dem V. T, vorzugsweise als böse gilt, der Schlange, dem Kain u. s. w. die Bedeutung beileg- ten, die Inhaber der wahren Weisheit zu seyn. Uebrigens haben diese ketzerischen Richtungen weniger speculatives Interesse als praktisches. Die negative Stellung zum V. T. , hat Einige aus derselben zu völligem Antinomismus geführt. Andere , namentlich die Manichäer, haben nur dem Ceremonialgesetz den Krieg erklärt, dagegen aber strenge Sittlichkeit gefordert, nur dass hier, wie im Parsismus, das Ethische mit dem Physischen sehr verschmolzen wird, und der Process der Erlösung sich beinahe wie ein Natur- process gestaltet.

V. Baur Ueber das manichäische Reügionssystem. Tübingen 1831-

§. 125. Endlich sind als eine dritte Klasse die christianisirenden Gnostiker zu nennen, welche, wenn sie dem Judenthum eine sehr untergeordnete Stellung einräumen , damit durchaus nicht das Hei- denthum, sondern nur die specitische Würde des Christenthums erheben wollen. Hierher gehört Saturimufs , ganz besonders aber M(trciou , dessen abstracte Auffassung des Paulinismus ihn zu PtHilvs in dieselbe Stellung bringt, in der Antistf/enes zu Sokra- ios gestanden hatte (s. §. 71). Wie die Natur den Heiden höch- stens den Allmächtigen, so soll das Gesetz den Juden höchstens den Gerechten kennen lehren; die Offenbarung des Gütigen und Barmherzigen im Christeuthum ist als eine völlig neue, eben darum

II. Die Xeuplatoniker. §. 126. 203

plötzliche zu fassen. Es steht hier das Christenthum in einem ganz negativen Verhältniss zum Heidenthum sowol, als zum Ju- denthum. Aus dem erstereu folgt der Doketismus des Marcion, der bis zur Leuguung der Geburt Cf/risti geht, aus dem zweiten seine V^erachtung gegen den Gottes- und Messias -Begriff des Alten Testamentes. C/iristl Tod und die Christenverfolgungen werden als ein Werk des Demiurgen, d. h. des Juden gottes ange- sehn. So grosse Bedeutung Mdrcinn für die Kirchengeschichte hat, so ist seine vorwiegend praktische Tendenz ein Grund, wa- rum in einer Darstellung der Geschichte der Philosophie er kür- zer behandelt werden darf.

IL

Die \ciiplatoiiiker.

Vacherot Histoire critique de l'ecole d'Alexandrie. Paris. 3 Bde. J. Simon Hi- stoire de IVcole d'Alexandiie. Paris. 2 Bde. Steinhart in Pauh/s Realencydop. Bd V.

§. 126. Gerade was oberflächliche Betrachter dahin bringen konnte, die Gnostiker und Xeuplatoniker zu identificiren , macht sie zu diametralen Gegensätzen : dass in ihren Lehren dieselben Momente enthalten sind. Mag von Manchen das orientalische, und weiter das christliche, Element in den Neuplatonikern zu sehr betont worden seyn, ganz leugnen werden es die am Wenigsten können, welche den Neoplatonismus eine Reaction gegen den eindringen- den neuen Geist nennen. Der Name Neoplatonismus, der als ein- gebürgert beibehalten werden kann , ist eigentlich zu enge und mit Recht gegen ihn bemerkt worden, dass seine Anhänger eben so gut Neu - Aristoteliker genannt werden könnten. Aber auch dies reicht nicht aus, denn auch Vor- platonische und Nach- aristote- lische Elemente sind in ihren Lehren wieder zu erkennen, und nicht synkretistisch wie die Sophisten und Cicero, sondern in systematischer Form, wie Ewpedohles und die Atomiker, vereini- gen sie Alles, was die Philosophie vor ihnen erarbeitet hatte, zu einer eigenthümlicheu Weltanschauung. Doch alier haben die, welche sie zum Culminationspunkt griechischer Speculation zu ma- chen versuchten, geirrt. SiB bedachten nicht, dass durch Zeit, Nationalität und Wohnort, vor Allem aber durch ihr theils posi- tives theils negatives Verhalten zu Ideen , welche erst seit dem Eintritt des Christenthums die Geister beschäftigen, Ploüniis, Jam- hlklnts und Prohins von den Repräsentanten der klassischen grie- chischen Philosophie weit gesrliieden sind. Emanationslehre und asketische Moral kann zur Noth mit dem Buchstaben, mit dem

204 Mittelalterliche Philosophie. Eiste Periode (Patristik).

Geiste aber Platonischer und Aristotelischer Philosophie nimmer- mehr, vereinigt werden.

§. 127. Wie die Gnosis an den hellenisirenden Juden, so hat der Neoplatonismus seine unmittelbaren Vorgänger an den orientali- sirenden Hellenen (§. 110 u. 111), sowol an den mehr mathema- tisch gebildeten pythagorisirenden , als an den philologisch com- mentirenden Auslegern des Plttfo. Wären im Plutarch christliche, oder auch nur jüdische, Elemente nachweisbar, so wäre ihm die Stelle anzuweisen, die jetzt dem Nnmeiiius zukommt, einem unter Anlomnus Pias gebornen Syrer, welcher, indem er zwischen den ersten Gott oder das Gute, und den dritten Gott oder die Welt , Avelche er mit Pinto den eingebornen Sohn des ersten Got- tes nennt, den beiden zugewandten demiurgischen Gott schiebt, so nahe an die Lehre des P!o1ni heranstreift, dass dieser Letz- tere frühe als ein Plagiarius an des I\iimcnh!s Lehren bezeichnet worden ist. Mehr noch als auf den Ninnenius haben christliche Ideen eingewirkt auf den Annu onlits Saccas (gestorben 243), den eine Sage zum Apostaten vom Christenthum macht, welchem er durch die, Künsten und Wissenschaften al)holde, Richtung seiner Anhänger entfremdet seyii soll. Als seine Hauptlehre ist jeden- falls die von der vöüigen Uebereinstimmung des Plalo und Arl- stolcles anzusehn, denen beiden er, so scheint es, gleich sehr ge- recht werden wollte. Wahrscheinlich ist in seine Auslegung Beider manches orientalisirende Element, namentlich emanatistische und asketische liohren, hineingenommen, und gewiss eine polemische Tendenz gegen die Religionsgemeinschaft , von der er sich getrennt hatte. Darum ist es nicht nur seine Lehrthätigkeit in Alexandria, die ihn von jeher als den eigenthchen Gründer des Neoplatonis- raus ansehn Hess , sondern er verdient diese Stelle auch deswegen, weil die verschiedenen Richtungen , welche bald innerhalb des Krei- ses seiner Nachfolger sich geltend machen , sich ganz gleichmässig an den Ammonms anlehnen, und je eine Seite von ihm besonders hervorheben. In dem römischen Neoplatonismus, wie ihn Plo- tin repräsentirt, tritt ganz besonders das Platonische Element hervor, oft bis zu einer, an den Niimevurs mahnenden Ungerech- tigkeit gegen den ^n\v/o^e?eÄ. Inder syrischen Richtung, deren Typus Jamhllchns ist, wiegt orientalisirender Pythagorismus , so wie, gleichfalls orientalisirende, Neigung zu theurgischem Treiben vor. In dem schulmässig ausgebildeten Athenischen Neuplato- nismus endlich, welchen Proldus repräsentirt, der in dem einen seiner Hauptwerke nur den Plolin excerpirt, während er in den

II. Die Neuplatoniker. A. Plotiii u. der römische Neoplaton. §. 128^, 1. 205

übrigen sich gauz au Jumhlichus auschliesst, tritt, schon wegen der formellen Vollendung, die hier dem System gegeben wird, das Aristotelische Element mehr hervor. Alle drei Richtungen aber theilen den Hass oder die Verachtung gegen die christliche Lehre, SC}' sie nun gnostisch, sey sie antignostisch gefärbt, und stellen ihr , als der Wissenschaftsfeindin , das Heidenthum als den Boden der Wissenschaft entgegen, die ihm jetzt so dankt, dass sie es mit Veruunftgrüuden stützt und in seinen Mythen Begriffsverknü- pfuugen im geschichthchen Gewände nachzuweisen sucht. Die logi- schen ümdeutungen, die Homer hier erfährt, sind der diametrale Gegensatz zu der Verwandlung abstracter Begriflsentwicklungen in phantastische Geschichten bei den Gnostikern.

§. 128.

4.

Plofiu uutl der römische Neoplatouismus.

Steinhart Quaestiones de dialectiea Plotini ratione. 1829. Dess. Meletemata Ploti- niana. 1840. JDers. iu Fauhfs Philol. Real -Encydopädie v. Plotin. Kirchner Die Philosophie des Plotiu. Halle 1854.

1. Plotinos ist im Jahre 205 in Lykopolis in Aegypten gebo- ren, und, nachdem sein wissenschaftliches Streben bei den ver- schiedensten Lehrern vergeblich Befriedigung gesucht hatte, in seinem acht und zwanzigsten Jahre Schüler des Ammonius gewor- den, und bis zu dessen Tode gebheben, um orientahscher Weis- heit theilhaft zu werden , soll er an Gordlan's Feldzug gegen Per- sien Theil genommen haben, und hat dann in seinem vierzigsten Jahre seine Schule in Rom gegründet, der er bis zu seinem Tode vorstand. Seinem, dem Meister gegebenen Worte, die Lelu-e nur mündlich fortzupflanzen, soll er erst untreu geworden seyn, als er sah, dass seine Mitschüler tlei-cnnuts und Oriyeiies das ihre nicht hielten. Auch Loiigiims hat das Gebot des Ammoiüas über- treten. Die 21 Abhandlungen, welche, als Porplnjrius zum IHonn kam, schon geschrieben waren, hat mit den später geschriebenen 33 Porplnjrum nach der Verwandtschaft des Inhaltes in Gruppen von je neun Schriften (Enneaden) zusammengestellt, die chrono- logische Reihenfolge aber auch angegeben. Die lateinische Ueber- setzung des Marsilias Ficimis,- in der Plotiu' s Werke zuerst (1492) erschienen, so wie die griechische Ausgabe des P. Perna (Basel 1580) waren lange die einzigen Ausgaben. Im Jahre 1825 gab Creuzer den Text und die Uebersetzung des MursUivs in der Oxforder Ausgabe in 3 Quartbänden, und veranstaltete, unter- stützt von Moser, im J. 1855 bei Didol in Paris einen viel wohlfeileren und dabei correcteren Abdi-uck derselben. Den An-

206 Mittelalterliche Philoso^ihie. Erste Periode (Patristik).

forderungeu philologischer Kritik entspricht viel mehr: Plotini Opera recogn. ^d. Kirchhof. Lips. 1856. 2 Voll. 8., wo nur der griechische Text gegeben, die chronologische Reihenfolge wieder hergestellt, zugleich aber die Enneade so wie die Seitenzahl der Oxforder Ausgabe mit angegeben ist, so dass das Nachschlagen, wenn irgendwo nach der gewöhnlichen Art citirt wird, leicht ist. 2. Da Plolin nicht, wie Pluto und Aristoteles, sich aufstei- gend seinem eigentlichen Principe nähert, sondern es unmittelbar, durch intellectuelle Anschauung, erfasst, und von ihm, als dem aller Gewissesten, ausgeht, so muss er noch mehr als seine Vor- gänger urgiren, dass es das völhg Unbedingte, in keiner Weise Relative, sey. Eins, Seyendes, Gutes, Gott sind die verschiede- nen Ausdrücke für dieses oberste Princip, welches weder von den Platonischen Kategorien Ruhe und Bewegung, Selbigkeit und An- derheit, noch auch von den Aristotelischen Substanz und Acci- dens, berührt wird, sondern vielmehr das LreQocaiov ist, in wel- chem gar kein Gegensatz existirt, darum auch nicht der von Wol- len und Soyn: es ist, weil es will, und will, weil es ist. Dieser ■/cQMiog i)€og, der nicht als ein Jenseitiges zu fassen ist, sondern so in Allem ist, und Alles umfasst, dass wenn er sich will und liebt , er Alles liebt und will , dieser sey was Pluto bald das Gute und bald Gott genannt habe (Eim. III, 8. VI, 8). Wie der Aus- druck „erster Gott" schon andeutet, bleibt Plolin bei diesem er- sten Princip nicht stehn; obgleich er die Schwierigkeit nicht ver- kennt, die sich einem Hervorgange der Vielheit aus der Einheit entgegen stellt (V, 1. 6), so versucht er doch sie zu heben. Manch- mal rein logisch, indem er darauf hinweist, dass die, vom Einen ausgeschlossene Vielheit eben deswegen aus ihm , und ausser ihm, seyn müsse, gewöhnlich aber so, dass er das Erste als Erzeu- gendes fasst, welches, wie die Flamme- Licht, der Schnee Kälte verbreitet, so, weder bewusstlos noch auch ganz willkührhch, ein Zweites als ein ewig Gezeugtes von sich ausgehen lasse. Das ausdrücklich ausgesprochene Princip, dass das Zweite immer we- niger enthalte, als das Erste (III, 2. 7), macht sein System zum Gegentheil einer jeden Evolutionslehre, d.h. zu einem Emanations- system. Die erste Abschwächung des Seyns, der Ersterzeugte Gottes, ist nach Plotin der pocg, der, indem er aus dem Einen heraustritt, dasselbe aber zu seinem wahren Grunde, und also Zwecke und Ziele, hat, in diesem Rückgewandtseyn {IniOTQocpij) Wissen vom Einen wird, so dass, obgleich das Eine selbst nicht denkt, dennoch das es Denkende als seine ehxöv zu bezeichnen ist (V, 1. 7). Wenn dann weiter Plolin das Denken des vov^ im

n. Die Neuplatoniker. A. Plotiu u. der römische Neoplatou. §. 128, 2. 3. 207

Gegensatz zum unfreieu, mit Anderem beschäftigten, als freies und reines , nur auf sieb bezogenes Denken bezeichnet , so ist klar, dass die vom Ammonius überkommene Verschmelzung des Plato und Aristoteles sich bei ihm so gestaltet, dass Plaif/s ayaOov bei ihm die erste, der vovg des Aristoteles dagegen die zweite Stelle bekommt. Stand das Erste so, dass keine der Kategorien von ihr galt, so mvd dagegen vom porg gesagt, er sey sowol Kühe als Bewegung, er vereinige in sich die Einheit und den Unter- schied. Die je erste dieser Kategorien kommt ihm zu als Den- kendem, die je zweite als Gedachtem, und deswegen ist es kein Sprung, wenn der povg ihm zum Inbegriff alles Gedachten und aller Urbilder der Dinge wird (V, 9. (3), in dem, wie die Arten in der Gattung, so alle Begriffe enthalten sind, so dass in ihm als dem •/.oGf.wg vorjrog alle Dinge, selbst die sterblichen und ver- gänglichen, in ewiger, idealer, Weise existiren (V, «j. Die Aehn- lichkeit mit P/älo's Lehre ist in diesem Punkte schlagend (s. §. 114, 3). Aus dem voi}g geht nun als Drittes, also noch mehr un- tergeordnetes, Princip hervor die ipvxi], d. h. das allgemeine Le- bensprincip oder die Weltseele, eine abgeblasste Copie des yovg, die eben deshalb vernünftig , aber ohne Vernunft , wirkt , d. h. was Aristoteles dämonisch genannt hatte (s. §. 88, 1). \A'ie die unbe- dachten Kinder mehr nach aussen schaffen, als die in sich ver- sunkenen , so entfallen gleichsam die Dinge der allgemeinen Seele, die ihi^e Einfälle nicht für sich behält, sondern sogleich ins Werk setzt (III, 8. 3). In allen natürlichen Vorgängen ist daher Ge- danke {0€cjQ('a), die Ideen nämhch, welche die Seele von dem vovg empfängt, und die sie als löyog Ojr€Qf.ic(Tr/.6g in die Materie säet oder pflanzt. Die mittlere Stellung, welche so der Seele an- gewiesen wird, bringt dem Plotin öfter dahin von einer oberen, dem vovg zugewandten, und einer unteren an die Materie heran- reichenden Seele zu sprechen, die dann bei seiner Neigung, an die Mythen anzuknüpfen, die Namen der himmlischen und irdi- schen Aphrodite erhalten. Die letztere wird dann auch insbeson- dere (fvaig genannt.

3. Das (Platonische) Gute , der (Aristotelische) vovg und das, manchmal auch Zeus genannte (Stoische) Allleben bilden das, was man die Trinität des Plotin genannt hat, die auch insofern wii'k- lich der christlichen Lehre näher kommt als Philo, als der vovg hier nicht nur /.ÖG^iog vot^rog, sondern auch vorwog ^eog ist, und ferner die Welt nicht nur als von einer Macht ausser ihr in Be- wegung gesetzte, sondern als ihr innewohnende Bewegungsprinci- pien besitzend gewusst wird. Doch aber bleibt , wegen des Erna-

208 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

nations - und also Subordinatioiisverhältnisses der Unterschied sehr gross; jene aber zu überwinden kann dem Platin nicht gehngen, weil er noch nicht wagt , die Negation , die keQorrjg in Gott selbst zu setzen. Wie dies ihm unmöglich macht, das Subordinations- verhältniss, eben so auch, den Platonisch -Aristotelischen DuaUs- mus zu überwinden. Zwar ist bei ihm die Materie, die er Gott gegenüberstellt, ebensowenig, wie bei jenen Beiden, ein körperli- cher Stoff, sie ist das Qualitätslose, das Wesenlose, Unwirkliche, die Grenze des Seyns, das Xoch nicht seyn, das nur in dem Sinne erkannt wird wie das Dunkel gesehen wird, zu dessen Erkennen eine Art Wahnsinn nöthig u. s. w., ja er überbietet Pluto, indem er schon den Raum als etwas Geformtes und also die Materie als etwas noch Abstracteres ansieht, und überbietet Aristoteles, wenn er sich dagegen erklärt, dass die Materie gtIqijgiq sey (u. A. II, 4 III, 6). Dazu aber, zu zeigen woher die Materie? kommt auch er nicht. Man muss es ein Schwanken zwischen Duahsmus und Monismus nennen, wenn er die Materie bald als Abfall vom Seyn , bald -wieder nur durch unser Denken gesetzt seyn lässt. Am Meisten scheint er diese Extreme noch zu vermeiden, wenn er sagt die Seele habe, den AnbUck der Leere nicht ertragend, der Arinuth der Materie abgeholfen, da aber beweist die Erzäh- lungsform die Unfähigkeit zu begrifflicher Entwicklung, abgesehn davon, dass die Frage immer bleibt: woher jene Leere? Mit sol- cher Unentschiedenheit hängt zusammen, dass Plotiii, worauf sich besonders seine Polemik gegen Gnostiker und Christen überhaupt stützt , die Schönheit der himmlischen AVeit in Schutz nimmt, und dann doch wieder es für eine Schmach hält geboren zu seyn, und den Geburtstag als Tag der Schande verbirgt. Das Hineintreten des Seyns in das Nichtseyn wird nicht begriffen , daher bleibt nur übrig, es zu beklagen.

4. Sey nun aber der Grund dazu auch verborgen, genug das Hineintreten hat Statt gefunden, und deswegen gibt es unterhalb der bisher betrachteten Principien eine Stufenfolge von Wesen, deren Betrachtung die Physik gewidmet ist. Ein neuer Beweis für die Unterordnung des Aristoteles unter den Pluto ist dieser, dass des letzteren Kategorien im Gebiete des Intelligiblen, die des Ersteren dagegen hier, im Bereich des Sinnlichen gelten sol- len (ihre Zahl wird indess reducirt). Die oberste Stufe dieser Wesen bilden die Götter, die unterste die unorganischen Wesen, in welchen das Leben nur schlummert. Die Götter sind die Ge- stirne, deren Seelen im Anschaun des Guten schwelgen, deren Körper aber auf die von ihnen umkreiste Welt einwirken (II, 3. 9.

II. Die Neuplatoniker. A. Plotin. u. der römische Neoplaton. §. 128, 4. 209

Vgl. VI, 9. 8 9). Unter ihnen stehen die, in den subkmaren Lufträumen lebenden, Dämonen, zu welchen Plotin öfter die Volks- götter rechnet (III, 5. 6. n, 9. 9). Endlich die, von einer ver- nünftigen Seele durchdrungene, Erde (IV, 4. 27) trägt ausser den unorganischen Wesen, den Pflanzen, in welchen sich schon h'r/og, den Thieren, in denen sich schon diävoia zeigt, auch noch den Menschen, der ein Bild des Weltalls, die Welt im Kleinen ist. Wie in allen Substanzen die Form das Höchste ist, so auch im Menschen die Seele. Ursprünglich mit der Allseele eins, ist sie erst dadurch , dass sie aufhört nm- den vovq anzuschauen und an- fängt, sich selbst zu denken und zu begehren, an einen beson- deren Theil des körperhchen Alls gebunden (III, 9. 2). Der Act der Verkörperung fällt daher mit dem Werden zum besonderen Bew'usstseyn zusammen, er ist frei gewollt und Strafe zugleich (V, 8. 7. IV, 8. 4). Mit dem Eintritt in den Leib, wird auch die Seele von dem Umschwung des Ganzen ergriffen, dem sie als Theil angehört. Sie kann sich nicht beklagen , denn ihre Stellung darin hat sie selbst gewollt (IV , 3). Freiheit und Xothwendigkeit streiten hier nicht, denn das Schicksal des Menschen ist sein selbstgewählter Dämon , die Kolle , die Jeder im Weltdrama spielt, ihm deshalb aufgetragen, weil er sie wollte (III, 2), Das Herab- steigen der Seele in den irdischen Körper geschieht übrigens all- mählich, so dass sie zuerst (göttlich) an die himmlischen, dann (dä- monisch) an die feinen athmosphärischen, endlich (in der Mensch- werdung) an den groben irdischen Körper sich bindet (IV, 3). In Folge dieser Vereinigung ist der Mensch ein Zusammengesetztes, y.oivöv , dessen Leib ein Theil des körperlichen Alls ist, und des- sen Seele ähnlich, sey es nun als Art zur Gattung, sey es als Theil zum Ganzen , sich zur Allseele verhält , und der mit seinem höchsten Bestandtheil, dem vovg, über die Natur, ja über die Allseele hinaus bis in den Himmel hineinreicht (IV, 7). Das Ver- hältniss dieser drei Principien, die oft geradezu als der erste, zweite und dritte Mensch bezeichnet werden (VI, 7. 6) , bildet den Haupt -Inhalt der Plotinischen Psychologie. Der Körper, ein Theil des Alls und mit ihm in Sympathie stehend (IV, 5. 3), macht die Seele, die ohne ihn ganz in der Vernunftsphäre leben würde, zur nährenden, empfindenden, überhaupt zur niederen. In ihr, als dem Bande zwischen Leib und Geist, begegnen sich die Eindrücke der Sinne mit den in den Geist strömenden Ideen , deren Inbegriff der vocg gewesen war, und die wir erkennen, wenn wir ihn be- trachten. Aus der doppelten Beziehung, in welcher die Seele steht, zur Aussenwelt und zum vovg, ergeben sich drei Gebiete

Erdinann, Gesch. d. Philos. I. -tA

210 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

in ihr: das unterste, die sinnliche Seele, deren höchste Function die (favTcaia ist (IV, 3. 29), ferner die mittlere, oder eigentlich menschliche Seele, der die Reflexion zukommt, die didvoia und das loyittoiyai , durch welche nicht nur die niedere öo^a zu Stande kommt, sondern auch die jiiong und die Wissenschaft (I, 1. 7 und 3. 4. V, 8. 7). Die höchste Partie der Seele ist die , mit wel- cher sie in den Himmel, d. h. den vovg hineinreicht; vermöge dieses Antheils an dem vovg erhebt sich der Mensch zu dem un- mittelbaren, bewegungslosen Anschauen der Ideen, in dem er be- sitzt, was die Reflexion und Wissenschaft erstrebt (IV, 4. 12), reines voeIv oder fgovr^aig ist, und das Ewige in unmittelbarer Berührung erfasst (VI, 8. 11. I, 2. 6). Ist nun aber die mittlere Sphäre, der h'r/og, dem das loyiCeaO^cu zukommt, zugleich der eigentliche Sitz des persönlichen Selbstbewusstseyns, so folgt, dass es unbewusste Erkenntnisse gibt, die höher stehen, als die be- wussten. Diese treten in den Momenten der Ekstase hervor, wo die Selbstthätigkeit der Seele ganz aufhört , sie ganz zu den Ideen wird, die sie anschaut, ganz zum Stoff für den voig, der in ihr waltet (IV, 4. 2). In diesen Augenblicken der Ekstase erschaut die Seele das Ehie nicht als ein Fremdes , Aeusserliches , sondern in sich selbst, und ruht in ihm, indem sie sich in völlige Einheit mit ihm verliert, ein Zustand, der über alle Vernunft und Wis- senschaft hinausgeht (VI, 9. V, 5 und sonst).

5. Diese Erhebung zum inwendigen oder geistigen Menschen ist es nun auch, was die Ethik des Plolin als das Ziel alles Handelns darstellt. Nicht in dem Materiell -Seyn, wohl aber in dem innerlichen an der Materie Hängen, besteht das Böse. Da- rum wird das höchste Ziel, das Freiseyn von der Materie, nicht durch den Selbstmord erreicht, wie die Stoiker meinen. Durch das Sinnlichgesinntseyn würde die Seele sogleich wieder sinnliche Existenz bekommen, da sie nur das und nur so ist, was und wie sie denkt (I, 9). Die wahre Befreiung besteht darin, dass die Herr- schaft des niederen (sinnhchen) Menschen gebrochen wird, der höhere Mensch zur Herrschaft kommt. Dies geschieht zunächst so, dass die, durch den Leib in der Seele hervorgerufenen, Begierden und Affecte der Vernunft unterworfen werden. Da dies der Platonische Begriff der Tugend gewesen war, so stimmt Plot'ui, was die vier Cardinaltugenden betrifft, ganz mit ihm überein. Nur darin weicht er von ihm ab, dass sie, die er auch die politischen Tugenden nennt, für ihn nur der erste Schritt sind bei der Lösung der sitt- lichen Aufgabe (I, 2. 7). Zum eigentlichen Ziele, dass wir der Gottheit ähnlich {bf.ioovatog) werden, bringen viel näher die aske-

II. Die Neuplatouiker. A. Plotiu u. der römische Neoplaton. §. 128, 5. ^H

tischen Reinigungen {/.adaQasig} , welche nicht sowol auf die Mäs- sigung als auf die Ausrottung der Triebe gehn (I, 1. 2). In der ajra(yeia besteht die wahre Gottähnlichkeit; sie ist zugleich die wahre Freiheit, denn ganz frei und bei sich selbst, e(p eavxov, ist nur der vovg und wer sich ihn zu seinem Dämon nahm (I, 2. 3. III , 4. 6). Nicht darin , dass der Mensch der Natur gemäss lebt, denn das thun auch die Pflanzen , sondern darin , dass der vovg in ihm herrscht, besteht seine wahre Glückseligiveit (I, 4. -1 4). Bei Weitem mehr aber als die praktische Seite der Glückseligkeit, tritt bei Plotiu die theoretische Seite derselben hervor. Nicht das Handeln macht glückselig, sondern das Besitzen, das Denken und die innere Thätigkeit. Das letzte Ziel ist und bleibt das Schauen des Ewigen, alle Praxis ist um der Theorie willen (III, 8) und der Weise ist selig in seinem Insichgewandtseyn , auch wenn Niemand seine Seligkeit sähe. Er hat das Ewige erfasst und da- rin genügt er sich selbst, und kein Verlust noch Schmerz berührt ihn. Wer noch etwas fürchtet, ist noch nicht vollendet in der wahren Tugend (I, 4). Von den drei Wegen , die zu diesem Ziele führen, bedarf der des Erotikers und Musikers des Wegweisers, sichrer ist der des Dialektikers oder Philosophen (I, 3), der von dem Aeusseren und Sinnlichen zum Inneren und U ebersinnlichen leitet, dazu nämlich, die Ideen zu schauen. Da aber der die Ideen umfassende vovq nicht das Höchste gewesen war, so geht über das voeiv und die Philosophie hinaus die Liebe zu dem Einen und Guten , wogegen selbst die Herrschaft der Welt als ein Nichts wegzuwerfen ist (VI, 7; I, 6). Ein sich Zurückziehen von der ge- sammten Aussenwelt ist zum Gewinnen dieses Staudpunktes noth- wendig. Man muss ruhig werden bis der Gott kommt, oder viel- mehr bis er zeigt, dass er nicht zu kommen braucht, da er im- mer in uns war (V, 5. 8). Man muss glauben an dieses Erleuch- tetseyn, in dem, so kühn das Wort klingt, das Angeschaute und Anschauende Eins werden, so dass an die Stelle des Anschauens eines Anderen, Ekstase, Hingabe, wirkliche Vereinigung getreten ist (V, 3. 14. VI, 0. 10). In dieser Einheit besteht die wahre, auch durch den Tod nicht zu unterbrechende, Seligkeit. Wie das Denken an das Sinnliche die Seele sinnlich macht, so dass, wer nur ans Vegetiren denken kann, sich selbst zum Pflanzenleben verdammt (III, 4. 2), so wird, wer das Irdische vergisst und zur vollendeten Innerlichkeit gelangt ist , über allem Wechsel erhaben, als mehr denn ein einzelner Mensch, dem Ganzen leben und dem Einen (V, 8. 7). In diesem Zustande wird, da ja schon hienie- den der Mensch , um je vollendeter er ist , um so mehr Vaterland,

14*

212 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

Freunde u. s. w. vergisst, er noch mehr Alles, ja sich selbst, ver- gessen haben (IV, 4. 1. I, 5. 8). Nichts wird dort die Anschau- ung des Einen stören noch unterbrechen, die Zeit wird in der Ewigkeit verschwinden, und die Seligkeit reine Gegenwart seyn (VI, 9. I, 5).

6. Unter denen, welche neben Piotbi den römischen Neopla- tonismus vertreten, verschwinden die Namen des Amelius, Ensto- clnus u. A. als unbedeutend gegen den im J. 233 in Phönicien (in Tyrus oder Batanea) gebornen Alalchus , der während er des Longiiins Schule besuchte, seinen Namen in den des Porphy- rios gräcisirt hatte, und in seinem 30'**''" Jahre ein persönlicher Schüler des Platin, später der Ordner seiner Werke und sein Biograph ward, auch nach seinem Tode in Rom bis zum Jahre 304 lehrte. Ausser dem Leben des Biotin , mit dem er die Werke seines Meisters begleitete, haben wir von ihm ein Leben des Py- thagoras, welches vielleicht ein Bruchstück einer verloren gegan- genen Geschichte der Philosophie und sehr oft gedruckt ist (u. A. in der Didotscheu Ausgabe des Diog. Ld'ert.). Sein kritischer, in der Schule des Longin wohl noch geschärfter, Geist Hess ihn von dem Meister abweichen, wo dieser unkritisch erschien. Da- rum nimmt er die Aristotelischen Kategorien in Schutz und schreibt (vielleicht geschah dies schon ehe er zum Ploiin kam) seine, in vielen Ausgaben des Aristotelischen Organon abgedruckte Elacr/io- yrj TiEQi Ttov TtivTE (pcovaiv, in welchen die fünf Begriffe (später Praedicabilia , auch wohl Univcrsalia genannt) yevog, öiacfOQd, sldog, l'öiov und Grf.iߣßij/.6g abgehandelt werden, und aus der na- menthch zwei Punkte in der Folgezeit besonders hervorgehoben worden sind. Einmal die sog. Arbor Porphyrii, d. h. die Abstu- fung von dem aller allgemeinsten {yeny.wrcaog) Begriff der ovala durch die subalternirenden Begriffe acof^ta, tjiipvxov u. s.w. herab bis zu dem eidi/uocaTov {avS^QioiTog), und endlich dem aro/<oj' (Illd- Tcov), seit welcher in den Logiken pflegt wiederholt zu werden, Ens sey der oßerste aller Begriffe. Zweitens , dass gleich am An- fange der Schrift als ein sehr wichtiges, hier aber nicht zu lösen- des, Problem die Frage erwähnt wird, ob Gattungen und Arten etwas Wirkliches ausser uns oder blosse Gedanken seyen? ferner: wenn etwas Wirkliches, ob körperlich oder unkörperlich? endlich: wenn unkörperlich, ob xiOQiatä oder ob nur in den Dingen existi- rend? Die Beantwortung der ersten Frage hätte das Verhältniss des Porphyrius zu den epikureischen Sensualisten, der zweiten zu den Stoikern, der dritten zum Plalo und Aristoteles gezeigt. Wie er die erste und zweite beantwortet hatte, kann aus derKli-

n. Die Neuplatoüiker. B. Jamblichus u. der syrische Neoplaton. §. 129, 1. 213

max , die alle drei bilden , herausgelesen werden. Das von ihm aufgestellte Problem spielt in der Folgezeit (s. unten §. 158 if.) eine sehr wichtige Rolle. Zeigt sich in dieser Einleitung Porp/iy- rlifs dem Aristoteles mehr zugeneigt, als sein Meister, so stimmt er dagegen ganz mit diesem überein in seinen al nqng %a vor^xa ucfnQf.(al (zuerst gedruckt in der lateinischen Paraphrase des Mar- silhfs Ficiiins, später griechisch; am vollständigsten in der Pari- ser Ausgabe des Creuzerschen Plotin), welche einen Auszug aus des Plotin Geisteslehre enthalten. Auch in religiöser Hinsicht sind sie ganz einverstanden, wie sich aus des Porphyrins Um- deutung der Homerischen Mythen in Begriffsentwicklungen, und wieder aus seiner Bekämpfung nicht nur der Gnostiker, sondern der Christen überhaupt ergibt. Die 32 Capitel Homerischer Un- tersuchungen (Venet. Aid. 1521), so wie die Allegorische Deutung einer Homerischen Stelle in der „Nympheugrotte" sind uns erhal- ten. Dagegen sind die fünfzehn Bücher gegen die Christen da- durch, dass ihnen auf Befehl des Theodosbis H sehr nachgestellt wurde, und dass auch die gegen sie gerichteten Schriften des Metl/odins und Eusehius verloren gegangen sind, bis auf einzelne ganz unbedeutende Nachrichten bei den Kirchenvätern, spurlos verschwunden. Seine Religiosität war übrigens wie die des Plotin vorwiegend ethisch, und hatte, verglichen mit gleichzeitigen Er- scheinungen, einen rein griechischen Charakter, darum seine Po- lemik gegen die sich vordrängende theurgische Tendenz, mit der sich ein diurch ägyptische, magische und andere Elemente ver- setzter Piatonismus verband, aus der sein im späten Alter ver- fasster „Brief an den Aegyptischen Priester Anebon" hervorging, der die gleich zu erwähnende Gegenschrift hervorrief.

§. 129. B.

Jamblifhiis iiud der syrische Neoplatonismus.

1. Jitml)livhi(s aus Chalcis in Cölesyrien, gleich ausgezeichnet an Kenntnissen wie an Geist, sclüiesst sich nicht sowol an die mehr philologischen Platoniker wie Plutarch gewesen war, als vielmehr an die mathematisch gebildeten Neupythagoreer und hat, nicht ohne Einwirkung orientalischer Ideen, eine Speculation in den Neuplatonismus eingeführt, in der sich Mathematik und My- stik seltsam mischen , und die ihn zu einer herben Kritik des Am- mclins und Porpf/yriiis gebracht hat, wegen der auch eine Schrift, über welche zuerst Marsilius Ficinns in einem lateinischen Re- ferat: de mysteriis Aegyptiorum, berichtete und die später Gate

214 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

im griechischen Urtext herausgab, von Vielen ihm zugeschrieben ■wird. In derselben nimmt sich ein Priester Abamon seines Schü- lers, des Anebfm, an den Porphyrius geschrieben hatte, an. Jam- hiichvs ist schwerlich der Verfasser. Von den zahlreichen Schrif- ten, die unzweifelhaft dem Jamhlichns angehören, sind die meisten verloren. So seine Commentare zu den Platonischen Dialogen, von denen wir nur durch Proklus wissen, eben so sein Commen- tar zu den Analytiken des Aristoteles. Was sich erhalten hat, scheint Alles zu einem grösseren Werke zu gehören , dessen er- stes Buch nEQi ßiov IIv&ccyoQrA.ov Arccnius Theodoretus zuerst 1598 herausgab. Daran schlössen sich als zweites Buch die Aö- yot TTQOTQEjTTrAOi €ig (filooofplciv ^ die ein Gemisch Platonischer und Pythagoreischer Lehren enthalten. Sie sind von Demselben, später viel besser von Kiesslivy herausgegeben. Das dritte Buch TTEQi '/.oivrjg fiad^r^ii(aTiy,r^g eniGTrif.n]g ist u. A. von Fries in Kopen- hagen, das vierte 7r£Qi rtjg NrMf.icr/jn- aQtOjiir]TrArjg elaaycoyrjg von Tennirliits 1668, und das siebente Q€nXoyovf.iEra it^g aqid^f^irjTix^g am Besten von Ast 1817 in Jjeipzig edirt.

2. Die ungemessene Verehrung, mit der nicht nur unbedeu- tendere Männer wie Clirysdiithuis und Maximiis, die Lehrer und Freunde des Kaiser Julian und dieser selbst, sondern auch Pro- lins den Jamhlichus ihren Meister nennen , spricht für die Bedeu- tung des Mannes. In der That ist das Meiste, was bei Prokhis als Zuthat zur Plotinischen Lehre erscheint, schon von Jumhli- chns gelehrt, und dies nur übersehen worden, weil es, da seine eignen Schriften verloren gegangen, zu grosser Aufmerksamkeit auf jeden Wink bei ProUus bedurfte. (Kirchner hat diese ge- habt.) Als die wichtigsten Neuerungen des Jamhlichus wird man erstens die bis ins Einzelne durchgehende Durchführung einer, in Triaden sich bewegenden, Begriffsentwicklung ansehn müssen, wel- che bei Proklus (§. 130) zur Sprache kommen wird. Zweitens aber, was ihn ganz besonders berühmt gemacht hat , seine Theorie von den Götterordnungen, welche für eine lange Zeit eine Lieb- lingslehre namentlich für die war, die mit philosophischen Grün- den das Christenthum bekämpften. Wenn nämlich nach Plotui die Seele an dem rote:, dieser an dem Einen oder Guten Theil gehabt hatte, so glaubte Jamhlichus , dass dieses An sich Theil nehmen lassen die Einheit schon trübe, und so erhob er sich zu dem Gedanken des noch abstracteren tv a/tiEd^EATor , nahm dann aber weiter über jeder Klasse von Wesen eine solche absolut über- weltliche {ivTEQOvaiog) Henade an, und diese Einheiten sind im höchsten Sinne seine Götter. Indem er aber dann immer wieder

II. Die Neuplatoniker. C. Der Neoplatonismus in Athen. Proklos. §. 130, 1. 215

nach dem Schema der Dreiheit die einzehien Momente eines Be- griffs unterscheidet, kommt er dazu den drei Begiiflfen vovg, ipL^rj und ffvoiQ entsprechend d^ml voeqoi, Lvregy.oai^iioi und ly/iöof^iioi zu unterscheiden, die als wirkliche Götter unter der Iväq d^ied-- e-ATog stehn. Diese ganze Götterreihe wird nun so über die von P/oilii festgestellte Reihe (Eins, Geist, Seele, Natur) gestellt, dass eigentlich Alles zwei Mal gedacht wird, einmal in diesseitiger Wirk- lichkeit, andrerseits in jenseitiger Ueberwirklichkeit.

3. Unter den Nachfolgern des Jamhlichus scheint Theodoros in der Dreitheilung noch weiter gegangen und durch eine verän- derte Terminologie den Andern ein Anstoss geworden zu seyn. Die Meisten von des JamhlUlnts Verehrern aber scheinen viel we- niger durch seine wissenschaftliche Bedeutung gewonnen zu seyn, als dadurch, dass er in seiner Schrift über die Götterstatuen und auch sonst, dem damals überall (auch bei den Christen) herr- schenden Glauben an magische Einwirkungen, an die Macht von Theurgen u. s. w^ eine philosophische Grundlage zu geben ver- suchte. Auch die Neuzeit hat oft an dem Jambliclms nur diese Schwäche seiner ganzen Zeit bemerkt und getadelt.

§. 130.

€. Der Neoplatonismus in Athen. Proklos.

1. In Athen, wo seit Iladrian und Marc Aurel die verschie- denen Schulen der griechischen Philosophie durch, vom Staate besoldete, Lehrer fortgepflanzt wurden, gründete neben denselben Plntarchns des Nc.slorios Sohn eine Privatanstalt, wo er im Sinne des Ammoiiius und der mehr philologischen Neuplatoniker den Pinto und Arisloteles zugleich commentirte. Sein Nachfolger *S'^- rknios, indem er beide Philosophen, namentlich den Aristoteles, als blosse "Vorbereitung zur wahren Weisheit, die besonders in den Orphicis verkündigt sey, behandelte, lenkte damit mehr in die Richtung der Neupythagoreer ein. Schüler, obgleich nur für eine kurze Zeit, des Ersteren, Glied und sehr bald Mitarbeiter in der Schule des Zweiten, war der, durch welchen der Neopla- tonismus seine höchste formelle Ausbildung erhielt , und den schon sein ganzer Entwicklungsgang dazu befähigte: Proklos oder auch Procubis. Im J. 412 in Byzanz geboren , ward er früh nach Lykien gebracht und dort zum Beruf des Rhetors vorbereitet, in dem er sich dann in Alexandria weiter ausbildete und, so wie als Stylist, grossen Ruhm erwarb. Der Aristoteliker Olympiodo- ros veranlasste ihn , diese Laufbahn zu verlassen. Mathematische

216 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

und pliilosopliische Studien wurden jetzt die einzigen für ihn, na- mentlich fesselten ihn die analytischen Untersuchungen des Ari- stoteles, dessen Organon er soll auswendig gewusst haben. Bis zu seinem Ende hat er den Jristoteles eben so wie den Phito den göttlichen genannt. Mit dem Letzteren wurde er erst in Athen bekannt, wo er, wie gesagt, zuerst den Plntarch zum Lehrer, den Si/runi zum Helfer in seinen Studien hatte. Des Letzteren Nachfolger ward er, und auf ihn, nach Anderen auf PUdo , be- zieht sich der Beiname des Prolins Jiädoyog. Neben Pinto, dessen Exeget und umdeutender Commentator er bis an sein Ende blieb, hat er die Orphica und andere Erzeugnisse des neupytha- goreischen Geistes sehr hoch gestellt, dabei in alle möglichen My- sterien sich einweihen lassen, und seine glühende Frömmigkeit durch das Mit -Feiern aller möglichen Feste genährt, so dass er sich rühmt Hierophant der ganzen Welt zu seyn. Dies heisst der vorchristlichen, denn das Christenthum hasst und bekämpft er, ein Hass, der darin Entschuldigung findet, dass zu seiner Zeit die Christen die Rolle der Verfolger übernommen hatten, und er selbst es vielleicht nur den monophysitischen Streitigkeiten dankt, dass man ihn in Ruhe Hess, Vor dem , in seinem TS"'*"" Jahre erfolgten, Tode dieses d^Eoaeßlöxacogcivr^Q, wie ihn die pomphafte Biographie des Mariiws nennt, soll ihm offenbart worden seyn, dass er zu der hermetischen Kette von Trägern der mystischen Weisheit gehöre. Ausser den Hymnen an verschiedene Götter, ausser den mathematischen Schriften, ausser den (angestrittenen) grammatischen endlich , hat Prohlos vieles Philosophische verfasst. Meistens in Form von Commentaren zum Pluto , wo oft gerade wo er am Schlechtesten exegesirt, er sich am Meisten als Philo- soph zeigt. Cousin's Prodi philosophi Platonici Opera Paris 1820 enthalten die Commentare zum Timäus , Alkibiades und Parme- nides. Ausserdem in der lateinischen Uebersetzung des Wilhelm von Moerbecha die (Jugend-) Schriften über Fatum und Vorsehung. Ganz selbstständige Werke sind die ^ror/ekoGig i)eoloyrAri und die sechs Bücher eig t))v Ilhniovoq ^eoloyiav, welche vom Acmi- lius Partus Hainb. 1618 herausgegeben sind. Die erstere Schrift (Institutio theologica) enthält einen Abriss des Neoplatonismus, wie er sich bei Plotiu gestaltet hat, und ist deswegen ganz pas- send in die Didotsche Ausgabe von Creuzer's Biotin aufgenom- men. Dagegen finden sich in der zweiten (Theologia Platonica) die yonJamblichiis gemachten Aenderungen , welchen Prohlos sich anschliesst. In diesen beiden Schriften erscheinen daher die Ele- mente gesondert, die zu verschmelzen Proklos bestimmt war, der

II. Die Neuplatoniker. C. Der Neoplatonismxts in Athen. Proklos. §.130,2. 217

eben deswegen, trotz seiner Anlehnungen an beide, eine dritte Richtung des Neuplatonismus repräsentirt

2. Dass Proklos die Wissenschaft Theologie nennt, kann als gar keine, dass er anstatt tv oft tvcooiq sagt, nur als sprachliche Abweichung von Plotin angesehn werden, um so mehr als oV, aycid^ov gleichfalls vorkommt. Dagegen ist es eine sachliche, wenn er mit JambUcIms dieses erste Princip selbst wieder als eine Drei- heit nimmt, indem er an den Philebus des Pinto anknüpfend das ccjceiQov und :n:tQag in der concreten Einheit verbunden seyn lässt, vermöge welcher Concretion die absolute Einheit zum Inbegriff aller Henaden , die Gottheit zum Inbegriff der Götter wird. Diese drei Momente stehen unter einander natürlich nicht im Verhältniss des Schwächerwerdens, sondern zeigen, da das dritte das höchste ist, vielmehr eine Evolution. Dagegen ist es nach Prohlos ganz wie nach Plotin eine Abschwächung (vcpEaig)^ vermöge der aus jenem ersten (triadischen) Princip das zweite hervorgeht. Ihr Ver- hältniss ist, dass das zweite zum Prädicat hat, was das erste ist, als allgemeine Regel aber steht fest: das Haben steht dem Seyn nach (Theol. Plat. 130). Prohlos sucht sich die Nothwendigkeit dieser /cgoodog klar zu machen , und benutzt dabei einen von Plo- tin gegebenen Wink: weil die Einheit die Vielheit ausschliesst, deswegen muss diese jener gegenüberstehn , die Negation der Viel- heit, die in der Einheit liegt, ist nicht als öT£o/ynx?), sondern als yevvriTiyJj zu fassen (Theol. Plat. 108). Das Seyn, als das Prädi- cat von Allem , steht natürlich vor und über Allem. Da aber dem vovg ausser dem Seyn auch Leben zukommt, so muss (was übri- gens Plotin selbst angedeutet hatte) vor ihn die tcoi] gesetzt wer- den, die also hier die zweite Stelle bekommt. Auch sie muss wieder als ein System {didy.oo(.iog)^ also als eine Trias, gedacht werden, in welcher dvvaf^ng und v^raq^ig die Momente sind, die sich zur tcor^ vorfiii verbinden. Wie bei der ersten Trias Pinto, so ist bei der zweiten Aristoteles der Führer gewesen. Auf das Leben folgt dann als das dritte Princip der vovg. Dass in die- sem als die drei Momente ^liveip, Trqoitvai und LrtorQtfpeiv an- gegeben werden, ist nach dem wie Aristoteles und Plotin den vovg gedacht hatten, begreiflich. Mehr noch wenn an das ge- dacht wird, was Jnmblichns gelehrt hatte. Diese drei Triaden, welche den Eingeweihten, d. h. auf mystische W^eise, das Leben Gottes offenbaren und die manchmal als Gott, Göttlichstes, Gött- liches bezeichnet werden, enthalten den Inbegriff alles wahrhaft Sey enden, die erste ovTtog, die zweite Cwrr/wg, die diiitc voeQtog. Der Inbegriff der Einheiten wird drum wohl auch mit den Göttern,

218 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

der Lebenspriiicipieii mit eleu Dämonen, endlich das System des vovg mit der Geisterwelt zusammengestellt. Wie bei Jmnhllclius, um die Siebenzahl hervorzubringen, so tritt auch bei Prohlos in die Dreiheiten die Vierzahl und vermittelst ihrer kommen die Zwölfgötter zu ihrem Rechte, obgleich sie immer untergeordnete Götter bleiben. Vergleicht man wie oben (§. 128, 3) die Lehre des Platin, so hier die des Promos mit der christlichen Trini- tätslehre, so wird nicht dies die grössere Annäherung an sie ge- ben, dass bei ProUos dem Geist die dritte Stelle zugewiesen wird , wohl aber dass Prollos auf dem Sprunge steht die Emana- tion (nfeoig), und also das Subordinationsverhältniss , fallen zu lassen. Er spricht es öfter aus (z. B. Theol. Plat. 142), dass in den drei Triaden sich die drei Momente des vnvg Aviederholen, eben so die drei des ov. Ward Ernst damit gemacht, so niusste der vovg als das Höchste gedacht werden, die Abschwächung der Steigerung, die Emanation der Evolution Platz machen. Dies ge- schieht aber nicht; jene Aeusserungen sind vereinzelte Gedanken- blitze, und die h'ioöig wird immer als das bei Weitem Vornehmste im System behandelt.

3. In der Physik weicht Prohlos wenig von Platin ab. Wie dieser stimmt er darin mit ^ir istateles iihere'm, dass in jedem We- sen Materie und Form verbunden seyen. Die Platonische Unter- scheidung des Zeitlichen , Sempiternen und Ewigen , welche der Aristotelischen Eintheilung der theoretischen Philosophie entspricht (s. §. 85, 3), wird vom Prohlos aufgenommen und mit dem Un- terschiede des Somatischen, Psychischen und Intellectuellen (Pneu- matischen) zusammengestellt. Das Erstere steht unter dem Fa- tum , das Letztere unter der Vorsehung. Die Seele hat die Macht, je nachdem sie durch Hinneigung zu dem einen böse, oder zu dem andern gut wird, sich dem Fatum oder der Vorsehung un- terzustellen.

4. Auch dem Prohlos ist die höchste ethische Aufgabe die Ergreifung des Göttlichen. Dazu reicht keiner der vier Platonisch- Aristotehschen Erkenntnissgrade aus, sondern das GöttHche will erlebt, mit dein ganzen Wesen (ciraq^ig) der Seele ergriffen seyn. Indem diese in sich geht, und in ihr eignes advrnv sich einhüllt, erfasst sie den Gott , der in ihr lebt ; dies Weben im verborgeneu Menschen wird Enthusiasmus, auch wohl heiliger Wahnsinn, ge- nannt. Weil im Platonischen Alkibiades -von dem Selbsterkenuen und vom Schauen des Göttlichen die Rede, deswegen steht dem Prohlos dieser Diolog so hoch. Dass aber bei ihm die fiavia, die auch nloTiQ genannt wird, die nicht auf Gründen, sondern unmit-

III. Die Kirchenväter. §. 131. 219

telbarer Eiugebiiug beruht, die höchste Stelle erhält, coiitrastirt selt- sam mit den Platonischen und Aristotelischen Behauptungen. Desto weniger mit dem, was der Apostel von der göttlichen Thorheit sagt, und von der Gewissheit dessen, was man nicht sielit. Diese Gewissheit soll durch Anrufungen der Götter, durch theurgische Handlungen, gesteigert werden, in deren Verehrung es Prohlos dem Jamhliclnis und dem Verfasser der Aegyptischen Mysterien gleich, vielleicht zuvor thut, während seine treue Anhänglichkeit an Pinto ihn dem Plotin zugesellt, und er in Verehrung des Aristoteles Jene sowol als diesen tibertrifit. In ihm hat der Neo- platonismus seinen Culminationspuukt erreicht. Dies bleibt wahr, auch wenn man die geistige Begabung und Originalität des Plotin sowol als des Jamhlichus über die seinige stellt.

5. Neben dem Proklos ist sein Biograph Marinos. ausser diesem Isidoros. Zcnodotos und Damascivs zu nennen, Männer ohne Originalität, welche überlieferten, commentirten , höchstens bis zur Spielerei ausspannen, was die vor ihnen erfunden hatten. Als Justinidii im J. 529 die Philosophenschulen aus Vorsorge für die Christenlehre schliessen Hess, ahndete er nicht, dass, wenn er sie hätte gewähren lassen, die antichristliche Philosophie, weil sie in sich erstorben, ungefährlich gewesen wäre, dass aber, ge- rade weil sie nach dem Oriente auswandern musste, sie nach Jahr- hunderten eine Einwirkung auf die Denkweise der Christen äus- sern werde, so gewaltig, wie er selbst sie nie gefürchtet hatte.

III. Die Kirchenväter.

Chr. Fr. Bössler Bibliothek der Kirchenväter. Leipz. 1776 86. 10 Bde. J. A. Möhler Patro-logie herausg. v. Reithmayr. Regensb. l"" Bd. 18-lÜ. Joh. Huber Die Philosophie der Kirchenväter. München 1859.

§. 131. In der, von der Welt zurückgezogenen Stellung erstarkt, kann die Gemeinde zur Lösung einer zweiten Aufgabe übergehn, ohne dass sie darin aufliört, sich negativ gegen die Welt zu verhalten, worein oben (§, 119) die Bestimmung des Mittelalters gesetzt wurde. Diese zweite Aufgabe ist die Unterwerfung der Welt. Dazu aber ist nöthig, dass sie sich mit dem Gegner auf ein Niveau stelle, und als ein von der Welt anerkanntes, in so fern selbst weltli- ches, Institut existire. Ganz zuerst also hat sie dazu, d. h. sie hat zu einer Kirche, zu werden. Was die jugendliche Gemeinde nicht hat und nicht zu haben braucht, ist vom Begriff der Kirche untrennbar: ein als Statut geltender Lehrbegriff, vermöge dess

220 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

die Begriffe der Orthodoxie, Heterodoxie und Ketzerei einen be- stimmten Sinn bekommen. Während für die apostolische Thätig- keit, die nur auf die Verkündigung des erschienenen Heils ging, wissenschaftliche Begründung und Hülfe der weltlichen Macht un- nöthig, ja ein Hinderniss, gewesen wäre, ist zur Verwandlung des y.rjQvyi.ia in ein doy/na die Wissenschaft, und zur Einführung des letztern als eines gültigen Statuts die Hülfe des Staats, soll das Statut überall (katholisch) herrschen, des Universal - Staates nöthig. Vermittelst beider wird aus der Gemeinde die Kirche, oder entsteht die letztere als solche. Diejenigen, welche jene Ver- wandlung vornehmen , werden darum mit Recht als (Mit-) Erzeuger oder Väter der Kirche bezeichnet,

§. 132. Die Dogmenbildung, die Verwandlung der Geschichte in ewige Wahrheit als solche, geschieht durch Philosophie, und die jene Verwandlung vornehmen sind Philosophen. Daraus aber folgt nicht, dass die Dogmen Philosopheme sind. Von diesen unter- scheiden sie sich dadurch, dass sie nur das Resultat, nicht das Resultiren mit, aussprechen, darum nur Behauptungen, nie Be- gründungen sind. Indem die Kirchenväter stets die geschichtliche Offenbarung zum Ausgangspunkte machen, dann aber zu der da- raus zu folgernden ewigen Wahrheit fortgehn, ist ihr Verhältniss zur Geschichte positiv und negativ zugleich , und diese Berührungs- punkte sowol mit den Gnostikcrn als den (neuplatonischen) Phi- losophen , die eben so auch Djfferenzpunkte von beiden sind, haben ihnen den Namen der wahren Gnostiker, der ächten Philosophen eingebracht, wie sie andrerseits es erklärlich machen, dass sie sich an beide anlehnen und beide bekämpfen.

§. 133. Da es sich darum handelt, den Inhalt festzustellen, der als wahr gelten soll, so werden sich die Kirchenväter natürhch an diejenige Philosophie anlehnen müssen, die hinsichtlich ihres In- halts den christlichen Ideen am Nächsten gekommen war. Dies ist im Praktischen der eklektisch gemilderte Stoicismus , im Theo- retischen der von Alexandria ausgegangene Eklekticismus und Neu- platonismus. Es ist daher keine Inconsequenz darin zu sehn, wenn in dieser Zeit in der Gemeinde Misstrauen gegen die Antiplato- niker herrscht und Peripatetiker als Ketzername gilt, während ein Jahrtausend später sich die Sache gerade umkehrt : es ist der richtige Tact, der verschiedenen Zeiten verschiedene Aufgaben zuweist. Dieses feine Gefühl für Das, was vor- oder unzeitig, und Das, was an der Zeit ist, muss überhaupt bei der Art, wie die

TTT. Die Kirchenväter. Die Apologeten. §. 134, 1. ^^1

gleichzeitige und spätere Kirche Einen beurtheilt , an erster Stelle beriicksichtigt werden. Oft viel mehr, als der Inhalt der von der Kirche beiirtheilten Lehren. Langsam und gleichsam zögernd, gibt die Gemeinde die misstrauische Stellung gegen die Wissen- schaft auf. Zuerst duldet sie dieselbe nui- als eine Sache der Xoth, wo sie das einzige Mittel scheint, die Gemeinde vor Angrif- fen aller Art zu sichern. Die Apologeten des Christentimms gegen Judenthum, Heidenthum und Ketzerei sind darum die Er- sten, in welchen die Philosophie zugelassen, und nicht mit dem Ketzernamen belegt wird.

§. 134. 1. Der Erste und zugleich Bedeutendste , der hier zu nennen, ist Jiistinus, der Philosoph und Martyr (103—167). Unter den ihm zugeschriebenen Schriften (zuerst 1551 von fiob. StepJta- mis, dann sehr oft herausgegeben, u. A. von Prndcnt. Muranus Paris 1742 und von Otto Jena 1842 in 3 Bden. In J. P. Mlgne Patrologiae cursus completus füllen sie in der griechischen Patro- logie den 6'''" Band) gehören gewiss ihm an die beiden Apo- logien und das Gespräch mit dem Juden Tryphon. Die ersteren sind an die römischen Kaiser Ant. Pins und Marcus Aurelius gerichtete Schutzschriften für die Christen, in welchen der, durch stoische und platonische Philosophie gebildete, erst später Christ gewordene Verfasser die Yerläumdungen gegen Lehre und Leben der Christen zurückweist, und dagegen die theoretische und prak- tische Schwäche des Heidenthums darthut. Dabei' ist er aber weit entfernt , allen Heiden , namentlich den Philosophen , alle Wahrheit abzusprechen: im Sokrates sieht er eine Offenbarung des Logos, den Plato, ja den Heraklit. nennt er Christen. In der dritten Schrift wird besonders die Abweichung vom jüdischen Ritualgesetz so wie die, den Juden so anstössige, Lehre vom Kreuzestode Christi in Schutz genommen. Die Lehre von dem, in jedem Ver- nünftigen wirksamen, in Christo Fleisch gewordenen göttlichen Logos , die ferner von dem aus der Willensfreiheit hervorgegange- nen Fall, und der sich daran anschliessenden Erbsünde , die end- lich von der Wiedergeburt des Menschen werden, die ersteren nach Principien des Piatonismus, die letzte oft in grosser Uebereinstim- mung mit den Stoikern, erörtert. Das Subordinationsverhältniss in der Trinität, indem die Zeugung des Sohnes zwar vor die Schö- pfung gesetzt, aber nicht entschieden als ewig gefasst, der h. Geist sogar unter die Engel gesetzt wird, steht der Lehre des Philo mindestens eben so nahe, als der späteren katholischen Lehre. Dass aber seine Apologien an der Zeit waren, und dass er für

222 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

die zweite derselben den Martyrtod erlitt , lässt die spätere Kirche gegen solche Abweichungen Nachsicht üben.

2. Ein Geistesverwandter des Justin ist Athenagoras , des- sen an Marc Aurcl gerichtete Apologie , und Schrift über die Auf- erstehung (die erstere zuerst 1541 von Petrus Nminius in Paris und Löwen, die zweite 1551 von /«. Stephanus in Paris heraus- gegeben) u. A. in des Mnrauiis Ausgabe der Justinschen Werke sich finden. Die erstere sucht aus dem Begriffe des Durch sich seyns zu beweisen, dass der Monotheismus die einzig vernünftige Religion sey; zugleich wird aber gezeigt, dass damit die Lehre vom Vater, Sohn und Geist nicht streite, während der Polytheis- mus auf einer, durcli den Trug von Dämonen genährten, Verwechs- lung von Gott und Materie beruhe. Wie Justin, so sieht auch Athenngords in den Lehren der Philosophen die Wirksamkeit des göttlichen Logos, um- dass dieselben gemeint hätten, die Wahr- heit selbst gefunden zu haben, während Propheten und Apostel es wüssten, dass sie nur gleich Blas - Instrumenten sich zum Hauch Gottes verhalten. In der Schrift über die Auferstehung ist der leitende Gedanke, dass der Mensch nicht nur Seele, dass eine Menge von Verschuldungen und Tugenden das leibliche Moment voraussetzen, und dass Lohn und Strafe den ganzen Menschen treffen müssen.

§. 135.

1. Zu den bisher Genannten, deren Vertheidigungen besonders die Abwehr der äussern Gewalt bezwecken , gesellen sich zweitens Solche, welche durch wissenschaftliche Angriffe auf das Christen- thum zu seiner Vertheidigung veranlasst wurden. Hier nehmen des Theojjliilus , eines als Heiden gebornen, als Bischof von An- tiochia im J. 186 gestorbenen Mannes drei Bücher an Autobjkos, einen wissenschaftlich gebildeten Heiden, einen würdigen Platz ein. (Zuerst 1546 von C. Gesiter in Zürich, dann öfter, u. A. 1742 von Pnid. Maranus herausgegeben.) Die Lehre von der Dreiheit in Gott, die hier zum ersten Male als Trias bezeichnet wird, die ferner von dem löyoq hdiüderog und 7rQO(fOQi/.6g wer- den sehr scharfsinnig vertheidigt. Nur die Lehre vom h. Geist laborirt, weil derselbe bald mit der Weisheit gleichgesetzt, bald von ihr unterschieden wird, an einer grossen Unbestimmtheit.

2. Zum Theil mit nachweisbarer Anlehnung an Theopkilus vertheidigt Irenaeus (Schüler des Poly/,arp, als Bischof von Lyon 202 hingerichtet) die christliche Lehre nicht sowol gegen die heid- nische Philosophie, als gegen die daraus hervorgegangenen gno- stischen Ketzereien. Seine Hauptschrift: Gegen die fälschlich so-

in. Die Kirchenväter. Die Apologeten. §. 136. 223

genamite Gnosis in fünf Büchern , ist nur in einer alten buchstäb- lich treuen lateinischen Version (Adversus haereses zuerst 1526 von Erasmus in Basel, dann öfter u. A. 1710 von Massnet, zuletzt 1853 von Stieren Lpz. in 2 Bden. herausg., bei Miyne a. a. 0. Bd. 7j zu uns gelangt. 01)gleich seine Argumentation sich beson- ders auf Schrift und Tradition beruft, so verschmäht er doch auch das Räsonnement nicht, um die Unhaltbarkeit der gnostischen Aeonenlehre und die Richtigkeit der apostolischen Lehre darzuthun.

3. Von einem Schüler des Irena ns, Hippolytns, der als Bischof von Portus Romanus den Martyrtod starb , wusste man lange Zeit nur, dass er ein Werk gegen alle Häresien verfasst habe, in welchem die Schrift des Irenüus benutzt war. Bimsen (Hippolytus und seine Zeit Leipz. 1852) hat bewiesen, dass die früher dem Origenes zugeschriebenen Philosophumena das erste, die von Em. Miller 1851 herausgegebeneu Bücher die sechs letz- ten Bücher dieses "Eleyyoi sind. Es fehlen nur das zweite, dritte und halbe vierte Buch, in denen, wie im ersten, die griechischen Systeme dargestellt waren, aus denen die Häretiker geschöpft ha- ben sollen. In dem letzten Buche sind die eignen Ansichten des IJippolißtns auseinandergesetzt. Die Lehre von dem Einen Gott, dem die vier Elemente nicht gegenüberstehn, sondern ihren Ur- sprung danken, die ferner von dem Logos, der einmal in Gott ist und dann wieder die in Ilnu enthalteneu Gedanken als offen- barende Stimme ausspricht, endlich aber in sichtbarer Gestalt er- scheint, — das sind die hervorstechenden Punkte. (Beste Aus- gabe des Hippolytus von Duncher und Schneid eivin. Götting. 1830.)

§. 136.

Nicht nur bei einzelnen Verfolgungen und AngnÖ'en , sondern wegen ihres Berufes fortwährend, hatten die Lehrer der AI ex an - drinischen Katechetenschule Veranlassung, die christüche Lehre als die veruunftgemässe darzustellen. Wie Pantünns, der gewöhnlich als der Erste in ihrer Reihe angeführt wird, so war sein grosser Schüler Clemens (zum Unterschiede vom römischen Alexandriuus genannt) als Heide geboren, aber schon früh zum Christenthum übergetreten. Seit 189 Nachfolger des Pantünns ist er ums Jahr 217 gestorben. Von seinen Werken (zuerst 1550 von Petrus Victorius in Florenz, dann besser von Fr. Sijl- burg 1592 in Heidelberg, von Dun. Heinsius 1616 in Leyden und viel besser von Joh. Potter 1715 in Oxford griechisch und latei- nisch herausgegeben, bei Migne a. a. 0. Bd. 8 und ^) sucht der Äo/og TTQOTQenTi/Mg oder die cohortatio ad gentes das Vernunft- widrige des Heidenthums nachzuweisen; der daran sich anschlies-

224 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

sende Trmdayor/og zeigt in Christo den wahren Führer zur Sitt- lichkeit, der im Alten Bunde durch Furcht, im Neuen durch Liebe geleitet habe; endlich das dritte und wichtigste Werk, die acht Bücher ^TQtoficcTelg, sucht durchzuführen, dass das Christenthum die höchste Philosophie ifet, zu der sich die griechische, gerade wie das jüdische Gesetz, nur wie ein Bruchstück verhält. Der Glaube an die Offenbarung {/riaug) wird als die Wurzel, die Er- kenntniss {yrtoaig) als die Krone gefasst, das Mittel zu der letz- teren zu gelangen ist das Vcrständniss (ijiiGTrj/'tj) des Geglaub- ten. Von der falschen Gnosis unterscheidet sich die wahre da- durch, dass sie Früchte der Sittlichkeit und wahre Bruderliebe erzeugt, darum al)er auch nicht verächtlich auf den Glauben her- absieht. Damit ist der Vorzug vereinbar, den er ihr vor dem Glauben gibt , welchen letztern er oft mit dem Ueberredetseyn und der Verwunderung zusammen- und also der richtigen Meinung des Pluto (vgl. §. 76, 2) gleich stellt.

§• 137. 1. Dass Origenes (185 254), des Clemens Schüler, aber wahrscheinlich auch des Ammonius Saccus Zuhörer, hinsichtlich seiner Rechtgläubigkeit nicht so unangetastet dasteht, wie sein Lehrer , ist nicht nur aus dem Inhalt seiner Lehre zu erklären, denn darin steht er der späteren katholischen Lehre viel näher als Justin der Martyr , auch nicht aus dem Umstände , dass Anns ihm Vieles entlehnt, denn dies wird dadurch weit aufgewogen, dass er sehr bedeutende Ketzer, wie den Beryll von Bostra, be- kehrt, dass Dionysiiis der Grosse und Gregor der Wunderthäter seine persönlichen, ihn sehr verehrenden Schüler, sind, und dass Alhanasiiis seinen Schriften viel verdankt. Sondern der eigent- liche Grund liegt darin, dass er der Erste ist, der aus eignem inneren Drange den Versuch macht, das Evangelium als ein Sy- stem von Lehren darzustellen. Vom katholischen Standpunkte aus ist darum auch seine Jugendschrift über die Grundlehreu der christlichen Religion (in vier Büchern, die wir indess nur in der sehr freien Uebersetzung des Ixirfinns besitzen) weit der späteren, apologetisch - polemischen , gegen Celsns (in acht Büchern) nach- gesetzt worden. Nachdem einzelne seiner Werke schon herausge- geben waren, erschien 1512 in Paris die erste Gesammtausgabe von Merlin. Die im J. 1668 von Uiiet begonnene Ausgabe ist nicht vollendet, enthält aber eine sehr schätzbare Einleitung des Herausgebers. Die griechisch -lateinische Ausgabe des Benedicti- ners de la lliie 1733 39 ist in vier Foliobänden abgeschlossen. Ein Abdruck derselben ist die von Lommatzsch Berlin 1831 47

III. Die Kirchenväter. Origenes. §. 137, 2. 3. 225

25 Bde. {Migi}e gibt die Werke a. a. 0. Bd. 11—17.) Uebri- gens ist der grösste Theil von des Origenes Schriften (man sagt sechs tausend) verloren gegangen.

2. Dass Origenes nicht nur neben dem historischen Sinn der h. Schrift, der ihm als der somatische gilt, wie Philo einen mo- ralischen (psychischen) annimmt, sondern ausserdem noch einen speciüativen (pneumatischen), setzt ihn in Stand, neben dgr niong eine yviZotg zu statuiren und dennoch die Umdeutungen der ketze- rischen Gnostiker zu bekämpfen. Die eben angeführte Reihenfolge zeigt, dass ihm die theoretische Seite der Religion am Meisten am Herzen liegt, ^ie denn auch seine Bekehrungen meistens in der Widerlegung von Zweifeln bestanden. In der Trinitätslehre macht er gegen Jirsfin den Fortschritt, dass er die Zeugung des Sohnes als ewig, den h. Geist als über alle Geschöpfe erhaben denkt, je- doch über^\^ndet auch er das Subordinationsverhältniss nicht ganz. Die Offenbarung Gottes ad extra betreffend, lehrt Oi'igcnes zwar nicht die Ewigkeit der gegenwärtigen Welt, wohl aber, dass der- selben viele andere Welten vorausgegangen seyen, so dass die Schöpferthätigkeit Gottes nie angefangen habe. Die von Ewigkeit her existirenden Geister sind gefallen, und je nach dem Grade ihrer Verschuldung in verschiedene Daseynsgebiete, einige als See- len in menschliche Leiber, versetzt. (An die Stelle des indivi- duellen Falls jeder Seele trat später der der ganzen Gattung, was freilich mit der Präexistenz der einzelnen Geister schwer zu ver- einigen ist.) Die materielle Existenz ist daher nicht Grund, son- dern Begleiterin der Sünde. Christus, mit dessen, gleichfalls prä- existireuder , Seele sich der Logos verbindet, wird Fleisch, um in seinem Tode sich als Lösegeld für die Menschen dem Satan hinzu- geben. Sein Verdienst wird im Glauben angeeignet,* der allein rechtfertigt, der aber die heiligen Werke zur Frucht hat. Dabei wird der Glaube nie als ein nur persönliches Verhältniss zu Chri- sto, sondern immer als ein Stehen in der Gemeinschaft der Gläu- bigen gedacht. Da zu dieser Gemeinschaft Alle Ijestimmt sind, so erscheint es dem Origenes als ein Verfehlen des göttlichen Zwe- ckes, wenn nicht eine Wiederbringung aller Dinge Alles ins Geleis bringt. Selbst der letzte Feind wird, nicht hinsichtlich seiner Sub- stanz, sondern nur so vernichtet werden, dass er aufhört Feind Gottes zu seyn.

3. Ein halbes Jahrhundert nach Origenes stirbt den M.artyr- tod Met// od ins (Werke 1644 von Cambesis, 1656 von Alla- liiis, 1672 abermals von Cambesis herausgegeben, bei Migne a. a. 0. Bd. 18) ein heftiger Gegner des Origenes und doch ihm gei-

trdmann , Gesch. d. PUil. I. -i r^

22Ö Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

stesverwandt, dessen tiefsinnige Erörterungen über Adam und Chri- stus, Eva und die Kirche, so wie darüber, dass Jeder gewisser Maassen ein Christus sey, zu den interessantesten des dritten Jahr- hunderts gehören.

§. 138.

Wo das Gefühl, zum kleinen auserwählten Häuflein zu gehö- ren, dej- Gemeinde abhanden kommt und Verfolgungen es nicht von Neuem hervorrufen, da hört in immer Mehreren das Leben bloss in Erinnerungen und Hoffnungen auf und es entsteht in ihr das Bedürfniss, sich dess zu getrösten, was das ewig, darum aber auch schon in der Gegenwart, Wahre ist in den Berichten und Ver- heissungen der Apostel. Werden nun auf die Frage darnach ver- schiedene Antworten gegeben, so entsteht in der Gemeinde das Bedürfniss, in bestimmten Formeln ausgesprochen zu haben, was nicht nur wirklich geschehen, sondern was wahr ist und was Alle dafür halten. Diesem Bedürfniss begegnet von der andern Seite das Verlangen des Staates, der wissen muss, welches die Grund- überzeugungen eines so grossen Theils seiner Bürger sind, ehe er sie allen übrigen gleichstellen kann, und der, weil Religionsstrei- tigkeiten gegen sein eignes Interesse, mit allen ihm zu Gebote ste- henden Mitteln darauf hinwirken wird, dass eine Einigung zu Stande komme. Treten in solcher Zeit Männer auf, die, wie Ori- gciics, den Innern Drang haben, aus der geschichtlichen Verkün- digung eine, formulirte Wahrheit enthaltende, Lehre zu machen, so wird dies nicht nur den Beifall des Staates haben müssen, son- dern auch die Gemeinde wird sie willkommen heissen. Mit den Verfolgungen hört das Bedürfniss der Vertheidigung auf, und au die Stelle der, von der Gemeinde geduldeten, Apologeten treten jetzt die, ^on ihr geehrten Dogmeubildner.

§. 139.

Je mehr die eben (§. 138) angedeuteten Umstände zusammen- fallen, um so normaler wird die Dogmenbildung vor sich gehn. Darum gewährt den erfreulichsten Anblick die Entstehung desje- nigen Dogma's, mit dessen Feststellung vernünftiger Weise der An- fang gemacht werden muss, weil es die Voraussetzung aller an- deren bildet: des Dogma's von der Trinltät. Die diametral entgegengesetzten Einseitigkeiten des judaisirenden Monarchianis- mus, wie ihn u. A. Sabellhis repräsentirt , und des dem Paganis- mus zugewandten Arlus, machen eine Entscheidung noth wendig. Gleichzeitig herrscht ein Kaiser, auf dessen Ruf mehr als drei- hundert Bischöfe sich versammeln, und der, ganz Repräsentant des Staatsinteresses, vor Allem eine bestimmte Formel will, die

III. Die Kirchenväter. Athanasius. §. 140, 1. 2. 272

von Allen für verbiudlicli erklärt ist, dafür aber auch verheisst, ihr in der ganzen gebildeten Welt Geltung zu verschaffen, ja, wenn es nöthig scheint, zu erzwingen. Endlich aber wirkt als Organ der Gemeinde der grösste Kirchenvater, den das Morgenland er- zeugte. Mit apostolischem Eifer hat Athanasius die Botschaft des Heils ergriffen; er vertheidigt, zum Martyrthum bereit. Alles, was die Propheten und Apostel erzählt und verheissen haben, und ist dadurch sicher gewesen vor den Umdeutungen der häretischen Gno- stiker. Tief eingeweiht aber in die wahre Gnosis eines Clemens und Origenes, erweist er sich als Geistesgenosse gerade des letz- teren, wenn er nicht damit zufrieden ist, dass bei der Feststellung des Dogma's nur bil)hsche Ausdrücke gebraucht werden. Mit Eecht, denn es handelt sich ja eben darum, Solches festzustellen, was die Bibel nicht festgestellt hat. Die oft an Despotismus streifende Strenge, mit der er auf Ordnung und Einstimmigkeit in Lehre und Cultus hält, macht ihn zu einem Gesinnungsgenossen des Cyprian und anderer abendländischer Kirchenlehrer. Endlich aber hat er genug von der wahren Weltklugheit, um die Hülfe der Weltmacht zum Geltendmachen des festgestellten Dogma's nicht zu verschmä- hen, jeder Einmischung aber in die Feststellungen selbst zu wi- derstehn , während die Arianer mehr oder minder zu Hoftheologen werden.

§. 140. Athanasius.

J. A. Möhler Athanasius der Grosse und die Kirche seiner Zeit. Mainz 1827. 2 Bde. H. Voigt die Lehre des Athanasius von Alexandria. Bremen 1861.

1. Athanasius, m Alexandria im J. 296 geboren, seit 327 Bischof daselbst, und 373 gestorben, hat, obgleich fünfmaliges Exil ihn zwanzig Jahre von seinem Bisthum entfernt hielt, mit dem grössten Eifer und Erfolg in ihm und zugleich als Schriftsteller gewirkt. Was er in letzterer Beziehung geleistet, darüber gestat- ten seine uns erhaltenen Werke ein Urtheil. (Ausgaben: Princ. Heidelberg 1601. II Vol. Fol. Ed. Mouffancon Paris 1698. HI. Fol. emend. cur. Giustiniani Patav. 1777. IV. Fol. bei Migne a. a. O. Bd. 25—28.)

2. Schon vor Ausbruch der Arianischen Streitigkeiten hatte er in seiner Bekämpfung des Heidenthums und seiner Vertheidigung der Lehre von der Menschwerdung sich als einen Mann erwiesen, der trotz eines Orif/enes und tiefer als dieser in die Grundfragen christlicher Lehre einzugehen wusste, ohne dass dies seine Ehrfui'cht vor dem Buchstaben der h. Schrift und der Tradition schwächte. Er war Diakon und Geheimschreiber des Bischofs Alexander von

15*

228 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

Alexaiidria, als dieser sich gegeu die Ketzerei des Arius erklärte, und in dem Briefe desselben an die katholische Kirche möchte man den Geist des Athunasius erkennen. Arius, ein durch Gelehrsam- keit, dialektische Schärfe und sittliche Strenge ausgezeichneter Presbyter, sah, weil ihm ein directes Verhältniss der Gottheit zur Welt die erstere zu verunehren schien, in dem Logos ein demiur- gisches Mittelwesen, das weder ewig sey, noch auch die adäquate Erkenntniss habe oder mittheilen könne. Dieses oberste aller Ge- schöpfe, dessen Einheit mit dem Vater in der üebereinstimmung mit dessen Willen besteht, ist in Christo veiieiblicht und vertritt daher in ihm die Stelle der vernünftigen Seele. Wie Arius, so lehrte auch Aster ins, ein gewandter Streiter, aber weder an Be- gabung noch an Ernst der Gesinnung Jenem gleich. Auf dem Con- cil von Nicäa, welches besonders wegen des Arius gehalten wurde, befand sich Alhunasius als Begleiter seines Bischofs, bestritt in mündlicher Rede den Arius und trug am Meisten dazu bei, dass nicht eine, aus biblischen Ausdrücken zusammengesetzte Formel, wie sie besonders Eusebius von Cäsarea, der gelehrteste Mann sei- ner Zeit, wünschte, und die auch den Arianern willkommen gewe- sen wäre, durchging, sondern die Formel ofionvaiog angenommen wurde. Seine Hauptthätigkeit aber beginnt erst nach dem Concil, wo er sowol gegen die Arianer als auch gegen den, ihnen sich zu- neigenden, Eäsebias die Beschlüsse von Nicäa in mehreren Schrif- ten vertheidigte. (Besonders: Ueber die Nicänische Synode und: Fünf Reden gegen die Arianer.) Der Hauptpunkt ist dabei, dass dem Arius Hinneigung zum Heidenthum, darum üebereinstimmung mit dem Dualismus Platd's und der heidnischen Neuplatoniker vor- geworfen wird. Die Behauptung, dass zwischen dem unendlichen Gott und den endlichen Dingen ein Mittelwesen anzunehmen, sey eine Gedankenlosigkeit, da, wenn dieses Mittel wesen endlich, zwi- schen ihm und Gott, wenn unendlich, zwischen ihm und den Din- gen wieder ein Mittelwesen, und so fort ins Endlose nöthig wäre. Ohne die richtige Logoslehre sey der wahre Schöpfungsbegriff nicht zu fassen; wenn Gott nicht (ewig sich) offenbar wäre, so könnte er nicht ohne Wesensveränderung (nach aussen) offenbar werden. Der Logos, durch den also die Welt geschaffen, ist nicht ein De- miurg, sondern der ewige, Gott wesensgleiche, Sohn, die weltbil- dende Kraft, die weder als Geschöpf gedacht, noch wie von Sa- bellius mit dem Vater confundirt werden muss. Wie nicht zeitlich, so ist die Zeugung des Sohnes auch nicht willkührlich. Sie ist nothwendig, d. h. nicht erzwungen, sondern folgt aus dem Wesen Gottes wie seine Güte, die auch weder Product seines Willens

m. Die Kirchenväter. Athanasius. §. 141. 229

noch eines auf Ihn geübten Zwanges ist. Gerade wie der Sohn, so M'ird im Briefe des Atlmnashis an Serapion auch der h. Geist als Gott und dem Vater wesensgleich gefasst, und darum der Aus- druck Trias adoptirt, mit dem der Unterschied der Personen (tvro- ordoeig) sich ganz gut vereinigen lasse. (In der Schrift gegen Apollinarh heisst irroGTaaig so viel als Natur, und zur Bezeich- nung von Person wird yrgnacoTtov gebraucht.) Nicht eine Creatur also, sondern der ewige Sohn Gottes ist es, welcher in Christo den ■Menschen angezogen, und dadurch eine wirkliche Erkenntniss Got- tes ermöglicht, auch durch Menschwerdung, Tod und Auferstehung den Menschen von dem Todq , dem er durch die Sünde verfallen war, befreit hat. Die Schöpferkraft, die der Sohn Gottes darin zeigt, dass er sich selbst incarnirt, hat er weiter in seinen Wun- dern und endlich in dem Erfolg seines Werkes bewiesen. Wie sich in Christo das Göttliche zum Menschlichen verhält, darüber dog- matische Bestimmungen zu treffen, war noch nicht an der Zeit, und im Gefühl davon will Athanasuis. dass man sich in diesem Punkte ganz an die l)iblischen Ausdrücke halte. Dass dies nicht in seiner eignen Unentschiedenheit seinen Grund hatte, das zeigt sich in der Bestimmtheit, mit der er gegen Jpollhiaris dies ur- girt, dass in Christo der ewge Sohn Gottes nicht die Stelle der vernünftigen Seele vertrete, und eben so wenig mit einem überirdi- schen Leibe verbunden habe, sondern dass der ganze Mensch von ihm angezogen und eben dämm in ihm unvermischt und unge- schieden Gott und Mensch verbunden sey.

§. 141. Mit dem Concil von Nicäa waren die trinitarischen Streitig- keiten nicht zu Ende. Durch das Hineinziehen des Hofes gelingt es bald den ganz entschiedenen Arianern, unter welchen später Eunomins sich auszeichnet, bald den weniger entschiedenen Euse- bianern, den Athnnasivs und die Bischöfe, die es mit ihm hielten, von ihren Gemeinden zu trennen, und zu Antiochia, Philippopolis (Sardica), Sirmium, Bimini, Seleucia immer neue Vermittelungs- formeln zu ersinnen, welchen die Hofgunst ein kurzes Tagesleben verleiht. Mit dem scheinbaren Siege des Arianismus, als selbst der römische Bischof Llherixs sich nachgiebig erweist, beginnt sein definitiver Fall. Wie im Occident an llUarivs. Bischof von Poi- tiers, so erwächst im Orient an dem grossen kappadocischen Bi- schof BasUius dem Alhanasivs ein kräftiger Genosse, aber erst sieben Jahre nach seinem, zwei nach des Btisiiuis Tode, Arird durch die Bemühungen der beiden kappadocischen Gregore, (von Nyssa und Nazianz) und des damaligen Staatsoberhauptes das Nicänum

230 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

aiif der Synode von Constantinopel bestätigt und durch die hinein genommene Homousie des h. Geistes ergänzt. Dass hierbei nicht Alles aufgenommen wurde, was schon Alhanasius dogmatisch be- stimmt hatte, hat diesem letzten Dogma eine Unbestimmtheit ge- lassen, an die sich später Streitigkeiten, endlich die Trennung der römischen und griechischen Kirche schliessen konnte. Dass die letztere dem unbestimmteren biblischen Ausdrucke näher blieb, ist kein Vorzug ihres Dogma's.

§. 142. Sachgemäss schliessen sich an die Bestimmungen über die Of- fenbarung Gottes in Ihm selbst die über Seine Offenbarung nach aussen oder an den Menschen, und da diese ihren Culminations- punkt in Christo hat, über die Person Christi. Die beiden Ex- treme: das Göttliche und Menscliliche in ihm zu confundiren oder zu zerreissen, sieht man schon zur Zeit des Athanasiiis in den Ketzereien des ApoUinaris und Photinus hervortreten. Hinneigung zur ersteren Einseitigkeit zeigt sich auch in der Folgezeit immer besonders bei den aus der Alexandrinischen Schule hervorgehenden Theologen, während ihr diametraler Gegensatz, die Schule von Antiochia, mehr zum Gegentheil neigt. Dass aber Alhanasius und Tlieodor von Mopsuesta sich ganz gleichlautend gegen die Vermi- schung und Zerreissung erklären , ist ein Beweis , dass tiefe Fröm- migkeit und ernster wissenschaftlicher Eifer in beiden Schulen ge- deihen und zu gleichem Ziele führen kann. Als der, aus der An- tiochenischen Schule hervorgegangene Ne stör ins , und mehr noch sein Anhänger Anastasuis in ihrer Polemik gegen den Ausdruck Gottgebärerin zu einer völligen Trennung des Göttlichen und Mensch- lichen fortgegangen waren, trat leider zu ihrer Widerlegung kein Athanasuis auf. Der unreine Eifer des Cyrill von Alexandrien und seines Nachfolgers Dlosluros, der Umstand, dass Entijc//es, wel- cher das entgegengesetzte Extrem zum Nestorlus bildet, sich ihnen anschloss, macht diese Partie der Dogmengeschichte zu einer der traurigsten. Durch Geld, Weiber und Eunuchen wird auf despo- tische Kaiser, durch diese auf eine, grossen theils klägliche Geist- lichkeit, die sich ihren Glauben dictiren lässt, eingewirkt. Nach- dem zu Ephesus Nesiorius verdammt ist, trifft in Constantinopel den Eut]jches dasselbe Schicksal. Beide mit Recht. Dagegen ist die zweite Ephesinische (Räuber-) Synode, auf welcher die Mono- physiten Rache an den Nestorianern nahmen, ein l)losser Partei- sieg. Die Bestimmungen, welche Leo der Grosse in seinem Briefe an Florian ausspricht, und welche auf der Synode zu Chalcedon symbolische Bedeutung bekommen, sind buchstäblich die des Atha-

m. Die Kirchenväter. Anthropologie. Augustin. §. 144 . 1 231

nasiifs und Theodor. Von den Kaisern dictirte vermittelnde Glau- bensbekenntnisse, wie Zeno's Henotikon, Justinunis Edict de tribus capitiilis haben es eher verhindert als beschleunigt, dass die dog- matische Fassimg allgemeine Anerkenntniss fand, welche nicht zwi- schen dem Nestorianismus und Eutychianismus die Mitte, sondern über ihnen die höhere Einheit bildet.

§. 143. Der Oecident, der zuerst an der Dogmenbildung sich nur in so weit betheiligt, dass die Sanction durch den römischen Bischof ein wesentliches Moment dabei ist, und dessen subjectiver Cha- rakter es erklärt, warum seine bedeutendsten Geister, wie Tertnl- liüii und Cyprian, vorzugsweise das kirchliche Leben zu fördern und die kirchliche Ordnung auszubilden bemüht sind, oder wie Hieronynuis das kritische, wie Ambrosbis das lyrische Moment in der Kirche vertreten, kommt endlich auch bei der Feststellung des Dogma's an die Reihe. "Wie es seinem Subjectivismus entspricht dort, wo das Verhältniss des Einzelnen zu der in ihm wirkenden Gottheit, also das der Freiheit zur Gnade formulirt werden soll. Rein theoretisch genommen ist dieses Problem das schwierigste und seine Lösung ist nicht möglich, wo die klare Einsicht in das We- sen der Gottheit und in ihre Vereinigung mit der Menschheit fehlt. AthaiKisins und Theodor von Mopsuesta mussten geleistet haben, worin ihr Verdienst besteht, ehe der auftreten konnte, welcher, indem er die Anthropologie der Kirche formulirt, zugleich ihre Theologie und Christologie zum Abschluss bringt. Augustin ist der grösste und ist der letzte Kirchenvater. Es finden sich in ihm zugleich die Anfänge einer Thätigkeit, die über die der Kirchen- väter hinausgeht und Aufgabe der folgenden Periode ist.

§. 144. Augustin. C. Bindemann der heilige Augustinus. 1. Bd. Berl. 1844. 2. Bd. Lpz. 1855. 3. Bd. fehlt.

1. Aurelius Augustinus y am 13. Xovbr. 353 zu Thagaste in Numidien geboren, erhielt von seiner Mutter Monica eine fromme Erziehung. Dennoch zeigten sich schon frühe sehr böse Neigungen. Von sittlichen Verirrungen, in die er in Carthago gerieth, durch ernstes Studium, namentlich des Cicero, zurückgekommen, verfiel er in religiöse Zweifel, die ihn der manichäischen Secte (s. §. 124) in die Arme warfen. Ihr gehörte er an, da er als Lehrer der Rhe- torik in Thagaste auftrat, ein Beruf, den er später in Carthago fortsetzte. Die Beschäftigung mit der Astrologie machte ihn zuerst an der Physik der Manichäer irre , mehr noch entfremdete er sich

232 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

der Secte, als ihr gefeierter Bischof Fausfus seine Bedenklichkei- ten nicht zu lösen vermochte. Im J. 383 begab er sich nach Kom, wo er allmählich ganz dem Skepticismus der neueren Akademie ver- fiel. Im folgenden Jahre erhielt er die Stelle eines Lehrers der Rhetorik in Mailand, und hier vollendeten die Predigten des Jm- hrosiiis, namentlich seine Erklärungen des, von den Manichäern verworfenen. Alten Testaments, des Antjusüns Trennung von ihnen. Er trat wieder in die Zahl der Katechumenen , aus denen er zu den Ketzern übergetreten war. Das Studium lateinischer Ueber- setzungen Platonischer und Neuplatonischer Schriften wurde das Mittel, ihn zu überzeugen, dass in theoretischer Hinsicht die Lehre der Schrift am Meisten befriedige. Die beseligende Erfahrung ihrer praktischen Gewalt machte er, als sie ihm die Weisung gab Chri- stum anzuziehn. Nachdem er sein Lehramt niedergelegt hatte, lebte er eine Zeitlang theils in theils um Mailand. In diese Zeit fallen seine Schriften contra Academicos, de vita beata, de ordine, soliloquia, de immortalitate animae. Andere wurden angefangen. Ein Jahr lang hielt er sich dann in Rom auf, wo de moribus ec- clesiae, de moribus Manichaeorum, de quantitate animae, das erste Buch de libro arbitrio (II und III erst in Hippo) geschrieben wur- den. Im J. 388 endlich kehrte er nach Africa zurück und führte in Thagaste in der ererbten Wohnung eine Art Klosterleben, das frommen Hebungen, Unterredungen mit Freunden und schriftstel- lerischen Arbeiten gewidmet war. Die Schriften de Genesi contra Manichaeos, de musica, de magistro, de vera religione wurden hier verfasst. Auf einer Reise nach Hippo regius (heute Bona) ward er, gegen seinen Willen, vom Bischof Valcriiis zum Presbyter ge- weiht und ward, aber so dass er sein klösterliches Leben mit gleich- gesinnten Freunden fortsetzte, Prediger an der Hauptkirche. In seinen Predigten hat er alle Punkte des Glaubens, bis in die schärf- sten dogmatischen Bestimmungen hinein, erörtert. Eben so in sei- nen Katechesen, über deren Absicht er sich in der später ge- schriebnen Schrift de catechizandis rudibus ausspricht. Seine schriftstellerische Thätigkeit in dieser Zeit ist theils gegen die Ma- nichäer gerichtet, welchen er Manchen zu entreissen sucht, den er früher selbst ihnen zugeführt hatte (Liber de utilitate credendi ad Honoratum, de duabus animis, contra Adimantum), theils gegen die Donatisten. (So u. A. Liber contra epistolam Donati, Psalmus contra partem Donati.) Ausserdem hat er die Auslegungen der Bergpredigt, einiger Stellen des Römerbriefes, des Galaterbriefes, sein Buch de fide et symbolo, de mendacio geschrieben. Im J. 395 ward er auf den Wunsch des Vulerias zu seinem Mitbischof er-

III. Die Kirchenväter. Augustin. §. 114, 1. 2. 233

nannt, und wenn er selbst in dieser Stelle stets den öiprian als sein Vorbild ansah, so kann er eben so gut auch mit Alhanasins verglichen werden. Unter den Schriften, die er als Bischof schrieb, sind zu bemerken die vier Bücher de doctrina christiana, Confes- siones, die Disputationen gegen die Mauichäer Faustus, Felix und Secund'nuis , die fünfzehn Bücher de trinitate, die vier de con- sensu Evangelistarum, Libri tres contra epistolam Parmeniani Do- natistarum episcopi, de baptismo contra Donatistas libb. \1I, de bono conjugali, de sancta virginitate, de genesi ad literam Libb. XII, gegen die Donatisten Pelilianns und Crescovivs. In diese Zeit fallen auch die Schriften gegen die Pelagianische Ketzerei. Zuerst die drei Bücher de peccatorum meritis et remissione, die den Pelagins nicht direct angreifen, dann aber de fide et operibus und de natura et gratia. Die Schrift de civitate Dei hat ihn drei- zehn Jahre lang beschäftigt, weil er nur mit Unterbrechungen zu ihr zurückkehren konnte. Sie enthält ausser einer Widerlegung der heidnischen Weltbetrachtung eine Darstellung des Verhältnisses der civitas Dei zur civitas nuindi, und ist nicht mit Unrecht bald eine Theodicee bald eiiie Philosophie der Geschichte genannt wor- den. Auch de gratia et originali peccato I^ibb. II, de anima et ejus origene Libb. IV, contra Julianum Pelagianum Libb. VI, de fide, spe et caritate, de gratia et libero arbitrio wurden in dieser Zeit geschrieben. Im Ganzen zählt AvgKsün in der kurz vor sei- nem Tode (am 28. August 430) verfassten Revision seiner Werke (Retractationes) drei und neunzig derselben auf, wo natürlich die Briefe nicht mit gezählt sind. Was von jenen und diesen erhalten ist, das haben die Gesammtausgaben seiner Werke zusammen ge- stellt, unter welchen die bekanntesten sind: die Princeps Basil. 1506. XI fol., ex emend. Ernsmi Basel 1523. Xfol, Antw. 1577. Xlfol., Paris 1679—1700. XI fol, Paris 1835—40. XL 4. In Migne\s Patrologiae cursus completus bilden die Werke des Au- gustin die Bände 32 47 der lateinischen. Von den einzelnen Werken sind besonders oft die Confessionen und die Civitas Dei gedruckt.

2. Um sich vor der Skepsis der Akademie zu retten, sucht Aitgiisiin nach einem unerschütterlichen Ausgangspunkte für alles Wissen und findet diesen in "der Selbstgewissheit, mit der das den- kende Wesen seine eigene Existenz behauptet, die ihm bei allen Zweifeln gewiss bleibt, ja durch sie gewiss wird. Von diesem Aus- gangspunkt, den er besonders im soliloquio, in de libero arbitrio und de vera religione als unerschütterlich behauptet, geht er nun besonders in der zweiten Schrift so weiter, dass er in der Selbstge-

234 Mittelalterliche Philosopliie. Erste Periode (Patristik).

wisslieit die Gewissheit des Seyns, Lebens, Empfindens und vernünf- tigen Erkennens unterscheidet, und ihr also ein vierfaches Seyn zum Inhalt gibt. Wird nun auf die höchste Stufe des Seyns reflectirt, so findet sich, dass unsere Vernunft, wo sie erkennt und urtheilt, gewisse. Allen gemeinschaftliche Grundsätze voraussetzt, kurz dass sie von der einen unwandelbaren Wahrheit beherrscht ist, die sie eben deswegen über sich stellt. Diese unwandelbare Wahrheit, zu- gleich das System aller Vernunftwahrheiten, fällt dem Angusün ganz mit dem göttlichen Logos zusammen und so kommt er, ganz wie später Desraries (s. §. 267, 2) von der zweifelsfreien Selbstge- wissheit zur Gewissheit Gottes, in dem wir Alles erkennen und beiu'theilen (Conf. X, 40. XII, 25). Bei diesem Zusammenfallen- lassen der Erkenntniss mit dem Leben des göttlichen Logos in uns, ist sich Aiigvstin seiner LTebereinstimmung mit den Piatonikern be- woisst, welche er sehr oft als die wahren Philosophen bezeichnet und den Aristotelikern weit vorzieht, und es verschwindet ihm der Gegensatz zwischen Offenbarung und Vernunft, Glauben und Wis- sen. Von dem ersteren auszugehn, um zu dem letztern sich zu erheben, das ist eiiigeständiger Maassen sein Weg. Ueberall ist der Glaube der Anfang und in sofern geht er und geht die Autorität der Vernunft vor. Dies gilt aber nur im Sinne der Zeitfolge, der Würde nach steht die Vernunft und die Einsicht höher; sie ist aber nicht für die Schwachen und wird auch von den Begabtesten hienieden nie ganz erreicht, (de util. cred. c. 9, 21. 16, 31. de ord. II, 9, 2(S. de trinit. IX, 1.) Göttliche Gnade und die eigne, im Willen liegende, Zustimmung werden oft als die wesentlichen Momente des Glaubens angeführt (de praedest. sanct. c. 2). Zur ersteren gehört auch das Verleihen der irrthumslosen Schrift. Da der Name Philosoph den Weisheitsfreund bezeichnet, Gott aber die Weisheit ist, so ist der Philosoph der Liebhaber Gottes. Nicht alle, sondern nur die Philosophie dieser Welt gebietet die h. Schrift zu fliehn (Civit. Dei VIII, 1. 10). Gott als das eigentliche Object alles Wissens und aller Philosophie kann venuöge der gewöhnlichen Kategorien nicht erfasst werden, er ist gross ohne Quantität, gut ohne Qualität, ohne Kaum gegenwärtig, ohne Zeit ewig u. s. w. (Conf. IV, 16, 28. 29. j Ja er ist nicht einmal Substanz zu nennen, weil ihm keine Accidenzien zukommen, und wird vielleicht besser essentiü genannt, weil Nichts ausser ihm diesen Namen verdient (de trinit. VI, 5). Indem sein Seyn über alle Bestimmtheit hinaus- geht, wird sein Wesen richtiger durch Verneinungen beschrieben als auf affirmativem Wege (Ep. 120, 3, 13). Mit der Bestimmt- heit ist auch alle Mannigfaltigkeit aus Gott ausgeschlossen, er ist

III. Die Kirchenväter. Augustiu. §. 144, 3.4- 235

der absolut einfache und es darf nicht einmal ein Unterschied der Eigenschaften in ihm statuirt werden: Seyn, Wissen, Wollen sind in ihm Eins. Ist aber Nichts in ihm zu unterscheiden , so ist er natürlich der Verborgene, Unerkennbare.

3. Das Weitere aber ist, dass Angustin bei diesem verborge- nen Gott nicht stehen bleibt, sondern dazu übergeht, ihn zu fas- sen, wie er sich offenbart. Dies geschieht in der Trinitätslehre, welche Aitgiistin vom letzten Rest des Subordinationsverhältnisses befreit, indem er nicht nur den Sohn oder den Logos, in dem das ewige Seyn sich selber offenbar wird, als ewig fasst, sondern eben so auch den heiligen Geist , diese Gemeinschaft des Vaters und Sohnes, in dem sie beide sich liebend begegnen, und der eben des- wegen von beiden ausgeht. Die göttliche Substanz existirt niu- in den drei Personen, existirt aber in jeder ganz , und Angustin wie- derholt, oft auf Kosten des Unterschieds der Personen, dass in jedem göttlichen Werk sie alle drei zusammenwirken. Dabei aber, die Lehre von der Drei -Einheit Gottes auf Autorität der Schrift und der früheren Kirchenväter anzunehmen, bleibt Avgvsi'm nicht stehn, sondern er verbindet damit, was später die einzige Aufgabe der Philosophen wird, das Bestreben diese Lehre begreiflich zu machen. Für veniunftgemäss musste er sie um so mehr halten, als er den Besitz derselben den Neuplatojiikern , die keine Offen- barung hatten, zugesteht. Namentlich dem Porpltyrhis , bei wel- chem der Fehler des Platin verbessert sey, indem das postponere des dritten Momentes dem interponcre Platz gemacht habe. Dass bei dem Verständlichmachen dieses Dogma's Analogien gebraucht werden, dass auf die Trinität des allgemeinen, besonderen und be- zogenen Seyns in allen Dingen (de vera relig. VII, 13), besonders aber auf das esse, nosse und relle, oder auf die memoria, intelli- gentui und rotniitus des Menschen (de triuit. X, 8 9), als auf« ein Zeugniss für die göttliche Dreieinigkeit hingewiesen wird, dies ist eine nothwendige Folge davon , dass Angustin in der Welt eine Selbstotfenbarung, namentlich im Menschen aber das Ebenbild Got- tes sieht (Civit. Dei XI, 24).

4. Die Gottheit bleibt nämlich nicht dabei stehn, ewig sich selber offenbar zu seyn, sondern geht dazu über, auch ad extra sich zu offenbaren. Dies geschieht in der Schöpfung, welche Au- gustin so mit der ewigen Zeugung verbindet, dass seine liOgoslehre das Mittelglied zwischen Theologie und Kosmologie wird. Dadurch gelingt es ihm, die beiden Klippen zu vermeiden, an denen die Schöpfungstheorien zu scheitern pflegen: Einmal den Dualismus, der ihm nach seinen persönlichen Erfahrungen besonders gefiihrlich

236 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

erscheinen musste. Im Gegensatz zu der Behauptung eines gegen Gott selbstständigen Stoffes urgirt er, dass die Welt aus Nichts geschaffen, dass sie ahgesehn von dem göttlichen Willen gar Nichts sey. In wörtlicher Uebereinstimmung mit dem Alten Testamente behauptet er, dass, wenn Gott seine schaffende Macht zurückzöge, die Welt sogleich verschwände (Civit. D. XII, 25), so dass also der Begriff der Erhaltung von dem der Erschaffung absorbirt wird. Mit Nachdruck unterscheidet er den Sohn, der ile Dco rjcnitus, von dem invndus de nildlo /'actus, er leugnet also alles Gezeugtseyn der Welt, das heisst, da genitnra = natura, er leugnet, wie der Jude, dass die Welt mehr als Machwerk Gottes, dass sie Natur sey. Mit dieser Auffassung hängt auch sein späterer Widerwille gegen die, früher von ihm selbst gehegte, Annahme einer Welt- seele zusammen, die der Welt zu viel Selbstständigkeit gäbe. Bei der behaupteten völligen Nichtigkeit aller Dinge lag die Gefahr des Pantheismus nahe, der zweitens bei einer Schöpfungstheorie zu vermeiden ist. Diesem zu entgehn, zeigt sich Atigustin nicht so beflissen, so dass er ihm näher bleibt als dem entgegengesetz- ten Extrem. Bei allem Unterschiede zwischen dem ewig gezeug- ten Sohne, ohne welchen Gott nicht wäre, und der, zwar nicht in aber mit der Zeit geschaffenen Welt, findet doch diese Verwandt- schaft zwischen beiden Statt, dass der Logos, als der Complex sämmtlicher Ideen, den der neidlose Gott in der Welt verwirk- lichte, das Urbild der Welt, sie ein Abbild der göttlichen Weisheit ist, nur dass jener ausserdem dass er die Welt -Idee auch die Idee Gottes, der alius Dei, während die Welt das aliud Dei ist (Civit. D. XI, 10. XII, 25. de genes, ad lit. IV, 16 u. a. a. O.). Die Beantwortung der drei Fragen: <jnis, per quid und propier fpdd fccer it? gibt an, wie die ganze Dreieinigkeit bei der Weltschöp- fung thätig ist. Wenn gleich sich Aufjustin dagegen verwahrt, dass das Herausgesetztwerden der Dinge aus Gott ein nothwendi- ges sey, oder dass Gott desselben bedürfe, so kann doch andrer- seits nicht geleugnet werden, dass er den Dingen ein, nicht nur scheinbares, sondern wahrhaftes Daseyn mehr zuschreibt, als der Pantheismus gestattet.

5. Dass aber Augustin dem letzteren viel näher stehn bleibt, als dessen Antagonisten, dem Dualismus, das zeigt sich besonders in seiner Lehre vom Menschen. Dieser ist der Mittelpunkt der Schöpfung, weil er, was die Engel allein sind, mit der sichtbaren aus Elementen zusammengesetzten Leiblichkeit verbindet. Der Geist oder die Seele des Menschen ist eine, vom Leibe unterschiedene (de aiiim. et ej. orig. II, 2, 2), wenigstens relativ einfache (de

ni. Die Kirchenväter. Augustin. §. 144, 5. 237

trinit. VI, 6, 8), darum unsterbliche (soliloq. de immort. an.) Sub- stanz, die mit dem Leibe so verbunden ist, dass sie ül)erall ganz präsent ist, obgleich bestimmte Organe bestimmten Functionen, so das vordere Gehirn der Empfindung, das hintere der Bewegung u. s. \v. dienen (de genes, ad lit. VII, 13). Ausserdem erscheint aber der Geist auch unabhängig von dem Leibe , so dass in ihm sieben verschiedene Stufen unterschieden werden können, deren drei unterste, aiüma de corpore, in corpore, circa corpus, schon Ari- stoteles richtig unterschieden habe, zu denen aber noch anima ad se, in se, ad Deum, in Deo hinzu kommen (de immort. an. de quantit. an.). Den eigentlichen Kern und Mittelpunkt der geistigen Persönlichkeit bildet der Wille des Menschen, der Mensch ist ei- gentlich nichts Andres als Wille (Civit. D. XIV, 6). Da der Mensch, wie alle Dinge, Product des Se3'ns und Nichtseyns ist, so kann der Wille entweder jenes, d. h. den göttlichen W'illen, in sich wal- ten lassen und dann ist er w' ahrer oder freier Wille , oder aber er kann sich von dem Seyn abwenden, dann ist er nichtiger (Eigen-) Wille und ist unfrei. Versteht man mit Aiigustin unter Freiheit das Erfülltseyn mit dem göttlichen Willen, die bona honi necessi- tas, so ist es nicht unmöglich, ja nicht einmal schwer, die Freiheit des Menschen mit der göttlichen Allmacht und Allwissenheit zu vereinigen. Dieser Begriff der Freiheit ist es nun, welcher den Streit mit Pehiyius zu einem unversöhnlichen machen musste, auch wenn das sich Hineinmischen eines Juristen (Coelestius) ihn nicht verbittert hätte. Dem in mönchischer Entsagung Erzogenen war der grelle Gegensatz von einem Leben ganz ausser der Gnade und der Kirche und einem in beiden , mehr fremd geblieben , die Ge- fahr aber stolzer W^erkheiligkeit viel näher gerückt, als dem An- ynstin ; dem Gliede ferner der Britannischen Kirche, die sich orien- talischen, namentlich antiochenischen, Einflüssen stets offen erhielt, musste der formelle FreiheitsbegriÖ' eines Theodor und Clrysosto- 7nus der geläufige seyn. Diese formelle Freiheit, das aefpiUibrium arhitrii, in dem jeder Mensch sich eben so gut für das Gute, wie für das Böse entscheiden kann, ist dem Augustin ein unchristlicher Wahn. Unchristlich, denn könnte Jeder das Gute erwählen, wozu dann ein Erlöser? Ein Wahn, denn in der Wirklichkeit sind die Handlungen des Menschen unausbleibliche Früchte eines guten oder schlechten Baumes. Der natürliche Mensch, d. h. der von sich aus oder das Seine will, ist böse, ist Sklave. Nur die göttliche Gnade, theils als vorhergehende, theils als wirkende, theils als unterstü- tzende, theils endlich als die Ausdauer {donum perseveraniiae) verleihende, welche alle frühereu Wirkungen besiegelt, macht den

238 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

Menschen frei. Welcher es wird, hängt darum lediglich von Gott ab. Er prädestinirt dazu wen Er will. Die Uebrigen haben sich nicht zu beklagen, wenn Er sie in dem Zustande lässt, in dem sie sich befinden. Nur Gottes beständiges Wirken befähigt den Men- schen Gutes zu thun; eigentlich nicht zu thun, denn der Mensch ist dabei ganz passiv, die Gnade ist unwiderstehlich (de corr. et grat.). Gott gibt sie nicht, weil wir sie wollen, sondern wir wol- len sie, weil Er sie gibt (Ep. 177, 5). Alles dies sind nothwen- dige Folgerungen daraus, dass die Erhaltung eine fortwährende Erschaffung aus Nichts ist. In einer völlig unselbstständigen Welt kann kein Theil derselben Selbstthätigkeit zeigen. Gemildert er- scheinen übrigens diese Behauptungen, wenn AiigusCm sagt: (fiii te creavit sine te noii te jiisti/icabit sine le , und in anderen ähnli- chen Aussprüchen, zu denen seine praktische, allem Quietismus abholde , Natur ihn brachte. Ob ein Mensch zu den Auserwählten gehört, kann aus einzelnen guten Werken nicht ersehen werden, der beste Beweis dafür ist das domim persererantUie (de corr. et grat. 12—13).

6. Die Unfähigkeit zum Guten und also das Verworfenseyn aller derer, die Gott nicht von der Sünde frei macht, ist ein Fac- tum. Es ist aber dies nicht das ursprüngliche von Gott gesetzte Verhältniss. Vielmehr war der Mensch , der zunächst , damit alle Menschen Blutsverwandte seyen, als Ein Mensch existirte (civit. D. XII, 21), ursprünglich in einem Zustande, in welchem er auch nicht -sündigen konnte. Bestimmt, dahin zu gelangen, wo er gar nicht mehr sündigen kann, vom posse non peccare zum non posse peccare, sollte er in Gehorsam gegen Gott das posse peccare und damit auch die Sterblichkeit in sich tilgen (de corr. et grat. 12, 13. de pecc. mer. I, 2, 2). Dies aber geschah nicht. Vielmehr erkaltete die Gottesliebe in dem Menschen, und den schon Gefal- lenen brachte die Versuchung des, vor ihm gefallenen, Teufels zum vollständigen Abfall, dessen Strafe, die Unfähigkeit zum Guten, sich auf alle Menschen fortpflanzte , die im Keimzustande in Adam existirt, und also gesündigt hatten (civit. D. XIV, 11. de corr. et grat. 12, 37. 6, 9). Dass Auffiistin sich nur zaghaft für den Traducianismus (Generationismus) der Seele ausspricht, der zu sei- ner Theorie von der Erbsünde so gut passt (vgl. Ep. 190. ad Opt. 4, 14. 15), und oft zwischen ihm und dem Creatianismus oder auch der Präexistenzlehre schwankt (vgl. u. A. Retract. 1,1), hat sei- nen Grund vielleicht darin, dass des TertuUian Beispiel zu zeigen schien, dass der Traducianismus die Körperlichkeit der Seele be- haupten müsse. Die Nachkommen des gefallenen Menschen, in der

ni. Die Kirchenväter. Augustin. §. 144 , 6. T. 239

Begierlichkeit erzeugt und so gleichsam vergiftet, sind zum Guten unfähig. Schwieriger als dies ist einzusehn, wie der nicht sündig geborene ursprüngliche Mensch von Gott abfallen konnte. In dem- selben Maasse nämlich, als Angustm dem Menschen alle Selbstthä- tigkeit abspricht, muss die Entstehung des Bösen, d. h. der Selbst- sucht, unmöglich erscheinen, wie dies von jeher der cousequente Pantheismus erfahren hat. Augustin, der nicht so weit geht, wie dieser, streift doch oft daran, das Böse zu leugnen. So weim er Neigung zeigt, das Böse als Alnvesenheit, nicht als Gegensatz des Guten zu fassen (civit. D. XI, 9), oder wenn er sagt, dass das Böse nur an dem Guten vorkomme (de lib. arb. III, 13), dass es nichts Positives sey und darum keiner causa ej'ficiens bedürfe, nur eine causa deficiens habe, ein iucausule sey, dass das Böse kein Thun, sondern ein Unterlassen sey, dass man das Böse aus dem- selben Grunde nicht erkenne, aus dem man die Finsterniss nicht sehe u. s. w. (Civ. Dei XII, 7. 9 u. a. a. 0.). Die ungeheure Gewalt der Sünde drängt ihm zwar oft das (autipantheistische) Gestäudniss ab, dass das Böse eine positive, Gott sich entgegen- stellende, Macht sey, aber die Furcht, ein Seyn ausser Gott an- zunehmen, lässt ihn immer 'vsieder dazu zurückkommen, das Böse als blossen Schatten im Gemälde der Welt, als des Contrastes halber Nothwendiges zu fassen, d.h. eigentlich seine Realität zu leugnen. Die Schwierigkeiten, in welche die Augustinische Lehre von der absoluten Selbstlosigkeit der Creatur verwickelte, förderten das Ge- deihen des Seraipelagianismus. Zwar in der Form, in welcher der- selbe bei Cassianus auftrat, ward er verdammt, gleichzeitig aber wurden auch die Prädestinatianer (wahrscheinlich reine Augusti- nianer) für Ketzer erklärt. Der kirchliche Augustinismus in der Schrift, wahrscheinlich Leo's des Grossen, de vocatione gentium ist schon gemildert. Später ward es sogar kirchliche Regel: Au- gustinus eget Thoma iiiterpretc.

7. Das Mittel, wodurch der Mensch der Gnade theilhaft wird, der Glaube, ist bei August'ui nicht ein selbstthätiges Aneignen, sondern eine reine Gnadengabe, eine übernatürliche Erleuchtung (de pecc. merit. I, 9. de praedest. sanctt. 11, 12), in welcher der Mensch seines Begnadigtseyns gewiss wird. Eben darum bildet den eigentlichen Inhalt des Glaubens die Lehre von dem Mensch gewordenen Sohn Gottes, von welcher die heidnischen Philosophen nicht, wie von der Trinität wohl, eine Ahndung hatten. Da nun bloss jenes Handeln einen Werth hat, das eine Bethätigung des Glaubens ist, so folgt, dass auch die gepriesensten Tugenden der Heiden werthlos, ja Laster, sind (Civit. D. XIX, 25). Erst bei

240 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

den Christen wird durch die wahre Grundlage die Tapferkeit zur Martyrfreudigkeit, die Massigkeit zur Ertödtung der Triebe u. s. w. Der Menschgewordene ist aber nicht nur für den Einzelnen der Befreier von Sünde und Schuld, sondern für die Menschheit als Ganzes ist er das eigentliche Centrum, das eben deswegen im Mit- telpunkt ihrer Geschichte erscheint, ein Ziel derer, die vor ihm, ein Ausgangspunkt für die, die nach ihm leben (de vera relig. 16. de grat. et lib. arb. 3, 5). Durch die ganze Geschichte der Mensch- heit, welche sich, entsprechend den sechs Schöpfungstagen, in sechs Perioden theilt, in deren letzter wir leben, geht der Gegensatz der Begnadigten, welche den Gottesstaat, die clrllns Del, und derer, die sich selbst verdammten, und so den Staat der Welt oder des Teufels bilden; jene sind Gefässe der Barmherzigkeit, diese des Zorns (Civ. D. XV, 1 ff.) , bei jenen herrscht die Gottesliebe , bei diesen die Selbstliebe (ibid. XIV, 28). Kain und Abel (nach des- sen Tode Seth) zeigen schon diesen Gegensatz, welcher zuletzt in der sittlichen Verkommenheit des römischen Staats und der ihr entgegentretenden Christengemeinde seinen Brennpunkt zeigt (ibid. XVIII, 2). Das Weltgericht und nach ihm die von den Auferstan- denen bewohnte neue Erde ist das Ziel der Geschichte. Die Ver- dammniss, leiblich und geistig zugleich, ist, wie die Seligkeit der Auserwählten, ewig (ibid. XXI, 9. 10. 23. 28. XIX, 28). Die letz- tere besteht in der vollständigen Erkenntniss Gottes und seiner Weltregierung, und eben deswegen wird weder die Erinnerung an das eigene Leiden, noch die Strafe der Verworfenen den betrüben, der Alles mit den Augen der Wissenschaft schauen wird (ibid. XXII, 29. 30).

§. 145. Mit dem Siege des (gemilderten) Augustinismus schliesst die Dogmen bildende Thätigkeit der Gemeinde ab. Weitere Dogmen festzustellen war nicht nöthig, denn was unveränderliche Lehre seyn soll, das ist gefunden, auch war es weiterhin nicht mehr möglich, denn mit dem Zurücktreten der republikanischen Kirchen- verfassung fiel auch die Sicherheit weg, dass nur das Dogma, und nicht zugleich die Art, me sich ein Subject dasselbe begründete, zu kanonischem Ansehn kommen werde. Wo später, zu einer Zeit, deren Aufgabe nicht ist Dogmen zu machen, sondern denselben eine bestimmte Form zu geben, päpstliche Autorität Dogmen fest- zustellen versucht hat (z. B. Transsubstanziation, conccpüo imma- culata virgiiüs), sind es Theologumena gewesen, die man zu Dog- men stempeln wollte. Man vergass dabei, dass bei den Dogmen das xrjQvyfia, die ursprüngliche Offenbarung, bei Theologumeneu

III. Die Kiicheuväter. Sammler und Commentatoren. §. 146. 241

dagegen das daraus gemachte Dogma den Stoff für die philoso- phische Reflexion darbietet, und dass sich eben deswegen Dogma und Theologumenon wie Lehre und BegTündung, wie Urtheil und Urtheilsgründe, verhalten, ^yas der Kii'che nach zu Stande ge- brachtem Dogma zunächst obliegt, ist, sich in den Lehrbegriff einzuleben und an die Verfassung zu gewöhnen, die sie sich, und durch welche sie sich selbst , gebildet hat. Sie muss , gerade wie früher die Gemeinde ehe sie zur Kirche ward, in sich erstarken, um eine Wirksamkeit nach aussen beginnen zu können. In wem piiilosophischer Geist lebt, d. h. wer seine Zeit versteht, wird da- rum nicht sowol auf die Lösung neuer Aufgaben ausgehn, als darauf, das bisher in der Philosophie Erörterte zu erhalten und zu befestigen. Dies geschieht indem durch Sammlungen, Com- mentare und Uebersetzungen die Ergebnisse der bisherigen Spe- culation immer grösseren Kreisen zugänghch , und immer mehr zu allgemein anerkannten Wahrheiten werden.

§• 14ß. Verglichen mit der dogmenbildenden Thätigkeit ist die zu- sammenstellende und commentirende eine formelle, daher das An- sehn gerade der Schriften des Alterthums, die die Regeln für die Form der Wissenschaft feststellen, und gerade des Philosophen, welcher der Alles umfassende Polyhistor gewesen war. P/ato fängt an gegen den Aristoteles ^ namenthch gegen den Logiker Aristo- teles, zurückzustehn , und wo der Piatonismus die höchste Auto- rität bleibt, da ist er es in der Form, die er durch Proldos er- halten hatte, bei dem (s. §. 127 und 130) das Aristotelische Ele- ment so hervortrat. In der morgenländischen Kirche mächen sich bemerklich: Nemesiiis (de natura hominis, u. A. in der Bibl. vet. patr. Paris 1624 Vol. II erschienen), dessen Argumentationen Ari- stotelische und bibhsche Aussprüche seltsam mischen, Aeneas von Gaza (dessen im J. 457 verfasstes Gespräch Theophrastus den Nemesiiis öfter mit Platonischen, eben so aber auch die Neupia- toniker mit bibhschen Gründen bestreitet), Zacharias Scholasticus, der als Bischof von Mitylene auf dem Concil zu Constantinopel 536 thätig war, und dessen Dialog Ammonius besonders die Ewig- keit der Welt bekämpft. Dies Letztere thut auch, obgleich er viel mehr Aristotehker ist als" die bisher Genannten, der Alexan- driner Johannes (Pldloponos wie die Mitwelt, Grammaticus wie er selbst sich zubenannte), dessen im 6'"" Jahrhundert geschrie- bene Commentare zu Aristotelischen Schriften erhalten und öfter, namenthch in Venedig, gedruckt sind. Sein etwas jüngerer Zeit- genosse Simplicius commentirt den Aristoteles mehr im Sinne der

Erdraami, Gesch. d. riiil. I. Ig

242 Mittelalterliche Philosophie. Erste Periode (Patristik).

Neuplatoniker, und ist, so weit seine Schriften erhalten sind, für die Geschichte der Philosophie von grossem Werth. Nicht, wie Einige gemeint haben , Synesiiis, der jüngere Zeitgenosse des Jii- gvsün, sondern ein in der Schule des Proldos gebildeter Christ ist der Verfasser der Schriften, die unter dem Namen des Din- nyslvs Areopogita bekannt sind. (Oft gedruckt; in Mkpic\s Pa- trolog. curs. compl. 2 Bde. Vgl. Eiiycllmnlt Die angeblichen Schrif- ten des Areopagiten Dionysius. 2 Bde. Sulzb. 1823.) Die davon erhaltenen (über mystische Theologie, über Gottesnamen, über die himmlische Hierarchie , über die kirchliche Hierarchie , Briefe) ver- suchen mit Hülfe der Proklusschen Triaden das Esoterische der christlichen Lehre zu construiren, als deren Ziel die völlige Ver- einigung mit Gott dargestellt wird. Wie grossentheils die Mystik, so zeigt sie auch hier pantheistische Anklänge. Gott wird näm- lich als das alleinige Seyn gefasst, dem eben darum alle Bestim- mungen als Beschränkungen abgesprochen werden. Im Gegensatz zu ihm ist das Böse blosse Schranke, Mangel, und es kommt ihm gar kein Scyn zu. Ganz besonders ist berühmt geworden die Glie- derung der Engelwelt in drei Triaden, oder die himmlischen Hie- rarchien, Seraplibn Cheruhnn Tf/voni, dann Dominafiones Viriii- tes Polest al PS, endlich Principaliis Archimyeli Augcli steht hin- fort als die abwärts gehende Stufenfolge unwandelbar fest; nur den Priuvipaliis wird von Einigen , z. B. Gregor ins dem Grossen, die Stelle vor den PofcsUtfihns angewiesen, so dass dann anstatt ihrer die Virtutes an der Spitze der dritten Ordnung (Hierarchie) stehen. Das alte Testament hat die Seraphim und Cherubim, der Colosser- und Epheserbrief die fünf folgenden Stufen gegeben, wozu dann endlich die häufig erwähnten Erzengel und Engel kom- men. Dabei will aber Dtovy suis durchaus nicht, dass diese Ptang- ordnung durch die successive Emanation einer Classe aus der an- deren erklärt werde, sondern jede derselben ist unmittelbar aus Gott hervorgegangen oder vielmehr von ihm geschaffen. Der Schö- pfungsbegrift' wird nämlich mit der grössten Entschiedenheit fest- gehalten , woher auch Dionysius in der Folgezeit immer als Auto- rität gegen die Neuplatoniker angeführt- wird. Als eifriger Vereh- rer schliesst sich an den Areopagiten der Abt Maximus (580 662), mit dem verdienten Ehrennamen Confcssor geziert, der in seinen Werken (ed. Comhefisins H Vol. Paris 1675 , wozu ergänzend : Gehler Anecdota graeca Tom. I Hai. 1857) das letzte aber glän- zende Aufflackern des speculativen Geistes in der griechischen Kirche zeigt. Dass Gott sich durch die beiden Bücher der Natur und Schrift offenbart, dass Er nur durch negative Prädicate zu

III. Die Kirchenväter. Sammler und Commentatoreu. §. 146. 147. 243

beschreiben ist, dass der Logos die primitiveii Ursaclieu aller Dinge in sich befasst, dass alles wahre Seyn gut und darum das Böse weder ein Seyn noch ein Object des göttlichen Wissens und Wollens sey, dass die Incarnation auch ohne den Sündenfall des Menschen Statt gefunden hätte, weil sie nur der Gipfelpunkt der vorhergehenden Offenbarung ist, dass Sinn, Verstand (ratio) und Vernunft (intdlccLns) die drei Stufen der Erkenntuiss bilden, dass das allendliche Ziel der allgemeine Sabbath , an dem Alles in Gott eingehen werde u. s. w. das sind Behauptungen des Maximus, die in der Folgezeit eine wichtige Piolle spielen. Das grosse Ansehn, welches Johannes von Damascus, der in der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts starb, in der Orientalischen Kirche noch heute geniesst, dankt er nicht seiner Tiefe und Originalität, Vielmehr zeigen seine Werke (ed. Letjinen 2 Voll. Paris 1712) einen blossen, oft geistlosen Sammlerfleiss, mit dem er zusammenstellt, wie die Philosophen definirt, wie die Peripatetiker eingetheilt, welche Kategorien die Väter angewandt haben, welche Häresien aufgetreten sind, endlich welche Lehren für orthodox galten. Er wollte aber auch nichts Eignes geben, und es bedurfte auch in jener Zeit keiner neuen Erzeugnisse des pliilosophirenden Geistes. Ein Piepertorium der Lelnren der Väter war Bedürfniss und ihm hat der Damascener abgeholfen, indem er aus der patristischen Thätigkeit die abschliessende Summe zog. Wie er selbst schon, so haben die nachfolgenden griechischen Theologen sich viel mit Polemik gegen die Muselmänner beschäftigt. Polemisches und Apo- logetisches ist das Einzige, was die griechische Kirche noch her- vorbringt.

§. 147. Auch in der Abendländischen Kirche hört in dieser Zeit die schöpferische Thätigkeit des philosophirenden Geistes auf. Des C/audianiis Eccidius Manier Ins , eines Presbyters zu Vienne in Gallien, Schrift de statu animae (ed. Mosellanas Basil. 1520, ed. harth. Cygn. 1655), in welcher er die Lehre von der Körperhch- keit der Seele mit Anwendung der Aristotehschen Kategorien be- streitet, ist ohne Bedeutung und Einfluss. Den letzteren hat in sehr hohem Grade gehabt Marcianns Mineiis Felix Capeila, des- sen im J. 460 gescliriebencs Satyricon (Pr. Vicent. 1499 dann oft herausg.) in neun Büchern einen kurzen Abriss aller damals bekannten Wissenschaften enthält. Bald nach ihm lebt Aniciiis Man Uns (Turquaius?) Sererus Boelhias 478—525, dessen bedeu- tender Einfluss auf die spätere Philosophie sich nicht sowol auf seine im eklektischen Geiste geschriebene Originalschrift (de con-

16*

244 Mittelalterliche Philossophie. Erste Periode (Patristik). Schlussbem. §. 148.

solatione philosophiae libri V), als vielmehr auf seine Uebersetzun- gen aller, und seine Commentare zu einigen, analytischen Schriften des Aristoteles j so wie zu der des Porphyr ins gründet, wodurch er u. A. der Schöpfer der späteren , zum Theil noch der heutigen, Terminologie geworden ist. Die im Mittelalter hoch geachtete Schrift de trinitate gehört ihm nicht an. Eben so wenig die, wel- che, da sie sieben ausgewählte schwierige Fragen betrifft, de he- bdomadibus genannt worden ist, so wie die Schriften de fide chri- stiana und de duabus naturis in Christo. Es ist sogar bezweifelt worden, ob er Christ war; dass er kein sehr eifriger war, geben selbst die zu, die ihn für einen halten. (Vgl. F. Nitzsch Das Sy- stem des Boethius. Berlin 1860.) Seine sämmtlichen Werke sind ■zuerst 1492 in Venedig, dann in Basel 1546 und später sehr oft, auch in Migne's Patrologie, erschienen. Wie Mnrciamis Ca- pe/la, so hat auch Mngnus Aiirclius Oissiodorns (469 508) eine encyclopädische Uebersicht der Wissenschaften gegeben. Seit ihm stand es fest, dass der systematische Unterricht zuerst die drei artes (Grummatlca , DUilecticd , lihetorica , zusammen auch Lo- gica , auch wohl sclentiae sermocinales genannt), dann die vier disciplinne (Arithmelicu , Geomctria , Mnsica , Astronom'ui , zu- sammen iV/fl^Z/ew^^Z/rrt, auch wohl scientiae reales , später Physica genannt) befassen oder sich als irlvlinn und qaaclrirunn gestalten müsse. Endlich ist zu erwähnen Isklorns, Bischof von Sevilla, gest. 636 (Opp. ed. de la Eigne Paris 1580. Fol., dann öfter, u. A. in jMigne's Patrologie), dessen ein und zwanzig Bücher Origi- nes oder Etymologiae für lange Zeit das Repertorium waren, aus welchem die gelehrten Notizen geschöpft wurden, ganz wie seine drei Bücher Sentenzen für Viele die einzige Quelle ihrer Kennt- niss der Kirchenväter, seine Schriften de ordine creaturarum und de natura rerum Hauptquelle für die Naturerkenntniss wurden.

§• 148. Mit der Philosophie der Kirchenväter schliesst die erste Pe- riode der mittelalterlichen Philosophie ab, die, weil in jener die gnostische und die neuplatouische Philosophie als Momente ent- halten sind, a potior i als die patr istische oder als die Pe- riode der Patristik bezeichnet werden kann. Zwar nicht die drei betrachteten Richtungen, wohl aber ihr Verhältniss unter einander kann verglichen werden mit dem, was die erste Periode der griechischen Philosophie (§. 18 48) gezeigt hatte. Wenn Origenes mit den Waffen, die er bei Ammonius führen lernte, die Gnostiker, und Athaimsius mit Gründen, die er dem Origenes entnahm, die Arianer bekämpft, wenn August in durch Plotin und

Zweite Periode (Scholastik). Einleitung. §. 149. 150. 245

Porpliyriiis vom Manichäismus befreit wird, und der Areopagite mit, dem Proklos abgelernten, Formeln nachzuweisen versucht, dass die christliche Lehre die wahre Weisheit enthalte , und wenn doch auf der anderen Seite die bedeutendsten Neuplatoniker , in- dem sie gar keinen Unterschied zwischen den Gnostikern und den Kirchenvätern machen, auch an den Letzteren den Welthass und die Weltverachtung , den Mangel an Schönheitssinn und dgl. mehr tadeln, so ist dies einzig so zu erklären, dass die Kirchenväter so über beiden stehn, wie Empedoklcs über den Eleaten und Phy- siologen gestanden hatte.

Der mittelalteriicheii Philosophie zweite Periode.

(Di-e Scholastik.)

C. E. Buläus Histoiia uuiversitatis Parisiensis etc. Paris 1665. VI Voll. Fol. Haure.au De la Philosophie scolastique. Paris 1850. I>css. Siugularite's historiques et literaires. Paris 1861.

§. 149.

Erst nachdem sie selbst weltliche Existenz gewonnen hat, oder zur Kirche geworden ist, kann die Gemeinde darauf aus gehn, die Welt zu besiegen. Da sie aber jene Veränderung, wenigstens mit, der Weltmacht dankt, so hindert dieses töchterliche Verhält- niss zum Staat den rücksichtslosen Kampf, ohne den kein Sieg möglich ist. In der griechischen Kirche bleil)t es bei diesem Ver- hältniss, und hört die Cäsaropapie nie ganz auf. Dagegen tritt die römische Kirche schon den erobernden Heiden gegenüber, noch mehr aber da , wo sie ihre Sendboten zu den heidnischen Völkern aussendet , als Geberinn nicht nur des Glaubens , sondern auch der staathchen Ordnung und Gesittung auf, und kommt so vielmehr in ein mütterliches Verhältniss zur weltlichen Macht. Wo dieses anerkannt wird , gehn Kirche und Staat ganz einen Weg und findet gegenseitige Anerkennung Statt; wo nicht, da tritt mit Recht die Kirche solcher Impietät entgegen. Im Gegensatz zur orientali- schen Staatskirche entwickelt sich im Occident der Kirchenstaat. Extensiv durch Missionen, denen meistens das Schwert des Er- oberers die Bahn bricht, intensiv durch energische Päpste, die Macht der Kirche auszubreiten und zu mehren, oder Alles unter geistliche Herrschaft zu bringen, das wird jetzt die Losung.

§. 150.

Die Aufgabe der Missionare der römischen Kirche ist eine ganz andere als die der Apostel gewesen war. Nicht die frohe

246 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

Botschaft von dem Heil, das erschienen ist, sondern den Lehrbe- griff der römischen Kirche haben sie dem Geiste der, namentlich der germanischen, Völker zugänglich, ihre Verfassung denselben zur Gewohnheit zu machen. Dazu bedarf es nicht nur des apo- stolischen Eifers , sondern einer gründlichen Einsicht in das ganze System der Dogmen, und wieder einer grossen dialektischen Fer- tigkeit, um Lehren, die mit Hülfe einer Philosophie erzeugt wa- ren, in der sich vereinigt hatte was der klassische und orienta- lische Geist auf dem Höhenpunkte ihrer Bildung gemeinschaftlich hervorgebracht hatten, um diese dem natürlichen imverkünstelten Verstände roher Völker annehmbar zu machen. Es entstehen da- her Missionsschulen, deren Zöglinge, wenn sie von einer zur an- dern wandern, sehr oft als Lehrer und Schüler zugleich wirken, und frühe den Namen Scholaslici bekommen.

§. 15L Wie dem Drange der Gemeinde, Kirche zu werden, die pa- tristische Philosophie , so entspricht dem Verlangen der Kirche, ihren Dogmen bei dem natürlichen denkenden Menschen Eingang zu verschaffen , eine Philosophie , die , wegen der Aehnlichkeit ihrer Aufgabe mit der jener Missionäre, mit Recht den Namen der Scholastik oder der scholastischen Philosophie erhalten hat. Ihre Repräsentanten haben nicht der Kirche zur Existenz zu verhelfen, sondern die Lehre derselben zu bearbeiten, sie sind daher nicht Pufres, sondern Magistri ccclesine. Ihre und der Kirchenväter Aufgabe kann zwar unter ein und dieselbe Formel gebracht werden, denn Beide wollen was der Glaube besitzt der Vernunft zugänglich machen , nur heisst „Glaube" bei den Kirchen- vätern: was in der Bibel steht, dagegen bei den Scholastikern: die von den Vätern festgestellten Dogmen. Die Ersteren haben das Dogma gemacht, die Letzteren haben es verständig zu ordnen und verständlich zu machen. Wenn daher das Philosophiren der Scholastiker immer von, durch Autorität feststehenden, Sätzen ausgeht, so ist dies keine Beschränktheit, es ist die nothwendige Beschränkung auf ihre Aufgabe. Die Philosophie der Scholastiker ist kirclüich, daher auch ihre Sprache das (Kirchen-) Latein, die eigentlich katholische Sprache, vermöge der die Glieder der aller- verschiedensten Völker gleichzeitig in ihrer (der Kirche) eignen Sprache das Evangelium vernehmen und auslegen. Mit der ver- schiedenen Aufgabe der Kirchenväter und Scholastiker hängt es auch zusammen, dass, während die Kirchenväter sich besonders an solche frühere Philosophen halten nlussten, deren Lehren hin- sichtlich des Inhaltes mit dem Evangelio die grösste Aehnlichkeit

I. Die Jugeudpeiiode der Scholastik. §. 152. 153. 247

zeigten, die Scholastiker besonders solche Schriftsteller hoch stel- len, aus denen in Bezug auf die Form am Meisten zu lernen ist. Darum die Hochachtung Yor logischen und encyclopädischen Wer- ken, welche es erklärlich macht, dass, als später der ganze Ari- stoteles wieder bekannt wurde, dieser Vater der Logik, diese le- bendige Encyclopädie aller Wissenschaften , der anerkannte Meister der Scholastiker wurde. Gleich anfänglich aber stehen unter den wenigen Büchern des Alterthums, die nicht vergessen waren, einige der analytischen Schriften des Aristoteles und die Einleitung des Porjj/njrins in der üebersetzung und mit den Commentaren des Boetliiiis oben an. Die Analytiken und Topiken bleiben lange un- bekannt. Des Boetliiits Abhandlungen über den kategorischen und hypothetischen Schluss, so wie über die Topik müssen ihre Stelle vertreten.

I.

Die Jugciidperiode der Scholastik.

§. 152.

Das Ziel, nach welchem der mittel alterhche Geist strebt, die Welt den geistlichen Interessen dienstbar zu machen, erscheint in der wunderbaren Erscheinung des Fränkischen Kaiserreiches so sehr erreicht, dass alle späteren Versuche ihm näher zu kom- men, mehr oder minder bewusst, darauf ausgehn, jene Monarchie zu wiederholen. Das letzte Weihnachtsfest des achten Jahrhun- derts zeigt eine Vermählung von Weltmonarchie und Welthierarchie, wie sie das Mittelalter grösser nicht wieder gesehn hat. Kaum vorbereitet findet Karl der Grosse die Aufgabe vor, die lediglich durch die Kraft seines Genies gelöst wird, welches sich Aufgaben stellt, die erst viele Jahrhunderte später wieder hervortreten. Eben darum aber ist auch seine Leistung eine vorübergehende Erschei- nung, welche, als die Epoche machende, den späteren Zeitaltern das unverrückbare Ziel ihres Strebens vor Augen stellt: einen Re- genten der Christenheit, welcher zugleich Lehnsherr und liebster Sohn der kathoUschen Kirche ist.

§. 153.

Die scholastische Philosophie, als die Weltforniel dieser Pe- riode, beginnt ganz eben so mit einem Manne, der durch die Kraft seines Genie's das unmittelbar erfasst, was die auf ihn Folgenden langsam zu verarbeiten haben; die völlige Einheit nämlich des von den orientalischen und occidentaUschen Vätern festgestellten Kirchenglaubeus mit dem was der Verstand erforscht, steht ilim so fest, dass er sich erbietet, jeden Zweifel gegen den erstereu

248 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

vermöge des letzteren zu widerlegen. Dass dieser Epoche ma- chende, welcher verspricht, was in ihrer Vollendung die Scholastik leistet (s. §. 205), einem der, ihre Bildung von Rom empfangen- den, Völker angehört, kann nicht als etwas Zufälliges angeselm werden. War es doch diesen besonders wichtig, dass solche Ueber- einstimmung dargethan wurde. Dazu kommt, dass in seinem Va- terlande, zu einer Zeit, wo die wissenschafthche Cultur überall sehr darniederlag , die Geistlichkeit eine sehr rühmliche Ausnahme bildete. Die hibernische Weisheit war berühmt, hibernisch hiess die durchs irivinm zum fjnadririum fortschreitende Schulmethode. Von Irland pflanzte sie sich nach Schottland und England, von da auf den Continent fort. Die Namen Beilu (673 735) und AIcuin (736 804), welche die Schulen zu Weremouth und York geziert haben, gehören nicht nur ihrem Lande, sondern der Welt an. Alcmns bediente sich Karl der Grosse, um in seiner Palastschule und auch sonst (namentlich in der von Alcnin gestifteten Schule zu Tours) Lehrer für sein Volk bilden zu lassen. Sein Schüler und Nachfolger Frcdcgisus , eben so VHiahanus Mau ms sind, der eine für Frankreich, der andere für Deutschland, die Anfänger nicht nur des gelehrten, sondern auch des philosophischen Inter- esses geworden. Unter Alailn's Schriften ist de ratione animae, unter denen des Rhahamis das encyclopädische Werk de universo, auch wohl de naturis genannt, so wie seine Commentare zu des Porplyrius Einleitung und zur Aristotelischen Schrift vom Satz, nicht fruchtlos geblieben. Ein jüngerer Zeitgenosse dieser beiden, in Brittannien geboren und gebildet, ist nun der, den man den Carolus Magnus der scholastischen Philosophie nennen möchte, Eriffena.

A. Die Scholastik als Yerschmelzimg von Religion und Vernunft.

§. 154. E r i g e n a. P. Hjort Johannes Scotus Erigena oder Vom Ursprünge einer christlichen Phi- losophie. Kopenhagen 1823. F. A. Staudenmaier Jo. Scot. Erigena und die Wissen- schaft seiner Zeit, ir Th. Frkf. a. M. 1834. St. Rene. Taülandier Scot Erigena et la Philosophie scolastique. Strassb. 1843. Th. Christlieb Leben und Lehre des Joh. Scot. Erigena. Gotha 1860. Jo. liiiher Joh. Scot. Erigena. München 1861.

L Dass die ältesten Handschriften bald den Namen Joan- nes Scotus (oder auch Scoiigena) , bald Joannes Jerugena (später Erigena) , enthalten, hat Streitigkeiten über den Ge- burtsort dieses Mannes entstehen lassen. Ergene in England, Aire in Schottland, endlich Irland (iequ vr^ong , ^Uqvyj, Erin) streiten um

I. Jugendperiode. A. Schol. als Relig.- u. Vernunftlehre. Erigena. §. 154, 1. 2. 249

die Ehre , die wahrscheinlich dem letzteren zukommt , wie er denn auch immer als Repräsentant der hibernischen Weisheit citirt wird. Geboren zwischen den Jahren 800 und 815, hat er 877 noch ge- lebt. Seine Kenntniss der griechischen Sprache so wie seine Hin- neigung zum griechischen Dogma und zur Alexandrinischen Phi- losophie macht die Nachricht, dass er, namentlich in Griechenland, viele Reisen gemacht habe, glaublich, obgleich Beides in seinem Vaterlande nicht unerhört war. Von Karl dem Kahlen nach Pa- ris gerufen, hat er dort der Palast- oder einer andern Schule vorgestanden. Er war wahrscheinhch Laie und die Nachricht, dass er als Abt von Athelney oder nach Anderen von Malmesbury umgebracht sey, beruht wohl auf einer Namensverwechslung. Eben so wenig steht es fest, dass er, von Alfred dahin gerufen, in Oxford gelehrt habe. Schon dass er überhaupt einen ganz neuen Standpunkt geltend macht , dann aber die Art seiner Bekämpfung der Gottschalkschen Lehre über Prädestination, die selbst H'mk- mar von Rheims, der ihn zu seiner Schrift veranlasst hatte, ta- delte , machte ihn der Geistlichkeit verhasst. Ihm wurde und wird zum Theil noch jetzt die, wahrscheinlich von Ftalrmnnus verfasste, Schrift über das Abendmahl gegen Paschashis Badbert zugeschrie- ben, die auf Befehl der Geistlichkeit verbrannt ward. Die ohne päpstliche Erlaubniss veröffentlichte Uebersetzung des Dloinjsius Areo])(igita im J. 860 bewog den Papst Nikolavs I die Entfernung des Erigena von Paris zu verlangen, die aber nicht erfolgte, denn im J. 873 war er gewiss noch in Frankreich. Sein Hauptwerk: die fünf Bücher de divisione naturae {tteqI <fvoeo}v inEQiCfiov, auch als TieQL cfvaeiog, de naturis, peri fision merismu, periphisis u, s. w. citirt) wurde am 23. Jan. 1225 feierlich verbrannt, und, weil man das Werk viel bei den Albigensern fand, verfolgt und dadurch sehr selten. Es ward im J. 1681 von Gale zuerst veröffentlicht, im J. 1830 von SchHUer neu herausgegeben. Viel correcter als beide Ausgaben ist die von A. J. Floss, welcher das Werk zu- gleich mit der Schrift über die Prädestination und der Uebersetzung des Areopagiten im J. 1853 als 122"^" Band in Miguels Patrolo- giae cursus completus, mit den Vorreden von Gale und Scklnter dazu, herausgegeben hat. Nur den von Gale angezweifelten Com- mentar zu Marcianns Capella findet man in der Floss'schen Aus- gabe nicht. Diesen hat neuerlichst Haiireau herausgegeben.

2. Der in der Schrift über Prädestination (I, 1) und auch sonst vom Erigena ausgesprochene Satz , dass die wahre Religion auch die wahre Philosophie und umgekehrt sey, ist das Thema der ganzen scholastischen Philosophie. Die daraus sich ergebende

250 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

Folgerung, dass jeder Zweifel gegen die Religion durch die Phi- losophie widerlegt werden könne, erschien damals noch als so unerhört, dass eine Versammlung fränkischer Geistlicher dies für Wahnsinn oder Gotteslästerung erklärte. Religion ist ihm in ihrem Verhältniss zur Philosophie , was Autorität zur Vernunft ist. Dem Range nach geht die Vernunft vor, ja selbst der Zeit nach, da ja, was die Autorität der Väter lehre, von ihnen mit Hülfe der Vernunft gefunden sey. Die Schwachen haben natürlich sich der Autorität zu unterwerfen , dagegen die minder Schwachen sich um so ^veniger mit ihr begnügen sollen, als die Bildlichkeit vieler Ausdrücke, ferner die nicht abzuleugnende Accommodation der Vä- ter an das Verständniss der Ungebildeten, den Vernunftgebrauch als Correctiv fordern (Div. nat. I, 69). Unter Vernunft ist aber nicht die bloss subjective Ansicht, sondern das gemeinsame Den- ken zu verstehn, welches im Gespräch hervortritt, wo aus zwei Vernunften eine, indem Jeder der sich Unterredenden gleichsam zum Andern, wird (IV, 9). Das Organ dieses allgemeinen Denkens oder der eigen thchen Speculation ist der inteUectiis^ auch wohl vovg oder ainmns genannt, welcher über der ratio oder dem loyog und noch mehr über dem scnsus internus oder der didvoia steht. Das Eigcnthümliche der Speculation wird von ihm bald darein ge- setzt, dass sie nicht bei dem Einzelnen stehn bleibt, sondern stets das Ganze ins Auge fasst , womit dann Hand in Hand geht , dass sie sich über alle Gegensätze erhebt, bald wieder darein, dass darin der Wissende gewissermassen zum Gewussten werde, so dass also das speculative Erkennen des Erigena Einheit des Subjecti- ven und Objectiven ist (H, 20). Dabei wird seine Unmittelbarkeit sehr oft dadurch angedeutet, dass es als mtellectnafis risio , als intnitns gnosticns oder als experimentum bezeichnet wird.

3. Die Totalität alles Seyns, bald 7iccv, bald cfvaig (weshalb er im vierten Buche seine ganze Untersuchung Physiologia nennt), gewöhnlich natura genannt, zerfällt in vier Classen: die un ge- schaffene schaffende , die geschaffene schaffende, die geschaffene nicht schaffende, die weder geschaffene noch schaffende. Da von diesen die erste, der Grund alles Seyns, und die vierte, der letzte Zweck, über den eben deswegen Nichts weiter hinausgeht, in Gott fällt, die zweite Classe aber den diametralen Gegensatz zur vier- ten, die dritte zur ersten bildet, so befassen diese beiden das Geschöpf in sich , und zwar so , dass die zweite Classe durch die zuerst geschaffenen causae primordiales aller Dinge, die dritte durch deren Wirkungen, die Dinge selbst, gebildet wird (H, 2. V, 39 u. a. a. 0.). Von den fünf Büchern, in welche das Werk

I. Jiigendperiode. A. Schol. als Eelig'.- u. Vernunftlelire. Erigeua. §. 154, 3. 4. 2bl

des Erigena zerfällt, betrachten die vier ersten je eine Classe des Seyenden, ohne jedoch sich ängstlich darauf zu beschränken; im fünften wird die Rückkehr alles Geschaffenen in den Grund der Schöpfung dargestellt. Das Verfahren ist dabei, dass fort- während Vernunft- und Autoritäts - Gründe in einander gemischt werden. Was die letzteren betrifft, so wird die h. Schrift mei- stens allegorisch ausgelegt und er folgt dabei direct dem Orlgeiies, indirect dem PliUo. Ausser der Schrift ruft er die Väter, die griechischen sowol als die lateinischen, zu Hülfe. Unter jenen werden besonders Orlgcncs, die kappadocischen Gregore, die er aber zu einer Person macht, der Areopagite und Maximns der Bekenner ausgebeutet, unter diesen Avgvst'm und fast' noch mehr der allegorisirende Schriftausleger Amhrosins. Was die Grössten des Orients und Occidents geleistet hatten, wird so für ihn zum Ausgangspunkt.

4. Von Gott als dem ungeschaffenen Schöpfer ist besonders im ersten Buche die Rede. Er wird gewöhnlich summa honilas genannt. Als der, von dem, durch den und zu dem Alles ist, ist er Anfang, Mitte, Ende und darum mit Recht als die Einheit dreier Personen bezeichnet, etwas was um so weniger Anstoss erregen kann, als der Mensch, das Ebenbild Gottes, die Dreieinig- keit in sich selbst trägt, mag man sie nun mit August in in dem esse, velle und scire, mag man sie mit andern Vätern in der essentia. rirtus und operatio, mag man sie endlich im infellcctus, ratio und sensus finden. Alle drei Personen bilden das ungeschaf- •fene Schaffende, denn Pater mit, Filius facit, Spiritus per feit. Gott ist so sehr Grund alles Seyns, dass es eigentlich ausser ihm gar kein Seyn gibt, Alles nur in sofern ist, als Gott in ihm er- scheint; alles Seyende ist Theophanie (III, 4). Das Seyn Gottes ist in keiner Weise beschränkt, darum ist er nicht eigentlich ein (juid , weiss eigentlich nicht, was Er ist, weil er über jedes (jiiid hinaus ist, und in sofern itiJnl genannt werden kann (II, 28). Eben so muss aus Gott jede Vielheit, auch der Eigenschaften, ausgeschlossen werden : sein Wissen ist Wollen , sein Wollen Seyn, was Gott weiss, das will, das ist Er. Alles ist nur in so weit wirldich, als es in Ihm, ja als es Gott ist (I, 12. III, 17). Das unendliche Wesen Gottes, dieses eigentliche niliihivi. aus welchem die Theologen die Dinge hervorgehen lassen , wird in seinen .Theo- phanien zu bestimmtem Seyn (aliquid) , so dass Gott, ohne auf- zuhören über den Dingen zu seyn, in ihnen wird und sich selbst schafft (III, 19. 20).

5. Der erste Uebergang (progressio) führt nun. zu dem Ge-

252 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

gen Stande des zweiten Buches, der geschaffenen und selbst wieder schaffenden Natur. Unter dieser ist zu verstehu der In- begriff der causac primordiales . ideae, formne, protolypa ^ im- midabiles rationes u. s. w. in dem Verbum Dei, das sie alle in sich befasst, als der Anfang, in dem Gott Alles schuf, als die Weisheit, in der Er Alles vor sich sah. Obgleich geschaffen, sind sie doch ewig, denn wenn eine Zeit wäre, wo Gott nicht schüfe, so wäre ihm das' Schaffen accidentell und das ist unmöglich (III, 6). Unter diesen ersten Principien aller Dinge werden Güte, We- senheit, Leben, Seligkeit u. s. w. aufgezählt, kurz die höchsten denkbaren Prädicate, unter welchen Alles steht, was an ihnen Theil nimmt, weil das purlicipatum immer mehr ist als das par- iicipcnis (III, 1. 2). Dass Erigenn es an Lobsprüchen des Plato nicht fehlen lässt , versteht sich hiernach von selbst. In ihrer ewi- gen Existenz in dem Worte Gottes bilden die caiisae primordiales eine Einheit, sind sie ein untrennbares Ganzes (individuumj. Da- rum wird das "Wüst - und Leerseyn in der Mosaischen Schöpfungs- geschichte auf den abyssus der primitiven Ursachen gedeutet, und darauf hingedeutet, dass es der „brütende" Geist sey, durch den jene Einheit sich in Gattungen und Arten scheidet (II, 18. 27). Dieser Abgrund der Ursachen oder Principien ist der einzige Stoff, aus dem die Dinge wie aus ihrem Saameii hervorgehn. Die An- nahme einer Materie, ja selbst eines privativen Nichts, ausser Gott, wird stets dem Maiiichäismus gleich gesetzt (III, 14). Was nui- irgend real ist an den Dingen, ist eine Participation an der schaf- fenden Wahrheit (III, 9) vermittelst der Principien, welche das* Höchste nächst Gott sind (II, 32).

6. Auf diese Ursachen und Principien folgen als ihre Princi- piate und Wirkungen die Dinge, deren Complex, die geschaffene nicht schaffende Natur, im dritten Buche besonders betrachtet werden soll. Der Uebergang dazu wird durch eine allegorisirende Betrachtung des Sechstagewerks gemacht, in dem Erigena, als successiv dargestellt, gleichzeitige Acte sieht: Gott hat Alles was er that zugleich gethan, Moses kann es aber nur nach einander schauen und erzählen. In den Sinn der Schöpfungsgeschichte ein- dringen zu können, daran zweifelt Erigeiia nicht; ist doch die Welt nur dazu da, dass die vernünftige Creatur sie erkenne, und hat sie also den Zweck, zu dem die neidlose Gottheit sie schuf, erst erreicht, wo sie erkannt wird (V, 33). Das Sehen ist viel mehr als das Gesehene, das Hören als das Gehörte, das Erkannt- werden ist die höchste Existenz der Dinge. Eben darum gehört eigentüch dei' Mensch nicht zu den Dingen, sondern in ihrer Wahr-

I. Jugendperiode. A. Schol. als Relig.- u. Vernunftlehre. Erigena. §.154, 6. 7. 253

heit sind die Dinge in ilim, wenn er sie erkennt (IV, 8). Dass nicht nur die Bibel , sondern auch die Xatur den Herrn offenbare, lehrt Abrahams Beispiel, der ohne heilige Schrift im Sternenlaufe Gott erkannte (III, 35). Dem Wüst- und Leerseyn folgt, d. h. aus dem AbgTunde der Principien geht, vermöge des li. Geistes, der nicht nur die Gaben vertheilt , sondern überhaupt alle Mannig- faltigkeit setzt (II, 32), zunächst hervor der Gegensatz der ob- srirritns cansunim und der chiritas effcctimm. Innerhalb dieser letzteren treten die Gegensätze des Himmels und der Erde (d. h. des spir'üus und corpus) hervor, zu denen als ein Mittleres das Leben oder die Beseelung kommt. Die allgemeinen (generaUa. oder cathoHca) Elemente bilden die Zwischenstufe zwischen den Principien und den Körpern, sind selbst nichts eigentlich Körper- liches. In dem Menschen vereinigt sich so Alles, dass er als die off/chia creaturarum bezeichnet wird. Die Engel dürfen nicht so genannt werden, weil sie keinen aus den Elementen gebildeten Körper haben (IH, 26. 27), Die zweimalige Erzählung von der Schöpfung des Menschen weist auf eine doppelte Schöpfung hin, auf eine (geschlechtlose) zum Ebenbilde Gottes, wozu er, wäre er gehorsam gewesen, sogleich geworden wäre, und auf eine, füi- den Fall der Sünde ihm angeschaffene thierische (geschlechtliche) Xa- tur (IV, 5. 6). Die letztere tritt hervor, indem der Mensch, des- sen in der Schrift geschilderte Unschuld eben so wenig ein zeit- licher Zustand, wie das Paradies ein räumhcher Ort ist (IV, 12. 17. 18), sogleich, nachdem er geschaffen, noch ehe der Teufel ihn verführt, durch die Stadien der mntabilitus vohnilatis und des sopor hindurch-, dann, nach der Verführung, zur Sünde fortgeht und seinen ursprünglichen Leib, der auch wieder sein Verklä- rungslei-lj seyn wird, vertiert (IV, 13. 14). Jetzt ist er nicht mehr im Paradiese, wo aus dem einen Lebensquell die vier Ströme Weisheit, Tapferkeit, Mässigung und Gerechtigkeit fliessen (IV, 21). 7. Dabei bleibt es aber nicht; vielmehr ist die Rückkehr des Menschen zu Gott das Ziel ; und diese , das eigentliche Thema des vierten Buches, wd fast noch mehr als in diesem, im fünf- ten erörtert. Dass sie nur im Zusammenhange mit der Abkehr von Gott, d. h. mit dem Bösen, betrachtet werden kann, liegt in der Natur der Sache. Der Vorwiu-f des Pantheismus, den man der Lehre des Erigena vom Bösen gemacht hat, ist nur in sofern verdient, als sie wirklich vor dem Dualismus viel mehr Furcht zeigt, als vor dem entgegengesetzten Extrem. Da nämlich der Grund alles wahren Seyns in Gott fällt , und wieder Gott nur wah- res Seyn will und weiss , so kommt dem Bösen kein substanzielles

254 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

Seyii ZU, ja man kann nicht einmal sagen, dass Gott vom Bösen weiss (IV, 16. V, 27). Auch der Mensch, wenn er sich auf den göttlichen Standpunkt versetzt, d. h. wenn er das All in seiner Ganzheit betrachtet, sieht nichts Böses, sondern vernimmt eine Harmonie, in welcher der einzelne Misston, durch den Contrast, die Schönheit des Ganzen noch erhöht (V, 35. 36). Weil es kein wahrhaftes Seyn ist , deswegen hat das Böse auch keine positive Ursache, es ist iiwaiisdlc (IV, 6). Der freie Wille, auf den Viele es zurückgeführt haben, ist etwas Gutes, ja jedes AVollen ist dies als ein Gerichtetscyn auf ein Gut ; was es zu etwas Bösem macht, ist nur der Wahn und Irrthum, der als Gut vorspiegelt, was kei- nes ist. So besteht also das Böse nur in der verkehrten Rich- tung des, an sich guten, Willens. Weil es an sich Wahn und Nichts, deswegen wird es zu Nichte, und das nennt man Strafe, daher kann nur gestraft werden was nicht ist (V, 35), Diese Strafe wird, je nachdem der Mensch, der sie empfängt, sich zu Gott oder von Ihm abwendet, Vergebung oder Qual (V, 32). Die letztere besteht in dem Nichtkönnen dessen, was der verkehrte Wille möchte. Darum ist die Hölle ein innerer Zustand, gerade wie das Paradies; nur um der sinnlichen Menschen willen haben die Väter beide als räumlich und zeitlich existireud dargestellt (V, 29). Das Daseyn der Hölle stört, da sich in ihr die Gerech- tigkeit Gottes zeigt, die Harmonie des Alls nicht (V, 35). Da das Object der Strafe nicht die, von Gott gewollte, Substanz des Sünders, sondern das, demselben accidentelle, nichtige Wollen ist, so denkt sich Erlyeiui als das allendliche Ziel eine Wiederbrin- gung aller Dinge, von der er mit ausdrückhcher Berufung auf Origencs (vgl. §. 137, 2), da Ewigkeit und Bosheit unvereinbar sey, selbst die Dämonen nicht ganz ausschliesst (V, 27. 28). Nur nicht ganz. Denn die Unterschiede zwischen Solchen, welchen die Erinnerung ihrer groben Sünden bliel), und Solchen, die keine dergleichen haben, leugnet er nicht, und bringt sie mit den ver- schiedenen Stufen zusammen, durch welche die Rückkehr der Dinge zu Gott und ihre adnnatio mit Ihm vor sich geht. Als Ge- genstück zu dem Ausgange aus Gott muss natürlich, nur in um- gekehrter Ordnung, sie alle die Stufen zeigen, wie die abwärts- gehende Schöpfung. Bei dieser entstand zuerst der Unterschied von Schöpfer und Geschöpf, dann innerhalb des letztern der zwi- schen dem Intelligiblen (den Principien) und dem Sinnlichen (den Wirkungen), dann innerhalb dieses letzteren der Gegensatz von Himmel und Erde , dann auf der Erde zwischen Paradies und Erd- kreis, endhch der Gegensatz von Mann und Weib und, beim Her-

I. Jugendperiode. A. Schol. als Relig.- u. Vernuuftlelire. Erigeua. §. 155. 255

austreten aus dem Paradiese , die grobmaterielle Existenz in dem, aus Elementen zusammengesetzten, Körper. Von diesem befreit der Tod , indem die Elemente sich trennen ; mit der Auferstehung hört der Geschlechtsunterschied auf; dann wird der Erdkreis in das Paradies verwandelt; dann alles Irdische himmhsch; dann geht Alles in die cmisae primordiales über; endlich findet Tlieosts oder Deificatio Statt, die aber nicht als Untergang zu denken ist, sondern bei der die Individualität bleibt, indem jene Erhebung in der zur vollen Erkenntniss Gottes besteht, in dieser aber Er- kennendes und Erkanntes Eins werden (V, 37). Wenn nun auch Alle bis zum Paradiese gelangen , so sind schon in diesem viele Wohnungen und Rangstufen. Namentlich aber werden nur wenige Auserwählte die Dei/icado als den Sabbath der Sabbathe schmecken.

§. 155. Dass das Princip der Scholastik im Erigena als neues oder unmittelbares hervortritt , gibt nicht nur ihm die Stellung des, der vorsichtigen Kirche verdächtigen , Neuerers , sondern lässt auch die Einheit der Kirchenlehre mit der Vernunft als unmittelbare, d. h. unterschiedslose erscheinen. Wegen dieser Unterschiedslo- sigkeit ist ihm jeder Vernunftgrund ohne Weiteres Autorität, und was die Autorität sagt, behandelt er sogleich als w^äre es ein Ver- nunftgrund. Jenes gibt seinem Philosophiren den heterodoxen, dieses den mystischen Charakter. Er philosophirt noch zu sehr in der Weise der Kirchenväter, welche die Dogmen zu machen hatten, und doch steht ihm dies fest, dass es nicht nur eine Of- fenbarung und heilige Geschichte, sondern dass es eine Kirchen- lehre von unerschütterlicher Gültigkeit schon gibt. Dies ist ein Widerspruch. Der nächste Fortschritt wird seyn, dass er gelöst Avird , indem auch der Unterschied beider Seiten zu seinem Ptechte kommt , und an die Stelle des unmittelbaren iiiluilus gnosüciis die Reflexion tritt , die einerseits von dem Dogma als einem gegebnen aus - und zu dem Begreifen desselben übergeht, andrerseits wieder den Begriff zum Ausgangspunkt macht und bei dem Dogma, als einem damit Uebereinstimmenden , anlangt. Wo die Einheit der Kirchenlehre und der Vernunft eine vermittelte und reflectirte ist, können beide mehr zu ihrem Rechte kommen: der orthodoxe und wieder der klar verständige Cliarakter zeichnet den zweiten Vater der Scholastik vor dem ersten aus. Dass jene Einheit nicht zum ersten Male behauptet wird, lässt diese Lehre nicht mehr als Neuerung ansehn, und darum dulden: der zweite Anhänger der Scholastik ist ein von der Kirche hochgeehrter Fürst derselben. Die anderthalb Jahrhunderte, die zwischen ihm und dem ersten.

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dem von der Kirche angefeindeten Laien, liegen, haben keine grossen philosophischen Leistungen aufzuweisen. Das zehnte Jahr- hundert ist zu thatenreich, als dass es zum Philosophiren Zeit haben sollte. Gerbert, einer der Wenigen, der es könnte, ist an- derweitig beschäftigt. Des Berengar von Tours speculative Ver- suche erwiesen sich als vor-, d. h. unzeitig, und er muss daher dem ganz unspeculativen, aber gelehrten, und durch seine juristische Vergangenheit geriebenen, Laiifravr weichen, obgleich seit jener Zeit der Gegensatz zwischen den „positiven" und „scholastischen" Theologen nicht wieder aufgehört hat.

§. 156. A n s e 1 m. F. B. Hasse Auselm von Canterbury. 2 Thle. Leipz. 1843. 52.

1. Anseimns , als Glied einer lombardischen Adelsfamilie in Aosta 1035 geboren , erhielt seine theologische Bildung in der Nor- mandie, zuerst in Avranches, dann im Kloster Bec, wo er dem Laiffrmir als Prior folgte und endlich Abt ward. Die, schon vor ihm berühmte Schule ward durch ihn zur ersten in der christli- chen Welt, namentlich für die Dialektik. Auch im Erzbisthum Canterbury ward Anselm Lanf'rancs Nachfolger und hat vom J. 1093 bis zu seinem am 21. Apr. 1109 erfolgten Tode, nicht ein- geschüchtert durch ein zweimaliges Exil, die Rechte der Kirche siegreich verfochten. Seine Werke sind von Gabriel Gerberon in einem Foliobande in Paris (2''" Ausg. 1721), nebst seiner Biographie von Eudmer , herausgegeben. Von Druckfehlern gereinigt bildet die Gerberonsche Ausgabe den Bd. 155 der Migne'schen Patrologia.

2. Wie die Kirchenväter, so citirt auch Aiisehn sehr oft den alttestamentlichen Spruch : glaubet Ihr nicht, so erkennet Ihr nicht, um dadurch das Verhältniss von Glauben und Wissen, Autorität und Vernunft, zu fixiren. Der Glaube muss vorausgehn und das Herz gereinigt haben, ehe zur Ergründung seiner Lehren gegan- gen wird , und bei denen , welche zum intelligerc nicht fähig, reicht der Glaube und die sich unterwerfende veneratio aus. Wer aber fähig ist , zu begreifen , bei dem wäre es Nachlässigkeit und Träg- heit, w^enn er nicht vom Mittel zum Zweck, d. h. vom Glauben zum Wissen , überginge (de fide trinit. 2. Proslog. 1) und so an die Stelle der reneratio die defectaüo , das freie Erkennen, setzte (Cur D. h. 1). So sehr er daher betont, dass alle seine Lehren mit der h. Schrift und den Vätern , namentlich dem Aiigustin über- einstimmen (Monol. Praef.), so wiederholt er doch auch sehr oft, dass er sie entwickeln wolle, als wenn es gar keine h. Schrift gäbe, aus reiner Vernunft , so dass sie auch dem Ungläubigen bewiesen

I. Jugendperiode. A.Schol. als Relig- u. Vernunftlehre. Anselm. §. 156, 3. 4. 257

werden können, wenn er nur die Vernunft, diesen obersten Rich- ter, gelten lässt (Cur D. h. Praef.). Vernunftgründe, denen die Schrift nicht widerspricht, haben eo ipso die Autorität der Schrift für sich, sagt er (De conc. praesc. et Üb. arb. III, 7). Eben da- rum ist für ein gedeihhches Philosophiren ausser der Kenntniss der Kirchenlehre ein Haupterforderniss die gründliche dialektische Bildung. Wer z. B. der häretischen Dialektik anhängt , nach wel- cher die Gattungen blosse ßafus rocis. nur Worte sind (also jene von PorpL}jni:s [vgl. §. 128, 6] aufgeworfene Frage anders beant- wortet als dieser getlian hatte) , der macht sichs unmöglich, irgend eines der wichtigsten Dogmen zu begreifen (de fide trinit. 2).

3. Dies zeigt sich sogleich bei den Untersuchungen über das Wesen Gottes, denen das Monologium gewidmet ist. üeberein- stimmend mit P/ato und Proklos hält Ansehn fest, dass jedes Prädicat nur Theilnahme an dem ausdrücke , was das Prädicat be- sagt, so dass das Prädicat gross die Grösse u. s. w. als sein prins voraussetze. Darum weisen alle Dinge vermöge ihrer Prädicate auf ein Wesen, das alle diese Prädicate nicht nur hat, sondern ist. Dasselbe fällt , da das allgemeinste Prädicat aller Dinge dies ist, dass sie sind, mit dem absoluten Seyn zusammen, der essen- tin, wie Anselm mit Augnsiin anstatt suhstanüa zu sagen vorzieht. Dieser höchste aller Gedanken, auf den alle hin-, der aber nicht über sich hinausweist , ist der Begriff Gottes. Gott ist also : sum- tnum omviinn oikic smii oder id rjuo vuijus cogitari nefjuit, er ist Alles im höchsten Grade, summe cns , summe vinens, summe bo- nirm u. s. w. und ist dieses Alles nicht durch Theilnahme, sondern an sich, per se. Dieses Wesen muss nothwendig als Eines ge- dacht werden, da die entgegengesetzte Ansicht, es sey Vieles, sich vor Widersinnigkeiten nur durch die stillschweigende Voraus- setzung der Einheit rettet (Monol. 1. 16. 26. 6. 4).

4. Der gefundene Begriff der Gottheit wird nun von Anselm zu dem ontologischen Beweise für das Daseyn Gottes benutzt , den er in seinem Proslogium entwickelt hat, einer Schrift, deren zwei- ter Titel ist: fides quaerens intcllectum. Anknüpfend an die er- sten Worte des 14'™ Psalms , sucht er dem Insipiens , welcher in seinem Herzen sagt: es sey kein Gott, nachzuweisen, dass er sich selber widerspreche. Er mächt dabei nur die einzige Voraus- setzung, dass der Gottesleugner wisse, was er spricht, nicht bloss sinnlose Laute ausstosse. Versteht derselbe unter Gott Eines quo nitdl majiis cogitari polest, und muss er doch auch zugeben, dass esse in intellectu et in re ein tnajus sey, als esse in solo intel- h'ctn , so muss er auch zugestehn , dass Dens non polest cogitari

Erdmann ficsch. d Flui. I. -< -

258 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

nou esse, dass er also gedankenlos geschwatzt habe. Eben des- wegen ist Ansdm auch völlig im Recht, wenn er auf den Einwand des Gaunil o . früheren Herrn roii Moutigni, der als hoher Sieb- ziger ins Kloster von Marinontier ging , dort gegen die neue Theo- logie Anselms schrieb, und derselben vorwarf: so lasse sich auch das Daseyn einer Insel Atlantis beweisen, antw'ortet, er habe sei- nen Ausgangspunkt nicht genominen von Einem ijiwd nutjns Om- nibus est, sondern von dem <iUo majus coyilari ne<juH und da- durch den Insipiens in die Lage gebracht, entweder zuzugeben, dass er Gott als wirklich existirend denke , oder aber einzugestehn, er sage da was er selbst nicht denke, was ihn zu emem impudens conspuendus machen würde (Lib. apol. c. Gaunil. 5. 9). Gerade durch die ganz subjective Wendung, die Anselm seinem Beweise gibt, hat derselbe grösseren Werth, als in der späteren Form bei Wolff u. A.

5. Was das Monologium sonst noch enthält, daran schliesst sich genau an, was Anselm poleinisireud gegen Roscellin in sei- ner Schrift de fide trinitatis et de incarnatione Verbi entwickelt. Es ist ein Versuch das Dogma von der Trinität dem Yerständniss zugänglich zu machen. Das höchste Seyn, mit dem verglichen die Dinge nicht eigentlich sind (uix sunt), spricht in dem, ihm consubstanziellen, Worte sich selbst und zugleich Alles aus, w^as es schafft, ähnlich wie der Künstler in einem Gedanken das Kunstwerk und sich als Künstler weiss (Mouol. 28. 29. 33. 34). In diesem seinem Worte existirt die AVeit, besser und schöner denn in der Wirklichkeit, als Leben und Wahrheit; während unsere Gedanken Nachbilder, sind die göttlichen die Urbilder der Dinge. Die Worte Zeugung , Sohn , drücken das Verhältniss zu dem consubstanziellen Worte am Besten aus , so wie das Wort spirure dem Hervorgange aus dem Vater und dem Sohne entspricht, deren communitas der Geist ist (ibid. 36. 39. 57). Die Trinität ist übrigens gar keine vernunftfeindhche Lehre. Dass, wie der eine Nil Quelle, Fluss und See, so der eine Gott Vater, Sohn und Geist ist, darüber darf sich der nicht wundern, welcher bedenkt, dass in dem zum Ebenbilde Gottes geschaffenen Menschen sich memoria intelligen- iia und amor finden, die alle drei Eins, ja in deren je Einem die beiden anderen enthalten sind (de fid. trin. 8. Mouol. 60. 61. 67). Dabei ist nun die römische Ansicht, nach welcher sich in der processio Vater und Sohn ganz gleich, und nicht etwa der Sohn als Mutter, verhält, der Vernunft gemäss, und darum der griechischen weit vorzuziehn (Monol. 53. Cf. de proc. Sp. Sc. c. Graec).

I. Jugendperiode. A. Schol. als Relig.- u. Vernuuftlehre. Anselm. §. 156, 6. 259

6. Ganz wie in den bisher genannten Werken die Lehre von Gott, so sucht Anselm auch die Soterologie auf dem "Wege des verständigen Eäsonnements auch Solchen klar zu machen, welche die Autorität nicht gelten lassen. Bei dem engen Zusammenhange aber, in welchem dieselbe mit der Lehre von dem Falle steht, die selbst wieder nicht verstanden werden kann ohne die Schöpfung freier Creaturen, ist zuerst zu erwähnen, was Anselm in seinen drei Dialogen de veritate, de libero arbitrio und de casu Diaboli lehrt. Die Hauptpunkte sind da folgende: das Seyn der Dinge ist dem göttlichen nicht gleich, sondern als ein geliehenes ist es kein Seyn durch sich, ist es kaum ein Seyn zu nennen. Diesen Sinn hat es , wenn gesagt wird , dass die Welt aus Nichts geschaf- fen ist. Dies heisst nämlich aus einem Zustande, der zu ihrem, nicht aber aus einem, der zu Gottes Seyn einen Gegensatz bildet; vielmehr waren die Dinge, ehe sie geschaffen wurden, in Gottes Denken und Willen (Monol. 8. 9). Die eigentliche Bestimmung der Welt ist die Ehre Gottes, ja man kann sagen, sie ist die er- scheinende Ehre Gottes selbst, indem sich in ihrer Ordnung die Ehre Gottes abspiegelt, woher auch jedes Attentat gegen diese Ordnung die Ehre Gottes antastet. Die höchste Stelle unter den geschaffenen Dingen nehmen die vernünftigen Wesen ein, die En- gel und die Menschen, jene vor diesen geschaffen. Wie alle Dinge sind auch sie zur Ehre Gottes geschaffen, nur dass in ihnen, als bewussten Wesen, die Ehre Gottes gewusst wird. Gottes Ehre ist, erkannt zu werden. Engeln und Menschen kommt Freiheit des Willens zu, das liberum (irhitrhnn . das Anselm, ganz wie Aitgiisiin im Gegensatz zu Pelagiits . nicht als die Fähigkeit des Sündigens oder nicht Sündigens, sondern als die pntesfas servandi rcelihtdhiem rohnttatts propter ipsum reetitudhiem fasst (de lib. arb. L 12). Aber auch von Angiisiin weicht er ab, indem er in der Freiheit den Unterschied von PotentiaUtät und Actualität ur- girt, welcher ihn dahin bringt, die Unverlierbarkeit des freien Willens zu behaupten, auch dort, wo der Fall es unmöglich ge- macht hat, ohne höhere Unterstützung die Gerechtigkeit zu er- greifen. So hat der Mensch die Fähigkeit des Sehens auch wo er, weil kein Licht scheint, nicht sehen kann (de lib. arb. 3). Die Möglichkeit des Falls, ohne welche Engel und Menschen höchstens in ihrem ursprünglichen Zustande geblieben, nicht aiber dazu ge- kommen wären, sich selbst des höheren Gutes theilhaft zu ma- chen, wozu Gott sie bestimmt hat, diese liegt darin, dass das Wollen des Geschöpfes ein doppeltes Ziel hat: die Glückseligkeit um des eignen Selbstes und die Gerechtigkeit um der Ehre Gottes

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willen. Jedes von beiden ist natürlich und nothweudig, mit nur einem von beiden wäre von Verdienstlichkeit keine Rede (de casu diab. 18. 13. 14). Indem beides in dem Engel sich findet, kann er vermöge seines freien Willens, aber nicht vermöge dessen was ihn frei macht d. h. er kann vermöge seiner Willktihr die Glückseligkeit allein wollen (de lib. arb. 2) , sein Wohl an die Stelle der göttlichen Ehre setzen und so in ungehöriger Weise Gott gleich, d. h. autonom, seyn wollen. Oder aber er kann die Glücksehg- keit der Gerechtigkeit, sein Wohl der Ehre Gottes, unterordnen. Im erstem Falle verliert er die Gerechtigkeit, sein Wille wird böse, d. h. ermangelt dessen was er soll; im zweiten bestätigt er sie und giebt sie sich gewissermassen selbst, wodurch sie unver- lierbar wird. Das einzig positive Böse ist die verkehrte Richtung des Wollens ; das Wollen selbst kommt von Gott und ist gut, eben so ist es die That, d. h. die in der Welt hervorgebrachte Verän- derung. Die Ungerechtigkeit ist Abwesenheit und in sofern = Nichts, das W^ollen dieses Nichts anstatt des vorgeschriebenen Etwas, das ist das Böse (de cas. diab. 4. 18. 15. 10. 20). Man darf sich auch nicht wundern, dass Gott für dieses Nichts den Sünder straft. Seine Strafe besteht eben darin, dass er die Lücke nicht duldet, dass Er, wo Nichts ist, Etwas verlangt (de conc. virg. 6). Wie die Sünde nur in dem perversen Willen liegt, so trifft auch die Strafe weder die Handlung noch das Werk, sondern den Willen. Fragt man endUch, was den Teufel dahin brachte, anstatt des Positiven das Negative zu wollen, fahren zu lassen anstatt zu behalten , so ist dies etwas Grundloses ; das böse Wol- len ist causa e//iclens und e/fectns zugleich, es liegt lediglich in der Willkühr (de cas. diab. 19. 20. 27).

7. Das bisher Gesagte gilt vom Falle der Menschen wie von dem der Engel. Nun aber stand es dem Ansehn fest, dass es für die gefallenen Engel nicht, wohl aber für die Menschen eine Erlösung gebe (cur D. h. II, 21), und darum musste er genauer auf den Unterschied eingehn zwischen der engelischen und mensch- lichen Sünde. Diese Untersuchung fällt mit der über die Erbsünde zusammen, die es, weil die Engel kein durch Fortpflanzung sich mehrendes Genus, keine der Famiüe ähnliche Engellieit bilden, bei ihnen nicht geben kann. Besonders kommt hier die Schrift de conceptu * virginali et originali peccato zur Sprache. Da ist nun von der grössten Wichtigkeit, dass man nie verwechsle die Natur, oder die allgemeine Wesenheit, durch die jeder von uns Mensch, und die indimdnitas oder besondere W^esenheit, wodurch er Person, wodurch er dieser Mensch ist. In Adam war die mensch-

I. Jugendperiode A. Schol. als Relig. u. Vernunftlehre. Anselin. §.156, 7. 8. 261

liehe Natur ganz, da sie ausser ihm nicht existirte, daher wird durch seine persönliche Sünde die menschliche Natur befleckt, und geht die Verschuldung auf die, welche in der poiesias propagmidi Adams sind, als Erb- oder natürliche Schuld über. Jeder der- selben ist 'per crentiovcm homo, per indlvkhiiiaicm persona, per propagriüonem Adam , und dieses Familienband macht sie zu Adams Erben. Da die Sünde nur im vernünftigen Willen ihren Sitz hat, da sie darin besteht, dass das, für sich genommen gute, ! Wollen den, für sich genommen gleichfalls guten, Trieben nach Genuss unterworfen wird , so beginnt die Erbschuld des Menschen i erst da, wo er zu einer raliomiUs vohmtas erwacht, ist auch, als i angeerbt, nicht so gross wie die persönliche Verschuldung Adams. Dennoch wird sie, und mit Recht, weil was Adam that nicht ohne Betheiligung der Natur geschah, an seinen Nachkommen gestraft, wobei man nur die verschiedenen Grade der Strafliarkeit nicht ! vergessen darf (de conc. virg. 1. 10. 23. 4. 7. 22. 28).

8. Mit diesen Sätzen über Entstehung und Fortpflanzung der Sünde, waren nun auch die Prämissen zu der soterologischen Hauptfrage, der Satisfactionstheorie, gegeben, welche Anselm in seiner berühmtesten Schrift Cur Dens homo? entwickelt, wieder, wie er selbst sagt, als habe nie eine Incarnation Statt gefunden und als solle doch ihre Nothwendigkeit dargestellt werden. Die Ein- busse, welche die zur Seligkeit bestimmten Wesen durch den Fall der Engel erlitten hatten, wird durch die Schöpfung der Menschen, obgleich dieselben nicht bloss deswegen geschafi'en sind, wieder er- setzt. Sie sollen den Teufel beschämen , indem sie trotz der Ver- suchung von aussen besser bestanden als er, der sich selber ver- sucht hatte. Nun aber fiel der Mensch selbst, und da er dadurch zum Triumph des Teufels diente, und Gott Seine Ehre stahl, wo- für die ganze Welt noch nicht Ersatz liefert, die Duldung des Bösen aber die Unordnung und Ungehörigkeit sanctioniren , die Ungerechtigkeit für berechtigt erklären würde , so muss für jedes Vergehn, ausser der Strafe, welche es erfordert, wenn der Mensch nicht verloren gehn soll , Ersatz geleistet werden , etwas was frei- lich der Mensch, der ihn zu leisten hat, nicht vermag, da er sich selbst zur Gerechtigkeit unfähig gemacht hat (Cur D. h. I, 10, 16. 21. 11. 12. 23. 24). Andrerseits hat Gott die Nothwendigkeit auf sich genommen, dass sein Werk vollendet werde, welche Noth- wendigkeit eben seine Gnade ist, und ist auch nur Er im Stande so viel zu leisten als geleistet werden soll: mehr als alle Welt. Es bleibt also, da nur Gott es leisten kann, der Mensch aber es leisten soll, nur übrig, dass Gott als Mensch es leiste, dass Er

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ganz Gott und ganz Mensch, nicht sowol sich zur Menschheit er- niedrige, als die Menschheit zu sich erhöhe, und nun die Resti- tution vollbringe, die der Mensch schuldig ist (ibid. II, 5. 6. 7). Nun entsteht aber die Schwierigkeit , dass durch die Annahme der nienschhchen Natur Gott auch die , mit derselben verbundene, Erb- schuld auf sich zu laden scheint? Doch nicht. Denn da der Menschgewordene nicht auf dem Wege der natürlichen Zeugung entsteht (de conc. virg. 23), sondern so, dass zu den drei ver- schiedenen Weisen , in welchen Gott den Adam , die Eva und end- lich ihre Nachkommen schuf, hier als vierte die nur aus dem Weibe hinzukommt, so ist durch diese wunderbar eintretende Schöpferthat Gottes die vererbende Thätigkeit des Stammvaters unterbrochen, und selbst ein blosser Mensch hätte unter diesen Umständen frei von der Erbsünde geboren werden können , zumal wenn, wie hier, die ihn empfangende Mutter durch hoffenden Glauben an den Zukünftigen von der Sündhaftigkeit gereinigt ist (Cur D. h. II, 7. 16. De conc. virg. 16). Soll also die Sünde der Menschheit gesühnt w^erden, so muss Gott als Mensch, und zwar als schuldloser Mensch geboren werden. Es fragt sich aber, wa- rum gerade Gott der Sohn? Dass alle drei Personen mit der Menschheit zu einer Person verbunden , wäre ein Widersinn. Nur eine also kann es seyn. Nur der Sohn (Gottes) wird, indem er Sohn (der Jungfrau) wird , seine (Sohnes) Natur nicht verleugnen, besonders aber ist dies entscheidend, dass, dem Bösen als der carrikirten Gottähnlichkeit gegenüber, es das Geschäft des wahren Ebenbildes Gottes ist, den Sieg zu erfechten (Cur D. h. II, 9). Es entsteht die weitere Frage: jener Ersatz, den nur der Mensch- gewordene leisten kann, wie wird er geleistet? Durch die Erfül- lung der eignen Pflicht natürlich nicht. Da aber eine jede ge- rechte That des Menschen nichts weiter ist als Pflichterfüllung, so kann nur ein Leiden, und zwar ein unverdientes, jenen Er- satz leisten. Hierin liegt nun die Bedeutung des Todes Clivuli, in dem Aiiselm nicht, wie die meisten Kirchenväter, dies hervor- hebt, dass dem Teufel sein Anrecht auf die Menschen abgekauft (oder nach Anderen abgelistet) sey, sondern vielmehr, dass der Menschgewordene hier Etw^as, das grösser ist als Alles das nicht Gott ist, sich selbst, in einer Art, auf die Gott kein Anrecht hat, wie auf seinen Gehorsam, zum Opfer darbringt. Diese Selbstdar- bringung des Unschuldigen sühnt durch den unendlichen Werth, den das Leben desselben hat, die durch den Sündenfall zugezo- gene Schuld gegen Gott , und zeigt deshalb einen in allen Zügen nachw^eisbaren Contrast zum Sündenfall: was Lust verbrach, das

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büsst der Schmerz, den Raub an Gott sühnt die Schenkung an Ihn u. s. w. Dass diese Darbringung des eignen Lebens in der Form des leidenvollen Sterbens erfolgt, macht dann weiter den Erlöser zum Muster und Vorbild, dies ist aber nicht die Haupt- sache. Jene Darbringung ist nothwendig, nicht in dem Sinne als wenn die Freiwilligkeit aufgehoben wäre , denn nur diese , nur das Nichtverpflichtetseyn ist es, wodurch der Erlöser ein Anrecht auf Entgelt erlangt. Da ihm selbst, der was der Vater hat auch be- sitzt, nichts gegeben werden kann, so wird jener Entgelt, der Erlass, dem Menschengeschlecht zu Theil, rückwirkend den Ah- nen, vorwärtswirkend den Brüdern, die sich an ihn halten. Da- rin, dass die Erbgerechtigkeit die Erbsünde tilgt, kommt die Ge- rechtigkeit und Barmherzigkeit ganz gleich zu ihrem Rechte. Na- türlich kommt aber nur dem Menschen diese Erbgerechtigkeit zu, denn Mensch, nicht Engel, ist der Sohn Gottes geworden, und nur der Mensch stand unter einer Erbschuld (Cur Dens homo II, 11. 18. 19. 20. 21).

9. Nachdem so gezeigt worden war, dass und warum nur der Tod des Mensch gewordenen jene Genugthuung gewähren konnte, ohne die kein Mensch selig werden kann , bedarf es endlich noch eines Nachweises, dass die Art, wie die von C/.risto vollbrachte Versöhnung dem Einzelnen angeeignet wird, durchaus nicht ver- nunftwidrig ist. Es geschieht dies in der Abhandlung de concor- dia praescientiae praedestinatiouis et gratiae cum libero arbitrio, die er erst kurz vor seinem Tode beendigt hat, überzeugt, dass wenn Einer ihm die Zweifel so widerlegt hätte, wie er es dem Freunde thut, er sich zufrieden gegeben hätte (de conc. praesc. etc. quaest. 3, 14). Hinsichtlich des Voraus -Wissens und Bestim- mens wird dies urgirt , dass es für Gott kein Voraus und Nachher gebe, und man eigentlich nicht sagen dürfe Gott habe, ehe Etwas geschieht, es gewusst oder bestimmt, ganz besonders aber der Unterschied z\\ischen der neccssitas fjuae se(jiiifiir, nach welcher, wenn Etwas gewusst wird , freilich (zurück) zu schliessen ist, dass es seyn muss, und der necessitas fjiinc praccedit , welche der zwingende Gmnd zu einem Geschehen ist. Folgt schon wegen dieses Unterschiedes daraus, dass Gott mein Thun (voraus-) weiss, nicht meine That, sondern -viel mehr aus meiner That sein (Vo- raus-) "Wissen, so verschwindet alle Bedenklichkeit, wenn wir fest- halten, dass Gott diese meine That ganz kennt und darum auch weiss, dass sie aus freiem Antriebe erfolgen wird (ibid. Quaest. I, 4. Quaest. I, 7. 1). Eben so wenig wie mit der göttlichen Präscienz und Prädestination soll die menschliche Freiheit mit der

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Gnade Gottes in Widerspruch stehn. Schon darum nicht, weil die Freiheit des unschuldigen Menschen selbst ein Geschenk der göttlichen Gnade ist, dem gefallenen Menschen aber Taufe und Predigt die Freiheit, d. h. die Fähigkeit die gehörige Richtung des Willens festzuhalten, mittheilen. Aber auch mit der be- gleitenden und nachfolgenden Gnade streite die Freiheit nicht; nur Missverstand hat aus der Schrift herausgelesen, dass nur die Gnade oder dass nur der freie Wille dem Menschen die Gerech- tigkeit gebe, Xur hinsichtlich der kleinen Kinder, welche getauft werden, Messe sich das Erstere behaupten. Sonst ist es der freie Wille, durch welchen der Mensch im steten Kampfe gegen das Böse den Glauben übt, der auch eine verdienstliche Seite hat, und den Menschen dem Zustande näher bringt, der freilich hienieden unerreichbar ist, wo er gar nicht mehr wird fehlen können. Um diesen kämpfenden Glauben hervorzurufen, dazu bleiben auch wo Taufe oder Martyrium die Schuld tilgten, die Folgen der Sünden nach, so dass erst dann, wenn die bestimmte Zahl der Gläubigen voll ist, an die Stelle der Corruption die völlige Incorruptibilität tritt (ibid. Quaest. III, 3. 4. 6. 9).

§. 157. Wie oben (§. 153) der erste Urheber de^ scholastischen Phi- losophie mit dem genialen Schöpfer des Fränkischen Kaiserthums, so kann die Thätigkeit ihres zweiten Ahnherrn mit der besonne- nen Consequenz verglichen werden, mit der die Ottonen an dem römischen Reiche deutscher Nation arbeiten. Nicht geniale Ahn- dung, nicht mystische Anschauung, sondern das klar verständige Denken lässt ihn eine Theologie aufstellen, welche verständlich macht, was in Nicäa und Constantinopel, eine Christologie, wel- che beweist, was in Chalcedon festgestellt war, endlich eine An- thropologie, welche die von Avgvsün fixirten Dogmen dem gesun- den Menschenverstände, wenn nicht anders durch Milderung ihrer anstössigen Härten , zugänglich macht. Die Aussöhnung des Glau- bens mit dem Verstände des natürlichen Menschen, der Ansdm seine ganze wissenschaftliche Thätigkeit" gewidmet hat, lässt nach dem objectiven (materiellen) und subjectiven (formellen) Momente, das sowol der Glaube als der Verstand in sich enthält, vier Auf- gaben in sich unterscheiden, die man als die dogmatisch -syste- matische, psychologische, dialektische und metaphysische bezeich- nen kann, welche AnseJm alle und die er immer gleichzeitig im Auge hat. Erstlich muss der Inhalt des Glaubens , die fides (jnae creditnr, verständig geordnet und zu einem System verbunden werden, zweitens muss Vernunft darin nachgewiesen werden, dass

I. Jngendperiode. A. Schol. alsKel,- u. Vernunftl. Realismus u.Nomin. §. 158. 265

der Mensch sich glaubend verhält oder, was dasselbe lieisst, in der fules fjua cred'dur. Drittens muss der Verstand die for- melle Gewandtheit erhalten, die aus den verschiedensten Quellen stammenden Lehren, wenn es nöthig ist durch Distinctionen, zu vermitteln. Viertens endlich muss ihm die metaphysische Ueber- zeugung beigebracht werden , dass nicht die Welt der Dinge , son- dern das Uebersinnliche und Ideale allein Wahrheit habe. Bei Anselm ist das Denken so an die systematische Form gebunden, dass die chronologische Folge seiner Werke mit der vom System geforderten Reihe zusammenfällt , er kennt dabei die Seligkeit des Glaubens aus Erfahrung und hat gründlich über die Stufen nach- gedacht, die ihn nach unten zu von der sinnhcheu Wahrnehmung, nach oben hin vom dereinstigeu Schauen trennen; dabei ist er Dialektiker bis in seine Gebete hinein, und seine spitzfindigsten Argumentationen kleiden sich in die Form von Anreden an Gott; endlich aber ruht nicht nur seine Metaphysik , sondern seine ganze Theologie auf der Gewissheit, dass die Universalien wahrhafte Reahtät haben, d. h. dass die Ideen als die Urbilder den Dingen, als den blossen Abbildern, weit vorgehn.

§. 158. Aus dem Streite des Anselm gegen die tritheistischen Vor- stellungen des noscellinus von Compiegne geht hervor, was wir auch sonst wissen, dass dieser zu den Dialektikern gehörte, wel- che, wie schon früher u. A. Eric von Auxerre, in den Universa- lien blosse Worte, oder doch nur Abstractionen des Verstandes, sehen, die den Dingen nachgebildet werden, während Anselm au dem Piatonismus festhielt, den schon mehr als ein .Jahrhundert vor ihm llemiy'uts von Auxerre in seinen Commentareu zum Mur- cinnits Capelln , so wie später dessen Schüler Otto von Cluguy geltend gemacht hatten, und den man noch weiter zurück verfol- gen kann, indem Erigena , bei dem freilich, als dem Epoche ma- chenden, und darum Alles was die Periode bewegt in sich ber- genden, auch die ersten Keime der entgegengesetzten iVnsicht nachweisbar sind, eben so platonisirt. Dass nun die Kirche in diesem Streite nicht nur die dogmatische Ketzerei verurtheilte, sondern zugleich sich gegen die metaphysischen Principien erklärte, war nicht eine Verleugnung der Weisheit, die sie sonst (z. B. bei dem Streite des Augustinus und Pelagius hinsichtlich des Tradu- cianismus) gezeigt hatte, sondern ging aus dem ganz richtigen Gefühle hervor, dass wer den Dingen mehr Realität einräume als den Ideen, mehr dieser Welt anhänge als dem idealen Himmel- reiche. Darum ist es nicht ein Verranntseyn in die eignen An-

266 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

sichten, welche den Aiisclm solche Dialektik häretisch nennen lässt, sondern für jeden aufmerksamen Beobachter wird die Be- deutung, die Einer den Universalien einräumt, zum Maassstab seiner Stellung zur Kirche. Von dieser Wichtigkeit kommt es, dass in dieser Zeit die Namen der verschiedenen Eichtungen von den Prädicaten hergenommen werden , die jede derselben den Uni- versalien beilegt. Wer von dem Grundsatz ausgeht, wie Aiiselm, Ujiivejsalia sinif ante res, und demgemäss behauptet sie seyen selbst renliu , heisst ein reali.s ^ später ein Realist; wer dagegen, wie RosceUbi. meint, die Universalien seyen von den Dingen ab- strahirt, also jmst res, seyen blosse voces oder nomina , heisst darum ein rocalis oder nominalis , später ein Nominalist. Wie es kein Zufall ist , dass die Realisten die Kirchlicheren , so keiner, dass in dieser Zeit die Nominalisten die geistig Unbedeutenderen sind. In dieser Zeit; denn wo es sich darum handeln wird, die mittelalterliche, weltbekämpfende, Kirche zu untergraben, werden sich die Nominalisten als die Zeitverständigern , d. h. die grösse- ren Philosophen erweisen (s. weiterhin §. 217).

Vgl. Cousin in s. Ouvrages inedits d'Ahelard. Paris 1836 und s. Fragmens de Philosophie de moyen äge. Par. 1840. 50. Besonders: Prantl Gesch. der Logik im Abendlande. 2'' Bd. Leipz. 1861.

§. 159. Dass der Nominahsmus, consequent durchgeführt, zur Ver- götterung der Dinge führen müsse, war keine Verleumdung des Anselm , es liegt in der Natur der Sache. Was er nicht sah, ist, dass die äussersten Consequenzen des Realit?mus zum entgegen- gesetzten Extrem, zum Akosmismus oder Pantheismus, führen müssen. Anselm selbst geht nicht so weit. Eben so wenig, wie es scheint, sein Schüler Odon, Bischof von Cambray, der in seinem Liber de complexionibus und seinem Tractatus de re et ente den Nominalisten Baunberl von Lille angegriffen haben soll. Viel nä- her kommt dem Pantheismus der realistisch gesinnte lUldebcrt von Tours, sowol in seinen Poesien, als auch dem Tractatus theo- logicus, der ihm zugeschrieben wird. Noch mehr gilt das von dem Mann, der, wenigstens unter den uns bekannt Gewordenen, den Realismus am Weitesten getrieben hat, von Wilh elm , der im J, 1070 in Champeaux geboren, 1121 als Bischof von Chalons starb. Von Mnnegold von Lauterbach und Anselm von Laon in der Theologie, von RosreNin in der Dialektik unterrichtet, trat er in Paris , wo er , zuerst in der Domschule , dann in dem von ihm gegründeten Kloster von St. Victor, lehrte, gegen ihn auf. Hatte Roserltin nur dem Individuum Substanzialität zugeschrie-

I. Jugendperiode. A. Schol. als Rel.- u. Vernunftl. Realismus u. Nomin. §. 160. 267

ben, so behauptet dagegen Wilhehn, dass im Sokrates nur die Menschheit etwas Substanzielles , dagegen die Sokratität das bloss Accidentelle sey; und nicht nur wirklichen Gattungen räumt er diese Priorität ein, sondern jede durch Abstraction gewonnene Allgeraeinheit stellt er als ein universale ante res hin, und be- hauptet demgemäss, dass rütioiuditas und (ilbedo seyn würden, auch wenn es gar kein rationale oder album gäbe. Weil die in- dividuelle Verschiedenheit gar keine wesentliche ist, deswegen ur- girt er, dass das universale sich in allen Individuen essenlialiter, totaUler et simal befinde. Neben Wilhelm kann auch Bernhard von Chartres erwähnt werden, welcher bis in die Mitte des 12'*^° Jahrhunderts hinein, an Plato's Timäus anknüpfenden Realismus lehrte, der in seinem Megakosmus und Mikrokosmus entwickelt ist. Genauere Nachrichten über seine Lehre von den drei Princi- pien Gott, Seele und Materie verdanken wir Cousin, der über ihn berichtet hat. Später scheint Bernhard sich besonders auf das Studium der Alten geworfen , und nach einer eigenthümlichen Methode seine Schüler zum Studium der Grammatik und Rhetorik angeleitet zu haben.

§. 160. Bei diesem Gegensatz, wie ihn der extreme Realismus des Wilhehn und vielleicht auch des Bernhard auf der einen, des Roseellin und vielleicht auch des Raimbert auf der anderen Seite bilden , bleibt es nicht , sondern es zeigen sich frühe Yermittelungs- versuche, die man, weil einer derselben die Universalia coneeptus genannt hatte, dem oben angeführten Principe der Nomenclatur gemäss allesamt als Ansichten der eonrcptiKdes, später Concep- tualisten bezeichnet hat. Es liegt in der Natur der Sache, dass diese vermittelnden Lehren sich entweder dem einen oder dem andern Extreme näher stellen können. Dem Realismus scheinen sich die angenähert zu haben, welche als Vertheidiger der non- di/f'ereittia oder indiff'erenlia erwähnt werden, weil sie behauptet haben sollen, dass das wahre Seyn von den Differenzen von Gat- tung, Art und Individuum gar nicht berührt werde, indem ein und dasselbe als Individuum Plato, als Art Mensch, als Gattung Lebendiges sey. Wer der Urheber dieser Ansicht, darüber wird gestritten. Dieselben Stellen gleichzeitiger Schriftsteller werden von den Einen (z. B. Haureau) auf Adclard von Bath, den üeber- setzer des Eukhd aus dem Arabischen, dessen Schrift de eodem et diverso zwischen 1105 und 1117 verfasst seyn muss, von An- deren (z. B. //. nuicr) auf Walter von Mortagne, der 1174 als Bischof von Lyon starb, bezogen. Noch Andere (so Cousin) be-

268 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

ziehen sie auf eine spätere Lehre des Wilhelm von Champeaux und berufen sich dafür auf das Zeugniss AbiUards in der bist, calamit., was allerdings ihrer Behauptung ein grosses Gewicht gibt. Dagegen stellt sich offenbar dem Nominalismus näher der Verfasser der Schrift de generibus et speciebus, welche ihr erster Herausgeber Cousin für eine Jugendschrift Ahülanh , IL Bit f er für ein Werk des Josrehjn von Soissons hält, den Johann von Sa- lisbury als einen berühmten Conceptualisten erwähnt. Die Uni- versalien werden hier als Inbegriffe (concepfits , collect iones) ge- nommen, und demgemäss in directem Gegensatz zu dem „iotali- tcr-' des Wilhelm behauptet, dass nur ein Theil der Species homo (als Materie) mit der Socratitas (als Form) zu einer wirklichen Substanz , dem Sohrates, verbunden sey. Wichtiger als alle übri- gen Conceptualisten, am Meisten von beiden Einseitigkeiten ent- fernt, ist der grösste unter den französischen Scholastikern, Abä- liird. Er bringt eigentlich den Streit des Realismus und Nomi- nalismus zum Abschluss, so dass diese Streitfrage aufhört, das wichtigste philosophische Problem zu seyn.

§. 161. Abälard, Charles Rimusat Abelard. II "Voll. Paris 184.5.

1. Pierre de Pallct (Peirvs Pnlcdinus , bekannter unter dem Beinamen Ahaelardus) ist 1079 geboren, und hat zuerst unter lioscenin . der aus England vertrieben, ehe er Canonicus in BesauQon ward, im Städtchen Loches in Touraine lehrte, später in Paris unter Wilhelm von Champeaux die Dialektik studirt. Das Resultat war, dass die Formeln beider ihm als widersinnig er- schienen, und dass, als er, nachdem er selbst eine Zeit lang in Melun und Corbeil gelehrt hatte, nun zu Wilhelm zurückkehrte, um die Rhetorik bei ihm zu hören, er in einer öffentlichen Dis- putation denselben zu einer Milderung seines extremen Realismus brachte. Seitdem war nur noch von Abälard als dem grössten Dialektiker die Rede, und er selbst nannte sich von da ab Pcri- patedcns, was als Synonymon von Dialecticus galt. Durch seine Vorträge auf dem Berge St. Geneviere steigerte sich sein Ruhm noch mehr, freilich auch der Hass Wilhelms, welcher zuerst den h. Bernhard gegen ihn einnahm. Abälards Ansehn stieg noch, als er, von Ansei m von Laon in die Theologie eingeführt, auch in dieser als Lehrer auftrat. Der Liebeshandel mit der Heloise, seine Verheirathung mit ihr, die bekannte Katastrophe dieses Ver- hältnisses , entfernt ihn aus Paris und lässt ihn , überall von den- selben Gegnern angefeindet, zuerst im Kloster St. Denys als Mönch,

1. Jugendperiode. A. Schol. als Relig.- u. Vernunftl. Abälard. §. 161, 1. 2. 269

dann in Maisonville und später nahe bei Nogent sur Seine, in dem selbsterbauten Kloster zum Paraklet, als Lehrer wirken. Eine Zeit lang leitet er als Abt das Kloster St. Gildas de Ruits in der Bre- tagne, lehrt dann wieder in Paris, wird auf dem Concil zu Sens 1140 verdammt und endet, durch den Bischof Peter von Cluny mit seinen Gegnern versöhnt, sein geplagtes Leben am 21. April 1142 im Kloster St. Marcel bei Chalons. Die von Duchesne (Quer- celüiuis) nach, von Fr. Amholse gesammelten, Manuscripten ver- anstaltete Ausgabe seiner Werke (Paris 1616) ist nicht vollstän- dig. Marlene und Durand (Thesaurus novus anecdott.), Bern- hard Pczins (Thesaurus anecd. novissimus), Uheimcald (Anecd. ad bist, eccl, pertin. 1831. 35) und Cousin (Ouvrages inedits d'A- b61ard) haben wichtige Nachträge dazu gehefert. Der Letztere hat auch eine neue Gesammtausgabe der Werke Ahfilards gege- ben (Bd. L 1849. Bd. IL 1859). Mit Ausnahme der Dialektik fin- den sie sich alle im 178**"" Bande von Mignc's Patrol. curs. compl.

2. Die Logik, von der Abälard selbst sagt, sie habe das Unglück seines Lebens gemacht, war und blieb dennoch seine Göttin. Unverhohlen bekennt er seine Ignoranz in der Mathema- tik, so dass also (vgl. §. 147) sein Gebiet das trirlinn blieb, er das (juadrininn Anderen überliess. Die Logik führt ihren Namen vom Logos, d. h. vom Sohn Gottes (Ep. IV), und der Logiker, namentlich der, welcher die Dialektik treibt, viel mehr als der Grammatiker und Rhetoriker, ist der wahre Philosoph (Ouvr. ined. p. 453). Seine Dialektik (Ibid. p. 173—497) kommt daher vor Allem zur Sprache. Wie sie, von Cousin, aber leider nicht ganz vollständig, herausgegeben uns vorhegt, so hat sie in ihrem er- sten Theile, der die Redetheile (Partes) behandelt, sich commen- tirend an des Porplyrius Isagoge, so wie an Aristoteles' Katego- rien und Hermeneutik angeschlossen, also zuerst die anlepracdi- camenta behandelt, wozu dann die praedicainenta, endlich die postpraedicamcnta kommen. Die Lücken sind nur sehr schwer durch das zu ergänzen, was Renmsal über Abälards glossulis ad Porphyr, referirt. Prantl hat sich dieser Mühe unterzogen. Der zweite Theil gibt die Lehre vom kategorischen Schluss , der dritte commentirt die Topiken, der vierte behandelt den hypothetischen Schluss , der fünfte enthält die Theorie der Eintheilungen und De- finitionen (die vier letzten eommentiren die Bearbeitungen des Boe- thius, da Abälard weder die Analytiken noch die Topiken des Aristoteles kennt). Die Hochachtung, mit welcher Abälard in diesem Werke stets seines Lehrers (Wilhelms?) gedenkt, lässt auf eine frühe Abfassung desselben schliessen. Selbstständiger

270 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

erscheint Ahälard in den, zwar in einem theologischen Werke (der Theologia christiana) enthaltenen, aber rein dialektischen Unter- suchungen über Einheit und Verschiedenheit. In mindestens fün- ferlei Sinn kann Eines mit dem Anderen dasselbe (idem) oder von ihm verschieden (dirersvm) genannt werden. Es ist mit ihm we- sentlich (esseidialiler) identisch, w'cnn beide nur ein Wesen aus- machen , wie Lebendiges und Mensch in Sokrafes. In diesem Falle sind sie auch numerisch dasselbe. Dagegen kann zwar die essen- tielle Verschiedenheit mit der numerischen zusammenfallen, braucht es aber nicht; ein Beispiel des ersteren Falles geben zwei Häu- ser, des zweiten: ein Haus und seine Mauer. Als dritte Einheit und Verschiedenheit kommt zu jenen beiden die der Definition. Wo daraus, dass etwas Eines ist, auch folgt, dass es das Andere ist, sind beide der Definition nach dasselbe, so miirro und avsis, dagegen Solche, die ohne einander gedacht werden können, sind der Definition nach verschieden. Was der Definition nach dasselbe ist, ist es auch wesentlich, aber nicht umgekehrt. Numerisch kann es, braucht es aber nicht, dasselbe seyn, wie z. B. der Satz midier damnav'd mundum et eadem stünavit richtig ist, wenn en- dem nach der Definition, falsch wenn numerisch verstanden wird. Dasselbe hinsichtlich der Eigenschaft sind Solche, deren jedes an der Eigenschaft des anderen Theil nimmt; wie wenn Weisses hart wird. Verschiedenheit der Eigenschaft ist mit numerischer Ein- heit vereinbar, wie z. B. ein Wachsbild nicht alle Eigenschaften des Wachses, noch das Wachs des Bildes annimmt. Weiter wird von Selbigkeit und Verschiedenheit gesprochen in Bezug auf Aehn- lichkeit, d. h. bei Enthalten seyn in demselben Gattungsbegriff. Endlich kann noch an die Verschiedenheit des Inhalts erinnert werden, an welche wir denken, wenn wir den Wein im Fasse dem im Keller entgegenstellen; obgleich der Wein und der Raum, den der Wein einnimmt, nur einer ist. Diese Untersuchungen, obgleich besonders um der Trinitätslehre willen angestellt, werden für den Abülard wichtig für die Tagesfrage nach den Universalien. Diese Frage hat, weil er über den streitenden Parteien steht, für ihn lange nicht mehr die Bedeutung , wie für die Schule des WUlielm. Der Formel des letzteren ante res . eben so aber der des Roscel- lin post res, stellt er die seinige entgegen: Uniüersalia sunt in rebus. Er steht damit jenen beiden gerade so gegenüber, wie die ächte Peripatetische Lehre der ihr vorausgehenden Platoni- schen und der ihr nachfolgenden Epikureischen. Was er an Wil- helm besonders tadelt, ist, dass er die inimanitas tota im Sokra- tes seyn lasse, was zu Absurditäten führe, dass er nicht aner-

I. Jugendperiode. A. Schol. als Eelig. u. Veruunftl. Abälard. §. 161, 2. 3 271

kenne dass sie indlvidualiter in dem einzelnen Menschen sich finde; hieraus folge , dass der individuelle Unterschied kein accidenteller, sondern ein wesentlicher sey. FreiHch Roscellins Ansicht, dass nur das Einzelne wesentlich, sey absurd. Die letzte Aeusserung ist eine schlagende Widerlegung aller der, die Abälard zum No- minahsteu machen. Er war es nur mehr als Will/elm. Darum freilich den Strengkirchlichen verdächtig. Auch aus dem oft an- geführten Worte des Joliannes von Sahsbury, na.ch Abälard seyen die Universalien scrmones^ lässt sich sein Xominalismus nicht fol- gern. Dass er in ihnen nicht nur eine einfache dlctin sieht, son- dern sermo , d. h. Urtheil, hat seinen Grund darin, dass sie ihm natürliche Prädicate sind .Ad (jiiod naUim est praedlcariJ'

3. Während in diesen Untersuchungen das theologische Ele- ment ganz zurücktritt , hat in einem anderen Werke Abälard sich eine ganz andere Aufgabe gestellt: was die bedeutendsten Kir- chenlehrer behauptet haben, soll als ein verständig geordnetes Ganzes dargestellt werden. Dies ist die eigentliche Bedeutung seines Sic et non, zuerst bei Cousin erschienen, dann viel correcter von Henke und Lindenhol/l 1851 herausgegeben, deren Text bei Miyne abgedruckt ist , eines W^erkes, das man viel richtiger beurtheilt , wenn man es den Vorläufer und das Vorbild aller späteren Sentenzensammluugen und Summen nennt, als wenn man, durch den blossen Titel verführt, es mit den Werken der Skeptiker vergleicht. Erstlich, ein möglich genaues, dabei syste- matisch geordnetes Inventarium dessen zu geben , was bisher in- nerhalb der Kirche gelehrt worden war , dann wo Entgegengesetz- tes behauptet worden war, es sich gegenüber zu stellen, um zum Aufsuchen des Vermittelungspunktes zu reizen , dadurch aber sicher zu stellen gegen das allzuschnelle Fertigseyn und das träge sich Beruhigen bei irgend einer kirchlichen Autorität, das mögen die leitenden Gesichtspunkte gewesen seyn, denen Abälard beim Ab- fassen dieses W^erkes folgte , das , mehr benutzt als genannt , Ver- anlassung zu einer Menge von Nachahmungen gegeben hat, und dennoch fnihe in Vergessenheit sank, während sie dauerten und Ruhm erwarben. Bei dieser Trennung aber der formell dialekti- schen Untersuchungen und des dogmatischen Materials lässt es Abälard nicht bewenden; beide sind ihm nur Vorarbeiten zu sei- ner Hauptaufgabe , deren Lösung er in seiner Introductio in theo- logiam, an welche sich wie eine Ergänzung die Epitome theolo- giae christianae anschhesst, ausserdem aber in seiner Theologia christiana versucht hat, von denen nui' die erste Schrift sich in den gesammelten W^erken findet, wähi'eud die zweite im J. 1823

272 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

von Rheinwnld herausgegeben wurde, die dritte in Marlene und Durnnd's Thesaurus zu finden ist. (Miyne's Patrol. curs. compl. enthält sie alle.) Diese Aufgabe ist: die Uebereinstimmung des Dogma's mit der Vernunft nachzuweisen, daher nicht sowol die Lehre aufzustellen, als gegen die Zweifel zu vertheidigen , da die Ketzer nicht durch Gewalt , sondern nur durch Vernunft zu wider- legen sind. Von der Fähigkeit der letzteren dazu war er so über- zeugt, dass die Gegner ihm vorwarfen, er maasse sich eine ganz erschöpfende Erkeniitniss Gottes, an. Auch darin weicht er von den sonst gebräuchlichen Formeln ab, dass er das Wissen weni- ger als eine Frucht des Glaubens , denn als kritisches Schutzmittel gegen den blinden Glauben darstellt, ohne darum jenes Erstere zu leugnen. Seine Sicherheit gründet sich auf seine Hochachtung vor der Macht der Vernunft. Der Gebrauch derselben oder die Philosophie ist es, durch welche die Heiden den Vorzug der Ju- den, das Gesetz und die Propheten zu haben, nach Abälard aus- gleichen. Er behandelt die Ersteren mit entschiedener Vorliebe, tadelt den fleischlichen Sinn und die sinnlichen Hoffnungen der Juden, stellt dagegen den Sohrdtcs den Märtyrern gleich, lässt den Pldto die Trinität , die Siln/lle und den Virgif die Incarnation verkündigen, und spricht wiederholt die Ansicht aus, dass der Besitz der Wahrheit und ihr strenges apostolisches Leben, von dem er nicht müde wird, Beispiele anzuführen, den heidnischen Philosophen die Seligkeit sichere, während die der Katechumenen und ungetauften Christenkinder ihm sehr zweifelhaft scheint. Weil der Sohn Gottes die Weisheit ist, deswegen hört er überall in der Stimme der Weisheit den Sohn Gottes, und die Weisheit im Munde PlnUrs eröffnet ihm das Verständniss des christlichen Glaubens. Der letztere betrifft nun theils das Wesen Gottes, theils seine Gnadenerweisungen, und darum sind beide nach einander zu be- trachten.

4. Die Summe des christlichen Glaubens ist die Lehre von der Trinität. Da wird nun zuerst die kirchliche Lehre, dann die Zweifel dagegen, endlich die Lösung derselben angegeben, Ahä- lard legt einen starken Ton auf die von den älteren Kirchenleh- rern behauptete Einfachheit der göttlichen Substanz, vermöge der Nichts in Gott sey , was nicht Gott ist , und eben darum die Macht, Weisheit und Güte nicht Formen oder Bestimmungen seines We- sens, sondern dieses sein Wesen selbst sind. Eben darum soll auch von Gott nicht im eigentlichen Sinne gesagt werden dürfen, dass er Substanz sey, weil ihm da Accidenzien zukommen würden. Diese Leugnung des Unterschieds zwischen Wesen und Eigenschaft

I. Jugendperiode. A. Schol. als Relig.- u. Vernunftlehre. Abälard. §. 161, 4. 273

in Gott, in Folge der behauptet werden muss, dass die Welt als Werk der göttlichen Güte Folge seines Wesens sey, ist der Grund, warum in neuerer Zeit Abälard des Pantheismus geziehen wird. {Fesslcr hat ganz geschickt Parallelstellen zwischen seiner christ- lichen Theologie und Spinoza's Ethik zusammengestellt.) Aus die- ser absoluten Einheit des göttlichen Wesens suchen nun die Geg- ner des christlichen Glaubens die Unmöglichkeit einer Dreiheit von Personen abzuleiten und Abülard führt drei und zwanzig Gründe gegen die Dreieinigkeit an, die er zu widerlegen sucht. Er iden- tificirt dabei immer den Unterschied der drei Personen mit dem der Macht, Weisheit und Güte, zwischen welchen ein Unterschied der Definition Statt findet, und tritt der Behauptung, dass eine Dreiheit der Personen mit der Einheit und Untheilbarkeit des gött- lichen Wesens unvereinbar sey, theils damit entgegen, dass es des Sohrafes Einheit keinen Eintrag thue, wenn er erste, zweite und dritte Person im grammatischen Sinne, zugleich sey, theils aber und besonders damit, dass der Unterschied der Definition nicht nothwendig ein essentieller und numerischer sey. Alle, im dritten Buche angeführten, Bedenken sucht nun das vierte Buch der christ- lichen Theologie, zwar nicht in derselben Reihenfolge, aber doch ziemlich vollständig zu widerlegen. Eben so auch die, welche ge- gen seine Identification des Vaters mit der Macht u. s. w. anfüh- ren, dass doch der Vater auch weise und gütig sey, was Abälard gern zugibt, ohne damit aufzugeben, dass nur nach seiner Theorie begreiflich sey, warum die Schöpfung dem Vater d. h. der Macht, die Incarnation, dieser Act der Erleuchtung, dem Sohne, der als die Weisheit Logos oder Vernunft heisst , eigne , so wie wanim von dem Geiste, d. h. der Güte Gottes, die Jungfrau den Heiland und der Mensch die Vergebung der Sünden empfange. Dabei ist die Cooperation der anderen Personen gar nicht ausgeschlossen. Die Einwände gegen die Dreieinigkeitslehre erscheinen ihm samt und sonders so schwach, sie selbst so vernunftgemäss, dass er auf den Einwurf, warum denn Heiden und Juden, denen doch die Ver- nunft nicht abzusprechen, die Dreieinigkeit nicht lehrten, erwidert: sie thuen es auch wirklich. Namentlich bei den Piatonikern «vlll er diese Lehre ganz ausgebildet finden. Ueberhaupt ist ihm Plato der grösste unter allen, Cicero unter allen römischen, Philosophen. Das fünfte Buch beschränkt sich nicht mehr auf den, in den frü- hern oft ausgesprocheneu, Zweck negativ, durch Widerlegung der Zweifel, die Einheit und Dreiheit Gottes zu beweisan, sondern geht zu positiver Beweisführung über. Dass Gott ist, wird aus der Ordnung der Welt, dass er Einer, aus dieser und aus dem Begriffe

Krdmaan, Gesch. d. Fhil. I. lu

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des summum bonum gefolgert. Dann wird zu der Dreiheit der Personen übergegangen, hier aber nur vom Vater, der Macht, ge- handelt, indem die Darstellung, wie sie uns vorliegt, ziemlich plötz- lich abbricht. Mit Nachdruck wird behauptet, dass es der All- macht Gottes keinen Abbruch thue, dass Gott Vieles, z. B. gehen, sündigen u. s. w. nicht, ja dass er nicht mehr und nicht Anderes thun kann, als er wirklich thut ; Sätze, die wieder an das erinnern, was man Ahälards Spinozismus genannt hat.

5. Die Lehre von der Allmacht Gottes, die in der Introductio ad theologiam noch gründlicher erörtert ist als in der theol. ehr., bildet dann weiter den Uebergang zu seiner Schöpfungslehre, bei der er zu vereinigen sucht, dass Gott unveränderlich und also ewig schaffe, und dennoch die Welt zeitlich geschaffen sey. In seinem historisch - moralisch - mystischen Commentar zum Sechstagewerk, den er für die Heloise geschrieben hat {Marlene & Durand 1. c. p. 1361 1416. Migne's Patrol. 1. c. p. 731 783), ist wiederholt ausgesprochen, dass unter Natur nur die, in der vollbrachten Schöp- fung herrschenden und sie erhaltenden Gesetze zu verstehen seyen, anstatt welcher im Schöpfungsacte der schaffende Wille des All- mächtigen wirkte. Es ist nicht mit Unrecht bemerkt worden, dass sowol dort, wo das Verhältniss zwischen Gott und Welt, als auch da, wo das Verhältniss des Göttlichen und Menschlichen in Christo zur Sprache kommt, Abülards Furcht vor aller mystischen Imma- nenz, seiner Lehre zwar grosse Klarheit, aber auch jenen rationa- listischen Charakter gibt, welcher so Manchen, vor Allen den my- stisch gesinnten Bernhard von Clairimnx an ihm empörte.

6. Hatte Abülard in seiner Dialektik nur von dem logischen, in seinem Sic et non nur von dem systematischen, in seiner Ein- leitung und Christlichen Theologie vom speculativ - theologischen Interesse sich leiten lassen, so hat er endlich, dass die subjective Frömmigkeit ihm nicht gleichgültig ist, nicht nur in seinem Leben gezeigt , wo sie die Bewunderung des Petrus Vener abilis von Cluny hervorrief, sondern ihrer Rechtfertigung vor der Vernunft ist ein grosser Theil seiner schriftstellerischen Wirksamkeit gewidmet. Die Seligkeit des Glaubens im Gegensatz zur Werkheiligkeit zu prei- sen, war eins seiner Hauptgeschäfte, nicht nur in seineu Predig- ten, sondern auch in seinen wissenschaftlichen Untersuchungen. Dass er so geneigt ist, den Griechen einen Vorzug vor den Juden einzuräumen, stützt sich grossentheils darauf, dass der gesetzliche Sinn der letzteren der Bekehrung grössere Schwierigkeiten entge- genstelle. Vor Allem aber tritt dies Moment hervor in seiner Ethik. Es ist kein Zufall, wenn der Titel, unter welchem Abülard seine

I. Jugendperiode. A. Schol. als Relig.- u. Vernunftlehre. Abälard. §. 161, 6. 275

ethischen Lehren entwickelt: Scito te ipsum (zuerst in Pczii Thes. noviss. III p. 617; bei M/yne 1. c. p. 633 676) in der Geschichte der Ethik öfter dort hervortritt, wo eine sehr subjectivistische Lehre aufgestellt wird. Abälard ist eigentlich der Erste, der eine Moral im modernen Sinne des Worts aufgestellt hat, indem er das sittliche Subject nicht als Glied eines (weltlichen oder Gottes-) Staates, sondern als Einzelwesen betrachtet, und nicht sowol in dem Ganzen, dem der Einzelne angehört, als in ihm .selbst die Norm des Handelns aufsucht. Daher das Gewicht, das er auf die eigne Einwilligung legt, um den Begriff des peccatinn zu fixiren, darum auf der anderen Seite die Behauptung , dass die Vollendung desselben zur Verdammniss nichts beitrage, sondern diese nur auf den covsotsus und die Absicht sich stütze, darum endlich, was den Inhalt der Pflicht betrifft, der Nachdruck, mit dem die Ueber- eiustimmung mit der eignen Ueberzeugung und dem Gewissen für die Hauptsache erklärt wird. Eben deswegen ist auch die Erb- sünde zwar ein viüum, aber kein eigentliches peccatum, und Abu' lard betont in der Einwilligung zum Bösen so sehr die Freiheit, dass er die Möglichkeit statuirt. Einer könne ganz ohne peccnta durchs Leben hindurchgehn. Die Vergebung der Sünde ist eben darum ein Einflössen reuiger Gesinnung, die Sünde gegen den h. Geist ist die völlige Unfähigkeit des Bereuens, welche zusammen- fällt mit dem Handeln gegen das Gewissen und der Verzweiflung an Gottes Gnade, und keine Entschuldigung hat. Gerade wie in diesem grösseren Werke , so hat Abälard auch in dem zuerst von Cousin herausgegebenen Gedichte an seinen Sohn Asirahibuts (bei Migvc 1. c. p. 1759) die Ueberzeugungstreue als das alleinige Mo- ralprincip entwickelt. Wenn er daher oft als der Rationalist un- ter den Scholastikern bezeichnet wird, so verdient er dies nicht nur wegen seiner, trotz aller Polemik gegen den Sabellianismus sich diesem annähernden, Trinitätslehre, und wegen seiner kriti- schen Versuche, sondern eben auch wegen seiner Ethik, die wirk- lich in dem Hauptpunkt mit manchem moderneu Rationalisten ganz übereinstimmt. Dass alle die, in welchen der kirchliche Sinn sehr mächtig war, dem Abälard abhold waren, hat neben der oben bemerkten Hinneigung zum Nominalismus, oder vielmehr vom ex- tremen Realismus ab, in diesem seinem rationalistischen Zuge sei- nen Grund.

§. 162. Der Conflict Abälards, dieser Incarnation gerade der franzö- sischen Scholastik mit ihrer Schärfe und Eleganz, mit der Geist- lichkeit seines Vaterlandes lässt daselbst ein weit verbreitetes Miss-

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276 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

trauen gegen die Philosophie entstehn. Die Folgen desselben müs- sen auch solche tragen, die mit Abäluni in gar keinem Zusam- menhange stehn. So Willtclm von Conches (1080 1154). Ein Schüler des Bernlaird von Chartres, hat er durch seine Jugend- schriften, de Philosophia, so wie in seinen Glossen zum Platoni- schen Timäus, in denen er einen platonisirenden Atomismus vor- trägt, Anklagen hervorgerufen, vor denen er sich nur durch Wi- derruf, den er noch später in seinem Dragmaticon philosophiae (gedr. 1583 in Strasshurg u. d, T. Dialogus de substantiis physicis confectus a Wilhelmo Aneponymo philosopho . . . industria Guilielmi Grataroli) wiederholt, Ruhe verschaffen konnte. (Ueber seine Schrif- ten gibt Uanredu in s. Singularites historiques et litöraires, Paris 1861, genaue Nachricht.) Später hat seine Lehrthätigkeit sich besonders auf die Grammatik und die Erklärung der Alten be- schränkt. Dieses Misstrauen der Kirche gegen die Scholastik ist dann ferner der Grund, warum die letztere, indem ihr der näh- rende Boden entzogen wird, die Kirchlichkeit, anfängt ihrer Auf- lösung entgegenzugehn. Ihr Absterben ist im eigentlichen Sinne eine Auflösung, indem nach Abüluvd die Elemente, welche die Scholastik in sich enthält, und die in Anselm ganz Eins gewesen waren, in Abälard sich zu sondern begannen, jetzt völlig auseiii- andergehn. War Abälard bald blosser Logiker, wie in seinen Com- mentaren zum Boetliius, bald reiner Metaphysiker , wie in seinen ontologischen Streitigkeiten mit Willielm, bald nur systematischer Ordner der kirchlichen Tradition, wie in seinem Sic et non, bald endlich nur Lobpreiser der subjectiven Frömmigkeit, wie in seinen Predigten und seiner Ethik, so setzt ihn doch sein speculatives Talent in Stand, diese verschiedenen Momente in sich zu vereini- gen, ähnlich wie früher in Sokvalcs die allerverschiedensten Rich- tungen gebunden waren. Wer eine solche Persönlichkeit nicht zu f.issen vermag, muss an ihr irre werden. Sohraies erscheint als der Wunderliche, Abälard wird von den Freunden Bernhards für einen Unredlichen gehalten. Trotz dem zeigt seine Persönlichkeit eine solche Gewalt, dass angezogen oder abgestossen alle Zeitge- nossen auf Abälard Rücksicht nehmen, und eben darum in Schüler oder mindestens Freunde, und Gegner desselben zerfallen. Auch die Ersteren aber vermögen nicht den ganzen Abälard, sondern, wie früher (§. QQ. 67) die kleineren Sokratischen Schulen, nur eine oder die andere Seite des Meisters zu reproduciren, und wieder die Letzteren können, indem sie nur eine oder die andere Seite des Mannes bekämpfen, es nicht vermeiden, in Vielem ihm beizustim- men und von ihm zu lernen. Die logische und metaphysische Ar-

I. Jugendperiode. B. Scholastik als blosse Vernunftlehre. Gilbert. §. 163, 1. 277

beit Übernimmt Abälards Geistesverwandter GUhcrt mit einem sol- chen Erfolg, dass dagegen seine theologischen Leistungen bald ver- gessen werden. Dagegen wird von einem der heftigsten Gegner Abülnrds, Hugo, die materielle und formelle Seite des Glaubens so sehr zum Hauptobjecte gemacht, dass er nahe an Verachtung der Dialektik heranstreift. Was gebunden gewesen war, trennt sich und neben einander erscheinen die Versuche, die Scholastik in blosse Vernunftlehre oder wieder in blosse Religionslehre zu verwandeln. Zu dem Standpunkte des Eriffe/m^ bei dem beide in einer unter- schiedslosen Einheit verschmolzen waren, stehn beide Richtungen in ganz gleich negativem Verhältniss.

B.

Die Scholastik als blosse Yerniinfticbre.

§. 163. 1. Gilbert de in Porree (Pcrretnnvs), in Poitiers geboren und durch Bernlnrd von Clmrlres gebildet, lehrte zuerst in Char- tres, dann in Paris, endlich in Poitiers, an welchem Orte er 1142 zum Bischof ernannt wurde. Als Dialektiker berühmt, darum Pc- ripateticvs genannt, eben darum aber dem Bernhard ron C/air- vaiix und dem Papste verdächtig geworden, musste er sich auf zwei Concilien vertheidigen , war aber fügsamer und darum glück- licher als sein Geistesgenosse AbüUtrd, und ist, nicht weiter an- gefochten, im Jahre 1154 gestorben. Von seinen Schriften ist be- sonders die de sex principiis berühmt geworden, eine, nur wenige Blätter umfassende, Arbeit, die sich in manchen alten Uebersetzun- gen des Aristotelischen Organon findet, u. A. in dem Venet. 1562 apud Junctos erschienenen p. 62 67. Zu dem Organon gehört sie auch, weil sie in der Absicht verfasst wurde, zu den Erörte- rungen ü1)er die vier ersten Kategorien, die Aristoteles selbst ge- geben hatte (s. §. 86, 6), eben so erschöpfende über die sechs übrigen zu fügen, was auch den Titel des Werks erklärt. Dieser ist indess doch nicht ganz genau, da ausser den sechs Aristoteli- schen Kategorien im ersten Capitel von der Form , im letzten wie- der vom Annehmen der Gradunterschiede ausfühdich gehandelt wird, üebrigens finden sich in den acht Capiteln dieses Schrift- chens vielfache Verweisungen^ auf andere Commentare des Verfas- sers zum Aristoteles, und nur weil diese filihe verloren gingen, mag besonders von den sex principiis die Rede gewesen seyn. Gilbert ist der Erste, von dem man nachweisen kann, dass er ausser den bisher bekannten Stücken des Aristotelischen Organon auch die Analytiken kennt. In sofern hatte man Recht, ihn mehr als An-

278 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

dere einen Peripatetiker zu nennen. Freilich macht er wenig Ge- brauch von diesem Zuwachs an Quellen, und operirt mit der tra- ditionellen Schullogik, wie sie Abälard und seine übrigen Zeitge- nossen allein kannten (s. §. 151). Seine, oft rein lexicalischen, Untersuchungen über die verschiedenen Bedeutungen von vhi, ha- heie u. s. w. sind im Mittelalter als sehr wichtige Nachträge zu Aristolcles angesehn worden. Uns erscheinen sie ziemlich unbe- deutend.

2. Ausser dieser Schrift hat sich ein Commentar Gilhcrls zu des (Pseudo-) BdiUlins Schriften de trinitate und de duabus natu- ris in Christo erhalten. (Beide in der Basler Ausgabe des Boe- Ihlns vom J. 1570.J Für die Metaphysik des Gilbert ist der er- stere, für seine Theologie der zweite der wichtigere. Dort nun wird aus dem Satze, dass das Seyn die Priorität habe vor dem, was ist, gefolgert, dass die Voraussetzung von Allem dasjenige Seyn ist, das, weil es nicht ein am Seyn nur Theilhaben, ganz einfach oder, wie er es nennt, abstract ist. Dieses ganz reine Seyn ist Gott, von dem eben deshalb nicht die Gottheit unterschieden werden darf wie von dem Menschen die Menschheit, an der er Theil hat. Nennt man Substanz den Träger von Accidenzien, so ist Gott nicht Substanz. Er ist es.sentla noii (i/ir/irid Wie kein Unterschied zwischen Dcirs und diriniins, so existirt auch keiner zwischen ihm und irgend einer seiner Eigenschaften, er ist durch- aus nicht als Vereinigung von Mannigfaltigem zu denken, nicht als etwas Concretes. Darum kann auch unser Denken an ihm nichts zusammenfassen und er ist nicht vomprehtnsibUis . sondern nur inteUUjibilis. Von diesem ganz einfachen Seyn sind nun we- sentlich verschieden die Substanzen oder Dinge, die als Träger von Accidenzien eine Zweiheit in sich haben, die ihnen durch die Ma- terie kommt. Unter dieser ist nicht Körperlichkeit zu verstehn, obgleich sie das Princip der Körperlichkeit d. h. der Scheinexistenz ist. Die Materie ist als ein negatives Princip anzusehu, als das entgegengesetzte Extrem zu dem blossen oder reinen Seyn.

3. Zwischen dem absoluten Seyn und den Substanzen stehen in der Mitte die Ideen {ei'dr]) oder Formen, die Urbilder, wonach Alles geschaffen ist, und die selbst ihren Grund in dem Seyn, als der reinen Form, haben. Da ihnen keine Accidenzien zukommen, so kann nicht gesagt werden, dass sie si'bslnnt oder Substanzen sind, da sie aber doch subsislunl . so werden sie subsislenliae ge- nannt. Weder dem Sinne noch der Einbildungskraft, sondern nur dem Verstände zugänglich, sind sie pprpefii<)t\. während Gott ne- terniis, die Dinge iernporalcs sind. Zu ihnen werden al)er nicht

I. Jugendperiode. B. Scliolastik als blosse Vernunftlehre. Gilbert. §. 163, 4. 279

nur Gattungen und Arten , sondern alle Abstracte (z. B. albedo) gerechnet. Indem diese Formen sich materialisiren , werden sie formae nnürne oder, da das materiell Existirende Substanz ge^ wesen war, formae svhstiinlialcs. Als diese sind sie erst eigent- liche niürersnUa , die also als solche in rc existiren. (Ganz wie AhülnrrJ.) Damit aber streitet gar nicht, dass Gilberf, in Ueber- einstimmung mit seinem Lehrer Bernhard und mit Willielm, den Formen abgesehn von ihrer Materialisirung und vor derselben in der übersinnlichen Welt Wirklichkeit zuschreil)t. In dieser dop- pelten Wirklichkeit werden sie auch durch die Ausdräcke exempfa und exemplaria unterschieden. Die zum Pantheismus neigende Formel Wilhelms, dass die individuelle Verschiedenheit bloss ac- cidentell sey, verwirft Gilbert; die Accidentien machen nach ihm nicht die individuelle Verschiedenheit, sondern zeigen sie nur {iwn faeinnt sed produuV). Die Subsistenzen nämlich oder Formen sind das eigenthche Wesen der Dinge, das zunächst gar kein Verhält- niss zu Accidenzien hat; indem aber eine Form in einer Substanz existirt, tritt sie in ein mittelbares Verhältniss zu deren Acciden- zien, die nun der Substanz insimf, der Form ads/inf. Vermöge dieses mittelbaren Verhältnisses schliesst die Form alle Acciden- zien aus, die ihr widersprechen, lässt nur zu, die ihr conform, und kann nun aus ihnen auf sie zurückgeschlossen werden.

4. Der Unterschied, den Gilbert mit den Piatonikern zwischen Ewigem, Zeitlichem und Sempiternem macht, lässt ihn, eben so wie sie und Aristoteles, drei Hauptwissenschaften unterscheiden: Theologie, Physik, Mathematik, welchen die drei Weisen des Er- kennens: intellectus, ratio, disciplinalis specvlatio, entsprechen, und deren jede ihre eignen Grundsätze haben soll. Indem dabei namentlich die Theologie von den andern sehr abgesondert wird, da auf Gott weder die Kategorien passen, noch für seine Erkennt- niss die Sprache ausreichen soll , ist eigentlich schon der später so berühmt gewordene Satz vorbereitet, dass Etwas in der Theo- logie wahr sein könne, was in der Philosophie falsch ist, d. h. man nähert sich der Trennung beider. Von den Dogmen scheint den Gilbert, wie Abülard, besonders die Triuität beschäftigt, er sie auch ähnlich wie dieser gefasst zu ha])en. Die wiederholte Be- hauptung: die Sprache reiche nicht aus, alle Ausdrücke, wie Na- tur, Person u. s. w., seyeii in einem andern als dem gewöhnlichen Sinne zu nehmen, ist genau genommen ein Isoliren der Theologie, bei dem sie aufhört Wissenschaft zu seyn. Dies war, wie Gilberf durch die That beweist, für ihn besonders die Dialektik, und dar- aus ist wohl auch die Bereitwilligkeit zu erklären, mit der er seine,

280 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

ketzerisch befundenen, Theologumena zurücknimmt: den Unter- schied zwischen Substanzen und Subsistenzen hätte er vielleicht zäher festgehalten. Neben der Dialektik war es wohl die er- bauliche Exegese , mit der . er sich viel beschäftigt hat. Wenig- stens wird sein Commentar zum Hohen Liede von Bonaventura öfter citirt.

§• 1C4. Es geschah schwerlich ohne den Einfluss der dialektischen Un- tersuchungen Gilhrrls, und gewiss durch die neue Anregung, wel- che durch das Wiederbekanntwerden der wichtigsten analytischen Schriften des Aristoteles gegeben ward, dass sich eine Richtung in der Philosophie ausbildete, die Johnnies von Saiishiiri/ (s. §. 175) in seinem Metalogicus durchhechelt, die nur für logische Spitzfin- digkeiten Sinn hatte und bei der damals anerkannten Zusammen- gehörigkeit der drei ,.sermoemates setentiac'' endlich in blossen Wortspielereien sich gefiel, die einem Eidlnjdemiis und Dionnso- doriis Ehre gemacht hätten, und in Folge der sich eine Verach- tung der Logik als leerer Schuliänkereien auszubreiten anfing, die diese ,./>"»•/ jtU/osopW^, wie sich die Logiker nannten, mit einer gleichen Verachtung gegen alles reale Wissen scheinen erwidert zu haben. An sich ohne wissenschaftlichen Werth, haben diese Er- scheinungen doch diese Bedeutung, dass sie zeigen, wie eines der Momente, welche der Scholastik wesentlich sind, sich in dieser Zeit von den andern frei, und allein geltend zu machen sucht. War aber so, durch Gilbert und die jurri plrUosopf/i^ das Organon aus einer Autorität neben der h. Schrift und den Vätern, zu einer gemacht worden, die, als die einzige, jene verdrängt und verges- sen macht, so ist das Hervortreten der entgegengesetzten Einsei- tigkeit erklärlich. Die Dialektik wird zur Nebensache, die Lehre des Glaubens zur Hauptsache werden. Zu Abälard, der Dialek- tiker und Theolog gleich sehr gewesen war, muss, wer nur das letztere ist auf Kosten des ersteren, eine doppelte Stellung ein- nehmen. Darum ist es kein Wunder, wenn er so viele Dogmen ganz wie Abülard behandelt und doch kaum anders als mit Bit- terkeit von ihm spricht. Die Aehnlichkeit findet Statt mit dem Verfasser der Christlichen Theologie, der Widerwille gegen den, der die Logik seine Göttin nannte. Der Mann, der nicht nach dem Namen des Periptttctiens trachtet, den aber seine Anhänger einen Theologen gleich Aiiynstiii genannt haben, der dem französi- schen Scharfsinn AhültinJs. welcher sich nur zu leicht in bloss formellen Untersuchungen gefällt, den inhaltsvollen Tiefsiun des deutschen Geistes entgegenstellt, ist llnyo.

I. Jugendperiode. C. Scholastik als blosse Relig.lehre. Hugo. §. 165, 1. 2. 281

c.

Die Scholastik als blosse Religionslebre.

§. 165. Hugo. Alb. Lübner Hugo von St. Victor und die theologischen Richtungen seiner Zeit. Leipz. 1832 B. Uanreav. Hugues de Saint - Victor. Nouvel examen de l'edition de ses Oeuvres. Paris 1850.

1. Hvgo Graf von Blankenburg ist auf seinem väterlichen Schloss am Harz im J. 1096 geboren und war schon auf deutschen Schiden gründlich gebildet, als er in seinem 18'*" Jahr in das von Willielin roii Clianipenmv gegründete Augustinerkloster St. Victor kam, nach dem er gewöhnlich genannt wird. Er verliess es nicht wieder, und ist daselbst im J. 1141 gestorben. Seine Werke sind nach seinem Tode gesammelt und öfter herausgegeben, nicht ohne dass sich ünächtes eingeschlichen hätte. Die Pariser Aus- gabe vom J, 1526 ist die erste. Die Venetianer Ausgabe von 1588 in 3 Foliobänden kommt häufiger vor. In der Patrologischen Samm- lung von Mi(/ifc sind lhi<jo\^ Werke in den Bänden 175 177 nach der Ausgabe von Ronen 1648 Fol. gedruckt. Mit welcher Sorg- losigkeit, hat Ihniräiu gezeigt. Nur der erste Band und der zweite bis p. 1017 enthält die ächten, der Rest des zweiten und der ganze dritte Band die untergeschobenen Werke, zum Theil mit Angabe der wirklichen Verfasser.

2. Was den Iliign vor den meisten seiner Zeitgenossen aus- zeichnet, ist, dass die verschiedensten theologischen Richtungen auf ihn Einfluss gewonnen haben, und er so in be\mnderuswerther Allseitigkeit eine nicht geringere Begeisterung für die h. Schrift zeigt als die, welche in jener Zeit die biblischen Theologen genannt werden, zugleich aber von Hochachtung durchdrungen ist für die gelehrte Exegese und die traditionell gewordene dreifache (histo- rische, allegorische und anagogische oder tropologische) Ausle- gungsweise. Er kennt die Alten gründlicher als die meisten sei- ner Zeitgenossen und liebt sie , aber er weiss zugleich , viel mehr als Ahühtrd .^ den specifischen Unterschied zwischen heidnischer und christlicher Wissenschaft festzuhalten, und urgirt, dass alle weltlicbe Wissenschaft nur Yorbereitung zur Theologie sey. Als solche wird sie von ihm in den drei ersten Büchern seiner Eradi- tio didascalica (bei Migve II, 739 838), auch Didascalos und Didascalion genannt, in encyclopädischer Uebersicht der Einleitung in die Bibel und Kirchengeschichte vorausgeschickt, welche den Inhalt der vier letzten Bücher bildet. Mit Anknüpfung an den

282 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

Boell'bis und die Peripatetiker wird, ausser den logischen Unter- suchungen, die in dem irlrio allen übrigen vorauszuschicken seyen, und die Ilugn lediglich als Mittel zum correcten und folgerichti- gen Sprechen duldet, sonst aber ziemlich verächtlich behandelt, und wo sie zum Zweck gemacht werden, für gefährlich hält, das ganze Gebiet des Wissens und die Philosophie in die theoretische, praktische und mechanische (technische) getheilt. per theoreti- sche Theil zerfällt in die Theologie, die es mit dem Göttlichen, Ewigen, Intellectiblen zu thun hat, in die Mathematik, deren Ge- genstand das Sempiterne, Intelligible ist, und deren vier Theile das (jmidr/rium bilden, und in die Physik, die es mit dem Zeit- lichen und Sinnlichen zu thun hat. Die praktische Philosophie zei-fällt in Ethik, Oekonomik und Politik. Endlich der mechani- sche Theil der Wissenschaft enthält die Anweisung zu sieben Kün- sten (Weberei, Schmiedekunst, Schiffahrtskunde, Ackerbau, Jagd, Medicin, Schauspielkunst). Auf diese encyclopädische Uebersicht lässt lIii(/o methodologische Rathschläge und dann eine geschicht- liche Einleitung in die Bibel folgen. Wie für jene Cassiodor und Islflor von Sevlita , so ist für diese besonders liieronymus sein Führer.

3. Bei Weitem selbstständiger ist Hvyo in seinen theologischen Hauptwerken, worunter der Dialogus de Sacramentis legis natu- ralis et scriptae (bei Migne 1. c, II, p. 18 42), die Summa sen- tentiarum (ibid. p. 42 174) und seine De sacramentis christianae fidei Libri duo (ibid. p. 174 618) zu verstehn sind. Sichtbar ist der Einfluss Avgvsüns, (ircgnr des Grossen, Erigenn's, den er schon als Uebersetzer des von ihm selbst commentirten Areopagi- ten kennen und schätzen musste, endlich, obgleich mehr indirect, AbiUards. gegen den er, nicht nur wegen seiner Liebe zu Berii- linrd . sondern durch die ganz verschiedene Weise des Empfindens sehr eingenommen ist. Beide sind darin einverstanden, dass die Aufgabe der Theologie das Verständniss des Glaubens sey; wäh- rend aber Ahälard besonders dies betont, dass der Zweifel dies Verständniss nothwendig mache, legt Hugo besonders darauf Ge- wicht, dass das Verständniss nur möglich sey durch das voraus- gegangene Erlebthaben. Eben so sind beide darin einig, dass Nichts, was wider die Vernunft sey, geglaubt werden dürfe. Nur scheint es dem Hugo das Verdienst des Glaubens zu schmälern, wenn seinen Inhalt nur Solches bildete, was aus oder nach der Vernunft ist. Vielmehr sollen die wichtigsten Stücke desselben über der Vernunft stehn (de Sacr. I, 3), mit welcher Ueberver- nünftigkeit auch zusammenhängt, dass er, wie Erlgena . den ne-

I. Jugendperiode. C. Scholastik als blosse Relig.lehre. Hugo. § 165, 3.4. 283

gativen Aussagen über Gott vor den positiven den Vorzug gibt. Dass Gott Geist ist, soll nur in sofern ganz wahr seyn, dass er kein Körper ist. Der Glaube besteht aus zwei Stücken , der coyiii- tio oder dem, fjiiod fidc crcdlliir, der materin fidci, und dem of- feclvs, d. h. dem crcdn-c , welche subjective Seite er immer als die eigentliche fides vor der anderen hervorhebt, die Einer auch haben könne, ohne zu glauben (de Sacr. II, 10). Dies hat ihn aber nicht gehindert, in seiner Summa sententiarum eine verstän- dig geordnete Darsjtellung gerade des Glaubensiuhaltes zu geben, bei der man sich kaum des Gedankens erwehren kann, dass den ersten Anstoss dazu Jbä/ards Sic et non gegeben habe. Auch in dieser Schrift übrigens macht sich, wie auch sonst, der praktische Gesichtspunkt sehr geltend, indem zuerst von den Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, als der Summa aller Theo- logie, gesprochen und dann, wie zu einem ersten Theile, zum In- halt des Glaubens übergegangen wird. Nachdem im ersten Tractat vom Daseyn und den Eigenschaften Gottes, so wie von der Drei- einigkeit (sehr dem Ahälard ähnlich), dann von der Menschwer- dung gehandelt ist , behandelt der zweite die Schöpfung der Engel und ihren Fall. Der dritte Tractat handelt vom Sechstagewerk, von der Schöpfung und dem Falle des Menschen, der vierte von den Sakramenten d. h. den Heilsmitteln, und zwar von denen des Alten Bundes, vornehmlich vom Gesetz, bei welcher Gelegenheit die ganze Sittenlehre abgehandelt wird. Die folgenden drei Trac- tate betreffen die Sakramente des Neuen Bundes und zwar der fünfte die Taufe, der sechste die Busse, Schlüsselgewalt und das Abendmahl, der siebente die Ehe. Eschatologisches kommt noch gar nicht vor.

4. Zu dieser ganz objectiv, fast trocken gehaltenen Darstel- lung des Glaubensinhaltes bilden die subjective Ergänzung dieje- nigen Schriften , die ihm besonders den Namen eines Mystikers zu- gezogen haben. Hierher gehört ganz besonders das Selbstgespräch mit der Seele Soliloquium de arrha animae (ibid. p. 951 970), ferner die drei zusammengehörenden Schriften : de arca Noe morali (ibid. p. 618 ff.), de arca Noe mystica (p. 681 ff.), de vanitate mundi (p. 701 741) und einige andere minder wichtige Aufsätze. Mit Vorliebe und, fast spielender, Genauigkeit wird der Vergleich der Arche Noäh bald mit der Kirche im Ganzen, bald mit der Seele, wie sie auf den Wellen der Welt zu Gott schifft, bald mit ihr, wie sie in Gott ridit, durchgeführt, und die Stufenfolge der Zu- stände genau fixirt, durch welche die Seele hindurchgeht, indem sie sich ihrem letzten Ziele annähert. Dieses ist das unmittelbare

284 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

Anschauen Gottes, die coniemplatin. Nur darin weichen die ein- zelnen Darstellungen von einander ab, dass als die Vorstufen zu jenem Schauen bald nur die cocjUaüo und medUatin , bald aber die ganze Reihenfolge derselben von der Iccüo an , an welche sich die mcfUfalin, oratio, oppraüo anzuschliessen haben, angegeben wird. Cogiidüo, mcdltntio und contemp'aüo erscheinen dann als die Functionen der drei Augen, durch die wir erkennen, von de- nen das äussere, für die materiellen Dinge bestimmte, durch den Fall am Wenigsten afficirt, das innere, wodurch wir uns selbst schauen, sehr schwach, endlich das Auge für Gott fast blind ge- worden ist. Dass diese drei Augen mit den drei Principien Ma- terie, Seele, Gott parallel gehn, ist klar. Bei allem Werthe, der auf die sittliche Reinheit gelegt wird, erscheint das Praktische dem theoretischen Genüsse, der oft geradezu ein Schmecken der Gottheit genannt wird, untergeordnet. Dieser Zustand ist eben sowol Ver- tiefung in das eigne Innere als in Gott, und wird immer mit dem sich Abwenden von der Welt, noch mehr aber mit der völligen Weltvergessenheit zusammengestellt. Wer in Ausdrücken wie die- ser: dass in diesem Zustande dem Menschen Nichts, auch nicht einmal das eigne Selbst, mehr übrig bleibe, sogleich Pantheismus sehn wollte, kennt die Sprache der Mystik nicht.

5. Als llifffo's reifstes Werk, es ist auch eines seiner letzten, muss seine Schrift de sacramentis christianae fidei angesehen wer- den, das, weil es von allen Heilsmitteln handelt, seine ganze Dog- matil^ befasst. In diesem durchdringt sich das objective und sub- jective Moment seines Glaubens, die verständige Reflexion und die mystische Tiefe mehr als in irgend einer anderen seiner Schriften, und zeigt sich nicht nur Bekanntschaft mit der Art, wie Andere dogmatisiren , sondern eigne dogmatische Schärfe. Da Alles, was ist, in solche Werke Gottes zerfällt, durch welche Nichtseyendes wird (opera rovditiovla), und wieder Solches, wodurch Verdorbe- nes besser wurde {opera rcstanrafioins)^ so wird in dem ersten Buche (ibid. p. 187 363) von Jenem gehandelt, also im Allge- meinen von der Schöpfung und den damit zusammenhängenden Fragen. In zwölf Theilen, deren jeder wieder in eine Menge von Capiteln zerfällt, wird zuerst von dem Daseyn und der Beschaf- fenheit der Welt gehandelt, von dieser auf die ihm zu Grunde liegenden Ursachen zurückgeschlossen, und so zu Gott gelangt, des- sen Dreieinigkeit ganz so gefasst und abbildlich in den Geschöpfen nachgewiesen wird , wie von Abälard. Es folgen dann die Unter- suchungen über unser Wissen von Gott, wo eben die bereits an- gegebene Unterscheidung des Ueber- und Widervernünftigen eut-

I. Jugendperiode. C. Scholastik als blosse Religionslehre. §. 166. 28o

wickelt wird. Dann wird zur Betrachtung des Willens Gottes über- gegangen und durch sehr feine Unterscheidungen zwischen Willen und Zeichen des Willens, so wie zwischen dem Wollen des Bösen und dem Wollen, dass Solches sey, was böse ist, den von der Exi- stenz des Bösen hergenommenen Einwänden begegnet. Die Schöp- fung der Engel und ihr Fall, der Menschen und ihr Sündenfall folgt. Daran knüpft sich die Betrachtung der Wiederherstellung und der Mittel dazu, zuerst des Glaubens, dann der übrigen Heils- mittel oder sdcramenta, und zwar sowol der vormosaischen Zeit, sacr. nalnruiis legis als die des geschriebenen Gesetzes. Alles, was in diesem Buche abgehandelt wurde, bildet gleichsam die Vor- halle zu dem, was den Inhalt des zweiten (p. 363 618) ausmacht, den Heilsmitteln des neuen Bundes. Das Buch zerfällt in acht- zehn Theile und handelt von der Incarnation, deren wenn auch nicht absolute Xothweudigkeit , so doch Angemessenheit, ganz so wie von Ansehn (s. §. 156, 8) dargethan wird , dann von der Ein- heit der Kirche als des Leibes Christi, den kirchlichen Ordnungen, den heiligen Gewändern, der Einweihung der Kirchen, weiter von der Taufe, Confirmatioii, dem Sacrameute des Leibes und Blutes Christi, den kleineren Sacramenten, d. h. allerlei kirchlichen Ge- bräuchen, wo ein Excurs über die Simonie eingeschoben ^Yird, fer- ner von der Ehe und den Gelübden. Die Betrachtung der Tugen- den und Laster bahnt den Uebergaug zur Beichte, Sündenverge- bung, letzten Oelung. Der Tod, das Ende der Dinge, das Jenseits werden in den letzten drei Theilen dieses Werks behandelt, zu denen die summa senteutiai'um sich wie eine, mehr historische, Vorarbeit verhält.

§. 166. In Gilbert und den puris philosoplds auf der einen, und in lluyo auf der andern Seite, erscheint getrennt, was in Anselm ganz Eins, in Abülard wenigstens eng verbunden gewesen war. Das Zerfallen der Scholastik in ihre Elemente geht aber noch weiter, indem an die Hugonische Theologie sich Arbeiten anschliessen, die entweder den Glaubensinhalt, das, was ILiyo die coynitio oder das quod fide crcdilur nennt, als Hauptsache aller Wissenschaft ansehen, oder wieder das Glauben selbst, llugds afecüo und ijmt fides, so über Alles stellen, dass ihnen sogar die Gotteslehre vor der Fröm- migkeitslehre zurücktritt, und sie über ihre religiöse Anthropologie Alles vergessen. Beide Richtungen, die sich zu einander verhal- ten, wie später im achtzehnten Jahrhundert die Orthodoxen zu den Pietisten, können den Hugo ausbeuten. Nur wird die erstere in ihm besonders den Verfasser der Summa seuteutiarum verehren,

286 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

darum aber auch im Stande seyu, des Ahülard Vorarbeiten zu benutzen, dagegen für die andere wird Hugo besonders ihr Mann seyn., weil er die arrha animae und die arca moralis und mystica schrieb. Gegen die, welchen die Dialektik der vornehmste Theil der Philosophie war, werden beide, wie ihr gemeinschaftlicher Va- ter Jliiffo, eine negative Stellung einnehmen müssen. Je einseitiger sie sich dabei ausbilden, desto mehr werden sie sich auch unter einander anfeinden. Während die llepräsentanten der ersteren Rich- tung, die Summenschreiber, sich von solcher Einseitigkeit freier erhielten, wozu auch dies beitrug, dass sie nicht Schüler nur eines Meisters waren, steigert sich dieselbe bei den Mönchen des Klo- sters von St. Victor, die nur ihren grossen Theologen als Auto- rität gelten lassen, bis zum entschiedenen Hass gegen jede andere Richtung.

§. 167. Die Summisteu.

Mit dem Namen Summisten, der von Bnlüus geradezu von liuyds Summa sententiarum abgeleitet wird, hat man ganz pas- send die Verfasser sogenannter theologischer „Summa c-' bezeichnet, d. h. solcher Schriften , die wie jene Hugonische und schon früher Abülaids Sic et non, nicht sowol zeigen wollten, was ihre Ver- fasser, als vielmehr was die bedeutendsten Lehrer der Kirche für wahr hielten, liöchstens noch darauf ausgingen, zu zeigen, was Ahülard ganz unterlassen hatte, wie etwanige Widersprüche unter den Autoritäten zu lösen seyen. Bald nach den oben genannten Werken Ahälards und /Lu/o's, vielleicht gleichzeitig mit dem letz- teren, erschien das Werk des Hohcrlns Ptdlns, welcher die Reihe der blossen Summisten beginnt. Viel grösseres Ansehii hat, trotz der nachweisbaren Entlehnungen aus jenem, das Werk des Petrus coli Norara erlangt, dessen Sentenzensammlung allmählich auch die Werke Abülurds und Ihiyo's verdrängt. Wie am Anfange der Scho- lastik, so wird auch hier der genialere Urheber von dem verstän- digern Ordner, der Britte vom Italiäner verdunkelt, und der Glanz seines Namens ist so gross, dass darüber der geistreichste unter den Summenschreibern, der Deutsche Alanns^ zum verdienten An- sehn nicht hat kommen können. Der Chronologie gemäss soll hier dem frühsten der berühmteste, diesem der begabteste folgen.

§. 168.

1. Hubertus Pul Ins {Poalaln, Pallcinus, PaUanus, Pol- lenuSy Pollen, Pulh/, Piäcy, Pudsy, de Pideaco, BäUcnuSf Bot- lenus kommt statt dessen vor) ist in England geboren, hat in Paris und, wie es scheint, eine Zeit lang (seit 1129) in Oxford

I. Jugendp. C. Scholast. als blosse Eeliglehre. Summisten. PuUus. §. 168. 1. 2. 287

gelehrt, ward dann nach Rom gerufen, wo er, seit 1141 Cardinal, später päpstlicher Kanzler, im J. 1150 gestorben ist. Seine Werke sind von Mathaud in Paris 1655 Fol. herausgegeben. Seine Sen- tentiarum libri octo, die hier allein zur Sprache kommen, finden sich bei Miyiic 1. c. im Bd. 186 (p. 626 1152). Sie werden auch als seine Theologie, auch als Sententiae de sancta trinitate citirt. Sonst werden von ihm noch angeführt : In psalmos, in Scti Joannis apocalypsin, super doctorum dictis Libb. IV, de contemptu mundi, praelectioimm lib. I, sermonum lib. I et alia nonnulla.

2. Die Eintheilung des Werkes, für dessen Standpunkt cha- rakteristisch ist , dass sehr oft die Lehre der Philosophie dem ent- gegengesetzt wird, was Christiani lehren, in acht Bücher ist ziem- lich äusserlich, indem manchmal ein Abschnitt mitten in die Un- tersuchung hinein fällt. Der Gang ist aber ganz verständig geordnet. Das erste Buch zeigt in sechzehn Capiteln, dass Gott ist, dass er nur Einer , aber in drei Personen existirt , dass er keinen Acci- denzien noch wirklicher Mannigfaltigkeit unterliegt, wie sich der Hervorgang des Sohnes und Geistes verhalten, wie jeder der bei- den aliiis iwn aliud (jiuim puter ist, dass Gott überall wie die Seele ilirem Leibe gegenwärtig, was Liebe, Hass, Zorn, Wille Got- tes lieisse, wie Gott lohnt und straft, dass seiner Allmacht Vieles nicht möglich, dass sie aber weiter geht als sein wirkliches Wol- len, endlich dass Gott Alles vorsieht. Immer werden Einwände gemacht und widerlegt. Im zweiten Buche (31 Capitel) geht er dazu über, dass Gott, um an seiner Güte und Seligkeit Theil neh- men zu lassen, die Welt geschaffen, den Himmel den Engeln, die Erde den Menschen bestimmt habe; beiden ist Freiheit gegeben. Die Engel befestigen sich durch dieselbe so im Guten, dass sie nur gut, der Teufel entfremdet sich ihm so, dass er nur böse seyn kann, Teufel also ist er nur durch sich selbst. Den Menschen be- treffend, so wird noch jetzt die Seele in dem schon geformten Leibe geschaffen und empfängt aus dieser ihrer unreinen Umge- bung ihre Sündhaftigkeit. Mit ihr ist der Leib verbunden und der Mensch nicht etwa ein Drittes ausser beiden. Die Seele hat Ver- nunft, Gemüth (ira) und Begierde und ist durch die erstere un- sterblich. Der Mensch geschaffen, um, w'enn auch nicht an Zahl, doch an Verdienst zu ersetzen, was Gott durch die gefalleneu En- gel verlor, war in seinem urspininglichen Zustande vollkommner als wir, unvollkommner als seine einstige Bestimmung. Damals konnte er nur sündigen und sterben, jetzt muss er es. Als der Saame aller übrigen Menschen pflanzt Adam, vermöge der die Zeu-

288 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Seholastik).

gung begleitenden Begierlichkeit , die Sünde fort. Das Mittel der Vererbung vererbt selbst.

3. Im dritten Buch (30 Capitel) werden die Mittel betrach- tet, durch welche Gott zuerst Einigen, dann Allen das Heil anbietet, und wird, nach einer Vergleichung jener besonderen (jüdischen) Heilsökonomie mit der allgemeinen, christlichen, zur Menschwer- dung, zur sündlosen Empfängniss und Geburt Christi, zum Ver- hältniss beider Naturen in ihm, übergegangen. Weil die Gottheit sich mit dem ganzen Menschen, d. h. Leib und Seele, verbindet, ist Christus persona Iritim subslduünrum und seine Vereinigung mit Gott von der jedes Gläubigen wesentlich verschieden. Unter- suchungen daiiiber, wie sich in Christo das Göttliche zum Mensch- lichen, z.B. in den Wundern, verhalte, schliessen das Buch. Das vierte, in 26 Capiteln, beginnt mit der Unterordnung des Mensch- gewordenen unter Gott, berührt, ohne eine Entscheidung zu tref- fen, die Frage, ob er habe sündigen können, ferner: in wie weit ihm Allmacht zukomme, wobei bemerkt wird, die h. Schrift pflege oft, wo sie mehr meine, weniger zu sagen, und umgekehrt. Die Frage, warum Christus gebetet habe, und wie sich dies mit All- macht und Allwissenheit vertrage, wird fein beantwortet, und dann dazu übergegangen, zu finden, ob Glaube, Liebe, Hoffnung in ihm gewesen sey? Das Schauen hat bei ihm das Glauben vertreten. Die Nothwendigkeit des Kreuzestodes, in wiefern trotz derselben die Mörder Christi sündigten , wie Christus nicht dem Teufel, son- dern Gott sich dargebracht habe, was die Unterwelt in sich fasse und was Christus durch seinen descciisits in ihr bewirkt habe, die- ses und damit verwandte Fragen bilden den Schluss dieses Buchs. Es folgt im fünften (52 Capitel) die Betrachtung der Auferste- hung, wobei auch das Hervorgehn der Todten aus den Gräbern für eine kurze Zeit, so wie die Erscheinungen des Herrn nach sei- ner Himmelfahrt berücksichtigt werden. Die letztern sind ihm entweder extatische Zustände der Schauenden oder Engelserschei- nungen. Eine genaue Erörterung der Rechtfertigung durch den Glauben und der Verdienstlichkeit der Werke, über die Nothwen- digkeit der Taufe und ihre Ersetzbarkeit durch das Martyrthum und den Glauben, ist nicht frei vom Semipelagianismus , der frei- lich damals für orthodox galt. Die Taufe, die Gebräuche bei der- selben, die Eröffnung des Himmels bei der Taufe und durch sie, werden sehr ausführlich, eben so die Beichte, Sündenvergebung, die todten und die verdienstlichen Werke, die verschiedenen Grade des geistlichen Todes, aus denen es noch Errettung gibt, so wie des höchsten, der keine ziüässt, nach einander durchgenommen.

I. Jugendp. C. Schol. als blosse Religionsl. Summisten. Lombard. §. 169, 1. 289

4. Das sechste Buch (61 Cäpitel) führt zuerst in ein ande- res Gebiet, indem die neun Ordnungen der guten, und die ihnen entsprechenden der bösen Engel besprochen werden. Dann kehrt die Untersuchung zum Menschen zurück, und zwar zu dem An- theil, den an seinen guten \Yerken die göttUche Gnade, und den seine eigne Selbstthätigkeit hat. Die letztere wird besonders in das Aufgeben des Widerstandes gesetzt. Die einzelnen Momente der Busse werden angegeben,* und die Beichte und Absolution, sowol von Seiten des Beichtenden als des Beiclitigers betrachtet, in einem Sinne, der dort dem Leichtsinn, hier hierarchischen Ge- lüsten des Priesters, entgegentritt. Die 37 Capitel des siebenten Buches betrachten die Sündenvergebung, das Leben der Begna- digten in der lürche , die verschiedenen Stände derselben , endlich das Leben in Staat und Familie, besonders ausführlich die Ehe. In dem achten Buche endlich wird in zwei und dreissig Capiteln zuerst vom Abendmahl, seinem .Verhältniss zur Passahfeier, von Brotverwandlung, Speisegesetzen, endUch sehr ausführlich von Tod, Auferstehung, Gericht, ewiger Verdammniss und Seligkeit, gesprochen. Die Erörterung hat durchgehends einen exegetischen Charakter. Schwierigkeiten werden durch ziemlich bestimmte Ent- scheidungen gehoben.

§. 169.

1. Petrus, in Novara geboren, daher gewöhnlich Lo?;*/; ar- dirs genannt, als Bischof von Paris im J. 1164 gestorben, scheint ursprünglich ein Schüler Ahälards gewesen zu seyn, hat später wohl den Rnhertns Piillus gehört, und ist endlich durch Bcrn- hnrd dem Thiyo zugewiesen , der ihn vor Allen gefesselt hat. Sei- nen Ruhm dankt er vor Allem seiner Schrift Sententiarmn libri quatuor, nach welcher er gewöhnlich als der Magister sententia- rmn pflegt bezeichnet zu werden. Weil dieses Werk gerade so die Grundlage für alle dogmatischen Untersuchungen wurde, wie das Decretum Gratiani für die kirchenrechtlichen, deswegen hat die Sage entstehen können , die beiden Zeitgenossen seyen Brüder. Ja man hat ihnen als dritten Bruder den Petrus Comestor , den Verfasser der Historia scholastica noch hinzugefügt. Die Ehre, für einige Jahrhunderte allgemein anerkanntes Compendium der Dogmatik zu werden, so dass die Lehrer und Hörer dieser Disci- plin Sententianier genannt wurden, dankt das Werk gerade dem, was, wenn man es mit den Sentenzen des Pnllus vergleicht, ein Mangel genannt werden könnte : es zeigt sich weniger Eigenthüra- lichkeit, in vielen Punkten weniger Entschiedenheit, als dort. Da- durch liess es aber gerade der Selbstthätigkeit derer einen grösse-

Erdmann. Gesch. d. Philos. I. i C)

290 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

ren Spielraum, welche es ilueu Vorlesungen zu Grunde legten. In der von AhiUard aufgebrachten Weise werden die Ansichten für und gegen aufgestellt, dann gezeigt, dass und wie die Wider- sprüche zu lösen seyen, doch aber die Entscheidung nicht so be- gründet, dass nicht der Docent sie selbst oder wenigstens ihre Begründung modificiren könnte. So konnte es kommen, dass der Jesuit Possemn schon 243 ihm bekannte Commeutare zu den Sen- tenzen citiren konnte. Gedruckt sind sie zuerst 1477 in Venedig. Dann unzähhge Mal. Die Patrologie von Miynr . welche in ihrem Bd. 191 den Cominentar des Lombarden zu den Psalmen und seine Collectaneeu zu den Paulinischen Briefen enthält, gibt im folgenden Bande (p. 519 963) die Sentenzen nach der von Aleaume veranstalteten Ausgabe Antw. 1757.

2. Das Werk beginnt damit, auf den von Augnslin bemerkten und auch von l[nyn berücksichtigten Unterschied der res und der sigiui hinzuweisen, der auch für die Gegenstände des Glaubens wichtig sey, indem es nicht nur Dinge, sondern auch Zeichen gebe, die dem Menschen zum Heile gereichen: die Sacramente nämlich. Diese letzteren werden zunächst bei Seite gelassen und kommen erst im vierten Buch wieder in Betracht. Die drei er- steren handeln lediglich von den zum Heil dienenden Ptealitäten. Diese selbst aber werden weiter eingetheilt. Schon Aiiynsün hat den Unterschied fixirt zwischen dem was man geniesst (frni), d. h. um seiner selbst willen begehrt, und dem was man braucht (nti), d. h. um eines Andern willen will. Dieser Unterschied dessen quo fruendiim und y/'O utendum est wird nun adoptirt, und das erstere Prädicat nur Gott beigelegt, von dem nun das erste Buch handelt. Die Abtheilungen desselben, so wie aller anderen, werden Distinctiones genannt; jede enthält mehrere Fragen von verschiedenen Seiten ventilirt und endlich beantwortet. In den acht und vierzig Distinctionen des ersten Buchs wird die Lehre von dem dreieinigen Gott so abgehandelt, dass er zeigt, wie die dagegen vorgebrachten Bedenklichkeiten schon bei Aiigusün und Andere dadurch widerlegt seyen, dass sie ein Abbild der Dreieinig- keit auch in den Geschöpfen , namentlich im Menschen , nachwie- sen, und wie die Widersprüche zwischen den verschiedenen Auto- ritäten nur scheinbar, meist auf dem Doppelsinn der Worte be- ruhend und darum durch Distinctionen lösbar seyen. Er polemisirt in diesem Theil öfter gegen Abälard, Die wesentlichen Prädicate Gottes, seine Allgegenwart, Allwissenheit, Allmacht, so wie sein Wille, werden ausführlich besprochen und dabei Schwierigkeiten, zum Theil gelöst, zum Theil nur angedeutet. In dem zweiten

I. Jugendp. C. Schol. als blosse Religiousl. Summisteu. Lombard. §.169,2.3.291

Buche wird in vier und zwanzig Distinctionen von dem gehan- delt, quo utimnr , von den Creaturen, und zwar zuerst von dem Schöpfungsact, als dessen Grund die Güte Gottes, als dessen Zweck der wahre Nutzen der Creatur, der darin besteht, dass sie Gott dient und Gottes geniesst, bestimmt wird. Gegen die höchsten Autoritäten der Dialektiker, den Aristoteles und Pinto, wird, w^eil Jener die Ewigkeit der Welt, dieser wenigstens eines Weltstoffs gelehrt habe, Protest eingelegt. An die Betrachtung des Sechs- tagewerks, der Engel und der Menschen, schliesst sich die über das Böse, wo Petrus zu dem Resultate kommt, dass die dialekti- sche Regel von der Unvereinbarkeit der Entgegengesetzten bei dem Bösen eine Ausnahme erleide. War diese Regel aber Fun- dament der ganzen Dialektik, so ist es begreiflich, dass er gele- gentlich dazu kommt von der Dialektik selbst etwas höhnisch zu sprechen, oder auch, ganz wie Pullas die Philosophen, so die Dialektiker, den Christen entgegen zu setzen. Das dritte Buch (vierzig Distinctionen) erörtert zuerst die Menschwerdung, die, wenn auch nicht Nothwendigkeit , so doch Zweckmässigkeit, dass dieselbe, und dass die durch sie vollbrachte Erlösung gerade so, Statt hatte. Durch die Frage, ob in Christo Glaube, Liebe und Hoffnung gewesen sey, wird der üebergang zu diesen Tugenden gemacht, und hier besonders genau die Liebe behandelt; eine flüchtige Betrachtung der vier Cardinaltugenden , eine ausführli- chere der sieben Gnadengaben des heiligen Geistes (nach Jesaia 1, 2) schliessen sich dem an. Dann wird gezeigt, dass die zehn Gebote nur Ausführungen des Gebots der Liebe zu Gott und den Nebenmenschen seyen, und nach einer Besprechung der Lüge und des Meineids zum Schluss das Verhältniss des Alten und Neuen Bundes erwogen. Im vierten Buche es enthält fünfzig Distinctionen werden die heiligenden Zeichen abgehandelt, der Begriff" des Sacraments festgestellt, und dann die sieben Sacra- mente, unter ihnen am Kürzesten die Confirmation, am Ausführ- lichsten die Beiclite abgehandelt, und endlich zu den letzten Din- gen übergegangen, wo ganz am Ende die Frage aufgeworfen wird: ob die Unseligkeit der Verdammten die Seligkeit der Begnadigten trüben könne? Die Antwort fällt in der fünfzigsten Distinction verneinend aus.

3. Einer der eifrigsten Anhänger des Lombardus war Petrus von Poitiers, der, gegen Ende des 12**'" Jahrhunderts Kanzler von Paris, selbst fünf Bücher Sentenzen oder Distinctionen schrieb, und dem WUhetm, Erzbischof von Sens, dedicirte. Sie sind zu- gleich mit den Werken des Bob. PuUns von Mathaud herausge-

19*

292 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

geben. Das erste Buch handelt von der Dreiemigkeit, das zweite von der vernünftigen Creatur, das dritte vom Fall und der noth- wendigen Wiederherstellung , das vierte von der durch die Mensch- werdung vollbrachten Versöhnung, das fünfte von der sich wie- derholenden Versöhnung vermöge der Sacramente. Der Gang und der wesenthche Inhalt des Werks stimmt ganz mit dem des Lom- barden überein.

§. 170.

1. Der geistig Begabteste unter den Summisten ist der Deutsche AI an US (de Jnsvlis, weil in Ryssel geboren), dessen langes Leben und ausgedehnte Schriftstellerthätigkeit Veranlassung gege- ben hat, zwei dieses Namens anzunehmen. Zuerst Professor in Paris, dann Cisterzienser Mönch, später eine Zeit lang Bischof von Auxerre, ist er im Cisterzienserkloster Clairveaux im J. 1203 gestorben, nachdem er sich durch seine Schriften und Disputatio- nen gegen die Waldenser und Pateriiier den Beinamen des doctor iinwersalis erworben hatte. Seine Werke sind zuerst von Visck in Amsterdam 1654 herausgegeben, dazu aber sind in der Biblio- theca scriptorum ordinis Cisterciensis Colon. 1G56 Nachträge er- schienen. Diese Ausgabe ist zu Grunde gelegt, zugleich aber Handschriften verglichen und das, bereits 1477 gedruckte, lexico- graphische Werk des Alauns: Distinctiones dictionum theologica- lium (auch Oculus SSae genannt) hinzugefügt in dem 120'''" Bande von Migne's Patrol. curs. compl.

2. Das kürzeste, aber bedeutendste Werk des Alanus , die Schrift de arte seu de articulis catholicae fidei libri quinque, wel- che zuerst von Pczius in dem Thes. anecd. noviss. erschien und sich bei Migiie p. 593 617 befindet, ist eine Summa, nur viel kürzer, als sie sonst zu seyn pflegen, geschrieben in dem Inter- esse, damit den Ketzern und Muhamedanern entgegenzutreten. Eben darum werden in dem Prologus eine Menge von Definitionen (descripüones) , Postulaten (petiUoiics) und Axiomen (commmies animi conceptiones) gegeben, um für die Disputation mit ihnen einen festen Boden zu gewinnen, auf dem dann streng syllogistisch ar- gumentirt wird. Das erste Buch handelt in dreissig Sätzen von der una omnivm causa, von Gott. Aus der Unmöglichkeit, dass irgend Etwas causa sni sey , wird das Daseyn einer causa jwima gefolgert , die nicht Träger von Accidenzien , darum unveränderlich und ewig, unendlich und unbegreiflich, Gegenstand nicht sowol des Wissens als des Glaubens ist, d. h. einer Annahme, deren Verdiensthchkeit mit darin besteht, dass sie nicht aufzwingenden Gründen ruht. Der Glaube steht daher über der Meinung und

r. Jugendp. A. Schol. als blosse Religionsl. Summisten. Älanus. §.170,2.3. 293

unter dem Wissen. Alle Eigenschaften, welche der, völlig einfa- chen, höchsten Ursache beigelegt werden, gelten von ihr nur un- eigentlich, indem sie von der Wirkung auf die Ursache übertra- gen wurden. Durch gleiche Uebertragung muss daraus, dass in jedem Dinge sich Materie, Form und ihre Einheit (comjmgo) fin- det, auf die Dreipersönlichkeit in Gott zurückgeschlossen werden, die mit seiner Einheit nicht streitet. Die dreissig Sätze des zwei- ten Buchs behandeln die Welt und ihre Schöpfung, namentlich die Engel und Menschen. Die mittheilende Liebe, verbunden mit der Macht in Gott, drängt ihn zum Schaffen vernünftiger Geister, die in der Welt seine Güte und Macht erkennen, die frei sind, weil nur solchen gegenüber er seine Gerechtigkeit zeigen kann. Der vernünftige , engelgleiche , Geist ist in dem Menschen mit dem Niedrigsten, der Erde, verbunden. Daher seine Gebrechhchkeit, in Folge der er fällt, sich an Gott vergeht und also unendliche Strafe auf sich zieht. Das dritte Buch betrachtet in sechzehn Lehrsätzen die Menschwerdung und Erlösung. Sie schliessen sich in ihi'em Gange ganz an Anselm's Cur Dens homo , indem sie zei- gen, dass, was der Mensch leisten musste, Gott allein aber leisten kann, von dem Mensch gewordenen Gotte, am Passendsten aber vom Sohne, weil er der Grund aller Form ist und also der De- fonnität entgegensteht, geleistet wird, der die härteste der Stra- fen, die Todesstrafe auf sich nimmt. Dabei wird aber ausdrück- lich bemerkt, dass Gott auch andere Wege hätte einschlagen kön- nen. Das vierte Buch, das in neun Lehrsätzen von den Sacra- menten, und das fünfte, dessen sechs Sätze die Auferstehung behandeln, enthalten nichts Eigenthümliches.

3. An dieses Werk schliessen sich durch ihren Inhalt zwei andere an, von denen es schwer ist, zu entscheiden ob sie Vorar- beiten zu dem, oder weitere Auseinandersetzungen dessen sind, was in jenem gesagt ist. Dabei theilen sie sich in die Aufgaben, welche sich das Werk de arte gesetzt hatte, so, dass die Schrift de fide catholica contra haereticos Libb. IV ganz besonders das polemische, dagegen die Regulae theologicae mehr das systema- tische Element hervorheben. Die Einleitung in das letztere Werk (Migne p. 617 687) erinnert in sofern an Gilbert (§. 163, 4), als behauptet wird, dass jede Wissenschaft ihre eignen, durch be- sondere Namen unterschiedenen Grundsätze habe, die Dialektik ihre mitximae. die Rhetorik ihre loci commimes . die Mathematik ihre axionuita und porismata u. s. w. Alle haben nur Gültigkeit so lange der gewohnte Naturlauf dauert; einzig und allein die regidac oder maximae theologicue haben eine unverbrüchliche Noth-

294 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

weiidigkeit, da sie vom Ewigen und Unveränderlichen handeln. Diese Grundsätze sind zum Theil allgemein anerkannte , zum Theil solche, die nur dem tiefer Blickenden feststehn. Nur diese letz- teren sollen hier abgehandelt werden. Es sind besonders solche, die daraus folgen , dass Gott nicht nur Einer , sondern die Einheit (moiifis) selber ist. Viele derselben werden in paradox klingen- den Formeln ausgesprochen. So : Monas est alpha et omega sine alpha et (»iirga ; Monas est sphaera cvjiis cenfrnm vhifpie cir- cvihfcrentia niisqvam u. dgl. m. Besonderes Gewicht wird darauf gelegt, dass in Gott gar kein Unterschied sey zwischen seinem Seyn und dem was er ist, dass er eben darum nicht Subject von Eigenschaften , und dass in keinem theologischen Satz von Acci- dentellem (conlivgcns) die Rede seyn darf, Gott als die Form selbst ist natürlich ohne Form, wie er, als das Seyn selbst, kein Seyn nur hat. Da nun alle Prädicate von den Formen hergenom- men sind, die ein Gegenstand hat, so reichen positive Prädicate für Gott niclit aus. Sehr ausführlich wird untersucht ob Substan- tiva oder Adjectiva, ob Abstracta oder Concreta, ob Verba, ob Pronomina, ob Präpositionen gebraucht werden dürfen, wenn von Gott gesprochen wird, und wie sich ihr Sinn modificirt. Dann wird auf die besonderen Prädicate eingegangen, welche, obgleich sie allen drei Personen des göttlichen Wesens zukommen , so doch im besonderen Sinne je einer derselben pflegen beigelegt zu wer- den, wie die Macht dem Vater u. s. w. Die Schwierigkeiten, die gegen die Allmacht vorgebracht sind, die ferner, welche man in der Weisheit und dem Vorherwissen gefunden hat, werden erwo- gen und durch die Güte der Uebergang dazu gemacht, dass und in wiefern Alles gut sey. Daran knüpfen sich nun ethische Un- tersuchungen, von denen das Buch de arte nichts enthielt. Der Hauptsatz ist, dass alles Verdienst, der Strafe sowol als des Lohnes, nur in dem Willen liegt; damit soll sehr wohl vereinbar sc3'n, dass die Strafe verdient, der Lohn unverdient sey, denn der Mensch vollbringe das Böse als atitor, das Gute als ?nhnster. Durch die Unterscheidung der gratla ad mcritinn und der grafta in nicrito sucht Alanus dem Pelagianismus und extremen Augu- stinismus zu entgehn. Das ritimn, sowol als Abwesenheit der vir- tus als in seinem Gegensatz dazu, wird betrachtet, die charifas als Quelle aller Tugenden bestimmt , und gezeigt , wie sie die Ver- einigung mit Gott ist, welche, durch die Incarnation des Sohnes, der als Mensch nichts für sich, Alles für uns verdient hat, begon- nen, durch die Sacramente fortgesetzt wird. Einige Sätze, welche nicht nur für die Tlieologie, sondern auch für die naiuralis fa~

I. Jugendp. C. Schol. als blosse Religionsl. Summisten. Alanus. §.170,4.5.295

cuUns gelten sollen, machen den Scbluss des in ein hundert und fünf und zwanzig Capitel zerlegten Buches, welches gleichsam als ein Inventarium dessen, was der theologische sensvs communis lehrt, lange Zeit in hoher Achtung gestanden hat.

4. Wahrscheinlich waren es die vier Bücher de fide catholica contra haereticos (Migne 1. c. p. 305 428), welche den Trithe- mius und nach ihm Andere dahin gebracht hat , dem Alnms einen Commentar zu den Sentenzen des Lombarden anzudichten. Das Buch hat indess eine ganz andere, rein polemische Tendenz. In dem ersten Buche werden in sechs und siebenzig Capiteln dua- listische, baptistische, antisacramentale u. a. Ketzereien durch die Autorität von Aussprüchen der Apostel und Väter widerlegt. Oft gewinnt es dabei den Anschein, als wenn alle diese Behauptun- gen zugleich von einer einzigen Secte ausgingen, dann aber sieht man wieder, dass er verschiedene gemeint hat. Das zweite Buch, speciell gegen die Waldenser gerichtet, befasst fünf und zwanzig Capitel und vertheidigt namentlich die Priesterwürde, tritt auch der rigoristischen Moral jener Ketzer entgegen. Das dritte Buch (ein und zwanzig Capitel) bekämpft die Juden, indem darin ihre Einwände gegen die Trinität, gegen die Abschaifung des Ce- remouialdienstes , gegen das Erschienenseyn des Messias so wie seine Gottheit und Auferstehung, mit Gründen, theils des Alten Testaments, theils der Vernunft widerlegt werden. Das vierte Buch endUch ist contra paganos seu Mohametanos gerichtet. Es ist das Kürzeste, indem es nur vierzehn Capitel enthält; bei dem Dogma der Trinität wird auf das gegen die Juden Gesagte ver- wiesen, die Empfängniss vom heihgen Geiste wird gerechtfertigt, endlich die Verehrung der Bilder in Schutz genommen, die für den Laien das seyen, was das geschriebene Wort für den Cleriker.

5. Mehr noch , wenigstens in weitereu Kreisen als diese Werke, hat den AIuuks ein Gedicht in neun Büchern berühmt gemacht, Anticlaudianus (M'ujiie 1. c. p. 483 575) betitelt, manchmal auch Antirufinus genannt, weil er, im Gegensatz zu C/r/ //(//« /r ä Rufinus, schildert , wie die Natur nach Gottes Willen einen ganz vollkomm- nen Menschen bildet. Die Tugenden und Laster, welche um die, von Gott geschaffene, von der Natur mit einem trefflichen Leibe ausgestattete, Seele kämpfen, treten personificirt auf in diesem Gedichte, welches, indem es die Reise der Weisheit zu Gott be- schreibt, zugleich eine Encyclopädie der Wissenschaften und eine Darstellung des Universums mit seinen Planetenkreiseu und Him- meln enthält. Bei der himmlischen Sphäre angelangt, muss sich die Weisheit von den sieben Künsten und Wissenschaften trennen,

296 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

die Theologie wird ihre Führerin, der Glaube und ein Spiegel, in dem Alles nur im Bilde geschaut wird, werden die Mittel, durch welche sie sich Gott' naht. Mit einer gewissen Freude wird her- vorgehoben, wie die theologischen Lehren mit denen des Trivium und quadrivium streiten. Eine besonders hohe Stelle räumt er der Logik nicht ein, namentlich die Neuerungen, welche durch das Bekanntwerden der Aristotelischen Analytiken in ihr vorge- nommen seyen, beklagt er.

§. 171. Die Victorine r. Den Summisten als den Orthodoxen stellen sich als die Pie- tisten des 12**"" Jahrhunderts die religiösen Anthropologen oder Frömmigkeitslehrer entgegen. Ihr Hauptsitz ist das Kloster von St. Victor, daher Einige sie auch als die Victoriner bezeichnen. Wie den Summisten, so steht auch ihnen der Glaube ohne Beweis am Höchsten. Nur betonen sie im Glauben viel mehr als den Inhalt den Act des Glaubens selbst, sie vergessen zwar, um die später gebräuchlichen Modificationen der Hugonischen Ausdrücke zu brauchen, über die //V/es ijua credUur nicht sogleich die fides (juae crcd'dur ganz und gar, aber mit grösserer Vorliebe wird jene doch schon von dem behandelt, der noch am Meisten den Fusstapfen lliiyo's folgt. Die nach ihm kommen, gehn in dieser Einseitigkeit rasch weiter, und feinden darum die Sentenzen- und Summenschreiber nicht weniger an, als die untheologischen Dia- lektiker. Das von aller wissenschaftlichen Beschäftigung zurück- gezogene, der Andacht gewidmete, Leben allein, findet bei ihnen einen vollen Beifall.

§. 172.

J. O. V. Engelhardt Richard von St. Victor und Johannes Ruysbrock. Erlan- gen 1838.

1. Txichardus, ein Schotte von Geburt, von 1162 bis an seinen 1173 erfolgten Tod Prior des Klosters St. Victor, dessen Name stets zu dem seinen gefügt wird, ist durch Hugo gebildet, und hat, wie seine Schriften über die Dreieinigkeit beweisen, zwar auch die doctrinelle Seite der Theologie nicht ganz vernachlässigt, doch aber ganz besonderes Gewicht auf die mystische Contempla- tion gelegt, deren Beschreibung und Verherrlichung seine bedeu- tendsten Schriften gewidmet sind. Auch regt sich bei ihm ein Widerwille gegen diePliilosophen, deren Aufgeblasenheit ihn miss- trauisch gegen die Philosophie selbst macht, so dass er derselben eigentlich nur Verdienste um die Naturerkenntniss zuzugestehn geneigt ist. Seine Werke sind oft, zuerst in Venedig 1506 in 8",

1. Jugendperiode. C. Scholast. als blosse Religionsl. Victoriner. §.172,2.3.297

dann vollständiger in Folio Paris 1518 und sonst herausgegeben. Bei Migne bilden sie den Band 194 der Patrologie.

2. Obgleich Bicliards de trinitate libri sex (bei Miyne p. 887 992) in der Folgezeit oft als ein Hauptwerk citirt -worden ist, so kann es hier doch füglich übergangen werden, da kaum etwas darin vorkommt was nicht von Htigo und den in den vor- hergehenden §§. geschilderten Summisten bereits , und zum Theil besser, gesagt wäre. Dagegen tritt er viel eigeuthümlicher her- vor in den Schriften, die man die mystischen zu nennen pflegt. So schon in der Schrift de exterminatione mali et promotione boni (p. 1073 1116), wo in tropologischer Auslegung der Worte Psalm 113, 5 (jidd est tibi mare etc. er zeigt, wie die Gläubigen an das bittere Meer der Gewissensbisse gerathen müssen , wie ihr Gemüth (Jordan) aufwärts, der Quelle entgegen, strömen müsse u. s. w. Eben so tropologisch wird in der Schrift de statu interioris hominis (p. 1116 1158) an Jes. 1, 5. 6 ontne cajmt languichim u. s. w\ an- geknüpft und die Macht des freien Willens im Gegensatz zur Will- kühr, so wie die Kraft der Demuth und des hingebenden Gebetes geschildert und gepriesen. Die drei Bücher de eruditione hominis interioris (p. 1229—1366) knüpfen eben so an den Traum des Ne- bucaduezar an ; endlich die beiden Haupts chrifteu de praeparatione animi ad contemplationem (p. 1 G4) und die Libri quinque de gratia contemplationis (p. 63—202) werden, weil sie die Geschichte der Söhne Jacobs . besonders des Benjamin , zu allegorischer Deutung benutzen, jene als Benjamin minor . diese als Benjamin major bezeichnet, neben welchem Titel bei Späteren auch de arca my- stica vorkommt. An diese schüessen sich dann die Schriften de gradibus charitatis (p. 1195—1208 und de quatuor gradibus vio- lentae charitatis (p. 1207 1224), welche die Sehnsucht beschrei- ben, durch welche der Zustand der Contemplation bedingt wird.

3. Die Contemplation, der Benjamin, der erst durch den Tod der Baliel (Vernunft) geboren wird, hat zu ihrem Inhalte nicht nur Solches, das, wie Hugo gesagt hatte, über die Vernunft geht, sondern auch Solches, das ganz ausser ihr, ja wider sie, ist. Nur in einzelnen Momenten küssen sich Joseph und Benjamin, d. h. gehen meditatio und content pl atio , Vernunft und Offenba- rung zusammen. Ueberhaupt ist streng zu unterscheiden zwischen der cogitatio, deren Organ die Imagination ist, und welche weder Arbeit noch Frucht kennt, der meditatio, welche der ratio ange- hört und arbeitet aber nicht Frucht erntet, und endlich der con- tcmplatio, deren Organ die intelligentia, deren Lohn die Frucht ohne Arbeit ist. Nimmt man aber das Wort contemjilatio im

298 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

weiteren Sinne, so können sechs Grade derselben unterschieden werden, welche in den hauptsächlichsten Theilen, aus denen die Bundeslade zusammengesetzt war, mystisch angedeutet sind : zwei nämlich, die der Imagination angehören und deren niedere der Imagination, die andere der Vernunft conform ist, zwei der Ver- nunft angehörige, deren niedere sich an die Imagination anlehnt und der Bilder bedarf, während die höhere reine Vernunfterkennt- niss ist, endlich eine, die über der Vernunft, aber nicht ausser ihr, steht, und die höchste, die ausser der Vernunft steht und gegen sie zu seyn scheint, wie z. B. die Anschauung der Drei- einigkeit. Das Object der beiden höchsten Grade wird das Intel- Icctible genannt. Alle sechs Gattungen der Contemplation werden in dem Benjamin major ausführlich durchgenommen und in ver- schiedene Stufen zerlegt, dabei wiederholt darauf hingewiesen, dass Aristoteles und die übrigen Philosophen , auf den niederen Stufen stehen geblieben seyen. Die Selbsterkenntniss und die, sich daran anschliessende, Selbstvergessenheit werden vor Allem gepriesen, der höchste Grad der Beschauung als ein wirkliches Hinausge- rücktseyn aus sich selbst bezeichnet, und die verschiedenen Wei- sen desselben beschrieben. Es ist ein Werk des göttlichen Wohl- gefallens und das sich ganz hingebende Gebet ist das Mittel, es, wenn wir es einmal erlebten , wieder hervortreten zu lassen. Den Dialektikern wird von Richard unter manchen anderen wiederholt auch der Vorwurf gemacht , dass sie den formellen Charakter ihrer Wissenschaft ganz vergessen ; da auch richtige Schlüsse zu falschen Resultaten führen können , so kommt es auf die Wahrheit der Prä- missen und Grundsätze vor allem Andern an. Aber nicht nur die Dialektiker tadelt er. Es ist frühe bemerkt worden, dass Bichard oft die Gelegenheit ergreife, dem Lombarden irgend einen Vorwurf zu machen, so dass ihm also eine Theologie, die nur eine Summe zu Stande bringt, nicht die rechte zu seyn scheint

§. 173. 1. Nachfolger des Richard war Walt her von St. Victor, dessen Schrift gegen die Ketzereien des AhUlard, Petrus Lom- hardus. Petrus von Poitiers und Gilbert, wegen eines Ausdrucks in ihrer Vorrede gewöhnlich als: in quatuor labyrinthos Franciae citirt wird, und durch Auszüge bei Bulaeus (1. c. II p. 629 flf.) bekannt geworden ist. Mit ganz gleichem Zorne verdammt er die Logiker und Metaphysiker, die über dem Aristoteles die Heils- lehre vergessen, und welche in ihren feinen Untersuchungen über aliquid endlich dazu kommen, wahre nihilislae zu werden, eben so aber die Summenschreiber, welche eben so viel dafür sagen,

I. Jugendperio^e. C. Scholast. als blosse Religionsl. Victoriner. §. 173, 1. 2. 299

dass Gott sey, als dagegen. Er selbst stellt, wenn sie von Etwas sagen, es sey gegen die Regeln des Aristoteles , die Frage ent- gegen: was thiit das'? und citirt die Warnung des Apostels vor aller Philosophie. Er ist empört darüber, dass sie ohne zu ent- scheiden , die verschiedenen Ansichten neben einander stellen, und fordert , dass sie die Ketzerei verdammen , um nicht selbst zu Ke- tzern zu werden. Citate aus den Kirchenvätern, besonders aus dem Aiiyit still, aber auch polternde Scheltworte, sind die Waffen, mit welchen er eben so sehr gegen die „Dialektiker" polemisirt, deren Lehrer die Heiden Soh'atcs . Aristoteles \m^ Seneca seyen, und welche nicht bedenken, dass die Richtigkeit des Schliessens noch nicht die Wahrheit des Erschlossenen verbürgt, als auf der andern Seite gegen die „Theologen", unter welchen, da er den Jo/niines Damascemis an die Spitze stellt, er offenbar die Com- pilatoreu der verschiedenen Ansichten versteht, und nicht minder gegen die „Pseudo - Scholastiker", die eine Menge unnützer Fragen aufwerfen, welche nur durch Umwege und feine Distinctionen zu beantworten sind. Ihnen allen stellt er immer den lebendigen, die Welt überwindenden Glauben an den Sohn Gottes entgegen, der Mensch geworden ist mit Haut und Fleisch , mit Knochen und Nerven, den Glauben, der zwar der Welt eine Thorheit ist, da- für aber auch Teufel austreibt und Todte erweckt.

2. Die Einflüsse des Klosters von St. Victor, namentlich seit in demselben die subjective Seite der Frömmigkeit (der affectus) sogar auf Kosten des objectiven Elementes der Religion (der co- ffvitio) sich geltend gemacht hatte, sind nicht zu verkennen in der Tendenz jener Zeit, anstatt gelehrte Theologie zu treiben, viel- mehr das Volk durch Predigten zu erwecken. Der wunderthätige Reiseprediger Fiileo von Neuilly, Domiiticus, der Stifter des Prä- dicantenordens, sind wenigstens indirect, die Stifter des in der Nähe von Langres entstehenden Ordens der Vallis-scholarimn, vier Pariser Professoren, ganz direct von den Victorinern ange- regt worden. Die unwissenschaftliche Mystik in dieser, die wis- senschaftliche in der bald folgenden Zeit, hat kaum irgendwo mehr Nahrung gefunden, als in den Schriften, die von jenem Kloster ausgingen, und zwar in den späteren fast noch mehr als in den Werken Hngo's, ja selbst Uichards. Sie können als der diame- trale Gegensatz, und darum" als das entsprechende Correlat zu denen angesehen werden, die oben (§, 164) als die pmi p/utosophi- bezeichnet wurden.

300 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

§. 174. Wenn aber so aus den Scholastikern blosse Metaphysiker ge- worden sind, die sich um Substanzen und Subsistenzen , um niliü und alif/nid, mehr kümmern, als um den Glauben, oder logische Klopffechter, die nicht nach der Trinität fragen, sondern darnach, ob der Schlächter oder der Strick das Schlachtvieh führe, wenn auf der andern Seite sie zu theologischen Sammlern wurden, de- nen eine Autorität höher steht als alle logischen Denkgesetze, oder zu Lobpreisern der Frömmigkeit, denen das fromme Herz alle Wissenschaft ersetzen soll, so ist eigentlich die Scholastik in ihre Bestandtheile auseinander-, d. h. zu Grunde gegangen. Wo innerhalb ihrer sich Männer finden, denen keine dieser Einseitig- keiten genügt, die aber nicht Geisteskraft genug besitzen, der Scholastik einen neuen Impuls zu geben, da werden sie entweder darauf ausgehn , von Allem Kenntniss zu nehmen , was im Namen der Philosophie gelehrt wird, möglichst Allen gerecht zu werden, oder aber sie werden den Versuch machen, auf den primitiven Zustand der Scholastik zurückzugehn , in dem alle ihre Elemente noch Eins gewesen waren, wenn sie auch ein mehr chaotisches Gemisch gezeigt hatten. Ist jenes gelehrt - historische Interesse mehr oder minder skeptisch gefärbt, so ist dagegen dieser Ver- such, Vergangenes zu beleben, in sich selbst mystisch. Wie sehr oft das Verschwinden des speculativen Geistes sich durch Hervor- treten des Skepticismus und Mysticismus angekündigt hat, so wird die momentane Erschöpfung des scholastischen Geistes durch das Auftreten des mittelalterlichen Akademikers Joliaimes von Salis- hury, und durch den mystischen Reactionsversuch des Amalrich von Bcne offenbar.

§.175.

G. Schaarschmidt Johannes Sarisberiensis , nach Leben , Studien , Schriften und Philosophie. Leipzig 1862. (VLU. 360.)

1. Joannes Parvns (vielleicht war Short oder Small sein Familienname), von Salisbury , wenn er, wie gewöhnlich ge- schieht, nach seinem Geburtsort, von Cliartres, wenn er nach sei- nem Bisthum genannt wird, war durch seinen Bildungsgang, den er in seinem Metalogicus II, 10 selbst beschreibt, mehr als Einer befähigt, ein abschliessendes Urtheil über die bisherige Scholastik zu fällen. Noch sehr jung, aber nicht ohne gründüche Schulbil- dung, kam er im J. 1136 nach Paris und ward dort ein eifriger Zuhörer Ahälards , der ihm die Hochachtung vor der Logik bei- brachte, die er nie verloren hat. Dies beweist sein in reiferen Jahren geschriebner Metalogicus, in dessen vier Büchern er in

I. Jugendperiode. Auflösung. Joannes Sarisberiensis. §. 175, 1. 301

der Person des Corniftcms diejenigen bestreitet, welche die Un- tersuchungen, mit denen man sich im tririo beschäftigte, als un- nütz verachteten. Er selbst erklärt sie für die nothwendige Grund- lage alles wissenschafthchen Studiums. Nur will er, dem die Aristotelischen Analytiken und dessen Topik bekannt sind, nicht, dass man, wie noch AhühircJ . sich an der alten Logik, d. h. der die sich mehr an Boeilnns als an Aristoteles hält, genügen lasse. Die ächte Aristotehsche Logik, vor Allem die Topik, weiss er nicht genug zu loben, theils weil sie der Rhetorik , theils weil sie dem wissenschaftlichen Disputiren so grosse Dienste leistet. Dies hindert ihn aber gar nicht, die Logik besonders als ein Studium der Jünglingsjahre zu bezeichnen , und sich gegen die zu erklären, die, weil sie dieses Studium zum allereinzigen machen, nicht Phi- losophen, sondern Eristiker und Sophisten werden. Die von ihm gegebene Weisung hat er übrigens selbst befolgt. Nachdem er mit allem Eifer bei Abälurd die alte Logik studirt hatte, begab er sich, da dieser seine Vorträge aufgab, zu dem Äther ir/.- in die Lehre, einem der heftigsten P>ekämpfer des Nominalismus, so dass er in alle Feinheiten der berühmten Streitfrage eingeweiht, und in Stand gesetzt ward, später über alle die verschiedenen Ver- mitteluugsversuche zu berichten. Durch Withelm von Conches, der dann drei Jahre sein Lehrer war, durch zwei andere Schüler des Bernhard von Chartres und vielleicht auch durch den gi*eisen Meister selbst, ward er auf ein anderes Gebiet hingewiesen: auf die Alten, die er jetzt mit grossem Eifer zu studiren anfing. Ci- cero namentlich fesselte ihn , und die Rhetorik ward seitdem für ihn ein Hauptzweck bei seinem Studium. Zugleich führte ihn ein Deutscher, Hartwin, und ein Mann, den er als Richardus Epi- scopifs bezeichnet, in das Quadrivium ein. Beide Studien erschüt- terten das Ansehn des Aristoteles bei ihm, dessen Physik und Ethik ihm mit der Glaubenslehre zu streiten schien. Dafür aber wuchs um so mehr seine Hochachtung vor dem Aristoteles als Logiker, als sein Landsmann Adam durch eine neue Uebersetzung die, bis jetzt fast unbekannt gebliebenen, Analytiken und die To- pik in ihrer ursprünglichen Gestalt dem studirenden Publicum zu- gänglicher machte, und nun Johannes unter der Leitung Adams und des Wilhelm von Soissons diese „neue Logik" und ihre Frucht- barkeit für die Rhetorik schätzen lernte. Sein Lernen ward durch eine dreijährige Lehrthätigkeit unterbrochen, dann kam er wieder nach Paris und studirte unter Gilbert Philosophie , hörte aber zu- gleich den Robd'tus Putins und einen gewissen Simon über Theo- logie, und aus der Art, wie er den Hngo von St. Victor citirt,

302 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

muss man schliessen , dass er sich auch mit dessen Ansichten vertraut gemacht habe, so dass keine einzige der, in dieser Pe- riode hervortretenden, Richtungen ihm fremd gebUeben ist. Da- durch ist er in Stand gesetzt worden, so genau wie er es thut, über die verschiedenen Modificationen zu berichten, die sich inner- halb der einzehien streitenden Parteien gebildet hatten. In der Frage nach den Universalien stellt er eine vermittelnde Formel auf, der gegenüber die des Ahülunl als nominalistisch erscheint. 2. In der Art, wie er die verschiedenen Ansichten sich an- eignet, ist ihm Muster der von ihm bewunderte Cicero, dem er auch in Reinheit der Sprache nacheifert. ^Yie Jener, nennt auch er sich gern einen Akademiker, will keine übertriebne Zweifelsucht, eben so wenig aber ein seine Grenzen verkennendes Wissen; wie Jener pulemisirt er gegen Aberglauben, eben so aber auch gegen Irrehgiosität, nur dass, wie begreiflich, bei ihm an die Stelle der politischen Rücksichten die kirchlichen treten. Sein Interesse aber ist vorzüglich ein praktisches: das kirchliche Leben und die Frei- heit der Kirche steht ihm über dem Dogma. Seine Stellung als Secretair des Erzbischofs Tlieohald von Canterbury, der, so wie auch König Heinrich II, den Jo//annes oft zu Gesandtschaften nach Rom verwandte, wozu seine enge Freundschaft mit Papst Adrian IV ihn geschickt machte, bestärkt ihn immer mehr in dieser Richtung. Darum fand Tliomus Becket , nüt dem er bald nach seiner Rückkehr nach England bekannt geworden war, als er die Rechte des Erzbisthunis gegen die Uebergriffe des Staats zu vertheidigen unternahm, an Jo/umnes den treusten Diener und Helfer, der selbst in Gefahr kam, den Martyrtod mit ihm zu thei- len. Seit 1176 Bischof in Chartres ist er daselbst im J. 1180 ge- storben. Von seinen Schriften ist der Policraticus in acht Büchern, im J. 1159 vollendet, und betrachtet in den ersten sechs Büchern die iDiyde ctiridliiim , in den zwei letzten die ccsiigia pliilosopho- ruvi: er erschien zuerst ums Jahr 1476 in einer Folioausgabe, von der die Pariser Quart-Ausgabe von 1513 ein blosser Abdruck ist. Die Lyoner Octav - Ausgabe von 1513 benutzt eine andere Handschrift. Beide Ausgaben wurden benutzt von dem Herausge- ber einer dritten , Uapheleiigins Leyden 1595. 8. Diese wiu'de ab- gedruckt von Jo. Milire Leyden 1639. 8., welcher aber damit zu- gleich die Herausgabe des mit dem Policraticus gleichzeitig ver- fassten, im J. 1610 in Paris zuerst gedruckten, Metalogicus ver- band. Des Johannes Briefe gab IMasson im J. 1611 in Paris, sein Gedicht Entheticus de dogmate philosophorum zuerst Petersen in Hamburg 1843 heraus. Im J. 1848 gab J. A. Giles in Oxford

I. Jugendperiode. Auflösung. Amalrich. §. 176. ööo

eine sehr incorrecte Gesammtausgabe der Werke des Jolamnes in fünf Octavbändeu heraus. In ^Jiyne's Patrologie bildet ein Ab- druck davon den 199"^° Band. In allen seinen Schriften zeigt sich mehr Gelehrsamkeit, als damals gewöhnlich, gepaart mit einer für jene Zeit unerhört geschmackvollen Darstellung. Durchweg wiegt das Praktische vor. Die Liebe ist ihm die Summe aller Ethik, und bei allen theoretischen Untersuchungen drängt sich ihm immer wieder die Frage auf, ob dieselben auch einen prakti- schen Werth haben. Dies streift manchmal an einen sehr prosai- schen ütilitarismus.

§. 176. In jeder Beziehung bildet den Gegensatz zm Johannes, Amal- rich (es findet sich auch Almarich) in Bene geboren, nahe bei Chartres, daher er nach beiden Orten genannt wird, welcher, im J. 1204 von der Pariser Universität, wo er zuerst Lehrer der Künste, d. h. Professor der philosophischen Facultät, gewesen war, dann aber sich auf die Theologie geworfen hatte, wegen sei- ner Irrlehren verdammt, im Gefühl seiner Unschuld an Ptom ap- pellirte, dort aber eine Bestätigung seines Urtheils empfing, und bald nachdem er den erzwungenen Widerruf geleistet hatte, im J. 1207, starb. Der Satz, der allein uns als sein Irrthum über- liefert worden ist: dass jeder Christ sich als Glied an dem Leibe des Herrn ansehn müss^, und ohne diesen Glauben nicht selig werden könne, ist es schwerUch, sondern wahrscheinlich ist die Weise der Begründung es gewesen, warum er verdammt wurde. Das Gericht weiter, das im J. 1209 über seine Gebeine gehalten wurde, ist dadurch veranlasst, dass Albigenser und andere Ketzer, die sich an die apokalyptischen Vorstellungen des Joachim von Floris und anderer Schwärmer angeschlossen hatten, sich häufig auf Amalrich beriefen. Unter den Sätzen, die sie nach Biiläns behauptet haben sollen, finden sich einige, die wörtlich bei Ei-i- gcna vorkommen, und so weit die späteren Xachrichten über Amalrich selbst, so wie 'die etw'as vollständigeren über die s. g. Amalricaner einen Schluss erlauben, scheinen die Schriften jenes Vaters der Scholastik den Amalrich mehr angesprochen zu haben als die Scholastiker seiner Tage. Daher der von seinen Gegnern sehr oft wiederholte Vorwurf, dass er in Allem seine besondere Meinung geltend machen müsse, daher weiter das Gerücht, er habe ein Buch unter dem Namen Pision geschrieben, unter dem schwerlich etwas Anderes zu verstehn ist, als des Erigena Buch, dessen Titel ja längst (s. §. 154, 1) ähnliche Corruptionen erfah- ren hatte. Dabei scheint, wie aus der Ai-t zu schliessen, in wel-

304 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

eher der Cardinal Ueinrich von Ostia Sätze aus dem Werke Eri- gencCs anführt, Jmairk// ganz besonders Alles ergriffen zu haben, was pantheistisch gedeutet werden konnte, eine Erscheinung, die bei einem mystischen Reactionsversuch am Wenigsten befremden kann. Wie viel an der, bei Späteren sich findenden, Nachricht ist, Amalrich habe sich für die Ansicht erklärt, dass, wie die Herrschaft des Vaters mit dem Alten Bunde, so die Herrschaft des Sohnes jetzt abgelaufen und die des Geistes im Anzüge sey, das ist nicht zu entscheiden.

§. 177. Schlussbemerkung. Wenn Johuiuies von Saltsbnn/ nur ein Inventar von dem zu machen weiss, was die verschiedenen Scholastiker gewollt haben, Amalrkh dagegen nur den Rath zu geben vermag, auf den Ur- zustand der Scholastik in Erigeiw zurückzugehn , endlich WdUlier von St. Victor nur einen Weheruf hat über das, wozu die Häupter der scholastischen Wissenschaft dieselbe entwickelt hatten, so ist dies Alles nicht viel weniger als eine Bankerotterklärung des scho- lastischen Geistes. In der That hat er sich erschöpft in der Lö- sung der Aufgabe, das kirchliche Dogma dem natürlichen Ver- stände annehmbar zu machen , theils indem in den einzelnen Dog- men Verstand, in ihrer Gesammtheit verständige Ordnung nach- gewiesen ward , theils indem der natürliche Verstand geübt wurde im Aneignen des übersinnlichen Stoffes, und iliiu die Stufen ge- zeigt wurden, durch welche er sich zum Verständniss des Dogma's erheben kann. Einen weiteren Fortschritt kann die Scholastik nur machen, wenn sie einen neuen Impuls erhält. Dieser wird ihr zugleich mit einer neuen Aufgabe gegeben, deren Lösung sie in ihrer Glanzperiode versucht.

n.

Di« Glanzperiode der Scholastik.

§. 178. Je mehr der Geist des Christenthums ein ganz neuer ist, um so mehr muss der von ihm durchdrungenen Gemeinde der vor- und unchristliche Geist als ungeistliches Wesen, als weltlicher Sinn erscheinen. Daher ist der Kampf der Gemeinde, später der Kirche, gegen die Welt, ein fortgehender Kampf zugleich gegen den Culminationspunkt des klassischen Heidenthums, den Helle- nismus, und gegen den Gipfelpunkt des Orientalismus, das Juden- thura, so wie endlich gegen das, beide in sich aufnehmende Welt-

n. Glanzperiode. Einleitung. §. 178. 179. 305

reich der Römer. Dem erstereu tritt, schon in der apostolischen Zeit, die judaisirende Richtung, die ihren ersten Anstoss durch Petrus und Jokohus erhielt, dann in der Zeit der jugendlichen Gemeinde die mönchische Askese, das Suchen des Martyrtodes, end- lich in der Kirche das Dogma von dem Einen heiligen Gott und von der Schöpfung der Welt aus Nichts entgegen. Den Judais- mus bekämpft gleich anfänglich das an Paulus sich anlehnende Heidenchristenthum , dann contrastirt mit ihm der lebensfrische Geist der lediglich aus Priestern bestehenden Gemeinde, später wird ihm das Dogma von der Trinität, von der Erscheinung Got- tes im Fleisch, von der Werthlosigkeit alles gesetzlichen Thuns entgegengestellt. Mit dem Römerthum endlich kämpfen die Chri- sten, wo sie an den Pfeilern des Rechts, an dem Eigenthum und der Strafe, rütteln, und wo sie die, in der Kaiserverehrung sym- bolisch angedeutete, Vergötterung des Weltreichs, welches der römische Staat ist, von sich abweisen. Die den Griechen eine Thorheit, den Juden ein Aergerniss, den Römern wegen ihres odii generis hmnaiii eine sreleraihshna geiis waren, die gaben jenen solchen Hass reichlich zurück , und sahen es als ihre Auf- gabe an, wo nur ihnen Vorchristliches oder vom christlichen Geiste noch nicht Berührtes entgegentritt, nicht zu ruhen, bis es der geist- lichen Herrschaft unterworfen ist, eine Aufgabe, die gegen Ende des eilften Jahrhunderts ziemlich gelöst ist , wo der grösste unter den Päpsten, ein Gegenstück zu Carl dem Grossen, die Welt- hierarchie und Weltmonarchie verbindet, indem er die Welt über- wunden hat, die demüthig zu seinen Füssen liegt.

§• 179. Hatte, schon um den Kampf nur zu beginnen, das Reich Got- tes von dieser Welt werden müssen (s. §. 131), so hat noch mehr der Kampf selbst, seine Fortsetzung und lange Dauer, hier wie überall, eine Ansteckung mit dem Wesen des Bekämpften zur Folge gehabt. Die Kirche ist aus ihrem Siege über die Welt verwelt- licht hervorgegangen. Sie ist jüdisch geworden durch ihr, dem alttestamentlichen nachgebildetes, Priesterthum und ihren, wenn auch gemilderten , Pelagianismus , der sie auf den Ceremonialdienst so wie auf verdienstliche Werke, für die es zuletzt Aequivalente gibt, ein so grosses Gewicht legen lässt; sie ist heidnisch gewor- den , indem sie anstatt bloss " aus Kindern Gottes oder Priestern zu bestehn, auch Weltkinder in sich aufgenommen hat, welchen die Minorität als die (eigentliche) Kirche entgegengestellt wird; sie ist heidnisch geworden, indem sie an die Stelle der früheren Jenseitigkeit des Heils die sinnliche Diesseitigkeit desselben gesetzt

Erdmann , Gesch. d. Phil. I. prj

306 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

hat, nach welcher ein Gottesbild, eine Reliquie, eine Hostie, kurz ein sinnlich existirendes Ding, das Heil präsent macht, und Wun- der vermittelt. Sie ist endlich in ihrer Eroberungssucht und ihrer rabulistischen Auslegung der Gesetze eine Schülerinn Roms ge- worden und rühmt sich dess , als Nachfolgerin in seine Fusstapfen getreten zu seyn. Wie sehr der weltliclie Sinn Gewalt bekom- men hat über die Christenheit, zeigt sich, mehr noch als in allem Jenem, darin, dass sie an den Conflict mit dem unchristlichen Wesen gewöhnt, nicht mehr seine Gesellschaft missen kann. Xur mit Christen zu thun zu haben, genügt nicht mehr, sondern wie der Säure nach der Basis, so verlangt dem christlichen Geiste dieser Zeit nach einein Zusammentreffen mit seinem Gegensatz. In verjüngter Gestalt ist nun Alles, dem je das Christenthum ent- gegen getreten war, wieder aufgetreten im Islam. Heidenthuin, Judenthum und christliche Ketzerei waren die Lehrer Muhammeds, und was sie ihm gaben iiat der Schüler im Sinne eines römischen Welteroberers zu einer Lehre verschmolzen, die ganz von dieser Welt ist, so dass also alle die verschiedenen Züge, welche die apostolische Zeit dein Antichrist geliehen hatte, in dem Islam, dem eigentlichen Antichristenthum , sich vereinigen. Ein Zusam- raentrelfen mit ihm, dem Antichrist, wird um so nielir ein allge- meines Verlangen, als dadurch aucli die schönste aller Reliquien, die bis dahin noch gefehlt hatte, das Grab C/trlsli, erlangt, dem Scepter des heiligen Vaters die schönste Provinz , das heihge Land, unterworfen, und also verdienstliclie Werke aller Art vollbracht werden können. Es waren also alle Wünsche der damaligen Chri- stenheit zugleich, welche das Oberhaupt der Kirche für den Wil- len Gottes erklärte, als von ihm der Ruf ausging: bei dem Anti- christ durch Eroberung des Schatzes, den er besass, das Heil zu finden.

§. 180. Die Philosophie, als Selbstverständniss des Geistes, muss gleichfalls ihre Kreuzzüge haben. Sie zeigen uns die Scholastik, wie sie bei den antichristlichen Philosophen Weisheit lernt. Nicht mehr darum handelt es sich, den von christlichen Ideen durch- zogenen Neoplatonismus auszubeuten, oder von Aristoteles nur in dem sich belehren zu lassen, was im Alterthura und der christli- chen Zeit ganz gleichmässig gilt, in den Regeln des verständigen Denkens. Sondern es entsteht das Verlangen , den ganzen Inhalt rein griechischer Weisheit, welchen ArisfoieU's, der darum der Erzheide genannt werden kann , in sich concentrirt hatte (s. §. 92) der scholastischen Philosophie einzuverleiben, so dass jetzt, da

n. Glanzperiode. A. Muselmänner und Juden. §. 181. 307

die Mämier, welche die Kirche als ihre w(i(/istri ansieht, den Ari- stoteles zu ihrem Lehrer annehmen, dieser den Ehrennamen des mngister oder pJ/Uosopfms im eminenten Sinne bekommt. Dabei fehlt nicht etwa, wie bei P//ilo und den Kirclienvätern, die Ein- sicht, dass es sich um eine Weisheit handelt, die einer ganz an- deren Quelle entspringt als die Kirchenlehre. Vielmehr wird dies besonders hervorgehoben , denn , als wäre Aristoteles noch nicht unchristlich genug, muselmännische und jüdische Commentatoren müssen den eigentlichen Sinn seiner Lehren aufscliliessen. Dass die Kirche es duldete , später sogar forderte , dass ihre Lehrer zu den Füssen der Antichristen sassen, um Weisheit zu lernen, ist gerade so auffallend, wie dass sie die Gläubigen zu der gefährli- chen Bemhrung mit den Feinden des Glaubens anspornte. Erst in der Glanzperiode der Scholastik können ihre Repräsentanten Aristoteliker genannt werden. Da sie es durch die morgenländi- schen Peripatetiker wurden, so sind diese ihre Lehrer zuerst zu betrachten. Weil dieselben aber hier zur Sprache kommen nur als Lehrmeister der christlichen Scholastiker, so hat, wenn die ersten Uebersetzer ihrer W^erke den Sinn derselben nicht richtig gefasst haben sollten was sie daraus machten für uns grössere Wichtigkeit, als was das Quellenstudium der Xeueren als das Rich- tige heraus gebracht hat. Eben so müssen Werke, von denen die christlichen Scholastiker Nichts wussten , selbst wenn sie die bedeutendsten gewesen seyn sollten, weil sie ohne Einfluss geblie- ben sind, gegen die zurückgestellt werden, welche ihn hatten.

A. nuselniäuner uud Juden als Vorlaufer der christlichen Aristoteliker.

a. Die Aristoteliker im Morgenlande,

Aug. Schmölders Documenta philosophorum Arabum. Bonnae 1836. Desselben Essai sur les ecoles pbilosophiques chez les Arabes. Paris 1842. Abu-'l-Fatk' Muhammad asch - Scharastani Religionsparteien und Philosophenschuleu , übers, v. Th. Haarbrücher. Halle 1850. 51. 2 Bde. yfvnrlc Dictionnaire des sciences pbilo- sophiques. Paris 1844 52. VI vol.

§. 181. Ein Synkretismus \vie der Islam , noch dazu ein Reactionsver- such wie jene Weltanschauung es gegen die christliche ist, trägt keinen Entwicklungskeim in sich. Eben so wenig die Philosophie derer, die sich zum Islam bekennen. Die Bestimmung beider ist, die vorchristlichen Ideen lebendig zu erhalten, damit sie im Con- flict mit dem christlichen Geiste diesem zum Sporn und Lebens- wecker werden. Nachdem dieses geleistet ist , sterben sie ab. Die

20*

308 Mittelaltei-liche Philosopliie. Zweite Periode (Scholastik).

oben (§. 130, 5) erwähnte Vertreibung der Philosophen durch Jii- siinian hatte diese zuerst nach Persien , dann nacli Syrien gebracht. Hier entstehen schon im sechsten Jahrhunderte Uebersetzungen wenigstens einiger von den analytischen Schriften des Arisloieles, so wie seiner, namentlich der neuplatonischen, Commentatoren. Bei dem Aufschwünge , den unter den Abbasiden das Khalifat von Bagdad nahm, ward dieser Ort bald Mittelpunkt auch wissenschaft- lichen Strebens. Der schon früher übersetzte Galni lenkt die Auf- merksamkeit auf Phtto und Arlslotcles. Der nestorianische Kxzi Jlanaiv hvn hhah , später oft als JolntvvHius citirt (800 873), Compilator der Apophthegmata philosophorum , die grossen Paihm erworben haben, und sein Sohn huuth . beide des Syrischen und Arabischen gleich niüchtig, luil)en in beide Sprachen Schriften des Platn , Arisloirlos . Porp/njriiis . T/winisfiiis u. A. übertragen. Ihnen schhessen sich bald andere Üe1)ersetzer an, welche die grie- chischen Autoren , meistens aus dem Syrischen , manche aber auch direct aus dem Griechischen, ins Arabische übersetzen. Durch sie bildet sich allmählich die Schule derer, die „Philosophen" ge- nannt wurden, d. h. der, mehr oder minder unsell)stständigen, Paraphrasten des mit alexandrinischen Vorstellungen verschmol- zenen Aristotelismus. Miigen immerhin die, nur aus religiö- sem Bedürfniss licrvorgegangenen , rein arabischen , Speculationen mehr Originalität gehal)t haben, von nachhaltiger Wirkung für den Gang der Philosophie sind bloss jene Aristoteliker gewesen. Von ihren Landsleuten mit Misstrauen betrachtet, haben sie frühe Anerkennung bei den Juden gefunden , deren Schule zu Sora, nahe von Bagdad, durch Saadj« und Andere früh grossen Ruhm er- langte. Der Aveltlichen Pachtung des Islam gemäss behält der Ari- stotehsmus hier viel mehr den ('harakter der Weltweisheit, und bleibt daher, trotz des hineingenommenen emanatistischen Alexan- drinismus, der ursprünglichen Form desselben näher, als bei Man- chen seiner christlichen Anhänger.

§. 182. Die Reihe der Philosophen ci'öfifnet Ahn Jussnf Jahtb Jim Isaak al K'mrU ( AI kcndlv s) , in Basra wahrscheinlich ganz am Ende des achten Jahrhunderts geboren und gegen Ende des neun- ten gestorben, also ein Zeitgenosse des Erlgena (s. oben §. 154). Der Treffliche des Jahrhunderts , der Einzige seiner Zeit , der Phi- losoph der Araber u. s. w. sind seine Ehrennamen. Flügel (in: Al-Kindi genannt der Philosoph der Araber. Leipz. 1857) hat durch die Uebersetzung des im Fihrist gegebnen Registers aller Schriften des Alkendius die bei Cusiri (Bibl. arab. Escurial. I, 353 ff.) zu

IL Glanzperiode. A. Muselmäuner und Juden. Aviceuna. §. 184, 1. 309

findenden Nachweisiingen vervollständigt. Fast alle seine dort genannten Abhandlungen , zwei hundert drei und sechzig , worun- ter zwei und dreissig über Philosophie, sind verloren gegangen. Aus ihren Titeln aber ergibt sich, dass es kaum ein Gebiet gibt, in dem er nicht thätig war. Das Logische scheint ihm besonders beschäftigt zuhaben, und er kein sklavischer Uebersetzer, sondern ein selbstdeukender Paraphrast gewesen zu seyn. Mathematik gilt ihm als Grundlage alles Studiums, Naturwissenschaft als ein we- sentlicher Theil der Philosophie; Roger Buco und Cardunus (s. unten §. 212 und 242) schätzen ihn sehr hoch. Letzterer wohl wegen des Urgirens der Ein- und Ganzheit der Welt, vermöge der die Erkenntniss eines Theils die des Ganzen enthalte.

§. 183.

Abu Nasr Midimnined Ihn Muhdmmed Ihn Torklmn, nach der Provinz, wo er geboren wurde, al Furahi (Alpharah ins) ge- nannt (auch Ahunazar kommt vor), der im J. 950 stirbt, von dessen Schriften Casirl (1. c. I, 190) ein ausführliches Register gibt, soll bei seinen gründlichen logischen Arbeiten oft an den Al- kendius angeknüpft haben. Vor Allem ist seine Encyclopädie ge- rühmt worden, ausser der er aber Untersuchungen über alle mög- lichen Gegenstände theils in Commcntaren zum Aristoteles, theils selbstständig angestellt hat. Die Nachricht, dass er die Ueber- einstimmung des Phdo und Aristoteles sehr betont habe, weist auf neuplatonische Einflüsse. Sel1)st Gegner haben ihn sehr hoch gestellt. Die christlichen Aristoteliker citiren ihn sehi" oft, und namentlich sein Commentar zu den Analyt. post. des Aristoteles, der als de demonstratioue citirt wird, ist für ihre logische Ent- wicklung wichtig geworden. Eine lateinische Uebersetzung seiner Werke: Alpharabii, vetustissinii Aristotelis interpretis opera om- nia. Paris 1638. 8. ist sehr selten geworden. Aus dem Arabischen hat in der neueren Zeit Se/miölders Einiges übersetzt.

§. 184.

1. Einstimmig für den Ersten unter den Philosophen im Mor- genlande wird gehalten Abu Ali al- Hussein lim Abdallah Ibn Sina (Avicenna) , der, 978 in Bokhara geboren, an verschie- denen Orten gelebt hat und in Ispahan im J. 1036 gestorben ist, nachdem er als Arzt und Philosoph einen Ruf erworben, der viele Jahrhunderte gedauert hat. Schon im 12**^" Jahrhundert wa- ren die meisten seiner Werke übersetzt. Die Venetianer Ausgabe vom J. 1495 bezeichnet sie als opera philosophi facile primi. Ca- siri gibt (1. c. I, 26S ff.) eine Menge von Schriften an, von denen viele verloren sind. Unter diesen auch die Orientahsche Philoso-

310 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

phie, die Roger Baco noch kannte, und die nach Averroes etwas pantheistisch gewesen seyn muss. Das Werk des Schnrastani enthält eine genaue Darstelhmg von Amcenmis Logik, Metaphy- sik und Physik. Der Einfluss des Alfurubius ist, namentlich in seiner Logik, sehr sichtbar. Von dieser liegt in lateinischer, wie man sagt vom Juden Avciideiith veranstalteten , Uebersetzung nur der Theil vor , der von den fünf Universalien des Porpl/yrius han- delt. Darin ist nun das Interessanteste, dass die von Porplüjrius flüchtig berührte Frage (s. oben §. 128, 6) hier die Antwort er- hält, dass nicht nur die gener a, sondern alle nnir er salin sowol ante iniiltitudlnem seyen, im göttlichen Verstände nämlich, als auch in multitvdine als die realen gemeinschaftlichen Prädicate der Dinge, endlich aber auch post mnltHndinem als unsere, von den Dingen abstrahirten , Begriffe. So war also, wenn man ge- nauer zusieht bis in die verschiedenen Modificationen hinein (vgl. Pranii 1. c. 11 , 350 ff.) , der Streit des Realismus und Nominalis- mus im Morgenlande geschlichtet , ehe er im Abendlande entbrannt war. Ausser diesem Bruchstück aus einem grösseren Werke, sind zwei compendiarische üebersichten der Logik auf uns gelangt, eine in Prosa, von der P. Vnilier im J. 1658 in Paris eine französi- sche, und eine metrisch verfasste, von der Scinnölders in seinen Documentis eine lateinische Uebersetzung gegeben hat.

2. Geht man von der Logik, die den Arabern nur Werkzeug der Wissenschaft ist, zu dieser selbst über, so wird das absolut Einfache, alle blosse Möglichkeit von sich ausschliessende, eben darum aber Undefinirbare an die Spitze gestellt, mit dessen We- sen die Existenz gesetzt ist, das absolut Nothwendige und Voll- kommene. Dies ist das Gute, nach dem jedes Ding verlangt und durch welches es vollkommen wird. Es ist, weil seine Existenz die sicherste Gewissheit ist, zugleich das Wahre. Unbeschadet seiner Einheit ist es Denken, Denkendes und Gedachtes, und denkt, indem es sich denkt, alle Dinge, deren Grund es durch sein Wesen, nicht durch Vorsatz, ist. Diesem ganz Abstracten {ywqioiov bei Aristoteles) steht gegenüber das , dem die blosse Möglichkeit als Prädicat zukommt, die matcria oCiev/nfle. die zur Existenz und Nichtexistenz ganz gleich sich verhaltend, um zu existiren eines Andern bedarf, welches der Existenz das Ueberge- wicht gebe. Die Materie, kein körperlicher Stotf, sondern Nicht- seyn, Schranke, ist das Princip jedes Mangels, deshalb auch des an Ordnung, Schönheit, Vollkommenheit. Was zwischen beiden in der Mitte steht, besteht aus Intelligiblem, der Form, und Sen- siblem, der Materie, oder, was dasselbe heisst, es ist in ihm

II. Glanzperiode. A. Muselmänner und Juden. Avicenna. §. 184, 3. 4. Oll

Möglichkeit und Existenz zu unterscheiden. Eine einzige Ausnahme gibt es , sie wird gebiklet von dem thätigen Verstände , diesem er- sten Ausflusse aus dem nothwendig Existirenden. In diesem fin- det, weil er das Erste und sich selbst denkt, die erste Mannig- faltigkeit Statt, ohne welche, da die reine Einheit nur wieder Einheit produciren kann, es zu einer unendlichen Reihe von Ein- heiten, nicht aber zu einer körperlichen Welt, kommen würde. Da der thätige Verstand seine Möglichkeit in sich, seine Existenz von dem Ersten und Einen hat, so steht er trotz seiner völligen Immaterialität und Vollkommenheit unter dem Letzteren, welches darum oft als das Mehr- als -vollkommne bezeichnet wird.

3. Wie der vom Ersten ausgehende thätige Verstand von je- nem die Einheit, so hat wieder die von ihm selbst ausgehende weitere Emanation von ihm die Zweiheit als Mitgabe. Darum be- stehn die Himmelskreise aus Materie und Form, d. h. jede Sphäre ist durch eine Seele belebt. In jeder aber zeigt sich, weil sie Emanation aus einem denkenden Principe, auch eine Intelligenz, die Arlcennn oft als Engel bezeichnet. Alle Himmelskreise haben zu ihrem gemeinschaftlichen Grunde das erste Verursachte, den thätigen Verstand, gehen also nicht aus einander hervor. Wohl aber ist der alle anderen umfassende Himmelskreis (ob Fixstern- himmel, ob Krystallhimmel über demselben, bleibt unentschieden) der Beweger der übrigen unter ihm. Seine eigne Bewegung be- treffend, so ist diese nicht in dem Sinne natürlich wie die des Feuers nach oben u. s. w., denn diese letzteren bestehen nur in einem Bestreben aus einem fremden Aufenthaltsort heraus in den eignen zu gelangen , dagegen wird der Himmel durch die ihm im- manente Seele bewegt, die sich nach dem umgebenden Urgründe sehnt, und darum jedem Punkte desselben sich anzunähern trach- tet, eine Sehnsucht, die auch die Seelen der unteren Kreise thei- len. Wie überall, so ist also auch hier der Zweck das, selbst unbewegte, Movens. Die Himmelskreise zeigen, wenn auch nicht Vollkommenes und Ewiges, so doch GenügendQg und Sempiternes, erst unter dem letzten beginnt das Gebiet des Ungenügenden und Vergänghchen. (Dass eines von Aricemia's Werken sufficientia heisst, findet hier seine Erklärung.) Im Gebiete des Vergängli- chen zeigt sich die geradlinichte Bewegung, die räumliche Erschei- nung des Streljens , auf dem* kürzesten Wege seinen natürlichen Platz zu erreichen; die Entfernung vom natürlichen Zustande ist das Maass dieser Bewegung.

4. Aus den beiden activen Qualitäten kalt und warm, und den zwei passiven trocken und feucht, werden als die möglichen

312 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

Combinatioiien die vier Elemente abgeleitet, die, wegen der ihnen zu Grunde liegenden Materie, in einander übergelin können. In dem Erdkörper liegen sie geschichtet über einander, nur Erhe- bungen und Versenkungen modificircn die natürliche Ordnung. Das J'euer, durchsichtig wie Rauch und nur durch den Rauch farbig, bildet über den vier Luftschichten eine höhere, in der eben des- wegen die feurigen Meteore entstehen. Warum der Regenbogen ein Kreis, das sey mathematisch erklärlich, nicht aber warum er farbig. Aus den in der Erde eingeschlossenen Dünsten werden nicht nur die Erdbeben , sondern , unter Annahme einer Mitwir- kung der Sterne, auch die Enstehung der Metalle erklärt. Diese wieder spielen eine sehr wichtige Rolle bei der Zusammensetzung derjenigen Körper, die durch Hinzutreten einer Seele zu lebendi- gen werden. Der Begriff der Seele , die drei Stufen derselben nebst ihren eigenthümlichen Functionen, stinnnt fast wörtlich mit Aristo- teles überein, nui' dass durch weiter gehende, meistens dichoto- mischc, Eintheilungen noch weiter distinguirt wird. Die Sinne werden ausführlich betrachtet, und da in dem fünften vier ver- schiedene Empfindungen unterschieden werden (Wärme, Weiche, Trockenheit, Glätte), so ist oft von acht Sinnen die Rede. Zu ihnen kommt der innere oder Gemein -Sinn, den mit jenen zusam- men Aricenna mit dem griechischen Worte qavzaoia bezeichnet. Ausser ihr kommt der anima sensitiva auch noch die abschätzende oder beurtheilende, so wie die erinnernde Kraft zu. Durch ge- wisse feine Substanzen, die sphitiis (in'nuales^ werden die einzel- nen Functionen mit den einzelnen Partien des Gehirns verbunden. Was nun insbesondere die vernünftige Seele im Menschen betrifft, die zwar mit dem Leibe entsteht, aber, weil sie von anderen, im- materiellen, Ursachen hervorgebracht wird, ihn überdauert, so wird in ihr die handelnde und die wissende oder speculative Kraft unterschieden, welche letztere sich in die universellen, von der Materie abgezogenen. Formen zu versenken vermag. Dabei sind die Grade der Anlß,ge , des Vorbereitetseyns und der Fertigkeit zu unterscheiden (inteUectus materialis s. posslbi/ls, jyraeparatus s. disposUns, endlich in actit). Um zur wirkhchen Erkenntniss der Formen zu gelangen aber, dazu bedarf es einer Eingiessung von dem ersten Verursachten, dem thätigen Verstände, der, weil er in allen vernünftigen Seelen wirkt, auch der allgemeine genannt wird. Diese Erleuchtung, die oft im Traum , oft im Wachen (wenn plötzlich, Sih raptiis) eintritt, ist zu jeder Erkenntniss nöthig. Ihr höchster Grad ist die Prophetie, die oft mit Visionen der Einbil- dungskraft verbunden ist. Ein Gegensatz der Vernunfterkenutniss

II. Glanzperiode. A. Muselmänner und Juden. Algazel. §. 185. 313

zur Lehre des (liöclisten) Propheten ist darum eine Unmöglichkeit. Reinigungen der Seele, asketische Uebungen, Gebet und Fasten, in welchen der Mensch von dem Bösen, d. h. der Schranke, sich befreit, ist die Vorbereitung zu jener Eingiessung, in welcher der Verstand in dem Maasse, als er Alles erkennt, zu einer intelligi- blen Welt wird; dieses Erfassen der Welt und ihrer Gründe ist die stets w^achsende Glückseligkeit.

§. 185. Dass mit Alfurabius und Aincenna der speculative Geist bei den Arabern sich erschöpft hat, erhellt daraus, dass schon zwei Menschenalter nach dem Letzteren Abu Huviid Mahammed Ihn Muhammcd cd - Ghazzali ( Alyazel) die Stellung einnimmt, die oben (s. §. IT-l fif.) dem Johannes von Salisbury und Amalrich von Chartres angewiesen ward : die Philosophie erklärt durch ihren üebergang in Skepsis und Mysticismus ihi'en Bankerott. Cusiri a. a. 0., Schiuölders a. a. 0. , namenthch aber Gosche (lieber Ghaz- zali's Leben und Werke. Berlin 1858) geben genauere Nachrichten über diesen Mann, der im J. 1059 in einem zu der persischen Stadt Tüs gehörigen Städtchen Ghazzalah geboren, zuerst in der Schaffiitischen Theologie gründlich unterrichtet, nach einer lang- jährigen Beschäftigung mit der Vristotelischen Philosophie 1091 in Bagdad als Lehrer auftrat, endlich aber sich ganz dem Ssufismus hingegeben hat, und in klösterlicher Einsamkeit in Tüs im J. IUI gestorben ist. Sein, von Jugend auf mächtiges Verlangen, die verschiedensten Ansichten kennen zu lernen, verräth den mehr sammelnden als schaffenden Geist, wie denn Encyclopädie und Logik seine besondere Stärke geblieben sind. Der Widerstreit der philosophischen Ansichten macht ihn irre an der Philosophie und daraus geht sein berühmtes Werk hervor: die gegenseitige Widerlegung der Philosophen (Destructio philosophorum) , die wir durch die Widerlegung des Averroes (s. unten §. 187) kennen. Nur als Vorbereitung zur Theologie lässt Algazel sie später gel- ten. So in seinem, von seinen Landsleuten besonders geschätzten, Werke: die Wiederbelebung der Religionswissenschaften, von dem wir erst seit 1852 durch Hitzig etwas Genaueres wissen. Ein, kurz vor seinem Tode geschriebenes, von Schiuölders in seinem Essai p. 16 ff. übersetztes, Werk führt den ganzen Bildungsgang dieses Mannes vor, wie er zuletzt dazu kommt alle Erkenntnisse in solche zu theilen , die der Religion nützlich oder schädlich sind. Seine früheren, besonders seine logischen, Schriften sind nament- lich von Juden sehr geschätzt und darum frühe ins Hebräische übersetzt worden. Lateinisch erschien: Logica et philosopliia AI-

314 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

gazelis Arabis Venet, 1506. 4. (übers, von Liechtenstehi). Die An- regung, die seine „Wiederbelebung" vielen seiner Landsleute gab, ist für die Entwicklung der Philosophie ohne Bedeutung geblieben.

b. Die Aristoteliker in Spanien. Emest Benan Averroes et l'Averroisme. Paris 1852.

§. 186. Das zehnte Jahrhundert war für Spanien, namentlich Anda- lusien, das goldene Zeitalter. Religiöse Toleranz ohne Gleichen liess eine grosse Zahl hoher Schulen entstehn, an welchen Chri- sten, Juden und Muselmänner gleichzeitig lehrten; Bibliotheken wuchsen riesenhaft an und auch eine Reaction des blinden Fana- tisiinis konnte den, einmal erwachten, Trieb nach "Wissenschaft nicht mehr ersticken. Gerade als im Orient die Philosophie ver- dorrt, blüht sie in Spanien recht auf. Angeregt von AJgazel, aber im Gegensatz zu dessen späterer Skepsis und Mystik, lehrt Ahn Bahr Um Alsaieyh Ihn Bad] eh (AvempaceJ ^ der, ein Zeitgenosse des Abähtrd (s. oben §. 161), in Saragossa geboren und im J. 1138 gestorben ist. Unter seinen Schriften, deren Re- gister Wi'tstenfeUl (Geschichte der Arabischen Aerzte und Natur- forscher. Göttingen 1840) angibt, ist seine „Diät des Einsamen" berühmt geworden. In ihr, w'ie in anderen Werken, wird durchge- führt, dass durch die natürliche Steigerung der Vorstellung zum Denken u. s. w. der Mensch im Stande sey, zur Erkenntniss im- mer reinerer Formen zu gelangen. Diesen selben , im Verhältniss zu Afffuzcl rationalistischen, Charakter zeigt ein Schüler von ihm Ahn Bclr Ihn TofdiJ (bald Ahif hacer , bald TophiiU genannt), geboren in Sevilla, wo er gegen Ende des 12*™ Jahrhunderts starb, also ein Zeitgenosse des Johannes von SaUsbury (s. oben §. 175). Sein philosophischer Roman „der p]rdensohn", der nach Schmöl- ders eine Uebersetzung aus dem Persischen, nach Anderen dage- gen ein Original seyn soll, ist von Pocork lateinisch (Philosophus autodidactus) , nach ihm von Eichhorn deutsch herausgegeben wor- den, und sucht zu zeigen, dass, ganz abgesehn von aller Offen- barung, der Mensch im Stande ist, zur Erkenntniss der Natur, und durch sie Gottes, zu gelangen. Was ausser dieser natürli- chen Religion in den positiven Religionen vorkommt, ist theils sinnbildliche Verhüllung der Wahrheit, theils Accommodation. Da Beides für die Ungebildeten und Schwachen nothwendig, so ist trotz seines Rationalismus Abvhacer ein Feind aller religiösen Neuerungen.

II. Glanzperiode. A. Muselmänner und Juden. Averroes. §. 187, 1.2. olo

§. 187.

1. Mit Abnhacer befreundet, mit den Schriften des Avcmpace und seiner orientalischen Glaubensgenossen so vertraut, dass die bewundernde Nachwelt Manches , was sie fanden , ihm zugeschrie- ben hat, ist Abu Wulld M nliaiumed Ihn Achmed Ihn Mnliam- med Ihn liosckd (Averroes). (Unter den vielen Corruptionen seines Namens, die Renan anführt, sind viele, wie die gewöhnliche eben angegebne, aus dem Patronymico entstanden, so Aren Tlois, Areroys, Benroyst u. A., andere aus dem Eigennamen , wie i)/c?«- hucius , Mauviüns u. a.) In Cordova im J. 1120 geboren, in Ma- rocco als Leibarzt gestorben, hat er während seines Lebens bald als Arzt, bald als Oberrichter fungirt, bald im intimsten Verhält- niss zum Regenten gestanden, bald wegen verletzter Etiquette fast wie ein Verbannter gelebt, in allen Lagen aber sich mit Philoso- phie beschäftigt, und dadurch den Hass und die Verfolgung sei- ner Landslcute auf sich geladen. Seine Werke, deren Register Casiri a. a. 0,, vollständiger Renan a. a. 0. angibt, und von wel- chen, ausser seinen Commentaren und Paraphrasen Aristotelischer Schriften, die gegen Alyazel gerichtete Destructio destructionis, sein oft gedruckter Tractat de substantia orbis, ferner de mundo et coelo, endlich de animae beatitudine für seine Grundanschauun- gen die wichtigsten, sind in lateinischer Uebersetzung zuerst 1472, dann mehr als hundert Mal gedruckt worden. Als beste Ausgabe gilt die Venetianer vom Jahre 1553.

2. In entschiedenem Gegensatz zu jeder Schöpfung aus Nichts, wie sie Johannes P/.Uoponiis (s. oben §. 146) vertrat, und eben so gegen den Amcenna , weil er die Formen au die Materie heran- kommen lasse, behauptet Averroes, dass die ewige Materie die Formen in sich enthalte , so dass sie bloss aus ihr herausgezogen, d. h. in Bewegung gesetzt zu werden brauchen, um wirklich zu seyn. Die Ansicht der Theologen aller drei Religionen hebe eigent- lich den Begriff der Natur auf, setze lauter vereinzelte Erschaf- fungen an die Stelle; dagegen behaupte die Philosophie nur ein Uebergehn aus der Möglichkeit in die Wirkhchkeit, so dass alles Möghche einmal wirklich wird, ja, im Ganzen der Ewigkeit be- trachtet , bereits wirklich ist , weil in Mitten der Ewigkeit , wo der Philosoph steht, es kein Vorher noch Nachher gibt, so dass er eigentlich nicht sagen kann," dass die Unordnung der Ordmmg vorausgegangen sey. Natürlich ist dieses Uebergehn, da ewig, auch nothwendig, und gilt des Avicennu Behauptung, der erste Bewe- ger sey frei , dem Averroes als eine tadelnswerthe Nachgiebigkeit gegen die Orthodoxen. Zwischen der Materie und dem ersten Be-

316 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik),

weger stellt Ar.erroes , wie Acicenna, die ganze Reihe der We- sen, nur dass er den tliätigen Verstand nicht über den Himmel, sondern mit ihm als Eins setzt, so dass also der Himmel, weil er selbst Intelligenz ist, nach dem ersten Bewegenden verlangt und sich, eben so aber alles unter ihm Bcfasste, ewig in kreisför- miger Bahn bewegt. Eben so erkennt er es, nur erstreckt sich sein Erkennen nicht auf das Einzelne, hat nur das Allgemeine zum Gegenstande. Eben darum ist , da die Gattungen und Arten dauern , in dem Erkennen kein Wechsel , es bleibt sich ewig gleich. Wie dem Himmel, so kommt auch den unter ihm befassten Him- melskreisen Wissen zu, so dass es also eine Reihe von Intelligen- zen gibt, deren jede die unter ihr befindhchen begreift, nach der über ihr strebt. Steigt mau nun immer mehr ab\Yärts, so kommt man endlich auf die Intelligenz, welche die sublunarische Welt durchdringt und beseelt. Dies ist der inleUe.ctus nnlcersalis , an welcliem als an dem allgemeinen Verstände die einzelnen Men- schen Theil nehmen, welcher einerseits der allen Menschen ge- meinsame, andrerseits aber als der Verstand oder Geist der sub- lunarischen Welt beschränkt , daher mulcrlaUs, ist. Diese Intel- ligenz, welche also in den Menschen denkt und den Mond und Alles unter ihm bewegt, verbindet sich in dem einzelnen Menschen mit den, an die Organe gebundenen, Thätigkeiten oder dem in- iellectvs paüens (passivus), und wird dadurch zum inteUectus /'actus oder receplus. Dieses eigenthüinhche Denken ist nun so vorübergehend, wie das einzelne Individuum selbst. Unsterblich ist, wie die Menschengattung, so auch der Geist, nicht eines, sondern des, Menschen.

3. Durch die Thätigkeit des thätigen (höchsten) Verstandes und sein Herantreten an den universellen (Menschen-) Verstand, entsteht die Philosophie, welche aber, wegen der Beschränktheit des letzteren, keine intuitive, sondern nur eine mittelbare Erkennt- niss des Göttlichen ist. Wie die beiden Factoren, deren Product sie, so ist auch die Philosophie selbst unsterblich und ewig, die Philosophen, in denen sie existirt, sind vergängliche Exemplare, deren Unsterblichkeit in dem besteht, was sie auch für die Nach- welt Gültiges gefunden haben. Diese Lehre von der Vergänglich- keit des Individuums ist nach Jrerroes durchaus der Sittlichkeit nicht hinderhch. Vielmehr befreit gerade sie von dem servilen Handeln um des Lohnes und der Strafe willen, mit dem wahre Moralität unvereinbar ist. Indess gibt er zu, dass Religion für die Schwachen nothwendig, und warnt um so mehr davor, die- selbe anzugreifen, als sehr oft eine genauere Betrachtung zeige,

n. Glanzperiode. A. Muselmänner u. Juden. ÄTicembron. §. 188. 189. 317

(lass unter bildlichen Ausdrücken Solches verborgen sey, was auch der Philosoph behaupte.

§. 188.

Auch in Spanien fanden die muselmännischen Philosophen viel weniger Anklang bei ihren Glaubensgenossen als bei den Ju- den; diese, welche schon etwas früher im südlichen Frankreich durch Schulen aller Art einen hohen Culturgrad erreicht hatten, fanden unter der maurischen Herrschaft in Spanien eine Duldung, die bis dahin unerhört gewesen war. Gemeinschaftliche Sprache, Mischehen, trugen dazu bei, dass ihnen bald auch die Lehrämter nicht verschlossen waren, und so haben, gleichzeitig mit den Mauren, vielleicht gar vor ihnen, wissenschaftlich gebildete Juden die Bahnen weiter verfolgt , die in Bagdad betreten waren. Mintck in Paris hat im J. 1846 bewiesen, dass die im Mittelalter so häu- fig citirte Schrift Föns vitae zu ihrem Verfasser den Juden *SV//o- 7non heil Gabirol (J ri ccmhronj hat. Was er aber für eine hebräische Uebersetzung dieses , bis dahin für verloren gehaltenen, Werks erklärt hat, scheint nur ein Auszug, das Manuscript der Mnzariiic dagegen de raateria universali, worüber Seiier/eln (Zel- lers Jahrbb. Bd. 15) berichtet hat, eine vollständige lateinische Uebersetzung zu seyn. In dialogischer Form A\ird darin durchge- fülu't, dass der Gegensatz von Materie imd Form, w^elcher der- selbe sey mit dem des f/eiuis und der diffcreiitiit , eben so sehr die sinnliche, wie die sittliche, Welt beherrscht, dass aber wie über der Welt so auch über jenem Gegensatze das Wesen der Wesen stehe, das el)en darum auch als das Materialpriiicip von Allem zu nehmen sey. Dieser letzte Satz, so wie der, auch von den Arabern ausgesprochene, dass auch die übersinnlichen Sub- stanzen nicht ohne Materie seyen, ward später sehr bekämpft.

§. 189.

Ob nicht auch die Schrift de causis (auch als de intelligen- tiis, de Esse, de essentia purae bonitatis citirt), welche von dem Juden David ins Lateinische übersetzt, später aber von den christ- lichen Aristotelikern in Vorlesungen erklärt , in Schriften commen- tirt, und fortwährend citirt wurde, ob nicht auch sie einen Juden zum Verfasser habe, ist bis jetzt nicht entschieden. Vieles spricht dafür. Bei ihren Commentatoren gilt sie theils für eine acht Ari- stotelische, theils für eine Coitipilation des Juden DaruJ aus Schrif- ten des ArlstcAdcs und einiger Araber , theils endlich für ein spä- ter restaurirtes Werk des Prohhis. steht aber im Wesentlichen auf dem Standpunkt des Föns vitae, indem sie, ähnlich wie Ari- ceima , die Uebereinstimmung der Religion und der Philosophie

318 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

noch energischer als jene Schrift, festhcält. Die Stufenfolge der ersten Ursache, die vor aller Ewigkeit, der Intelligenz, die mit der Ewigkeit, endheh der Seele, die nach der Ewigkeit aber vor der Zeit ist, w^eil die Zeit einer zählenden Seele bedürfe (s. oben §. 88, 1), ferner dass das Wesen der ersten Ursache reine Güte sey , dass aus ihr als der absoluten Ruhe die folgenden Principien emaniren u. s. w., alles dies zeigt eine Verschmelzung Aristoteli- scher und Alexandrinischer Vorstellungen, die natürlich Berüh- rungspunkte mit den Neuplatonikern (s. oben §. 126 ff.) zeigen muss.

§. 190. Gerade wie unter den Muselmännern sich der supranaturali- stischen Richtung des Avicenna die naturalistische des Arerrniis entgegen stellte , so zeigt sich (gemildert freilich) ein gleicher Ge- gensatz unter den Juden. Dem Arcrroi's dort entspricht hier ein Mann, der wohl nicht bloss deswegen, weil er mit yiverroes aus denselben Quellen geschöpft hat, aus den Schriften des Ar empöre und dem Unterricht des Ahiihacrr . ein Averroist genannt worden ist. Es ist der am 30. März 1135 in Cordova geborene, im J. 1204 gestorbene Moses hen Mainion (M (limonide s) , über den Geiger eine gute Monographie geschrieben hat (Breslau 1835). Von seinen Schriften, deren ausführliches Register sich bei Oisiri (I, p. 295) findet, ist zu nennen sein Tractat Aboth, der eine Sammlung rabbinischer Sprüche enthält, zu welchen Moses selbst eine Einleitung in acht Abschnitten geschrieben hat, die seine ethischen (aristotelisch -thalmudischen) Ansichten enthält, beson- ders aber als die berühmteste das von Biixtorf ins Lateinische übersetzte More Nevochim (Doctor perplexorum). Es zeigt einen verständigen, aller Mystik abholden Mann, der in seinen Lehren von einer bloss generellen Providenz, vom universellen Verstände u. s. w. grosse Verwandtschaft mit Arerroes zeigt, und so erklär- lich macht, warum ein späterer Verehrer des Maimonidcs , Spi- noza , sich demselben gleichfalls annähert. In Anderem weicht er aber auch von Jenem sehr ab. Der Gang seines dreitheiligen Werks ist dieser: Nach einer kritischen Sichtung der Gottesna- men wird die Lehre von den göttlichen Attributen entwickelt, da- bei sehr gegen alles Authropopathische polemisirt, und daran die Eintheilung alles Existirenden in Makrokosmus und Mikrokosmus, Welt und Mensch, angeknüpft. Eine kritische Zusammenstellung der orthodoxen jüdischen und muselmännischen Lehren ist damit verbunden. Im zweiten Theile entwickelt er die Lehren der Peri- patetiker; meistens ihnen zustimmend, will er doch keine Ewigkeit

II. Glanzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Uebersetzer. §. 191. 319

der Welt « parte aide, sondern nur a parte post. Der dritte Theil betrachtet den Endzweck der AVelt, die göttliche Vorsehung, das Böse so wie das demselben steuernde Gesetz, und schhesst mit Betrachtungen über Gotteserkenutniss und Gottesgemeinschaft.

B. Der Aristotclismus in der christlichen Scholastik.

Jovrdain Gieschiohte ilev Aristotelischen Schriften im Mittelalter übers, von Ad. Stahr. Halle 1831.

§. 191. Durch Juden, welche fast allein in jener Zeit, zunächst im Handels -Interesse, Reisen machten und fremde Sprachen erlern- ten, kamen die ersten Xachrichten von der muselmännischen Weis- heit nach dem christlichen Europa. Lateinische Uehersetzungen, gleichfalls von Juden augefertigt, sehr oft mit dem Umwege, dass zuerst ins Hebräische übertragen ward, thaten das Weitere. Me- dicinische und astronomische Werke eröffneten liier den Reigen. Die ersteren finden an Constduthiiis Afrlcunus schon in der Mitte des eilfteu Jahrhunderts, die zweiten an Adelard von Bath ein halbes Jahrhundert später, fleissige Uebersetzer. Dann kamen die philosophischen Werke an die Reihe, namentlich seit lUnjminid Erzbischof von Toledo , Kanzler von Castilien , sich der Sache an- nMim. AlfanibL Algazel , Anceinui sind die ersten Autoren, die übersetzt werden; der Archidiaconus Domhiiviis Gomalci, der Jude Johannes Ben Daitd (gewöhnlich Arendeaf//, auch Johannes Hispalensis genannt), ferner der Jude Dacid und Jehuda Ben Tibbon. „der Vater der Uebersetzer", sind die ersten, die sich der Arbeit unterziehn, und ausser jenen auch die Schrift de cau- sis übertragen. Ausserdem sind Alfred von Morlay (Anglkus) und Gerard von Cremona zu nennen. Etwas später wird durch Michael Scotus (geb. 1190) und llermanniis Alemaniins, oder vielmehr unter ihrer Aufsicht , an dem Hofe des durch seinen wis- senschaftlichen Eifer eben so wie durch seine Heterodoxie bekann- ten Friedrich II auch Acerrocs ül)ersetzt. Zugleich entstehen Uehersetzungen der, bis dahin gar nicht gekannten. Aristotelischen Metaphysik und seiner physikalischen Schriften. Alle aus dem Arabischen, denn vor 1220 kommen keine anderen vor. llobert (Grcathcad , Grosse -tele) (1175 1255), zuerst Lehrer in Paris und Oxford, dann Bischof von Lincoln, wird als einer der Ersten genannt, welcher dafür gesorgt habe, dass Uehersetzungen aus dem Griechischen gemacht wurden; er selbst hat u. A. apokryphi- sche Schriften , wie das Testament der zwölf Patriarchen, übersetzt.

320 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

Nach ihm sind die Dominikaner Thomas von Cantimpre und Wilhelm von Moerbeka zu nennen, an die sich dann Andere angeschlossen haben. Ho ff er Baco spricht allen diesen Uebersetzern die gründ- liche Kenntniss sowol des Arabischen als des Griechischen ab.

§. 192. Dass Ddvid von Dhianlo ein Buch de divisionibus ge- schrieben hat, und dass, als im J, 1209 seine Lehre verdammt ward, zugleich das Anathem über Amalrlch (s. oben §. 176) er- neut wurde, hat dahin gebracht den David zu einem Schüler Amalrichs zu machen, der gleich diesem auf Eriffena zurückge- gangen sey. Hätte man (wie Kränlein in den Studien und Kriti- ken mit Recht thut) mehr Gewicht darauf gelegt, dass in das Verdammungsurtheil über ihn auch das, ub&r des, Aristoteles phy- sikalische Schriften und die Commentare dazu, hineingenoramen ist, und dass, bei der Erneuerung dieses Urtheils im J. 1215 ne- ben dem Dfirifl auch ein Mavritivs Htspanns verdammt wird, so wäre man zu der riclitigern Ansicht gekommen (gesetzt auch Mavriliiis W'äre nicht Manriliiis d, h. Arerroi's , s. oben §. 187, 1) dass er seine Anregung und seinen Pantheismus von mauri- schen Commentatoren des Arisfofelrs empfangen habe, wofür auch dies spricht, dass er oft den Ana.vimeii.es . Demoln'H , Pliilareh, Orpheus u. A. citirt, deren Namen die Araber oft anführen, so wie dass Albert d. Gr. seinen Pantheismus von dem des Xenopharies ableitet. Auch seine Classification der Dinge in materialia , spi- ritvalia und separafa, welche den drei P)egriffen des SKseipiens, mevs und Dens parallel gehen , streitet nicht mit der Annahme, dass David der Erste ist, der sich als Schüler der Muselmänner gerirt, und der eben darum das IjOos des Neuerers erfährt, wie vor ihm die Gnostiker (s. oben §. 122 ff.) und Eriffena (s. oben §. 154). Seine Reduction der drei Principien der Platoniker, von welchen er ausgeht, auf ein einziges, wodurch Gott zuletzt auch zum Materialprincip aller Dinge gemacht wird , ist wohl nicht mit Unrecht als eine Entlehnung aus dem fons vitae angesehen worden. Dass im Jahre 1209 die physikalischen Schriften des Aristoteles, im J, 1215 sie und seine Metaphysik von der Kirche verdammt •werden, im J. 1231 nur das Lesen über sie bis auf Weiteres un- tersagt wird, im J. 1254 aber ohne Widerspruch der Kirche die Pa- riser Universität die Zahl der Stunden bestimmt, die der Erklärung der Metaphysik und der hauptsächlichsten physikalischen Schriften des Aristoteles gewidmet seyn soll, ja dass noch kein Jahrhundert nachher die Kirche selbst erklärt. Niemand solle Magister werden, der nicht über den Aristoteles , diesen praecursor Christi in na-

II. Glanzperiode. B. Christliche Aristoteliker. §. 193. 321

iuralihns sicvt Joannes Bnptisfa in grniuiüs , gelesen habe, dies zeigt abermals , wie consequent die Kirche die Zeiten unterscheidet.

§. 193.

Wie bei den Gnostikern, bei Origcnes , bei Erigenn , so ver- bindet sich auch hier mit der Heterodoxie, die in der Neuerung als solcher liegt , bei denen , welche sich von den Antichristen be- lehren lassen, eine Neigung zu Behauptungen, welche die Kirche nicht dulden kann. Wie bald nach dem Bekanntwerden der Ari- stotelischen Schriften und ihrei- Commentatoren , an der Pariser Universität, namentlich bei der Artisten - Facultcät naturalistische Tendenzen im Sinne des Arcrroes und ihm gleichgesinnter Musel- männer sich offenbarten, dafür spricht der Umstand, dass nicht nur der, in diesen Studien nicht unbewanderte Bischof Wilhelm (von Auvergne) , dagegen eifert , sondern dass die Universität selbst öfter das Hineinmischen der Philosophie in die Theologie verbietet. Nicht mit Verdammungsurtheilen und Verboten, sondern in einer wirksameren Weise, suchen die Dominicaner und Franciscaner die Gefahr, welche der Kirche von den Neuerern droht, zu beseitigen. Ihr Kampf um die Lehrstühle der Universität und, als sie diese erkämpft ha])en, um die förmliche Aufnahme in die akademische Corporation, ist nicht bloss aus ihrem Ehrgeize zu erklären, son- dern mehr noch aus dem Verlangen, dem kirchenfeindlichen Trei- ben der Neuerer entgegenzutreten, und es mit seinen eignen Waf- fen, mit der Autorität des Aristo! des und Aricenna zu schlagen. Dass gerade die Glieder der beiden Bettelorden sich in dieser Pe- riode als die Wortführer in der Philosophie zeigen , darf nicht be- fremden. Ihnen, diesen Geisthchsten unter den Geistlichen, ziemte es vor Allem, den geisthchen Charakter, den (s. oben §.119. 120) das Mittelalter trägt, der Philosophie aufzuprägen; ihnen, die das stehende Heer der Kirche bildeten , lag es mehr als allen Uebrigen ob, auch die Philosophie in eine ganz kirchliche Wissenschaft zu ver- wandeln, wie dies oben (§. 151) als die Bestimmung der Scholastik angegeben wurde. Beides war sicherlich dann am Meisten erreicht, wenn der grösste der Weltweisen mit dem, was er über die sinn- liche und sittliche Welt ergrübelt hatte, und wenn die, welche ihm seine Waffen abgeborgt hatten , um damit die Lehre des Anti- christs zu vertheidigen, wenn diese dazu gebracht wurden, Zeug- niss abzulegen für die Dogmen und Decretalen der lürche.

§. 194.

Die Aufnahme des Aristotelismus in die Scholastik darf ein Fortschritt nur genannt werden, wenn Nichts von dem verloren geht, was die früheren Scholastiker erobert hatten, dagegen Sol-

Erdmann, Gesch. d. Phil I. Ol

322 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

ches, was bei ihnen fehlt, hinzukommt. So aber ist es wirklich: Indem jetzt die Uebereiustimmung der kirchhchen Lehre mit der Peripatetischeii Philosophie dargestellt wird, welche, was der na- türliche Verstand sagt, auch, ausserdem aber noch vieles Andere, weiss, bildet, was bei Ansclm Alles gewesen war, bei den jetzt Kommenden nur einen Theil der Aufgabe. Hatte am Schluss der vorigen Peiiode gerade durch die Theilung der scholastischen Auf- gabe die dialektische Fertigkeit einen Grad erreicht, von der Eri- gena weit entfernt war, die Frage nach den Universahen eine viel bestimmtere Fassung und viel mehr mögliche Lösungen erhalten als bei An sehn , war dabei der dogmatische Stoff zu immer ausführ- licheren Repertorien angewachsen, und die Erkenntniss der Gott- heit nicht nur als das Ziel des Gläubigen bestimmt, sondern auch die zu durchlaufenden Zwischenstufen genau angegeben, so zeigen die scholastischen Franciscaner und Dominicaner des dreizehnten Jahrhunderts, indem sie die Aufgabe in ihrer Ganzheit ^^ieder aufnehmen, sich in jedem ßestandtheile derselben, jenen Einseiti- gen überlegen. In der Kunst zu distinguireu sind Alexander, Al- bert, T/ionuis den puris pf/ilosop/ns weit überlegen, sie üben die- selbe aber so , dass sie immer zugleich die Widersprüche unter den Autoritäten der Kirche lösen. Wie es sich mit Substanzen, Sub- sistenzien und Universalien verhalte, das hat für sie ein Interesse wie für (>UI>ert , aber sie betrachten zugleich andere metaphysische Probleme, und auch jenes führt sie nicht von dem Dogma ab, son- dern zu einer orthodoxen Begründung desselben. Die Summen fer- ner des Ui!<jo, der drei Pciri, des PuUus und Alunns zeigen lange nicht die Belesenheit als die der drei eben Genannten, und zugleich fallen die Entscheidungen derselben viel bestimmter aus, als die jener. Keiner von ihnen endlich steht an inniger Fröm- migkeit dem Iiu/arrd von St. Victor nach, und wie genau diese Periode vermochte die Reise der Seele zu Gott beschreiben, das beweist Bonarenhird. Dieses Hinausgehen über die früheren, ohne Etwas fallen zu lassen, was dieselben errangen, hat zu seiner na- türlichsten Form, dass die eignen Untersuchungen an die der Ael- teren, als an den Ausgangspunkt, angeknüpft werden. Es ist also mehr als bloss conventioneller Gebrauch, wenn Sentenzensammlun- geu der vorhergegangenen Periode, oder wenn Gilberts Buch de sex principiis commentirt werden, um die eignen Lehren zu ent- wickeln, so dass sich die Summen des dreizehnten Jahrhunderts zu denen des zwölften etwa so verhalten, wie zu des Sablnns libris juris civilis die Commentare der späteren römischen Juristen. An die Stelle der Senteiizeu- Sammler treten hier tue, auf ihi'en Schul-

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tern stehenden, Summen - Vertlieicliger ; zu den Summisten verhal- ten sich diese Sententiarier ungefähr so, wie sich zu einem Atha- nasius ein Anselm verhalten hatte. Dieses ihres Unterschiedes sind sie sich auch bewusst , indem sie ihre selbstständigen Werke nicht als Summae seutentiarum , sondern als Summae theologicae be- zeichnen. Der Erste, welchem es gelingt, die Theologie des zwölf- ten Jahrhunderts nicht bloss durch natürliches Räsonnement, son- dern mit den Grundsätzen der peripatetischen Philosophie der Un- gläubigen zu vertheidigen , erhielt den durch die Grösse seiner Aufgabe gerechtfertigten Beinamen des Theologornm Moiiarcha. Es ist der Franciscaner Alexander von Haies.

§. 195. Alexander. 1 . Alex (I n der de Ales (oder Hnles, daher bald Alensis, bald Halensis genannt), ein in England, in der Grafschaft Glocester geborner Mann, der als der berühmteste Lehrer in Paris in den Franciscanerorden trat, und im J. 1245 starb, ist der Erste, bei dem wir nachweisen können, dass er Avicenna und Algazcl (als Argazel . Arghasel u. dgl.) öfter citirt. Ob er bei den von ihm bekämpften Philosophen, welche die Ewigkeit der Welt lehren, ob namentlich da, wo er die Unsterbhchkeit der Seele gegen den Arabs vertheidigt, an den Averroes gedacht hat, ist kaum zu entscheiden. Er soll einen Commentar zu des Aristoteles Schrift über die Seele geschrieben haben; gewiss ist. dass er dessen Me- taphysik gekannt hat, da er sie .oft citirt. Die Nachricht bei Bti- läns, dass er zuerst die Sentenzen des Lombarden commentirt habe, womit die Angabe des P. Posser in übereinstimmt, der Alexander Halensis in Mag. Sent. citirt, hat Viele dazu verleitet, Alexanders Summa theologica als diesen Commentar anzusehen. Das ist sie nicht; in der Bibliotheca ecclesiastica ed. Fabricius Hamb. 1718 wird in einem Scholio des Miraeus zu Henr. Gandav. de Script, eccles. gesagt, ausser der Summa \i?^}[)Q Alexander Com- mentare zu den vier Büchern der Sentenzen geschrieben , und die- selben seyen Lugduni 1515 edita. Ich habe sie nicht zu Gesichte bekommen, muss auch ehrlich gestehn, dass ich, wie Viele vor mir, die Existenz eines solchen Werks für eben so unwahrschein- lich halte, als die einer Summa virtutum, die man auch dem Alexander zugeschrieben hat. Eben so wenig kenne ich die ebendas. angegebene Ausgabe der Summa theologica Venet. 1577 in nur drei Foliobändeu. Ich kenne bloss die in \ier Bänden, gedruckt bei Koburger in Nürnberg 1482. Die Summa theologica citirt zwar oft

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den Lombarden , schliesst sich aber bei Weitem enger an die Schrift de sacramentis christianae fidei des Huyo an (s. oben §. 165, 5), deren Eintheilung z. B. sie adoptirt. Auch die Summa sententia- rum desselben Verfassers wird mindestens eben so oft citirt als die Sentenzen des Lombarden, und von einem Commentiren des Letzteren, wie bei den späteren Scholastikern, ist hier keine Rede. 2. In dem ersten Theile, der vier und siebenzig Qnaestloncs enthält, die alle wieder in mehrere mcmbra, die letzteren wieder manchmal in articitU zerfallen, wird zuerst auf den Unterschied aufmerksam gemacht, dass in loyic'is die Vernunft und der Beweis den Glauben hervorbringe, in Üicolngiris dagegen der Glaube den Beweis liefere, dann mit Anknüpfung an Ansei ms ontologisches Argument von der Wirklichkeit Gottes, weiter von seinem Wesen, seiner Unveränderlichkeit , Einfachheit, ünermesslichkeit, Einheit, Wahrheit, Güte, Macht, Wissen und Wollen gehandelt. Dabei wird immer dieser Gang befolgt, dass zuerst eine Frage aufge- Avorfen, dann die bejahenden und verneinenden Antworten ange- führt werden. Diese sind theils anloriidies , d. h. Bibelsprüche und Aussprüche berühmter Kirchenlehrer (Aiiyusiln, Ambrosiiis, Cypriauifs . Jlierovymvs , Bfisiliirs, Gregor ron Nttcianz, Dlojty- sius, Gregor der Grosse, Joh. Danntscrniis , Beda, Alcitin , Aii- selm , JLkjo und Victor }:oji Sl. Vicfor, der h. Bernhard, der Lombarde u. A.), theils rationes. d. h. Lehren der Philosophen (P/ato, P/filosopI/iis d.h. Arisloleles, Hermes Trismeyislos, Cicero, Macrobivs, Gafeuvs, Boetlrius , Casslodorus, Aviceniut, Algazcl, Föns vifae, Tsaac , Philosaplms de cdiisis u. s. w.). Darauf folgt die Entscheidung; oft sehr bestimmt, manchmal aber auch sine praejudicio, mit der Warnung Nichts zu entscheiden, denn wo die Heiligen Nichts entschieden hätten, sey jede Ansicht bloss Mei- nung. Eine sehr wichtige Rolle spielen bei den Entscheidungen die verschiedenen Bedeutungen der Worte , sowie die Distinctionen secundiim cpud, die bis dahin Keiner so weit getrieben hatte, wie Alexander. So ist die Schöpfung als Uebergang vom Nichtseyn zum Seyn allerdings eine mnfatio, aber nur e.v parle creaturae, nicht ex parte Dei. Den eben angegebenen Untersuchungen schlies- sen sich die über die verschiedenen Namen an , die sowol dem gött- lichen Wesen als den drei Personen in ihm beigelegt werden, und na- mentlich wird sehr genau erörtert, ob der Ausdruck : Gott sendet den heiligen Geist, einen Vorgang in der Trinität , oder einen bezeichne, der nur die eine Person betrifft. Von der missio actice dicta wird die passive dicta ^ von der unsichtbaren Sendung die sichtbare, innerhalb dieser die Incarnation und Erscheinung in Taubengestalt,

II. Glanzperiode. B. Christliche Aristo telik er. Alexander. §. 195, 2. 3. 325

unterschieden, und gezeigt warum nur jene, nicht diese in einem Sacramente sich fortsetze. Kaum in irgend einer anderen Partie zeigt Alexander solchen Scharfsinn im Distinguiren , wie hier.

3. Der zweite Theil zerfällt in ein hundert und neun und achtzig Quästionen, deren jede, mit Ausnahme zweier, mehrere (zwei bis dreizehn) membra enthält. Den Inhalt bildet die Lehre von der Creatur, und zwar in den ersten achtzehn Quästionen die Creatur überhaupt, von der neunzehnten an die Eiigel. Bei Gelegenheit der Frage nach der Persönlichkeit der Engel wird Aristoteles als Gewährsmann angeführt, dass indh'uhätas est a inateria rel ab nccidenie , was aber auf die Engel keine Anwendung finden soll. Mit der vier und vierzigsten Quästion geht Alexan- der zu den körperhchen Dingen über. Die Materie wird nicht formlos, sondern alle P'ormen als möglich enthaltend genannt; ihr werden die Ideen, deren Inbegriff Gott ist, eingepflanzt, und wer- den so zu mrklichen Formen. Das Schöpfungswerk wird nach den sechs Tagen betrachtet und dabei die spitzfindigsten Fragen und Zweifel besprochen. Mit der neun und fünfzigsten Quästion be- ginnt die Betrachtung der Seele , aber wie es heisst nur unter dem theologischen Gesichtspunkt , daher kommt es, dass unter den vie- len Definitionen der Seele die Aristotelische nicht vorkommt und erst später ganz flüchtig berührt wird. Im Gegensatz zu den Häretikern , welche die Seele aus der göttlichen Substanz , und zu Philosophen, die sie aus körperlichem Stoffe ableiten, erklärt sich Alexander für ihre Schöpfung aus Nichts und erst darauf folgende Verbindung mit dem Körper, welche letztere durch gewisse Me- dien vermittelt ist, von denen lumor und sjnritus dem Körper, regetabilitas und sensibUitas der Seele beigelegt werden. Darum soll nur sehr bedingt die Verbindung beider der zwischen Materie und Form gleichen. Die einzelnen Vermögen der Seele werden ausführlich durch- und ein dreifacher infellectus angenommen, der materiaiis welcher inseparabilis , der possibtlis der sepa- rabilis und der agcns welcher separatus a corpore ist. Die Lehre von dem freien Willen, den, als das eine Stück im Erlösungs- werke, die heidnischen Philosophen eben so wenig begreifen sollen, wie das zweite Stück die Gnade, wird sehr ausführlich abgehan- delt, die von einander abweichenden Ansichten des Anytistin, Jliigo und Bernhard als durch die verschiedenen Bedeutungen des Worts berechtigt, zusammengestellt. Dann wird zur Lehre vom Gewis- sen übergegangen und zwar zuerst zur sinder esis, dieser scintilla (onscieutiue nach Basilius, Gregor und lUei'onymKs. welche als der natürliche Zug zum Guten bezeichnet werden kann , im Gegensatz

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zur Sinnlichkeit, die zum Bösen verlockt. An sie schliesst sich die cniiscienüu, die durch ihre Verwandtschaft mit der Vernunft neben ihrem praktischen Charakter auch einen theoretischen hat, zugleich aber dem Irrthum zugänglich ist. Mit der acht und sieb- zigsten Quaestion wird zu der Betrachtung des menschlichen Lei- bes zuerst des Adam, dann der Eva übergegangen und von der neun und achtzigsten Quästion an der ganze (coitjnvctifsj Mensch von Seiten seiner Leidenschaftlichkeit, Sterblichkeit u. s. w. be- trachtet, dabei eine Menge von Fragen aufgeworfen, die den Fall betreffen, dass der Mensch seine Unschuld nicht verlor. Die Frage, in wiefern die yraüa gratis dafa und die gratid gratinn faviens dem ersten Menschen bei der ersten Schöpfung zu Theil geworden, ferner die nach der graüa superaddiia wird ausführlich betrach- tet, eben so die über sein erleuchtetes Wissen. \m Ganzen wird der Gesichtspunkt festgehalten, dass der paradiesische Zustand die Mitte bilde zwischen dem des Elends und der allendlichen HeiT- lichkeit. Die Herrschaft des Menschen über die Welt, und von der hundertsten Quästion an (las Böse, wird weiter betrachtet. Dass es nur eine vwtsa deficicns habe und doch im lihero arbitrlo ge- gründet sei, wird vereinigt, und nachdem über sein Wesen, seine Zulassung, gesprochen ist, in der hundert und neunten Quästion zum Fall Lucifers übergegangen. Worin derselbe besteht, worin er seinen Grund hat, wann er Statl hatte, wie er gestraft wird, wie andere Engel an ihm Theil nehmen, wie Teufel und Dämonen als Versucher wirken u. s. w. wird in der einmal feststehenden Weise besprochen und dann durch die Versuchung der Uebergang gemacht zu der Sünde des Menschen (Qu. 120 189). Nach den drei Fällen, dass die Person die Natur oder die Natur die Person oder endlich die Person die Person verderbt, wird das pecmfinn prhnonun jxirentiim , originale und actuale unterschieden. Das letztere wird am ausführlichsten betrachtet, der Unterschied der Tod- und der erlösslichen , der Unterlassungs - und Begehungs- Sünden wird fixirt und dann nach einander die Sünden der Gedan- ken, Worte und W^erke betrachtet, und hier aus der Dreiheit im Menschen spirittts, unima, corpus, die sieben Hauptsüuden (sn- perbia, ararilia, luxuria, iiividia, gula , ira , acedia; die An- fangsbuchstaben geben das Wort Saligia) und ihre Tochtersünden abgeleitet. Nach den Schw-achheits- und Irrthums - Sünden wird die Sünde gegen den heiligen Geist, nach dieser die Idolatrie (wo zugleich von der Toleranz gegen Juden und Heiden die Rede ist), Häresie, Apostasie, Heuchelei, Simonie und Kirchenraub abgehan-

II. Glanzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Alexander. §. 195, i- 5 327

delt, womit die harmatologisclien Untersuchungen und der erste Haupttheil des Werks scliliesst.

4. Der zweite, welcher nach Hugo das opus reparationis be- trachtet, beginnt mit dem dritten Bande. Gerade wie oben zuerst der Schöpfer und dann sein Werk betrachtet Avard, gerade so hier zuerst der Erlöser, dann das Erlösungswerk. Die ersten fünf und zwanzig Quästiouen besprechen die Möglichkeit und Zweckmässig- keit der Incarnation, den Antheil, den jede Person der Trinität daran hat, die Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen in Christo, die Heiligung seiner Mutter schon im Schoosse der ihri- gen, Christi Annahme der menschlichen Beschränktheit, seine Liebe, seinen Tod, die Frage, ob er wo Leil) und Seele sich trennten noch Mensch war, seine Verklärung, Auferstehung, Himmelfahrt, Wiederkunft. Die sechs und zwanzigste Quästion beginnt mit der Bemerkung, die freilich zur ganzen Gliederung des Werks nicht recht passt, dass die Theologie theils jidem . theils mores betreffe und dass jetzt , nachdem von jenen gehandelt , zu diesen überzu- gehn sey, darum zuerst zur Bedingung aller Sittlichkeit zum Ge- setz (Qu. 26 68). Zuerst kommt die lex aefenia zur Sprache, die mit dem göttlichen Willen zusammenfällt, und von der sowol die lex indUa oder ludnralis als die lex add'da oder scripta ab- hängig ist. Unter der letzteren wird zuerst das Gesetz Mosis be- trachtet, sowol der Theil, der die lex mornlis enthält, d.h. der Dekalog, als auch die lex jndicUitis (Qu. 40 53) und ceremo- nkdis (Qu. 54 59). Es folgen darauf: lex et praecepta evaii- gelii, deren Verhältniss zum natürlichen imd mosaischen Gesetz, deren Eintheilung in praecepta und coi}s'dia. je nachdem es sich um opcra necessdatis oder siipererogidionis handelt, angegeben wird. Die ersteren. werden in dieselben Arten zerlegt wie die Alt- testamentlichen Gesetze, nur dass hier an die Stelle der Ceremo- nien die Sacramente treten, die nicht nur, wie die Gesetze, leh- ren was zu thun, sondern auch Kraft dazu geben. Darum machen sie den Uebergang zur Gnade , von der von der neun und sechzig- sten Quästion an, die Rede ist. Ihre Nothwendigkeit , ihre Em- pfänger , ihre Eintheilung in gratia gratis data und gratvm facicns, wird angegeben, dann zu ihren ersten Wirkungen der fides infor- inis. spes informis und timor serrilis, von da zu den eigentlichen Tugenden, der fdcs formata\ spes formata und Caritas überge- gangen. Nur der Glaube, sowol nach seinem Subject als Object, wird in diesem Bande aljgehandelt. Als 01)ject des Glaubens wird der Inhalt der drei ökumenischen Symbole angegeben.

5. Der vierte Band des Werks macht den Eindruck, als

328 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

finde eine Lücke Statt zmschen seinem Anfange und Dem, womit der dritte schloss. Er behandelt in hundert und vierzehn Quästio- nen die Heilmittel, und zwar ganz wie dies bei Hugo geschehen war, zuerst die sucrumenta udluraHs legis (Opfer u. s. w.), dann die der lex Moijsis (Beschneidung , Sabbathsfeier u. s. w.) , endlich die der lex emngcliea. Das Sacrament wird als slgniim graiiae gratis datae definirt; in ihrer Siebenzahl sollen die Sacramente den sieben Haupttugenden correspondiren , die zu stützen sie be- stimmt sind. Qu. 9 23 behandeln die Taufe, 24 28 die Con- firmation, 29 53 das Abendmahl, wobei die ganze Messordnung sehr ausführlich abgehandelt und in allen ihren Zügen gedeutet wird. Es folgt (Qu. 54 114) das Sacrament der Busse, deren einzelne Bestandtheile contritio (von der wie schon früher bei Alauns die aitritio unterschieden wird), confcssio und saiisj actio durchgenommen werden. In der letzten werden als die einzelnen Momente oratio, jcjuninm und elecmosync unterschieden; mit der letzteren schliesst der Band. Mindestens einer , vielleicht mehrere, hätten ihm folgen müssen, wenn Alles, was im Anfange des drit- ten Bandes als Gegenstand angegeben ist, die sacramenta salutis per praesentem gratiam et praemia sali/tis per firliiram gloriam in gleicher Ausführlichkeit abgehandelt wäre, wie bisher. Bedenkt man, dass Alexander der Erste war, der dieses dialektische Zer- legen und Beweisen dessen, Avas die Sentenzensammler behauptet hatten, einführte, und sieht zugleich darauf, wie weit er es auf diesem Wege gebracht hat, so wird ihm Keiner hierin vorzu- ziehn seyn.

6. Ein Lieblingsschüler Alexanders, und von ihm selbst im J. 1238 mit der Fortsetzung seiner Vorlesungen betraut, Johann ßon llochelle (de Rupella) , der einen Commentar zum Lombar- den geschrieben haben soll, scheint nur wiederholt zu haben, was der Meister gelehrt hatte. Wenigstens findet sich, was Haureau nach Pariser Manuscripten aus psychologischen Werken desselben veröftentlicht hat. Alles, wenn auch in verschiedenen Orten zer- streut, in der Summa seines Meisters. Die Unterscheidung der \)irtiis sensitira und Intel lectiva , die weitere des scnsiis und der imaginatio in jener, der ratio, des intellectus und der Intel ligejitia in dieser, die Unterscheidung der Seele als per/ectio corjmris von ihr als perfecta und tota in toto corpore, alles dieses findet sich schon bei Alexander, bei dem man überhaupt, je mehr man in ihn hineinlicst, um so mehr erstaunt über den Fleiss und die Ge- wissenhaftigkeit, mit welchen er auch den kleinsten Fragen nicht aus dem Wege geht.

II Glanzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Bonaventura. §. 196. 197, 1. 329

§. 196. Hugo's Theologie hatte nicht nur die cogniüo, den Lehr -In- halt, betrachtet, sondern die seiner Schriften, welche man die mystischen zu nennen pflegt, die ihm nicht minderen Ruhm einge- bracht hatten als seine Summa und seine Schrift de sacramentis, diese hatten die subjective Seite des Glaubens, den aifectus^ den schon er selbst als den eigentlichen Glauben bezeichnet, zu ihrem Gegenstande gemacht. Alexander hat sich bei seiner weiteren Fortbildung der Theologie nur an die erstere Seite gehalten, er ist deswegen ein reiner Sententiarier , ein blosser Summen -Ver- theidiger. Soll Nichts verloren gehn , was der grosse , dem Augvsün so oft verglichene , Theolog geleistet hatte , ^o wird auch die zweite, durch seinen Schüler Richard noch weiter ausgebildete, Seite wie er sie in seiner arca mystica u. s. w. gezeigt hat, der commenti- rend- fortbildenden Thätigkeit unterworfen werden müssen. Nicht nur das Dogma, sondern auch die Lehre von der mystischen Con- templation wird in Einklang gebracht werden müssen mit den Leh- ren der Peripatetiker, ganz wie Aricenna den rapttis der Prophe- ten mit dem Ari'stotelismus in Einklang gebracht hatte. Diese Er- gänzung zu dem, was Alexander von Haies und Johann von Ro- chelle geleistet hatten, die eben, weil sie eine Ergänzung, sich sehr wohl damit verträgt, dass der welcher sie bildet auch, wie sie selbst, Summen commentirt, gibt der Schüler von beiden, Bona- ventura, ein Mann, dessen Wesen und EntAvicklungsgang ihn zur Lösung gerade dieser Aufgabe bestimmen, und dessen Verdienste andrerseits nur dann richtig gewürdigt werden können, wenn man immer an seine Aufgabe denkt.

§. 197. Bonaventura. 1. Johannes (nach Trithem. de scr. eccl. und anderen Eusta- chiits) Fidanza, bekannter unter seinem, wie Einige meinen durch einen Zufall ihm beigelegten, Zunamen Bonarc nttfra, ist im J. 1221 in Bagnarea (Bagno regio) im Florentinischen geboren. Schon als Kind von seiner Mutter dem Franciscaner- Orden be- stimmt, trat er in seinem zwei und zwanzigsten Jahre in denselben und hat durch seine reine Unschuld nicht nur die Bewunderung des greisen Alexander von Haies, sondern auch die aller übrigen Ordensgenossen erworben, so dass ihm sieben Jahre nach seinem Eintritt die Voriesungen über die Sentenzen, sechs Jahre darauf sogar die Würde des Ordensgenerals übertragen ward; endlich aber ist sie der Grund gewesen, warum das Prädikat scraphiats,

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welches sein Orden sich so gern beilegte, vorzugsweise ihm, dem Doctor serapinrus ist beigelegt worden. Als Cardinal und Bischof von Al])ano ist er während des Concils von Lyon am 13. Jul. 1274 gestorben, und im J. 1482 durch Papst Sbiirs IV canonisirt. Seine Werke sind oft, zuerst 1482, dann auf Befehl Papst Sixiifs V in Rom 1588 in sieben Foliobänden herausgegeben. Später ist, nach dieser und einer deutschen Ausgabe im J. 1668, in Lyon eine noch vollständigere, gleichfalls in sieben Bänden Fol., erschienen, die leider viele Druckfehler enthält. Li derselben fin- det sich im Ersten Bande: Principium SSae, Illuminationes ec- clesiac s. Expositio in Hexaemeron (nach einer Nachschrift heraus- gegel)ene im Todesjahr des BoiutrenUira gehaltene Vorlesungen), Expositiones in Psalterium Ecclesiasten Sapientiam et Lamentatio- nes Hieremiae; im zweiten Bande: Expositio in Cap. VI Evang. Matth., de oratione Domini, in Evang. Luc, Postilla super Jo- annen!, Collationes praedicabiles ex. Jo. Ev. collectae; im dritten Bande: Sermones de tempore (Predigten für alle Sonntage des Kirchenjahrs), Sermones de Sanctis totius anni, Sermones de Sanctis in genere; im vierten und fünften Bande die Commentare zu den Sentenzen des Lombarden; endlich im sechsten und sie- benten die Opuscula, nämlich: (VI) de reductione artium ad theologiam, Breviloquium , Centiloquium , Pharetra, Declaratio ter- minorum theologiae, Sententiae sententiarum , de quatuor virtuti- bus caj'dinalibus , de Septem donis Sp. Sti. , de resurrectione a pec- cato, de tribus ternariis peccatorum infamibus, Diaetae salutis, Meditationes vitae Christi, Lignum vitae, de quinque festivitatibus pueri Jesu; (VII) Sermones de decem praeceptis, viginti quinque memorabilia, de regimine animae, Formula aurea de gradibus vir- tutum, de pugna spirituali contra Septem vitia capitalia, Speculum animae , Confessionale , de praeparatione ad missam , de instructione sacerdotis etc., Expositio missae, de sex alis Seraphim, de con- temptu saeculi , de septem gradibus coutemplationis , Exercitia spi- ritualia, Fascicularis , Soliloquium, Itinerarium (die älteren Ausga- ben haben alle Itinerarius) nieiitis ad Deum, de Septem itineribus aeternitatis , Incendium amoris, Stimuli amoris, Amatorium, de ecclesiastica hierarchia. Hierauf folgt die IjCgenda Sti Francisci und eine Reihe von Schriften, welche die Ordensregel theils den Gliedern des Ordens auseinandersetzt, theils gegen Angriffe ver- theidigt. In einem Anhange befinden sich die Schriften, deren Aechtheit bezweifelt wird, darunter die Mystica theologia, die sich selbst als Erklärung der gleichnamigen Schrift des Dionys. Areopag. ankündigt und das Compendiura theologicae veritatis.

II. Glanzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Bonaventura. §. 197, '-'. 3. 331

2. Gauz ^Yie seine Vorgänger Hugo und Alexander . vereinigt auch BoiKii'enlura die übrigen Wissenschaften und namenthch die Philosophie mit der Theologie so, dass sie ihr dienstbar gemacht werden. Seine Behandlung der Wissenschaften ist daher nur eine praktische Durchführung dessen, was seine kleine Abhandlung de re- ductione artium ad theologiam entwickelt hatte. In dieser sucht er nachzuweisen, warum das l innen in f er ins. durch welches wir der sinnlichen Erkenntuiss theilhaft werden, gerade dui'ch die bekannten fünf Wege in uns hineintrete, warum das hnnen exte- rius , vermöge des wir der mechanischen Künste fähig sind, gerade die sieben von Hugo aufgezählten (s. oben §. 165, 2) erzeuge, geht dann weiter zu der Betrachtung des lumen interius über, durch welches wir philosophische Erkenutniss haben, und zeigt, wie die drei Theile der Philosophie rdliomdls. natiindis und moralls, jede wieder in drei zerfallen (Grammutica Logica et Rhetorica, Metupliysica Mathemaüea et P/njsica , Monastica Oeconomiea et PoUticü), wie aber alle diese nur Hinweisungen sind auf das lu- men sifpcriiis der Gnade, dessen wir theilhaft werden durch die h. Schrift. Eben weil diese die eigentliche Grundlage alles wah- ren Wissens ist, deswegen entnimmt sie ihre Gleichnisse und Ausdrücke allen Gebieten der niederen Erkenntuiss, und wer- den wieder diese nur dann richtig gewürdigt, wenn man stets fest- hält, dass in Allem, was wir wissen, interins Intet Dens. Frei- lich, um dies zu erkennen, darf man bei dem historischen Sinn der h. Schrift nicht als bei dem einzigen stehen bleiben, sondern man muss, wie Augustin und Anselm, sie allegorisch auslegen, um darin den verborgenen Inhalt des Glaubens, ferner moralisch oder tropologisch wie Gregor und Bernhard, um darin verborgene Winke für das Leben, endlich aber anagogisch oder mystisch wie der Ai-eopagite und Eiehard . um darin Winke über die völlige Ein- heit mit Gott zu finden. Hugo sey der einzige Theolog gewesen, der in allen drei Weisen ganz gleiche Stärke gezeigt habe.

3. Da diese höheren Auslegungsweisen ohne ein gehöriges hi- storisches Yerständniss der h. Schrift , dieses aber ohne eine Kennt- niss der ganzen Heilsordnung unmöglich ist, so wird in dem Bre- viloquium diese, kurz ohne allen gelehrten Apparat, entwickelt, so dass immer in einigen kurzen Sätzen die katholische Lehre hinge- stellt, dann aber die ratio ad intelligentiam jrraedictoruni hinzuge- fügt wird, um zu zeigen, dass diese Sätze nicht widervernünftig sind. Nicht nur dass für die Philosophie immer Aristoteles als Gewähi'S- mann citirt wird, dass sein infnütuvi aetu von datur als Axiom behandelt wird, das selbst die göttliche Allmacht nicht umstossen

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könne , sondern alle Lehren über das Weltgebäude , die Elemente, die Seele, ihre Kräfte, den Willen u. s. w. zeigen in Bonaven- tura einen Anhänger der peripatetischen Lehre, wie sie sich bei den neuplatonischen und arabischen Commentatoren gestaltet hatte. Einen Widerspruch zwischen dieser Kosmologie und der h. Schrift findet er um so weniger, als die letztere ihm vorzugsweise das Buch der Erlösung ist, darum aber Alles, was die Beschaffenheit der Welt betrifft, aus dem über creaiionis, der Natur, herausge- lesen werden muss. Wii'd dieses letztere mit dem richtigen Sinn gelesen, so lehrt es auch Gott erkennen, von dem die unter- menschlichen Wesen das i^cstlgiiim , der Mensch die imaijo zeigen. Als elfte Vorarbeit zu dem Breviloquium so wie zum Centilo- quium (so genannt, weil darin die Lehre vom Bösen und seiner Schuld und Strafe , so wie vom Guten und seiner Bedingung (der Gnade) und seinem Ziel, dem Heil, in hundert Sectionen ab- gehandelt wird) ist die Pharetra anzusehn, eine Zusammen- stellung der berühmtesten Autoritäten über alle die Glaubenspunkte, welche er in jenen beiden Schriften bespricht. Zeigen schon diese Werke, wie genau Bonureninra mit den Lehren der Kirche ver- traut, und wie wichtig ihm die systematische Ordnung derselben ist, so erhellt das noch mehr aus seinem Commentar zu den Sen- tenzen des Lombarden, dessen dritter Theil namentlich von den späteren Theologen eben so als unübertroffen pflegte citirt zu wer- den, wie sie behaupteten, dass l^vvs (s. unten §. 214) in seinem Commentar zum ersten, Aeyid'iMs Coionna (s. unten §. 204. 4) zum zweiten, und Richard ran M'iddletonn (s. unten §. 204. 5) zum vierten, den Preis vor Allen verdient habe. Die Sentenzen des Lombarden hat übrigens Bonaren/ irra so hoch gehalten, dass seine Sententiae sententiaruin den Inhalt jeder Distinction versificirt enthalten, ohne Zweifel um es dadurch zu erleichtern dieselben ihrem ganzen Inhalt nach dem Gedächtniss einzuprägen. 4. Viel wichtiger aber als das Dogma, so weit es Object der Erkenntniss, ist dem Bonareiilirra die Seite der Religion, nach welcher sie affcvins ist. Was das Glauben ist, wie man dazu ge- langt und wie über dasselbe hinausgeht?, das sind Fragen, zu deren Beantwortung er sich viel mehr angezogen fühlt als zur Erörterung der Glaubenslehren. Wie er bei der letztern Aufgabe sich an den Lombarden anlehnte, so bei jener an Hugo und Bi- chard von St. Victor, so wie an den ihm geistesverwandten Bern- hard von Clairvaux. Sein Soliloquium ist, wie er das selbst eingesteht, Hiigc/s arrha animae nachgebildet: in einem Gespräch des Menschen mit seiner Seele weist er dieselbe an, durcli einen

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Blick in sicli selbst zu erkennen, wie sie durcli die Sünde ent- stellt sey, dann durch einen Blick ausser sich die Eitelkeit der Welt, durch einen unter sich die Strafe der Unseligkeit, durch einen über sich die Herrlichkeit der Seligkeit zu erkennen, und demgemäss ihr ganzes Verlangen von sich selbst und der Welt ab, auf Gott zu richten. Eben so ist in seiner Schrift de Septem itineribus aeternitatis, namentlich dort, wo \on der medUutio gehandelt wird, sehr Vieles ganz wörtlich aus RicI/ards Benjamin major, der aber als arca mystica citirt wird, entlehnt. Ausser ihm aber werden noch andere, ältere und neuere, Schriftsteller excer- pirt, so dass in der ganzen Schrift viel weniger Boiiarotfura zu Worte kommt, als seine Gewährsmänner. Am selbstständigsten er- scheint er in zwei Schriften, die überhaupt als die wichtigsten in dieser Classe anzusehn sind, den Diaetae salutis und dem Iti- nerarius mentis in Deum. In dem ersteren werden die neun Td^ereisen (diaetae) dargestellt, in welchen die Seele von den La- stern zur Reue, von da bis zu den Geboten, dann zu den heiligen Rathschlägen (der Armuth, Ehelosigkeit und Demuth), weiter bis zu den Tugenden, ferner bis zu den sieben Gaben des heiligen Geistes (Jesai. 11, 2), dann bis zu den sieben Seligkeiten (Matt//. 5, 3 if.), von da bis zu den zwölf Früchten des h. Geistes (Gal. 5, 22), von da bis zum Gericht, endlich bis zum Himmel sich erhebt, und mit einer Schilderung der Verdammniss und Seligkeit geschlossen. Noch eigenthümlicher, und von allen seinen Schriften am Meisten gelesen und gepriesen, ist der Itinerarius. Es wird in dieser im J. 1263 entworfenen Schrift der Unterschied des restlgimn und der Imago Dci zum Ausgangspunkt genommen, und nun gezeigt, dass, je nach- dem die Untersuchung vom ersteren oder letzteren, oder endlich von dem geoffenbarten Worte ausgehe, es drei verschiedene Wei- sen der Erhebung zu Gott oder drei verschiedene Theologien gebe, die theologia spnbollca , welche von dem extra nos beginnt und dem sensu s entspricht, die t/f. proprla , welche von dem beginnt was intra nos ist, und der ratio entspricht, endlich die theologia mystiea , welche ihren Ausgangspunkt stipra nos nimmt, und die inteUigentia zu ihrem Organ hat. Weil aber jede dieser Stufen wieder verdoppelt erscheint, indem man Gott entweder per restigia findet, indem man aus dem pondns ninnerns et mensura. in den Dingen auf die Dreiheit in der ersten Ursache zurück- schliesst, oder in restigiis, indem die Betrachtung der körperli- chen , geistigen und gemischten Wesen in der Welt uns gleichfalls auf jene Dreiheit führt, indem man ferner eben so Gott per ima- gincni erkennt, weil memoria intellectus und vohmtns in uns den

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dreieinigen Gott beweisen, und In imagine, weil die drei theolo- gischen Tugenden als Wirkungen des dreieinigen Gottes seine Prä- senz beweisen; indem endlich wir Gott erkennen per ejus nomen^ da das Seyn, nach dem V. T. der eigentliche Name Gottes, nur seyend gedacht werden kann, und in eji/s nomine, da Gott als gut, wie ihn das K T. lehrt, nur gedacht werden kann, wenn er dreieinig ist, so werden sechs verschiedene Stufen der Erkennt- niss unterschieden, indem zu dem sensiis die imnyiudtio , zur ratio der inteUectus , zu der inteUigenlia der apex mentis hinzu- tritt. Dass Boiuirentiira diesen letzteren auch si/nderesis nennt, beweist, dass er durchaus nicht ein bloss theoretisches Verhalten zu Gott für das höchste hält, sondern dass es ihm vor Allem auf das Erleben Gottes ankommt, auf jene experientia (tjfeciunlis, welche er bald ein Schmecken Gottes, bald ein in ihm Trunken- werden nennt, bald wieder als ein Uebergehn in Gott, als ein Gott Anziehen, ja ein in Gott Verwandeltwerden bezeichnet; so^in den Stimulis amoris. Non (Jisputdudo scd agcndo scitiir ars (imandi sagt er u. A. in seinem Incendium amoris.

5. Diese völlige Hingabe an Gott, bald (jnies, bald sopor pacis genannt, wird nun als der Sabbath des Lebens, im Gegen- satz zu jenen Vorstufen, die dem Sechstagewerk gleichen, bezeich- net ; er ist dem Menschen nur erreichbar durch die in Christo er- schienene Gnade. Deshalb handelt es sich darum, C/iristnm ganz in sich aufzunehmen, völlig mit ihm Eins zu werden. Nichts er- leichtert dies so als das Sichvertiefen in seine Geschichte , nament- lich in die seiner Leiden. In der Schrift de quinque fcsti- vitatibus pueri Jesu und in den Stimuli amoris geht die Schilderung, wie die Seele in sich alle Zustände der Mutter Jesu nach der Empfängniss wiederholen solle, wie die Wunden Christ i der Eingang seyen in die Apotheke, die alle Heilmittel enthält, wie die Lanze zu beneiden sey, weil sie in Jesu. Seite drang u. s. w., bis zur geschmacklosen Spielerei. Viel würdiger gehalten sind die Meditationes vitae Christi, für eine Ordensschwester geschrieben, in denen die Lücken, welche die Bibel in der Ge- schichte Jesu lässt, durch die dichtende Phantasie ausgefüllt wer- den , der Streit , den Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit vor der Menschwerdung führen, wie ihn der //. Bernhard dramatisirt hatte, den Eingang, u-nd Untersuchungen über Martha, und Maria, d. h, über das active und contemplative Leben den Schluss bilden. Kaum weniger heiss als die Liebe zu Christo spricht sich in allen Schriften Bonaventura's die zur Jungfrau Maria aus. Nach die- ser steht bei ihm der Gründer seines Ordens in den höchsten

II. Glanzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Bonaventura. §. 197. S, 335

Ehren. Sie beide werden auch immer als die Beispiele der alier- innigsten Vereinigung mit Gott angeführt. Obgleich nämlich diese Vereinigung mit Gott, die manchmal (z.B. in de tribus terua- riis peccatorum) als die Rückkehr der Seele in ihren ewigen Ort bezeichnet wird , vermöge der sie ewig sey , da ja locus est con- serraüriis locati , unde res c.iira locum non cojiserratiir , manch- mal wieder als das Wohnen in dem manerio aeterno, obgleich sie das höchste Ziel ist, so gibt es doch innerhalb ihrer verschie- dene Wohnungen, die in einem Rangverhältniss stehn. Bei der grossen Neigung Boimventura's Parallelen zu ziehn mit den Sphä- ren und Zeiten der Schöpfung, namentlich wo es sich um Lieb- lingszahlen handelt (vor Allem die Drei, dann aber auch die Sechs als erster munerus pcrfectus , ferner Sieben, wo er gern auf den scptl/'ormis seplcnariiis ritlorvni, ririntam , scicramento- rnm, donorum, heatitnd'miim, petiliomim , dotum gloriosarum hin- weist, endlich Neun wegen der himmlischen Hierarchie) ist es erklärlich , wenn er innerhalb des Schmeckens Gottes bald von ver- schiedenen Graden der Trunkenheit spricht, bald bestimmter in einer eignen Schrift die .vr/>/ew yradus contemplationis schildert, bald endlich und zwar am Häufigsten von drei Haupt-, in je drei Neben -Stufen zerfallenden Stufen der Verehiigung mit Gott spricht, deren unterste nach der seit dem Areopagiten feststehenden Ord- nung die engelgleiche, die oberste die seraphische heisst. Diese Stufen sollen sich gerade so verhalten wie die Stände, in welche die Menschheit zerfällt, an deren Spitze die drei Ordnungen der einsamen Contemplativen stehn, auf welche die drei Ordnungen der Vorgesetzten (Praelutl) folgen, unter denen dann eben so drei Ordnungen der Untergebnen {Säbjectt) stehn. Es ist kein Wun- der, dass Bonaüentara später besonders von predigenden Mysti- kern ausgebeutet ward. Die feinen Zerlegungen, die oft in sehr pointirter Weise formulirt werden, lassen manche seiner Schriften wie eine Reihe höchst geistreicher Predigt - Dispositionen erschei- nen": Den Diaetis Salutis hat er ausdrücklich solche Dispositionen als Anhang hinzugefügt.

§. 198. Während die Franciscaner sich den Theologontm Monarvlai erobern, unter dessen Augen und Pflege in ihrem Schoosse der Doctor seraphicus erwächst, geht in- dem Dominicanerorden ein Doppel- gestirn von Lehrer und Schüler auf, das seine Strahlen bald wei- ter verbreiten sollte. War bei jenen beiden nicht nur Hauptsache, sondern auch der Ausgangspunkt die Theologie, so dass sie was die grossen Theologen von St. Victor gelehrt hatten, mit Hülfe

336 Mittelalterllclie Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

des Aristoteles zu erklären und zu vertheidigen suchen , so schlägt dagegen der Doctor unir.ersalis einen anderen Weg ein: der Ge- genstand seines Studiums ist von Anfang an der griechische Welt- weise, wo derselbe eine Lücke liess seine Ergänzer, wo er nicht klar ist, seine Erklärer. Mehr als zehn Jahre widmet er allein der Aufgabe, die Weltweisheit dieser Männer sich anzueignen, und eben so viele Zeit der anderen, als Lehrer und Schriftsteller die Bekanntschaft mit der Peripatetischen Lehre zu verbreiten. Da- bei hindert ihn das gar nicht, dass der einzige Christ, dessen Schrift er, als den Aristotelischen ebenbürtig, diesen einordnet und gleich ihnen commentirt, der der Kirche mindestens verdächtige Gilbert ist. Erst nachdem er diese Aufgaben gelöst hat, stellt er sich, wie schon der Titel seines Hauptwerks anzeigt, eine ähn- liche wie der Haien sis, dessen Arbeit er auch fleissig benutzt. Aber, obgleich er den Hugo von S. Victor eben so kennt und schätzt wie Jener, und ein mystischer Zug, den er vielleicht mehr hat als Alexander, ihn zu den Victorinern lockt, lässt er sich doch in seinem Gange nicht von diesen bestimmen, sondern von dem, im Vergleich zu ITncj') prosaisch verständigen Lombarden, und erzieht seinen Lieblingsschüler nicht , wie Jener , dazu im Sinne der späteren Victoriner im eignen Innern zu wühlen und zu schwel- gen, sondern leitet ihn auf die Bahn derer, die jenen Musterndes Bonarentiira als verwirrende Labyrinthe gegolten hatten (s. oben §. 173). Wird der Ausdmck nicht gar zu sehr gepresst, so kann man sagen: die theologischen Arbeiten Albert s verhalten sich zu denen Alexanders , wie die Religionsphilosophie zur speculativen Dogmatik.

Albert der Grosse. J. Sighart Albertus Magnus. Sein Leben und seine Wissenschaft. Regensburg 1857.

§. 199. Leben und Schriften Alberts.

1. Albert , der älteste Sohn des Herrn von Bollstädt, ist in der schwäbischen Stadt Lauingen, wo sein Vater die Rechte des Kaisers vertrat, wahrscheinlich im J. 1193 geboren und hat nach einer sorgfältigen Erziehung im J. 1212 die Universität Padua, wo damals ganz besonders die nrtes blühten , bezogen. Sein eifri- ges Studium des Aristoteles , das nicht recht zu dem Misstrauen passt, welches die Kirche damals noch dagegen hatte, soll aus- drückliches Gebot der Jungfrau Maria gewesen seyn , und erscheint daher entschuldigt. Dies Studium führte dann von selbst zu dem der Naturwissenschaften und der Medicin. Zehn Jahre beschäf-

II. Glanzperiode. B. Christliche Aristotcliker. Albert. §. 199, 1. 337

tigte er sich so, von seinen Mitschülern schon als der Philosoph bezeichnet. Den Entschluss, in den Dominicaneror^en zu treten, brachte der General desselben, der deutsche Jordanns im J. 1223 zur Reife, und von da ab ward erst, in Bologna, Theologie, d. h. zuerst der Text und dann die Sentenzen , studirt. In seinem sechs und dreissigsten Jahre ward Alheri nach Cöln, wo der Orden seit 1221 ein Haus hatte, gerufen, um dort namentlich die weltlichen Wissenschaften zu lehren , und ward hier bald als Lehrer der Phi- losophie so berühmt, dass er von dem Orden bald hier- bald dort- hin geschickt wurde, um in den Häusern desselben die Wissen- schaft in Schwung zu bringen und, wo möglich, sich Nachfolger zu bilden. So hat er in Regensburg, Freiburg, Strassburg, Paris, Hildesheim in den Jahren 1232 ^1243 gelehrt, in welchem Jahre er nach Cöln zurückkehrt, um die Leitung der Schule, in der jetzt T/.omtts von Aquino zu glänzen anfängt, wieder zu überneh- men. Im J. 1245 ist er wieder in Paris, um den, eudhcli erober- ten, Lehrstuhl zu zieren und wohl auch um die höchsten gelehrten Würden zu erlangen. Als Doctor kehrt er wieder nach Cöln zu- rück, wo die Schide jetzt einer Universität ähnlich eingerichtet wird. Zum Lehrer der Theologie ernannt, wendet er jetzt seine Thätigkeit mehr dem theologischen und dem praktischen Priester- beruf zu. Den Commentaren zum Aristoteles und zum Areopagi- ten folgen jetzt die zur h. Schrift. Zugleich beschäftigen ihn Pre- digten und praktische Bearbeitungen der Glaubenslehre. Xoch mehr tritt die kirchhche Wirksamkeit hervor, als er im J. 1254 zum Provinzial seines Ordens für Deutschland ernannt , die Klöster zu revidiren erhielt. Freilich machte ihn dies auch mit ihren Bibliotheken bekannt, und jedes neue MSC, das er sich abschrieb oder abschreiben Hess, mehrte die Kenntnisse des Mannes, dem man früh schon übernatürliche zuschrieb. Neuen Ruhm erwarb er sich, als er, eigens dazu nach Anagni berufen, vor Papst und Con- cil die Angriffe der Pariser Universität auf*die Bettelordeu sieg- reich zurückschlug, und gleichzeitig vor diesem Kreise das Evan- gelium Johaiinis erklärte und die Ii-rlehren des Arerrocs bekämpfte. Nach Deutschland zurückgekehrt , lag er den beschwerlichen Pflich- ten des Provinzials bis zum J. 1259 ob, wo er endlich derselben enthoben ward, freilich um die noch schwierigeren eines Bischofs von Regensburg auf ausdrücklichen Befehl des Papstes zu über- nehmen. Sein Commentar zum Lucas zeigt, dass er von seinen vielen Geschäften sich die Zeit für diese seine wichtigste exegeti- sche Schrift zu erübrigen wusste. Doch ward ihm die Stellung immer peinhcher und endlich im J. 1262 ward seine Resignation

Erdmaiin Gesch. d. Phil. I. 90

338 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

angenommen. Das Klosterleben, in das er zurückkehrte, wurde für eine Zeit lang dadurch unterbrochen, dass er durch Bayern und Franken als Prediger des Kreuzes wanderte. Sonst lebte er bald in dem einen bald in dem andern Hause seines Ordens, zu- letzt wieder in seinem lieben Cöln. Im J. 1274, gleich nachdem ihm der Tod seines Lieblingsschüleis Tliomus oifenbart worden war, wohnte er dem Concil von Lyon bei, und vertheidigte auf seiner Rückkehr von da in Paris ööentlich einige Schriften seines theuren Jüngers. In Cöln wurde dann die, viel früher begonnene, theologische Summa in ihrem zweiten Theile beendigt. Den drit- ten und vierten zu schreiben hat ihn sein Alter, oder dass die Summa des T/.owas ja vorlag, verhindert. Die kleine Schrift de adhaerendo Deo ist die letzte, die er, in einem Alter von vier und achtzig Jahren , geschrieben hat. In seinem sieben und achtzigsten Jahre hat er sein frommes, in jeder Beziehung musterhaftes Leben beschlossen, das ihm die beiden Ehrennamen des Grossen und des doctor universalis eingetragen hat.

Alberts Werke sind in Lyon von Petr. Jaiumi/ im J. 1G51 in 21 Fohobänden herausgegeben. Vieles Unächte ist aufgenom- men, Anderes wieder, was für acht gilt, fehlt darin. Auch ist der Druck nicht sehr correct. Die eigentlich philosophischen Schriften füllen die ersten sechs Bände, von denen der erste die logischen Schriften, der zweite die physikalischen, der dritte die Schriften über Metaphysik und Psychologie, der vierte die ethischen, der fünfte die kleineren physikalischen Schriften, der sechste die Zoologie enthält. Dazu kommt der ein und zwan- zigste Band mit der Pliilosophia pauperum.

§. 200. Albert als Philosoph. 1. Wie AcUenna, der ihm auch unter den Counnentatoren des ^Iristotc/es am Höchsten steht, commentirt Albert die Schrif- ten des Ariatole/es so, dass er die Lehren desselben aus sich, darum nicht immer mit des Artsfofrfcs Worten , rcproducirt, auch, wo er glaubt eine Lücke zu finden, dieselbe ergänzt. Dabei be- dient er sich fast nur solcher Uebersetzungen , die aus dem Ara- bischen gemacht sind. Nur die logischen Schriften machen hievon in sofern eine Ausnahme , als ihm die Theile des Organon , welche die alte Logik enthielten, in des Bnelldiis Uebersetzung , dagegen die Analytiken und Topiken in ihren Bearbeitungen durch Aija- rabi, Ariccnnu und Arerrocs den Leitfaden bilden. Er will die Logik nicht als eigentliche Wissenschaft, sondern nur als Vor-

II. Giauzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Albert. §. 200, 1. 2. 339

bereitung dazu gelten lassen, weil sie nicht, wie die übrigen Theile der Philosophie, ein bestimmtes Se3'n betrachtet , sondern vielmehr alles Seyn wie es unter den sprachlichen Ausdruck fällt, so dass sie zur philosophia scrmociiudis gehört, nicht die res. sondern die inieiüloiips, d. h. Begriffe, rernm considerat. Ihre eigentliche Aufgabe ist, zu zeigen wie vom Bekannten man zur Erkenntniss des Unbekannten gelange, und sie zerfällt darum, wie Aifarahi schon richtig gezeigt hat, da das Ijisher Unbekannte ein incom- plr.iinn oder complcxiim seyn kann, in die Lehre von der Defi- nition und in die vom Schluss und Beweis. Diesem gemäss wer- den die Schriften des Organon in zwei Hauptabtheilungen zerlegt, je nachdem sie die Daten für die richtige Definition herbeischaffen, wie die Schriften de praedicabilibus , de praedicamentis, de sex principiis, oder aber nicht nur die Subjecte und Prädicate zu Urtheilen und Schlüssen, sondern diese selbst zu finden lehren, Ane die anderen Schriften des Organon.

2. Die neun Tractate de praedicabilibus, auch als de univer- salibus citirt, geben eine Paraphrase der Isagoge des Porphyrins. in welcher das Verhältniss der Prädicabiheu so festgestellt wird, dass die differentia für das gcniis das ist, was da.s, proprium für die speries . und das accideus für das indlridninn. Dabei ist be- merkenswerth , dass er die Frage nach den Universali^n gerade so allseitig beantwortet, \vie ihm dies von Aricennd (s. oben §. 184, 1) angezeigt worden war: Sie sind (inte res als Urbilder im göttlichen Verstände, in rebus, indem sie das (juid est esse derselben angeben, posi res. indem unser Verstand sie von den einzelnen Dingen abstrahirt. Die Schrift de praedicamentis behandelt unter diesem Namen die Aristotelischen Kategorien, die sogleich so geordnet werden, dass der suhstdiiiia die neun übri- gen als (iceideuf'ui gegenüber gestellt werden , mit der ausdrück- lichen Erklärung, dass, wenn die priiu ipia esseudi und eogiwseendi nicht dieselben wären , unser Wissen ein falsches wäre , und daher unserem Unterscheiden von Substanz und Accidenz der des sub- stanziellen und accidentellen Seyns parallel gehe. Bei der Unter- scheidung der siibstdJdUi prhiui und secnndd (s. oben §. 86, 6) wird die erstere als ein hoe d/lijidd bezeichnet, das maferiam hd- hel terminufam et siyudtam aeetdentibiis indicidiidutibiis^ und ein eiis perfeetiim sey, oder nitimdm perfeelionem habe. Solcher aeeidentid individiidutid werden an verschiedenen Orten mehrere, bis sieben , unter ihnen das hie et nnne, angegeben. Nach der Quantität wird die Qualität und das (id dlüjuid abgehandelt, und gezeigt, dass in der qualitds auch das agere und pdti . in dem

22*

340 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

nd nluptid auch vhi, fpiavdo , posUio und lah'ilus enthalten sey. Mit dieser letzten Behauptung, an die sich bei Alhert die Lehre von den Postprädicainenten schhesst, streitet eigentlich, dass er des Gilbert Buch de sex principiis (s. oben §. 1G3, 1), das ja hier eine Lücke ausfüllen sollte, oben so gewissenhaft commen- tirt, als wäre es ein Aristotelisches Buch.

3. Den Uebergang zur Theorie des Schlusses und Beweises bilden die beiden , in fünf und zwei Tractate zerfallenden , Bücher Periherineneias , welche dem Aristotelischen Buche (s. oben §. 8(i, 1) Schritt für Schritt commentirend und vertheidigend folgen. Es folgen die neun Tractate des Lib. I prior um analytico- rum, welche den Schluss auf das dici de onnii cl tnillo stützen, dann die Fifjirnw desselben so wie deren verschiedene conjuga- tioves entwickeln und dann in eine sehr genaue Untersuchung da- rüber eingehn , wie sich die Sache je nach dem modalen Charakter der Prämissen gestalte. Am Schluss des vierten Tractats werden die Regeln über die dreifache mi.rlio des ncre.ssnrii. et iiiesse, des incsse et eonthifjeiitis . des roiitivgentis et veeessaril übersichtlich zusammengestellt. Sehr ausführlich werden die Ileductionen einer Figur auf die andere, nicht nur die der zweiten und dritten auf die erste, sondern auch umgekehrt, betrachtet. Es folgen dann sieben Tractate über Lib. II prior, analyt., welches den zu Stande gekommenen Schluss , seine Beweiskraft so wie seine mög- lichen Fehler erörtert, dabei aber immer Streitigkeiten der Schule berücksichtigt. Lib. I posterior um folgt in fünf, diesem Lib. II p oster. in vier Tractatcn. Sie enthalten die Untersuchungen, denen Alhert den höchsten Platz einräumt, weil hier nicht mehr nur die formelle ncressitas eonsefpient'ute . sondern die materielle Wahrheit des Schlusssatzes, die iiecessitus conseqnentis berück- sichtigt wird. Da dieselbe von der Walniieit und Gewissheit der Prämissen abhängt, so werden zuerst dreizehn Grade der Gewiss- heit unterschieden, und daran ausführliche Untersuchungen über das deductive Verfahien geknüpft, und gezeigt, wie das Wissen und wie die Unwissenheit folgert. Die drei Grade des über den Beweis hinausgelienden hitrl/erfu.s . der nicht an den Beweis heran- reichenden sensifs und ophiio, und der auf dem Beweise beruhen- den srientiu, deren discursive Erkenntniss der intuitiven des In- tellects entgegen gestellt wird, werden unterschieden, und mit der intelligentia als der Erkenntniss der, nicht mehr zu definirenden und zu beweisenden, Principien alles Definirens und Beweisens geschlossen.

4. Zwischen diesem unbeweisbar Gewissen und dem ersten

11. Glanzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Albert. §. 200, 4. 5. 341

Demonstrirbareii bedarf es einer Vermittelung. Diese kann iu- ceiitio genannt werden, und während bisher die ruüo disserendi betrachtet war, wie sie ratio judicundi ist, wird jetzt dieselbe betrachtet werden so weit sie vdüo mveniendl. Dies ist der Zweck der acht Bücher Topicorum, die in neun und zwanzig Tractaten die gleichnamige Aristotelische Schrift (s. oben §. 86 , 5) begleiten. Es soll hier gezeigt werden, wie diu'ch dialektische Schlüsse aus Wahrscheinlichem das im höchsten Grade Gewisse gefolgert wer- den kann, oder, was ziemlich auf dasselbe hinausgeht, wie Pro- bleme gelöst werden. In dem ersten Buche wird die Dialektik im Allgemeinen , in den sechs folgenden sie in Beziehung auf einzelne Probleme, im achten als Disputirkunst betrachtet. Daran schlies- sen sich dann die beiden Libri elenchorum an, die in sieben und fünf Tractaten den sophistischen Scheinbeweisen Fehler, sey es in der Form, sey es im Inhalt, gegen die Regeln des Schlies- sens nachweisen. Albert rechtfertigt dabei die Eintheilung dieser Untersuchung in zwei Bücher, deren Verhältniss er mit dem der Dialektik und Apodiktik vergleicht.

5. Was nun die eigentlichen (essenlialcs) Theile der Philoso- phie betrifft, und zwar zuerst den theoretischen (scicniia theo- ricu, realis . speciihitira u. s.w.), so zerfällt diese in Metaphysik, Mathematik und Physik, die es mit dem intelligiblen , imagina- belen und sensiblen Seyn zu thun haben. Obgleich die eben an- gegebene Reihenfolge die sachliche, so soll doch, weil unsere Er- kenntniss mit dem Sinnlicl^en anfängt, ordhte doctrinae mit der Physik begonnen werden, und so gibt Albert, indem er in ähn- licher Weise wie bisher das Organon so die physikalischen Schrif- ten des Aristoteles (s. oben §. 88) commentirt, eine Darstellung der seieittiu iiaivridis, die den doppelten Zweck hat, mit dieser Wissenschaft und mit der liier a des Aristoteles die Leser, zu- nächst in seinem Orden, bekannt zu machen. Der zweite Band der gesammelten Schriften enthält Physicorum Libb. VIII, de coelo et mundo Libb. IV, de generatione et corruptione Libb. II, de meteoris Libb. IV, die sich ziemlich genau an Aristoteles halten, und in welchen auch die Grundbegriffe der Mathematik abgehan- delt werden , so dass Albert von diesen Untersuchungen als von seinem tjuadrimiim sprechen , sie als seine Lehren über die scieii- liae doctrinulcs oder discipliuares (vgl. oben §. 147) citiren kann. An die Meteore schliessen sich dann die ersten hundert Blätter des dritten Bandes an, welche die drei Bücher de animu enthalten, einen Commentar, der durch diyressiones unterbrochen wird , in welchen andere Ansichten erwähnt und, wo möglich, mit denen des Ari-

342 Mittelalterliche Plülosoi)hie. Zweite Periode (Scholastik).

sfoteles vermittelt werden. Nicht gerade zum Vortheil der Con- seqiieuz wird die Seele als Entelecliie des Leibes gefasst und doch, weil einzelne ihrer Functionen nicht an Organe gebunden seyen, behauptet, diese und also die ganze Seele sey sepanitd. In der Theorie der Sinne spielen die von den Dingen ausgehenden spe- cies oder intenüones f die, weil sie immateriell, spirituales heisiieu, eine grosse Rolle. An die fünf Sinne und den scnsvs comminiis soll sich die vis bmiginalira und aestimaiira schliessen, die allen, ferner die phantasln, die wenigstens den vollkommneren Thieren zukommt, endlich die mcmor'ui. Kein Punkt wird mit so viel Digressionen besprochen, Avie der infellecfiis oder die pars latio- nalis der menschhchcn Seele. Es handelt sich hier darum, zu zeigen, dass er unveränderlich, von der Materie unabhängig, für das Allgemeine empfänglich und also kein hoc aliquid oder iitdl- i'idnatmn sey, und dass demnach jeder Mensch seinen eignen In- tellect habe, wodurch er eben unsterblich ist. Dazu werden die Theorien des Alexander von Aphrodisias, Thcmisthis, Areuipiice, Abuhecher, Averroes, Aricembrnn. früherer Platoniker und Neue- rer, die sich ihnen anschliessen, kritisirt, und wird gegen sie ver- theidigt, was nach Albert die eigentliche Meinung des Aristoteles ist. Dabei wd gezeigt, dass der i/ifcllectns possibllis in einem ganz anderen Sinne potentia sey als die Materie dies war. Ueber den liitellrrttfs (igens ist weniger gesagt, es wird da auf die Me- taphysik verwiesen. Durch den hiiellectvs practicns wird der Uebergang gemacht zu der, von jenem verschiedenen, rohmtaSf welche bei dem Menschen an die Stelle des oppet'üiis der Thiere tritt. Der "Wille ist frei, selbst von den Beweisen der Vernunft nicht zur Wahl genöthigt, wirkt als reine cuiisa sui. Wo gehan- delt werden soll, müssen beide sich vereinigen: die Vernunft er- klärt für gut (discerint) . der Wille nimmt in Angriff (impctvm facif^. Die allgemeinen und angebornen Grundsätze des intellc- ctiis prncticiis bilden die syndercsis. welche eben so wenig irrt, wie die theoretischen Vernunftaxiome , welchen ihr Inhalt entspricht. Aus der Synderesis als Obersatz und der erkennenden Vernunft, die den Untersatz liefert, entsteht die conscientia. Die Verbin- dung des intellectifs und der roltuftds gibt das Uberum (trbitrinm, in dem der Mensch arblter ist, weil er Vernunft, Über , weil er Wille ist. Nicht das liberum urbitrlnvi . sondern die libertns da- rin muss als der Sitz des Bösen angesehn werden.

G. Die vorstehenden naturwissenschaftlichen Untersuchungen, welche alle im 2^'''' und 3*"" Bande der Gesammtausgabe zu finden, sind zu einem übersichtlichen Auszuge verschmolzen in der Summa

II. Glanzpei-iode. B. Christliche Aristoteliker Albert. §. 200, 6. 343

philosopliiae naturalis (Bd. 21), auch wohl Philosophia pauperum genannt, weil dadurch die Glieder des Bettelordens in Stand ge- setzt werden sollten, das Ganze der Aristotelischen Physik kennen zu lernen. Manche hezweifeln , dass All/ert seltet diesen Auszug gemacht habe, der übrigens in verschiedenen Redactionen existirt, indem z. B. in der von Jac. Thauvcr Leipz. 1514 veranstalteten Ausgabe Einiges fehlt, was sich bei Jammij findet. So der Ab- schnitt über die Kometen. Ausserdem aber finden sich im zwei- ten Bande der Gesammt ausgäbe fünf Bücher de Mineralibus, die Albert . weil er bei Ar ist ol des nur vereinzelte Winke fand, aus Arieenvü und anderen Autoren, aber auch aus eignen Beob- achtungen zusammenstellte. Ein alphabetisches Register der Edel- steine, denen er wohlthätige Wirkungen zuschreibt, und eine, für seine Zeit sehr aufgeklärte, Kritik der Goldmacherei ist das In- teressanteste darin. Welchen Grund Jammy gehabt hat, die Schrift de sensu et sensato, deren genauen Zusammenhang mit der von der Seele Alber l selbst anerkennt, so wie die übrigen Parva naturalia, auf welche Albert sich in seiner Metaphysik beruft, hinter diese, in den fünften Band zu setzen, ist nicht recht klar. Das Gleiche gilt von den sechs und zwanzig Büchern de anima- libus, welche den sechsten Band ausmachen, und in welche alles das hineingearbeitet ist, was die Aristotelischen Schriften de part. und de generat. anim. enthalten, so wie Vieles aus der Thierge- schichte. (So namenthch in den neunzehn ersten Büchern, die letzten sieben zeigen grössere Selbstständigkeit.) Am Meisten zei- gen sich Albert s eigne Studien in den sieben Büchern de vege- tabilibus et plantis, die von Botanikern von Fach noch heute mit Achtung genannt werden. Ausserdem sind die beiden Schrif- ten de unitate intellectus contra Averroera und de in- tellectu et intelligibili zu erwähnen. In der ersteren werden den dreissig Gründen, mit welchen nach den Anhängern des Aner- roes die Unsterblichkeit der Einzclpersönhchkeit bestritten werden kann, sechs und dreissig Gegengründe entgegengesetzt, aus denen sich ergeben soll, dass jene Behauptung aus der Ideenlehre her- vorgegangen, dagegen die acht Aristotehsche Lehre diese sey, dass Jeder seinen, nicht nur leidenden, sondern auch thätigen, Verstand habe. In der zweiten Schrift, einer Ergänzung zu der über die Seele, wird abermab die Frage über die Universalien vorgenommen, und ganz wie oben als der richtige Standpunkt der bestimmt, der ge^xisser Maassen die Mitte einschlage zwischen Xo- minalismus und Realisnms. Xur die Terminologie ist hier eine andere als in der Schrift de praedicabihbus : Xur wie sie /// rebus

344 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

sind, sollen die Gattungen viiiversalla oder auch (juidltaies seyn, dagegen wie anfe res seyen sie essenüae , me post res intellectns zu nennen. Ausserdem werden in dieser Schrift die von den Ara- bern gemachten Unterscheidungen hinsichtlich des inleUeclns so adoptirt, dass eine Stufenfolge angenommen wird, in der der Ver- stand vom possibtiis zum (igens , fornutlis, in cfl'cctu , adeplns, assbnildlirits , sancfits wird, welcher letztere die Seele als in Gott entrückt zeige. (Der rapins des Ariceniia.)

7. Ganze drei Viertheil des dritten Bandes der Werke nimmt Alherts Metaphysik oder prima philosophia ein, die er auch di- vina philosophia oder theologia nennt, weil sie nur durch göttliche Erleuchtung zu Stande kommt, und das Göttliche betrachtet. In den historischen Erörterungen des ersten Buches werden alle ma- terialistischen Ansichten nach ihrem Culminationspunkte als Epi- kureismus zusammengestellt. Epikurische Philosophie heisst ihm immer materialistische, Epimrus sehr oft ein Materialist. Eben weil der Name hier zum uppplhiib:iim geworden ist, hat sein (al- lerdings komisches) Etymologisiren doch einen Sinn. Eben so er- hält der Name der Gegner des l^pikirr, Stoici, auch eine weitere Bedeutung, und darum, nicht bloss wegen einer Namensverwechs- lung, werden Eleaten, werden Pi/tJ/nfforas , Solrates, Pinto als Stoiker bezeichnet , d. h. als Solche , nach denen nicht die Materie, sondern die Form ..dat esse''. Die Peripatetische Ansicht steht ihm dann über beiden. Im weitern Verlauf Averden die Aristote- lischen Untersuchungen oft durch Digressionen unterbrochen; so im dritten Buche, wo sieben und zwanzig Dubitationes (Apo- rien) zuerst mit Aristotelischen, dann mit eignen Gründen besei- tigt werden. Das vierte Buch exponirt ohne eigne Digressionen, was Aristoteles über den Satz des NichtWiderspruchs und des aus- geschlossenen Dritten gesagt hatte; im fünften, synonymischen, hat Albert einige hinzugefügt. Die wichtigste ist, dass er die vier crnisac aus einem gewissen Princip abzuleiten versucht, in- dem die materialis und formalis (quid erat esse, (juidit(is) als causa intrinseca , die efficiens und fnialis als extrinseca zusam- mengefasst, und dann auf die materia das hoc esse, auf die /br- ma das esse reducirt wird. Ausserdem werden Einheit, Zahl, erste Materie (mit deren Begriff es streite ohne alle Form zu seyn), das Allgemeine, die Gattung und ihr Verhältuiss zur Materie u. A. in eignen Digressionen erörtert. Der Sprachgebrauch hinsichtlich der imiversalia modificirt sich hier abermals, so dass darunter nur verstanden wird, was in den vergleichenden Verstand fällt, so dass es also jetzt heisst: nnirersale non est ifisi dtnn iiiteHigitur.

II. Glauzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Albert. §. 200, 7. 8. 345

Eiue Digression zum sechsten Buch sucht die Zufälligkeit man- cher Ereignisse mit dem Wissen Gottes, das mit seinem Seyn zu- sammenfällt, durch die Unterscheidung der ersten und der näch- sten Ursache zu vereinigen. Das siebente Buch ist eine Para- phrase fast ohne alle Digressionen, das achte enthält zum Schluss eine Erörterung, in der ein scheinbarer Widerspruch in der peri- patetischen Lehre hinsichtlich der Substantialität der Materie und Form durch eine Distinction entfernt wü'd. Beiden zusammen hat er die Ueberschrift de substäntia gegeben. Das neunte Buch de potentia et actu paraphrasirt nur den Aristoteles . das zehnte de uno et multo gleichfalls, mit Ausnahme einer ziemlich unbe- deutenden Digression über das Maass. Das eilfte Buch der Ari- stoteHschen Metaphysik scheint Jlhert nicht gekannt zu haben; wenigstens ist sein eilftes eine Paraphrase des Buches A, so wie sein zwölftes dem dreizehnten, sein dreizehntes dem vier- zehnten des Aristoteles entspricht. Nur in dem eilften finden sich einige Digressionen; theils Zusammenfassungen des früher Ent- wickelten — z. B. dass der Physiker alles in Beziehung auf die Bewegung, der Metaphysiker auf den Zweck betrachte, dass alles Werden ein educi e wateria sey und eines (tctn e.xistentis be- dürfe u. A. theils nähere Bestimmungen Aristotelischer Sätze. Unter diesen sind die wichtigsten die, welche die Einfachheit der ersten Ursache damit, dass sie Denken des Denkens ist, so wie mit der Vielheit ihrer Prädicate zu vereinigen suchen. Die letz- teren sollen ihr nicht vnivoee mit anderen Subjecten zukommen, sondern nur im eminenten , oft im negativen Sinn , so dass er die eavsd prima, im Unterschiede von der intelligentia prima und muteria prima , primissima nennt. Ferner wird ausführlich erör- tert, wie aus der ersten Substanz absteigend die himmhschen In- telligenzen hervorgehn, die ihre Individuation durch die ihnen zu- gewiesenen Himmelskreise erhalten. Endlich lässt er sich weit- läuftig darüber aus, warum über den Fixsternhimmel zwei stern- lose angenommen werden müssen, deren unterer von dem im oberen thronenden höchsten Gute, als seinem Zweck und Ziel, in Bewegung gesetzt wird. Ein System einander untergeordneter In- telligenzen, welche die Hinimelskreise bewegen (vgl. oben §. 184, 3), soll die wahre peripatetische Lehre seyn.

8. Ausser der theoretisclien Philosophie nimmt Albert nur noch eine praktische an, indem er die Poetik als Gegenstück der Rhetorik zu der Logik stellt. Je nachdem die Ethik den ein- zelnen Menschen für sich, als Ghed des Hauses oder .als Bürger betrachtet, ist sie ^Jonastiea , Oeeonomiea oder Politiea. Nur

346 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

die ei'stere hat Alhcrt, in seinem Commentar zur Nikomachischen Ethik (s. oben §. 89, 1), bearbeitet. (Der Commentar zur Politik, den Jdinmii im vierten Bande der Ethik folgen lässt, verräth schon in der äusseren Form, indem, Avie bei Arerrol's und Thomas, im- mer der ganze Aristotelische Text in wörthcher Uebersetzung der Auseinandersetzung vorausgeschickt wird, ausserdem aber auch in der Sprache, einen andern Verfasser.) Eignes kommt in den paraphrasirenden Erklärungen des Aristoteles nicht viel vor, man müsste denn dies für wichtig halten , dass rlrtKtes eardinales und (tdjiinetae unterschieden werden, oder dass er dem siebenten Buche die Uebcrschrift de contincntia gegeben hat. Manche Tugenden werden mit ihren griechischen Namen angegeben, die dann mei- stens nach einer sehr seltsamen Etymologie erklärt werden. Das achte Buch de amicitia, so wie das neunte de impedimentis ami- citiae sucht Albert als einen nothwendigen Bestandtheil der Ethik nachzuweisen. Sonst enthalten beide so wenig Neues wie das zehnte, das eine bald wörtliche, bald freie Uebersetzung des All- st oteles ist. Hierin wird Albert keinen Tadel sehn, denn am Ende seiner naturwissenschaftlichen Arbeiten spricht er mit einer Art Stolz aus, was sich am Ende des Commentars zur Politik fast wörtlich wiederholt findet: er habe nur die Peripatetische Lehre bekannt machen wollen , was seine eigne Ansicht sey , werde Kei- ner herauslesen, daher dürfe auch nur der ihn tadeln, welcher seine Darstellung mit des Aristoteles eigenen Schriften vergleiche. Zieht man in Betracht , wie wenig Hülfsmittel ihm zu Gebote stan- den, so wird man seinen Stolz gerechtfertigt finden.

9. Die zuletzt angeführte Aeusserung lässt die Kluft zwischen Alberts eigner und der Peripatetischen Lehre grösser erscheinen, als sie ist. Wirklich getadelt wird Aristoteles nur in zwei Punk- ten, und davon wird der eine, die Ewigkeit der Welt, als Ver- leugnung der Aristotelischen Principien , der andere , die Definition der Seele als einer verbessernden Ergänzung fähig ])ezeichnet. Dagegen gibt es eine Schrift des Albert . welche, eben weil sie nicht die Form des Commentars hat, am Meisten seine Ueberein- stimmung mit dein Aristoteles , so wie am Klarsten sein Verhält- niss zu der Schrift de causis (s. oben §. 189) und anderen raor- genländischen Aristotelikern ergibt. Es sind dies die zwei Bü- cher de causis et processu universitatis (WW. Bd. V, p. 528 655), von denen das erste, de proprietatibus primae causae et eorum quae a prima causa procedunt, in vier, das zweite, de terminatione causarum primariarum, in fünf Tractate zerfällt. Nach einer ausführlichen Kritik der Epikurischen , d. h. materialistischen,

II. Glauzperiode. B. Christliclie Aristoteliker. Albert. §. 200. 9. 347

und Stoischen, d. h. idealistischen, Ansicht, so wie der des Jvi- cemhron (s. oben §. 188) , wird festgestellt , dass ein absolut noth- wendiges höchstes Princip an der Spitze alles Seyns stehe, von dessen zwölf Eigenschaften für den weiteren Fortgang die wich- tigste die absolute Einfachheit ist, vermöge der in ihm kein Un- terschied Statt findet zwischen dem Esse oder dem quo aVujiiid est und dem quod est oder dem (jno alirjuid est hoc. Dieser Un- terschied, der später als existentia und esscntki eine sehr wich- tige Rolle spielt, grenzt, zwar nahe an den der /orma und ma- teriii , doch will Alhcrt sie nicht ganz confundiren , weil ja das (juod est auch dem immateriellen Wesen zukommt. Das omni- mode et omnbio Se3'ende, wenn man will Ueberseyende , da das Seyn sein Werk ist, ist über alle bestimmten Prädicate, daher auch alle Namen , erhaben , so dass nur im eminenten Sinne ihm beigelegt werden darf, was ein nicht relativ, sondern allgemein Zuträgliches bedeutet. (Gut seyn ist Allem, golden seyn nicht Allem, z. B, dem Lebendigen nicht, zuträglich.) Summa bonitas, eiis piimum , prima causa, prhninn priiicip'unn , fons omnis bo- nitatis . sind die Namen, unter denen das oberste Princip, das dem Albert mit dem gnädigen Gott zusammenfällt, besprochen wird. Dasselbe weiss Alles , aber das Mannigfaltige in seiner Ein- heit, das Zeithche als ewig, das Negative am Positiven, daher auch das Böse niu' als Mangel am Guten. Sein Wissen, als von keiner Schranke, ist von keinem Gegensatz behaftet, daher weder universell noch individuell. Als causa sui ist es frei, was seiner Nothwendigkeit keinen Abbruch thut ; sein Wille ist nur durch seine eigne Güte und Weisheit beschränkt, vermöge der es das Wider- sinnige nicht vermag. Aus diesem ersten Principe fliessen (fluunt), so dass je weiter sie sich von ihm entfernen um so unvollkomm- ner sie sind, alle causirten, Principien sowol als Dinge. Sein Reich- thum bringt es zum Ueberfluthen ; was aus ihm floss ist ihm zwar nicht gleich aber ähnlich, und verlangt daher nach ihm zurück. Diese Abnahme der Vollkommenheit wird bald als Uebergang des Allgemeinen in die Besonderheit , bald als Einschränkung bezeich- net , auch wohl mit dem Juden Isaac gesagt , dass das je Folgende im Schatten des Früheren entstehe, und diese vmbra zur diffe- reiüia coarctavs gemacht. Der erste Ausfluss aus jenem Princip unterscheidet sich von ihm dadurch, dass er nicht mehr absolut einfach ist, indem in ihm das Esse, das er vom ersten Princip hat, und das rpiod est, das aus dem Nichts stammt, auseinander- fallen; es ist daher In esscntia finitum, in vir tute in f 'mit um. Diese erste Emanation ist die iiitelligentia , die darum nicht mehr Gott

348 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

genannt werden darf, Ihr Wesen ist Erkennen. Weil sie sich als Wirkung erkennt, erkennt sie a posteriori, die erste Ursache dagegen erkennt, aus dem entgegengesetzten Grunde, Alles a priori. Zwar nicht vermöge ihres eignen Wesens, wohl aber kraft des ihr mitgetheilten Seyns, ist auch die IntelUgenz wieder aus- fliessend und wirksam; und ihr Ausfluss, also die zweite, mittel- l)are , Ausstrahlung aus dem ersten Principe, ist die (inima nobi- /is, das beseelende und belebende Princip der himmlischen Sphä- ren. Diese werden also durch die Intelligenz bewegt, weil diese ihr desidcrahnn . durch die (iiüma . welche ihr motor ist Allen diesen Emanationen ist gemeinschaftlich das Seyn , dieses primiim (T'-iitinn, ferner dass jede als eine Vielheit existirt, freilich nicht als coordinirte, denn wie die animae nobilcs sich zu einander ver- halten, wie der Saturnkreis zum Jupiterkreis u. s. w. , so besteht auch jede Intelligenzen -Ordnung nur aus einem einzigen Indivi- duum. Dass sie immateriell und doch individuell sind, soll da- durch erklärt werden, dass durch den Gegensatz von esse und (jaod est ein gewissermaassen materielles Princip in ihnen sey. (Es wird manchmal als f/ij(eae/tim von der I/)//e unterschieden.) Gott, in dem auch dieser Gegensatz felilt , ist deshalb nicht Individuum. Eher noch kann man zugestehn, dass Gott //oc iditjuid ist, man darf aber, da das snpposilum in Gott ganz mit seinem Seyn zu- sammenfällt, dasselbe durchaus nicht als mutcria . nicht einmal als hyleuehim denken. Als ein viertes Princip, hinter jenen dreien zurückbleibend (depeiens) . nennt Albert die iwtnra . die forma eorporeitidis , das Princip der niederen körperlichen Bewegungen. Die animn nun und die ludunt sind die Werkzeuge, vermöge der die Intelligenz die Formen, die sie als ilir Inbegriff in sich ent- hält, in die viateria hinein- oder, wie sich die Sache bei Albert noch öfter gestaltet, aus der Materie als der indioidio formae herausbringt. Dadurch entstehn die Dinge, die von der Form ihren (Gattungs-) Namen und ihre (juiditds haben, während die Materie sie zu einem hoc olhpdd contrahirt. Der erste wirkliche (formale) Körper ist der Himmel; wie in ihm die der anima inne- wohnenden Formen, so werden die der nidiira emgeströmten For- men (formae naturnies) zunächst in den Elementen materialisirt, so dass zu den zuerst genannten vier Principien als Grundlagen des natttrhchen Daseyns, die weiteren vier: Materie, Form, Him- mel, Elemente hinzukommen. Was Albert bei Erörterung dieser Begriffe von der Materie sagt , erscheint dadurch etwas unentschie- den, dass er an derselben bald das positive Moment hervorhebt, dass sie supposifnm oder subjevium {ijTO'Aeiuevov) ist, bald wieder

n. Glanzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Albert. §. 201. 1. 2. 349

das negative, dass sie prirath {oreQr^aig) (vgl. oben §. 87, 2) seyn soll. Da der Himmel unvergänglich ist, so ^Yill er ihm nm- im ersteren Sinn Materie beilegen, dagegen wird das zweite Mo- ment besonders hervorgehoben , wo die Materialität der Dinge mit ihrer Nichtigkeit als Eins gesetzt wird. Die angeformte Materie wird von ihm oft als pene nihil bezeichnet, weil sie die Anlage zur Form und der Drang dazu ist.

§. 201. Albert als Theolog.

1. Auch seine theologische Laufl)ahn beginnt Alhcrt als Com- mentator, zunächst der h. Schrift, dann der Sentenzen des Lom- barden. Der Commentar zu diesen letzteren füllt drei Bände der Gesammtausgabe (Bd. 14 16). Dem wörthch angeführten Text der Sentenzen, folgt die dirisio tejlns. dieser die expnsHio , wel- che in einzelnen Artikeln die sich ergebenden Fragen formulirt, die Bejahungs- und Yerneinungsgründe aufzählt, endlich die Lö- sung gil)t. Nur l)ei sehr leicht verständlichen Paragraphen fällt die dirisio weg. Rückweisungen auf früher im Commentar Gesag- tes vertreten oft die Stelle der ausführlichen Erörterungen. Z. B. wird bei den Sacramenten auf das über die Cardiualtugenden Ge- sagte verwiesen. Auch auf seine früher geschriebenen philosophi- schen Werke verweist AWeri manchmal, namentlich auf den Tractat über die Seele. Nur in sehr wenigen Punkten wird, mit Bezug auf andere moderni, von dem abgewichen, was der Lombarde be- hauptet hat; im Ganzen will Albei't . ganz wie in seinen Commeu- taren zum Aristoiclrs nicht die eigne, sondern seines Autors An- sicht entwickeln.

2. Ganz anders dagegen , und mit der Aufgabe zu vergleichen, die oben (§. 200, 0) der Schrift de causis et processu universita- tis zugewiesen wurde, ist die, welche sich Aihert in seiner Summa theologiae (Bd. 17. 18) gesetzt hat. Titel, Methode, Bezeich- nung der Abschnitte erinnert so sehr an Alexander von Haies (s. oben §. 195), dass mau sich des Gedankens nicht erwehren kann, es habe hier den Dominikanern Etwas geboten werden sol- len, was die Franciscaner bereits hatten. Dabei stellt sich Albert zu den Sentenzen des Lombarden ungefähr so, wie sich Alexander zu der Schrift Ihigds gestellt hatte, d. h. er folgt ihm nicht wie ein Commentator, sondern wie ein P'ortl)ildner. Eben darum nennt er auch sein Werk eine theologische, nicht nur eine Lehr -Summa. Nachdem in dem ersten Tractat der Theologie als Wissenschaft zugestanden ist, dass sie Zweck in sich, als praktischer Wissen-

350 Mittelalterliehe Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

Schaft aber die Erreichung der Seligkeit zum Zweck angewiesen wird, geht der zweite Tractat zu dem Unterschiede des frui und nti über, und zeigt, dass wieder das Iriil auf das Göttliche, noch das Vit auf das Diesseits beschränkt ist. Es gibt auch ausser Gott Solches was fruibile und nicht nur /// rhi , sondern auch in pntrui wird es Solches geben, das titile ist. Im dritten Tractat, der von der Erkennbarkeit und Beweisbarkeit Gottes handelt, wird dieselbe auf das «pda est beschränkt, während das quid est nur infmilc (d. h. nicht positiv) erkennbar ist. Das rcsügium Gottes in den untermenschlichen, seine iningo in den menschlichen Wesen sind für das Erkennen Gottes der Ausgangspunkt, die Erleuchtung durch die Gnade muss zu der natürlichen hinzutreten, um es zu vol- lenden. Zu den fünf Beweisen des Lombarden für die Existenz Gottes fügt Albert zwei, dem Aristoteles und Bol't/ntis entlehnte, hinzu. Alle die bisherigen Untersuchungen werden als praeam- hula bezeichnet und mit dem vierten Tractat zu dem eigentlichen Gegenstande ül)ergegaugen, zu Gott als dem wahren Seyn {essen- tia) , von dem Ansei m mit Kecht gesagt habe, dass nur wer sich selbst nicht versteht, es als nichtseyend denken kann. Als das absolut Einfache, in dem esse, (/itod est und n quo est zusam- menfallen, ist Gott der absolut Unveränderliche. Nachdem im fünften Tractat die Begriffe neternitos, (leriteruUns (aemm) und femp)fs als incommensurabel dargethan sind , weil jedes eine andere Einheit (niiuc) zum Maass hat, wird in dem sechsten vom Einen Wahren und Guten gehandelt. Diese drei Prädicate, die übrigens allen Wesen zukommen (cmn ente conrcrtiinti(r) kommen Gott zu, das erste wegen seines Nicht -nichtseyn-könnens, das zweite we- gen seines Einfach - und Ungemischtseyns, das dritte wegen seiner Un Veränderlichkeit und Ewigkeit. Die Unterscheidung von reritas rei und signi , die hier gemacht wird, dient später zur Lösung mancher Schwierigkeiten, z. B. solcher, die das göttliche Vorher- wissen darbietet. Nur dem Guten wird wahrhafte Wesenhaftigkeit zugcschrieljen , das Böse kommt nur an ihm vor, wie das Hinken am Gehen. Mit dem siebenten Tractat wendet sich die Untersu- chung zur Dreieinigkeit, wo vermöge einer Menge von Distinctio- nen, z. B. der proprielas personalis und personac, der ewigen und zeitlichen processio u. s. w. die kirchliche Lehre als die allein richtige bestimmt wird. Im achten werden über die Namen der drei Personen sehr subtile Untersuchungen angestellt, z.B. uirum Pater pnter est quia gener (d rel genernl quin ptder est? Fer- ner über filius, imngo , verbiim , Spiritus sanctus , doniim, amor. Der neunte betrachtet die Beziehung und Unterschiede der Perso-

U. Glauzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Albert. §.201, 3. 351

neu, der zehnte die Begriffe vsia (essentla), usiosls {suhsislentki). hypostasis {suhstaniUi) , persona, wobei die Uiitersclieidungeu des Augustinus, (Pseiido-) Boethius, Praepositlcus und gewisser Neue- ren alle rühmend erwähnt werden, und zuletzt der Sprachgebrauch der Lateiner als der vorsichtigste empfohlen wird. Die Ausdrücke trhiHs, irlniis et unus, trinitas, trinUas in unitate u. A, werden gleichfalls durchgenommen. Es folgt im eilften Tractat die Gleich- heit der göttlichen Personen, vermöge der jede jeder und jede al- len gleich ist. Der zwölfte handelt de appropruäis, d. h. den se- eundären, aus der Grundeigeuschaft der Personen folgenden xVttri- biiten derselben, wo dem Vater die Macht, dem Sohne die Weis- heit, dem h. Geiste der Wille zwar nicht exclusiv, aber doch im besonderen Sinne beigelegt wird.

3. Unter der Ueberschrift De nominibus (juae teuiporaliter Deo conveniuni werden im dreizehnten Tractat die Begriffe Do- minus. Creator, causa erörtert, und gezeigt, dass Gott einzige causa forma /is oder e.remplaris der Dinge sey, weil er, indem er sich selbst erkennt, die Ideen aller Dinge weiss, aber so, dass sie in ihm, wie die Radien im Centro, eine Einheit bilden. Eben so ist er einzige causa eff/cieus und /Inalis aller Dinge. Im vier- zehnten Tractat werden die ül)ertragenen und l)ildliclien Namen und das Recht erörtert, dem absolut Einfachen viele beizulegen. Der fünfzehnte betrift't Wissen, Vorherwissen und Vorhcrbestim- muug. Die in der Logik gemachte Unterscheidung der nccessitas consefjuentiac und consefjucntis , so wie die theologische zwischen praescientia simplicis inteUigentiae und heneplaciti oder approha- tionis lassen hier die Schwierigkeiten lösen. Im sechszehnten Tractat kommt die praktische Präscienz, die Prädestination zur Sprache, und durch Unterscheidung der praeparatio , yratia und gloria zwischen denen, die alle Verdienstlichkeit der Menschen leugnen, und denen, welche sie statuiren, vermittelt. Die reprohatio als Gegensatz zur Praedestinaiio . so wie ihr Verhältniss zur Verhär- tung kommt zum Schluss hier zur Sprache. Der folgende Tractat handelt von der Vorsehung und dem Fatum, unter welchem letz- teren der, von jener gesetzte Causalzusammenhang alles Beweg- lichen verstanden wird , dem nur die unmittell)aren Wirkungen Gottes nicht unterliegen, das aber andere, nächste, Ursachen, z. B. den freien Willen , nicht ausschliesst. Zuletzt wird vom Buche des Lebens gesprochen. Der achtzehnte Tractat kündigt an, dass, während bisher nur von den Dingen wie sie in Gott sind gespro- chen worden sey, jetzt zu untersuchen sey wie Gott in den Din- gen ist. Die Allgegenwart Gottes wird dahin bestimmt, dass Gott

352 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

essenliaUler . praesentialUer , polenüaUtei' in allen Dingen sey, dann zu dem Verhältniss der Engel zu der Räumlichkeit überge- gangen, und dabei, weil hier die Philosophi wenig sagen können, die Belehrung der Sancti, namentlich des Areopagiten zu Hülfe gerufen. Der neunzehnte Tractat betrachtet die Allmacht Gottes, die Alles kann, was wirklich Macht und nicht, wie das Böse, Uii- macht zeigt. Obgleich Gegner derer, die Gott nur vermögen las- sen, was er wirklich thut, warnt -doch Albert davor, die Allmacht Gottes auf Kosten der Güte und Weisheit zu erheben, durch die Gott sich bestimmen lässt. Die Untersuchungen darüber, ob Gott das Unmögliche könne, sind zum Theil sehr si)itzfindig. Der letzte Tractat des ersten Buchs handelt vom Willen Gottes, der, wäh- rend sein Wissen Alles (Gutes und Böses, Wirkliches und Mög- liches), seine Macht alles Gute (das mögliche wie das wirkliche) befasste, sich auf das Gute beschränkt, das wirklich war, ist oder seyn wird. Der Wille Gottes ist grundlos, nicht determinirt. In ihm wird Uidisis und rnlLsis {!)th]mQ, ßorhioig) unterschieden. Er ist unwiderstehlich , und der Anschein des Gegentheils ist durch die Unterscheidung des absoluten und bedingten Wollens, beson- ders aber durch die vom Willen und Willenserklärung, zu wider- legen. In der letzteren, dem siyninn ro/imUills, werden die fünf Arten unterschieden, die der Vers pmedpil et pro/iihel, eonsulit, imperJU, implet angibt. Jede derselben enthält dann wieder Unter- arten, indem die praeecpfio theils exeniioria, theils prohatorin, tlieils tnstnictorid seyn kann.

4. Der zweite Theil der Summa thcologiae correspondirt dem zweiten Buche der Sentenzen, und knüpft im ersten Tractat an eine tadelnde Bemerkung des Loml)ar(len eine ausführliche Diatribe gegen die Irrthümer der Philosophen. Auch Aristoteles wird eines solchen geziehen hinsichtlich der Ewigkeit der Welt, da doch ge- rade seine Lehre darauf hinführe , dass die Welt nicht natürlich entstanden seyn könne. Moses Malmon'ules' Buch wird als Diix iientrormn öfter citirt und getadelt. In den folgenden drei Tracta- ten, die von den Engeln handeln, werden sie zwar nicht aus ma- teria und forma , wohl aber als aus dem (p(od sunt und quo sunt und insofern doch als aus einem malerude und formale zusam- mengesetzt , bestimmt. Die neun Ordnungen der himmlischen Hier- archie werden, da die Philosophie Nichts bestimme, der Autorität der Heiligen entlehnt. Das Wann und Wo ihrer Schöpfung, ihre Eigenschaften, ihre Persönlichkeit, die zwar nicht auf bestimmter Materie, doch aber auf einem materiale, dem quod est des En- gels, beruht, und sich als Verbindung zwar nicht von Accidenzen

n. Glanzperiode B. Cliristliclie Aiistoteliker. Albert. §. 201, 4. 353

aber doch von Eigenschaften offenbart, dies und vieles Andere wird untersucht. Im fünften Tractat wird der Fall der Engel, ver- anlasst durch das Verlangen nach vollkommener Glückseligkeit, d.h. Gottgleichheit, also durch Hochrauth, betrachtet, in dessen Folge sich Gewissensbisse einstellen, also die syncleresls entsteht. Der sechste Tractat betrachtet die Subordinationsverhältnisse der Engel und ihre Macht, der siebente die dämonischen Versuchun- gen , deren sechs verschiedene Arten angegeben werden. Der achte Tractat, der de viiraru/o cl. mirahU} handelt, bestimmt das erstere als aus dem Willen Gottes hervorgehende, über und gegen den gewöhnhchen Naturlauf geschehende Begel)eidieit. Dagegen sind die mtrahilid Beschleunigungen des Naturlaufs, welche die Zauberer für Wunder ausgeben. Erweckung des Glaubens ist der Zweck der Wunder, der Glaul)e ihre Bedingung. Der neunte und zehnte Tractat handelt wieder von den Engeln , ihrem Boten - und Schützer- Amt, so wie ihren bekamiten neun Ordnungen. Mit dem eilften wird zum Sechstagewerk übergegangen, als welches die in einem Momente vollbrachte Schöpfung dem betrachtenden Geiste erscheine. Die Erwartung, mit Avelcher die Engel dem Vollbringen entgegen- sehn, ist ihre corpuiio mriiiifani. ihr Lobpreisen der vollbrachten Schöpfung die cof/iiifio rcspcrihia, daher die Kunde, die Moses bekommt , eine von Abend und Morgen. Da Alles zugleich ge- schaffen ist, SQ ist der chaotische Zustand der primitive, dem dann die Acte der Sonderung folgen. Obgleich nun Albert die Lehre von den neun Himmeln mit der mosaischen Erzählung ver- einigt, indem er den Krystallhimmel zu den Wassern über der Feste macht w. s. w., so kann er doch nicht umhin zuzugestehn, dass die Peripatetische Philosophie Manches lehre, was zu glauben die Kirche verbiete. Das Vorfinden eines Stoffes, das Identificiren der Sterngeister mit den Engeln u. A. tadelt er streng. Der zwölfte Tractat betrachtet die Schöpfung des Menschen von Seiten seiner Seele. Die verschiedenen Definitionen der Seele werden durchge- nommen, die des Aris/ofe/es wird unzureichend befunden. Alles aber, was das Verhältniss ihrer Hauptvermögen betrifft, aufge- nommen. Die Seele, aus esse (oder f/iio est) und (jiiod est zusam- mengesetzt, ist, weil nicht absolut einfach, ein lotum pofcstati- riim. Wenn sie auch nicht die volle imago Dei ist, sondern ad hndginem . so zeigt sie doch- mehr als rcsfujinm Dei Die Seele ist weder aus Gott noch aus irgend einer Materie, sondern aus Nichts geschaffen. Der zweite von jenen beiden L-rthümern wird begangen, weil man der Seele nur durch materielle Grundlage meint die Individuation retten zu können. Man bedenkt dabei

Erdmann, Gesch. d. Pliilos. I. 23

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nicht, dass der eigentliche Grand des individuellen Daseyns darin liegt, rjKod est hl qiiod est, und dass genau genommen auch in materiellen Dingen das hie und nunc dadurch gesetzt wird. Der Traducianismus , die Seelenwanderung, die Präexistenz werden be- stritten und gezeigt, dass Gott, unbeschadet seines Ruhens (vom .SchaiTen neuer f/enera) die einzelnen Seelen unmittelbar schaffe. Der formelle Grund der Schöpfung ist die Ebenbildlichkeit Gottes, ihr Zweck Erkeimtniss und Genuss Gottes, Nel)enzweck: Ersatz für die gefallenen Engel. Nachdem als die Verbindungsglieder zwi- schen Leib und Seele die sensaalitus und der rulor mUuralis von seiner, der spirltus plKintasiictis oder ru-ijiciis von ihrer Seite an- gegeben worden, wird die ganze Controverse mit den Averroisten (s. oben §. 200, 6) wiederholt, und festgehalten, dass die Seele toia in into corpore sey, was sehr wohl zu vereinigen sey mit dem Gebundenseyn ihrer Functionen an gewisse Organe.

5. Mit dem vierzehnten Tractat lenkt A/herl in das hamarto- logisclie Gebiet ein , indem er zuerst den Menschen vor dem Falle betrachtet, und hier eine Menge Fragen aufwirft darüber, wie es sich verhalten hätte, wenn der Mensch nicht gefallen wäre. Die weiteren Untersuchungen über das liherinn arhiirinm unterschei- den in demselben die beiden Momente der ratio und der rolnntas; die letztere, als cunsd sni oder auch als sibi ipsa causa, ayi et eo(ji iioi! poiesl. Alle bisher gegebenen Definitionen des liberum arbilrium sucht er mit seiner Ansicht zu vermitteln. Auch der fünfzehnte Tractat, der die natürlichen Kräfte der Seele behandelt, beschäftigt sich am Meisten mit dem freien Willen , dessen Unver- lierbarkeit auch im Stande der Sünde urgirt wird. Ergänzend tritt der sechszehnte Tractat hinzu , der die Gnade behandelt und unter dieser Ueberschrift nicht nur den Unterschied der zuvorkommenden und nachfolgenden, so wie der yraUs data und (/rat um faeiens, sondern auch den Begrifl' des Gewissens in seinen beiden Stufen syndcresis und coiiseieniia, so wie die Eintheilung der Tugenden in rirtiiles acijuisitae (vier Cardinal-) und infusae (drei theologi- sche Tugenden) enthält. Der siebzehnte Tractat behandelt die Erb- sünde. Das peccatam originale originans , wo die persona natii- ram corrumpii, wird von dem />efr, orig. origiiiatum , wo sichs umgekehrt verhält, unterschieden, dann casuistische Fragen z. B.: wie wenn Eva allein gesündigt hätte? aufgeworfen, endlich die li- bido {fames) als Strafe und Sünde zugleich bestimmt, und unter- sucht, wie sich der zulassende Wille Gottes dazu verhalte. Die Fortpflanzung der bösen Lust von dem, in dem alle Menschen leiblich existirten, auf seine Nachkommenschaft, das partielle Aus-

II. Glanzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Albert. §. 202. 355

löschen derselben in den Heiligen, das totale in der seligen Jung- frau, wird ausführlich durchgenommen. Der achtzehnte Tractat handelt vom pecculinn actiude, seiner Eintheilung, dem Unter- schiede des }>. mortale und renhiJe , den bekannten sieben Haupt- und ihren Tochter -Sünden, der neunzehnte von den Unterlassungs- sünden, der zwanzigste von den Versündigungen in Worten, der ein und zwanziste vom Misstrauen und der Parteilichkeit im Ur- theilen , der zwei und zwanzigste von den Wurzeln der Sünde. Hier wird dagegen polemisirt, dass nur die Absicht der Handlung Werth oder Unwerth gebe. Der drei und zwanzigste Tractat betrifft die Sünde gegen den heiligen Geist, die dauernde Bosheitssünde, der vier und zwanzigste Tractat endhch, mit dem das ganze Werk abbricht, untersucht die Macht, zu sündigen. So weit zur Sünde Macht gehört, kommt sie von Gott; so weit sie Sünde ist, nicht.

6. Die Summa de creaturis (Bd. 19 der Gesammtausgabe) ist in ihrem ersten Theile eine, wohl früher verfas>ste und meistens kürzere, Redaction dessen, was in den eilf ersten Tractaten des zweiten Theils der Smnma theologiae abgehandelt wurde, nur so, dass der Parallelismus mit dem Gange des Lombarden weniger hervortritt. In vier Tractaten wird von den vier coaequacr/s, die fidion Bedn als solche bezeichnet hatte, Materie, Zeit, Himmel, Engel gehandelt, die zwar nicht ewig aber unvergänglich sind, und von denen die Materie als iitc/iodlio /ormae bezeichnet wird, weil sie, mit Ausnahme der Menschenseele, die dem bereits or- ganisirten Leibe im Augenblick ihrer Schöpfung eingegossen wird, alle Formen in sich enthält, die durch die vier Principien Wärme, Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit aus ihr herausgezogen wer- den. Als wirkliche Abweichung von Aiberts spüterer Lehre kann angeführt werden, dass er hier die Engel mit den Stern -Intelli- genzen identificirt. Der zweite Theil der Summa creaturarum handelt vom Menschen, und in den sechs und achtzig Quaestionen, die des Menschen sIuIhs in se ipso betrachten , findet sich aus- führlich entwickelt, was die Summa tlieol. II, Tract. 12. 13, und was die Schrift de (tuimn von den Sinnen und dem Intellect prä- ciser entwickelt hat. Darauf folgt: de labitaculo hominis, wo vom Paradiese und der gegenwärtigen Ordnung der Welt gehan- delt wird, die durch die Verdammniss der Sünder nicht gestört werde.

§. 202.

Wenn es auch Albert nicht gelingt, in allen Punkten seine Theologie mit der Peripatetischen Lehre in einen solchen Einklang zu setzen, dass derselbe für jeden Leser zweifellos feststände, so

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356 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

würde man ihm doch Unrecht thmi, wenn man meinte, dass die übrig bleibenden Differenzen ihn in einen bewussten Widerspruch mit sich selbst oder gar zu unredlicher Anbequemung gebracht hätten. Er ist der ehrlichste Katholik und zugleich ein ehrhcher Aristoteliker. Wo die Differenz zu gross wird , sucht er sie durch Trennung der theologischen und philosophischen Aufgabe zu ent- fernen. So dort wo er sagt, dass die Philosophen die Welt be- trachten müssen als Ausfluss aus dem nothwendigen Scyn ver- mittelst der obersten Intelligenz, die Theologen dagegen, wie sie dadurch entsteht, dass Gott zuerst die Zweiheit von Himmel und Erde, d. h. Geistigem und Körperlichem, schaffe, so ferner in den vielen Stellen, wo er das fleofogizarc in metaphysischen Fra- gen tadelnd erwähnt, so endlich überall, wo er die Neigung zeigt, der Theologie durch ihre stete Beziehung auf die Sehgkeit einen vorwiegend praktischen Charakter beizulegen. Sein Ausspruch: Sciendum , f/vod Aiiffirslhio in li'is (jiiae snnf de fidc et moribus phis (/lunn P'iiUtsophh rredendinn est sl dhsentiiint. Sed si de mrdU'nm tot/neretiir plus ego erederem Galeno rel Hippocrati et si de niitiiris verum Infjuatur eredo Aristoteli plus . . (Sent. II, dist. 13. art. 2) ist für ihn ein sicherer Kanon gewesen. Freilich ist durch ihn nicht entschieden, ob die Lehre vom Staate zu den morihvs gehört, wo Avgvstin, und 'die Lehre von den Intelligen- zen und Geistern zur fides oder zur Lehre de milvris . wo .Ari- stoteles das entscheidende Wort spricht. Dass Alherl . obgleich immer von glühender Frönnnigkeit erfüllt, zuerst nur dem Stu- dium der Weltweisheit sich ergeben hatte, und erst später seine theologischen Studien begann, dies lässt den Strom seines Wis- sens , wie manchen Strom , wo sich ein Fluss in ihn ergoss , zwei- farbig erscheinen. Viel inniger wird die Verschmelzung dort seyn können, wo von Anfang an der Gesichtspunkt festgehalten wird, dass Alles, darum auch die Lehren der Philosophen, nur studirt werden müsse im theologischen Interesse und zu kirchlichen Zwe- cken. Sollte es dadurch auch geschehn, dass an manchen Punk- ten die Aristoteliker weniger in ihrem eignen Sinne interpretirt würden, so wird doch die Umdeutung ihrer Lehre dem, der sie vornimmt, die schwierige Lage der persona duplex ersparen. Dies der Grund, warum nicht nur die Kirche den heiligen Thomas ül)er den seligen Albert gesetzt hat, sondern warum auch bei philosophischen Schriftstellern er oft eines, nicht verdienten, Vor- zuges vor seinem Meister geniesst. Wenn Bovarevtirra zu dem, was Alexander ron Haies geleistet hatte, ein ergänzendes Mo- ment hinzufügt, so bedurfte es dessen bei Albert nicht; wohl

II. Glanzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Tliomas. §. 203. 1. 357

aber, dass die beiden Momeute, die er in sich verband, inniger sich dui'chdringen. .Dies aber ist durch Thomas wirklich geschehu.

§. 203. Thomas.

Dr. Karl Werner Der heilige Tliomas von Aquino. 3 Bde. Regeusb. 1858 ff.

1. Tliomas. der Sohn des Lando'f, Grafen con AtjuinOf Herrn von Loretto und Baleastro, ist 1227 auf dem Schlosse zu Roccasicca geboren und trat in seinem sechzehnten Jahre gegen den Willen seiner Eltern in den Domiiiicanerorden , der ihn dem Aiheri zuwies, um ihn in der Theologie auszubilden. Der Mei- ster, der früh sein Genie erkannte, hat mit rührender, nie vom Neide getrül)ter, Liebe an ihm gehangen. Mit ihm ging Thomas im Jahre 1245 nach Paris und trat nach seiner Rückkehr im J. 1248 als zweiter Lelu-er und magister studentium an der Cölner Schule auf. Dass neben seinem eigentlichen Berufe, der Ausle- gung der h. Schrift und der Sentenzen, philosophische Studien ihn beschäftigten, beweisen die damals geschriebenen Aufsätze de ente et essentia und de principio naturae. Vier Jahre später ward er zur Erlangung der theologischen Doctorwürde nach Paris gesandt und eröffnete dort als Baccalaurous unter ungeheurem Bei- fall seine Vorlesungen. Die Streitigkeiten seines Ordens mit der Universität verzögerten seine Promotion, die erst im J. 1257 er- folgte, nachdem er mehrere eng zusammenhängende theologische Abhandlungen verfasst hatte. In Anagni kämpfte er neben Albert für seinen Orden un-d seine Gegenschrift auf ]y'dhclm von St. Amoiir's Schrift: de pericuhs novissimi temporis, gilt bei Vielen nur für eine Reproduction dessen, was Aibcrt dort gesagt hatte. Uebcr denselben Gegenstand, die Vorwürfe gegen die Bettelordeu, hat er übrigens noch später geschrieben. Am 23. Octbr. 1257 empfing er, zugleich mit dem ihm innig befi'eundeten Bonacenturu (s. oben §. 197), die Würde eines Doctors der Pariser Universität, und wirkte nun zuerst ein Jahr lang als regius primarius des Or- dens, dann, neben den anderen Doctoren, auf dem Katheder. Seine quaestiones quodlibeticae et disputatae, einige Commentare zur h. Schrift, und das unvollendet gebliebene compendium theo- logiae, fallen in diese Zeit. Die Summa philosophica contra geii- tiles wurde wohl auch hier begonnen, ward aber vollendet erst nachdem Thomas auf Befehl des Papstes nach Italien gezogen war, wo er bald hier bald dort, theils lehrte theils für die Er- weckung des christlichen Lebens in seinem Orden und sonst wirkte. Für die Einführung des Erohnleichnamsfestes ist er u. A. sehr

358 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

tliätig gewesen. In diese Zeit fallen wohl auch die auf sein Be- treiben veranstalteten Uehersetzungen des Arlsloteles aus dem Griechischen, an die er seine Commentare angeschlossen hat. Meh- rere Jahre verweilte er in Bologna, wo die Catena aurea vollen- det und sein theologisches Hauptwerk , die Summa theologica, angefangen wurde. Hierher kehrt er auch, nach kurzem Aufent- halt in Paris, zurück, vertauscht aber dann seine Thätigkeit hier, mit der in Neapel. Zum Concil in Lyon berufen, ist er auf dem Wege dahin im Cistercienserkloster Fossa nuova nahe bei Terra- cina am 7. März 1274 gestorben. (Frühe ist die Sage entstanden, Carl von Aiijon habe ihn vergiften lassen.) Am 18. Juli 1323 ist er canonisirt. Schon seine Mitwelt hatte ihn mit dem Beina- men des Dorfor (iiiyeHcus geehrt, Nachdem einzelne seiner Werke schon früher gedruckt waren , wurde auf Befehl Pins des Fünften eine Gesammtausgabe veranstaltet, die in Rom 1570 in 17 Foliobänden erschien. Ein Abdruck derselben ist die Venetia- ner Ausgabe von 1592. Die Ausgabe des Marelles , Antwerpen 1612, enthält ausserdem in einem 18'™ Bande früher nicht ge- druckte, aber vielleicht auch einige unächte, Sachen. Die Pariser Ausgabe von 16G0 hat 23, die Venetianer von 1787 sogar 28 Bände in Quarto.

2. Bei den Vorarbeiten für das Verstilndniss des Aristoteles, die Tliomas durch Albert gemacht vorfand, können seine Com- mentare zu demselben nicht die epochemachende Bedeutung ha- ben, wie die seines Meisters. Ihr Hauptverdienst ist, dass er sich besserer Uehersetzungen bedient, die ihn in Stand setzen, manchen, dem Albert unvermeidlichen, Missverständnissen zu ent- gehn, und dass, weil er (wie Arerroes) immer den ganzen Ari- stotelischen Text in der Uebersetzung gibt und dann erst den Commentar folgen lässt, der Leser immer sehen kann, wie Tho- mus gelesen und was er hinzugefügt hat. Bei der dem Arieeinia nachgebildeten Weise Alberts ist das schwer , oft unmöglich. Da- zu kommt bei Thomas eine vortreffliche Darstellungsweise und ein viel reineres Latein, hi welchem Beiden er seinem Meister weit überlegen ist. In der Antwerpner Ausgabe findet sich im ersten Bande der ' (unvollendete) Commentar zur Perihermeneia, so wie zu den Analytiken, im zweiten der zur Physik, der (unvollen- dete) zu de coelo, so wie der zu de gen. et corr. Der dritte enthält die Commentare zu den Meteoris, zu de anima und (un- vollendet) zu parv. natural. Im vierten findet sich der Commen- tar zu den Metaphys., so wie zu dem Liber de causis. Seltsamer Weise ist die selbstständige Arbeit de ente et esseiitia, die in an-

II. Glanzperiode B. Christliche Aristoteliker. Thomas. §. 203, 2. 3. 359

deren Ausgaben als Ko. 30 unter den Opusculis steht, hier unter die Commentare gesetzt. Viel eher hätte dies mit Opuscul, 48, der totius Aristotelis logicae summa geschehen können, die ganz zum Inhalte des ersten Bandes passt, die übrigens von Vielen dem TLovuis ab- und dem Ihr raus Nutulis (s. unten §. 204) zu- gesprochen wird. Der fünfte Theil enthält die Expositionen zur Ethik und zur Politik. Wie in diesen Commentaren , so zeigt Tho- mas auch in den zu den Sentenzen des Lombarden, Nvelche den sechsten und siebenten Band füllen, so wie dem abgekürzten zweiten Commentar im siebzehnten Bande, mehr nur formelle Abweichungen von Aihcri , die aber lauter Verbesserungen sind, indem die Zurückführung der Untersuchung auf eine geringere Zahl von Hauptfragen die Uebersicht erleichtert. Da die exegetischen Schriften des Thomas zimi alten und neuen Testament (Bd. 13 16 und 18) nicht hierher gehören , so hat sich die Darstellung beson- ders an seine Summa philosophica oder contra gentiles im neun- ten Bande, seine Summa theologica (Band 10 12) und seine Opuscula (Bd. 17) zu halteir. Auch die quaestiones disputatae oder quodhbetales enthalten Einiges, was interessant für seinen philosophischen Standpunkt ist.

3. Die Kluft zwischen Theologie und Philosophie wird bei Thomas viel geringer als bei Albert, weil er viel mehr als dieser das theoretische Moment in der Theologie hervorhebt , und die Se- ligkeit selbst mit der Erkeuntniss der Wahrheit idcntificirt. Gott als die eigentliche Wahrheit, ist der Hauptgegenstand aller Er- keuntniss, darum der Theologie sowol als der Philosophie. Ob- gleich Vieles, was Gott betritft, nicht dui-ch die blosse Vernunft erkannt werden kann , indem Trinität , Incarnation u. A. über die Vernunft hinausgehen , so kann doch auch hinsichtlich dieser durch Vernunft der Vorwurf der Widervernünftigkeit widerlegt werden. Für Anderes gibt es sogar directe Vernunftbeweise. Positive und negative hinsichtlich der Existenz Gottes (quid est) ; negative hin- sichtlich seines W^eseus ((juhl est). Auch dieses Beweisbare ist übrigens , damit auch die Schwachen und Ungebildeten dessen ge- wiss werden können , geotfenbart. Bei den Beweisgründen für die Glaubenslehren muss ein Unterschied gemacht werden , je nachdem man zu einem Gläubigen oder Ungläubigen spricht. Berufungen auf Autoritäten und W^ahrscheinlichkeitsgründe, die bei dem Er- steren unverfänglich sind, würden bei dem Letzteren, jene nicht helfen, diese misstrauisch gegen die so vertheidigte Sache machen. Hier ist daher lediglich aus Vernunft und Philosophie nachzuwei- sen, dass die Lehren der lürche die Einwendungen beider nicht

360 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik),

ZU fürchteii haben. Das ist nun die Aufgabe, welche sich Tho- mas in dem Werke gestellt hat, dem alle vorstehenden Sätze ent- nomihen sind, und das, je nachdem sein Inhalt, oder seine Me- thode, oder endlich sein Publicum in Betracht kommt, die drei Namen de veritate catholica, summa philosophica und ad genti- les mit Recht führt. In dem Proömio zum ersten Buche gibt er selbst als den zu befolgenden Gang an, dass zuerst untersucht werden solle was Gott an ihm selbst zukomme, dann der Ausgang der Creatur aus ihm, endlich der Rückgang derselben zu Gott. Die drei ersten Bücher des Werks lösen die Aufgabe so, dass nur das zur Sprache kommt, was die menschliche Vernunft zu erforschen vermag. Gleichsam als ein Anhang dazu betrachtet das vierte die Lehrpunkte, die über die Vernunft hinausgehen,

4, Das erste Buch, 102 Capitel befassend, erklärt sich zu- erst gegen die, welche, wie Ani,ehn in seinem ontologischen Be- weise, das Daseyn Gottes für keines Beweises bedürftig, dann gegen die, welche es für keines solchen fähig erklären, und stellt dem entgegen, dass aus dem I actum der Bewegung (a posteriori oder per jmsieriora) auf ein erstes Unbewegtes geschlossen wer- den müsse, (Die Summa theolog. fügt zu diesem noch vier an- dere Beweise.) Wie zuerst die Bewegung, so werden via rcmo- tionis alle anderen Beschränkungen von diesem Ersten ausgeschlos- sen, und so ergibt sich dessen absolute Einfachheit, vermöge der nicht nur kein Gegensatz von "Materie und Form, sondern auch keiner der esseniia und existrnüa in Gott zu statuiren ist. Jede Determination von Aussen ist damit aus Gott ausgeschlossen. Nachdem dann bemerkt ist, dass kein Prädicat uns und Gott inüroce, alle nur analoyice beigelegt Averden dürfen, wird gezeigt, dass Gott weder Substanz noch Accidens, weder gcmis noch spc- cies noch indirldtnim. dass sein Wesen mit seinem Erkennen Eins, sein Selbsterkennen aber mit seinem Erkennen der Dinge ein Act sey; dass aus diesem Erkennen Nichts, darum auch nicht das Materielle, das Zufälhge, das Böse, ausgeschlossen sey. Da als gut erkennen dasselbe ist wie wollen, so muss Gott sein eignes Wesen wollen, zugleich aber auch Anderes als er selbst ist; der Unterschied zwischen beiden ist dass das erstere unbedingt, das zweite bedingt (ex siipposifione) nothwendig ist. Das an sich Unmögliche, das Widersprechende kann Gott nicht wollen. Und wieder ganz ohne Gründe kann Gott auch nicht wollen. Der letzte Grund seines Wollens ist Er selbst, der das Gute ist, darum will Gott um des Guten willen. Nicht um etwas Guten willen, das er erreichen will um zu gewinnen, sondern er will, um Gutes zu

II. Glanzperiode. B. Cbristliclie Aristoteliker. Tliomas. §. 203, 5. 361

spenden. Nach einer Untersiicliimg darüber, ob und in wiefern von Gott Freude , Liebe u. s. w. zu prädiciren , schliesst das Buch mit der Seligkeit oder absokiten Selbstbefriedigung Gottes.

5. Das zweite Buch (101 Capitel) beginnt mit den schein- baren Gegensätzen der Theologie und Philosophie hinsichtlich der endlichen Dinge. Die ganz verschiedenen Gesichtspunkte der Be- trachtung beider sollen die Schwierigkeit lösen: Indem die Philo- sophie stets fragt was die Dinge sind, die Theologie dagegen: woher sie kommen, führt jene zu der Erkenntniss Gottes hin, diese dagegen geht davon aus. Eben darum muss der Philosoph über Vieles hinweggehn, was dem Theologen sehr wichtig, und umgekehrt. Das ist eben so wenig ein Widerspruch wie zwischen dem, w'ie den Geometer und Av-ie der Physiker von Flächen und Linien spricht. Als Hauptpunkte des Buches werden die Hervur- bringung der Dinge, ihre Mannigfaltigkeit und Beschaffenheit an- gegeben, und dann zu der Macht Gottes übergegangen und aus dieser gefolgert, dass Gott die Dinge aus Nichts geschaffen habe, indem die materia printa ^ diese Möglichkeit aller Dinge, das erste Werk Gottes sey. Da die Schöpfung also keine blosse Bewegung oder Veränderung, so sey es abgeschmackt sie mit Gründen zu bestreiten , die vom Begriffe der Veränderung hergenommen seyen. Als Ergänzung zu dieser Polemik gegen den Duahsmus, der in Gott höchstens den Ordner oder Bildner der Dinge sieht, kann angesehen werden, was Thomas in der Schrift de substantiis se- paratis (Opusc. 15) gegen die Emanationslehre der Platoniker sagt, nach welcher die Dinge ihr Seyn von der natura , ihr Leben von der (inimu. ihr Erkennen von der inieUigcnüa haben. Dionysins Arcopagiia wird als Eepräsentant der wahren Schöpfungslehre den Ansichten entgegengestellt, welchen Albert in seiner Schrift de caus. ct. proc. univ. (s. oben §. 200 , 9) sich sehr nahe gestellt hatte. In der summa philosophica selbst fasst sich Thomas kür- zer: Mit Anknüpfung an die Sätze des ersten Buches, dass die Thätigkeit Gottes weder von aussen erzwungen, noch auch wieder blosses Belieben, wird sie oft mit der künstlerischen Thätigkeit verglichen. Nur Gott selbst setzt sich Schranken in jenem mcnsiira, nvmcrus et pondits , nach dem er Alles ordnet, und man darf nicht sagen, Gott könne nur was er wirklich tlmt, weil er nur dies thun muss. In dem, nicht durch unbedingte Nothwendigkeit Geschaffenen lässt sich, ist es einmal geschaffen, von Vielem die unbedingte Nothwendigkeit behaupten, z. B. dass was aus Entge- gengesetztem besteht sterben muss, dass völlig Immaterielles nicht sterben kann u. dgl. Die Gründe für die Ewigkeit der Welt wer-

362 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

deu widerlegt, der Einwand, dass der ewige Wille Gottes keine Wirkung in der Zeit haben könne , damit widerlegt , dass auch ein Arzt heute verordnen könne, dass morgen eine Arznei genommen werde. Eben so waren die Dinge vor ihrer zeitlichen Existenz in ewiger Weise, als Ideen, in dem göttlichen Denken; diese Ideen bilden in den wirklichen Dingen ihre Formen oder Quidditäten; endlich abstrahirt sie der Verstand als das den verschiedenen Din- gen Gemeinschaftliche und Allgemeine von ihnen, so dass also der Realismus , Conceptualisnuis und Xominalismus alle drei Eeclit haben. Die Uebereinstimmung der Dinge mit den ewigen Ideen ist ihre, die Uebereinstimmung unserer Gedanken mit den Dingen ist unserer Gedanken Wahrheit. Beim Uebergange zu dem zwei- ten Hauptpunkt, der Mannigfaltigkeit der Dinge (cap. 39 44) werden zuerst die Ansichten bekämpft, welche dieselbe wie De- molivit aus dem Zufall, wie Aiinxa(foras aus materiellen Unter- schieden, wie EmpedoUes , die Pythagoreer und Manichäer aus Gegensätzen, wie Aviceiuui aus, der Gottheit untergeordneten, Principien, wie einige neuere Häretiker aus der Thätigkeit eines die Materie theilendeu Engels, endlich wie Origencs aus voraus- gegangener Verschuldung ableiten, und wird dann zu der wahren Ursache des Unterschieds der Dinge übergegangen. Sie soll darin liegen, dass nur eine unendliche Mannigfaltigkeit das Abbild der göttlichen Vollkommenheit seyn und die unendlich vielen in der Materie liegenden Möglichkeiten verwirklichen kann. Mit dem 45. Capitel wird zu dem dritten Hauptpunkt übergegangen, zu der Beschaffenheit der mannigfaltigen Dinge. Es 'bedurfte da erstlich intellectueller, freier, immaterieller Wesen, die nicht nur Formen, sondern wirkliche Substanzen sind, von den übrigen Substanzen darin unterschieden , dass sie nicht aus Form und Materie bestehu, von Gott darin, dass in ihnen das esse und fßiod est, d. h. der actus und die potciitia, unterschieden sind. Die weitere Auseinan- dersetzung dieses wichtigen, Begriifs findet sich in der früheren Schrift de ente et essentia, womit die unvollendet gebliebene de substantiis separatis verglichen werden kann. Es wird da gezeigt, dass was in der zusammengesetzten Substanz , z. B. dem Menschen, die vudcriü ist , in der intellectuellen Substanz das sey , was dem esse oder (pio est bald als das (juod est, bald als essentia, bald als natura, bald als rjuiditas entgegengestellt wird, welches die Creatur, während sie ihr esse von Gott hat, aus sich selbst oder auch aus dem Nichts ha1)e. In ersterer Beziehung kann es darum das Nicht -empfangene und in sofern Absolute, in zweiter gerade das Nichtige genannt werden, so dass die Intelligenzen nach oben

II. Glanzi^eriode. B. Christliche Aristotelilier. Thomas. §. 203, 5. 363

als eudlicli, nach unten als unendlich bezeichnet werden können. Im 54. Capitel der Summa wird anstatt esscntia auch wohl siib- stautia gesagt; im Uebrigen wird, ganz wie in den eben genann- ten Abhandlungen , aus der Abwesenheit der Materie die Unver- gänglichkeit der Intelligenzen gefolgert. Eben so ist auch ihr Erkennen nicht durch Abbilder der sinnlichen Dinge bedingt, viel- mehr erkennen sie sich selbst und die Dinge ohne dazu von Aus- sen proYocirt zu seyn. Den obersten Intelligenzen, den Engeln, weist Tlionuis als erstes Geschäft an, die Himmelskörper zu be- wegen. Sehr spitzfindig sucht er dann nachzuweisen , wie es mög- lich, dass eine Art intellectueller Substanzen als beseelende Form eines Leibes mit demselben verbunden sey; er zeigt ferner, dass die nährende, empfindende und denkende Seele als Eine zu den- ken, und geht dann zu der Widerlegung der Averroistischen Lehre von der Einheit des Menschenverstandes über. Der eigne Tractat de unitate intellectus contra Averroistas (Opusc. 16) dient als weitere Ausführung dessen, was die Summa im Cap. 59 fi". ent- hält. An beiden Orten sucht Thomas den Aveirocs durch Ari- stoteles zu widerlegen, nach dessen richtig verstandener Lehre der üüelleetns possihilis . d. h. die Fähigkeit zimi thätigen Ergrei- fen der Formen, ein Theil der Seele, also individuell bestimmt und dennoch unsterblich sey. Ausser Averroes werden in der Summa auch die Ansichten derer bestritten, die, mit Galen, die Seele als eine Complexiou oder, mit den Pythagoreern , für eine Harmonie erklären oder sie, mit Demohrit. für körperlich halten, so wie die, welche den intellecius jjossibilis mit der Imaghiaiio identificiren. Dann wird gezeigt, wie es denkbar sey, dass eine wirkliche Substanz doch Form eines Körpers und dabei über das Gebundenseyn an ihn hinaus seyn könne, so dass erst durch ilu- Hinzutreten der Körper zu einer vollständigen Substanz ergänzt wird, und sie doch nicht maicriae immersa rel a mutcria lotali- tcr comprehciisu ist. Wenn Aristoteles de^ Himmel durch eine Intelhgenz beseelt seyn lässt, so mag das vielleicht ein Irrthura seyn, gewiss aber beweist es, dass er keinen W^iderspruch darin sah, dass eine Substanz Form eines Körpers sey. Katürhch ist durch Verbindung mit dem Körper auch das Erkennen der so ge- bundenen Intelligenz körperlich bedingt, es fängt von sinnhchen Wahrnehmungen an, bedarf der Phantasmen u. s. w., was Alles bei den höheren Intelligenzen nicht so ist. Die ausführlichste Dar- stellung , wie die verschiedenen Stufen der Sinnlichkeit , ferner der leidende Verstand, welcher die Formen der sinnlichen Dinge em- pfängt, endlich der thätige Verstand, der sie verwandelt und in

364 Mittelalterliche Pliilosophie. Zweite Periode (Scholastik).

ihrer Reinheit festhält, zum Erkennen nöthig sind, findet sich in der Abhandhmg de potentiis animae (Opusc. 43), deren Aecht- heit freilich bestritten worden ist. Wie von dem inteUcctus pos- sibilis , so wird auch von dem thätigen Verstände in der Summa behauptet, er sey ein Tlieil der, im ganzen Körper verbreiteten, Seele und ein persönhch Bestimmtes. Sonst wäre ja der Mensch weder für seine Gedanken, die Producte des Intcllectus speculuti- viLs . noch für seine Thaten, die Producte des iidcllertvs pracü- ciis, verantwortlich. Auch wäre Manches bei Arhtoleles völlig unverständlich. Die Unsterblichkeit der menschlichen Seele folgt daraus, wie die Sterblichkeit der thierischen. Freilich, Erinnerung im eigentlichen Sinne kann der Seele nach dem Tode kaum- zuge- sprochen werden. Die Präexistenz der Seele, ihre Emanation aus der göttlichen Substanz, endlich ihr Erzeugtwerden durch die El- tern wird Alles verworfen; sie wird geschaffen und an die bereits organisirte Materie herangebracht. Nur mit einem menschlichen Leibe kann sich eine Intelligenz als (substanzielle) Form verbin- den, darum gibt es keine Dämonen mit ätherischen Leibern, wohl aber körperlose Litelligenzen. Da diesen alle Materialität abgeht, so können sie nicht zu einer Art oder Gattung gehörige Indivi- duen seyn, sondern jede bildet ihre Art für sich. Dies führt auf das Principium müiv'uhiuiwiüs, das T//onias theils in den bisher angeführten Abhandlungen , theils in einem eignen Aufsatz (Opusc. 29) betrachtet hat. Mit Ausnahme des absolut einfachen Wesens gehören zu jedem cns zwei Momente, das esse oder fjuo est, und die csseniia oder das quod est. Jenes ist aetns , dieses poientia (pussirn). In den materiellen Wesen sind sie forma et materhi, die sich zum ens oder zur substaHtla als specifische Differenz und Xjenus verbinden. Die muteriu prima gibt verbunden mit den er- sten Formen die besonderen Materien, z. B. die Elemente, die selbst wieder Träger von Formen, für die sie empfänglich, werden können. Picicht nun die für eine Forin empfängliche Materie nur aus, um ein einzig Mal diese Form anzunehmen, so gibt es nur ein Individuum dieser Art, wie z. B. die Sonne dies zeigt. An- ders verhält sichs aber, wenn sich die Form mit einem oder dem anderen Theil der für sie empfänglichen Materie verbindet, da entsteht eine Vielheit einartiger Individuen, so dass also diese Theilbarkeit {^ßiaiiHiasJ der Grund, und das zeitlich und räumlich Bestimmtseyn der Theile der Materie (materia signata per Mc et niüiv) das Princip der Individuität ist. Für den Sol>raies ist es also f aee earo laee ossa , die in ihm den Menschen zu diesem Menschen macht, womit durchaus nicht gesagt seyn soll, dass,

II. Glanzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Tliomas. §. 20.3, 6. 365

wenn die Verbindung mit dem Körper aufhört, auch die Indivi- duität aufhört. Weil bei diesen numerisch verschiedenen Indivi- duen nicht nur das esse ein empfangenes ist, wie bei den Intel- ligenzen , sondern auch ihre (julfHUis ein a mnferta siynata re- cepium , deswegen kann von ihnen nicht, wie oben von den Engeln, gesagt werden , sie seyen nur nach oben , sie sind nach oben und unten endlich.

6. Das dritte Bucli zeigt in 103 Capiteln, wie Gott das Ziel ist aller Dinge, und l^ehaiulelt die Regierung der Welt, d. h. des Complexes der endlichen Dinge. Alles Handeln geht auf ein Gut, daher kann das Böse als solches nicht gewollt werden, wie denn das Böse als Privation weder volle Wirklichkeit, noch einen posi- tiven Grund, geschweige denn ein absolutes Princip zum Urheber hat. Der letzte Zweck, dem Alles nachstrebt, ist der Grund aller Dinge, Gott, und indem Alles darnach strebt. Ihm ähnlich zu wer- den, erzeugt dieses Streben eine Reihe von Stufen, in der die folgende immer das Ziel der früheren, der Mensch das Ziel aller, der Erzeugung unterworfenen, Dinge ist, nach dem die Materie strebt. In den höheren Wesen wird dies Streben nach Gottähn- lichkeit zum Durst nach Erkenntniss, seiner selbst und Gottes. Im Erkennen besteht die höchste Seligkeit, zwar nicht in dem un- mittelbaren aller Menschen, auch nicht in dem demonstrativen, nicht in dem auf Autorität gegründeten Glauben, auch nicht in dem speculativen Wissen , sondern in dem , das über sie alle hin- ausgeht und vollständig erst jenseits erlangt wird. Hienieden wird man nur durch göttliche Erleuchtung und theilweise dieses Erschauens Gottes theilliaft, das das ewige Leben ist. Die Betrachtung der Erhaltung bildet den Uel)ergang zu der der Re- gierung. Die göttliche Wirksamkeit soll die Selbstthätigkeit der Dinge nicht ausschliessen , viebnehr hat Gottes Güte den Dingen diese Aehnlichkeit mit ihm selbst mitgetheilt, dass sie Causalität zeigen. Darum ist Naturlauf, Zufall und freier Wille mit der Re- gierung Gottes vereinbar, indem er Mittelursachen , namenthch die frei wirkenden Geschöpfe, Engel u. s. w., eben so die Einflüsse der Himmelskörper dazu gebraucht. Das sich Kreuzen der Mit- telursachen erzeugt den Zufall , den es nur für die erste Ursache nicht gibt. Innerhalb der allgemeinen Weltordnung müssen unter- geordnete Systeme von Ursachen und Wirkungen gedacht werden, innerhalb der z. B. Etwas nur unter der Bedingung eines gläubi- gen Gebets eintritt, sonst nicht, ohne dass die Weltordnung im Ganzen dadurch alterirt wird. Dass Gott nie gegen seinen eignen Rathschluss handeln kann, versteht sich; auch gegen die Natur

366 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

nicht, darum sind Wunder nur solche Erscheinungen, welche die Xatur allein nicht bewerkstelligen kann. Die Weltregierung be- zielit sich auf die vernünftigen und unvernünftigen AVesen ver- schieden, jenen gibt sie, diese zwingt sie unter ihre Gesetze, jene behandelt sie als Zweck, diese als Mittel. Den wesentlichen In- halt des Gesetzes bildet die Liebe zu Gott und den Nebenmen- schen; da dies die Bestimmung des Menschen ist, so fällt natür- liches und götthches Gesetz zusammen, und es ist falsch was recht und unrecht ist nur auf göttliche Satzung, nicht auf Natur zu gründen. Eigenthum und Ehe sind nach natürlichen und gött- lichen Gesetzen erlaubt, Armuth aber und Ehelosigkeit dürfen darum nicht jenen nachgesetzt, geschweige denn geschmäht wer- den. Wie Verdienst und Verschuldung, so hat auch Lohn und Strafe verschiedene Grade; die letztere, theils als Ausgleichung, theils als Schreckmittel von Gott verhängt, darf von der Obrig- keit als Gottes Dienerin vollzogen werden. Wer gegen die To- desstrafe spricht, weil sie die Besserung ausschliesse , vergisst, dass wen das angekündigte Todcsurtheil nicht bessert sich schwer- lich bessern wird, und dass hier gewisse Gefahr für das Ganze und die sehr fragliche Besserung des Einzelnen sich gegenüber- stehn. Die Kraft zur Erfüllung des Gesetzes gibt die Gnade, die nicht zwingt, aber auch nicht verdient ^verden kann. Sie macht vor Gott angenehm und wirkt hi uns Glauben und Hoffnung der SeUgkeit. Von ihr hängt auch die Gabe des Verharrens ab, so wie die Befreiung von der Sünde , die auch bei dem aus der Gnade Gefallenen möglich ist. Obgleich nur durch die Gnade der Mensch bekehrt werden kann, ist es doch sehie Schuld, wo er es nicht wird, wie dessen, der das Auge schliesst, wenn er nicht sieht, was ohne Licht nicht gesehen werden kann. Nur in einzelnen Fällen öffnet die zuvorkommende Gnade auch diesen das Auge, und das sind die zur Seligkeit Prädestinirten oder Auserwählten. 7. Das vierte Buch (97 Capitel) wiederholt den Gang der drei ersten , indem zuerst (C. 2 26) was über das Wesen Gottes, dann (C. 27— 78) was über die Werke Gottes, endhch (C. 79— 97) was über das höchste Ziel des Menschen und Uebervernünftiges offenbart ist, gegen die Einwürfe der Gegner vertheidigt wird. Demgemäss werden hinsichtlich der Trinität die Irrthümer dersel- ben zuerst exegetisch widerlegt, dann aber im Cap. 11 gezeigt, dass die im ersten Buche durch blosse Vernunft gefundenen Prä- dicate Gottes dazu führen, dass, wenn Gott sich selbst denkt, das Product dieses Denkens das ewige Wort, das Ebenbild Got- tes und Urbild aller Dinge seyn muss, in dem sie alle als ewig

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präexistiren (tjitod faciiim est in eo rila erat), und durch wel- ches sie den Denkenden otfenbar werden. Eben so wird die Lehre vom h. Geist zuerst exegetisch durchgenommen, dann aber ge- zeigt, dass, sobald Gott als wollend gefasst wird, man vernünf- tiger Weise zugeben muss , dass er als Liebe zu sich selbst, dann aber auch als h. Geist existiren muss, der in uns eljen so die Liebe wirkt wie der Sohn das Erkennen. Auch auf die Spur der Dreieinigkeit in den Dingen und ihr Bild in den Menschen wird hingewiesen. Unter den Werken Gottes, deren Kenntniss uns die blosse Vernunft nicht geben kann, nimmt die Incarnation die erste Stelle ein. Da diese die Folgen des Sündenfalls aufhebt, so steht dem Thoimis dies fest, dass sie durch die Sünde bedingt ist, also ohne die Sünde nicht Statt gefunden hätte. Wenn er sie dabei aber auch das Ziel der Schöpfung nennt , in dem (juadam drcv- lalione perfcctio reriim ronciifdltnr, so erscheint damit offenbar die Sünde als Bedingung des höchsten Ziels , als felb: culpa. Die Irrthümer derer, welche mit Pl.otinns in Christo die göttliche Na- tur leugnen, oder ihm den inenschhchen Leib absprechen, wie Valentin US und die Manichäer, oder eine menschliche Seele des- selben leugnen, wie Arins und Apollinaris , oder sich über die Vereinigung beider Naturen so ketzerisch aussprechen wie Xesto- rins . Eutijchcs und Maharins. werden mit exegetischen Waffen bekämpft, dann die Vernunftgründe gegen die katholische Lehre aufgezählt (Cap. 40) und widerlegt (Cap. 41 49). Ausserdem wird aber auch direct nachgewiesen, warum die wesentlichen Punkte in dem Leben Jesu , seine Geburt durch die Jungfrau u. s. w. wenn auch nicht unbedingt nothwendig, so doch der Sache angemessen seyeu. Auf diese conre/iientia wird, nachdem ähidiche Erörterun- gen wie die bisherigen über die Erbsünde angestellt sind , zurück- gegangen und entscliieden : dass das Dogma von der Incarnation nef/iie impossibi/ia najiie inconyrna enthalte. Die Lehre von den Gnadenmitteln , zu welchen mit dem Cap, 56 übergegangen wird, bildet den Uebergang von den Werken Gottes zu der Erhebung und Rückkehr der Geschöpfe zu Gott, indem sie zeigt was Gott zu dieser Erhebung thut. Der Unterschied der Alt- und Neute- stamenthchen Sacramente, die nothwendige Siebenzahl der letzte- ren, Taufe und Confinnation w^erden sehr kurz, Eucharisten und na- mentlich Brotverwandelung, nach ihr die Beichte, am Ausführlichsten durchgenommen und mit der Ehe, wobei auf früher Gesagtes zu- rückgewiesen wird, geschlossen. Die dritte Abtheilung beginnt mit Einwendungen gegen die Auferstehung und ihrer Widerlegung. Da die Seele Form des Leibes und doch unsterblich, so ist sie

368 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

in ilirer Trennung vom Leibe in einem, ihrer Xatur widerspre- chenden, Zustande, so dass die wieder eintretende Beleibung ganz vernunftgemäss ist. Der neue Leib wird geistig genannt weil er ganz dem Geiste unterworfen seyn wird, er ist aber nicht wesent- lich von dem gegenwärtigen unterschieden. Daher kann es sehr gut auch lei1)liche Strafen nach dem Tode geben. Gleich nach dem Tode empfängt der Mensch seinen persönlichen Lohn, beim Weltgericht wird ilim zu Thöil was ihm als Glied des Ganzen zu- kommt. Die ITnvcränderliclikeit des Wollens nach dem Tode er- klärt es, dass, obgleich Gott jedem Reuigen vergibt, doch Viele verdammt bleiben. Da der Mensch das Ziel der Scliöpfung, so muss am Ende der Tage Alles, was dazu gedient hat den ver- gänglichen Menschen zur Unvergänglichkeit erst zu führen, als unnütz aufliören, wozu T/'onms u. A. die Bewegung des Himmels rechnet.

8. Bei dem ausgesprochenen Zweck der Summa theologica, Anfängern in der Theologie eine vereinfachte Dar-stellung dessen zu gellen, was der Theologe; wissen muss, hat dieselbe natürlich in philosophischer Hinsicht lange nicht die Wichtigkeit der Summa ad gentiles. Dennoch ist man auf sie als auf eine Ergänzung der letzteren hingewiesen, da sie in den beiden Abtheilungen ih- res zweiten Theils das von der philosophischen Summa ganz über- gangene Praktische behandelt. In der prima svnimhic wird von den Tugenden und ihrem Gegentheil im Allgemeinen, in der se- nuHla secinifhic von ihnen im Einzelnen gehandelt, theils an sich, theils wie sie sich in besonderen Verhältnissen gestalten. Der Gang ist, dass zuerst die drei theologischen, dann die vier moralischen Cardinaltugenden abgehandelt und an diese alle anderen Tugenden als Töchter angeschlossen werden. Gleich zuerst ist hervorzuheben die Unterordnung des Praktischen unter das Theoretische, indem nicht nur in der Seligkeit die risio der dclrctatlo vorgesetzt wird (H, 1. Qu. 4), sondern in seiner Theorie des Willens T/.onins im- mer dies festhält, dass nur wo wir etwas als gut zuerst erkennen, wir es wollen, dann aber auch nicht anders können als es wollen. (Ibid. Q. 17.) El)en darum ist die Vernunft die Gesetzgeberin für den Willen, sie ist es, die im Gewissen spricht, das nicht ohne Grund nach dem Wissen genannt ist. Es hat. die dreifache Function des Anrechnens, des Vorschreibens, des Verklagens und Entschul- digens. (Ibid. Qu. 19 u. 79.) Zu dem von der Vernunft gegebenen Gesetz liefert der begehrende Theil der Seele das Material für das Handeln in den Passionen, von denen Liebe und Hass, Freude und Trauer, Hoffnung und Furcht besonders ausführlich durchgenom-

II. Glcanzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Thomas. §. 203, 8. 369

men werden, so dass zugleich Rücksicht darauf genommen wird, in wie weit sie in der pars covcitpiscihilis oder irascibilis , die- sen beiden Seiten der Sinnlichkeit, ihren Sitz haben. Nachdem dann weiter der Begriff des hahUus erörtert ist, und also alle Da- ten zu der Aristotelischen Definition der Tugend gegeben sind, wird dennoch statt ihrer eine Augustinische angenommen und ge- rechtfertigt. (Ibid. Qu. 55.) Die Platonisch - Aristotelischen ririn- tes inteUcctnalcs el moraics werden als die ncfpdsitne oder auch als die menschlichen, die drei theologischen als infnsae oder auch als göttliche bezeichnet, und unter den letzteren der charitas, un- ter den ersteren der sapienUa und jnstllia die erste Stelle ange- wiesen. (Ibid. Qu. 62. 65. 68.) Die c/.arifas gibt allen anderen Tugenden ihre eigentliche Weihe. Sie alle werden unterstützt von den Gaben des heiligen Geistes, deren es wie der Haupttugenden und Laster sieben gibt. Ausführliche Erörterungen über die Sünde und deren Vererbung bahnen den Uebergang zum Gesetz, dem zum allgemeinen Besten von dem , der für das Allgemeine zu sorgen hat , verkündigten Vernunftgebot. (Ibid. Qu. 90.) Das ewige Gesetz der Weltregierung wird in dem Bewusstseyn der intelligen- ten Creatur zur le.v natnraJis, der Grundlage aller menschlichen oder positiven Gesetze, deren Bestimmung nur ist, was das natür- liche Gesetz unbestimmt liess, zum allgemeinen Wohle zu ergän- zen. Zu diesen Formen des Gesetzes kommt noch hinzu das im V. und N. T. geoffenbarte Gesetz Gottes. Wo positive Gesetze mit dem Worte Gottes, oder wo sie mit der lex iiaturae streiten, da binden sie das Gewissen nicht. In der secumla secnndae wird bei der Besprechung der Gerechtigkeit und ihrer Bethätigung im Recht, das Verhältniss des positiven und natürhchen Rechts noch genauer erörtert. Zuerst wird das natürliche Recht mit dem jus gentium gleich gesetzt , obgleich es eigentlich eine weitere Bedeutung habe, indem es auch auf Thiere auszudehnen sey. Dann wird darauf hingewiesen, dass es gewisse Verhältnisse gebe, die nicht bloss Rechtsverhältnisse; so das elterliche und herrschaftliche Verhält- niss , obgleich die in diesen Verhältnissen Stehenden von einer an- deren Seite doch auch Rechtssubjecte seyen. (II, 2. Qu. 57 u. 58.) Jedem das Seine zu gel)en wird als Princip jedes Rechts bestimmt. Die Untersuchungen über die übrigen Tugenden, über die ver- schiedenen Momente der Gnade', über das Verhältniss beider, w'ei- chen nur darin von Alexander und Albert ab, dass Thomas das liberum arbiiriiim sehr beschränkt, indem es nur die Fähigkeit seyn soll durch Hervorrufen von Vorstellungen unser Wollen zu determiniren. Aber auch hier wird urgirt, dass der erste Anstoss

Krdmana , Gesch. d. Phil. 1. 9 <

370 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastikj.

dazu von Gott komme, und dass auch unsere Vorbereitung zum Empfang der Gnade lediglich Werk der Gnade sey. Thomas ist viel weniger Indeterminist als Albert.

9, Wie das eifrige Studium des grössten aller Weltweisen den Alherl dahin gebracht hatte, ein Interesse au der Welt zu haben, so auch den Thomas, nur ist es bei ihm nicht wie bei jenem die sinnliche, sondern die sittliche Welt, der Staat, der ihn interes- sirt. Wie Albert die Politik des Aristoteles . so hat Thomas die Naturgeschichte desselben uncommentirt gelassen, und überhaupt in der Physik nur wiederholt was Albert gelehrt hatte. Dagegen hat er ausser seinem Coninientar zur Politik des Artstoteies Man- ches geschrieben, was seine Ansichten vom Staat betrift't. Es ist theils aus seiner theologischen Summa zu entnehmen, theils aus eigenen Schriften über diesen Gegenstand. Von diesen fällt nun freilich die Eruditio principum (Bd. 17 ed. Antv.), eine ziemlich un- wissenschaftliche Prinzeil -Pädagogik, weg, da sie schwerlich von Thomas ist. Auch die vier Bücher de regimine principum (Opusc. 20) gehören ihm, da im 3"'" Buch Adolph von Nassau's Tod erwähnt wird, nicht ganz an. Seüie Anhänger vindiciren ihm nur die bei- den ersten Bücher, und schreiben die beiden anderen dem Domi- nicaner Tiioloiiiäas von Lucca zu. Die wesentlichsten Gedanken, die mit dem gut zusammenpassen, was sonst bei ihm vorkommt, sind etwa folgende: Wie die Glieder des Leibes eine Einheit bil- den nur durch Unterwerfung unter ein Ilauptorgan, die Vermögen der Seele eine Einheit nur durch Subjection unter die Vernunft, endlich die Theile der Welt eine Einheit nur durch Subordination unter Gott, gerade so wird auch die Einheit des Staates, wozu prädestinirt den Menschen seine Hülflosigkeit, sein Geselligkeits- trieb und seine Sprachfähigkeit erweitit , nur möglich durch Unter- werfung unter ein regierendes Haupt. Die Einheit wird am in- nigsten, wo das vereinigende Haupt uur Eines, und die gesunde Monarchie, das Königthum, ist die beste der Verfassungen, ob- gleich ihre Ausartung , die Tyrannis , die sich vom Königthum darin unterscheidet, dass der Monarch nicht das allgemeine, sondern sein eigenes Wohl sucht, die schlechteste ist. Uebrigens ist, wie die Erfahrung lehrt , die Gefahr der Tyrannis in Aristokratien und De- mokratien viel grösser als beim Königthum, und die Wahrschein- lichkeit , dass eine gewaltsame Veränderung eine Verbesserung brin- gen werde, immer so gering, dass sogar unter einem Tyrannen ein Volk besser thut, die Hülfe von Gott zu erwarten, welche, je tugendhafter ein Volk ist, um so sichrer und schneller eintreten wii'd. Da der Zweck des Staates ist, dass die Bürger darin ih-

n. Glanzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Thomisteu. §. 204, 1 'i- 371

rem höchsten Ziele, der Seligkeit, näher kommen, die directe Sorge aber dafür Christo und seinem Stellvertreter auf Erden über- geben ist , unter welchen in dieser Hinsicht auch die Könige stehn, so hat der König für Einrichtung und Erhaltung alles dessen zu sorgen, ^Yas die Erreichung jenes Zwecks erleichtert. Es kann dies unter die Formel zusammengefasst werden: er soll für die Erhaltung des Friedens sorgen. Dennoch bleibt sein Beruf ein hoher, ja ein gottähnlicher, indem er zu dem Volke so steht, wie die Vernunft zu den Seelenkräften, ja wie Gott zur Welt. Die unvergleichlich grösseren Lasten, die auf dem Könige ruhen, ge- ben ihm ein Recht auf grössere Ehre und grössere Nachsicht von Seiten der Menschen, auf grösseren Lohn von Seiten Gottes. Wie Gott die Welt zuerst einrichtet, dann ihre Einrichtungen erhält, so hat jeder König das Letztere, wer den Staat erst gründet, auch das Erstere zu thun. Das ganze zweite Buch handelt von den, jedem Staate nothwendigen Einrichtungen von der Kücksicht auf die Landesbeschaöenheit an, durch die speciellsten Anweisungen über Befestigungs -, Communications- und Verkehrsmittel hindurch bis zur Sorge für den Gottesdienst, mit dem es schliesst,

§- 204.

1. Entschiede über den Werth einer Schule nur die Zahl ih- rer Anhänger und ihr langer Bestand, so könnte keine sich mes- sen mit der der Albertisten, wie sie ursprünglich, oder Thomi- sten, wie sie später genannt wurden. Bis auf den heutigen Tag gibt es Solche, die in Ti:omas die Incarnation der philosophiren- den Vernunft sehn. Die ersten Schüler und Anhänger fand diese Lehre natürlich bei den Ordensgenossen ihrer Urheber; der Tho- mismus ward zur ofticiellen Philosophie des Dominicanerordens er- klärt, der es darum dem Bischof Templer von Paris sehr übel nahm, als dieser die Stellung zu dieser Lehre jedem freistellte. Folgt man hier der Zeitfolge, und beschränkt sich auf die Zeit, in welcher die Philosophie noch nicht über den Thomas hinaus- gegangen war, so ist hier, obgleich bedingt, zuerst

2. Viaccnüus Bellovacensis zu nennen (vgl. F. Cl/r. Sc/ilosscr Vincenz von Beauvais u. s. w. Frkf. 1819. 2 Bde). Bedingt, weil diesen Polyhistor die Philosophie nur insofern interessirt, als sie überhaupt ein Wissen ist, und weil sein Werk gerade dort ab- bricht, wo die Darstellung der wahren Theologie beginnen sollte. Dominicaner im Kloster Beauvais , nach dem er gewöhnlich genannt wird, hat er nach seinem Liber gratiae, nach seinen Schriften zum Lobe der h. Jungfrau und des Evangelisten Johannes, nach einer Schrift ferner de trinitate, endlich nach dem von Sc/ifosser a. a. O.

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372 Mittelalterliche Philosopliie. Zweite Periode (Scholastik).

Übersetzten Hand - und Lehrbuch für königliche Prinzen, auf Geheiss Ludwig des Neunten aus den vielen, ihm zu Gebote stehenden Büchern sein speculum magnum zusammengestellt, so genannt im Gegensatz zu seinem kleinen Spiegel, in welchem er die Schönheit und Ordnung der sinnlichen Welt gepriesen hatte. Dieses Werk, eine Encyclopädie alles dessen was man in jener Zeit wusste und zu wissen meinte, und welches, wenn man es z.B. mit den Wer- ken des Johaimes Snrlsheriensis , des gelehrtesten Mannes im 12*''" Jahrhundert, vergleicht, den Fortschritt zeigt, der in einem Jahr- hundert gemacht war, zerfällt in drei Theile und müsste, da der vierte, das speculum morale, ein Zusatz aus späterer Zeit ist, nicht wie gewöhnlich speculum quadruplex, sondern triplex ge- nannt werden. In dem Venetianer Druck von Henna/m Lieclden- stein 1494, ist jedem speculum einer der vier Foliobände gewid- met. Die Ausgabe Duaci 1624 auch in vier Foliobänden liest sich besser. Der Geschichtsspiegel (spec. historiale), im J. 1244 (nicht 1254 wie Schlosser , der ihn gut excerpirt, fälschlich gelesen hat) verfasst, zeigt, welches die damaligen Ansichten über Geschichte waren. Der Naturspiegel (spec. naturale) , im J. 1250 beendigt und der ausführlichste Theil , stellt Alles zusammen , was damals für Naturwissenschaft galt, und citirt ausser einer sehr grossen Menge anderer Namen auch den des Albert sehr oft. Viel seltner kommt der Name des Thomds vor. Sonst möchte unter den von rinccnz angeführten Namen kaum einer fehlen, der sich in der Geschichte der Wissenschaften bei den Alten, so wie bei Muhamedanern , Ju- den und Christen bis auf Vincenz ausgezeichnet hatte. Der Lehrspiegel (spec. doctrinale), an dem V'nivem bis kurz vor sei- nem Tode gearbeitet hat, er starb wohl 1264 und der nicht vollendet ist , schliesst an den Naturspiegel , welcher mit dem Sün- denelend geschlossen hatte, so an, dass Nichts diesem Elende mehr abhelfe als die Wissenschaft, und gibt dann an, wie sich dieselbe gliedert. Auf das trimum, welches die scienliae sermocinales be- fasst, lässt er zuerst die praktische Philosophie als Monastkui, Oeconomicd, PolUica folgen, in welcher letzteren er auch das ganze kanonische sowol als bürgerliche Recht abhandelt. Dann folgt die Betrachtung der (sieben) mechanischen Künste, und erst zu- letzt die theoretischen Wissenschaften, die Physik mit Rückwei- sung auf den Naturspiegel, die Mathematik, wobei das ganze fjua- drlvliim abgehandelt wird, endlich die Theologie, wo aber nur die falsche betrachtet wird, indem, wo auf die wahre übergegan- gen werden soll, das Werk schliesst.

3. In directerem Zusammenhange mit der Alberto - Thomisti-

n. Glauzpciiode. B. Christliche Aristoteliker. Thomisten. §. 204, 3- 373

sehen Philosophie steht der im J. 1277 als Papst Johann 21. ge- storbene Petrus JJispamis. Mehr als seine selbstständigen Werke, welche meistens medicinische waren (Canon medicinae, De proble- matibus , Thesaurus pauperum) , hat ihn eine Uebersetzung berühmt gemacht. Seine summidae logicae (ein alter Druck Leipz. 1510 Melchior Latter führt den Titel Textus Septem tractatuum Petri Hispani) sind nämlich nicht nur , wie der Herausgeber von des PseUns Sjiiopsis, Ehinyrr in der Vorrede dazu andeutet , in ihrem Inhalte der Synopsis sehr verwandt, sondern eine wörtliche Ueber- setzung derselben. Nicht einmal die erste , denn einige Jahrzehende vorher war schon durch W. Shyrcsicood die Synopsis des PscUns in ein lateinisches Schulbuch verwandelt , das noch gegenwärtig als MSC. existirt. Dass die Summulae Einiges enthalten, was sich in der Ehingerschen Ausgabe des PseUus nicht findet, dies bedeutet kaum Etwas, da Pranil (Th. 2. p. 278 u. a. a. 0.) gewiss Recht hat, wenn er meint, dass diese Stücke auch dem Pselfus angehören, nur in Ehingers Exemplar gefehlt haben. Wichtiger ist die Diffe- renz, dass die Summulae logicae die bekannten vnces mcmorutles: Barbara, Cehireni. u. s. w. enthalten. Auch wenn der, der sie zuerst brauchte, die griechischen Worte /^«i^ji/aTa, tyqaipeVi. s. w. vor sich hatte, war eine Bezeichnung, in der auch die Con- sonanten etwas bedeuten, ein Verdienst. Dass aber Thomas in seinem Opusc. 48 diese Worte als ganz bekannt anwendet, macht es fast glaublich, dass auch hierin Petrus Hispamis nicht Er- finder, sondern l}loss wenn auch für uns der erste Ueber- lieferer gewesen ist. Wie dem sey, seine Uebersetzung blieb, für sein Werk angesehn, lanze Zeit Schulbuch; nicht nur bei den Dominicanern. Auf dieses Schulbuch stützte sich der Unterricht namentlich der Lngiea mofJerna , die jetzt, ganz wie durch die Wiedergewinnung der Aristotehschen Analytiken und Topiken die Logica noiut , zu der Logica rcti/s, wie sie bis zu Gilbert gelehrt worden war, hinzutrat. Aegldius von Lessines, Bernardus de Tri- Ua und Bernardus de Ganvaco sind Thomistische Dominicaner von geringerer Bedeutung. Sollte Ileinrieh Goethals , zu Muda bei Gent geboren {Henriens Bcineollins , gewöhnlich a Gandavo oder Gandavensis , manchmal auch Mvdanvs genannt), der doctor so- lenn Is, der eine Zeit lang an der Sorbonne gelehrt hat und als Archidiakonus in Tournai 1293 gestorben ist, wirklich ein Domi- nicaner gewesen seyn, so ist er der Einzige in diesem Orden ge- wesen, der wirklich philosophirt und doch dem Albert und Tho- mas gegenüber eine freie Stellung behauptet hat. Ausser seinen Commentaren zu des Aristoteles Metaphysik und Physik hat er

374 MitteleiUerliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

auch Mancherlei geschrieben, "w:as gedruckt worden ist. So einen Nachtrag zu den literarhistorischen Nachrichten des Ilieroin/tnus, Genua dins und Slegebert, der öfter, zuletzt in der Bibliotheca ecclesiastica ed. Fabricius Hamburg 1718 als Liber de viris s. de scriptoribus ecclesiastisis abgedruckt ist. Für die Beurtheilung seines wissenschaftlichen Standpunkts ist am Wichtigsten die Summa quaestionum ordinariarum (Paris 1.520 bei Jodocus Badius Ascen- sius), in der in den zwanzig ersten Artikeln von der Wissenschaft überhaupt und der Theologie insbesondere, dann von Gott und seinen wesentlichsten Eigenschaften bis zum 75. Artikel, mit dem das Werk schliesst, gehandelt wird. Bemerkenswerth ist, dass er das /iherinn (trb'ürintn in Gott mehr betont als Tl^omas. Direkte Polemik gegen denselben findet sich nicht. Der Gang aber und auch der Inhalt weicht von dem gewöhnlichen der theologischen Summen al). Auch Quodlil)etica theologica in LL. Sententt. hat Heinruh geschrieben und sind dieselben bei demselben Heraus- geber wie die Summa, in Paris 1518 herausgekommen. Dieselben enthalten einen Bericht über die gehaltenen allgemeinen Disputa- tionen, zum Theil gleich nach denselljen, zum Theil etwas später niedergeschrieben. Im Ganzen wird über fünfzehn Disputationen berichtet, in welchen zusammen über 399 Fragen entschieden wird. Einige sind wörtlich dieselben, die in der Summa beantwortet wur- den. Andere ganz casuistische sind offenbar durch vorgekommene Fälle veranlasst. Die Wahlfreiheit wird hier in vielen Orten noch mehr betont als in der Summa. Die materui prim<t soll schon einen Grad von Wirklichkeit haben, so dass es kein Widerspruch sey, dass eine Materie ohne alle Form existirt. In der Lehre von den Univer- salien zeigt sich CQuodl. 5. Qu. 8) mehr Neigung zum Nominalismus als bei Tliomns. Obgleich das Recht der Päpste, Fürsten abzusetzen, behauptet, wird doch bedauert, dass die Kirche ihre eigne Ge- richtsbarkeit habe (Quodl. 6. Qu. 22). Einer der treusten An- hänger der Thomistischen Lehre ist Herraens von Nedellec (Na- tnlLs), der, ein Bretagner von Geburt, als vierzehnter General des Dominicanerordens im J. 1325 starb, und der zu seiner Zeit so viel bei den Thomisten galt, wie ein Jahrhundert später Jo. Ca- pj-eolus, der princcps Tliomistarum. Gedruckt ist von Hei'rey erschienen: Herr ei Natalis Britonis quatuor quodlil)eta Venetiis impressa per Raynaldum de Novimagio Theutouicum 1486.

4. Es blieb aber das grosse Ansehn des Tf/omas nicht auf seinen Orden beschränkt. Einer seiner Zuhörer Aeghliiis von Co- lonna {de Colunnia, Romanus, doctor jvnd(tt'issimvs) . General des Augustiner- (Eremiten-) Ordens, der als Bischof von Bourges

II. GlanzperioJe. B. Christliche Aristoteliker Thomisteu. §. 204, 4. ^. 375

1216 starb, bürgerte die Lehre seines Lehrers bei den Augustinern ein. Dal)ei war er ein sehr fruchtbarer Schriftsteller. Seine Schrift de regimine principum ist für einen französischen Königssohn, de renunciatione Papae zur Vertheidigung Boiiifar'nis des Achten ge- schrieben. Eine lange Reihe andrer Schriften findet sich bei Trithcm. Script, eccl. Einiges ist auch gedruckt. So u. A. de ente et essentia, de mensura angeli, de cognitione angeli Venet. 1503. Andere geistliche und gelehrte Körperschaften zeigten sich gleich- falls dem Thomismus bald geneigt. Durch fhimhert. Abt von Prulli, geAvinnt er Eingang bei den Cisterziensern , durch Sige?- von Brabant und Godojvoii von Fontaines wird ihm die Sorbonne eröifnet. Einer späteren Periode gehören seine Triumphe im Je- suiterorden so wie bei den unbeschuhten Carmelitern Spaniens an, von denen jene riesenhaften Arl)eiten in Salamanca und Alcala aus- gingen, der Cursus theologicus collegii Salmanticensis, der in 19 Foliobändeu des T/jomns theologische Summa commentirt, und die Disputationes collegii Complutensis , die in 4 Foliobänden die ganze Thomistische Lehre entwickeln. Der 3'^ Band der im §. 203 citir- ten Schrift von K. Werner enthält eine genaue, mit reicher Lite- ratur begleitete Darstellung der Schicksale des Thomismus.

5. Der Franciscanerorden war der einzige, der sich, wie auch sonst, so darin den Dominicanern entgegenstellte, dass er sich ge- gen die Lehren ihrer beiden grossen Aristoteliker verschluss. Jede Abweichung von ihrem Alexander und Bonriventnra ward gerügt und als gefährlich verdächtigt. In diesem Sinne polemisirt z. B. Williehn de Ja Marre in seinem Correctorium fratris Thomae ge- gen dessen Irrlehren, muss sich aber freilich antworten lassen, er habe ein Corruptorium geschrieben. Die grösste wissenschaftliche Bedeutung hat unter den Franciscanern dieser Zeit jedenfalls /?/- rf/ard von Middletown {filcard/fs de media ralle), Minoritanae familiae jubar, wie ihn der Herausgeber einiger seiner Werke ge- nannt hat. Sowol sein Commentar zu dem Lombarden (Snper qua- tuor libros Sententiarum Brixiae 1591) als auch seine Quodlibeta ribid.), zeigen einen mehr als gewöhnlichen Scharfsinn. Fast in allen Punkten, in welchen später Diins (s. unten §. 214) den Tho- inisten entgegentritt, erscheint Ricliard von Middletown als sein Vorgänger. So darin, dass er den praktischen Charakter der Theo- logie mehr hervorhebt (Prolog-. Qu. 4), so darin , dass er das Prin- cip der Individuität nicht in die Materie setzt, sondern in etwas Hinzukommendes (II, dist. 3, art. Y), obgleich er dies freilich nur als ein Negatives fassen will, als Ausschliessen der Theilbarkeit, so ferner in dem Accent, den er auf das unbeschränkte Belieben

376 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

in dem Wollen, Gottes sowol als der Menschen, legt, in Folge dessen sehr Vieles, weil es nur vom "Willen Gottes abhängt, sich der philosophischen Begründung entzieht {Fidel sucramentum a pltilosopl/icis urcjumeiiüs liberum est sagt er u. A. III, dist. 22. Art. V. Qu. 2). Auch dies, dass die späteren Bestimmungen der Kirche fast mehr berücksichtigt werden, als die biblischen Aussprüche, erscheint als eine Annäherung zu dem, was sich etwas später bei Duns zeigt. Die Sündlosigkeit der Jungfrau ist hier noch nicht als conceptio immaculuta gefasst , sondern als sanctifteutio ante- quam de utero nuta esset. Diese Heiligung im Mutterleibe soll eingetreten seyn gleich nach der iiifvsio animae (III, dist. 3. Art. I. Qu. 2). Man sieht es ist nur noch ein kleiner Schritt bis zu dem, was Duns behauptet. Richni'd scheint bis ans Ende des 13'*'° Jahr- hunderts gelebt zu haben.

§. 205. Das Versprechen des Erigeva (s. oben §. 184, 2), das, als es gegeben ward, als gotteslästerliche Vermessenheit galt, hat dem Albert und Thomas, als sie es hielten, die höchsten kirchlichen Ehren eingetragen. Wie er es verheissen hatte, so haben sie ge- zeigt, dass jeder Einwand, der gegen die Kirchenlehre gemacht wird, durch Vernunft und Philosophie wiederlegt werden kann, ja sie haben, mit kaum einer Ausnahme, die Wahrheit der kirch- lichen Lehre positiv aus den Principien der Weltweisheit bewiesen. Die Scholastik hat damit ihre Aufgabe gelöst und ihren Culmina- tionspunkt erreicht. Ueberall pflegt, wo eine Schule diesen erreicht, ihr siegreiches Fahnenschwenken darin zu bestehn, dass sie die Massen einladet, solchen Triumph zu theilen, dass sie darauf aus- geht, in weiteren Kreisen als bisher zu gelten. Wo damit nicht der Charakter der Schule aufgegeben werden soll, werden Metho- den erfunden, die es leichter als bisher machen sollen, ein Philo- soph vom Fach, ein schulmässig Gebildeter zu werden. Wo da- gegen das Beschränktseyn auf eine Schule , und wäre dieselbe noch so zahlreich, als ein Mangel angesehn wird, da tritt das Popula- risiren für die weiteren Kreise ein. Werden die Schüler in Mas- sen angezogen, wo das Philosophiren mechanisirt, mehr oder min- der in ein Rechnen verwandelt wird, so wird dagegen das unge- schulte Publicum herangezogen dadurch, dass man zu ihm in seiner Sprache redet. Was heut zu Tage mehr metaphorisch ein Uebersetzen genannt wird, indem es nur im Weglassen der Schul- terminologie besteht, war damals, wo die Wissenschaft wirklich eine andere Sprache redete, ein Verkündigen ihres Inhalts in der Nationalsprache. Es ist ein seltsamer Zufall, dass Liebeskummer

IL Glanzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Lull. §. 206, 1. 377

den beiden Männern, die diesen Platz in der Scholastik einnah- men, die erste Veranlassung ward, ihn einzunehmen. Der Eine, Don Ramon Lull ^ sucht zwar in beiden eben angegebenen Wei- sen, was die Scholastik ergrübelt hat, weiter auszubreiten, doch aber tritt die zweite Seite so sehr gegen die erste zurück, dass an seine in provenzalischem Gedichte und in provenzalischer Prosa verkündigten Lehren heut zu Tage wenig gedacht wird, und nur seine grosse Kunst ihn auf die Nachwelt gebracht hat, die für jene Zeit ganz dasselbe war, was für spätere Zeiten eine überall anwendbare Kategorientafel oder ein bestimmter Rhythmus gewisser stets wiederkehrender Momente geworden ist : ein Mittel, mit Leich- tigkeit ein schulmässig gebildeter Philosoph zu werden. Anders der Zweite. Nicht für die Schule, für die Welt, sowol die, die mit ihm als die nach ihm lebte, hat der gesungen, der Grösseres geleistet hat als Lucreüus (s. oben §. 96, 5), weil die scholasti- schen Distinctionen ein noch unpoetischerer Stoff sind, als die Atomenlehre der Epikureer, und weil sein unübertroffenes Gedicht noch heute in seinem Vaterlande bis in die Hütte hinab Begei- sterung, ausserhalb dessen mehr als dies, eine auf Verständniss gegründete Bewunderung hervorruft, Dante Allig hier L

§. 206. L u 1 1 u s.

Helfferich Raymuud Lull und die Anfänge der Catalouischen Literatur. Berlin 1858.

1. Tiamon Lull , im J. 1235 aus vornehmer catalonischer Fa- milie auf der Insel Majorca geboren, früh in Hofdienste getreten, in denen er es bis zum (jran scncscal am ritterlichen Hofe des Königs Jacob von Majorca brachte, Ehemann und Vater, dabei aber mit anderweitigen Liebesabenteuern beschäftigt, ward durch den entsetzlichen Ausgang, den eines derselben nahm, so erschüt- tert, dass er auf einmal allen seinen öffentlichen und häuslichen Verhältnissen entsagte und, durch Visionen darin bestärkt, sich entschloss ein Streiter Christi zu werden, indem er alle, die das Waflfenhandwerk trieben, zum Krieg gegen die Ungläubigen auf- forderte, selbst aber den schweren Kampf auf sich nahm, mit den Waflfen des Geistes sie zu besiegen, indem er ihnen die Unver- nünftigkeit ihrer Irrthümer, die Vernünftigkeit der christlichen Wahrheit bewies. Den beiden. Hindernissen, Unkenntniss der ara- bischen Sprache und Mangel an Schulbildung suchte er zu begeg- nen. Ein Muselmann ward sein Lehrer in jener, und mit der Leidenschaft, die ihn überhaupt charakterisirt, warf er sich auf das Studium des trirü, der Logik. Der Enthusiasmus, mit dem

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er die analytischen Studien trieb, verl)unden mit der Ungeduld, die ersehnte Missionsthätigkeit zu beginnen, Hess den Gedanken in ihm entstehn, der sich sogleich als Vision gestaltete, dass der Besitz gewisser allgemeiner Principien und einer sicheren Methode, aus dein Allgemeinen das Besondere abzuleiten, den Wust des zu erlernenden Stoffes unnütz machen könne. Kaum im Besitz dieser seiner Wissenschaftslehre, begibt er sich an sein Werk. Eine Disputation in Tunis mit den gelehrtesten Saracenen wird, gerade durch den siegreichen Erfolg, gefährlich, und Misshar.d- lungen nöthigen ihn, nach Neapel zu flüchten. Von da geht er nach Rom, um den Papst Bovifacws den Achten theils für seine eigne Missionsthätigkeit, theils für die Förderung des Studiums des Arabischen zu stimmen; ähnliche Versuche bei dem Könige von Cypern, so wie bei vielen zu einem Concil vereinigten Cardi- nälen l)leiben gleich fruchtlos. Abermals disputirt er an einem saraceiiischen Ort, Bugia, mit den Gelehrten desselben und abermals ist siegreicher Erfolg und Einkerkerung sein Loos. Nach Europa zurückgekehrt , ermahnt er auf dem Concil zu Vienne zur Bekäm- pfung der Saracenischen Lehre in der Fremde , der AveiToistischen im eignen Lande, und geht dann, ein Greis, zum dritten Male zu den Saracenen, wo der von je ersehnte Tod des Märtyrs ihm im J. 1315 wirkhch zu Theil wird. Während dieses unsteten Lebens hat er an allen Orten theils lateinisch, theils arabisch, theils ca- talonisch (d. h. provenzalisch) geschrieben. Vor Allem, was sich auf seine grosse Kunst bezieht, aber auch Theologisches und Er- bauliches. Vieles ist schon während seines Lebens verloren. An- deres nie gedruckt. Er soll über tausend Schriften verfasst haben. Von mehr als vierhunderten sind die Titel erhalten. Im Jahre 1721 erschien der erste Theil einer Gesamratausgabe in Folio von dem Priester und Doctor aller vier Facultäten , I>:o Sahivgcr, veranstaltet, in Mainz. Derselbe enthält ausser einer Biographie und sehr ausführlichen Einleitungen die Ars compendiosa inve- niendi veritatem (d. h. die Ai-s magna und major) auf 49 Seiten, die Ars universahs (welche die Lectura zu jener ist), 124 S., die Principia Theologiae 60 S. , Philosophiae 66 S. , Juris 34 S. , Medi- cinae 47 S. An diesen ersten Band schliesst sich der im J. 1722 erschienene zweite so an, dass er die Anwendung der im ersten Bande entwickelten Principien, nur nicht in der schulmässigen Zeichenschrift, auf die katholische Kirchenlehre gibt, indem er in dem Liber de gentili et tribus Sapientibus 94 S., einen Juden, Christen und Saracenen ihren Glauben mit Vernunftgiünden recht- fertigen, in dem Liber de sancto spiritu 10 S., einen Griechen und

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Lateiner vor einem Saracenen ihre Dilferenzpiinkte erörtern, end- lich in dem Liber de qiiinque Sapientil)us 51 S. in ähnlicher Scenerie die Lateinische, Griechische, Nestorianischc und Monophysitische Lehre philosophisch begründen lässt. Es folgen hierauf die vier Bü- cher Mirandae demonstrationes 244 S., und der Liber de quatuorde- cim articulis SSae. Rom. Cath. fidei 190 S. In dem gleichfalls 1722 erschienenen dritten Bande sind, wie im ersten, wieder nur eso- terische Schriften enthalten, zuerst die Introductoria artis de- monstrativae 38 S. , offenbar spcäter geschrieben als die darauffol- gende Ars demonstrativa 112 S. An diese letztere schliesst sich die Lectura super figaras artis demonstrativae 51 S., an. Dieser folgt Liber Chaos 44 S. , auf dieses Compendium s. commentum artis demonstrativae 160 S. , dann Ars inveniendi particularia in universalibus 50 S. , endlich Liber propositionum secundum artem demonstrativam 02 S. Nach diesem dritten Bande trat in der Herausgabe eine Pause ein, veranlasst durch Sttlzlvgers Tod. End- lich im J. 1729 erschien, von einer dazu ernannten Zahl von Mcän- nern herausgegeben,, der vierte Band, der auf seinem Titelblatt ein ähnliches Verhältniss zum dritten Bande ankündigt, wie der zweite zum ersten gehabt hatte. Es sind darin enthalten: Liber exponens tiguram elementarem artis demonstrativae 10 S., Regulae introductoriae in practicam artis demonstrativae 6 S., Quaestiones per artem demonstrativam seu inventivam solubiles 210 S. , Dispu- tatio Eremitac et Eaymundi sup. lib. Sentt. 122 S. , Liber super Psalmum Quicumque s. liber Tartari et Christiani 30 S. , Disputa- tio fidelis et infidelis 33 S. , Disputatio Raymundi Christiani et Ha- mar Saraceni 47 S. , Disputatio fidei et intellectus 26 S., Liber apostrophe 51 S., Supphcatio Professoribus Parisiensibus 8 S, , Li- ber de convenientia fidei et intellectus in objecto 5 S., Liber de demonstratione per aequiparantiam 6 S., Liber facilis scientiae 11 S., Liber de novo modo demonstrandi s. ars praedicativa magnitudi- nis 166 S. Der fünfte Band, gleichfalls 1729 erschienen: Ars iuventiva veritatis s. ars intellectiva veri 210 S. , Tabula generalis 80 S. , Brevis practica tabulae generalis 43 S. , Lectura compendiosa talnilae generalis 15 S., Lectura supra artem inventivam et tabu- lam generalem 388 S. Vielleicht war es der im J. 1730 in Bam- berg veröffentlichte Angriff eines Jesuiten auf die Rechtgläubigkeit des Lull IIS, der die Herausgabe des sechsten Bandes so verzö- gerte. Wenigstens als er 1737 erschien, hielten es die Heraus- geber noch für nöthig, dagegen auf andere Jesuiten als Autoritäten sich zu berufen. Der Band enthält: in lateinischer Uebersetzung die Ars amativa S. 151, die Arbor philosophiae amoris 66 S. , die

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flores amoris et intelligentiae 14 S., die Arbor philosophiae clesi- deratae 41 S. , Liber proverbiorum 130 S. , Liber de anima ratio- nal! 60 S. , de homine 62 S. , de prima et secimda intentione 24 S., de Deo et Jesu Christo 38 S. Im J. 1740 erschien der neunte Band, im J. 1742 der zehnte; l)eide enthalten nur den Liber magnus contemplationum in Deum, in 366 Capiteln zu je 30 §§. Da, so weit bekannt, keine einzige Bibliothek den 7*''" und 8*"" Band 1)esitzt, so scheint Savigiij/s Vermuthung, dass dieselben nie herausgekommen, richtig zu seyn. Nur 45 Werke finden sich in den gedruckten acht Bänden, während Sahiiiger in sei- nem ersten Bande von 282 die Anfangs- und Schlussworte angibt, und dazu noch die kommen, die er nicht vor Augen hatte.

2. LuU ist nicht damit zufrieden, dass alle Zweifel gegen die Kirchenlehre widerlegt werden können , er schreibt der Philosophie die Kraft zu, sie in allen ihren Stücken positiv durch zwingende Vernunftgründe zu beweisen. Davon nimmt er weder die Trinität noch die Menschwerdung aus, wie Thomas, denn nach seinen Mi- rand. demonstr. heisst dies ihm den menschlichen Verstand herab- setzen. Der thörichte Grundsatz, sagt er, dass es das Verdienst des Glaubens steigere, wenn Unbeweisbares angenommen werde, der schrecke gerade die Besten und Vernünftigsten unter Heiden und Saracenen vom Christenthume ab (de quinque Sapient. 8); wolle man sie bekehren, so lerne man, ihnen nicht nur beweisen, dass sie Unrecht, sondern dass wir Christen Recht haben. Dies Verfahren ehrt zugleich Gott am Meisten, der doch nicht neidi- scher und schlechter seyn wird als die Natur , die Nichts verbirgt. Könnte der Verstand Gott nicht erkennen, so wäre dessen Ab- sicht verfehlt, da er den Menschen schuf um erkannt zu werden. Eben darum haben die frömmsten Theologen, Avgvstln, Aiisclm u. A. die Zweifel der Ungläubigen nicht mit Autoritäten, sondern mit Gründen widerlegt, und einer der vielen Beweise, dass die katholische Kirche mehr die Wahrheit besitzt als Juden und Sa- racenen, ist, dass sie nicht nur mehr Einsiedler und Mönche hat als jene, sondern auch viel Mehrere als sie, die sich mit Philo- sophie beschäftigen. Rationes necessnriae sind die besten Verthei- digungswaifen ; Wunder wird auch der Antichrist thun, aber die Wahrheit seiner Lehren Avird er nicht beweisen (Mirand. demonstr.). Freilich kann nicht Jeder die Wahrheit beweisen, auch sind die Beweise dafür nicht so leicht, dass jeder Ungebildete oder auch der, dem Frau, Kinder und weltliche Beschäftigungen alle Zeit nehmen, sie finden könnte. Die mögen bei dem Glauben stehen bleiben; Gott, der von Allen geehrt seyn will, hat auch für sie

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gesorgt. Sie sollen aber denen, die für Beweise zugänglich sind, keine Schranken ziehn und ihnen nicht verbieten zu zweifeln, denn der Mensch „(jumn prumnn incipit dubitare incipif pldlosophurr' (Tabula gener. p. 15). Aber auch diese Letzteren sollen nicht meinen, dass die Beweise für diese Wahrheiten so leicht zu fassen seyen, wie die für geoiuetrische oder phj^sikalische Sätze. In die- sen Sphären beschränkt man sich meistens darauf abwärts von der Ursache auf die Wirkung, oder aufwärts von der Wirkung auf die Ursache zu schliessen; eine dritte Weise, seitwärts per aefjiiipa- raiiüam, zu schliessen kennt man da gar nicht, und gerade diese spielt in der höheren Wissenschaft die wichtigste Rolle. So wird z. B. die Vereinbarkeit der Vorherbestimmung und des freien Wil- lens dadurch bewiesen, dass die erstere als Wirkung der göttli- chen Weisheit, die letztere der göttlichen Gerechtigkeit dargestellt, und nun von diesen beiden göttlichen Dignitäten bewiesen wird, dass sie sich gegenseitig fordern (de quinque Sap. Mirand. de- monstr. Introductoria u. a. a. 0.).

3. Den hier angegebnen Grundsätzen gemäss hat Lall in einer grossen Menge von Schriften die ganze Kirchenlehre als den For- derungen der Vernunft entsprechend dargestellt. Hierher gehört sein Liber de quatuordecim articuhs u. s. w. , d. h. über das apo- stolische Symbolum, hierher seine ursprünglich provenzalisch ge- schriebene Apostrophe, hierher sein Gespräch mit einem Eremiten über 140 streitige Punkte der Sentenzen des Lombarden, so wie das des Eremiten Blamjueiiia über das Quicuiif/ue^ hierher end- lich seine Disputatio Fidelis et Infidelis, die ziemlich alle Glau- benspunkte betrifft. Zwei Grundgedanken, hinsichtlich der er sich gern auf Ansei m beruft, kehren bei seinem Räsonnement oft wie- der: dass Gott erkannt seyn will, und dass über Gott nichts Grös- seres gedacht werden kann. Jener sichert ihm die Möglichkeit einer Theologie als Wissenschaft, dieser ist ihm ein steter Finger- zeig bei der Bestimmung ihres Inhalts. Jedes Prädicat das mit der minoritas convertibel, ist eo Ipso Gott ab-, jedes wieder das mit der mujoritas stellt und fällt, ist Gott zuzusprechen. Die er- wähnten Schriften LuUs behandeln nur theologische Fragen. In den Quaestt. art. dem. solubiles sind mit denselben auch physika- lische und psychologische verbunden. Als eins seiner bedeutend- sten Werke haben seine Anhänger sein ausführlichstes angesehn, den Liber magnus contemplationis , dessen fünf Bücher in 10980 §§. zerfallen, jeder mit einer Anrede an Gott beginnend, und in dem die ganze Lehre Lulls enthalten ist. Nicht darin besteht, wie- derholt er hier, das Verdienst des Glaubens, dass er Unbewiese-

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nes sondern dass er das Uebersinuliche festhält. Hierin mit dem Wissen übereinstimmend, stellt er demselben darin nach, dass er auch Falsches, das Wissen dagegen nur Wahrheit enthalten kann. Wie bei ihm das Wollen, so ist bei dem Wissen der Verstand das eigentüche Organ. Als auf das Leichtere sind die von schwerfäl- ligerem Verstände auf den Glauben hingewiesen.

4. Dies allein , dass die wenigen von Tliauuis unbeweisbar ge- nannten Dogmen bei Lidl als bewiesene auftreten, wiu-de um so we- niger erklären, wie nicht nur eine an Zahl den Thomisten fast gleiche Schule der Lullisten eutstehn , sondern lange nachdem die- selbe verschollen war, immer wieder Stimmen sich erheben konnten, die ihn einen der scharfsinnigsten Philosophen nannten, als nicht zu leugnen ist, dass seine Beweise oft Cirkelschliisse, immer aber sehr geschmacklos in der Form sind. Vielmehr ist, was seinen Ruhm begründet hat, dasselbe was ihm den Ehrennamen des docior iUnminatns verschafft hat, und worein er selbst sein grösstes Ver- dienst gesetzt hat, seine „grosse Kunst". Die Ausbreitung dieser geht ihm sogar über seine Missiousthätigkeit , denn als eine Vision ihm verheisst, für die letztere werde der Eintritt in den Dominica- nerorden am vortheilhaftesten seyn, tritt er doch, weil er davon grössere Vortheile für seine grosse Kunst erwartet , bei den Fran- ciscanern ein. Da zu verschiedenen Zeiten sich diese Kunst bei Liill selbst verschieden gestaltet hat, so muss die Darstellung versuchen, von ihrer einfachsten Form ausgehend zu zeigen, wie sie sich immer mehr erweitert. Die, offenbar in späteren Jahren geschriebene Introductoria, welche der früher geschriebenen Ars demonstrativa vorausgeschickt ist (Opp. Bd. 3), führt am Besten in das Verständniss ein, weil hier das Verhältniss dieser Ars zur Logik und Metaphysik erörtert wird. Da die erstere die res be- trachtet, wie sie In (in'nna, die letztere wie sie exivd animnm sind, die neue Kunst aber das eiis betrachten soll, ganz abgesehn von diesem Unterschiede , so wird sie also die gemeinschaftliche Grund- lage für beide seyn. Während darum jene beiden Wissenschaften jede ihre Principien zu ihrem Ausgangspunkte machen, die für sie gegeben sind, soll diese Grundwissenschaft vielmehr die Principien jener beiden so wie aller Wissenschaften erst auffinden. Daher wird sie sich zu dem Erfinden gerade so verhalten, wie die Logik sich zu dem ableitenden Denken verhält. Weil in dieser Grund- und Wissenschaftslehre die Principien alles Beweisens enthalten sind, deswegen ist es möglich, jeden richtigen Beweis, der in ir- gend einer Wissenschaft gegeben ist, auf ihre Formeln zurückzu- führen. Wie in der Grammatik der Schüler, wenn er sich die

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Flexionssilben der Conjugation eingeprägt hat, jedes Zeitwort cou- jugireu kann, so handelt es sich auch in der Grundwissenschaft darum, dass gewisse iermini, die eigentlichen Principien alles Den- kens und Seyns, welche figürlich manchmal ßores genannt werden, festgestellt und das Operiren damit geläufig werde. Zu dem Letz- teren ist nun Nichts so förderlich, als wenn diese Grundbegriffe mit Buchstaben bezeichnet werden, ein Vorschlag den Sahiiiger mit Recht damit vergleicht und rechtfertigt, dass der Gebrauch der Buchstaben als allgemeiner Zahlzeichen seit Vteln die Mathe- matik so gefördert habe. Die Bedeutung dieser Buchstaben sich einzuprägen ist daher das Erste.

5. Da das Princip alles Seyns und der Hauptgegenstand alles Denkens und Wissens Gott ist, so wird dieser mit dem Buchsta- ben A bezeichnet. Es wird nun weiter zugesehn, welches die At- tribute Gottes (ijoleulidc , diyiiitates) sind, durch welche er sich als Princip aller Dinge bethätigt , und werden diesen wieder ihre Buchstaben zugewiesen. Da, wie sich im Verfolg zeigen wird, die sechs letzten Buchstaben des Alphabets anderweitig in Beschlag genommen sind, so bleiben zur Bezeichnung der Grundprädicate Gottes, auf die alle anderen zurückgeführt werden können, die sechszehn Buchstaben ß t\ übrig ; ihr attributives Verhältuiss zu Gott wird nun scheinatisch so dargestellt, dass um einen Kreis, der mit A bezeichnet ist, ein in sechszehn gleiche Theile zerlegter Ring gelegt ist, dessen einzelne Fächer folgende sind: B boiütas, C muyniiiido, D aelenütas , E poteslas , F sapienüa, G coliin- tas . Il'rirlus. I reriias, K glorin , L perjectio, M JHstilia , N l arg 'das , O simplic'äus , P nobäitas (statt welcher beiden früher IniinUiUis und paüeiithi gesetzt war), Q miserlcordia , li domi- nium. Dieses Schema, seine Figurti A oder Figur a Dei enthält also die ganze Gotteslehre, indem sich durch die Verbindung des Centralkreises A mit je einem der umgebenden Fächer sechszehu Sätze ergeben. Dabei aber bleibt es nicht. Da nämlich alle diese Prädicate in Gott so Eines sind, dass jedes sich dem anderen mit- theilt, was Lall durch die Derivationssilbeu jicare andeutet, indem honitas boiiijicdt mdgnitudiuem , aelerniUis aelerui/icat boniiatem u. s. w., so ergeben sich Combinationen. Indem er nun, ganz mecha- nisch, zuerst die sechszehn Combinationen BB, BC, BD u. s. w. in einer perpendicularen Reihe untereinander stellt, dann eben so daneben stellt CC, CD, CE u. s. w. , erhält er natürlich sechs- zehn immer kürzer werdende Colonnen, welche ein Dreieck bilden, das er die secunda Figura A nennt. Die hundert und sechs und dreissig Begriffsverbindungen (condiüones) werden, weil die em-

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zelnen Colonuen und in ihnen die einzelnen Combinationen durch Linien getrennt sind, so dass Quadrate entstehn, gewöhnlich ca- merae genannt. Später gibt er ein kürzeres Mittel an, um zu diesen Combinationen zu kommen. Man braucht nicht diese Co- lonnen hinzuschreiben, sondern zwei concentrische Ringe in sechs- zehn Theile zu zerlegen, diese mit den Buchstaben A bis ß zu bezeichnen, und den einen beweglich zu machen, so wird man, wenn man zuerst die gleichen Buchstaben sich berührend denkt, dann aber den beweglichen Kreis um ein Sechszelintheil des Kreises vor- rücken lässt, allmählich dieselben 136 Combinationen erhalten, wel- che die Flyiira sccunda ./ gezeigt hatte. Diese Combinationen sind nun der Stolz LuUs, da sie nicht nur einen Anhalt für das Gedächtniss geben, sondern als eine Topik um den Kreis der Fra- gen zu erschöpfen dienen, ja sogar Daten zur Antwort an die Hand geben sollen (s. weiter unten sub 12).

6. Zu der Figura Del oder J, kommt nun als zweite die Flffura aiüinae oder *S'. Hatte jene es mit dem Hauptobject un- seres Erkennens zu thun, so diese mit dem Subjccte desselben, dem denkenden Geiste, welcher mit dem Buchstal)en S bezeichnet, und während oben Gott das Schema des Kreises bekommen hatte, das Schema des Quadrats erliält. Die vier Ecken werden mit den Buchstaben ß E bezeichnet, indem B memor'm, C intellcctiis, D voluntds, E aber die Einheit aller drei pofeji.flae bezeichnen sollen, so dass also F mit S ganz zusammenzufallen scheint. Es bleibt der grosse Unterschied, dass E nur den ganz normalen Zu- stand von S bezeichnet, wo das Gedächtniss behält, der Verstand erkennt, der Wille liebt, ein Zustand der schematisch so ange- deutet wird, dass das Quadrat blau (äridirmj erscheint. Aendert sich dieser Zustand, indem an die Stelle der Liebe der Hass tritt, so wird die Verbindung der memorlii recofcns (F), des iiiteUectiis iiitelUgeus (G) und der Doliinlits odicns (H) mit dem Buchstaben I bezeichnet und dem Quadrat die schwarze Farbe gegeben. Da Manches, z. B. das B()se, gehasst werden darf ja muss, so ist / oder quadiutum nignim nicht ein durchaus anomaler Zustand. Wohl aber ist dies der Fall in dem (jnadrato rubeo und virldi. Roth wird das Quadrat wo die memorUi obliviscens als A" mit dem intellectus ignonuis als L und der rolnndis dUigens vcl odiens als M sich zu iV verbindet, grün endlich wird es oder vermuthend und zweifelnd ist die Seele, wenn sein erster Winkel O den Cha- rakter von B, F und K verbindet, d. h. das Gedächtniss behält und vergisst, wenn sein zweiter Winkel P eben so die Natur von C, G und L d. h. der intellectus Wissen und Unwissenheit ver-

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bindet, endlich wenn sein dritter Winkel Q in sich D, // und M. d. h. wenn in dem Willen sich Hass und Liebe mischen. R also oder fpiadratinn virirfc ist die Seele wie sie nicht seyn, wie sie vielmehr darnach streben soll E oder / oder mindestens N zu seyn. Indem nun diese vier Quadrate auf einander gelegt werden, aber nicht so dass sie sich decken, sondern dass, in der angegebnen Reihenfolge abwechselnd, die verschieden gefärbten Ecken in glei- chen Abständen erscheinen, werden dadurch sechszehn Punkte einer Kreislinie bestimmt, deren Reihenfolge also wäre: B, F, R, O, C, G, L, P, D, //, M, Q, E, 1, N, R. Bei späteren Darstel- lungen, wo es ihm darauf ankommt, den Parallelismus der einzel- nen Figuren mehr hervortreten zu lassen, tritt an die Stelle die- ser Reihenfolge die alphabetische. Wenn er dann weiter, gerade wie oben bei der Figur a A, die sechszehn terviini combinirt, so ergibt sich natürlich hier eine seviinda figura S, die gerade so viel camcrae enthält wie die zweite Figur A, nämlich 136. (So z. B. in der Ars deinonstrativa Opp. 3.) EIN R ist vermöge dieser Tabula animae sehr oft die Formel für die ganze Seele; noch häu- figer E, weil dies den Normalzustand andeutet. Diese Bezeich- nung ist ihm so zur Gewohnheit geworden, dass in Schriften, die gar keinen schulmässigen Charakter haben und die Bezeichnung mit Buchstaben gar nicht anwenden, doch E anstatt anima vor- kommt.

7. Zu den beiden genannten Figuren gesellt sich als dritte die Figiira T oder figura inslrvmentaiis. weil man ihrer bei allen anderen bedürfe. Die Stelle des Kreises in der ersten, des Qua- drats in der zAveiten Figur vertritt hier das gleichseitige Dreieck. Die hauptsächlichsten Verhältnissbegriflfe, welche als Gesichtspunkte bei der Betrachtung und namentlich der Vergleichung dienen, bil- den den Inhalt dieser Figur, zu der Lull wohl nicht ohne die Lehren von Prädicabilien, Prädicamenten und Postprädicamenten gekommen ist. Je drei werden zu einem Triangel verbunden, und indem nun fünf verschieden gefärbte Triangel (liridmu^ viride, ruheum , croceum. nigrum) , ähnlich wie oben die Quadrate, über einander gelegt werden, theilen ihre Spitzen den durch sie geleg- ten Kreis oder auch den um sie gelegten Ring in fünfzehn Abthei- lungen, oder camerae^ deren jede die Farbe des Dreiecks erhält, an dessen Spitze sie sich findet. Die drei blauen B, C, D sind deus , creatio , operaiio , die grünen E diff'crenüa , F concor- duntiaf G coiilr artet as , die drei rothen H principium , I medium. K ßnis f die drei gelben L majoritas , M aefjualitas, N minori- taa, die drei schwarzen O af/irmatio, P duhitatio , Q negaf/o.

Erdmann, Gesch. d. Phil. T. 05

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Die einzelnen Winkel bekommen dann wieder nähere Bestimmun- gen, indem bei B (deus) esscntia , vnitas, dignitds, bei C (crea- tvra) intellcctuaUs , ammaUs , seiisiialis, bei D (opcrafio) artifi- cialis, natvraüs, mtellcctualis geschrieben steht, zu den drei Win- keln des grünen Dreiecks E, F, G intcllcduniis et InteUectnalis, int. et. sens., sens. et. sens. hinzugefügt wird, ferner // (priiici- phim) die nähere Bestimmung cdiisae (jHantitatis teiiiporh , / (me- dium) die Determinationen e.vtremitatnm meusiirationis eonjnnctio- vis, endlich K (fniis) die Zusätze perfectionis prirntionis termi- iKitionis erhält. Das gelbe Dreieck L M N erhält die nähere Be- stimmung, dass sichs um das Vcrhältniss von Substanzen, Acci- denzen, Substanzen und Accidenzen, handelt. Endlich bei der Be- jahung, Bezweifelung und Verneinung (O P Q) wird possibile, impossibilc, etis, non ens als Object denselben hinzugefügt. Diese näheren Bestimmungen werden dann immer mit angegeben und so von dem angidus de essentia dei. de eredtura inteUeetiudi . de differentia seimudlis et seusudfis, de minoritdte suhsldiitide, de ne- tjdtione entis u. s. w. gesprochen. Als ein Anhang zur Fi<jm'd T wurde ursprünglich behandelt, ja in der Ars universalis geradezu als seeundd Fiyiird T bezeichnet die Figurd elementdiis . welche durch die Combination von vier Farben und den Namen der vier Elemente vier, aus je sechszehn kleineren bestehende, Quadrate darstellt. Es geht bei dieser Gelegenheit hervor, dass Lull nicht wie die Aristoteliker die Elemente als Combinationen der Urgegen- sätze ansieht. Feuer ist ihm nur Warmes, trocken ist es nur per dccidens durch Mittheilung der Erde, wie diese an sich das Trockne kalt nur ist durch Mittheiluug der Luft u. s. w. Darum enthält ihm jedes Element die anderen mit, eine Lehre die in dem Liber Chaos weiter ausgeführt wird. Sowol die ursprüngliche Reihen- folge der Buchstaben in der Fiyiud T, die dadurch entstand, dass zwischen je zwei gleichfarbigen Spitzen vier anders gefärbte traten, und also zwischen die beiden Buchstaben . / und B die vier Buch- staben D G K N, schoben, sondern auch die Bedeutung dersel- ben wird später modificirt. Jene, indem aus demselben Grunde, der eben bei der Figiivd S angegeben war, die alphabetische Rei- henfolge angewandt wird. Diese, indem, weil in der Figura Dei Gott mit dem Buchstaben A bezeichnet war, in dem blauen Dreiek aber die eine Spitze deus gewesen war, nun der Triangel nicht mehr wie ursprünglich B C D sondern vielmehr .1 B C genannt wird, wodurch in den späteren Schriften jeder Buchstabe eine Bedeutung erhält, die ursprünglich der folgende gehabt hatte. Aber auch dabei bleibt es später nicht. Ltd! reicht mit diesen fünf Triaden

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instrumentaler Begriffe bald nicht mehr aus. Er ist genöthigt zu der Fiffiira T eine Figur (i 7" hinzuzufügen, gleich jener durch fünf um einen gemeinsamen Mittelpunkt gedrehte Triangel gebil- det, die um Verwechslung mit der ersten Figur zu vermeiden semi- liridum. semi-vh'if.ln u. s. w. sind, ja zusammen oft semilrianc/ula genannt werden. Dem ersten Triangel gehören an J modus B spc- cles C ordo, dem zweiten D (dtcrilas E iderditas F commiinitas, dem ir. scmirnhco: G prioritas H shnnltns I posteritns , dem semicrorro: K siiperioritas L conrerlibiliUis M in/er ioritds. end- lich dem semimgro: N vnirersale O Indcfnüium P singulare. Ganz wie bei den Figuren A und S ergeben sich nun auch für diese durch die Combination der einzelnen Kammern seci/ndae //- gurne: rrsprünglich nur 120 camer (le ipsiiis T, später eben so viele als fgirra serintda T\ beides die nothwendige Zahl bei fünf- zehn Elementen. Beide werden dann endlich vereinigt und geben dann natürlich 4(55 camerne. die auch zuerst durch dreissig stets um ein Glied kürzer werdende Colonnen, später durch zwei con- centrische Ringe, deren einer beweglich, dargestellt werden.

8. Die Figuren A, S und T (Dci. animae , insinimenialis) sind die fundamentalen und wichtigsten. Zu ihnen aber gesellen sich schon sehr früh die Figvra V (rirtutum et rifionim) und X (opposilorinn), deren erstere in vierzehn, abwechselnd rothen und blauen Kammern, in die ein Ring zerfällt, die sieben Tugenden und Todsünden enthält, und deren secunda figiira natürlich ein Dreieck von 105 Combinationen darstellt. Die zweite gibt acht Gegensätze an, sapienfia. et JHsiilia. pracdestiiailio et lihernm nr- hilrivm . per/eefio et defeetits, meritum et ridpa. polestas et ro- hintas. gtoria et pneita ^ esse et priratio , scieidin et ignoraidia, deren je erste Glieder blau und mit den Buchstaben B I. die zweiten grün und mit den Buchstaben K bezeichnet werden. (In späterer Darstellung fallen das erste, fünfte, sechste und achte Paar weg, pruedcslinatio und liberum arbilriuvi werden zu B und K. esse und priratio zu C und L. die beiden folgenden Paare behalten Stelle und Buchstaben und anstatt der weggefallenen er- scheinen nun, als F und O sKppositio und domonstrafio, als G und P immediale und mcdintej als H und Q realitas und ratio, als / und /• poteutia und ohjectnm.) ^y erden nun diese sechszehn termiui in alphabetische Ordnung gebracht und, sey es mit sey es ohne Drehscheibe, combinirt, so zeigt auch die secandu Fignra X wieder 136 Camerae. Wie die Figurae V und X, so scheint Lidl auch die Figurae Y und Z gleich bei oder sehr bald nach der er- sten Erfindung seiner Kunst angewandt zu haben. Diese werden

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als zwei Kreise ohne weitere Theilung dargestellt, und bezeichnen, jene das Bereich der Wahrheit, dieses der Falschheit, so dass also, wenn man die Buchstabenschrift der Tabula S anwendet, die nor- mal liebende Seele E Liebe zu Y und el)en so I (die normal has- sende Seele) Hass gegen Z hat, und dass jede Coinbination von Gedanken, die in Z oder in welche Z fällt, falsch ist,

9. Ursprünglich wollte Lull schwerlich über die Figuren A S T V X Y Z hinausgchn. Dafür spricht, dass er diese Titelbuch- staben selbst wieder als Elemente von Combinationen behandelt, woraus sich ihm eine neue Figur ergibt, die in 28 ramer is die Combi- nationen A A , A S, A T u. s. w., S S, S T u. s. w. enthält und dass er diese die Jigura dcmonstrafiva nennt, als wenn darin die ganze ars demonstrativa enthalten wäre. Der Name figura nona für sie darf nicht befremden, da die fiyiira clemeutalis. dieser An- hang zu Figin-a T, mitgezählt wird. (Die Figur n T' nicht, die gewiss viel späteren Ursprungs ist.) Je mehr aber Ernst gemacht wurde mit der Durchführung dieser Termini, desto mehr musste sich die Einsicht aufdrängen, dass am Ende nicht alle Erkennt- nisse sich in die Sätze zusammendrängen Hessen, die in den bis- her betrachteten 633 oder wenn man die 28 hinzuzählt 661 Com- binationen enthalten waren. Es scheint, als wenn sich dies zuerst gezeigt habe, als TmU daran ging, nach seiner neuen Methode die Facultätswissenschaften zu bearbeiten. Da wurden die drei Figu- ren ent\yorfen, die sich als Principia Theologiae, Philosophiac und Juris mit ausführlichen Coinmentareu begleitet in dem ersten Bande der Opp. finden. Jede dieser Wissenschaften wird auf sechszehn Principien reducirt (die Theologie auf: dirina esseiitia, digni- tatcs, operatio, arfiruli, praerepta, sacramentaf rirtus. cognitio, dilectio , simpürilas, composifio. ordimdio, siipposifio, expositio, prima inientio, seamda inienlio, die Philosophie auf: prima causa, malus f intelligeiUia , orbis. forma , matcria prima, natura, ele- menta, appetilus, poleutia, habiius, actus, mixiio, digestin, com- positio, alterat io , das Jus auf: Forma, Materia, Jus composi- tum, Jus commune, Jus speciale. Jus naturale, Jus positimim. Jus canonicum , Jus civile. Jus consuetudinale , Jus llieoricum, Jus practicum. Jus nutritirum , Jus comparatirum, Jus antiquum, Jus novnm) die mit den Buchstaben B R bezeichnet in drei grossen Triangeln je 136 Combinationen geben, welche der Com- mentar ausführlich bespricht. Die Principien der Medicin folgen einem andern Schema. Sie werden als ein Baum dargestellt, des- sen Wurzel die vier humores bilden, aus dessen Stamm vermöge der vier Principien Wärme, Trockenheit, Kälte und Feuchtigkeit

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II. Glauzpeiiode. B. Christliche Arititoteliker. Lull. §. 206, 10. 389

die natürlichen (gesunden) und unnatürlichen (krankhaften) Er- scheinungen abgeleitet werden.

10. Wenn nun aber so in einer so grossen Zahl von Figuren dieselben Buchstaben stets neue Bedeutung bekommen, so muss- ten Maassregeln ergriffen \Ycrden, um Verwechslungen zu verhüten. Wie später Descaries zur Bezeichnung der verschiedenen Poten- zen, so führt hier Lirlf, um die Buchstaben und Combinationen der verschiedenen Figuren zu unterscheiden, Zahlen als Indices ein. Die der Fu/vra S bekommen gar keine, die der Figur a A wer- den A^, B\. C^ u. s. w., die der Flynra T als ß^ C^ u. s. w,, die der Figura V als A^ B^ u. s. w., die der Figura X als A^ B^ u. s. f., die der Figur a Tlicologiae mit Ä^, B'" u. s. w., die ]jrincipia Plnlosophiae als A*\ B^ , O' u. s. w., die pri?icipia ju- ris endlich als A~ , ß% C~ u. s. w. bezeichnet. Dass für die Tci-- mini der Figura T ein Punkt an die Stelle des Zahl-Index tritt, ist einer der Gründe, aus dem man annehmen muss, dass dieselbe später eingeschoben wurde. Noch später steigt die Zahl der Fi- guren auf sechszehii, und da also Buchstaben zur Bezeichnung derselben nicht mehr da sind, so muss nach einem andern Mittel gesucht werden. Unter den litnlis kam ein T sigiudum (T'J vor, demgemäss wird jetzt V zum liiulus figurae Juris, X' bezeichnet die figuru Theologiue. 7J die figiiru Philosophiae und V S' Y\ die noch verfügbar bleiben, dienen zur Bezeichnung dreier, bisher noch nicht erwähnter, Figuren: Zuerst Figura A' oder infhientiae ist ein blauer Triangel, dessen drei Spitzen die Termini B in- pueiüia C dispositio D diffusio entsprechen, welche den umge- benden Ring in drei Theile theilen. Mit V wird die figura fininm oder fmalis bezeichnet, die einen in sechs, mit den Buchstaben B— G bezeichnete, Theile zerlegten Ring zeigt, in dem C conve- jiiens blau E inconreviens roth G partim sie partim sie aus bei- den! gemischt ist, und B eine blaue, D eine rothe, F eine gemischte Combination vom Terminis der früheren Figiu*en darstellt ; an die- ser Figur, so wie an einer Variation derselben (secnnda figura fi- nalis) soll man sich bei allen Untersuchungen orientiren können. Die Figura S" endlich oder f/gura dcrirulionum weist darauf zu- rück, dass die Grammatik zu der Erfindung der ganzen Kunst nicht wenig beigetragen hat. Dreizehn Abtheilungen eines Ringes mit den Silben 'ye, ri, ans, us, le, tas, niis, do, ne, er, in, prac be- zeichnen die wichtigsten etymologischen Formen. Magnifiearc, magnifieahile und magnUudo stehn zu einander in dem Verhält- niss des re , le und do u. s. w. Nur die f/gura elementaJis , die ganz wie die übrigen Figuren, auch eine zweite Figur erhält,

390 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

bleibt, da die sieben letzten Buchstaben des Alphabets schon zwei Mal als Titelbuchstaben gedient hatten , ohne einen solchen. Eben so wenig erhält einen eignen Titelbuchstaben die figiira vniversa- Us , zu welcher als der sechszehnten endlich Lull alle die bisher durchgenommenen verbindet. Sie zeigt die zum Coinbinireu ge- brauchte Rotationsmethode in ihrer grössten Ausdehnung. Er con- struirt nämlich einen metallnen Apparat, dessen Mitte durch eine runde Scheibe gebildet wird , um die sich nun die verschieden ge- färbten Ringe drehen lassen. Die unbewegliche Scheibe ist blau, und enthält als fffura A' (d. h. infhient'uic) den Triangel B C D. Da aber um der Combinationen willen der nächste, die Scheibe umgebende, Ring dieselben drei t ermini enthält, und bei der Dre- hung der Punkt Z>" in die Mitte zwischen B und C des ruhenden Triangels zu stehen kommt, so kommt in die Mitte des ganzen Apparats ein Hexagramm zu stehn, dessen vorspringende Ecken die Reihe BB'CCDD' zeigen. Die nächsten beiden, gleichfalls blauen, Ringe enthalten die Buchstaben der pgnra fiininn Y' ; es sind ihrer zwei, um durch Drehen des einen die möglichen Com- binationen der Termini dieser Figur hervorbringen zu können. Aus demselben Grunde ist die fiyiira *S" oder derirationum, welche darauf folgt, ebenfalls in zwei Ringen repräsentirt, die, grün ge- färbt, in ihren dreizehn Abtheilungen die eben angegebenen Sil- ben enthalten. Es folgen abermals zwei gleiche Ringe, jeder in vier verschieden gefärbte Theile zerlegt: die fiijnrn elemcnfalis, die keinen Titelbuchstaben hatte. Die beiden darauf folgenden Ringe sind in vierzehn Abtheilungen getheilt, deren jeder einer der Titelbuchstaben zugewiesen ist, so dass sie also nicht einen Terminus, sondern eine ganze Figur repräsentirt, und also die figura elementalis hier ausfilllt. Die Farben wechseln hier ab. Dass Z roth , dass V roth und blau gemischt erscheint, ist leicht, schwerer zu erklären aber warum T roth, *S" grün erscheint u. dgl. Nun folgen Ringe, die in sechszehn Abtheilungen getheilt die Buch- staben B /? zeigen. Er hält es nicht für nöthig, dieser Ringe so viele anzuwenden, dass auf jede Figur, die sechzehn Termini hat, zwei Ringe kommen. Viere scheinen ihm zu genügen, um sowol die Combinationen der zu derselben Figur gehörenden Ter- mini, als auch die verschiedener Figuren zu bewerkstelligen. (Uebrigens musste dies dem Lull zeigen, dass es kein' glücklicher Gedanke war, in der Figur T die Buchstabenreihe mit A zu be- ginnen anstatt mit B.)

11. In der Form, welche die LuU'sche Principien- und Wis- senschaftslehre in dieser fUjura nnirersaUs erhalten hat, stimmt

II. Glanzperiode. B. Chilstliehe Aristoteliker. Lull. §. 206, 11. 391

sie nicht niu' mit dem, was die ars compendiosa, die Lectura dazu, und andere Schriften älmlichen Inhaltes gelehrt hatten, ganz gut zusammen, sondern hat sie auch ihre grösste Abrun- dung erhalten. Deswegen scheint die ars demonstrativa und die Introductoria dazu als wichtigere Quelle hinsichtlich seiner Lehre angesehen werden zu müssen , als andere Schriften , in denen sie freilich dadurch, dass die Zahl der elementaren Termini ge- ringer ist, einfacher erscheint. Dies gilt vornehmlich von der ars inventiva veritatis (Bd. 5), mit der die tabula generalis und die sich dieser anschliessenden Werke ziemhch übereinstimmen. Die wesentlichsten Abweichungen von dem Früheren sind diese: die bisher A genannte Figur heisst hier die erste, sie verliert ihre letzten sieben Termini und bildet einen King von nur neun Kam- mern mit den unveränderten Terminis B A',- dabei wird, aber- mals sehr verkürzt, die (ahn/n derirdHoninn damit verbunden und der Grundsatz festgehalten, dass jedes Princip als timm (hiess früher uns) hilc und (irc gedacht werden müsse. (// als üriim cirliii/i'cdtiriim . als bile rir(n//icahi/e , als iire viriaificare.) Was bisher fiyvra T hiess, wird jetzt meistens nur als zweite Figur citirt; sie verliert das blaue und schwarze Dreieck, behält also nur neun termiui . die nicht mehr ihre alten Buchstaben behalten, indem jetzt h C und /) dem grünen Triangel zukommen und die früheren E, F und G ersetzen, E F und G dagegen als Winkel des rothen Dreiecks, d. h. als principium medium und /inis er- scheinen, was früher / A' und L gewesen war, endlich aber H I und A' als dem trianyninm crovenm gehörig, die früheren Buch- staben L. 37. iV verdrängen. Eine dritte Figur gibt die mög- Uchen Combinationen der neun Buchstaben, welche, weil jetzt die Wiederholungen (BB, CC, DD u. s, w.) weggelassen werden, ein Dreieck nur von 36 Kammern bilden (in welchen also z. B. BC viererlei vertreten kann, honilas und maynititdo. honitas und cfmcordantifiy dijfercniiii und nKtynitado , differenlia und con- vorduniia). Lässt sich nun für diese Vereinfachungen Vieles sa- gen, indem dadurch u. A. Begriffe wie deiis, duhitalio u. s.w. aus der Reihe der Verhältnisse herausgebracht sind, und nun die Fi- (jura T wirklich nur einartige Termini enthält, so muss man es dagegen als einen sehr unglücklichen Einfall ansehn , dass , um die eben angedeutete Zweideutigkeit in B C zu vermeiden, anstatt des früheren Gebrauchs der Indices, jetzt wenn ein Terminus der ersten Figur angehört er unverändert bleibt, Avenn aber der zwei- ten (T), vor seinen Buchstaben ein T gesetzt wird, so dass also, wenn die eben angeführte Combination heissen soll bonitas et

392 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

magiiltudo, sie B C geschrieben wird, wenu aber: bonitus et coii- cordantia, nicht etwa B C, sondern B T C, als wenn es sich um eine Combination von drei Elementen handelte. (Die Bezeichnung durch Indices hat so viel Vorzüge vor dieser, dass man zweifel- haft werden kann, ob nicht, was liier als eine spätere Vereinfa- chung des Complicirteren dargestellt wird, vielmehr der primiti- vere Zustand des Systems gewesen ist. Abgesehen davon aber, dass als die Tabula generalis geschrieben wurde, Lidl schon acht und fünfzig, als brevis practica tabula generalis, sogar schon acht und sechzig Jahr alt war, wird es schwer zu glauben er habe später zu solchen Begriffen wie differentui . prloritas u. s. w. die Begriffe deiis, siijyposäio u. a. hinzufügen können.) Unter dem Namen der vierten Figur beschreibt Lull in dieser Zeit einen Apparat, in welchem wirklich Combinationen der dritten Ordnung hervorgebracht werden. Drei concentrische, in je neun Fächer getheilte, Ringe mit den Buchstaben B können, indem die zwei äusseren verschieden gedreht werden, 84 solcher Combina- tionen geben. Da aber jede solche Combination BCD, BCE u. s. w. , indem jeder Terminns zwei Bedeutungen hat, eigenthch aus sechs Elementen besteht, die natürlich in 20 Weisen combinirt werden können, so ist die Tuhida, welche er auf die vier Figu- ren folgen lässt, aus 84 Colonnen von je 20 Combinationen dritter Ordnung gebildet, die aber wegen der eben getadelten unzweck- mässigen Bezeichnungsweise dem grösseren Theile nach aus vier Buchstaben bestehn. (Mehr als vier bedarf er nicht, da immer alle Termini der ersten Figur vor die der zweiten gestellt werden und also das vorgestellte T auf alle folgenden Buchstaben zu be- ziehen ist.) Von diesen Tafeln sagt Lidl , der Philosoph müsse sie stets neben sich liegen haben (wie heut zu Tage der Ma- thematiker die Logarithmen - und trigonometrischen Tafeln) um bei jedem Problem sogleich zu wissen, in welche Colonne es ge- höre. — Zu den beiden Bedeutungen , welche hier jeder der neun Buchstaben bekommen hat, kommt dann aber bald noch eine dritte. Auch die neun regidae inveatigandi ^ die Lull sowol in der ars inventiva veritatis, als auch in der tabula generalis und ihrer brevis practica, in der ars compendiosa sowol, als auch in der lectura darüber erwähnt, obgleich nicht immer in gleicher Weise ableitet, zeigen die Zahl neun, und werden darum mit B^ C u. s. w. bis K bezeichnet. Sie fallen, da die inrestigatio auf die Beantwortung der neun Fragen: idriim? quid? de (pro? (juare? fjnanlum? (pudc? ubi? (juuudo? (piowodo? cum (juo? ausgeht, mit diesen , und darum nahezu mit den Aristotelischen Kategorien zu-

II. Glauzperiode. B. Christliche Aristoteliker. LuU. §. 206, 11. 393

sainmeu, die es sich denn freilich gefallen lassen müssen, dass zwei von ihnen mit demselben Buchstaben (K) bezeichnet wer- den. Auch die fünf Prädicabihen des Porplyrins werden manch- mal herangezogen. War also bis daliin B honitas und dijferenüa gewesen, so bezeichnet es auch die prima rcgida 'cnvcsiicjaüonis und die quacsüo utrinn? . so dass die ganze Buchstabenreihe also zur tabula fjuaestioniim wird. Auch die hauptsächlichsten Gegen- stände suhjccta des Denkens werden in der bei den Aristotelikeru stets wiederkehrenden Abstufung: Gott, Intelhgenz (Engel), Fir- mament, Seele u. s. w. in einer Tabula siibjectorinn als Neunzahl zusammengestellt, auf die sich die regelrechte Forschung beziehe. Alle Schriften im fünften Bande der gesammelten AVerke beschäf- tigen sich in ihrem letzten Theile mit den Fragen. In der ars inventiva werden zur Lösung von 842 Fragen die Elemente ange- geben, dann aber um das Tausend zu füllen noch 158 ohne solche Winke, extra rolume?i arlis . aufgeworfen. Die tabula generalis enthält 167 gelöste Fragen, die lectura dazu verspricht tausend, bricht aber bei der 912'"'° ab u. s. w\ Dabei wird olt auf die frü- heren Untersuchungen zurückgewiesen und gezeigt, wie der Be- weis zu führen sey per def'mitiones , wie per figiirus. wie per ta- biilam , wie per regvlas, wie per (juacstioiies. Die Schriften ars amativa und arbor philosophiae amoris (im J. 1298 in Paris ver- fasst) heben besonders dies an der Wissenschaft hervor, dass sie als Erkenntniss Gottes Liebe zu ihm sey, und eben so dass Reue und Bekehrung das Wissen fördern. Sonst sind die Ansichten von der wissenschafthchen Methode dieselben, wie in der Tabula generalis. Dagegen tritt eine Modification hervor in der gleich- falls im (3'"' Bande befindlichen arbor philosophiae desideratae, so genannt weil Lull hier seinem Sohn auseinandersetzt, wie aus dem Baume des Gedächtnisses, der Intelligenz und des Willens, d. h. sämmtlicher Seelenvermögen, wenn er durch Glaube, Liebe und HoÖuung bewährt, der Baum der Philosophie erwachse, des- sen Stamm Ens ist , da sie sich nur mit dem Seyenden beschäftigt und aus dem dann neue Aeste und neue Blüthen hervorgehn. Mit den letzteren wird begonnen und werden, wie in den ziüetzt cha- rakterisirten Werken , die neun Principien der ersten und die neun der zweiten Figur, also bonifas. magnllndo u. s. w. , diff'erentia, eoncordaiitia u. s. w., ausserdem aber noch neun andere Begriffe (B potcntia, C objccluni, D memoria, E intentio. E piuicltim iraiis- se enden s . G vactium , H aperatio, I jitstitia . K ardo) als die 27 Flores angegeben. Es folgen dann als die rami dieses Bau- mes neun mit den Buchstaben L bis T bezeichnete Gegensätze:

o94 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Peiiode (Scholastik).

L ens fjitod est Dens et ens rjii.od non est Dens, M ens reale et ens phnjitdsticiim , N gemts et species, O movens et mohile . P unitas et plnralltas , Q abstractifm et eoncretuin , R hiteiisum et extensmn , S simiUtvdo et dissmititi/do , T gener atio et corrvptio. Dieser Entwicklung folgt dann wieder eine schematische Darstel- lung: Vier concentrisclie Ringe in je neun Fächer getheilt zeigen der äusserste und der dritte die Buclistaben B bis K^ der innerste und der zweite die Buchstaben L bis T. Durch Drehung können alle denkbaren Combinationen zweiter Ordnung, sowol der Ele- mente B K (ßores) und L T (rami) unter sich, als auch un- ter einander dargestellt werden. Freilich welche der drei jlores, die ein und derselbe Buchstabe bezeichnet, sagen die Kreise nicht, bei den nimis ist ein Irrthum nicht möglich. Die Schrift de ani- ma rationali zerlegt den Stoff nach den Fragen ntrinn? quid? u. s. w. in zehn Capitel ; in dem sechs Jahr später verfassten Liber de honiiiie wird durch Weglassen der Frage utrum die Neunzahl gerettet. Das, in demselben eTahre geschriebene. Buch de Deo et Jesu Christo dagegen kehrt wieder zur Zehnzal zurück.

12. Dass hinfort an die Stelle des eignen Denkens das Dre- hen der Ringe treten solle, war sicherhch Liil/s Absicht nicht. Eben so gewiss aber ist, dass er sich von seiner Kunst und sei- nen Apparaten grossen Nutzen für die Förderung des Denkens versprach. Schon die mnemonische Unterstützung, die beide ge- währen, musste bei der hohen Stellung, die Lull mit allen Scho- lastikern dem Gedächtniss einräumt, ihn für sie begeistern. Wem untei? Umständen zwar rolnnfns odiens, nie aber memoria obli- ricns . mit Gesundheit der Seele vereinbar ist wie ihm, der muss sich interessiren für eine Kunst, die mindestens eine ars rcco- lendl ist. Die seinige aber ist in der That mehr. Sie leistet näm- lich zweitens, was alle topischen Schemata leisten, von den Win- ken des Cicero an bis auf die Schablonen, nach welchen Predig- ten disponirt werden: es werden dadurch Gesichtspunkte gegeben, unter welchen der Gegenstand zu betrachten ist. Er selbst zeigt nun, wie ausserordentlich gross die Zahl der Gesichtspunkte ist, die sich ergeben, wenn man z. B. bei der Frage, ob es möglich sey, dass es einen guten und einen bösen Gott gebe? die tabula instrumentalis zu Hülfe nehme , und nun frage , in welchem Trian- gel derselben die zu erörternden Begriffe liegen, weil sich da fin- den werde, dass in allen fünfen, so dass der Gegenstand mit al- len darin gegebnen Begriffen zu vergleichen seyn wird, ja dass dies nicht ausreiche, weil man auf die figura A gewiesen werde u. s. w. Kurz er hat Recht, wenn er sagt, seine Kunst sey eine

II. Glanzperiode. B. CLristlk-he Aristoteliker. Lull. §. 206, 12. 395

urs invcstigtütdi. Aber noch mehr nimmt er für sie in Anspruch. Die Schwierigkeit , ja die scheinbare Unmöglichkeit Einiges zu ver- einigen hat oft seinen Grund nur darin , dass nicht beides auf sein eigentliches Princip zurückgeführt ist , wo es sich als Eins erwei- sen könnte; wie wenn zwei weit von einander stehende Bäume zugleich kranken, der, welcher entdeckt hat, dass sie aus einer Wurzel hervorwuchsen , dies für nothwendig , ein Andrer für einen Zufall oder ein AYunder halten wird, so werden nach Lull eine Menge von Schwierigkeiten leicht gelöst, wenn man nicht bei dem vielleicht widersprechend erscheinenden Factischen stehen bleibt, sondern sich fragt, worin hat dies und worin das Andere seinen letzten Grund, und sein Princip? Findet sich, dass Avarum das Eine und w^ovon das Andere die nothwendige Folge, Eins ist, so ist die Unbegreiflichkeit verschwunden. Zu diesen Beweisen ex ae(jiiipar<inti(i wie zu vielen anderen führt nur die Principienlehi'e, die also eine ars demonslrandi ist. Ja da alle andern Wissen- schaften bei ihren Beweisen von gewissen nicht weiter bewiesenen Vordersätzen ausgehn , die eine andere Wissenschaft nicht statuirt, so bleibt der Anschein, als wenn die verschiedenen Wissenschaf- ten auf keinem festen Grunde ständen oder sich widerlegten, so lange bestehn, als nicht aus den Principien alles Wissens die scheinbar entgegengesetzten der verschiedenen Wissenschaften ab- geleitet sind. Da aber das Beweisen nur zu dem was wir wissen die Begründung hinzufügt , so ist auch damit noch nicht die eigent- liche Stellung der Wissenschaftslehre erschöpft. Sie lehrt uns auch Solches, was wir bisher nicht wussten, ist ms imenicndi Die blosse Erfahrung, dass oft eine ganz zufäUige Combination zweier Gedanken den Geist auf ganz neue Bahnen bringt , blosse Einfälle oft zur Erkenntniss tiefer Wahrheiten führen, musste es rathsam machen , jeden Gedanken wo möghch mit allen zu combiniren. Hinwiederum kommt es oft vor, dass eine Gedankenverbindung zulässig ist, wenn ihr ein, unzulässig, wenn ein anderes Prädicat beigelegt wird (man denke an Sätze wie: der Ziegenhirsch ist ein Widersinn, und: er existirt) die Bezeichnung mit Buchsta- ben angewandt, und man wird sogleich finden, dass eine Combi- nation, in der das Zeichen Z (Falschheit) vorkommt, nicht mit einer andern verbunden werden kann, in der das Zeichen Y (Wahr- heit) sich findet. Es ist wie mit den Rechnungen, welche man als falsch erkennt, wenn sie auf eine imaginäre Grösse hinausfüh- ren. Bedenkt man endlich, wie Vieles erst berechnet werden kann, seit man das Ausziehen von Wurzeln höherer Grade auf eine Di- vision reducirt hat, an die sich das Nachschlagen in den Loga-

396 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Peiiode (Scholastik).

rithmentafeln anschliesst , so wird man sich erklären können, wie Lull von einem Combiniren von Zeichen nnd Aufsuchen der ge- fundenen Formel in den tabulis so Grosses hoffen konnte. Wie wenig er übrigens gesonnen war, dem Zufall zu viel zu überlas- sen, wie wenig der Ansicht, dass die rotirenden Scheiben allein den Meister machen, dafür zeugen die vielen Hunderte von Bei- spielen in seinen verschiedenen Schriften, in denen er zu zeigen versucht, wie man zur Beantwortung von Fragen sich der Figuren zu bedienen habe. Bald zerlegt er die Frage in die in ihr ent- haltenen Begriife, und sieht nun zu, m\y(i\d\Q^ conditionihns '&\d\ jeder derselben befindet, d. h. er gibt den ganzen Beweis. (So in der vierten Distinction der ars demonstrativa , wo er zu den Qiuiesiionlhtis übergeht, bei den ersten 38 Fragen.) Bald wieder gibt er nur die Combinationen der tUjtli an, d. h. die Figuren, vermöge der die Lösung gefunden wird, und überlässt die "Wahl der canicrne in den Figuren dem Leser. (So in den an die eben erwähnten sich anschliessenden 1044 Fragen über Gegenstände aller Art.) Lull verhehlt sichs nicht, dass die Reduction alles Untersuchens und Beweisens auf diese Seelen aller Beweise dem Räsonnement ein geheimnissvolles Gewand gebe. Desto besser, denn nur den Adepten der Wissenschaft, denen die sich gründ- lich mit ihr beschäftigen , will er sie leicht machen. Wie man bei den Leistungen Lulls immer wieder an die neuen Bahnen erinnert wird , welche später die Mathematik einschlug (nicht ohne Einfluss gerade seiner Kunst), so kann auch an die Geheimnisskrämerei erinnert werden, mit der noch ein Fcrmat seine Sätze in die Welt warf, ohne die Beweise zu geben.

§. 207. Wie auch sonst, so zeigt sich an Lull, dass die Ei-findung einer, auf Alles anwendbaren, Methode schnell dahinbringt, Wis- senschaften im Ganzen zu bearbeiten. Kaum Schüler geworden, tritt er schon als Lehrer auf, ein Vorspiel zu dem, was sich noch öfter wiederholt hat. Anders dort, wo der erworbene Stoff poe- tisch bearbeitet werden soll. Ein wahres Gedicht entsteht nicht, indem ein äusseres Schema bereit ist, dem dargebotenen Lihalt, sey er vollständig oder lückenhaft, das Ansehn eines Organismus zu geben, sondern indem, wo alle Bestandtheile zusammentrafen, der Stoff sich selbst krystallisirt. Nur mit dem was der Mensch ganz beherrscht vermag er zu spielen, dichterisch behandeln ist ein Spielen im Gegensatz zum dem sich Abquälen und Abarbeiten des blossen Reimens. Wo die scholastischen Lehren nicht nur durch Gedächtnissreime dem Gelehrten, sondern in einem wahren

II. Glauzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Dante. §. 208. 397

Kunstwerke dem Gemütbe Aller, die für Scliönheit empfänglich sind, nahe gebracht ^Yerden sollen, da bedurfte es eines Mannes, der, gelehrter als die Gelehrtesten seiner Zeit, mit den Kennt- nissen, die ihn zu einer lebendigen Encyclopädie alles damaligen Wissens machten, poetisches Genie, mit beiden aber eine genaue Bekanntschaft der Welt verband, für die er sang. Lull musste, um seine Aufgabe zu lösen, der Welt entsagen, Dante ist durch seine rege Theilnahme an den Weltangelegenheiten um so mehr zu der seinigen befähigt worden.

§. 208. Dante.

M. A. F. Ozanam Dante et la philosophie catholique au treizienie siecle. nouv. edit. Paris 1845. Fr. X. WegeU Dante's Leben und Werke, kulturgeschichtlich dar- gestellt. Jena 1852.

1. Durante AlUyliieri {dxxoh. Alighieri. wc^^rimgWch Alrlighieri) ist im Mai 1265 in Florenz geboren. Durch eine ungewöhnlich frühe Liebe poetisch angeregt, wird er durch den Umgang mit Brunelto Lafini. dann mit Guido Qiralcanti, auf eine Poesie hingewiesen , die ihren Urspnmg dem Studium der römischen Dich- ter, so wie der Bekanntschaft mit den Provenzalen einerseits, an- dererseits den Scholastikern dankt. Mit den letzteren ward er noch genauer bekannt, als, durch den Tod der Gehebten fast hal- tungslos geworden, er anfing sich ernstlich mit der Philosophie zu beschäftigen, über die er, vielleicht in Bologna, gewiss in Pa- ris, Vorlesungen hörte. Der Thomist Siger (s. oben §. 204, 4) scheint ihn da besonders gefesselt zu haben. Der längere Aufent- halt im Auslande mochte dazu beitragen, dass dem Heimgekehr- ten die Herrschaft der Partei, zu der er bis dahin gehört hatte, nicht mehr schien dem Vaterlande Heil zu bringen. Genug, zu einer Zeit , wo der Sieg des Papstthums über das Kaiserthum dem Einfluss der Fremden in Deutschland, freilich aber auch jeder Ein- heit Italiens, ein Ende gemacht hat, geht Dcmte zum Ghibellinen- thum über, und erklärt das Heil Italiens und der Welt davon ab- hängig, dass ein von Gott, aber nicht vom Papst, eingesetzter Kaiser, möge es auch immerhin kein Itahener seyn, eine starke Gewalt habe. Bei solchen Ansichten hätte er den Papst Boni/'az den Achten nicht haben lieben können, auch wenn derselbe nicht gegen die Partei machinirt hätte, an die sich Dante ]etzt ange- schlossen hatte. Als einer der Gesandten seiner Vaterstadt im J. 1301 nach Rom geschickt, ward er daselbst zurückgehalten, bis Carl von Anjou im Päpstlichen Auftrage in Florenz eingezo-

398 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

gen war , und dann mit vielen Anderen durch die Gegenpartei am 27. Jan. 1302 aus Florenz verbannt. Von da an lebte er an den verschiedensten Orten, stets hoffend, sey es durch Gewalt der Waffen, sey es durch Zurücknahme des Verbannungsdecrets , in die Heimath zurückkehren zu können, und immer wieder ent- täuscht; am Meisten durch die Erfolglosigkeit von Heinrieh des Siebenten Römerzug. Nach demselben ist er in Lucca, längere Zeit bei dem Caii (yrande) dcU<i Scala , endlich bei dem Guido von Jlarenna ein willkommner, aber sich stets als verbannter Fremdling fühlender. Gast gewesen, und in Ravenna am 21. Sept. 1321 gestorben.

2. Die erste grössere Schrift, die Dante verfasste, war wohl de Monarchia libb. III, wahrscheinlich noch vor dem Schlüsse des Jahrhunderts vollendet (vgl. Inf. I. v. 87), Auf sie folgte die, ihrem grösseren Theile nach früher gearbeitete vita nuova, welche die Geschichte seiner Liebe zur Bcafrirr bis zum J. 1300 darstellt, in welches Jahr Dante die Erlebnisse setzt, die sein Hauptwerk beschreibt. Nach der vita nuova wurde, gleichzeitig wie es scheint bis zum J. 1308 an den beiden Werken gearbeitet, die er nicht vollendet hat, an dem Convito in italiänischer und der Schrift de vulgari eloquentia (nicht eloquio) in lateinischer Sprache. Die letzten dreizehn Jahre scheint Dante ganz dem Werke gewidmet zu haben, das seinen Namen vor Allem unsterblich gemacht hat, jener wunderbaren Commedia, die sehr früh das Beiwort der di- vina erhalten hat. Keines seiner Werke ist so häufig gedruckt worden, wie dieses. Mit der grössten diplomatischen Genauigkeit ist das geschehen in der Ausgabe von Ovrt Witte (Berlin 1862). Von den Sammlungen seiner übrigen Werke ist besonders die Fra- ficelli'üche zu rühmen. Unter den deutschen Uebersetzungen der göttlichen Comödie zeichnet sich , nicht nur durch Treue , sondern durch sehr genaue Entwicklungen der scholastischen Lehren, vor allen andern aus die von Philalethes (dem gegenwärtigen König von Sachsen).

3. Der Faden , an den Dante in seinem Gedicht seine Lehren anreiht, ist ein Gang durch Hölle, Fegefeuer und Paradies, deren jedem ein Drittheil des Gedichtes gewidmet ist. Dabei werden aber nicht nur Daniels eschatologischen Ansichten, sondern eben so seine politischen, dogmatischen, philosophischen entwickelt, wie er denn selbst ausdrückUch in seinem Dedicatiousschreiben sagt, sein Gedicht habe mehr als einen Sinn. Mitten im Walde der Verirrungen, wo die Hauptleidenschaften walten, Fleischeslust, Stolz und Geiz, welche drei nach den grössten scholastischen Theologen

II. Glanzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Dante. §. 208, 3. 4. 399

den Süudenfall veranlassten , tritt als Werkzeug der Gnade Virgil an den Dichter heran, und führt ihn zuerst in die Unterwelt, welche als ein Trichter gedacht wird , dessen Spitze mit dem Mit- telpunkt der Erde und dem Schwerpunkt des Höllenfürsten zu- sammenfällt, und von dessen einzelnen Stockwerken das erste (der Limbits) den frommen Heiden und ungetauften Kindern be- stimmt ist, die folgenden aber den Wohnsitz je einer Sünderart bilden. Der Besuch derselben, so wie das Gespräch theils mit seinem Führer, theils mit einzelnen der Verdammten, lässt den Dichter zeigen, dass die Steigerung der Strafen Schritt hält mit dem Grade der Verschuldung, wobei der Aristotelische Maassstab zur Vergleichung dient. Zugleich nimmt er Veranlassung, sich über die Zustände und leitenden Persönlichkeiten seines Vaterlan- des auszusprechen , und seine Klagen darüber laut werden zu las- sen, dass durch weltlichen Besitz und weltliche Macht die Kirche dem Verderben preisgegeben sey. Als die allerstrafbarsten Ver- brecher, im tiefsten Al)grunde der Hölle erscheinen die, durch deren Verrath Christus, der Gründer der Kirche, und Cäsar, der Gründer des Kaiserreichs, gemordet wurden, Judas und Brutus. Ihr \'errath ist gegen das gerichtet, was die irdische Glückselig- keit und himmlische Seligkeit bedingt; sie verdienen daher die grösste Unseligkeit.

4. In dem zweiten Theil des Gedichts wird der Gang auf und um den Berg der Läuterung beschrieben, dessen Basis der Gegenfüssler des Höllenschlundes ist, und auf dessen höchster Spitze sich das irdisclie Paradies befindet. Nicht nur die kirch- liche Lehre von der Läuterung nach dem Tode wird hier durch- geführt, sondern auch gezeigt, wie die Sündhaftigkeit der Men- schen die Schuld trägt, dass die Glücksehgkeit auf Erden nicht erreicht wird. Auch hier ist Virtji! . das Symbol der aus der Ver- nunft ohne Hülfe der Oftenbarung geschöpften Weisheit, der Füh- rer. Sie vermag zu zeigen , dass nur Busse zum Ziel führen kann, und dass alle Sünden nach einander abgethau, das Sünderzeichen auf der Stirn gelöscht seyn muss, ehe das höchste Ziel irdischer Glückseligkeit erreicht ist. Rund um den Berg gehende Vorsprünge mit, je höher der Berg wird, um so kleinerem Durchmesser, sind der Schauplatz der Abbttssungen für die sieben Todsünden. Erst in der grössten Nähe des Ziels wird I irgil durch den Statins ab- gelöst, in dem man das Symbol der schon durch das Christen- thum geheiligten Philosophie sehn muss. Das irdische Paradies auf der höchsten Spitze der Erde zeigt in einer erhabenen Vision, wie die höchste irdische Glückseligkeit nur dadurch erreicht wer-

400 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

den kann, dass die Kirche (Wagen) an das Kaiserthum (Baum) sicli anlehnt, dass aber das, wenn auch gut gemeinte, so doch verderbliche, Geschenk weltlichen Besitzes an die Kirche ein Haupt- grund sey, warum das Verhcältniss von Kirche und Staat, und alles Wohlseyn auf Erden gestört worden.

5. Virgil , schon von Dante als Repräsentant alles mensch- lichen Wissens verherrlicht, ihm, dem Ghibellinen, als Verherrli- cher des Kaiserthums, endlich dem Schriftsteller als stylistisches Muster theuer, kann höchstens bis dahin leiten, wo die Symbole der Erkenntniss und des Kaiserreichs zu finden sind. In das himmhsche Paradies, dem der dritte Theil des Gedichtes ge- widmet ist, fuhrt, ähnlich wie in des .^M«7/a- Anticlaudian (s. oben §. 170, 5), die wandernde Seele eine andere Figur. Bcdtiice, der früh geschiedene Gegenstand seiner Knaben- und JünglingsHebe, die vor allen Frauen zu verherrlichen er einst gelobt hatte, tritt hier als Symbol der , durch offenbarende Gnade mitgetheilten höch- sten Weisheit, der Theologie, auf, und zeigt den Weg zu den Wahrheiten, die über die Vernunft hinausgehn. An ihrer Hand und unter ihrer Leitung erhebt sich der Dichter über die Erde hinaus und durchwandert die, von den drei Hierarchien übennensch- hcher Wesen beherrschten, neun himmhschen Kreise. Die Be- schreibung des Weges gibt Veranlassung, nicht nur die kosmi- schen Ansichten seiner Zeit zu entwickeln, sondern auch die zu beurtheilen , an deren Seligkeit und Heiligkeit Dante nicht zwei- felt, endhch aber auch das Verhältniss zwischen dem thätigen und conteinplativen Leben zu erörtern. Auf dem Wege, der mit einem flüchtigen Anschaun der Dreieinigkeit seinen Schluss er- reicht, werden zugleich die intricatesten theologischen und philo- sophischen Fragen erörtert.

(3. Aussprechen, dass Dante Nichts, oder doch nur sehr We- niges vortrage, was man nicht bei Albert und Thomas findet, heisst nicht ihn tadeln. Der ihm angewiesenen Stellung gemäss darf nur von ihm gefordert werden, dass diese Lehren so in sein Herzblut übergegangen sind, dass er sie zu reproduciren und so darzustellen vermöge, dass sie aufhören Eigen thum der Schule zu bleiben. Dies geschieht nun, indem er die scholastischen Lehren der Schul- und Kirchensprache entkleidet, weiter aber,' dass er ihnen eine Form gibt, in der sich nicht nur Gelehrte, sondern Geschäftsmänner, Ritter, Frauen, ja der gemeine Mann für sie begeistern kann, die poetische. Diese Form ist bei ihm nicht, wie etwa bei Bonaventura die gereimten sententiae sententiarum (s. §. 197, 3) ein zu mneraonischen oder anderen Zwecken umgehan-

U. Glanzperiode. B. Christliche Aristoteliker. Daute. §. 208, 0. T. 401

genes Gewand , sondern wirkliche Poesie und Scholastik durchdrin- gen sich in Dante so, dass er in seinem Convito seine Liebesge- dichte rhetorisch zerlegt und scholastisch cominentirt , ohne dies als Versündigung an seinen Gedichten anzusehn, und wieder in seiner göttlichen Komödie die eigentlichen, bei jedem Anderen tro- ckenen, Arcana der scholastischen Philosophie, bis in ihre syllo- gistischen Argumentationen hinein , in die bald erschütternde , bald anmuthige Beschreibung einer Weltreise verwandelt. Dabei macht das Gedicht nicht den frostigen Eindruck einer Allegorie , wie z. B. der Anticlaudianus , sondern es ist , wenn man auch ganz bei Seite lässt, dass Vhylf , iS/ al ins, Beiitrice, Matfnlde noch etvfä.?, Andres bedeuten als diese Personen, nicht nur durch den bezaubernden Klang der Rede, sondern auch sonst, ein anziehendes Gedicht, ein Dichterwerk ersten Ranges. Nur die absolute Herrschaft über den Stoff konnte eine solche poetische Verklärung desselben mög- lich machen.

7. Dass von den beiden , an die sich Dante besonders anlehnt, Albert besonders in der Physik, dagegen Thomas in der Politik und Theologie als seine Meister erscheinen, ist nach dem, was oben über beide gesagt worden (§. 203, 9) , nicht zu verwundern. Unter den Naturwissenschaften scheint dem Dante keine ge- läufiger zu seyn als die Astronomie. Die Zeitbestimmungen in sei- nem Gedicht zeigen, wie geläufig ihm die jeweiligen Constellatio- nen waren, auch lässt er es nicht au Ausfällen gegen den verdor- benen Kalender fehlen. Die damals noch allgemein angenommenen neun Himmelskreise, von denen sieben den Planeten, der achte den Fixsternen angehört, während der neunte das primiim mobile ist, und die sich innerhalb des überi'äumlichen Empyreums be- wegen, werden von Dante nicht nur, wie oben bemerkt wurde, mit den drei Hierarchien des Areopagiten (s. §. 14(3) so zusammen- gestellt , dass der unterste (Mondes -) Kreis einen Engel, der oberste {primum mobile) einen Seraph zum Beweger hat, sondern im Con- vito — wo Dante übrigens sowol vom Areopagiten als von Gre- gor d. Gr. in der Reihenfolge der Engel abweicht auch mit den Künsten und Wissenschaften des trirü und (jnadriiüi. Obgleich dem Dante, wie jenen beiden Scholastikern, in physikalischen Leh- ren Aristoteles die höchste Autorität ist, so verlässt er ihn doch, wo sie von ihm abweichen.' Die Ewigkeit der Materie gilt ihm als Irrthum. Der erste Stoff ist ihm geschaffen, nicht ohne alle Form, denn ein Wirkliches ohne alle Form ist ein Widerspruch; aber die erste Materie hat zu ihrer Form die L'nförmlichkeit, so dass also die von den Scholastikern im Sechstagewerk gemachte

Erdmaun (iesch. d. Phil. I.

402 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

Unterscheidung der crcatio {vonfnslo), disposlflo, onuifus von ihm adoptirt werden kann. Wie hinsichtlich des niedrigsten, weicht auch hinsichtlich des höchsten physikalischen Begriffs Danlr mit seinen grossen Lehrern vom Arisfoicics ab: die Seele ist nicht bloss Form eines Leibes, sondern ist Substanz, kann darum ohne Leib existiren. Freilich nur vorttbergeliend , denn der Drang- sich zu beleiben bleibt ihr, der theils die Scheinkörper der Zwischen- zeit, theils den Auferstehungskörper erzeugt.

8. Auch in der Politik erscheint Ihniie, wo es sich um die Principien handelt, und nicht bloss um Tagesfragen, als strenger Thomist. Den gleichnamigen Werken des Tltounts und des Accji- dins Colonud (s. oben §.203,9; §.204,4) dankt er am Meisten. Das Ziel des Menschen ist eine doppelte Glückseligkeit, die irdi- sche und himmlische. Zu der ersteren weist Vernunft { I 'ir<jU) den Weg, und die aus ihr stammenden, moralischen und intellectuel- len, Tugenden reichen zum Erieiclien desselben aus. Nichts för- dert sie mehr als der Friede; die Anstalt zur Erhaltung ist der Staat; weil Theilung der Gewalt den Staat schwächt, deswegen muss er Monarchie seyn. Von diesen Thomistischeii Sätzen geht nun [)(inle weiter: Nicht nur unter den Unterthanen eines Für- sten, sondern auch unter Fürsten kann Streit entstelm, also be- dürfen wie jene so auch diese wieder eines Monarchen über sich. Dies führt auf eine Universalmonarchie, auf einen Fürsten über den Fürsten, d. h. auf einen Kaiser. In seiner Monarchie sucht Dante in den drei Büchern die drei Gedanken durchzuführen: dass ein Kaiserthujn seyn muss, dass Rom aus Gründen der Profan- wie der heiligen Geschichte Ansprucli darauf machen kann, Cen- trum desselben zu seyn, endlich dass der Kaiser es durch Gott und nicht durch die päpstliche Ernennung ist. Der Kaiser, als der Lehnsherr aller Fürsten, ist, wenn anders der Papst überhaupt Land besitzt, es auch vom Papst. Unterschieden von der irdi- schen Glückseligkeit ist die himmlische Seligkeit. Zu dieser rei- chen die erworbenen Tugenden nicht aus, es bedarf der eingegos- senen theologischen, deren wir nur durch Oifenbaruiig und Gnade {Bcolricc) theilhaft werden. Die Anstalt, zu diesem Ziele zu füh- ren, ist die Kirche, deren Leitung nicht dem Kaiser, sonderndem Papst übergeben ist. Es ist Todsünde, sich, wie Cölestui das ge- than hat, der Pflicht der Kirchenleitung zu entziehn. Je mehr das Papstthum nur die geistliche Herrschaft, geistliche Mittel dazu u. s. w. im Auge behält, um so grösser und herrlicher steht es da. In dieser Stellung fordert es mit Recht, dass auch der Kaiser sich vor dem geistlichen Vater beuge. Mit demselben Zorn, mit dem

III. Verfallperiode. Einleitung. §. 210. 403

Dil nie die Verweltlichung des päpstlichen Stuliles tadelt, brand- markt er die Vergewaltigung des (ihm doch verhassten) Papstes Bonifiiz durch die weltliche Macht. Das, was einmal in der Welt- geschichte in all seiner Herrlichkeit sich gezeigt hatte (s. §. 152) : ein Regent der Christenheit, welcher Lehnsherr und zugleich ge- liebtester Sohn der römischen Kirche war, das ist es, wonach sich Dante sehnt, wie sich PUdo nach einer wahren Republik gesehnt hatte; das ist es, was zu hotten er nicht aufgibt, wenn er auch hinsichtlich der Träger dieser seiner Hoftnung gewechselt hat.

§. 209. >S c h 1 u s s b e m e r k u n g. War die Philosophie (§. o) einer Zeit nur das ausgesprochene Geheimniss derselben, so führt das Popularisiren derselben sie ih- rem Ende entgegen: Je Mehrere ein Geheimniss wissen, je weni- ger ist es eins; was Viele oder gar Alle wissen, ist als allbekannt trivial, und nicht mehr auszeichnendes Eigenthum der Weisen. Wie die Sophisten (s. oben §. G2) durch Popularisiren die vorso- kratisclie, wie Cicero (s. oben §. 106) eben dadurch die ganze klas- sische , wie im achtzehnten Jahrhundert die Popularphilosophie alle vorkantische Philosophie zu etwas Abgemachtem und Abgethanem machten, eben so wird, seit es zu einem leicht erkennbaren Kunst- stück gemacht ist, die Mysterien der scholastischen Philosophie sich anzueignen , oder seit gar ein Schwelgen in wohltönenden Ter- zinen in die Lehren der Aristoteliker einweiht, dem gründlichen Forscher die Vermuthung nahe gelegt seyn , dass die Philosophie doch noch Anderes und mehr seyn müsse. Diese abschliessende, darum aber auch negative, Rückwirkung der popularisirenden Thä- tigkeit auf die Schulweisheit, lässt die Thomisten den Lullisten zürnen, die das Latein so vernachlässigen, und lässt manche Neuere in Dante den Beginner einer neuen Periode begrüsseu. Richtiger sahen die, welche sein Lied den Schwanengesang einer abgelaufenen nannten.

m.

Die Verfallperiode der Scholastik.

' §. 210.

Warum in dem Culminationspunkt der Scholastik ihr Verfall

beginnt, das erklärt sich schon aus ihrer welthistorischen Stellung.

Das Hineiunehmen der Aristotelischen Lehre in die von der Kirche

geehrte Scholastik war (s. §. 180) als Gegenbild zu den Kreuzzügen

26*

404 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

bezeichnet worden. Wie in diesen dem ersten glorreichen und ro- mantischen Zuge die späteren folgten, bei denen das religiöse Be- dürfniss blosser Nebengrund, wenn nicht gar Vorwand war, nur für die unwissende Masse es sich noch um das heilige Grab, bei den klarer Blickenden um Schwächung der kaiserlichen Macht, um Eroberung Konstantinopels , um vortheilhafte Handels - und andere Verträge handelte, so dass zuletzt ein von muselmännischen Ideen inficirter Kaiser , ein anerkannter Feind der Kirche , auf dem Wege des Vertrags mit den Ungläubigen Jerusalem wieder gewinnt, wäh- rend'der wirklich fromme, als Heiliger verehrte, König von Frank- reich als ein Reactionär erscheint , der vergeblich für eine verlorne Sache kämpft, gerade so muss auch in dem Diagramm jenes Gan- ges, der Entwickelung des scholastischen Aristotelismus , die von Albert eroberte, von Thomas behauptete, von Dunle gefeierte Herrschaft des Glaubens über die Weltweisheit sich als vorüber- gehende erweisen. Parallel dem, dass zuletzt die Kreuzzttge, an- statt die Zwecke der Kirche zu fördern , nur neue welthche Schöp- fungen ins Leben rufen und die weltlichen Interessen befriedigen, muss aus der Unterwerfung des heidnischen Weltweisen unter das Dogma eine Philosophie sich entwickeln, welche dem Dogma den Dienst aufsagt.

§. 211. Ganz abgesehen aber von jenem Parallelismus, lässt sich er- klären, warum das Hineinnehmen des Aristotelismus in die Scho- lastik den kirchlichen Charakter derselben fährden musste. Was der Kirche so unverfänglich schien , dass Aristoteles für die Wahr- heit ihrer Lehre zeuge, ist genauer betrachtet eine für sie sehr bedenkliche Sache. Offenbar wird die Glaubwürdigkeit dessen , der zum Zeugen aufgerufen wird, liöher gestellt als dessen für den gezeugt wird, und wer sich gewöhnt, zu fordern, dass Aristoteles und seine Commentatoren für die Kirchenlehre Gewähr leisten, ist nicht sicher davor, statt des Zeugnisses des heiligen Geistes vor Allem nach dem Zeugnisse des Geistes zu suchen, der dem Ari- stoteles seine Schriften , den Arabern ihre Commentare eingab. Die- ser Geist war der der Weltbewunderung , ja Weltvergötterung , ge- wesen, und das Beispiel des Albert und Thomas zeigt, wie frühe schon das Studium jener Weltweisen dahin bringt, sich für die Welt, die sinnliche wie Albert, die sittliche wie Thomas, zu in- teressiren. Wird die Bekanntschaft mit diesen Weltweisen noch genauer, und steigt damit die Ehrfurcht vor ihnen, so ist unver- meidlich: ein gesteigertes Verlangen, die Welt zu erkennen und in ihrem wissenschaftlichen Erfassen Befriedigung zu finden. Der

III. Verfallperiode. Roger Bacoii. §. 212. 1. 405

jüngere Zeitgenosse des Alhert, Boger Bacon. beweist dies. Nicht fähig, wie jener, den Zwecken seines Ordens seine naturwissen- schaftlichen Liebhal)ereien zu opfern , hat er \ielmehr dem Studium der Weltweisheit, und mehr noch der ^Yelt selbst, zuerst sein Vermögen, dann sein friedhches Zusammenleben mit seinen Ordens- genossen, endlich seine Freiheit zum Opfer gebracht. Man kann sich manchmal des Lächelns nicht erwehren, wenn man sieht, wie künstlich dieser personificirte Wissensdurst sich selbst oder seine Leser, oder auch beide, zu überreden sucht, alles Wissen interes- sire ihn nur um kirchlicher Zwecke willen. Niemand hat es ihm geglaubt. Die Nachwelt nicht, die ihn darum von den bisher be- trachteten Scholastikern zu trennen pflegt, die Mitwelt nicht, die ihm als einem weltlich Gesinnten misstraute.

§. 212. '

Roger Bacon. Emüe Charles Roger Bacon, sa vie, ses ouvrages, ses doctrines. Paris 1861.

1. Bogervs Baron, einer wohlhabenden englischen Famihe an- gehörig, ist im Jahre 1214 in Ilchester geboren, hat zuerst in Oxford das trlr'ntm durchgemacht und dabei durch angestrengten Fleiss sich ausgezeichnet. Dann begab er sich nach Paris, wo er sich ganz dem Studium der Mathematik ((jnaflnriiint) hingab, an welche sich das der eigentlichen Facultätswissenschaften , der Me- dicin, des (namentlich des kanonischen) Rechts, endlich der Theo- logie, anschloss. Mit dem Doctorhute geschmückt kam er nach Oxford zunick, und ist wohl erst dann in den Franciscanerorden getreten. Es geschah auf den Rath des gelehrten Bischofs von Lincoln, Bohert Grossei elf. eines der wenigen Männer, vor dem Boger Hochachtung zeigt. Ausser den Büchem war Umgang mit berühmten Gelehrten, Unterricht, den er armen Jünglingen gab, besonders aber physikalische Expeiimente seine Beschäftigung. Die letztern zehrten allmählich sein ganzes Vermögen, gegen 2000 Pfund, auf, und, gerade wie der von ihm hochverehrte Piccarde Petriis de Makdiintria . muss er fortwährend erfahren, wie Geldmangel die Fortschritte der Wissenschaft hindert. Dazu kam noch, dass namentlich seit dem Tode seines Gönners Grossetete (1253) sein ganzes Treiben dem Orden verdächtig und ihm von seinen Oberen verboten ^ird , seine Entdeckungen niederzuschreiben und Anderen mitzutheilen. Vielleicht ward ein Versuch zum Ungehorsam sogar mit strenger Haft bestraft. Ein zehnjähriger Aufenthalt in Frank- reich von 1257 67 war wohl ein als Strafe verhängtes Exil. Da musste es ihm natürlich sehr willkommen seyn, dass der Papst

406 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

Clemens IV, der als römischer Legat in Eiiglanrl ihn kennen ge- lernt hatte, ihn aufforderte, seine Ansichten über Philosophie für ihn, den Papst, niederzuschreiben. Da keine Beglaubigungsschrift ihn gegen seine Oberen sicher stellte, keine Geldsendung ihn für die nothwendigen Auslagen entschädigte, so waren die Schwierig- keiten ungeheuer. Dennoch vollendete Hogcr in fünfzehn Monaten sein eigentliches Werk, das Opus majus, das er durch seinen liieb- lingsschüler , Johann von London, nach Rom schickte, ausserdem aber noch eine Erläuterungs - und eine Einleitungsschrift, das Opus minus und das Opus tertium, die beide er durch eine an- dere Gelegenheit übersandte. Ein Jahr darauf, bald nach Bacons Rückkehr in Oxford, starb der Papst Clemens und unter seinem Nachfolger hatte Uoger so wenig Gönner, dass, als er wegen Ver- dachtes magischer Künste von seinen Oberen eingekerkert ward, eine Appellation an den Papst fruchtlos blieb. Wie lange er im Kerker zugebracht hat, ist nicht zu entscheiden. Gelebt hat er wenigstens bis zum Jahre 1292. Sehr viele Titel von Büchern, die ihm zugeschrieben werden, bezeichnen wohl Theile seines grösse- ren Werks. Gedruckt wurde bisher: Speculum Alchimiae 1541. De mirabili potestate artis et naturae Paris 1542. Libellus de retardandis S'mectutis accidentibus et de senibus conservandis Oxon. 1590. Sanioris medicinae magistri D. Rogerii Baconis Angli de arte Chymiae scripta 1603. Rogeri Baconis Angli viri eminentis- simi pcrspectiva Franko! 1614. Specula mathematica Frankof. 1614. Alle diese Schriften habe ich nie gesehn. Darum sey es auch nur als Vermuthung ausgesprochen , dass die Perspectiva das fünfte Buch des Opus majus, und das an zweiter Stelle genannte Werk die Epistola de secretis operibus artis et naturae seyn möchte. Die mir bekannten Werke sind: Opus majus ed. Jebb London 1733 (dabei ist aber der siebente Theil, die philosophia moralis, weg- geblieben). Opus minus (unvollständig) und Opus tertium (ganz), so wie Compendium philosophiae , wie sie London 1859 in 8^ von J. S. Brcwer herausgegeben sind. Als Anhang dazu ist auch die, schon früher gedruckte, Epistola de secretis operibus artis et na- turae, et de nullitate magiae wieder abgedruckt.

2. Da der Auftrag des Papstes nur die Philosophie betraf, nach Bogers Ansicht aber es nur vom Wohlwollen des Papstes abhing, ob zur Förderung der Wissenschaft die nöthigen Geldmit- tel zu Gebote gestellt würden, so ist es erklärlich, warum er bei jeder Gelegenheit die Philosophie als Stütze der Theologie dar- stellt, und auf den Nutzen hinweist, den sie dem kirchlichen Le- ben , der Bekehrung und wo es nöthig der Ausrottung der üngläu-

III. Verfallperiode. Roger Bacou. §. 212. 2. 3. 407

bigeii gewähren könne. Philosophie aber fällt ihm ganz mit der Lehre des Aristoteles zusammen , an den sich Arkcnna als zweiter, Arerroes erst als dritter Philosoph anreiht. Obgleich alle drei Ungläubige, haben sie doch die Philosophie von Gott empfangen, und werden von ihm so sehr als Autoritäten angesehn, dass, na- mentlich bei Aristoteles, er wiederholt Uebersetzmigsfehler annimmt, um ihn nur nicht eines Irrthums zu zeihen. Obgleich er, dem Grimdsatze gemäss eee/esiae scrrire regnare est Op, tert. 82, die Aristotelische Philosophie in den Dienst der Kirche bringen will, so will er durchaus nicht, dass man ihn zu Alexander (s. oben §. 195), zu Athert (§. 199—201) oder rhomas (§. 203) stelle. Den ersteren behandelt er ziemlich wegwerfend, die anderen beiden „diese Knaben , die Lehrer wurden ehe sie gelernt hatten" mit of- fenbarem Hohn. (Auf Thomas gehen die bittern Ausfälle im Op. minus und tertium auf die dicken Bücher über den Aristoteles von einem plötzlich berühmt gewordenen Philosophen, der kein Griechisch verstehe u. dgl.) Die Theologie dieser Männer sey nichts werth, da sie, anstatt den Text, die Sentenzen erklären als seyen diese mehr werth als jener, und ihre Philosophie, die zuletzt alle wahre Theologie verdränge, tauge Nichts, weil ihnen die Vorbe- dingungen abgehen, ohne die einmal man in der Philosophie nicht fortkomme: Kenntniss der Sprache, in welcher die grössten Leh- rer der Philosophie schrieben, und Kenntniss der Mathematik und Physik, durch welche sie zu ihren Erkenntnissen kamen.

3. Das Opus majus, das mit Recht in manchen Handschriften den Titel führt de utilitate scientiarum, auch wohl später als de emendandis scientiis citirt wird, will zeigen, welches der wichtig- ste Weg sey, um zur wahren, auch der Kirche nützlichen, Phi- losophie zu gelangen. In seinem ersten Theile (p. 1 22) wer- den als die Hindernisse die, auf Ansehn, Gewohnheit und Nach- ahmung gegründeten, im stolzen Eigensinn festgehaltenen, Vorur- theile angeführt, und die Einwendungen, dass sich ja die Kii'che gegen die Philosophie erklärt habe, dadurch widerlegt, dass es sich dort um eine andere Philosophie handle, nur dass auch die Kirche selbst später andere Bestimmungen getroffen habe. Der zweite Theil (p. 23 43) bespricht das Verhältniss von Theolo- gie und Philosophie , die beide von Gott, dem alleinigen intelleetus ayeiis, eingegeben seyen, uiid in diesem Verhältniss zu einander stehn , dass jene angebe , wozu die Dinge von Gott bestimmt seyen, die Philosophie aber: wie und wodurch ihre Bestimmung erfüllt wird. Darum stimme die Bibel, welche den Regenbogen hervor- treten lasse, damit das Wasser sich zerstreue, ganz mit der Wis-

408 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

senschaft, welche lehrt, dass der Kegenbogen bei der Zerstreiiimg des "Wassers entsteht, überein. Es wird dann erzählt, wie die göttliche Erleuchtung von dem ersten Menschen auf die späteren sich fortgepflanzt und die Philosophie im Aristoleles und seiner Schule zu dem Höhenpunkte sich erhoben habe , auf dem der Christ sie aufnehme, um ihr für seinen Glauben Beweise zu entnehmen, und wieder aus seinem Glauben Vieles zu ihr hinzuzuthun.

4. Mit dem dritten Theil (p. 44—56) wird erst zu der eigent- lichen Aufgabe übergegangen. Wer daraus, dass dieser Theil de utilitate grammaticae handelt, ein Einverständniss mit der alten hibernischen Methode Cs. ol)en §. 153) folgern wollte, vergässe, dass Boffcr sich immer sehr wegwerfend über die formelle Geistesbil- dung äussert, welche der Unterricht in den Trivial - Classen gibt. Grammatik und Logik ist nach ihm Jedem angeboren, und die Namen für das, was jeder kann, haben keinen grossen Werth. Was er will, ist nicht die Grammatik als solche, sondern die (/ram- matica aliarum I'nigiiaruiiu d. h. er will, dass man vor Allem He- bräisch und Griechisch lerne, um die Bibel und Aristoteles , Ara- bisch um den Arireiiva und ArerrnVs zu lesen, denn die Ueber- setzungen, sogar der heiligen Schrift, seyen nicht ganz richtig, die der Philosophen aber so schlecht , dass es wünschenswerth sey , Aristo- teles wäre nie übersetzt, oder seine üebersetzungen würden ver- brannt. Die meisten üel)ersetzer haben weder die Sprache noch den Gegenstand verstanden; eine Menge von Beispielen werden an- geführt, um zu zeigen, wie die vernachlässigte Linguistik sich rächt. In dem opus tertium wird noch besonders darauf aufmerksam ge- macht, wie in Folge dessen namentlich in Paris die Dominicaner, durch ganz willkührlich ersonnene Conjecturen, den Text der Bibel verfälscht haben. Also anstatt der Grammatik und liOgik, dieser scientine acridevtales , sollen lingune getrieben werden. Nicht aber sie allein , sondern auch doctrina , und zwar vor allem Anderen die

5. Mathematik, deren Wichtigkeit im vierten Theile (p. 57 255) dargethan wird , so aber , dass unter diesem Namen alle Disci- plinen des gvadririi zusammengefasst werden. Die Mathematik, dieses alphabctvm plnlosoplriae nach Op. tert.,'ist die Grundlage aller Wissenschaften, der Logik wie der Theologie. Der letzteren steht besonders nahe der Theil der Mathematik, der es mit den Himmelskörpern zu thun hat, die ustrologia spenilatira \m& pra- cticd. Der böse Euf, in welchen die Astrologie gekommen ist, beruht auf einer Verwechslung derselben mit der Magie. Mit die- ser beschäftigt sich Boger, nachdem die Arithmetik und Geome- trie nur flüchtig berührt sind, in dem Op. maj, fast ausschliess-

m. Verfallperiode. Roger Bacon. §.212, 5. 6. 409

lieh. Dagegen enthält das Op. tert. sehr genaue Untersuchungen über die Musik. In der Partie des grösseren Werks, wo von der Astrologie gehandelt wird, werden besonders Ptolomäus und Al- hazen als die unübertroffenen, oft als die unübertrefflichen , Meister gepriesen. Auf astronomischen Kenntnissen beruht nicht nur das Verständniss vieler Stellen der h. Schrift, sondern eben so alle geographischen und chronologischen Erkenntnisse, ohne die es we- der Missionen noch ein geordnetes Festleben geben könnte, wie denn der Zustand des Kalenders eine Schmach ist und der ener- gischen Hand eines wissenschaftlich gebildeten Papstes bedarf. Endlich aber muss auch der Macht der Constellationen gedacht werden, die, wenn sie gleich durch Gottes Gnade überw^unden w^erden kann, immer wichtig genug ist, und deren Erkenntniss uns u. A. die trostreiche Gewissheit gibt, dass unter allen sechs Religionen keine unter einer so glücklichen Constellation geboren ist wie die christliche, und dass der durch seine Constellation be- stimmte Verlauf des Muhamedanismus seinem Ende entgegen geht. Die Freiheit des Willens soll mit der Macht der Sterne eben so vereinbar seyn, wie mit starken "Versuchungen zum Bösen. Eine ausführliche Beschreibung der damals bekannten Welt, bei wel- cher besonders die so eben durch den Franciscaner Wilhelm heim- gebrachten Nachrichten benutzt werden, der an den Enkel des Dschingis Khan abgesandt gewesen war, schliesst diesen Theil des Werks , in Avelchem auch ärztliche Rathschläge mit Bezug auf Con- stellation und geographische Lage gegeben werden.

6. In dem fünften Theile (p. 256 ^444) wird als von einer besonders wichtigen Wissenschaft von der Perspecfirn (Optik) ge- handelt, imd zwar zuerst ganz allgemein vom Sehen, dann wie es durch directe, gebrochene und reflectirte Lichtstrahlen vermit- telt wird. Anthropologische Untersuchungen über die anlmn sen- sHirn werden vorausgeschickt. Ausser den fünf Sinnen zeigt diese den sensifs commintis, durch den jede Empfindung erst die unsrige wird, ferner die vis imag'mn1ir<i . welche die Empfindungen fixirt, dann die ris aesthnafwa , welche sich beim Thier als Witterungs- vermögen zeigt, endlich die vis inemoratlru. Die beiden letzteren Vermögen haben in dem hinteren, die zuerst genannten im vor- deren Gehirn ihren Sitz. In der mittleren Hirnhöhle thront die ris cogiUitiva oder logisdca . mit der sich, nur im Menschen, die anima rationalis verbindet. Was nun das Organ des Sehens be- trifft, so wird eine genaue anatomische Beschreibung des Auges gegeben, und gezeigt, wodurch das undeutliche, doppelte, ver- kehrte Sehen vermieden ist. Plolemaevs . Alhazen und Ariceima

410 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

werden dabei besonders benutzt. Dabei polemisirt Iloger gegen die, welche das Licht ohne Zeit sich verbreiten lassen. Nur die grosse Geschwindigkeit lasse den Zeitverlust unmerklich werden. Beim Sehen ist zu unterscheiden, was reine Empfindung ist und was per scientlnm et syllogisminn geschehe; in jedes Sehen, auch des Thiers , mischt sich Urtheil. Mit Hülfe geometrischer Constructio- nen wird gezeigt, wie wir es in unserer Gewalt haben Lichtstrah- len und Bilder durch ebne, concavc und convexe Spiegel hinzu- bringen wohin wir wollen.

7. Als ein Anhang zu den bisherigen Untersuchungen erscheint der Tractatus de multiplicatione specierum (p. 358 —444). Mit dem Namen specics {slmuUicrinn , Idolum. phanlasma, intentio, intprcssio, iimbra philosophorvin u. a. m.), bezeichnet Bogcr das, wodurch Etwas sich offenbart, also ein ihm Wesensgleiches, das nicht von ihm abfliesst, sondern vielmehr von ihm, und von dem dann wieder eben so Eines, erzeugt wird, so dass es sich darin successiv wirklich fortpflanzt. So also manifestiren sich Licht, Wärme, Farbe u. s. w. in ihren species; nur von dem Ton lässt sich das nicht behaupten, da das sich Fortpflanzende offenbar et- was Anderes ist, als das ursprüngliche Erzittern eines Körpers. Nicht nur Accidenzien, sondern auch Substanzen, und diese nicht nur durch ihre Form, sondern ganz, können sich offenbaren, d. h. ihre species ausbreiten, die dann selbst etwas Substanzielles seyn wird. Diese Offenbarung ist aber nicht ein Eingiessen oder ein Eindruck in das unthätige recipiens, sondern eine Anregung zum Mithervorbringen, so dass die species von beiden erzeugt wird so wie z.B. das Licht der Sonne das im Monde erzeugt, der, wenn ei- bloss reflectirtes Licht hätte, nicht überall gesehen werden könnte. Indem aber an jedem Punkte die so erzeugten species wieder welche erzeugen, entsteht eine Mehrung und Kreuzung der verschiedenen, primären und secundären, Bilder, die u. A. es er- klärlich macht, warum auch die Ecke des Zimmers, in welche das durchs Fenster eintretende Sonnenlicht nicht fällt, erhellt wird. Alle diese species bewegen sich in unorganischen Medien gerad- linicht, in den Nerven auch in krummen Linien. Durch concave Spiegel, namentlich wenn sie nicht sphärisch, sondern in einem dem Oval sich nähernden Kegelschnitt geschliffen, Hessen sich die Son- nenstrahlen an jedem beliebigen Punkte concentriren , und im Kriege (z. B. gegen die Ungläubigen) Wunder thun. Ein Freund , sagt er im Op. tert. , sey diesem Spiegel ganz auf der Spur, derselbe sey aber auch Ldiinorinn sapientissiiiiiis. Diese species sind nichts Geistiges; sie sind körperlich wenn gleich incomplet und den fünf

III. Verfallperiode. Roger Bacon. §. 212, 7. 8. 411

Sinnen nicht walirnelimbar. Nur so seyen die grossen Optiker Ptolemävs und Alh<tzcn zu verstehn, die hier sine {'(ilsitate (jiia- libet dociren. Dass jene apecies mit Avachsender Entfernung vom eigentlichen ayens schwächer werden, ist natürlich, eben so auch, dass je näher der Empfangende dem Einwirkenden steht, d. h. je kürzer die Wirkungspyramide ist, deren Spitze das revipicns bil- det, dass um so mächtiger die Wirkung seyn muss.

8. Der sechste Theil (p. 445— 477) handelt von der srien- fiii experhitcntnlis. Da nach Arlsioleles die letzten Principien al- ler Wissenschaften nicht selbst wieder bewiesen werden können, und also durch Erfahrung gefunden werden, so kann es als der eigenthüraliche Vorzug der scientia cxperimcnUdis angegeben wer- den, dass in ihr Principien und dass daraus Erschlossene in glei- cher Weise gefunden wird. Als Beispiel, wie durch experimentel- les Verfahren die Natur von Etwas erkannt wird , zeigt er, wie das Factum, dass jeder seinen eignen Regenbogen sieht, auf seine Entstehung aus dem zurückgeworfenen Lichte zurückschliessen und ihn selbst als nichts Wahrhaftes, sondern eine blosse Erscheinung erkennen lässt. Auf dem Wege der Erfahrung , auf dem das Meiste gefunden wird, ehe man die Gründe erkennt, soll unter Anderem auch nach jenem Gleichgewicht der Elemente gesucht werden, das, wenn es im Menschen gegeben wäre, den Tod unmöglich machen, wenn in den Metallen, das reinste Gold herstellen müsste, da ja Silber und jedes andre Metall nur unverdautes Gold ist. Jenes Gleichgewicht ist noch nicht gefunden, aber schon jetzt ist auf dem Wege der Erfahrung Vieles und sehr Wichtiges gefunden, so ein nicht zu verlöschendes, dem griechischen ähnliches, Feuer, so jene salpeterhaltige Substanz, die in einem kleinen Rohr entzündet ein dounerartiges Krachen erzeugt, so die Anziehung zwischen Eisen und Magnet oder auch zwischen den beiden Hälften einer gespaltenen Haselruthe. Seit er dies gesehen, sagt er in den se- cret. operib. nat., sey ihm nichts mehr unglaublich. In derselben Schrift sagt er auch, man könne Wagen und Schilfe bauen, die ohne Segel und Pferde sich selbst pfeilschnell fortbewegten. Eben daselbst und auch in dem Op. maj. sagt er, dass, da die schein- bare Grösse des Gegenstandes von dem Winkel der im Auge zu- sammengehenden Strahlen abhänge, man concave und convexe Gläser so einrichten könne, dass der Riese zum Zwerg, der Zwerg zum Riesen werde. Gewiss hat Hoyer Bacon sehr Vieles gewusst was kaum Einer unter seinen Zeitgenossen gewusst hat. Man darf sich aber doch nicht dagegen verblenden, dass gerade dort, wo er die Ignoranten verhöhnt, die kein Griechisch kennen, er beim

412 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

Etymologisiren dia und ovo verwechselt; dass, wo er am Meisten auf die Mathematik pocht, er vornehm den Aristoteles bedauert, der die Quadratur des Kreises noch nicht gekannt habe. Auch dass er sich erbietet. Einen in drei Tagen dahin zu bringen, dass er Hebräisch oder Griechisch lesen und verstehen solle, und je eine Woche für hinreichend hält für den arithmetischen und geo- metrischen Unterricht (Op. tert.), macht einen etwas seltsamen Ein- druck.

9. Die Moralphilosophie, welche den siebenten Tlieil des Op. maj. bildet, und worauf sich Bacon im Op. tert. vielfach beruft, ist leider von Jebb nicht herausgegeben. Aus dem Op. tert. geht hervor, dass dieselbe unter sechs verschiedenen Gesichtspunkten dargestellt werden soll: theologisch, politisch, rein ethisch, apo- logetisch, paränetisch , endlich juristisch. Nach dem Op. tert. muss man vermuthen, dass der fünfte Abschnitt, welcher die Beredsam- keit behandelt, deren Theorie er theils der Logik theils der prak- tischen Philosophie zuweist, sehr streng über die damalige Predigt- weise geurtheilt habe. Den Frater BerthoUlns Alemannns preist er als einen Prediger, der mehr leiste als die beiden Bettelorden zusammen. Ueberhaupt kann man sich des Gedankens nicht er- wehren, dass Tioffer, wenn er, anstatt Franciscaner zu werden , den Versuch gemacht hätte, als sccnlaris an der Pariser Universität zu lehren, sein Geschick günstiger gestaltet und mehr Erfolg und Befriedigung gehallt hätte.

§. 213.

Dass, wie Ho(/er Barons Beispiel lehrt, der in die Schola- stik hineingeuommene Aiistotelismus sie der Kirche entfremdet, dies könnte Einer als Beweis ansehn, dass nur ein ihr fremdes, in sie hineingetragenes, Element sie dazu bringt. Aber ganz ab- gesehn vom Aristotelismus lässt sich aus dem Begnff der Schola- stik nachweisen, dass sie früher oder später dazu gelangen muss. Die scholastische Philosophie hatte (vgl. §. 151) die Kirchenlehre von den Vätern überkommen. Der Inhalt derselben stand ihr un- wandelbar fest; sie selbst hatte denselben nur, in ihrer ersten Pe- riode dem Verstände, in ihrer Glanzperiode den Forderungen der Weltweisheit gemäss, zu formen. Weil der Lehrinhalt gar nicht in Frage gestellt wurde, so hat die Kirche das geduldet, ja ge- fördert. Sie bedachte nicht, dass womit sich eine Philosophie vor Allem, ja allein, beschäftigt, für sie der Haupt-, ja der alleinige Gegenstand werden muss, dass dagegen Alles, was sie als unan- tastbar ausserhalb ihrer Bereiches setzt, aufliört für sie da zu seyn. Eine Philosophie, die sich um den Inhalt der Kirchenlehre gar

in. VerfaUperiode. Duns Scotus. §. 214, 1. 413

nicht zu mühen hat, desto mehr aber um das verständige und wissenschafthche Beweisen, muss, wo sie sich über sich selber be- sinnt, die Entdeckung machen, dass jener Inhalt ilire kleinste Sorge ist, dagegen Verstand und Wissenschaft ihre grösste, d. h. sie muss zum Bruch mit der Kirchenlehre kommen. Bis jetzt hat sie, ganz in ihr Thun vertieft, sich nicht über dasselbe besonnen. Fängt sie es aber an, so muss darin, da Philosophie ja Selbstver- ständniss gewesen war (vgl. §. 29), mehr Philosophie, also ein Fort- schritt, gesehen werden, auch wenn daraus der Untergang der bisherigen Gestalt folgen sollte. Diesen Fortschritt macht Diuts Seouls, dessen Hauptunterschied von Thomas nicht in den Lehr- punkten liegt, in denen sie von einander abweichen, sondern da- rin: dass dem Tliomits die zu beweisenden Lehren, dem Duns eben so sehr, ja oft viel mehr als sie, die Beweise für diese Lehren der eigentliche Gegenstand sind. Lieber der Kritik der Beweise vergisst er oft die Entscheidung über die Lehre. Dass, was die bisherige Scholastik thut, für ihn Object wird, das ist der Grund, warum er denen als sehr abstrus erscheinen muss, die ihn mit Thomas vergleichen in der Voraussetzung als verfolgten sie ein und dasselbe Ziel. Es geht ihm da, wie es am Ende des achtzehnten Jahrhunderts Fichte ging, wenn man die Lehren der Wissenschaftslehre abstrus fand im Vergleich mit den Schriften, welche vom Gewussten redeten, während Fichte vom Wissen des- selben sprach. In beiden Fällen waren, die das Abstruse schrie- ben, gerade die klareren Köpfe.

§. 214. Johannes Buns Scotus. 1. Würde die Streitfrage, ob er ein Engländer, Schotte oder Irländer? darnach zu entscheiden seyn, welches Land sich die Ausbreitung seines Ptuhmes am Meisten angelegen seyn Hess, so gehört er ohne allen Zweifel Hibernien an. Nicht Duns in Schott- land, nicht Dunston in England, sondern Dun im nördlichen Ir- land sah denn im J. 1274 (nach Anderen 126(3) die Geburt des Mannes, dessen Name Scotus nach Einigen den Irländer be- zeichnen, nach Anderen ein Familienname seyn soll. Früh in den Franciscanerorden getreten hat er in Oxford, mehr aus Büchern als durch mündliche Belehrung, gelernt und ist sehr jung ebenda- selbst Magister in sämmtlichen Wissenschaften geworden. Hier hat er auch seine Erläuterungen zu den Schriften des Aristoteles, so wie seinen vollständigen Commentar zu den Sentenzen (das Opus Oxoniense oder Ordinarium) geschrieben. Im Jahre 1304

414 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

kam er nach Paris, wo er durch seine siegreiche Vertheidigung der conceptto immaculnia b. Virginis den Beinamen des Doctor suhlllis erwarb, und von da an alle übrigen Lehrer, den Provin- zial des eignen Ordens mit eiirbegriffen , verdunkelte. Der Com- mentar zu den Sentenzen ward hier umgearbeitet; manche spätere Distinction vor der früheren, so die des vierten Buches vor denen des zweiten, dabei auch nicht alle. Was sich bei seinem Tode vorfand, ward zusammengestellt und gab die Quaestiones reportatae oder Reportata Parisiensia oder das Opus Parisiense (Parisineum), das an Form eben darum dem Oxoniense weit nachsteht, an Be- stimmtheit und Klarheit dasselbe übertrifft. Im J. 1308 ward Diins nach Cöln geschickt, um ein Schmuck der dortigen Schule zu wer- den. Den mehr als fürstlichen Triumphzug hat er nur kurze Zeit überlebt, da er im November desselben Jahres eines raschen To- des gestorben ist.

2. Die in Lyon im J. 1639 herausgekommene Ausgabe seiner Werke in zwölf Foliobänden (R. P F. Joannis Duns Scoti, docto- ris subtilis ordiiiis minoruni opera omnia quae hucusque reperiri potuerunt, coUecta, recognita, notis scholiis et commentariis illu- strata a PP. Hibernis Collegii Romani S. Isidori Professoribus) wird gewöhnlicli nach dem gelehrten Annalisten des Franciscaner- ordens, Irinas Wadd'uty , genannt, der auch wirklich ein grosses Verdienst um die Herausgabe erworben und sie mit einer Biogra- phie des Üiuis versehen hat. Uebrigens enthält diese Ausgabe nur „quae ad rem speculativam s. dissertationes scholasticas spectant"; die „positiva s. S.Sae commentarii" werden für eine andere Samm- lung versprochen. Diese sollte die Commeutare zu der Genesis, den Evangelien, den Paulinischen Briefen so wie Predigten enthal- ten. Die Lyoner Gesammtausgabe fehlt auf den meisten deutschen Bibliotheken (die Exemplare sollen meistens nach England gewan- dert seyn). Sie enthält: Im ersten Bande die LogicaUa, nämlich die, fälschlich dem Duns abgesprochene, Grammatica speculativa (p. 39 76), dann commentirende Quaestiones in universalia Por- phyrii (p. 77 123), in librum Praedicamentorum (p. 124 185), zwei verschiedene Redactionen von in libros perihermeneias (p. 186 223), in hbros elenchorum (p. 224 272), in libros analyticorum (p. 273 430). (Eine ausführliche Expositio des Erzbischofs von Thuam zu der Schrift über den Porphyrius bildet einen Anhang.) Der zweite Band enthält: in octo libros Physicorum Aristotelis, wovon Wuddlng die Unächtheit nachweist. Dagegen sind acht: Quaestiones supra libros Aristotelis de anima (p. 477 582), die der Franciscaner Hugo Carellits im Sinne des Dims fortzusetzen

lU. Verfallperiode. Duns Scotus. §. 214, 2. 415

versucht bat. Der dritte Band enthält: Tractatus de rerum prin- cipio (p. 1—208), de primo principio (209 259), Theoremata (260 340), Collationes s. disputationes subtilissiniae (341 420), Col- lationes quatuor nuper additae (421 430), Tractatus de cogni- tione Dei unvollendet (p. 431 440), de formalitatibus (441 ff.), Quaestiones niiscellaneae und Meteorologicoruni libb. IV bilden den Schluss dieses Bandes. Der vierte enthält die Expositio in duo- decini libros Aristotelis Metaphysicorum, welcher der Herausgeber einen ausführlichen Beweis der Aechtheit vorausgeschickt hat. Da- mit contrastirt ein kurzes Nachwort, in dem, nachdem gesagt wor- den: das 13**" und 14** Buch conimentire Niemand „nee ipsos ali- quando vidi", hinzugefügt wird, der Verfasser sey stets dem Jo- hannes Diins gefolgt, ., cujus verba frequenter reperies". Die Con- clusiones metaphysicae und Quaestiones in Metaphysicam schliessen sich an die Expositio an. Die folgenden sechs Bände (Bd. 5 -10) enthalten den Oxforder Commentar, so dass je einem Buche ein Band, nur dem vierten Buche drei Bände, entsprechen. (Die be- gleitenden Conmientare des LyclefifS; Pomins. Care/lns. HüjiKieits u. A. bewirken diese Ausdehnung.) Der eilfte Band enthält die Reportata Parisiensia, der zwölfte die Quaestiones quodlibetales, die Dinia bei Gelegenlieit seiner zweiten (Pariser) Doctorpromotion nach gewohnter Weise beantwortet und dann später ausgearbeitet, vielleicht auch, was gleichfalls gewöhnlich war, mit Zusätzen berei- chert hat. Der Oxforder Commentar so wie die Quodlibetales sind öfter gedruckt. So z. B. in Nürnberg 1481 von Kobnrger. Eben so die Reportata Parisiensia, so z. B. Paris 1517 von Joannes Ma- jor als nunquam antea iinpressa. Ferner Colon. 1635: Quaestiones reportatae per Ilugonem Cavellum noviter recognitae u. s. w. Der Text in der Gesammtausgabe weicht von dem dieser älteren Aus- gaben sehr ab. Nicht nur, dass der Herausgeber wie Cacelhts die Quästionen in, dem Opus Oxoniense entsprechenden Abtheilungen (Svliolia) zerlegt hat, die sich in der älteren Ausgabe nicht finden, er nimmt sich auch die Freiheit, gar zu kurze Ausdrücke zu am- pUficiren, gar zu barbarische mit seiner Ansicht nach besseren zu vertauschen , so dass er oft wirklich zum Paraphrasten wird. Wich- tiger ist, dass er vollständigere Manuscripte vor sich hatte. So fehlt z. B. in der Pariser und der Cöluer Ausgabe Lib. IV dist. 43 die dritte Quästion, indem bloss der Inhalt derselben angegeben ist. In der Gesammtausgabe ist sie sehr ausführlich erörtert; die vier Schollen dieser Erörterung befolgen im W^esentlichen densel- ben Gang wie das Opus Oxoniense, weichen doch aber soweit da- von ab, dass mau sieht, der Herausgeber gibt, mit stylistischen

416 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

Aenderungen, was Duns in Paris vorgetragen hatte. Die hier ge- gebnen Citate beziehen sich alle auf die Lyoner Gesamnitausgabe. 3. Fast der grössere Theil von den Auseinandersetzungen des Duns besteht in einer polemischen Kritik des Albert, Thomas. mehr noch des Heinrich von Gent, ferner des Aegid'uis Colonna, Bonaventura, Roger Bacon u. A,, und schon dieses legt den Ge- danken nahe, eine Parallele zwischen ihm und seinen Vorgängern zu ziehn. Da zeigt nun schon sein und der Dominicaner Aristo- telismus den Unterschied, dass Dans, freihch nicht ohne den Vor- arbeiten der Anderen viel zu danken, mit dem Aristoteles mehr vertraut ist, als sie. Nicht nur dass er aus Stellen argumentirt, die sie scheinen übersehen zu haben, sondern, die sie Beide an- führen, versteht er oft richtiger. So die, wo Aristoteles (s. oben §. 88, 6) von dem e.ctrinsccns adüenire der anima intellectira spricht; s. Pteport. Paris. IV. d. 23. qu. 2. Auch die sogleich zur Sprache kommenden Untersuchungen über die Individualität zeigen, dass Dnns mehr als die Anderen des Aristoteles Unterschied zwi- schen To Ti ian und zodi ri berücksichtigt. Wie geläufig ihm die synonymischen Untersuchungen der Aristotelischen Metaphysik, wie vertraut die Lehren der Topik waren, zeigt die unbefangene Art, in der er sich auf Beide bezieht. Gerade die gründlichere Einsicht aber in den eigentlichen Sinn der Aristotelischen Lehre musste auch den Gegensatz sichtbar machen zwischen dem was ihr Urheber, und was Bibel und Kirchenväter gelehrt hatten, da- rum aber auch den Frieden zwischen Philosophie und Theologie bedrohen. In etwas wird diese Gefahr dadurch gemindert, dass Duns nicht sowol die ursprünglichen Lehren Beider festhält, als vielmehr die Gestalt, zu der sie sich entwickelt hatten. Seine Theo- logie ist viel weniger bibhsch als kirchUch: Unser Glaube an die Bibel und daran dass die Apostel, irrthumsfähige Menschen, wäh- rend sie schrieben nicht irrten, stützt sich nur auf die Entschei- dung der Kirche (Report. Paris. III. d. 23). Eben so beruft er sich auf spätere Bestimmungen der Kirche , wenn er Augustinische Sätze als irrig verwirft (Op. Oxon. III. d. 6. qu. 3). Demgemäss erlaubt er sich der Bibel und den früheren Kirchenlehrern gegen- über Ergänzungen: der biblische Satz, dass das ewige Leben im Erkennen Gottes bestehe, hindert ihn nicht zu sagen es bestehe vielmehr in der Liebe, denn dort stehe ja nicht: im Erkennen ohne Liebe (Rep. Paris. IV. d. 49. qu. 2) ; dem Anselm gegenüber nimmt er das Recht in Anspruch, neue termini in die Theologie einzuführen (Op. Oxon. I. d. 28. qu. 2). Dagegen zeigt er eine solche Freiheit hinsichtlich der PäpstUchen Decrete nicht; die sind

in. Verfallperiode Diins Scotus. §. 214, 3. 4, 417

ihm entscheidend. Auch dies muss man charakteristisch finden, dass er viel öfter vom Aiiynsiin als von dem Lombarden abweicht. Weil der Gedanke bei ihm leitend ist, dass der heilige Geist die Kirche nicht still stehen liess, deswegen gibt er zu, dass die coii- cepfio immacuhila rirgbüs. dass manche kirchliche Gebräuche, wie Priestercölibat u. A., sich biblisch nicht begründen lassen, und hält sie dennoch fest (Rep. Paris. III. d. 3). Gerade wie die Theo- logie ihm nicht das Bibelwort ist, sondern daraus wurde, gerade so hat ihm auch die Philosophie seit Aristoteles nicht stille ge- standen. Zwar stellt er den Meister so hoch, dass er manchmal sagt: die Philosophie könne dies oder jenes nicht beweisen, denn sonst hätte Aristoteles oder sein Commentator, der maximits phi- losophvs Arerroes es bewiesen (Report. Paris. IV. d. 43. qu. 2). Dann aber beweist er ihm gegenüber doch auch viel grössere Frei- heit: Manches habe Aristoteles von seinen Vorgängern als etwas Wahrscheinliches aufgenommen (Ibid. IL d. L qu. 3), was wir jetzt besser verstehn; wo Aristoteles und sein Commentator sich wi- dersprechen, muss man sich für das Vernünftigere entscheiden (Quodl. qu. 7) u. s. w. Durch diese Zuversicht, dass sowol der Geist, welcher die Kirche leitet, als der welcher die Philosophie erzeugt, fortschreitet, war die Möglichkeit gegeben, unbefangener als bisher die ersten (Quellen der Theologie und Philosophie zu erforschen, und bei aller Verschiedenheit derselben die Hoffnung nicht aufzugeben, dass, was so ganz verschiedenen Quellen ent- sprang, doch zuletzt sich vereinigen könie.

4. Dazu kommt aber, dass die völlige Uebereinstimmung zwi- schen Kirchenlehre und Philosophie dem Diots gar nicht mehr so sehr am Herzen liegt, wie dem Thomas . darum aber auch lange nicht mehr so innig ist, wie bei diesem. Thomas ist, wenigstens mit, gemeint, wo Duns tadelnd von Solchen spricht, die Theologie und Philosophie vermengen, und weder Theologen noch Philosophen es recht machen (Op. Oxon. IL d. 3. qu. 7). Bei ihm selbst führt das Auseinanderhalten beider fast zur Trennung. Xicht nur dass er sagt, dass die Ordnung der Dinge, welche der Philosoph für die natürliche nimmt, für den Theologen eine Folge des Sündenfalls sey (Quodl. qu. 14), oder dass der Philosoph unter der Seligkeit die diesseitige, der Theolog die jenseitige verstehe (Rep. Paris. IV. d. 43, qu. 2), oder dass Philosophen und Theologen gang verschie- den über die potent ia aetira denken (Op. Oxon, IV. dist. 43. qu. 3 fin.), er geht noch weiter. Es kommt sogar vor, dass er sagt, ein Satz sey zwar wahr für den Philosophen, aber er sey falsch für den Theologen (Rep. Paris. IV. d. 43. qu. 3. Schol. 4. p. 848). Auch der

Erdiuano. Gesch. d. Philos. I. 07

418 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

Gegensatz PLUosopIn und Catliotici begegnet uns oft bei ihm. Der Nothwendigkeit, die aus solchem Gegensatz zu folgen scheint, zwischen Theologie und Philosophie zu wählen, dieser entzieht sich Diins dadurch, dass er, ähnlich wie Alber l nur viel entschiedner als dieser, der Philosophie den rein theoretischen, dagegen der Theologie, deren eigentlicher Inlialt Christus ist, vorwiegend prak- tischen Charakter beilegt. Dies geht so weit, dass er sagt, die Theologie Gottes, d. h. die Art wie Gott den Gegenstand der Theo- logie erfasst, sey praktisch und niclit speculativ (Disp. subt. 30), und dass er öfter bezweifelt, ob wohl die Theologie, da sie ihre Hauptsätze nicht streng zu Ijeweisen vermag, wirklich Wissen- schaft genannt werden darf? (Theorem. 14. Op. Oxon. und Ptep. Paris. IL d. 24). Thut man es aber, weil die theologischen Sätze doch nicht bloss ein Wissen von Principien, welchem eine emdeti- tia ex Icrmints zukommt, sondern ein aus jenen abgeleitetes Wis- sen zum Inhalt haben (Rep. Paris. Prol. qu. 1), so muss wenig- stens dies festgehalten werden, dass die Tlieologie eine, von allen andern Wissenschaften verschiedene, auf eignen nur für sie gel- tenden Principien beruhende ^^'issenschaft von mehr praktischem als speculativem Charakter ist. (Op. Oxon. Prol. qu. 4. 5.)

5. Sondert man nun, jenen Andeutungen gemäss, die rein philosophischen Untersuchungen des Dtms ab, und beginnt mit den dialektischen, so ist die Frage: wie stellt er sich zu den bis- herigen Lehren vom Allgemeinen V Er ist ein entschiedener Geg- ner derer, welche in dfn Allgemeinheiten bloss /ictio/ics inieile- ctiis sehen; da alle Wissenschaft auf das Allgemehie geht, so wird durch die eben erwähnte Ansicht alle Wissenschaft in blosse Lo- gik verwandelt. Die es thuu , werden von Dints als loi/iientes, als garruli u. s. w. ziemlich höhnisch behandelt, und wenn er sagt, dass cuilibct intim sidl < otrespitndrl in re afitjnis gnuhis enlitutis in fjno conceniiiiU vonieida s/ib ipso, so ist er ein Conceptualist, wie Abüldi'd und Gilbert gewesen waren (s. oben §. 163, 3). Gerade wie ArieeniKi aber und nach ihm Albert und Tliomas zugleich mit der conceptualistischen Formel in rebus, die realistische (lutc res und die nominalistische posi res festhielten (vgl. §. 184, 1. §. 200, 2), gerade so zeigt auch Dnns, dass er den Streit der Xominalisten und Realisten hinter sich hat. (Vgl. Op. Oxon. I. d. 3. qu. 4.) Er stimmt buchstäblich mit den eben Genannten überein, wenn er das Allgemeine erstlich existirend denkt als Urbild, forma, nach welchem die Dinge gebildet sind, zweitens in ihnen existirend als die (piiditus, die das Wesen des Dinges angibt, drittens dmxh unseren Verstand gefunden werden lässt, der es

III. Verfallperiofle. Duns Scotus. §. 214, 5. 419

als das Gemeinsame in deu Dingen von ihnen (und so posf res) abstraliire. Weil Dmis öfter das Wort viilrersnlp nur auf dies dritte Verhältniss beschränkt, haben Einige ihn irriger Weise zum Nominalisten gemacht. Und wieder, weil er die Allgemeinheiten, wie sie (niic res existiren, formae genannt hat, ist seine Ansicht, dem angegebenen Princip der Bezeichnung gemäss (s. oben §. 158), die formalistische genannt worden. Xicht eine geringere, sondern nur eine andere Art der Wirklichkeit soll den Vorbildern der Dinge zugeschrieben werden, wenn er sagt, sie existirten fonniili- Ipr. dagegen die Quiditäten realiter (oder iu re) ausser unserem Verstände. Es hat daher keinen rechten Sinn, wenn, wie in man- chen Darstellungen der Geschichte der Philosophie, jenem forma- lifer das Wörtchen Nur vorgesetzt wird. Vielleicht ward dies da- durch veranlasst, dass schon Oelam, wo er des Scoins Lehre an- führt, nach welcher die Universalien iu den Dingen, aber von den- selben , zwar nicht realilrr aber formaliler , verschieden seyen, formafifer favtinu zu sagen pflegt. Bis dahin also ist keine Dif- ferenz zwischen Thomas und Scotus sichtbar, sie wird es aber bei der Frage: wie und worin unterscheidet sich das Allgemeine und Einzelne? Wirklich (in iKituru) sind sie beide, oder, was das- selbe heisst: die Wirklichkeit verhält sich gleicbmässig (natura est indiffcreiis) gegen beide (Op. Oxon. IL d. 3. qu. 1). Der Un- terschied muss also in etwas Anderem liegen. Nach Thomas (§. 203, 5) individuirte die materia sipuafa. Weil sich aus die- ser Ansicht die , von der Kirche verworfene, Folgerung ergab, dass mehrere Engel nicht Individuen einer Art seyn können , so schliesst Dmis auf ihren ketzerischen Charakter zurück (de anim. qu. 22). Aber auch aus philosophischen Gründen ist sie zu verwerfen. Denn da nach Thomas die Materie eine Schranke und ein Mangel ist, so folgt nach seiner Tlieorie: es sey eigentlich eine Unvollkommen- heit, dass ein Ding hoe. eine Sache haee, ist. Im Gegensatz dazu behauptet nun Diais. dass was ein Ding zu diesem macht, etwas Positives {ultima realitas Op. Oxon. IT. d. 3. qu. 6), dass das In- dividuelle das Vollkommnere und das wahre Ziel der Natur sey. (Report. Paris. I. d. 36. qu. 4.) Die Individualität wird nun von Duns mit verschiedenen Namen bezeichnet. Nicht nur in der Ex- positio ad duod. libr. Met. Ar., ^ die man wegen der oben erwähn- ten Nachschrift für unächt erklären könnte, sondern auch in den Report, Paris. (IL d. 12. qu. 5) kommt der, später von den Sco- tisten oft angewandte Ausdruck haeceeitas vor, und zwar so dass damit bald das Einzeln- und Dieses -seyn selbst, bald wieder das, was das Einzelne zu diesem macht, verstanden wird. Andere Aus-

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420 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

drücke bei Dims sind: imltas siynata ut haec , hoc siynaiam hac sing}ilnrUn1e , indivuJuUas, nntiira ntomn u. a, (Op. Oxon. IL d. 3. qu. 4). Der stets wiederkehrende Vorwurf gegen Thotiuts ist, dass nach diesem was ein (juid zu einem hoc näher bestimmt (contrn- hlfj, ein Negatives sey, während- es als Positives, Vervollkomm- nendes, zu fassen sey (u. a. Op. Oxon. IL d. o, qu. 6). Im Gegen- satz zu dieser (pantheisirenden) Herabwürdigung der Einzelwesen soll aber nach Dinis nicht so weit gegangen werden, wie gewisse (atomisirende) Vergötterer derselben thun. Des Bruders Adam Be- hauptung, dass die materiellen Dinge c.r sc oder per sc Einzelwe- sen seyen, erschchit ihm al)göttisch und nominahstisch (Ibid. qu. 1), Ersteres weil es nur Gott zukommt, dass seine (juidiUts per se haec ist (Report, Paris. IL d. 3. qu. 1), Letzteres weil damit ge- leugnet wird, dass ausser der Einzelheit hi den Dingen etwas wirklich existire. Das Richtige ist nach ihm, dass in den Dingen, welche nicht wie Gott ptiriis actus sind, ihre Einzelexistenz etwas gleichsam Zusammengesetztes ist (Report. Paris. IL d. 12. qu. 8). Mit dieser verschiedenen Weise, wie die cssfiifia dhliui und wie die snbslaulia matcrialis eine und haec isl , hängt nun auch zu- sammen, dass, da jene den drei Personen gemeinschaftlich ist, es in Gott ein eoiinninw gibt, das doch realiter hidlrUhnnn (Op. Oxon. IL d. 3. qu. 1), während in dem Menschen zu der siiiynlaritas die incommimlhUitas hinzukommt (Quodl. qu. 19). (In dem Opus Oxo- niens. IIL dist. I. distinguirl er zwischen dem enmminiicahile ut fjuod, welches nur von dem sinyuUire llUmitatum. von Gott, prä- dich'f werden kann, so dass also jedes geschaffene Einzelwesen incommiinicahile ut rjtiod sey. Dagegen eine eommunicahUitas ut quo will er demselben zugestehu.) Wegen dieses Unterschiedes zeigt Dil HS öfter die Neigung, das Wort hidiridmiin auf das Ge- biet zu beschränken, wo es auch diridmuu gibt (Report. Paris. I. d. 23) und also nicht, Mie das oben geschah, das götthche We- sen Individuum zu nennen. Wie es aber genannt werde, immer bildet das individuelle Seyu die Voraussetzung für die Persönlich- keit: hidiiidnarl prhis est i/i/am personari (Report. Paris. III. d. \. qu. 8) gilt vom göttlichen wie vom menschlichen Seyn.

6. Geht man von den dialektischen Untersuchungen zu den eigentlich metaphysischen über, so bestimmt Dims als den ersten Gegenstand derselben, so wie überhaupt unseres denkenden Ver- standes das eus. Da es nämlich, und zwar univocL das Prädicat von Allem, von Gott, von Substanz, von Accidens u. s. w. ist, da ferner in der Metaphysik, um das Daseyn Gottes zu beweisen, von dem Seyenden ausgegangen wird, so ist es der Begriff, wel-

III. Verfallperiode. Duns Scotus. §. 214, 6. 421

eher die Priorität vor allen anderen hat. (de anim. qu. 21. Report. Paris. I. d. 3. qu. 1.) Da cns das Gegentheil von non-cns, am Meisten nrm-er/s aber oder ntJ/i! das ist, was sich selbst wider- spricht (Qiiodl. qu. 3), so ist der Satz der Identität von jedem Seyu gültig, jedes Seyn, auch das göttliche, demselben unter- worfen. Die incompos.sibHUas conirariorum ist absolute Nothwen- digkeit. Obgleich oberster Begriff, darf doch cns nicht eigentlich oberste Gattung genannt werden, hat nur, als das Alles befassen- de, eine der Gattung analoge Stellung (de rer. princ. qu. 3). Das cns steht nämlich über der Gattung der Prädicabilien und Prädi- camente, es ist Ircmsscendevs, eben so wie seine Prädicate der Einheit, Wahrheit u. s. w, die auch transscendent sind, weil sie vom ens gelten, ehe es descendif In rierem. i/enern (Theorem. 14. Pteport. Paris. 1. d. 19. Quodl. qu. o). Das ms als solches ist also weder erste Gattung noch höchste Substanz noch höchstes Acci- dens, es steht als das Alles Befassende nicht in, sondern über diesen Gegensätzen. Innerhalb des Seyenden nimmt die unterste Stelle die Materie ein. Diese darf daher nicht als blosse Schranke gedacht werden, denn da wäre sie non-ens, sondern sie ist etwas Positives. Auch ohne Form ist sie etwas Wirkliches (Report. Pa- ris. IL d. 12). Sie ist (ihsnhihim f/iiid, darf nicht als ein blosses Correlat gedacht werden, wie von Seiten derer geschieht welche sagen, sie könne ohne Form gar nicht gedacht werden (Op. Oxon. IL d. 12. qu. 2). Damit ist aber sehr gut vereinbar, dass sie die Möglichkeit neuer Verwirklichungen ist, und dass es einen Zustand derselben gebe, welchem keine Verwirklichung vorausgegangen ist, wo sie also zwar actit; aber nullius actus , das Princip der Pas- sivität wäre (de rer. princ. qu. 11), das rein Bestimmbare. Das ist sie als maleria prmo-primn, welche, als die Empfänghchkeit für jede Form, nur von dem primum ayens, m der Schöpfung der Dinge, die Form erhält. Die maleria senrndo-prima wäre dann die, welche in der Zeugung geformt wird (in/annalur)^ die materia lertio-prinia die, welche anderen Umformungen unterliegt u. s. w\ (de rer. princ. qu. 7. 8). Die maleria primo-prima ist daher allen Dingen gemeinschaftlich, ohne sie sind auch die Seelen und die Engel nicht. Wenn darum eine Seele die Form ihres Körpers ge- nannt wird, so darf man nicht. vergessen, dass sie, dieses infor- mans, selbst schon eine Substanz, also materia informata, Ver- bindung von Materie und Form ist (Ibid.). Darin liegt nun die Möglichkeit, dass die Seele getrennt von ihrem Körper existiren kann. Es folgt aber daraus auch, dass, da ein Engel nie mit einem Körper als dessen Form verbunden seyn kann, die materia

422 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

jrrimo- prima im Engel anders als im Menschen mit ihrer Form verbunden (anders informirt) seyn muss und also zwischen Engeln und abgeschiedenen Seelen ein specifischer Unterschied Statt findet. (Op. Oxon. II. d. 1. qu. 5.) Wie die Materie die unterste, so nimmt Gott die oberste Stelle in der Reihe der ejifia ein; er ist das We- sen, dem jede Vollkommenheit zukommt, das eben darum über Alles, was nicht er selbst ist, hinausreicht (de prim. omn. rer. princ. 4). Das Daseyn dieses unendlichen Wesens kann, weil es keine Ursache hat, auch nicht aus einer abgeleitet d. h. nicht proptcr (päd oder a priori bewiesen werden. Eben so wenig aber darf man, wie der ontologische Beweis des Auselm dies eigentlich thut, das Daseyn desselben als ex ierminia gewiss und keines Be- weises bedürftig ansehn. Sondern es gibt eine demonstratio ipiia für dieses Daseyn oder einen Beweis a posterior i. aus seineu Wirkungen (,0p. Oxon, I. d. 1. 2). Dadurch kommt man auf das Daseyn einer ersten Ursache und eines höchsten Zwecks, <pio ma- jh's cogiiari vefjiiit. (Das kosmologische, teleologische und onto- logische Argument ist also in einer eigenthümlichen Weise bei Diins verschmolzen.) Zu diesem Wissen Gottes ist keine überna- türliche Erleuchtung nöthig, es ist in pirris nainralibus möghch und ist, weil es abgeleitet oder bewiesen ist, ein wissenschaftli- ches (Op. Oxon. I. d. 3. qu. 4). ,Der Beweis führt aber bloss auf eine oberste Ursache, dass sie die allereinzige , dass sie allmäch- tig und keines Stoffes bedürftig sey, das entzieht sich dem Be- weise (Op. Oxon. und Rep. Paris. I. d. 42. Quodl. qu. 7). Durch ein gleiches Zurückschliessen kann auch das Wesen Gottes erkannt werden. Alle Dinge enthalten mindestens das cestiyium, die voll- koinmneren sogar die imayo Bei. d. h. jene sind einem Theile des Göttlichen, diese dem Göttlichen ähnlich, und so vermögen wir aus der Selbstbetrachtung ria eminentiae uns zu dem Wissen vom götthchen Wesen zu erheben (Op. Oxon. I. d. 3. qu. 5). Die Psychologie bahnt also den Uebergang von der Ontologie zur Theo- logie.

7. Der hauptsächlichste Dififerenzpunkt zwischen der Psycho- logie des TItomiis und Duns ist ihre Ansicht vom Verhältniss des Denkens und Wollens. Beide, obgleich nniiire in der Seele ver- bunden, sind doch von einander und von der Seele wirldich (/or- maiiter) unterschieden (Op. Oxon. IL d. 16). Nun hatte Thomas ihr Verhältniss so gefasst, dass der Wille dem Denken folgen, und das erwählen muss, was ihm die Vernunft als gut darstellt. Dies bestreitet Dnns. Kicht nur, dass er dem Willen die Macht beilegt , sich ganz allein zu bestimmen (Op. Oxon. IL d. 25) , uu-

III. Verfallperiode. Duus Scotus. §. 214, 7. 423

tcr Umständen gegen die Vorschrift der Vernunft zu entscheiden (Disput, subt. 9, 16), sondern er weist darauf hin, dass ganz im Gegensatz zu Thomas man sagen müsse, dass sehr oft das Den- ken dem Willen folgt, z. B. wo ich zu erkennen strebe, denken will u. s. w. Den Instanzen der Gegner gegenüber nimmt er ein erstes und ein zweites Denken an, zwischen welche beiden das Wollen fällt. Aber auch das erstere determinirt den Willen nicht, denn: rohrnhis superior csl intp.Uccfv (Rep. Paris, d. 42. qu. 4). Der Wille fällt ihm ganz mit dem lihernm arhitrimn zusammen; was er thut ist coiiCnnjens et critabile. während der Intellect der Nothwendigkeit gehorcht. (Op. Oxon. IL d. 25.) Dans ist der ent- schiedenste Indeterminist; der Intellect schafft nach ihm nur das Material herbei, der Wille aber zeigt sich als Freiheit, d. h. als die Möglichkeit sich für Entgegengesetztes zu entscheiden (Ibid. I. d. 39). Ja diese Freiheitslehre wirkt bei ihm sogar auf seine Er- kenntnisstheorie zurück. Zwar der Beginn alles Erkennens kann in sofern ein Empfangen genannt werden, als alles Erkennen die Sinnesempfindung zu seiner hnsis ei seminarium hat, diese aber nur möglich ist, durch Eindruck und Bild (spcdes) des Gegenstan- des. Allein, abgesehn davon dass dem so ist nur in Folge des Sündenfalls, so ist auch so jenes Empfangen nicht, wie Thomas will, ein blosses Leiden. Gegenstand und erkennendes Subject cooperiren dabei, jener ist nicht alleinige, er ist nur Mit-L"'^rsache, Gelegenheit, für das in unserem Geist entstehende Bild. (Op. Oxon. I. d. 3. qu. 4. 7 8. Disput, subt. 8.) Noch mehr tritt die Selbst- thätigkeit des Geistes hervor bei den folgenden Stufen, durch welche der Process des Erkennens hindurchgeht. Da nämlich die Bilder nach dem Acte der Aneignung in dem Verstände bleiben zum grösseren Theile (wieder wegen des Sündenfalls) als phanias- nidta (de anüu. qu. 17), aber doch zum Theil auch als specles welche das Intelhgible repräsentiren , beide aber durch das Ge- dächtniss hervorgerufen werden können, so ist dieses offenbar eine verändernde, ja wie es bei der Production der Worte beweist, es ist wirklich eine erzeugende Kraft (Report. Paris. IV. d. 45. qu. 2). Noch viel mehr zeigt sich die Selbstthätigkeit in dem hifellecfus ageiis. derjenigen Kraft der Seele, die sich zu den sinnlichen Ab- bildern verhält wie das Licht zu den Farl)en, zu dem inleUectus posslbilis wie das Licht zum Auge, zum wirklichen Erkennen wie das Licht zum Sehen (de rer. princ. qu. 14), und die aus den Phantasmen wirkliche Erkenntnisse macht. Endlich aber kommt zu diesen Acten noch ein reiner Willensact, der Act nämlich der Zustimmung, der nur in den wenigen Fällen, wo Etwas e.r tcrminis

424 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

gewiss ist , uothweuclig erfolgt , sonst aber , wenn auch nicht ganz behebig, so doch auch nicht ohne unser Wollen (Disp. subt 9). Da nun dieses Zustimmen , wo die Sache nicht gewiss und es also nicht nothwendig ist, Glaube (fkles) ist, so folgt, dass sehr vie- les Wissen sich auf fides stützt, ja dass das meiste Wissen Voll- endung des Glaubens , darum aber mehr als er, ist (Report. Paris. Prol. qu. 2). Dieser \orzug des Wissens schliesst nicht aus, dass in anderer Beziehung der Glaube dem Wissen vorzuziehn ist (Op. Oxon. III. d. 2d). Es ist nämlich zu unterscheiden die //V/e* uc- qitisUa, die hinsichtlich der kirchlichen Lehren auch der ünge- taufte haben kann, wenn er denen nicht misstraut, die ihm die Wahrheit derselben betheuern; und die fdcs in/iisa, durchweiche wir der Gnade theilhaft werden. Während jene, als Beistimmen ohne zwingende Gründe, ein Willensact, muss in dieser letzteren die Passivität anerkannt werden, die Thomas irriger Weise in alles Glauben, darum aber auch in alles Wissen, setzt (Op. Oxon. I. d. 3. qu. 7). Wäre die fidcs ivjnsa jemals mit dem Bewusst- seyn der fidcs itc(]iiisUa begleitet, so wäre dies ein Zustand des- sen, wie es scheint, der Mensch hienieden nicht fähig ist (Quodl. qu. 14). (Aus diesem Satze möchte man schhessen, dass Dinis aus dem Glauben, der Gnadengabe ist, alle Reflexion ausgeschlos- sen haben will.)

8. Aus diesen psychologischen Lehren werden nun Rückschlüsse auf das göttliche Wesen gemacht, das also gleichfalls ex jmris ntiiiindihiis , aber ebenfalls nur a posteriori erkannt werden kann. (Theorem. 14. Report. Paris. L d. 2. qu. 7.) Darum ist unser Wis- sen vom göttlichen Wesen nicht hituitiv, sondern abstractiv (Ibid. Prol. qu. 2). Wie in uns selbst der Unterschied zwischen inlel- lectiis mit seinem Mittelpunkte memoria.^ und rohmtas sich ge- zeigt hatte , so muss auch in Gott Verstand und Wille unterschie- den werden, von denen ieucv natHrdti/erj dieser /<6eye wirkt. Je- ner ist der Grund und Inbegritf alles dessen was nothwendig, die- ser causirt alles Zufällige und causirt es coiüivgenter (Rep. Paris. IL d. 1. qu. 3). Die erste Wurzel aller Zufälligkeit ist dieses Ver- mögen der Zufälligkeit in Gott (Ibid. I. d. 40). Da nun mit die- sen beiden Bestimmungen bei Dirns die Dreieinigkeitslehre nahe zusammenhängt, indem der Sohn als Vcrbum seinen Grund in der inemorUt. perfecta hat, dagegen der h. Geist in der durch den Willen vermittelten Spiratio beider ersten Personen (Report. Pa- ris. I. d. 11. Op. Oxon. I. d. 10), so scheut er sich nicht, dem natürlichen Menschen die Fähigkeit beizulegen, die Dreieinigkeit zu erkennen (Quodl. qu. 14). Diese einen göttlichen Verhältnisse

III. Verfallperiode. Duns Scotus. §. 214, 8. 425

(rationi(liu) , durch welche die drei Personen sind, sind die er- sten Folgerungen, welche sich aus dem göttlichen Wesen ergeben, sind also aus den erkannten essentlallbns abzuleiten (Ibid. qu. 1). Anders verhält es sich dagegen mit jedem Verhältniss Gottes ad extra. Da alles ausser Gott Seyeude aus Gottes Willen stammt, der contiiigcnter cansat (Op. Oxon. I. d. 39), so kann durchaus nicht nachgewiesen werden, dass Etwas ausser Gott seyn müsse. Nur sein eignes Wesen will Gott nothwendig, alles Uebrige ist nur secundario volitam (Rep. Paris. I. d. 17). Dass Gott Anderes hätte schaffen können als er schuf, dass er Anderes thue als er thut, darin hegt keine incomposslhUitas contrarlonim (Rep. Par. I. d. 43. qu. 2), man darf daher nur sagen: in dem von Gott be- hebten Gange der gewöhnhchen Ordnung wird dies oder jenes ge- wiss geschehn (Ibid. IV. d. 49. qu. 11). Eine solche gewöhnliche Ordnung aber anzunehmen, dazu nöthigt den D»wä die Unterschei- dung der Schöpfung, d. h. des Ueberführens von Nichts zu Seyn, von der Erhaltung als dem Ueberführen von Seyn zu Seyn. Er nennt beide zwei verschiedene Relationen Gottes zu den Dingen (Quodl. qu. 12) oder vielmehr der Dinge zu Gott (Op. Oxon. I. d. 30. qu. 2). Gottes Wollen der Dinge geht allerdings die Idee derselben in dem göttüchen Verstände voraus, der sie, als Ein- zelne, denkt. Diese Ideen wirken aber durchaus nicht auf Gott bestimmend, am Wenigsten so, dass er Etwas erwählt, weil es das Beste. Vielmehr nur weil er es erwählt wird es das Beste (u. A. Op Oxon. III. d. 19). Ganz wie die Schöpfung, so ist auch die Menschwerdung und die Sendung des h. Geistes ein Werk nur des göttlichen Beliebens. Gott hätte auch, wenn er gewollt hätte, anstatt Mensch Stein werden können. So gewiss es ist, dass die Menschwerdung auch ohne Sündenfall Statt gefunden hätte, so lässt es sich doch nicht beweisen. Eben so wenig, dass die Er- lösung durch den Tod Christi Statt finden musste. Es hat eben Gott beliebt , dass der Tod des Unschuldigen das Lösegeld werde. (Op. Oxon. III. d. 7. qu. 1. d. 20. IV. d. 15.) (An diese Be- hauptung schliessen sich dann später die Streitigkeiten mit den Thomisten über das Verdienst Christi.) Alle jene Lehren bedür- fen, damit wir ihrer gewiss werden, der ffiaüa iiifusa, sind Glau- bensartikel, die keinen wissenschaftlichen Beweis zulassen (Ibid. d. 24). Ganz dasselbe gilt von dem praktischen Theil der Otfeii- barung. Gut ist was Gott, und nur weil es Gott vorschreibt, ist es gut. Hätte er Todtschlag oder ein anderes Verbrechen vorge- schrieben, so wäre es kein Verbrechen, es wäre nicht Sünde (Ibid. d. 37).

426 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

9. Wo der Wille im Sinne des Indeterminismus so betont wird, da muss, viel mehr als bisher, ein Gegensatz hervortreten gegen das Aristotelische Ueber- Alles -stellen der Theorie, und ge- gen den Antipelagianismus des Aiigvsliv , d. h. gegen die beiden Hauptlehrer der bisherigen Scholastik. Demgemäss hört man Duns sagen: der Philosoph der setze freilich die Seligkeit in das Er- kennen, der aber beschäftige sich auch nur mit dem Diesseits, dagegen sey die eigentlich christliche Ansicht die theologische, nach welcher die Seligkeit in der Liebe bestehe, also im Wollen. Eben deswegen erscheint es ihm schon fast zu quietistisch, wenn sie als deledatio gefasst wird (Report. Paris. IV. d. 49. qu. 1. 2. 6). (Wie er sich mit dem Bibelwort abfindet, ist oben schon erwähnt.) Zwar reicht der Wille allein zur Seligkeit nicht aus, um selig zu werden; er bedarf der Unterstützung durch die Eingiessung der theologischen Tugend clnritas (Ibid. qu. 10). Al)er diese Eingies- sung geschieht nicht ohne unser Zutlmn. Christus ist die Thüre, und eröffnet den Zugang zum Heil; aber nicht die Thüre bringt hinein, sondern das Hineintreten (Op. Oxon. III. d. 9). Bei sol- chem Synergismus ist es ganz erklärlich, wenn Duns den Glauben, welcher das Heil aneignet, ein Verdienst nennt, welches belohnt werden wird. Nur in der Barmherzigkeit entscheidet lediglich Gott, bei seiner Gerechtigkeit auch die That des Menschen (Report. Pa- ris. IV. d. 46). Ja man kann es nicht einmal absolut unmöglich nennen, dass der Mensch durch sein moralisches Leben selig werde, denn es ist dies kein innerer Widerspruch, nur nach dem einmal geordneten Lauf der Dinge geht es nicht (Ibid. d. 49. qu. 11). Es ist klar, dass die Annäherung an den Pelagianismus hier sehr weit geht.

10. Wie die Anhänger des Thomus sich vor Allen unter den Dominicanern finden, so die des Duns, die Scotisten, fast nur unter den P'ranciscanern. Unter seinen persönlichen Schülern nimmt die erste Steile ein Franciscus Mayro (de Mayronls), den Einige fast dem Meister gleich stellen, und für dessen Meister- schaft im Disputiren dies spricht, dass er der Erfinder jenes actus Sorboniciis oder der ^ßorbonica" wurde, bei der einen ganzen Tag lang ununterbrochen, ohne Präses, disputirt ward. Sein Com- mentar zu den Sentenzen ist in Venedig 1520 erschienen. Der Arragonese Andreas mit dem Beinamen des Doctor mclli/lnns, der Oxforder Jo/f. Dimihleiou , Gerard Odo der achtzehnte Ge- neral des Franciscaner - Ordens , Joannes Bassolls der doctor or- nuiissimiis, Nicolaiis von Lyra, Petrus von Aquila, der Oxforder

Walter Bnrleiglf der doctor planus et perspicmiSf der 1357 starb,

111. Vertallpieriode. Nominalismus. §. 215. 42 <

Jolionnes Jaiuluiuis , der grösste Averroist seiner Zeit, weicleu be- sonders oft als Scotisten angeführt. Später ist. zum Theil der Kampf gegen den Nominalismus, noch mehr aber die Gefahr, die sowol den Scotisten als den Thomisten von den neuen Richtungen in der Philosophie droht, der Grund, warum sie ihre Streitigkei- ten vergessen , und warum Yennittelmigsversuche zwischen beiden entstehn.

§• 215. Wenn Duns nicht nur den TItomus. sondern eben so oft des- sen Gegner llciurich von Gent bekämpft, wenn er nicht nur die beiden berühmten Dominicaner, sondern eben so oft die glänzen- den Sterne des eigenen Ordens, Alexander und Bovarciftiira, be- streitet, ja wenn er selbst dort, wo er in der Lehre mit dem An- gegriffenen übereinstimmt , eben so eifrig polemisirt als im Gegen- falle, so hat dies seinen Grund in dem oben (§, 213) Gesagten, dass ihm nicht das zu Bev.eisende, sondern das Beweisen zum Object geworden ist. Er steht darum aiif einem wesenthch ande- ren Staudpunkt als Albert und TLonuis. Wird dies übersehn, so muss mau ihn weit unter beide stellen: unter Thomas, weil in den meisten Lehren, wo Duus von ihm abweicht, er zu Albert zurückgeht; unter Thomas und Albert^ weil die Kluft zwischen Theologie und Philosophie bei ihm viel grösser ist als bei ihnen. Dagegen bei richtiger Würdigung seiner Stellung A>ird man erken- nen, dass er, indem er über ihr Thun reflectirt, über sie hinaus- geht, und darum bei ihm nicht, wie bei Albert, die Philosophie und Theologie noch nicht, sondern dass sie nicht mehr zu- sammenstimmen. Die Eintracht zwischen beiden stützt sich darauf, dass die wissenschaftlichen Beweise im Dienste der Lehre standen. Werden sie zui' Hauptsache gemacht, so werden sie aus jedem, also auch diesem, Dienstverhältniss herausgehoben. Trotz dem also, dass Dints der treuste Sohn der römischen Kirche ist, hat er die scholastische Philosophie auf einen Punkt gebracht, wo sie Rom den Dienst aufkündigen muss. Dass diese Wendung der Scholastik sich al: ein siegreiches Hervortreten des Nominahsmus gezeigt hat, darf nicht befremden. Schon darum nicht, weil (s. §. 15b) der Nominalismus überhaupt antikirchlich ist. Dann aber weil die beiden Hauptsätze, welche Dans dem Thomismus entge- genstellte, die Grundpfeiler für den Nominalismus des vierzehnten Jahrhunderts geworden sind : dass das individuelle Seyn das wahre und vullkommene, und dass Gott in völhg ungebundener Willkülii- thätig sey, hat Oeeam so mit einander verbunden, dass beide Sätze sich gegenseitig und seine ganze Philosophie und Theologie

428 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

stützen. Weil die Zeit des Nominalismus gekommen ist, deswe- gen sind es jetzt (ganz anders als zu Ansclms Zeit) gerade die geistig Begabteren, die Neigung zu ihm zeigen. Der Thomismus steht ihm ferner, daher wird Dur and von St. Pour^ain, gest. 1333, durcli seinen üebergang zum Nominalismus aus einem Verehrer zu einem Bekämpfer des Tliomas. In seiner Schrift zu den Sen- tenzen (Lyon 1569) und einer anderen de statu animarum hat er den Satz ausgesprochen: Individuell seyii heisse überhaupt seyu. Der Scotismus führt sichtbarer dem Nominalismus zu, darum gilt Peirns Airreolns, der als Lehrer in Paris wirkte und endlich als Erzbischof von Aix im J. 1321 starb, für einen Anhänger des Dans, auch nachdem er sich ganz nominalistisch ausgesprochen hat. Unverbürgt ist die Sage, dass Orvams Unterricht den Du- rand zum Nominalisten gemacht habe. Eine andere macht den Anreohis, vielleicht aus einem Mitschüler , zum Lehrer des Occam. Sie ist nicht glaubwürdiger als jene.

§. 216. Wilhelm von Occam.

1. Wllhehn. nach seinem Geburtsort Ockam oder Occam in der Grafschaft Surrey zubenannt, soll, nachdem er im Merton College in Oxford studirt und ein Pfarramt bekleidet hatte, in den Franciscaner- Orden getreten und da ein Zuhörer des Dinis ge- worden seyn, später aber Philosophie und Theologie in Paris ge- lehrt haben. Seine Neucmngen in beiden Wissenschaften haben ihm den Ehrennamen des rencrabUis inceplor , der Scharfsinn, den er dabei entwickelte, den des docior innnc'dniis eingebracht. In dieser Zeit wairde wohl geschrieben: Super quatuor libros Sen- tentiarum (Lyon 1495 foL), worin aber nur das erste Buch in al- len seinen Distinctionen commentirt wird, die Quotlibeta Septem (Strassb. 1491 , w^elche Ausgabe auch den Tractatus de sacramento altaris enthält), Centilogium theologicum (Lyon 1495) und die commentirenden Schriften zu Porphyr'nis und den beiden ersten Schriften des Organen, welche unter dem Titel Expositio aurea super artem vcterem in Bologna von Marcus von Benevent 1496 herausgegeben sind, endlich die im J, 1305 geschriebene Disputa- tio inter clericum et militem (Paris 1598; auch in Goldast Mo- narchia Bd. I p. 13 ff.) , worin er die Anmassungen Bonifacins des Achten und überhaupt die weltliche Herrschaft der Päpste an- greift. Auch physikalische Schriften des Aristolelcs hat er, wie man aus seiner Logik erfiihrt , commentirt ; es ist aber nichts der Art bekannt gemacht worden. Später als diese Schriften ist auf

III. Verfallperiode. Occam. §. 216, 1. 2. 429

Bitteil eines Ordeusbruders, Adam, verfasst Tractatus logices in tres partes divisus Paris 1488 (auch als Summa logices ad Ada- mum citirt), in welchem die logischen Lehren, kürzer als in den commentirenden Aufsätzen (und doch zugleich vollständiger, weil er hier auch die ars nova und moderna berücksichtigt, d. h. die später bekannt gewordenen Aristotehscheu , so wie die durch die Bj'Zantiuer in Cours gekommenen Schriften), zusammen gestellt wurden. Dann scheint er sich ganz auf kirchhch - politische Fra- gen geworfen zu haben. Im Einverständniss mit dem strengereu Theil seines Ordens (den Spiritif(t!cs) hatte er von jeher aus der Armuth Christi und der Apostel gefolgert, dass der Papst keine weltliche Macht haben solle. Daran schloss sich später bei ihm die Ueberzeugung , dass wie in weltlichen Dingen der Papst den Fürsten, so in geistlichen der Kirche unterworfen seyii müsse, eine Ansicht, in der er durch die Parteinahme des Inhabers der päpstlichen Würde gegen die Splritnules immer mehr bestärkt ward. Der Dialogus in tres partes distinctus (Paris 147G) nebst den Nachträgen dazu, dem Opus nonaginta dierum (Lyon 1495) und dem Compendium errorum Joannis papae XXII (Lyon 1495), so wie seine Quaestiones octo de potestate summi pontificis (Lyon 1496) enthalten seine Ansichten, die iu dem 1342 geschriebenen, bei Goldüsl (1. c. p. 31) zu lesenden Tractatus de jurisdictione imperatoris in causis matrimonialibus, wenn anders derselbe von ihm seyn sollte, noch überboten werden. Ein Kerker in Avignou war die Folge seiner Polemik. Er entzog sich ihm im J. 1328 durch die Flucht und fand, wie schon früher seine Ordensbrüder Jancfiinus und Marsiliiis von Padua, Schutz bei Liubtiy dem Bayern iu München, wo er im J. 1347 (nach Anderen einige Jahre später in Cariuola im Neapohtanischen) gestorben ist.

2. Da kein Scholastiker seit Ahähird mit solcher Vorliebe wie Willi elm sich dem Studium der Logik hingegeben hat, die er als omnium urtiiim aptissimam insirumentum bezeichnet, und deren Vernachlässigung er die Entstehung der meisten Irrthümer auch in der Theologie zuschreibt, so beginnt billig mit ihr die Darstellung seiner Lehre. Zum Leitfaden dient der Tractatus lo- gices; ausserdem die Quotlibeta und die Erläuterungen zu den Sentenzen. Besonders die zur zweiten Distinctiou des ersten Bu- ches, bei welchem es ja traditionell geworden war, die Frage we- gen der UniversaUen abzuhandeln. Als eine theoretische Frage gehört dieselbe eigentlich nicht in die Logik, denn diese ist nach Wilhelm, ganz wie die Grammatik und die mechanischen Künste, eine praktische Disciplin, eine Kunst. (So Expos, aur. Prooem.)

430 Mittelalterliche Pliilosopliie. Zweite Periode (Scholastik).

Dennoch nmss, um logische Fehler zu vermeiden, in das meta- physische Gebiet, wo diese Frage eigentlich hingehört, hinüber geblickt werden. Für das eigentlich logische Gebiet ist nun ent- scheidend der Satz : Lofjico non fractat de rehvs qvae nov sunt s}(jv(i (Quoth V, 5). Unter einem Zeichen versteht WilheJm was anstatt eines Anderen gilt. Signipntre oder Importarp nUipiJd, slnrc und besonders supponcrc pro ullrpro sind die Ausdrücke, durch welche diese Vertretung bezeichnet wird. Zuerst ist nun zu unterscheiden zwischen natürlichen, d. h. unwillkühiiich ent- stehenden, und beliebigen ((ttJ p'ac'üinn instiiiiUt) Zeichen. Zu den erstem gehören nun unsere Gedanken von den Dingen, welche eben so unwillkührlich entstehen , wie der Seufzer als Zeichen des Schmerzes oder auch der Rauch, der das Feuer anzeigt. Die Ge- danken sind Zustände der Seele und daher werden passioncs oder tulcntioncs (inimac und voncoptiis , mtpHectns . intcllertinnes ve- rum als gleichbedeutende Ausdrücke genommen. Dass diese Vor- gänge in unserem Geiste eben so wenig eigentliche Abbilder (spr- ck's) der Dinge sind, wie der Seufzer vom Schmerz oder.der Rauch vom Feuer, wird von Willichn stets eingeprägt. (Vgl. Expos, aurea-de specie.) Wenn er sie aber deinioch simllltifd/ucs rennn nennt, so reclitfertigt er dies damit, dass sie in dem esse ohje- vüviim . d. h. im roijnosci oder in dem Bereiche des Gedachten, dieselbe Rolle einnelimeu, wie die von ihnen bezeichneten Dinge im esse snhjevdriim . d. h. im selbststäudigen von unserem Den- ken unabhängigen Seyu (ad I Sentt. 2, 8. Tract. log. I, 12). Von diesen, durch die Dinge unwillkühilicli in uns hervorgerufenen Zeichen ihrer Gegenwart sind nun zweitens die Zeichen unter- schieden, welche (id plucitiini {vMict orvOi'/j^r bei Aristoteles , s. oben §. 86, 8) dazu bestimmt wurden Etwas anzuzeigen oder zu bedeuten. Das sind die Wörter, die roces oder nomin a, die, v/eil in ihnen eine intentio (inimne ausgesprochen und also angezeigt wurde, eigentlich Zeichen von Zeichen sind (Tract. log. I, 11). Da nun die Wörter nicht nur gesprochen, sondern auch geschrie- ben werden, so sind also dreierlei signa oder si(jnijieanii<i zu un- terscheiden: coneeptd s. mentalia , prolatu s. vocali<( , endlich scripta. Wäre beim Sprechen und Schreiben die Mittheilung der Gedanken der einzige Gesichtspunkt, so müssten grammatische und logische Formen sich ganz decken. Dass dies nicht der Fall ist, hat nach WiHie'm seinen Grund darin, dass viele gramma- tische Formen nur dem Schmuck und der Schönheit zu Gefallen da sind. Dass Synonymen nicht immer gleichen Geschlechts sind, ist ihm einer der Beweise dafür, dass dem grammatischen genns

m. Verfallperiode. Occam. §. 216. 2. 3. 431

keiu logisches Analogon entspricht. Dagegen sey der Unterschied z^Yischen Singular und Plural nicht nur vocal, sondern auch men- tal (Quoth V, 8 u. a. a. 0.). Weil jenes Auseinanderfallen mehr nur Ausnahme, deswegen ist die Eintheilung der Logik zugleich von grammatischer Geltung. Zuerst sind nämlich die einfachsten Bestandtheile eines jeden Gedanken- oder Wörtercomplexes zu betrachten, die tennini , dann die einfachsten Verbindungen der- selben , die proposUioiies , endlich aber die Begründung derselben, so dass der dritte Theil die Ueberschrift de urgumeiiUdione erhält. 3. Der wichtigste, für die Ansicht WUl.elms entscheidende, Theil seiner Logik ist der erste, welcher die Termini abhandelt. Mit Uebergehung der Unterscheidung dessen, was im weiteren, von dem was im engeren Sinne Tenniuas seyn kann, wo auch der bei den mittelalterlichen Logikern so mchtigc Unterschied der ('(itheyrcnmald und siinKilheyrennKila (um seine barbarische Schreibart beizubehalten) zur Sprache kommt, d. h. der Wörter, die für sich, und derer, die nur mit einer Ergänzung einen Be- griti' fixireu, werde hier zuerst der Unterschied tixirt zwischen einem lerminvs primae und einem senmdae intentionis. Unter dem ersteren ist der achis intelliyendi zu verstehn , der eine res, unter dem zweiten einer, der ein .siynuin bezeichnet (Tract. log.

1, n. Quoth IV, 19). So einfach diese Unterscheidung zu seyn scheint , und so klar es ist , dass durch Reflexion auf meine Be- griflsbildung ich nur einen concepfas secnndne iidenHonis erhalten kann , so muss mau sich doch hüten , den Kreis der prima inteutio zu sehr zu beschränken. Nicht nur Solches, was ausserhalb des Geistes (extra animam, extra intel/ectiiih, auch wohl extra schlecht- hin) existirt, ist eine res, sondern auch geistige Vorgänge, Lei- denschaften u. s. w. , deren Seyn nicht mit dem cognonci zusam- menfällt, sind res, haben ein subjectives, d. h. nicht bloss prädi- catives Seyn, und geben also, wenn sie gedacht werden, einen coRcepfns primae intentionis (vgl. Tract. log. I, 40. ad I Sentt.

2, 8). Dem Ihiterschiede der ersten und zweiten Litention bei den Begriffen entspricht die erste und zweite impo.sitio bei den Namen , und die Wörter „Stein" und „Fürwort" können diesen Un- terschied fixiren (Tract.log. I, 11). Noch wichtiger als diese Un- terscheidung der Intentionen und Impositiouen ist die der ver- schiedenen Suppositionen oder Vertretungen des Gegenständlichen. Die siippositio (i. e. pro aliis positio Tract. log. I , G3) ist ver- - schieden so wol dort, ayo schweigend, als wo laut gedacht, d. h. gesprochen, wird. In den beiden Sätzen homo est unimal und liomo est substantirnm steht das Wort homo einmal für ein Dins\

432 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

das andere Mal nur für das Wort homo selbst; ähnlich geht es nun auch bei einem jeden Gedanken , und daher kann ein jeder iermimis in dreierlei Weise supponiren , personalHcr i. e. pro re, simplicitcr i. c pro inientione animae, materialller i. e. pro voce. Die Sätze I/omo curril, homo est specics^ homo est rox dissyUabn dienen als Beispiele für diese drei Weisen des Suppo- nirens, die Wilhelm sehr oft bespricht (u. A. Tr. log. I, 64. ad I Sentt. 2,4), weil eine Menge von Paralogismen nur zu-^ösen sind , indem man in den Prämissen die verschiedene Supposition nachweist. Anstatt simpliciter supponere wird in der Expositio aurea gewöhnlich gesagt supponere pro sc.

4. Die eben angegebenen Unterscheidungen werden nun bei der Untersuchung über die üniversalien verwerthet. Unter den Universalien sind zunächst die fünf Prädicabilien des Porphyrlus zu verstehn, welche den fünf Fragen entsprechen sollen, die Wil- helm aus der einen fpdd esl hoc ? ableitet (Tract. log. I, 18) , und von denen ganz besonders die beiden ersten, Gattung und Art, in Betracht gezogen Averden. Da steht ihm nun fest, dass sie t ermini secnndae intcntionis sind (Ibid. I, 14, cf. Expos, aur. Cap. de genere), dass ihnen also durchaus nichts Reales e.rird ani- mavi entspricht, sondern dass sie lediglich Solches bezeichnen (supponiren), was in mente ist (ad. I Sentt. 2, 8). Weil Alles was existirt, sey es eine res exlra (inimmn , sey es ein Vorgang im Geiste, eine (jnalitas, z. B., die in ihm subjective existirt, ein indiciffunm oder singuiüre ist, so entsteht die Frage, wie kommt es, dass ein ier minus, wie z. B. homo. als vnirersale gebraucht wird, d. h. von Vielen prädicirt wirdV (Tract. log. I, 15), Die moderni (d. h. die Realisten) haben die Theorie ersonnen von einem wirklichen commune, dem sie die, nur dem göttlichen We- sen zukommende, Macht beilegen, Eines und doch in vielen Sup- positis zu seyn, und welches nun, nicht die einzelnen homines. von dem Worte homo bezeichnet, personnliter supponirt, werde (u. A. ad I Sentt. 2, 4. 25, 1). Auch der unter den Modernen, welcher alle Uebrigen weit überstrahlt, Scotus, stimmt genau ge- nommen mit ihnen übereiu, da seine Modification, dass jenes Com- mune nicht realiter, sondern formaliter von den einzelnen Dingen unterschieden sey, ihre unhaltbare Ansicht nicht bessert (ad I Sentt. 2, 6). Indem sie von dem Allgemeinen anfangen, und nun nach einem Grunde der Individualität suchen, haben sie Alles ver- kehrt: das Einzelne ist an und für sich einzeln und ist allein wirklich; was erklärt werden muss ist vielmehr das Allgemeine (Ibid.). Von den vielen Absurditäten , auf welche jene (realisti-

m. Verfallperiode. Occam. §. 216, 4. 5. 433

sehe) Ansicht nach Wilhelm führen soll, werde hier nur die an- geführt, dass dann eigentUch jedes Einzelwesen ein Aggregat un- endlich vieler wirklicher Wesen seyn werde, jener Communin näm- lich, die von ihm prädicirt werden. Nicht minder spricht gegen sie, dass Aristoteles^ diese erste Autorität in der Philosophie, und sein Commentator Averroes, eben so auch Johannes Damascenns in seiner Logik nur dann richtig verstanden werden können, wenn man jene Ansicht der modernen Platoniker aufgibt. Die wahre, und auch die acht Aristotelische Lehre ist, dass die Universa- lien lediglich in mcnte sind, dass eben darum in dem Satz homo est risilAlis der tcrminns homo nicht für einen solchen fingirten Allgemeinraenschen, sondern für die wii'klicheu einzelnen Menschen steht, die auch allein lachen können (ad I Sentt. 2, 4). Aber selbst unter denen, welche darin einverstanden sind, dass die Uni- versalien nur in unserem Geiste Realität haben , können doch über das Wie dieser Existenz verschiedene Ansichten herrschen, Wa- igel m gibt einige derselben an, ohne sich zu entscheiden, aber nicht ohne dem Leser einen Grundsatz zuzurufen, der, in ver- schiedenen Wendungen, wohl hundertmal in seinen Werken zu finden ist : wo Eines ausreicht , ist es unnütz Vieles anzunehmen. Nach der einen Ansicht sollen sie blosse Gedankendinge oder Fi- ctionen seyn, die nur durch ihr Gedachtwerdeu sind, also nur esse ohjectirinn haben. Nach Anderen sollen sie die, wegen der weniger bestimmten Eindrücke der Dinge selbst confiisen Vorstel- lungen einzelner Dinge seyn. Wieder Andere lassen sie selbst- ständig (sithjectirä) im Geiste existiren als gewisse Etwas ((pwli- tiües), die von der Thätigkeit desselben unterschieden seyen. End- lich , und dies möchte sich durch die Einfachheit empfehlen , kann man die Universalien als ucliis inteUigcndi ansehn (u. A. Tract. log, I, 12. vgl. Expos, aur, Lib. peryarmenias Prooem.). Weder hier noch h'geudwo bedient sich Wilhelm desjenigen Ausdrucks, welcher den Sectennameu Vocales, Nominales hervorgerufen hatte (s. oben §. 158). Auch kann er auf seinem Standpunkte nicht zugestehn, dass die Universalien blosse roces oder nomina seyen, denn er will sie ja nicht zu willkührlich gebildeten, sondern zu natürlich entstehenden Zeichen machen. Er wäre daher in seinem buchstäblichen Rechte gewesen, wenn er sich den Namen des No- minalisten verbeten hätte, dagegen hätte er durchaus nichts ge- gen den Namen einwenden dürfen, der ihm auch ^\^rklich ist bei- gelegt worden: Terminista.

5. Wie dem Wilhelm die Annahme wirklicher Commimia als eine unnütze maltiplicatio entium erschien, eben so sieht er in

Erdmami, Gesch. d. PhiL I. ^o

434 Mittelalterliclie Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

einer Menge von anderen Namen ganz ähnliche unberechtigte Hy- postasirungen. Nicht nur über die spottet er, die zu dem iihi eine ubltas, zu dem qnando eine (juandeltas hinzuträumen (Tract. log. I, 59. 60) , sondern er leugnet , dass es eine (juantltas gebe , die et- was Anderes sey als die res fpianta , oder eine rehitio , die etwas Anderes sey als die bezogenen Dinge. (Ibid. 44 ff. ; vgl. Expos, aur. de praedicament. c. 9.) Von der eretcren Behauptung macht er Gebrauch bei der Frage nach der Quantität (Ausdehnung) des Lei- bes Christi, von der zweiten da, wo er zeigt, dass der Bcgritt" der Schöpfung nicht ein dritter sey, der zu den Begriffen Gott und Creatur noch hinzukomme. Weil es sich mit der Qualität eben so verhält, deswegen konnte oben (sub 4) (jua/ihts so übersetzt wer- den als stünde dort (jtiafc oder (juUl. Im Ganzen ist das Resul- tat hinsichtlich der Prädicamente (Kategorion) dasselbe wie bei den Prädicabilien : sie drücken nicht sowol etwas Reales aus, als viel- mehr Weisen unseres Denkens. Schon in der Expositio aurea Lib. praedicament, c. 7. hatte er behauptet, dass Arisloldcs in seinen Kategorien nicht die Dinge, sondern die Wörter eingetheilt habe. Darum wird auch später Sitets auf ihren Zusammenhang mit dem sprachlichen Ausdruck hingewiesen , der Unterschied der ersten und zweiten Substanz auf das nomcn proprium und lommnue zurück- geführt, Gewicht darauf gelegt, dass die fünfte und sechste Kate- gorie Adverbia seyen, die siebente mit dem Activo, die achte mit dem Passivo gleich gesetzt u. s. w., und immer wiederholt, dass des Aristotrica Ansicht zu demselben Resultate führe. Da konnte es ihm nun nicht gleichgültig seyn, wenn die platonisirenden Mo- dernen gerade auf einen Satz des .trisloic/cs sich immer beriefen: die Behauptung desselben, dass die Wissenschaft es nur mit dem Allgemeinen zu thun habe, müsse bei nominalistischer Fassung dazu führen , dass auf jedes reale Wissen verzichtet werde. Auch der entschiedenste Realist, erwidert darauf WUlielm, wird zuge- stehn, dass unser Wissen aus (Wissens-) Sätzen besteht; dass aber Sätze nicht aus Dingen exlra (tnnmim bestehn, sondern aus (cr- mhiis, ist klar. Dann aber muss auch jeder Vernünftige zugeben, dass es gar kein Wissen gibt, welches nicht in uns fiele und in so fern mental wäre (ad I Sentt 2,4 u. a. a. 0.). Dennoch sind wir berechtigt, einiges Wissen als reales zu bezeichnen und von sol- chem zu unterscheiden, das rational ist. Supponiren nämlich die termini, die einen Satz bilden, personnlUer, d. h. sind sie die Ver- treter von rebus ^ so enthält jener Satz ein reales Wissen, wie z. B. die Sätze homo currit, homo est risibUis, wobei es gar keinen Unterschied macht, ob wie im ersten homo für einen, ob wie im

in. Verfallperiode. Occarn. §. 216, 5. 6. 435

zweiten für alle eiiizelneu Menschen steht (Trct. log. I, 63). Stehen dagegen die termini eines Satzes nicht für Dinge, sondern für ter- minos, sind sie also secundae intenüoiüs und supponiren simpliciter, wie in dem Satz genns pruedicuiur de speciehiis , so ist das Wis- sen ein rationales, wie z. B. alles logicalische "Wissen. Weil nun auch in den Sätzen, welche ein reales Wissen enthalten, fast im- mer solche termini vorkommen werden, welche nicht für ein ein- ziges Ding, sondern für viele, stehen, d.h. allgemeine termini^ so hat Aristoteles ganz Recht, wenn er sagt, -das Wissen hat es mit dem Allgemeinen zu thun. Nämlich mit allgemeinen terminis, nicht mit allgemeinen rebus.

6. Aus dem zweiten Theil der Logik , de propositionibus, kann als eigenthümlich hervorgehoben werden, dass Willielni ganz wie Aristoteles (s. oben §. 86, 1) die modalen Urtheile als zusammen- gesetzt ansieht. Da ihm aber ein Urtheil ausser dem Prädicate possihilc u. s. w. auch die Prädicate scilnle, diibitabile , credibile u. A. annehmen kann, so will er, dass mehrerlei Modalurtheile angenommen werden, als gewöhnlich geschieht. Der dritte Theil, de argumen- tatione, der ausführlichste von allen, zerfällt in vier Abtheilungen, welche die Schlüsse, die Definitionen und Beweise, die Gründe und Folgerungen, endlich die Fehlschlüsse behandeln. Er hält die ursprünglichen Aristotelischen drei Figuren gegen die späteren vier fest und nimmt den Aristoteles gegen den Vorwurf der Uuvoll- ständigkeit in Schutz. In jeder Figur gibt er die sechzehn mög- lichen Combinationeu zweier Prämissen an , eliminirt die unbrauch- baren, und bezeichnet die übrigbleibenden vier der ersten mit den Namen Burbura u, s. w., die vier der zweiten mit Cesure u, s. w., für die sechs der dritten werden keine analog gebildeten Wörter augewandt. Er zeigt dann, dass die Modi der sogenannten vier- ten Figur Bar(ili])ton u. s. w. durch Subalternation und Conver- sion des Schlusssatzes aus den Modis der ersten Figur eutstehn, und nennt sie (wie die ältesten Peripatetiker) indirecte Modi der ersten Figur. Dann aber zeigt er, dass man in der zweiten und dritten Figur durch ein ähnliches Verfahren auch dergleichen bil- den könne. Er zählt sie auf, erfindet für sie aber keine solche roces memoridles. Bei den Folgerungen werden besonders aus- führlich die Fälle betrachtet, wo einfache und modale Urtheile als Prämissen verbunden sind. Zu den di*eizehn Fallacien, die Aristoteles angenommen habe, seyen noch drei andere hinzuzufü- gen u. s. w. Manchmal ist man überrascht , ihn bei solcher Aus- führlichkeit versichern zu hören, er fasse sich kurz und das Wei- tere sey in seinen commentirenden Schriften zum Organen zu fijideu.

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436 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

7. Nicht nur mit dem Ari.slolelcs, sondern auch mit der Theo- logie soll diese terministische Ansiclit viel mehr übereinstimmen als die modern platonisirende. Vor Allem weil die Annahme sol- cher den Einzeldingen vorausgehenden wirklichen Allgemeinheiten jene aus ihnen als ihrem Stoffe hervorgehen lasse und also die Schöpfung aus Nichts leugne und damit die unbeschränkte Allmacht Gottes (Trct. log. I, 15 ad I Sentt, 38, 1 u. a. a. 0.). Diese aber und die mit ihr immer zusammengestellte Willkühr Gottes ist für Wilhelm, fast mehr noch als für Dans, das wichtigste Dogma, und in wörtlicher Uebereinstimmung mit seinem Vorgänger lässt er die Dinge nicht geschaffen werden, weil sie gut sind, sondern gut seyn weil Gott sie wollte. Die einzige Grenze für die gött- liche Macht ist der logische Widerspruch; obgleich er manchmal (z.B. ad I Sentt. 1, 5) Neigung zeigt, selbst diese nicht gelten zu lassen, wenn h. Schrift und kirchliche Entscheidungen dies for- dern, so ist doch im Ganzen stets dies festgehalten, dass Gott Alles kaim, was keinen logischen "Widerspruch enthält (u. A. Cen- tilog. Concl. 5), dass er eben darum so gut wie die Natur des Menschen die des Esels oder Stiers hätte annehmen können (ibid. Concl. 6). Die Annahme von idealen Musterbildern scheint ihm nun Gott die freie Hand zu nehmen. Er gibt zu, dass in Gott Ideen der Dinge sich finden , es soll aber darunter nur verstanden werden das Gedachtwerden oder esse objevücum der Einzeldinge, sie selbst wie Gott sie denkt; ein selbstständiges (subjectives) Seyn kommt denselben nicht zu (ad I Sentt. 35, 5). Wenn schon bei seinem Vorgänger, Dans, das Betonen des grundlosen Beliebens in Gott dem Wissen, welches ja auf der Nothwendigkeit fusst, Vieles entzogen hatte was nun dem Glauben überlassen blieb, so geschieht dies bei Wilhelm noch mehr. Die bei Weitem meisten von den hundert Conclusionen , aus welchen sein Centilogium be- steht, zeigen entweder, dass alle Beweise für die hauptsächlichsten Dogmen, die Existenz Gottes, seine Einheit, seine Unendlichkeit u. s. w. unsicher sind, oder wieder, dass die allerwich tigsten Dog- men, wie die Trinität, die Schöpfung, die Menschwerdung, die sakramentale Gegenwart des Leibes Christi zu Folgerungen führen, welche den anerkannten Sätzen der Vernunft widersprechen, dass Nichts zugleich seyn und nicht seyn, oder auch dass Nichts vor sich selbst existiren könne, dass aus richtigen Prämissen Gefolger- tes richtig seyn müsse, dass der Theil kleiner sey als das Ganze, dass zwei Körper nicht an einem Orte seyn können u. s. w. In diesem Nachweise mit Rettbery und c. Buiir eine ironische Stel- lung, oder mit Anderen Skepticismus , zu sehen, ist man um so

III. Verfallperiode. Occam. §. 216, 7. 8 437

weniger berechtigt, als in diesem Falle es mindestens fraglich bliebe, ob nicht die Ironie der Vernunft gilt. Dem Protestanten mag es allerdings seltsam vorkommen, dass Willielm , den eigne Neigung und Consequenz daliin drängt, die saki-amentale Gegen- wart des Leibes Christi durch dessen alldurchdringende Ubiquität zu erklären , dennoch sich für Transsubstanziation erklärt , und es mag ihm auffallen, dass Wlllelm so oft wiederholt: er wolle, wenn ja Etwas gegen die Kirchenlehre von ihm gesagt sey, dies nicht als Behauptung, sondern nur zur üebung des Scharfsinnes oder als Referat gesagt haben, oder dass er gar sagt, er sey bereit, zwar nicht irgend einer obscuren Autorität zu Gefallen , wohl aber wenn die römische Kirche dies fordere, was er eben bekämpft habe, zu vertheidigen (vgl. ad I Sentt. 2, 1. de sacr. alt. C. 3G u. a. a, 0.) wAq gesagt dergleichen mag dem Protestanten auffallen ; darum ader behaupten , dergleichen könne nie Jemand Ernst seyn, heisst die redlichsten Männer der allerverschieden- sten Zeiten zu Schelmen machen. Was bei Daus nur vorüberge- hend laut geworden (s. oben §. 214, 4), dass Etwas für den Theo- logen wahr , für den Philosophen falsch seyn könne , das ist bei WWielm durchgehende Ueberzeugung , und bei diesem Dualismus ist er doch aufriclitiger Aristoteliker und gläubiger Katholik.

8. Freilich entsteht jetzt die Frage, ob wohl die Theologie noch das Recht habe sich Wissenschaft zu nennen? Wilhelms Theorie von dem Wissen und der Wissenschaft findet sich theils dort, wo alle Commentatoren des Lombarden sie abhandeln, in den Quästionen zum Prolog der Sentenzen , theils in der zweiten Abtheilung des dritten Theils seiner Tract. log. Er nimmt die Unterscheidung des intuitiven und abstractiven Wissens von Duns herüber und bestimmt ihren Unterschied bald dahin, dass jenes es mit dem Seyn und Nichtseyn des Gewussten, dieses dagegen mit dem Was desselben zu thun habe, und also von dem Nicht- seyenden eben so möglich sey (Quoth V, 5), bald wieder so, dass jenes nur mit dem Gegenwärtigen , dieses auch mit dem Abwesen- den sich beschäftige. Unsere Apprehension sinnlicher Gegenstände ist daher ein intuitives Wissen. Dies heisst aber nicht, dass nun das letztere nur auf Sinnliches beschränkt wäre : auch Intellectuel- les, wie unsere eigne Traurigkeit nehmen wir intuitiv wahr. Das Verhältniss zwischen intuitivem und abstractivem' Wissen wird sehr oft so bestimmt, dass jenes die Grundlage von diesem bildet, so dass also alles Wissen sich zuletzt auf äussere oder innere Er- fahrung stützt. Eben darum aber gibt es hienieden für den Men- schen kein eigentliches Wissen von Gott; wenigstens kein auf na-

438 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

ttirlichem Wege erworbenes, denn dass Gott sich offenbaren, d.h. dem intuitiven Wissen sich hingeben könne, soll nicht geleugnet werden. Nicht nur dass der Theologie die Basis des Wissens, die Intuition Gottes , fehlt , sondern auch die Form des Wissens, der Beweis. Die Gottheit kann pi'optcr fjiild oder per priiis (wo aus der Ursache die Wirkung, aus dem Zwischentreten der Erde die Mondfinsterniss , deducirt wird) natürlich nicht bewiesen wer- den, weil sie keine Ursache hat. Der Beweis fpria wieder oder per posterhrs (wo aus der Mondfinsterniss auf das Zwischentreten geschlossen wird) hat hinsichtlich Gottes auch keine Kraft, weil er auf eine Menge von Voraussetzungen, Unmöglichkeit des end- losen Progresses u. s. w. sich stützt (ad I Sentt. 2, 3. Tract. log. ilL 2, 19 u. a. a. 0.). Endlich auch die Behauptung, dass Got- tes Daseyn ex tcrmhns gewiss sey, wie dieselbe im ontologischen Beweise liegt, hält Willielm nicht für schlagend und kritisirt die- sen Beweis in einer Art, welche mit der späteren Kantischen grosse Verwandtschaft zeigt. Da nun Gott, wenn auch nicht der alleinige, doch der Hauptgegenstand der Theologie ist (ad. Prol. Sentt. qu. 9), so kann von der Theologie als einer Wissenschaft im eigentUchen und strengsten Sinne nicht die Rede seyn.

9. In Folge dessen finden sich in Ovettms Theologie viel mehr negative Sätze als positive Behauptungen, und die Erklärung, die- ses werde auf Autorität angenommen , es sey nur theologiee lo- tjvcndo richtig u. dgl., muss oft die Deduction vertreten. Sein Hauptverdienst ist, dass er der Entfernung manches Wustes aus der Dogmatik vorgearbeitet hat. Seinem Lieblingsspruche gemäss Pliirnlifns non est poucnda sine neccssll nie leugnet er eine Menge von Unterschieden, die bis dahin gemacht waren. So den zwi- schen dem Wesen Gottes und seinen Eigenschaften: Gott selbst ist seine Weisheit und umgekehrt (ad I Sentt. 1, 1 u. 2), Er er- klärt sich gegen alle die Verdoppelungen, durch welche die pa- ternitas vom pater , die filiatio vom fdins unterschieden wird (Quoth 1 , 3. IV , 15) ; er will nichts davon wissen , dass der Sohn im Verstände, der h. Geist im Willen des Vaters seinen Grund habe. Beide gehen aus dem Wesen Gottes hervor und Verstand und Wille sind dasselbe (ad I Sentt, 7, 2). Eben so wenig soll durch die Einheit etwas zu dem Wesen Gottes hinzukommen (Ibid. 23, 1). Dieselbe Neigung zum Vereinfachen zeigt Wilhelm bei der Betrachtung der Creatur, namentlich des Menschen. Er leug- net die Vielheit der Seelenvermögen, hält die Einheit des Ver- standes und Willens fest, eben so den der vegetativen und sensi- tiven Seele (Quoth II, 11). Nur wo Erscheinungen hervortreten,

III. Verfallperiode. Occamisten. §. 217. 1. 4d9

die sich entgegengesetzt sind, muss auf einen gleichen Gegensatz und darum auf Zweiheit der Ursachen zurückgeschlossen werden. Der Streit der Sinnlichkeit mit der Vernunft ist eine Bestätigung des, auch sonst anzunehmenden, realen Unterschiedes der sensi- tiven und intellectiven Seele. Wenn gleich auch die letztere hie- nieden im Leibe ist, so doch nicht circnmsvriptive. d.h. so dass ihr Ganzes dem ganzen Leibe, je einer ihrer Theile immer einem Theile des Leibes inwohnt, sondern d'iffniitbce , d. h. ganz in je- dem Theile wie der Leib Christi in der Hostie (Quoth I, 10. 15. IV, 26 u. a. a. 0.). Dagegen ist die sensitive Seele ausgedehnt und mit dem Leibe als seine Form verbunden (Quoth II, 10). Weil beide reahter verschieden sind, deswegen darf auch nicht der einen zugesclirieben werden, was der andern gebührt; die Ver- dienstlichkeit z. B. kommt niu- dem Innern Act der höheren Seele zu, das äussere Werk, durch die niedere Seele vollführt, ist gleich- gültig (Quoth I, 20). Der Einwand, dass die Strafe des Hölleii- feuers die intellectuelle Seele nicht berühren könne, wird damit beseitigt, dass für dieselbe: sich wider ihren Willen im Feuer zu befinden, ein wirklicher Schmerz sey (Ibid. 19).

§. 217. 1. Das im J. 1339 ergangene Verbot an der Pariser Universität, nach Occaiiis Lehrbüchern zu lesen, dem im folgenden Jahre die feierliche Verwerfung des Nominalismus folgte, beweist, dass schon zu Lebzeiten Occanis er einen zahlreichen Anhang muss gefunden haben. Nicht nur der eigne Orden bot ihm denselben. Seit Ai'- mmuJ ron Beauciüs (gest. 1340) und lloherl Holkot (gest. 1349) gehen die Dominicaner, seit Ti>omas von Strassburg (gest. 1357) und seinem Nachfolger Greyor von Eimini die Augustiner schaa- renweise zum Xominahsmus über, und die gegen den gemeinsa- men Feind sich verbindenden Thomisteu und Scotisten, ob sie gleich Männer unter sich zählen wie den Doctor planus et per- splauis (s. oben §.214) und den Erzbischof von Canterbury , T//o- mns Bradicdi'fUnc . können doch, durch die Fruchtlosigkeit ihres Kampfes, nur beweisen, dass die Zeit des Xominalismus gekom- men, und dass dariun, wer sich für ihn erklärt, der Zeitverstän- digere, d. h. Philosophischere ist. Der allerletzte Versuch, wel- cher gemacht wurde, ihn mit Gewalt zu unterdrücken, fällt in das Jahr 1473, wo ein Edict LmJwiys XI alle Lehrer der Pariser Universität eidlich auf den Realismus verpflichtet. Der scheinbare Gehorsam wurde nicht lange gefordert, da im J. 1481 der Nomi- nalismus wieder frei gegeben wird.

440 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik)

2. Zu den Bedeutendsten unter den Nominalisten des vier- zehnten Jahrhunderts gehört Johannes Bnridanus , geboren in Be- thune im Artois, Professor in der Artistenfacultät zu Paris und im J. 1327 Rector daselbst, der mit Veranlassung geworden seyn soll zu der Stiftung der Wiener Universität im Jahre 1365. Seine Schrift supra summulas, die zu ihrer Zeit sehr berühmt war und oft unter dem Titel Pons asini citirt wird, kennt der Schreiber dieses nicht. Wahrscheinlich hat sie das Studium der Logik er- leichtern sollen. Dagegen kommen die Commentare des Buridan zum Aristoteles öfter vor. Der zu de anima ist zu Paris 1616 in Foho, die Quaestiones in Politic. Arist. zu Oxford 1640 in Quarto, endlich der Commentar in Metaphys. Arist. zu Paris 1518 in Folio, gedruckt. Nur die nominalistische Trennung zwischen Philosophie und Theologie setzt ihn in Stand , über die Freiheit des Willens so zu philosophiren wie er es thut, und doch sie zu behaupten.

3. Würdig steht ihm zur Seite sein jüngerer Zeitgenosse und Freund MarsUiiis von Inghen. In der Moselgegend geboren, hat er seit 1362 mit Ruhm in Paris gelehrt, ist dann unter dem Pfalz- grafen Robert einer der Gründer der Universität zu Heidelberg geworden, und im J. 1392 daselbst gestorben. Seine Quaestiones supra IV. libb. Sententt. (Strassburg bei Ftaclt 1501. Fol.) sind in Heidelberg geschrieben, commentiren aber nur vom ersten Buche sämmtliche Distinctionen, ein Beweis für das Vorwiegen des specu- lativen Interesses. Jeder Zweifel über den Nominalismus des Mar- silius muss verschwinden , sobald man ihn gleich im Prolog sagen hört, dass non sunt res universales in essen do , wenn man ihn weiter entwickeln hört, dass die Aehnlichkeit der Dinge dahin bringe, nicht beliebig, sondern unwillküln-lich (naturaliter) das Ge- meinsame aus ihnen zu abstrahiren. Eben so stimmt er darin, dass die Theologie nicht Wissenschaft im strengsten Sinne sey (Fol. XVn, b) , ferner in der stets wiederkehrenden Polemik ge- gen unnütze Unterscheidungen, z. B. des Wesens und der Eigen- schaften Gottes , endlich in dem Betonen der unbeschränkten Will- kühr Gottes ganz mit Occain überein. Auch das Verhältniss der intuitiven und abstractiven (per disenrsinn acfjuisita) Erkenntuiss fasst er wie Jener und macht mit ihm die intuitive zum Grunde jeder anderen. Dass er dabei Occam nur selten, dagegen Dn- rand viel öfter als Gewährsmann anführt, und dass er neben Thomas und Aegidias den Thomas von Strassburg und Roh. Hol- hot sehr oft citirt, scheint zu beweisen, dass er weniger durch die Franciscaner als durch Andere dem Nominalismus gewonnen ward. Von seiner, lange für verloren gehaltenen, Dialectica hat

in. Verfallperiode. §. 218. 441

Jellineck eine hebräische Uebersetzuiig aufgeftiüdeu , welche auch bei den Juden den Uebergang zu nomiualistischen Tendenzen constatirt.

4. Bedenkt man, dass die Bltithe der schohistischen Philoso- phie so sehr von der der Pariser Universität bedingt galt, dass Stimmen laut werden konnten, welche dafür die Sanction des Ge- setzes verlangten, was bereits factisch feststand: dass in jeder wissenschaftlichen Streitft-age das Urtheil der Pariser Universität entscheidend sey, so wird man den Umstand nicht gering anschla- gen dürfen, dass Johann Biiridun und MarsUius zur Gründung neuer Wissenschafts - Centra mitwirken, die von Anfang an eine mehr nationale Färbung zeigen, als Paris. AYie mit dem römi- schen KathoHcismus , so ist mit der Philosophie, die in seinem Dienste steht (und das war ja die Scholastik gewesen), eine De- centralisation unvereinbar. Damit, dass eine solche eintritt, hat es auch aufgehört, dass die Veröffentlichung von articulis Pari- siensibus allem Streit ein Ende macht. Was die scholastische Philosophie lehrt, das hat man zuletzt besser als in Paris in Tü- bingen lernen können, wo Gabriel Blei, den man gewöhnlich als den letzten Scholastiker anzuführen pflegt, die nominalis tischen Lehren so vorgetragen hat, wie sie in seinem Collectorium (ge- druckt 1512 in Fol. und dann noch öfter), in seinem Commentar zu den IV libb. sententt. . und anderen Schriften niedergelegt sind,

§• 218.

Schon der aus dem Thomismus hervorgegangene, noch mehr aber der durch Occam aus dem Scotismus gezogene Nominalis- mus lässt, indem er die beiden Elemente der Scholastik, die Kir- chenlehre und die Philosophie, in Gegensatz zu einander bringt, nur die eine Consequenz zu: Jede ohne die andere zu betreiben und so den idealen Inhalt des Glaubens ohne alle Rücksicht auf die Wissenschaft, oder wieder die Wissenschaft als, auf die Wirk- lichkeit beschränkte, Weltweisheit darzustellen. Sollten Geister, die mehr vermögen als blosse Repetenten eines Durand und Oc- ram zu seyn, sich gegen diese Consequenz sträuben, so wird ihnen nur übrig bleiben, in einer andern als der bisherigen Weise Kir- chenlehre und Wissenschaft zu vereinigen. W^äre mit dieser Neue- rung in der Form zugleich ein Fortschritt im Inhalte gemacht, d. h. die eben angedeutete Consequenz gezogen, so würden sie als Beginner einer neuen Periode Anhang ge\Ninuen. Jetzt aber, wo 5ie kaum so weit gehen wie die, welche die von ihnen ge- fürchtete Folgerung so nahe legten , wird durch die formelle Neue- rung die, ohnedies isolirte, Stellung einer reactionären Lehre noch

442 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

gemehrt. Auch ausserordentliche Begabung bringt es höchstens zu persönlicher Achtung, nicht zu nachhaltigem wissenschaftlichen Einfluss. Dass die spätere, antischolastische, Philosophie diese Männer, die sich, wenigstens in der Form ihres Philosophirens, von den übrigen Scholastikern entfernen, sich näher stehend er- achtet, streitet mit dem Gesagten nicht. Zuerst kommen hier die beiden auf einander folgenden Kanzler der Pariser Universität, Pierre (VAilly und Jolmnii CLfirlier ron Gerson zur Sprache, denen, obgleich sie tief eingeweiht sind in die scholastischen Di- stinctionen, doch nicht diese, sondern erbauliche Reden und pa- ränctische Betrachtungen das Werkzeug werden, durch das sie ihren Glauben mit ihrem nominalistisch gefärbten Aristotelismus in Uebereinstimmung bringen. Beide darin einverstanden, dass der, aus der Predigt des Evangeliums stammende, Glaube mehr werth sey als alle scholastischen Untersuchungen darüber, und daher im Stande von Solchen sich anregen zu lassen und solche anzusprechen, die, weil sie ganz mit der Scholastik gebrochen ha- ben, der folgenden Periode zuzuzählen sind, unterscheiden sich doch darin von einander, dass in dem Glauben des Pierre (rAilly mehr die Kirchlichkeit, in dem Gersovs die subjective Frömmig- keit in den Vordergrund tritt. Es möchte damit zusammenhängen, dass der Erstere fast mehr noch als die Victoriner den Thomas von Aquino, der Letztere dagegen vor Allen den Bonareiitura als seinen Lehrer und Vorgänger preist.

§. 219, .4. Piorrc d'Ailly.

1. Pierre d'AiJhj , latinisirt Petrvs de AUiuro , im J. 1350 in Compiegne geboren , erhielt seine philosophische Bildung in Pa- ris, trat 1372 als Theolog in das Collegium von Navarra, begann 1375 über die Sentenzen zu lesen, war 1380 Doctor, im folgen- den Jahre Vorstand seines Collegiums, 1389 Kanzler der Univer- sität so wie Almosenier und Beichtvater des Königs , dann Bischof zu Puy, endlich zu Cambrai, in welchen Stellungen er stets auf das Aufhören des kirchlichen Schisma durch Abdankung der bei- den Päpste hingearbeitet hat. Im J. 1411 zum Cardinal ernannt, war er die eigentliche Seele des Concils von Kostnitz und ist am 9, Octbr, 1425 als Cardinal Legat in Deutschland gestorben. Von den vielen Schriften, die er verfasst hat, erschienen im J. 1490 in Strassburg Tractatus et sermones und Quaestt. sup, libl), sen- tentt. Unter den ersteren befindet sich das Speculum considera- tionis , das Compendium contemplationis , das Verbum abbreviatum

in. Verfallperiode. A. Pierre d'Ailly. §. 219, 1. 2. 443

super libro psalmorum, die Betrachtungen zum Hohenliede, zu den Busspsalmen, zum Vaterunser, zum Ave Maria u. s. w., der Tractatus de anima, Predigten über Advent, über viele Heilige. Den Quästionen wieder sind angehängt: Recommendatio sacrae scripturae, das Principium in cursum bibliae, so wie die in seinen Vesperiis abgehandelte Quaestio utrum ecclesia Petri sit ecclesia Christi?, so wie die Quaestio resumpta über denselben Gegenstand. Die letzteren Aufsätze finden sich auch in den Anhängen des er- sten und zweiten Bandes der dir Pin'scheii Ausgabe von Gcrsons Werken (s. §. 220), die ausserdem kleinere, früher nicht gedruckte, Schriften fVAUly's enthalten, deren Titel zum Theil schon Biiläns angegeben hatte. Hier findet sich die Abhandlung über die Noth- wendigkeit und Schwierigkeit der Reform der Kirche, deren Aecht- heit freilich bestritten wird, hier die Tractate über die falschen Propheten, an welche sich durch ihren Inhalt die, im J, 1416 ge- schriebene , des Roger Baron Lehren beschränkende , Abhandlung adversus Astronomos anschliesst.

2. Die Quästionen zu den Sentenzen bieten zunächst rein Oc- camistische Lehre. So namentlich wieder bei der dritten Distin- ction des ersten Buches, wo in der Quaest. 6 erklärt wird, dass Gott Ideen nur von Einzelwesen habe, da nur diese extra produ- cibilia , dagegen die univcrsaliu lediglich in anima seyen als die gemeinsamen Prädicate der Dinge. Nimmt man dazu noch die Behauptungen (qu. 1), dass alle Wahrheiten Sätze sind, dass (qu. 3) was wir wissen immer ein Satz ist und nicht wofür der Satz steht, so werden auch die theologischen Stichworte des No- minalismus, dass die Theologie nicht eigentüche Wissenschaft, dass Gott von seinen Attributen nicht unterschieden sey u. s. w., nicht überraschen. Auch der vielbesprochene Satz, dass wir von den sinnlichen Dingen ein Wissen nur unter der Voraussetzung haben, dass Gott die Naturgesetze nicht ändern werde, kann nicht als einer angesehen werden, den nicht ein anderer Nominalist ganz eben so hätte formuliren können. Ist d'AHbj hierin den übri- gen Nominalisten gleich, so lässt er sich hinsichtlich der Vollstän- digkeit ihrer Commentare sogar von ihnen übertreffen: das zweite Buch hat er ganz übergangen, das dritte in einer einzigen Quä- stion abgethan u. s. w. Dagegen tritt in einem ganz Anderen d'Ailly eigen thümlich und bedeutend hervor: die Principia der einzelnen Bücher, d. h. die gewöhnlichen Einleitungsvorlesungen, in denen er nicht sowol den Inhalt der einzelnen Bücher angibt: sondern das Verdienst ihres Verfassers verherrlicht, sind viel in- teressanter als die Commentare. Man könnte sie fast.Homilien

444 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Peviode (Scholastik).

über das Bibelwort: quamnin dortrina Ixtcc nora? nennen, in denen sich der homiletische Künstler in geistreichen, durch Alli- teration und Reim gewürzten Antithesen ergeht, wie sie zu allen Zeiten der feierliche Witz gerühmter Kanzelredner erfand. Ihrem Verfasser scheint erst wohl zu werden , wenn er (im cursus bibUae) zeigen kann, wie die quaestiones subtiles et studiosae hi scola theorica philosophomm , die (quaestt.) difficiles et curiosae in scola phantastica Mathematicorum , die (quaestt.) civiles et contentiosae in scola politica jurisperitorum , endlich die utiles et virtuosae in scola catholica theologomm gelöst werden.

3. Erinnert er schon in diesen Schriften an die Victoriner (s. oben §. 171 flf.), so noch mehr in den Schriften, in welchen er geradezu als Compilator aus dem erscheint, was sie und ihnen geistesverwandte Spätere gelehrt hatten. So besonders in den zu- sammengehörenden speculum consideratioiiis und compendium con- templationis. In dem ersteren wird den Gefahren des weltlichen die Sicherheit des klösterlichen Lebens entgegengestellt, das Sy- stem der siel)en Haupt- und ihrer Tochtertugenden entwickelt und darin der Vorschmack der Seligkeit nachgewiesen , endlich mit der traditionell gewordenen Anknüpfung an Ra//el und Leu das Ver- hältniss des contemplativen und thätigen Lebens entwickelt. Der Hauptpunkt ist dabei das Ausgehn von der Selbstbeobachtung. Von dem, was in uns ist aus-, zu dem was um uns ist überzu- gehu , um endlich bei dem auszuruhen , was über uns , das ist der Weg, den die betrachtende Seele nimmt. Die sechs Stufen der Contemplation bei lUchard von St. Victor (s. oben §. 172, 3) wer- den angeführt, eben so die von Anderen angenommenen, und da- mit die Angabe der Hülfsmittel und Anzeichen derselben verbun- den. Das Compendium contemplationis enthält in ihrem ersten Theile allgemeine Bemerkungen über das contemplative Leben ganz nach T/tomiis von Aquino, in dem zweiten wird mit Anknüpfung an die Familie Jacobs die spirifiidlis gciiedlogia, d. h. die ein- zelnen Momente der Contemplation dargestellt, in dem dritten endUch (de spiritualibus sensibus) das geistige Sehen, Hören, Schmecken u. s. w. durchgenommen. Am Schlüsse nennt d'Ailly die, aus denen er besonders geschöpft habe, fügt aber hinzu, dass auch Andere , namentlich Solche , die in der Vulgarsprache gepre- digt haben, bei seiner Arbeit benutzt worden seyen.

4. Es ist, bei einer gewissen Schmiegsamkeit seines Charak- ters, nicht unmöglich, dass d\4Uhfs Ernennung zum Cardinal seine Ansichten über das Papsttlium etwas modificirt hat, wie man dies auch seinem Schüler JSlcoIaus vov Clemimge nachgesagt

III. Verfallperiode. A. Pierre d'Ailly. §. 219, 4. 445

hat. Wenigstens kam es zwischen ihm, dem früheren Lieblings- kinde der Pariser Universität, und ihr später zu einem Conflict, als es sich um die dem Papst Benedict XII verweigerten Steuern handelte. Dennoch geschähe ihm zu viel, wenn man einen Wi- derspruch zwischen dem, was er zu verschiedenen Zeiten gelehrt, behaupten w'ollte. Zeit seines Lebens, so scheint es, hat er die Ansicht vom Primat des römischen Bischofs festgehalten, die er in dem , in seinen Vesperiis gehaltenen , Vortrage de ecclesia Petri entwickelt hat. Darnach kommt dem Petrus vor den übrigen Aposteln keine höhere Weihe, keine grössere potestas orcUiüs , zu, denn die Worte Jesu: auf diesen Felsen u. s. w. gehen auf Chri- stum selber. Wohl aber gibt ihm das : „Weide meine Schafe" eine gi'össere potestas reglmuüs , also einen administrativen Vorzug. Dieser war persönlich, und wie das administrative Centrum der Kirche mit dem Bischofssitze des Petrus wanderte (von Jerusalem nach Antiochia, von da nach Rom), so ist es auch jetzt nicht unbedingt an Rom gebunden; würde Rom zu einem Sodom, so würde der snmmus episcopus wo anders seinen Sitz haben. Was dann weiter die weltliche Herrschaft des Papstes betrifft,- so stellt er den strengen Franciscauern (spir'duales) , welche dieselbe ab- solut verwerfen, als entgegengesetztes Extrem den Herodes ge- genüber, der in Christo einen weltlichen Fürsten sah und fürch- tete; er selbst hat Nichts dagegen, dass der Papst durch Um- stände wie die Schenkung Constuuthis u.a. auch weltlicher Fürst geworden ist. Was endlich die Unterordnung des Papstes unter das allgemeine Concil anbelangt, so steht das Decret des Kost- nitzer Concils schwerlich in Widerspruch mit d'AUhjs früheren Ansichten, und dass er bei der Redaction desselben wirklich nur für diesen einen Fall eine solche Unterordnung behauptet habe, scheint nicht recht glaublich. Freilich, dass er sich von dem ent- fernt, was die römisch-katholische Kirche in ihren grössten Re- präsentanten, Gregor VII und Innorenz III j diesen Incarnationen ihres Triumphes, ausgesprochen hat, ist gewiss. Anders aber ist es auch nicht von einem Manne zu erwarten, der, obgleich ein- geweiht in alle scholastischen Feinheiten, doch nicht wie Duns u. A. nur aus dem von der Kirche adoptirten dogmatischen Lehr- buche und den Decreten des kanonischen Rechtes mit Hülfe des Aristoteles die W^ahrheit schöpft, sondern der von mystischen Volksrednern gelernt hat, und der stets dagegen eifert, dass das Studium des kanonischen Rechtes vom Lesen der h. Schrift, die- sem eigentlichen Fundament der Kirche, abbringe.

446 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

§. 220. B. Johanu Gersou.

t/o. Bapt. Schwab Johauu Gersou, Professor der Theologie und Kanzler der Universität Paris. Würzburg 1859.

1. Johann Chnrlier , bekannter unter dem Namen Gcrsoji \vie das Dorf in der Nähe von Rlieims hiess, in dem er am 14. Decbr. 1363 geboren wurde, kam in seinem vierzehnten Jahre nach Paris und als Artist in das Collegium von Navarra, wo ihn P. (VAilbj und Heinrich von Oifia in die Logik einweihten. Der Erstere ward auch sein Lehrer in der Theologie und gewann ihn so lieb, dass er ihn zum Nachfolger auf seinem Lehrstuhle und im Kanzleramt mit Erfolg empfahl. Lu J. 1397 ward Gerson De- "can in Brügge und liess das Kanzleramt durch einen Substituten verwalten. Die seit jener Zeit viel eifriger betriebenen Studien BoiKtrcnlKvas, zugleich der persönliche Verkehr mit Beghardeu, Fraticellen und Brücken des freien Geistes, bringen seine mit der Kirche ül)ereinstimmende Mystik immer mehr zur Reife. Die Schrift über die falschen und wahren Visionen stammt aus dieser Zeit. Die Lobpreisungen der Mystik setzt er auch fort nachdem er im J. 1401 nach Paris zurückgekehrt war, und wieder dem Kanzler- und Professor -Beruf, später auch dem eines Pfarrers von St. Jean au Greve, lebte, lieber die theoretische Mystik hat er 1404 ge- lesen, ül)er die praktische im J. 1407 eine Abhandlung (in Genua) geschrieben. Der Schmerz über das kirchliche Schisma liess ihn stets auf Abhülfe denken, und obgleich er selbst an dem Concil zu Pisa nicht Theil nahm , so ist doch seine Schrift de auferibili- tate Papae bestimmt, die vom Concil gegen beide Gegenpäpste unternommeneu Schritte zu rechtfertigen. Im Geiste dieser seiner Schrift wirkte Gerson auch als Gesandter seines Königs und sei- ner Universität auf dem Kostnitzer Concil, wie die daselbst ver- fasste Schrift de potestate ecdesiastica beweist. Eine andere , die viel weiter geht: de modis uniendi et reformandi ecclesiam, ist, wie die gründlichsten Kenner seiner Lehre behaupten, nicht von ihm. Jedenfalls ist er weniger als P. d'Aillij von Rücksichten ge- gen das Papstthum geleitet worden. Liess dies ihn auf Gönner- schaft und Schutz beim päpstMchen Hofe verzichten, so wurden seine, schon in Paris und später in Kostnitz ausgesprochenen, Er- klärungen gegen den Tyranneumord (d. h. gegen die Ermordung des Herzogs von Orleans durch den Herzog von Burgund) die Ver- anlassung, dass ihm in Frankreich höheren Ortes gegrollt ward. So war er genöthigt, zuerst ausserhalb Frankreichs, dann, seit 1419, wenigstens ausserhalb Paris zu leben. In Lyon, wo er am

III. Verfallperiode. B. Joh. Gersou. §. 220, '2- 447

12. Juli 1429 gestorben ist, hat er viele Abhaudluiigen verfasst. So de perfectione cordis, de elucidationfr theologiae mysticae, de susceptione liumaiiitatis Christi u. a. Seine gesammelten Werke gehören zu den ältesten Drucken. Die erste Ausgabe derselben ist die Cölner vom J. 1483 in vier Foliobänden, die vollständigste die Antwerpiier von 1706, von du Pin in fünf Foliobänden,

2. Ganz wie bei P. iVAUhi, den er nicht inüde wird seinen verehrten Lehrer zu nennen, ist der Standpunkt der Philosophie, zu dem sich Gerson bekennt, der des Ocravi, welchen er dabei immer ajs den Aristotelischen bezeichnet. Bei seinem, allem Zwie- spalte abholden, Naturell mussten die heftigen Angriffe, welche die Forma lizantes und Mctaplnjsicanles, wie er sie nennt, d. h. die Scotisten, gegen die von ihnen als ..riides et terminlstae nrc reales in Mefaphijsira'' verspotteten Anhänger des Orcam unter- nahmen, ihn kränken. Er versucht daher den Zwiespalt zwischen Beiden zu lösen. Von den Schriften, die diesem Zweck gewidmet, sind besonders Centilogium de conceptibus, de modis significandi und ihr zweiter Theil de concordantia metaphysicae cum logica zu nennen (Bd. IV. p. 703 ff. 8 IG ff.). Den Namen von Vermitte- lungsversuchen verdient sie nur in so weit, als sie solchen Nomi- nalisten entgegentreten, die über den Oeram hinausgehn, indem sie nur solche teninnl statuiren , welche nuderialiler snpponnnt (vgl. oben §. 216, 3). Was Orcams eigene liehre betrifft, so wird von Gerson pure wiederholt, dass alles Wissen lediglich aus (er- winis bestehe, dass aber, weil diese entweder Dinge ausser uns, oder Vorgänge in uns bezeicliiien, ein Unterschied zwischen rea- lem und rationalem (sermociiialem) Vrissen und also zwischen Me- taphysik und Logik bestehe. Er bestreitet ferner, ganz wie ()c- eam . die Annahme von ausserhalb des denkenden Geistes existi- renden Universalien, weil dieselbe mit den Principien des Aristo- teles streite und die Allmacht Gottes beschränke (p. 805); er setzt, wie Oeeam, an die Stelle der e\ngen Gattungen im endhchen Den- ken die Ideen der einzelneu Dinge, und behauptet demgemäss, dass, wie überhaupt nur das Einzelne extra nnimam Realität habe, so auch Gott Alles als Einzelnes denke (p. 825). Eigeuthümlich ist ihm nur, dass er die entgegengesetzte, realistische, Lehre auch als die antikirchliche, von der Kirche stets verdammte, nachzu- weisen sucht. Er sieht ganz Tichtig ein (vgl. oben §. 159), dass der Realismus consequent durchgeführt dahin bringe, nur Gott Realität beizulegen. In jeder Verdammung pantheistischer Lehren durch die Kirche, z. B. in der des Amalriek (s. oben §. 176), sieht er darum die Verdammung des Systems, das zu solchen Conse-

448 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

quenzen führt. Vor Allem beruft er sich aber auf die Beschlüsse des Kostnitzer Concils, welches in den Böhmischen Ketzern gerade die Irrlehre von der Realität der Universalien verurtheilt habe (p. 827). Aber nicht nur in der Lehre von den Universalien ist Ger soll Occamist: er zeigt sich auch darin so, dass bei ihm die Philosophie und Theologie sehr verschiedene Wege gehn. Er ta- delt den Albert, dass derselbe mehr Zeit und Mühe auf Philoso- phie verwandt habe, als einem christlichen Lehrer zieme (Trilog. astrol. theologiz. WW. L p. 201) und zieht ihm deswegen den Alexander von Haies vor (L p. 117), was sich bei seiner Vor- liebe für Hiiffo von St. Victor, und seiner Ansicht, dass das her- gebrachte Commentiren des Lombarden nicht das richtige Verfah- ren sey, leicht erklären lässt. Er selbst sagt in einem Brief an P. (VAilhj, dass sehr Vieles von der Vernunft für wahr und recht erklärt werde, was nach einer erleuchteten Theologie für falsch gilt (WW. m. p. 432).

3. Keiner von allen bisherigen Theologen geht dem Gcrson über Bonnnenliira. In seinen Betrachtungen über die mystische Theologie wiederholt er, was Jener in seinem Itiuerario (s. oben §. 197, 4) und was Hi/ffo in seinen mystischen Schriften (s. oben §. 165, 4) gesagt hatte, und unterscheidet symbolische, eigentliche und mystische Theologie, von denen die ersten beiden mehr der cogniflo , die letztere dem affecius angehöre, und welche er mit den drei Augen der menschlichen Erkenntniss, die Iluyo (vor ihm schon Eriyena) unterschieden hatte, scnsus, ratio, intelügenüa, zusammenstellt. Da die mystische Theologie ein Erleben und Er- fahren Gottes ist, so ist sie der Philosophie, die ja auch von der Erfahrung ausgeht, verwandt. Eben darum ist auch den Erfah- rungen Anderer zu traun, wie ja auch die mystische Theologie des Dionysliis Areopagila ihren ersten Ursprung in dem hat, was Paulus von seinen inneren Erfahrungen demselben mitgetheilt hat. Vieles freilich bleibt unmittheilbar. Der eigentliche Sitz der my- stischen Theologie ist der apex menüs, die synderesis. Da diese der Himmel der Seele ist, so heisst das Entrücktsein in den drit- ten Himmel so viel als Suspension der niederen Functionen der Seele, und als ein nicht nur Sehen sondern Fühlen und Schmecken Gottes. Raptiia und amor extaticiis werden darum oft als gleich- bedeutend gebraucht. Als in der synderesis begründet hat die mystische Theologie einen praktischen Charakter, wird oft mit der religio und cliaritas als Eins gesetzt, und den anderen beiden Theologien weit vorgezogen. Die letzteren haben ohne sie gar keinen Werth, wohl aber umgekehrt sie ohne Jene. Auch ist die

m. Verfallperiode. Gerson. §. 220, 3. 4. 449

mystische Theologie unabhängig von aller Gelehrsamkeit und kommt daher auch bei den ganz Einfältigen vor. Hire Schule ist nicht die gelehrte sondern die des Gebets. Die durch Liebe vermittelte Vereinigung mit Gott kann Umwandlung in Gott genannt wer- den , wenn man darunter nur nicht den Unsinn versteht, dass der Mensch in Gott aufhöre. Diesen häretischen Irrthum des Am<i]- rirh soll nach Gerson, Bvyshrocl in seinem Schmuck der geist- Hchen Hochzeit zu theileu wenigstens scheinen. Am Richtigsten sey es zu sagen, dass in den Augenblicken der mystischen Liebe der Geist von der Seele getrennt, dagegen mit Gott verbunden, wird. Man kann nicht sagen, dass die Augenblicke, wo man Gott schmeckt, alles Bewusstseyn ausschliessen , wohl aber jede Refle- xion; sie sind ein ganz unmittelbares Empfinden. Die Haupt- schriften über die mystische Theologie, denen auch alle die vor- stehenden Sätze entnommen wurden, sind: Considerationes de theo- logia mystica speculativa, de theologia mystica practica, Tractatus de elucidatione scholastica mysticae theologiae, alle in der 2*'" Ab- theilung des 3'^" Bandes bei du Pht.

4. Gersons kirchhche Stellung betreffend, hat der eingebür- gerte Ausdruck, er gehöre zu den Vorreformatoren, manche Irrthü- mer hervorgerufen. Wer auch nur seine Lectio contra vanam cu- riositatem gelesen und dort u. A. gefunden hat, wie er sich da- gegen ausspricht, dass die Einfältigen Bibelübersetzungen lesen (I, ü. 85), oder wer ihn in einer andern Schrift (de exam. doctrin. WW. I) über die Ehelosigkeit des Priesterstaudes, über das Abend- mahl in beiderlei Gestalt sich auslassen hört, wer ihn wieder wo anders (de auferib. Papae) behaupten hört, dass nicht einmal ein Generalconcil die monarchische Verfassung abschaffen dürfe u. s, w., wird wohl davon zurückkommen, dass Gerson kein treuer Sohn der römisch-katholischen Kirche. Er ist Feind jeder Neue- mng, und beträfe diese auch nur einen dogmatischen lerndints. Er wird nicht müde, des August ums Ausspruch zu citiren, dass an den hergebrachten Ausdrücken festzuhalten sey, und hält hierin stets die Pariser Universität den englischen und der Prager als Muster vor. Mit dieser Furcht vor Neuerungen verträgt sich bei ihm sehr gut, dass das Concil, zwar nicht das Papstthum abschaf- fen, wohl aber einen Papst absetzen kann. Die entgegengesetzte Lehre, dass der Papst über dem Concil stehe, nennt er pestifera et perrersisshna, weil sie gerade die Neuerung sey. Von Alters habe gegolten, dass der Papst und sein aristokratischer Beirath, das Cardinalscollegium, wo es sich um Lehrbestinnnungen handle, irren könne, das Generalconcil aber nicht (de potest. eccles. WW.

Erdmaau . Gesch d. Phil. I OQ

450 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

I, II). Obgleicli im Wesentlichen mit P. (V Ailbj einverstanden, spricht er doch viel entschiedner als dieser, selbst zum Cardinals- collegium gehörige und dem Trapst verpflichtete, Lehrer und Freund. Aus Gerson spricht fortwährend, was er allein und mit Leiden- schaft war, der Universitätsinann und der Pfarrer. Als Beides konnte er keine Vorliebe für die Bettelorden haben, die sich auf die Lehrstühle und in den BeicJitstuhl hineingedrängt hatten: eine gewisse Nichtachtung derselben spricht sich öfter bei ihm aus.

§. 221. Das entsprechende Korrelat zu P. ir.iilhi und Gerson bildet ein Mann, welchem sich die zweite Hälfte des von der nominali- stisch gewordenen Scholastik gestellten Dilemma's (s. §, 218) auf- drängt: der Philosophie als ihren einzigen Gegenstand die Welt zuzuweisen, der aber, el)en so wenig wie jene Beiden, den Willen hat, mit der Scliolastik - (dies heisst hier: mit der Theologie, dort hiess es: mit der Philosophie) zu brechen. Es bleibt ihm nur übrig, die Philosophie ganz auf die Weltbeobachtung zu grün- den, dabei aber diese selbst als Brücke zur kirclilichen Theologie zu brauchen. Wenn also Grr,s!>n sich für den Xominalisinus er- klärt, weil der Gegensatz dazu unkirchUch sey, so wird hier ge- zeigt werden, dass für die Weltordnung das unentbehrlich ist, was die Kirche lelirt. Musste dort die Kirche die Philosopliie bestä- tigen, so verbürgt hier die Weltkunde das, was dei- (xlaube lehrt. Wie es ein richtiger Tact war, der Gf^rsoa dahin brachte, seine Theologie mystisch zu nennen, so ein gleich richtiger der dem Bnyminfd roii Sahiuiftr den Namen einer natürlichen Theolo- gie eingab. Es durfte nicht als bedeutungslos angesehn werden, (vgl. §. 194), dass in ihrer Glanzperiode die Scholastik durch Glie- der der Bettelorden vertreten wurde. Dass P. rl' .iilhj und (<ersnu Universitätsmäniier und Weltgeistliche sind, und in einem kühlen Verhältniss zu den Bettelorden stehn, ja dass in fhiiimuiul ein Mediciner in der Philosophie das Wort ergreift, muss als ein Zei- chen angesehn werden, dass dieselbe anfängt ihren streng geistli- chen Charakter abzustreifen.

§. 222.

R a y m u n d von S a b ii n d e. Hutter die Religionsphilosophie des RaymuiKlus von Sabunde. Augsb. 1851.

L Baymiivfl ron Sahtnide (anstatt dessen auch Sehimde und Snheydn vorkommt) soll in Barcelona geboren seyn, und hat als Doctor der Philosophie und Medicin, zugleich aber auch als Pro- fessor der Theologie in Toulouse gelebt, wo er im J. 14B6 seine

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III. Verfallpeiiode. Raymund von Sabiiude. §. 222, 1. 2. -451

Theologia naturalis 8. über creaturarum veröffentlichte, welche öf- ter (u. A. Fraiicof. 1635. Solisbaci 1852 aber ohne den Prolog) gedruckt worden ist. Ein, von llaymund selbst gemachter, Aus- zug daraus sind die sechs Dialogi de natura hominis (u. A. ge- druckt Lugdun. 1568 nebst einem untergeschobenen siebenten) , die auch unter dem Titel Viola animae vorkommen sollen. Weiteres vom Leben Umjmjiiids war auch dem j\JoHt<ii(jne , der auf seines Vaters Befehl dessen Schrift übersetzte, nicht bekannt.

2. Die öfter (auch bei Ritter) vorkommende Behauptung, Ray- mond sey Reahst gewesen, wird nicht nur durch seine ausdrück- liche Behauptung Theol. nat. Tit. 217, dass die Dinge durch un- ser Denken ihren modum particularem et singuUirem et individua- lem verlieren, und einen modum rommaucm et iiniversdlem erhal- ten, welchen sie cxtiui (iitlmiun lum finbott, ^\'iderlegt, sondern eben so auch durch den Nachdruck, den er auf das liberum ar- bitrimn, als die Herrschaft des Willens über das Denken, sowohl in Gott als in dem Menschen legt. Dass er dabei sehr oft von Ovcam abweicht, hat nicht darin seinen Grund, dass ihm Scotus, geschweige denn dass ihm T/'/omas mehr aus der Seele spräche, sondern darin, dass er sich jene Trennung von Wissenschaft und Glauben, welche (Jccams Centilogium so grell hervortreten Hess, nicht kann gefallen lassen. Da er überhaupt in seinem Werke keine Autoren nennt, so ist es schwer zu entscheiden, in wie weit er seine Vorgänger gekannt hat. Nur hinsichtlich Eines kann kein Zweifel Statt finden, weil er den manchmal fast ausschreibt, das ist Ansei m. dessen ontologischen Beweis und dessen Chiistologie (Tit. 250 265) von keinem Scholastiker so unverändert aufge- nommen worden ist als von Raymund. Dieser Anschluss ist er- klärlich: die mit Hülfe des Aristotelismus begründete Theologie hatte zum Nomiuahsmus geführt, dessen rtichtigkeit unbestreitbar erschien, aber auch zu der Behauptung, dass die Dogmen das Gegentheil vom Aristotelismus lehren. Wer also jetzt philosophiren, doch aber auf die Uel)ereinstmimung mit dein Dogma nicht ver- zichten wollte, dem blieb nichts übrig als sich auf den Standpunkt, nicht des Aristotelismus sondern des natürlichen Verstandes zu stellen, mit ihm zunächst die Welt zu betrachten, dann aber zu sehn, ob und wie weit damit die Kirchenlehre stimmt. Dies aber war ja gerade auch die Aufgabe gewesen, die in ihrer Jugendperiode sich die Scholastik gestellt hatte (s. oben §. 194) ; in ihr, nicht in der vom Aristoteles beherrschten Glanzperiode werden also die Gewährsmänner zu suchen seyn. Da aber musste bei dem klaren verständigen Sinn des Raymund die Wahl zwischen dem scharfen

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452 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

Anselm und dem tiefen Erlgeva zu Gunsten des Ersteren, und bei seiner entscliiedenen Reclitgläubigkeit , wenn zwischen Anselm und RosceHln (oder auch nur Ahülard) gewählt werden sollte, eben so für Ansehn entschieden werden , mochte dersel1)e immerhin Rea- list seyn.

3. In dem (vom Tridentiner Concil seltsamer Weise auf den Index gesetzten) Prolog der natttrlichen Theologie wird als die eigentliche Grund- und Fundamentalwissenschaft die der Welt, den Menscli€n mit einbegrilfen , bestimmt, und dieselbe als das liCsen in dem einen der Rücher bezeichnet, das uns gegeben sey, in dem libcr milurae. in dem jede Creatur ein Buchstabe, der Zusam- menhang derselben gleichsam der Sinn des Niedergeschriebnen sey. -Als Ergänzung zu diesem Buche kommt das des geoffenbar- ten Worts Gottes, das wegen der Sünde nothwendig, nicht, wie jenes, auch dem Laien zugänglich, auch nicht, wie jenes, vor Fälschungen sicher sey. Obgleich darum dies zweite Buch durch diesen übernatürlichen Charakter li eiliger sey und höher stehe als das erstere, so müsse doch das Studium mit dem Lesen des er- sten Buclics beginnen , weil sich darin die Wissenschaft finde, die keine andere voraussetze, von dem Einfältigsten begriffen wer- den könne, wenn er nur sein Herz von Sünde gereinigt habe, und eigentlich auch die Wahrheit und Sicherheit des in dem anderen Buche Enthaltenen verbürge. Yrdlige Sicherheit nämlich hat doch eigentlich nur was der Mensch sich selber bezeugt (Tit. 1), und darum ist die Selbstgewissheit und Selbsterkenntniss das, wo- rauf sich zuletzt alle andere Gewissheit gründen muss. Nun kann aber der Mensch, da er in der Stufeiireihe der vier Arten von We- sen — (es sind dieselben welche nach den Winken des Arisiofe- les schon die Stoiker (§. 97, 3), Philo (§. 114, 4) und nach ihnen die Neuplatoniker u. A. unterschieden hatten) am Höchsten steht und das esse, rirere. senUre und inteUiyerc in sich vereinigt, nicht anders erkannt werden, als indem zuerst die unter ihm ste- henden Stufen betrachtet werden, und so wird also, um den Men- schen zur Einkehr in sich selbst zu bringen, er dazu gebracht wer- den müssen, die Vorstufen , deren Ziel und Ende er ist, zu erfor- schen. Am Ende dieses Ganges, der übrigens nur die erste Ta- gereise (diaetü) ist, findet er, dass er selbst ziu* Natur gehört freilich als das, um desswillen alles Uebrige da ist und in dem Alles, was in den übrigen Stufen als eine Vielheit von Arten ver- theilt sich findet, zu einer Einheit verbunden ist (Tit. 2. 3). Hier aber beginnt eine neue Tagereise. Wie nämlich die vielen Arten der unteren Stufen auf die eine species Mensch hinweisen, die

III. Verfallperiode. Raymund vou Sabuiide. §. 222, 3. 4. 453

iliiien allen durch das libennn aibifrlinn, welches das re/le und inteUiycrc zu semen Vorbedingungen hat, überlegen ist, so wei- sen auch die Menschen wieder auf eine Einheit hin, in der nicht nur keine Art - sondern auch keine individuellen Unterschiede Statt finden, die ganz Eins ist, in der eben darum nicht nui' ihr esse auch ihr tirere, sondera die selbst ihr esse u. s. w. ist, die also nur als seyend gedacht werden kann. Diese Einheit, dieses Wesen, das vor Allem ist, das nicht nicht- seyn kann, dies ist Gott iTit. 4 12). Daraus aber, dass Gott alles Nichtseyn ausschliesst, folgt nicht nur seine Existenz, sondern es ergeben sich daraus sehr wich- tige Folgerungen hinsichtlich seines Wesens. Alles nämhch, was sich in der Creatur, namentlicli im Menschen, als ein wirkhches Seyn findet, das luuss von jeder Beschränkung (d. h. Nichtseyn) befreit, in Gott gesetzt werden, dessen Seyn das allgemeine Seyn aller Dinge ist (Tit. 14). So schhessen wir mit Evidenz, dass Gott die Welt, und zwar aus Nichts, geschaffen habe und es verbindet sich hier der useensus, durch welchen 'wir aus der Welt erkennen, dass Gott ist, mit dem descensns, durch welchen wir die Welt nur aus Gott ableiten und also erkennen, dass sie aus Nichts ist (Tit. 16), Wie im Einzelnen die ^^ichtigsten Dogmen abgeleitet wer- den, hat um so weniger Interesse, als es sich Uai/miiml oft ziem- lich leicht macht. Das Wesentliche ist, dass er als Haupt- ja als einzige Regel einprägt, dass überall das Bestdenkbare Gott beige- legt werden müsse und dass diese Regel orifur ex nohis (Tit. 63. 64), so dass also nicht aus Bibelsprüchen oder anderen Autoritä- ten , sondern aus der Selbstbeobachtung, vermöge der Anwendung jener Regel, die Hauptlehren der Kirche über das Wesen Gottes sich ableiten lassen. Dabei verfehlt er nicht, von Zeit zu Zeit zu erinnern, dass diese aus uns selbst geschöpfte Erkenntuiss Gottes die sicherste und nächstliegende sey (Tit, 82).

4. Die beiden Sätze, die sich am Schluss jeuer diaetue erge- ben haben, dass der Mensch Ziel und Zweck der übrigen Creatu- ren, Gott aber Ziel und Ende aller Dinge sey, haben zu ihrer Consequenz, dass der Nutzen des ^lenschen und die Ehre Gottes höchste Norm des Handelns oder höchste Verpflichtung ist. Der natürlichen Veif flichtung, sein Daseyn zu erhalten und zu för- dern, kann der Glaube nie widersprechen, da er selbst ja nur tomplcmeninm Jiaturae ist (Tit. 80). Vielmehr stützt jene Ver- pflichtung unseren Glauben und dass Gott seinen Sohn in die Welt gesandt habe u. s. w. , müssen wir schon deswegen glauben, weil es unserem Heil förderlich ist (Tit. 70. 74;. Bescliränkt man den Nutzen des Menschen nicht nur auf das Leibliche, hält man na-

454 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

mentlich fest, dass das Erkennen der Dinge gavdinm et doctri- jKim d. h. den höchsten Nutzen gewährt (Tit. 98) und dass die Erkenntniss der Dinge zur Erkenntniss Gottes führt, so wird man weder leugnen, dass alle Dinge zum Nutzen des Menschen da sind, noch zwischen diesem Nutzen und der Ehre Gottes einen Gegensatz annehmen. Der Mensch, als das Mittlere zwischen den Creaturen und Gott, verbindet beide, als die Extreme (Tit. 119), indem er den Dienst, welchen die Creatur ihm, seinerseits Gott leistet (Tit. 114) und also für alle Creaturen und statt ihrer Gott antwortet und dankt (Tit. 100). Dieser Dank besteht in der Liebe zu Gott, die mit dem Erkennen Gottes zusammenfällt. Gott will erkannt werden, und dadurch in der Creatur wachsen (Tit. 154. 190). Da aber Gott des Dienstes nicht bedarf, auch in sich nicht wachsen kann, so kommt der Gottesdienst der Creatur zu Gute und sie ist es eigentlich, welche (in Gott hinein-) wächst (Tit. 116. 190). Je mehr daher der Mensch die Ehre Gottes sucht, um so mehr fördert er sein eignes Heil und umgekehrt, um so mehr aber wächst auch die Gewissheit, dass Einer existirt, der die Verdienste belohnen wird, und ein Ort, avo dies geschehen wird (Tit. 91). Mit der Liebe zu Gott ist aber auch von selbst die Liebe zu den Ne- benmenschen, als zu den Ebenbildern Gottes, gegeben. Die natür- liche Liebe zu ihnen geht jener wahrhaften Liebe voraus, so dass auch hier derselbe nscei>svs und descensiis gegeben ist: Erst lieben wir den Nebenmenschen um unsert-, dann um Gottes "Willen (Tit. 120. 121).

5, Fragen wir aber, ob ein solches Zusammenfallen der Liebe zu Gott und zu uns selbst immer Statt finde, so lehrt uns die Erfahrung, dass wir der falschen Selbstliebe und dem Suchen fal- scher Ehre die Liebe zu Gott nachsetzen, dadurch strafbar wer- den und in Folge dessen die Gewissheit eines strengen Richters so wie eines Ortes der Pein haben. Eben so lehrt uns die Erfah- rung, dass statt der Nächstenliebe überall Streit und Feindschaft herrscht (Tit. 140. 157. 91. u. a.). Dieser Zustand kann nicht der ursprüngliche seyn, denn der eben aufgestellte Kanon fordert, dass die ersten Menschen, die wegen der Einheit der Menschenspecies ein einziges Paar seyn raussten, aus der Hand Gottes, wenn auch nicht vollkommen so doch rein hervor gingen (beiie . nnn optime. Tit. 232. 274). Die einzig denkbare Weise, in der jener Zustand verloren gehen konnte, war Ungehorsam gegen Gott, dieser aber ist ganz unerklärlich ohne die Annahme, dass die ersten Menschen dazu verleitet wurden durch einen Stärkeren als sie, der aber leich- ter fallen konnte. Unter den Creaturen ist bei den rein geistigen

in. Verfallperiode. Baymuud von Sabuude. §. 222, 5- 4Ö5

Wesen das lihernm arbltrium, darum aber auch die rerUhilitas, grösser als bei denen, \Yelchen die Körperlichkeit allerlei Fesseln anlegt. Der Yerführer musste also ein unkörperliches, rein gei- stiges aber creatüriiches Wesen, d. h. ein Engel seyn (Tit. 239 242). Ohne Engel wäre übrigens auch eine Lücke in der Reihe der Creaturen, und die Analogie fordert, dass wie unter dem Men- schen drei Ordnungen von Creaturen stehen, eben so auch über ihm drei (die bekannten Hierarchien) stehen (Tit. 218). Dass nun durch den Fall des Menschen die Ehre Gottes, für die es kein Aequivalent gibt, gefährdet ist, und dass derselbe eben darum nur durch das Leiden eines Gottmenschen gesühnt werden kann, das wird (Tit. 250 2(m), wie schon oben angedeutet ward, in völ- üger oft wörtlicher Uebereinstimmung mit Anselms Cur Dens homo? (s. oben §. 156, 8) entwickelt. Eigenthümhch ist nun dem Uay- mmid, dass er sich nun die Frage aufwirft, wie wir denn gewiss seyn können, dass dieser, allerdings nothwendige Gottmensch ge- rade in der historischen Persönlichkeit, Jesus ron yazaref/'. er- schienen sey V Das eigne Zeugniss Jesu ist, da, wenn es falsch wäre, wir nur die Wahl hätten, ihn für einen Lügner oder einen Ver- rückten zu halten, entscheidend ; eben so das Schicksal der Juden, die, wenn er log, ihn mit Recht getödtet, dann aber Lohn geerntet hätten (Tit. 20G). Dazu nun, dass dieses Zeugniss, so wie Alles wodurch es beglaubigt wird, bekannt werde, dazu war eine, über alle Zweifel erhabene, authentische Nachricht nöthig und diese gibt uns das zweite Buch, in dem Gott nicht sein fucliim son- dern sein rerhum uns darbietet: die Bibel alten und neuen Bun- des. Es widerspricht dem Über jiaiurae nicht; vielmehr ist dies letztere zu jenem ria. jaimu et i/itjodnclorlinn. weil es uns lehi't, dass der Gott ist, von dem eingegeben zu seyn, das zweite Buch, die h. Schrift, behauptet (Tit. 21U. 211). Uebrigens zeugt auch der ganze Inhalt der Schrift so wie die Weise, in der sie belehrt, dass sie nämlich gar nicht argumentirt u. s. w., für jeden Unbe- fangenen für die Göttlichkeit ihres Ursprungs (Tit. 212 S.). Durch die Erlösung, durch welche der Mensch zum zweiten Male aus dem Nichts, jetzt nicht aus dem iii//i/ neyulkum sondern dem n. pri- ralivitm, geschaffen wird, hat der Mensch einen dreifachen Ur- sprung: den leiblichen von seinen Eltern, den seeUschen von Gott, den des Heils (bene esse) von Christo, und lebt darum in einer dreifachen Brüderschaft mit allen Menschen (Tit. 275. 276. 278). Für die letzte und höchste, die kirchliche, sind die Erhaltungs- niittel die sieben Sakramente, mit deren Betrachtung, so wie escha- tologischen Lehren das Werk schhesst. Auch bei diesen wird nicht

456 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

durch Berufung auf die Autorität der Kirche, sondern aus der Natur der Sache bewiesen, dass es das Entsprechendste ist, wenn die innere Abwaschung durch ein Wasserbad, das innerliche Er- nährtwerden durch Speise und Trank vermittelt werde u. s. w., eben so dass das ganz nothwendige und natürliche Ende der zwei entgegengesetzten Wege, welche die Guten und Bösen wandeln, die zwei auch local von einander entfernten Wohnsitze im ober- sten Himmel und inmitten des Erdkörpers seyn müssen (u. A. Tit. 91). Wie der natürliche Zug der Schwere den Arm nach un- ten fallen lässt, und nur Solches, was über seine Natur hinaus- geht, ihn in die Höhe hebt, so geht der natürliche Zug der sün- digen Seele ohne übernatürliche Hülfe zu dem Nichts und seinem Wohnsitz (Tit. 277).

§. 223. Der Gegensatz zwischen Gerson, dessen mystischer Zug ihn oft zu einem blossen Wiederholen Bonaventura'scher Lehren bringt, und Binfmiind, der sich Keinem der Früheren so anschliesst als dem scharfsinnigen, aller Mystik haaren Ansehn, dieser löst sich in einem Mann, bei dem es schwer ist zu entscheiden, ob die Tiefe des Geistes oder die Schärfe des Verstandes, ob die innige Fröm- migkeit oder das Interesse an der Welt- und ihrer Erkenntniss, mehr zu bewundern: in dem Nicolans von Citsa. In merkwürdi- ger Allseitigkeit fasst er die verschiedensten Richtungen zusam- men, die sich bisher innerhalb der Scholastik gezeigt hatten. Dass dies ihn zum Er'ujena zurückführt, der sie alle in sich gebunden hatte, ist begreiflich, es erscheint aber hier der Ausgangspunkt erweitert zu einem Kreise, der Alles umfasst, was die auf jenen folgenden Stufen gezeigt hatten. Die Streitfrage, welche der Ju- gendperiode der Scholastik so wichtig war, erscheint hier geschlich- tet, indem er die Realisten vom Vorwurf des Pantheismus, die Gegner desselben von dem gottloser Weltvergötterung freispricht und die vermittelnde conceptualistische Richtung gleichfalls vertritt. Der Piatonismus und die ihm gegenüberstehende atomistische Ten- denz, die jene Periode in Zwiespalt brachte, vereinigen sich hier in einer Weise, die manchmal an Wilhcbn von Conches (s. §. 162) erinnert. Ganz wie die Scholastiker der Glanzperiode aber schöpft auch Nicolaus fortwährend aus den muselmännischen Peripateti- kern und dem Aristoteles selbst; er wagt es, den Ersten, der dies gethan, den David ton Dinanlo (s, §. 192) zu rühmen, und macht wie er und seine Nachfolger, die grossen Peripatetiker des drei- zehnten Jahrhunderts gethan hatten, den Aricenna oder jüdische Lehrer zu Gewährsmännern seiner Behauptungen. Endlich aber

III. Verfallperiode. Nicolaus vou Cusa. §. 224, 1. 457

zeigt die Vorliebe für mathematische und kosmologische Studien eine solche Geistesverwandtschaft mit Roger Buco ^ seine Beto- nung der' Individualität mit Wilhelm vou Occam, und er stimmt in so vielen Punkten fast wörtlich überein mit Gersou, dass man kaum umhin kann bei ihm Entlehnungen anzunehmen aus den Hauptrepräsentanten der Verfallperiode der Scholastik. Die Strah- len, welche Erigcna, dieser epochemachende Lichtpunkt der Scho- lastik, verbreitet hatte, sammeln sich als in einem Brennpunkte im Nicolaus, der ilu-e Periode abschliesst.

§. 224

Nicolaus von Cusa.

F. A. Scharpff der Cardinal Nicolaus von Cusa. Mainz 1843. Dess. des Car- dinais und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriften in deutscher Uebersetzuug. Freiburg 1862. F. I. Clemens Giordano Bruno und Nicolaus von Cusa. Bonn 1847. /. M. Düx der deutsche Cardinal Nicolaus von Cusa und die Kirche seiner Zeit. Re- gensburg 1847.

1. JSicolaus C/rrifpffs (d, h. Krebs) ist im J. 1401 in Cues bei Trier geboren und wird nach diesem Orte der Cusaner genannt. Seine erste Schulbildung erhielt er zu Deventer, in dem von Geert de Groot gegründeten Verein der Brüder zum vereinigten Leben, gewöhnlich Fraterherren genannt, in deren Reihen er selbst später eingetreten" ist. Da Tliomas a Kempis (s. unten §. 231, 4) in diesem Hause gebildet, und von da in sein Kloster gegangen war, so war es erklärlich, dass Nicolans schon hier sein berühm- tes Andachtsbuch kennen lernte. Dann begab er sich nach Padua und studirte dort die Rechte, ward auch im J. 1424 Doctor des kanonischen Rechts, zugleich hatte er sich da zu einem in der Mathematik bewanderten Mann ausgebildet. Schon im J. 1428 gab er den Anwaltsberuf, den er in Mainz ergriflen hatte , auf und er- wählte den geistlichen. Seit 1431 Diacon in Coblenz, predigt er oft und verwaltet dann ein geistliches Amt in Lüttich. In Basel, zu dessen Concil er berafen war, beendigt er im J. 1433 die, schon früher begonnene, Schrift de concordantia catholica, in welcher die Unterscheidung der römischen und allgemeinen Kirche ihn zu An- sichten über Papst und Concil bringt, welche er später, vielleicht erschrocken über die Consequenzen, die Andere daraus zogen, mo- dificirt hat. Den Ketzern gegenüber betont er übrigens von An- fang an den Primat des Papstes; so in seinen Sendschreiben an die Böhmen über die Form des Sakraments. Die im J. 1436 verfasste Schrift de reparatione calendarii zeigt die astronomi- schen Kenntnisse ihres Verfassers , der , um den compufvs mit der

458 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

Natur und den kirchlichen Bestimmungen in Einklang zu brin- gen, anräth, im J. 1439 vom 24*'^" Mai sogleich auf den 1'"" Juni überzuspringen, und im 304"'" Jahre einen Schalttag auszulassen. Von einem Anhänger des Concils zum Vertreter der päpsthchen Rechte geworden, wird Nicofans vom Papst Elften IV mit wich- tigen Gesandtschaften in Frankreich, Constantinopel, namentlich auf dem Reichstage zu Frankfurt, betraut. Mitten unter dieäen Ge- schäften war er aber wissenschaftlich sehr tliätig ; der Plan zu sei- ner eisten, 1440 verfassten Schrift de docta ignorantia, ist auf der Ueberfahrt von Constantinopel gefasst. Schon in demselben Jahr folgte ihr de conjecturis; nicht viel später de filiatione Dei und de genesi. Vom Papst Nicolaus V ward ihm die, damals für einen Deutschen unerhörte, Ehre, am 28''^" Dec. 1448 zum Car- dinal ernannt zu werden; im J. 1450 erhielt er das Bisthum Bri- xen, das er aber erst nach langen Missionsreisen in Deutschland und den Niederlanden antrat; die Händel mit dem Erzherzog Sig- mvnil von Oesterreich, der als Graf von Tyrol des Bischofs Lehns- mann war, verbitterten ihm das Leben, führten ihn sogar in eine gewaltsame Gefangenschaft, Nach mehrjähriger Abwesenheit von seinem Bisthum starb er am 11""" Aug. 1464 in Todi. Die erste Ausgabe seiner Werke, von denen er die meisten als Cardinal ge- schrieben hat, ist ein Band in kl. Fol. wahrscheinlich 1476 ge- druckt. Die Ausgabe des Ascensius (Paris 1514), die hier be- nutzt ist, umfasst drei Foliobände, und ist viel vollständiger als jene. Sie enthält im Ersten Bande: de docta ignorantia libb. III, (Bernhard T)on Wo ging' s) Apologia doctae ignorantiae, de conjecturis hbb. II, de filiatione Dei, de genesi, Idiotae libb. IV, de visione Dei s. de icone, de pace fidei, Cribrationum Alchoran libb. III, de ludo globi libb. II, Compendium, Dialogus de possest, de beryllo, de dato patris luminum, de quaereudo Deum, de ve- natione sapientiae, de apice theoriae. Zweiter Band: De Deo abscondito, Dialogus de annunciatione , de aequalitate, Excitatio- num libb. X, Conjectura de novissimis diebus, Septem epistolae, Reparatio calendarii, Correctio tabularum Alphonsi, de transmuta- tionibus geometriae, de arithmeticis complementis, de mathemati- cis complementis, Complementum theologicum, de mathematica per- fectione. Dritter Band: De catholica concordantia libb. III. Ausser diesen Ausgaben existirt noch die Henricpetrinische. Basel 1565. Vieles ist noch ungedruckt.

2. Mit Erigena. den er (aber als Scotigeiia, vgl. §. 154, 1) sehr oft rühmend erwähnt, unterscheidet Nicota/is im Menschen Sinn, Verstand und Vernunft (sensns , ratio, inteUcctus. de doct. ign. .

III. Verfallperiode. Nicolaus von Cnsa. §. 224, 'l 459

in, 6). Obgleich dem Sinne die unterste Stelle zukommt, beginnt doch alle Erkenntniss mit ihm, indem die Sinne mis die ersten, ganz positiven , Elemente alles "Wissens liefern , welche der , abstra- hirende und darum negirende, Verstand dann weiter verarbeitet (de conject. I, 10). Dass Nichts im Verstände ist , was nicht früher im Sinne gewesen wäre (Idiot. III, 2), dass der Verstand der an die Wahrnehmungen sich anschliessenden Vorstellungen oder pl/iui- tusnuiid bedarf, darin haben die Peripatetiker ganz Recht ; man darf aber nur nicht vergessen, dass die Platoniker auch Recht haben, wenn sie behaupten, dass der Verstand seine Erkenntnisse aus sich schöpfe: ohne Gegenstände und Licht kann man nicht sehen, aber ohne Sehkraft eben so wenig (Idiot. III, 4). Die sinn- liche "Wahrnehmung macht uns mit dem "Wirklichen beüaunt , d. h. mit dem, was hie und in his rebus ist (d. h. luiceeeitns des Diivs Senh(s) , und eben darum mehr als ein blosses Gedanken- ding (Ebendas. c. 11). Dieser Vorzug des Sinnes wird nun aber dadurch sehr vermindert, dass seine "Wahrnehmungen verworren sind; eben wegen ihres ganz positiven Charakters, indem in ihnen nicht unterschieden wird. Das Unterscheiden ist Sache des Ver- standes, dessen Thun also positiven und negativen Charakter hat, indem er bejaht und verneint , darum aber auch zu seinem Funda- mentalgesetz den Gegensatz der Bejahimg und Verneinung, d. h. die Unvereinbarkeit der Gegensätze hat (De conject. I, 11. 11, 2). Uebrigens kann innerhalb des Verstandes noch ein Unterschied ge- macht werden zwischen der niederen Vorstellung , inidgiiudio. wel- che dem Simi, und der höheren, der eigentlichen ratio, welche der Vernunft näher steht (Ebendas. c. 11). Wenn die Sinnlich- keit es mit dem Materiellen, aber Wirklichen, zu thun hat, so der Verstand mit den Formen, mit Gattungen, Arten u. s. w., kurz mit den Universalien, welche realiter nur in den Dingen exi- stiren , für sich aber oder von den Dingen abstrahirt bloss mentale Existenz haben (doct. ign. II, 6. III, 1). Von allen Formen, de- ren sich der Verstand bedient, um zu Erkenntnissen zu gelangen, nehmen die Zahlen die oberste Stelle ein. Die Mathematik , dieser Stolz des Verstandes, bemht darum auf dem Gnindsatze der Un- vereinbarkeit der Gegensätze, ganz wie die bisherige, namentlich die Aristotelische Philosophie (u. A. de beryllo c. 25. de conject. 1 , 4). Doch ist gerade aus der Mathematik der bequemste Ueber- gang in das Gebiet der Vernunft zu machen , und die Zahlen, diese symbolischen Urbilder der Dinge (de conject. I, 4) , wie die Pytha- goreer richtig eingesehn haben, oder auch andere mathematische Begriffe, geben das bequemste Mittel ab, um aus dem Rationellen

460 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

oder Iiitelligiblen heraus zum Intellectiblen , oder auch von der disciplina zur inteirigcntia überzugehn (u. A. Idiot. III, 8). Denkt man sich nämlich den Gegensatz von Gerade und Krumm, wie ihn die Sehne und der Kreisbogen, oder auch von Linie und Win- kel, wie ihn die Hypotenuse und der rechte Winkel im Dreieck darbieten, und denkt sich nun den Kreis oder auch den Winkel immer grösser Avei'den, so wird natüi'lich dort der Pfeil des Bogens, hier die Höhe des Triangels immer kleiner, und da es nach der Philosophie keinen Progress ins Endlose gibt, so werden endlich Bogen und Sehne, Winkel und Linie zusammenfallen. Dies gäbe also eine coincidentiu coiitiuidictoriorum , von der die Peripateti- ker nichts wissen wollen, die aber in das höchste Gebiet, das der Vernunft, hinüber weist (u. A. Apol. doct. ignor. fol. 35). Was nämlich der Verstand trennt, das verbindet die Vernunft (de con- ject. I, 11). Versteht man nun, wie das gewöhnlich geschieht, unter Wissen das Auffassen durch den trennenden Verstand, oder den dlscursns , so ist das Erfassen durch die Vernunft ein Nicht- wissen, also igvoraniia ; da aber der, welcher sich dazu erhebt, weiss , dass es kein Verstandeswissen , so ist es ein bewusstes Nicht- wissen, daher docta ignor (int in ; mit welchem Worte Nlcolnns nicht nur in seinem ersten, sondern auch noch in seinen späteren Wer- ken seinen Standpunkt bezeichnet. Andere Ausdrücke für dieses über das Verstandeswissen Hinausgehen sind: risio sine cotnprc- hensione (de apice theor.), compre/icnsio incomprel/ensibilis ^ sj)e- cnldtio i Intititio. mystica thcologia (de vis. Dei), iertins coelus (doct. ign. III, 11), sfqnenlia i. e. sapida scienlia (Apol. doct. ign. De ludo globi u. a. a. 0.), fidcs formnta (doct. ign.) u. a. m. Die Vernunfterkenntniss steht dem Sinn und dem Verstände ganz gleichmässig gegenüber, indem der erstere nur Bejahungen, der zweite Bejahungen und Verneinungen enthält, die Vernunfterkennt- niss aber, wie dies schon der Areopagite gelehrt hat, nur vernei- nende Sätze enthält (de conject. I, 10. doct. ign. I, 26). So ist es nämlich, weil sie alle Gegensätze leugnet, etwas was sie in Stand setzt, in allen Ansichten Wahrheit anzuerkennen, da auch die allerentgegengesetzten hier zusammenfallen (de filiat. Dei). Mit dieser vornehmen Stellung über allen Einseitigkeiten hängt es zu- sammen, dass der Cusaner nicht nur versucht die griechische mit der römischen Kirche auszusöhnen, sondern dass er in seinen Cri- brat. Alchor. sogar den Versuch macht, in der Religionslehre der Muselmänner den Irrthum von der Wahrheit zu trennen.

3. Nicht bloss dem Range nach ist das erste Object jener my- stischen Intuition die Gottheit, sondern auch der Zeit nach, da

m. Verfallperiode. Nicolaus von Cusa. §. 224, 3. 461

ohne sie man gar Nichts erkemien würde. Gott nämlicli ist der Inbegriff alles Seyns , indem er Alles enthält , Alles aus sich ent- faltet (doct. ign. II, 3), existirt er in Allem in beschränkter, con- creter Weise (coufracfe ebend. c. 9). Weil über allen Gegensätzen, steht Gott auch dem Nichtseyn nicht gegenüber, er ist und ist nicht, ja er steht dem nil/U näher als dem (ilüjuid (de genesi. doct. ign. I, 17). Er muss das Grösste seyu, denn er umfasst Alles, und das Kleinste, denn er ist in Allem (de ludo globi II. init. doct. ign. I, 2); er ist das jenseits der Coiucidenz der Ge- gensätze wohnende (de vis. Dei. 0), in dem eben darum kein Ge- gensatz von Können und Seyn Statt findet, und der das Kann-Ist (Posacsf) genannt werden kann, der nur nicht nicht -seyn kann (Dial. de possest). Oder aber , da in ihm nicht zu dem Posse das Esse hinzuzutreten hat , kann er das reine Können , posse ipsimi, genannt werden, zu dem sich das posse esse, passe virere u. s, w. als ein posse enm addUo . also als ein besdiränktes Können, ver- hält. Dieses reine Können, das allem anderen Können so zu Grunde hegt und vorausgeht , wie das Licht der Sichtbarkeit , ist Gott (de apice theor.). Weil alle Dinge von , durch und zu Gott sind , muss er als der Dreieinige gedacht werden , als tricausal , indem er die bewegende, formale und End -Ursache aller Dinge ist, und den Unterschied von unitas , iteqmiütas und nejus darbietet, als der, welcher Alles in Allem als Vater ist, als Sohn kann, als heiliger Geist wirkt (de ludo globi I. de dat. patr. lum. 5). Ausser die- sem posse ipsum muss den Dingen auch ihr posse esse vorgedacht werden, und diese beschränkte Möglichkeit der Dinge ist ihre Ma- terie, die, weil sie jenes absolute Können, das nicht ein posse esse, sondern ein posse fueere ist, voraussetzt, nicht der absolute, sondern der beschränkte Grund der Dinge ist. Eine absolute Mög- lichkeit derselben ausser Gott gibt es nicht (doct, ign, II, 8). Weil die Materie nur das posse esse der Dinge, ist sie nichts Wirkli- ches (actit) . sie ist für sich genommen Nichts, und darum kann man sagen, dass die Dinge entstehen, indem Gott sich in das Nichts hinein entfaltet (Ebend. II, 3). Das ganz verschiedene Veihältniss, in welchem diese beiden Vorbedingungen der Dinge , Gott und die Materie, zu ihnen stehen, indem Gott das ist was ihnen ihr rea- les Seyn , die Materie was ihnen ihre Beschränktheit gibt , hat der Cusaner öfter ganz in Erigeiias Terminologie fixirt, indem er die Dinge als Theophanien bezeichnet. Viel eigenthümlicher erscheint er aber, indem er auch hier wieder die Zahlenlehre zu Hülfe ruft. Da Gott der Inbegriff alles Seyns, so kann er als die absolute Einheit bezeichnet werden. Ganz wie jede Zahl eigentlich Eins

462 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

ist (die Sieben eine Sieben, die Zehn ein Denar), und dieses Eins seyn von den Unterschieden der Zahlen gar nicht taugirt wird (die Zehn ist nicht weniger eine Zehn als die Sieben eine Sie- ben), gerade so ist Gott die absolute Einheit ohne alle Anderheit (alterifas), die für ihn gar nicht existirt. In den Dingen erscheint uns die Einheit mit der alleriUis behaftet , aus der alle Beschrcinkt- heit, alles üebel u, s. w. stammt, die alle nichts Wahrhaftes sind (doct. ign. I, 24. de ludo globi I). Damit dass Gott über aller Anderheit steht, damit auch über aller Endlichkeit. Seine Un- endlichkeit aber ist nicht nur die privative Abwesenheit des Endes oder der Grenze, wie sie uns in dem grenzenlosen Universum be- gegnet, sondern seine Unendlichkeit ist wirkliche, absolute, weil er das Ende seiner selbst ist (de vis. Dei 13. doct. ign. II, 1).

4. Von Gott als dem Inbegriff (compllcatlo) alles wahrhaften Seyus ist dann überzugehn zu dem Universum, als der explicaüo Del. Hier erklärt sich nun Nlcolaiis entschieden gegen alle An- sichten, die man später pantheistische genannt hat. Nicht nur dagegen, dass alle Dinge Gott seyen (doct. ign. II, 2), sondeni auch gegen jede Emanation, möge dieselbe als eine unmittelbare, möge sie als eine durch Mittelwesen, Weltseele, Natur u. s. w. vermittelte gedacht werden. Sondern, obgleich er selbst zugibt, dass das Wie dem Verstände unbegreiflich bleibe , fordert er doch, dass die W^elt, dieses Abbild Gottes, das eben deswegen der end- liche Gott genannt werden kann, als geschaffen gedacht werde (doct. ign. II, 2). Zu Gott, dem absolut Grössten und der abso- luten Einheit, verhält sich daher die Welt als das concret (con- Ivücte) Grösstc und Eine, das eben darum nicht ohne Vielheit ist. Gott als das absolute Seyn der Dinge ist in absoluter Weise was die Dinge sind, d. h. was in ihnen wahres Seyn ist; auch das Universum ist was die Dinge sind, aber in beschränkter, concreter Weise. Während also Gott, das absolute Seyn, nicht anders in der Sonne ist als in dem Monde, ist das Universum in der Sonne als Sonne oder sonnenmässig, im Monde mondhaft. Man kann sa- gen, wie Gott im Universum in beschränkter Weise erscheint, so das Universum in beschränkter Weise in den einzelnen Dingen, so dass das Universum gleichsam die Mitte bildet zwischen Gott und den Dingen (doct. ign. II, 4). Als dieses beschränkte Abbild der Gottheit muss das Universum auch in nur beschränkter Weise der Prädicate Gottes theilhaft seyn. War Gott das absolut Grösste, worüber nichts Grösseres und Besseres denkbar, so ist das Univer- sum zwar nicht das nicht vollkommner zu denkende, wohl aber das, welches unter den gegebnen Umständen das beste ist. Es

m. Verfallperiode. Nicolaus von Cusa. §. 224. 4. 463

ist das relativ Vollkommenste. Ist Gott der ewige , so kommt dem Universum das Prädicat der endlosen Dauer zu , die ein beschränk- tes Abbild der E^^igkeit ist (de genesi). War Gott der absolut unendliche, so das Universum das grenzenlose, in dem, weil es keine Grenzen hat , überall , d. h. nirgends, das Centrum sich findet (doct. ign. II, 11). Endlich zeigt das Universum das beschränkte Abbild der Dreieinigkeit darin , dass sich in ihm mit der Materie, als der Möglichkeit des Seyns, die im göttlichen Wort enthaltene Idee, als Form, zu der Einheit verbindet, die sich in der Bewe- gung zeigt , diesem eigentlich begeistenden Princip der Welt. Weil die Bewegung dies ist, kann es im Universum Nichts geben, was der Bewegung ganz baar wäre. Auch die Erde bewegt sich (doct. ign. II, 7). Geht mau nun von dem Universum als Ganzem zu den einzelnen Bestaudtheilen desselben über, so kommt in jedem Wesen zu dem eigentlichen Seyn, veimöge dessen es eine Partici- pation und ein Spiegel Gottes ist, die Anderheit, dieses nicht eigentlich Wirkliche, welches eben deswegen auch nicht als Gabe Gottes augesehn werden darf, hinzu, weiui anders dieses Zufallen (conthigorv) eines Mangels (defechis) ein Hinzukommen heissen darf. Indem vermöge dieses ein jedes Ding mehr oder minder von seinem Urbilde in Gott abweicht, gerade wie jeder wirkliche Kreis von der Rundheit, gibt es keine zwei gleiche Dinge in der Welt (doct. ign. II, 11). Dieses verschiedene Abspiegeln eines und des- selben hat aber auch die Folge , dass eine absolute Harmonie zwi- schen den Dingen Statt findet, sie einen Kosmos bilden (de genes.). Gerade durch die Schranken dei' Dinge ist das Universum eine wirkliche Ordnung, ein System. Da nun aber wir eine Ordnung kaum zu denken vei'inögen, als indem väx die Zahl zu Hülfe neh- men, die Zahl aber ganz besonders daiin sich als eine Ordnung zeigt , dass die Zehnzahl , wozu sich der Quaternar der ersten vier Zahlen zusammenschliesst, in unserem Zahlsystem stets wiederkehrt, so darf es nicht in Verwundrung setzen, dass in der Darstellung der Ordnung im Universum bei Xko/tnis die Zehnzahl und ihre Potenzen eine so gi'osse Rolle spielen. Den drei ersten Potenzen von Zehn als den Summen der drei Quaternare 1 -|- 2 -f 3 -j- -1, 10 + 20-}- 30-1- 40, 100-f 200 -f 300 + 400, welche als Symbole des Vernünftigen, Verständigen und Sinnlichen in der Schrift de conjecturis ausführlich betrachtet werden , wird die absolute unter- schiedslose Einheit als das Göttliche vorausgestellt. Anderswo wird wieder darauf Gewicht gelegt, dass die Ordnungen der rein geisti- gen Wesen, die bekannten himmlischen Hierarchien, mit der Gott- heit zusammen die Zehnzahl geben , dass ihnen als entgegengesetz-

464 Mittelalterliche Philosophie. Zweite Periode (Scholastik).

tes Extrem gerade eben so viele Stufen der rein sinnlichen Wesen entsprechen, dass endlich in dem Mittleren zwischen beiden, in dem Menschen, welcher der Mikrokosmus oder die menschliche Welt, eben so aber auch der Gott im Kleinen oder der mensch- liche Gott ist, sich abermals dieselbe Zahl wiederhole (u. A. de conj. II, 14). In seiner Gottähnlichkeit ist der Mensch, wie Gott, Inbegriff aller Dinge, nur enthält er sie nicht wie Gott in schö- pferischer, sondern in nachbildender Weise, Gottes Denken pro- ducirt die Dinge, das menschliche repräsentirt sie, darum sind auch die Formen der Dinge im göttlichen Denken die ihnen vorausge- henden Urbilder, dagegen im menschlichen sind sie Universalien, durch Abstraction gefundene Abbilder. (Jene sind Ideen , diese sind Begriffe.) (de conject. II, 14.) Eben darum aber vermag der Mensch, obgleich er seine Begrifie, die Zahlen u. s. w. aus sich schöpft, dennoch durch sie die Dinge zu erfassen: seine Zahlen so- wol als die Dinge spiegeln ein und dasselbe ab, die göttlichen Ur- bilder, die Urzahlen im göttlichen Denken. x\uch die einzelnen Menschen sind, wie alle einzelnen Dinge, keiner dem andern gleich, noch auch denken sie Einer wie der Andere. Ihr Denken Gottes und der Welt kann mit der Art verglichen werden, wie verschie- den gekrümmte Hohlspiegel die Gegenstände darstellen, nur dass diese lebendigen Spiegel ihre Krümmungsflächen selbst abzuändern vermögen (de filiat. Dei).

5. Zu der Lehre von Gott als dem Unendlichen, vom Univer- sum als dem Endlosen und den Dingen , namentlich dem Menschen, als dem Endlichen kommt bei Nlcofaits in dem dritten und letz- ten Theile seines Hauptwerkes die Lehre vom Gottmenschen als dem Unendlich - Endlichen (doct. ign. III de vis. Dei). Es wird von ihm der Versuch gemacht, aus blossen Vernunftgründen dar- zuthun, dass, wenn ein Concretes (contructum) so erscheinen sollte, dass kein Grösseres darüber denkbar, dies nur ein geistig -sinnli- ches Wesen, d. h. ein Mensch, der aber zugleich Gott war, seyn konnte, dass zu solcher Gottgleichheit es nothwondig war, dass gerade die Gleichheit in Gott, d. d. der Sohn, sich mit dem Menschen verband , dass Alles dafür spricht, Jesus sey dieser Gott- mensch, dass die übernatürliche Geburt nothwendig war, dass durch den Glauben an den Gottmenschen die Gläubigen christi- l'ormes, und Theilnehmer an seinem Verdienst, damit aber auch deifonnes und mit Gott Eins werden, ganz unbeschadet ihrer persönlichen Selbstständigkeit. Da die Christiformität bei Jedem eine verschiedene ist, bei Keinem zu einer völligen Gleichheit mit Christo wird, so bildet der Complex der Gläubigen einen Orga-

in. Verfallperiode Schlussbemerkung. §. 225. 465

lismus, welcher also eine dirersitas in concordantia in i/vo Jpsu larbietet. Da in dieser Einigung der Verschiedenen der heilige jreist es ist, der sie verbindet, so ist der Weg, welchen die my- stische Theologie geht, oifenbar ein Cirkel, in welchem von Gott msgegangen und wieder zu Gott gelangt wird. Das Werden zu [Christo und zu Gott, ohne Vermischung und Verlust der Selbst- leit, dies wird immerfort als das Ziel bestimmt, das Gott sich 3ei seiner Schöpfung gesetzt hat, ein Ziel, welches dort erreicht st, wo unser Lieben Gottes mit dem Geliebtwerden von ihm, un- ler Ihn -sehen mit dem Gesehenwerden von ihm Eins wird.

§. 225. Schlussbemcrkimg.

Wenn die Frage , ob die zuletzt (§. 219 ff.) betrachteten Phi- osophen noch zu den Scholastikern und ob sie nicht vielmehr zu 1er folgenden Periode zu rechnen sej^en, hier anders beantwortet vird als dies, namentlich hinsichtlich des Nicolcuis von Ciisn, zu geschehen pflegt, der nach vielen Darstellern der Scholastik, der Philosophie eine ganz neue Bahn gebrochen habe, so bedarf das iiner Ptechtfertigung. Um so mehr, als zugestanden worden ist, lass auf die Entwicklung dieser Männer Solche Eiufluss gewonnen laben, die erst in der folgenden Periode zur Sprache kommen. Entscheidungsgrund für diese Anordnung, der eben darum die bloss chronologische weichen musste, ist Gersons , liai/mnuds und des Ciisduers Stellung zur römisch-katholischen Kirche. Es ist (s. )ben §. 151) das Wesen der Scholastik darein gesetzt worden, dass de die , von den Vätern festgestellte , Kirchenlehre durch Vernunft ind Philosophie zu rechtfertigen unternahm , dass sie eben darum, Nüs man von der patristischen Philosophie eigentlich noch nicht jagen durfte , kirchliche, in spccie römisch - katholische, Philosophie st. Eine nothwendige Folge davon, eben darum kein unwesentli- cher Umstand, war ihr Gebuudenseyn an die kirchliche Sprache, m das Latein ; ein andrer nicht minder cliarakteristischer ihre Ab- längigkeit von dein kirchlich autorisirten Wissenschafts - Centro, ^'on Paris, in Folge der es gebräuchlich ward den Styl der Scho- lastiker „Parisienseni^' zu nennen. Zwar fängt es schon an in illen diesen Beziehungen sich zu ändern: Gcrson schreibt Vieles französisch, lUujmand war nie Lehrer in Paris, der Cnsaner macht seine Studien ausserhalb Paris, ja, wie es scheint, seine eigentlich theologischen und philosophischen ausserhalb aller Universitäten. Aber es fängt eben nur an: Gcrson nimmt fortwährend für Paris das Recht in Anspruch, in wissenschaftlichen Streitigkeiten end-

Erdinann , Gesch. d. Phil. I -JA

466 Mittelalterliche Philosophie, Dritte Periode (Uebergang).

gültig ZU entscheiden , Uaymund schreibt in der officiellen Kirchen- sprache, eben so der Cusaner, obgleich er gesteht, dass es ihm schwer werde und er zu den seltsamsten Wortbildungen genöthigt wird. Bei allen Dreien aber steht unerschütterlich fest die Autori- tät der römisch-katholischen Kirche und ihres Dogma's, bei allen Dreien wird eben deswegen auch die Rechtgläubigkeit, so lange sie leben, nicht angefochten. Darum aber gehören sie, selbst wo sie von denen lernen, die eine neue Zeit repräsentiren , selbst noch nicht zu dieser. Das was man wohl, von einem modernen Staud- punkte aus, das Vorreformatorische an Jenen genannt hat, dies nehmen sie nicht auf, eignen sich bloss Solches an, was mit dem Dogma der mittelalterlichen Kirche übereinstimmt. Uebrigens ist, da dem Allerletzten, dem Nicoiaifs, oben (§. 223) die Stellung dessen angewiesen ward , der alle Richtungen der Scholastik in sich zusammen-, eben darum sie abschliesst, bei diesem die Frage, ob er noch zu ihr gehöre und nicht vielmehr ü])er sie liinausgehe, fast der Vexirfrage gleich , ob das erste Grauen der Dämmerung noch zur Nacht gehöre oder bereits zum Tage. Ganz ähnliche Bedenken wie bei diesem Vollender der scholastischen Thätigkeit haben sich bei ihrem Anfänger, dem Eriyena , erhoben. Bei die- sem konnten Einige zweifelhaft werden, ob er schon, bei dem Cu- saner Andere, ob er noch Scholastiker sey.

Der mittelalterlichen Philosophie dritte Periode.

( U eb e r gang s- Periode.)

K. Hagen Deutschlands literarische und religiöse Verhältnisse im Reformations- zeitalter. 3 Bde. Erlangen 1841 44. M. Carriere Die philosophische Weltanschau- ung der Reformationszeit. Stuttg. und Tübingen 1847.

§. 226. Von zweierlei hatte die kreuzfahrende Christenheit ihr Heil erwartet (s. oben §. 179): von dem Conflict mit dem Antichrist und von dem Besitz des heiligen Landes und Grabes. Beides ist ihr wirkhch, freilich anders als sie gemeint hatte, zum Heil ge- w^orden. Das Erstere , indem die Kreuzfahrer bei den Ungläubigen, in denen sie Ungeheuer erwartet hatten, Sinn für Kunst und Wis- senschaft, Zartheit und Adel der Gesinnung, endhch einen, wenn gleich abstracten, so doch auch einfachen Cultus kennen lernten, was Alles nicht verfehlen konnte, Eindruck zu machen und nach- haltige Spuren zurückzulassen. Eben so das Zweite, indem die

Einleitung §. 226. 227 467

Erfahrung , dass Palästina um nichts heiliger war als Deutschland, Jerusalem eben so unheilig wie Paris, das Grab aber leer, ihnen klar machte, dass Heil und Heiligkeit nicht an einen Ort gebun- den ist, und dass nur der Heiland der Seligmacher ist, der auf- erstanden in den Gläubigen lebt. Reicher an Erfahrungen, ärmer an sinnlichen Erwartungen, kehrt die Christenheit in die europäi- schen Verhältnisse zurück, welche während der Kreuzzüge, und zum grossen Theil durch sie, sich wesentlich umgestaltet haben. Alles erscheint vernünftiger, vergeistigt kann man sagen: das Verhältniss zwischen Herrschern und Unterthanen hat angefangen sich vernünftig zu regeln, in Frankreich durch das Wachsen der, bis dahin den Vasallen gegenüber ohnmächtigen, Königsgewalt, in England dagegen durch die Beschräuliung des despotischen Ueber- gewichts, das sich die Könige angemasst hatten. Aus rohen We- gelagerern, was sie wenigstens zum grossen Theil gewesen waren, sind die Ritter zu gesitteten kunstliebenden Männern geworden, und was man die Romantik des Rittcrthums nennt, hat sich durch die Berührung und unter dem Einfluss der Sarazenen entwickelt. In den Städtebewohnern hat die Bekanntschaft mit fremden Län- dern den Unternehmungsgeist , die Aneignung mancher Einrichtun- gen, namentlich finanzieller, die sie im Morgenlande gefunden hat- ten, das Gefühl für Ordnung und Sicherheit, beides zusammen jenes Selbstgefühl des dritten Standes hervorgerufen, welches das Fundament des wahren Bürgersinnes bildet. Ja sogar die niedrig- sten Landbewohner erscheinen weniger rechtlos als bisher, denn in der heiligen Vehme entstehen hier und dort Anstalten, die Je- dem, dem die schwachen Gerichte das Recht, das sie ihm zuge- sprochen hatten, nicht zu Theil werden Hessen, die Ausführung des Rechtsspruchs sichern. Diese wachsende Herrschaft der Ver- nunft und des Geistes in allen Verhältnissen, die Kirche allein zeigt sie nicht. Sie ist freilich in Europa geblieben, und hat sich, weil stehen geblieben, von der fortgeschrittenen Welt überholen lassen. Eben darum erscheint sie nicht mehr, wie in den bisheri- gen Kämpfen mit der Welt , siegesgewiss und kühn , sondern miss- traüisch und ängstlich bewacht sie jetzt jede neue Regung des Geistes: Sie ahndet, dass jetzt, was früher nicht war, jede Er- oberung, die er macht, ihr gefährlich werden müsse.

'§. 227. So lange die , welche dem Mittelalter als die beiden Mächtig- sten gelten , der Papst und der Kaiser , ernstlich daran festhielten, dass jeder von ihnen das von den beiden Schwertern ihm zuge- theilte zum Schutze Christi zu führen habe, so lange stützen sich

30*

468 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

die beiden glanzvollen Institutionen des Mittelalters, der im Kai- sertlium gipfelnde Lehnsstaat und die römische Hierarchie, gegen- seitig. Männer wie Ciirl der Grosse, Otto der Erste, Heinrich der Zweite, Gregor der Siebente und Innozenz der Dritte, sie zeigen Annäherungen an das Ideal mittelalterlicher Herrlichkeit. Derselbe Kaiser aber , an dessen Hofe Abhandlungen de tribus im- postoribus entstehen konnten, der kommt auch dazu die wichtig- sten kaiserlichen Rechte an seine Lehnsträger zu verlieren, und wieder wo Päpste nach rein weltlicher Oberherrschaft über die Fürsten trachten , da leiten sie selbst den Zustand ein , wo Könige an den Papst gewaltsam Hand anlegen , wo die von ihnen ernann- ten Gegenpäpste sich unter einander als Antichristen bezeichnen und damit das Papstthum selbst um seine Achtung bringen. Im- mer mehr gehen die Wege der weltlichen und geistlichen Macht auseinander, obgleich darin eben so das Reich verfallen muss, das nur als heiliges römisches Autorität haben kann, wie die Kirche, die eine wirklich katholische nur werden und seyn konnte, indem die Alles umfassende Weltmacht ihr ihren schützenden Arm lieh (s. oben §. 131). In immer schneidenderem Gegensatz sieht die Kirche in dem, was Grundlage alles Staatslebens ist, im Eigen^ thum, in der Ehe, in dem Gehorsam, welcher frei ist, weil er sich nur auf selbst bewilligte Gesetze bezieht, nur Weltsinn, und ihre Lieblingskinder müssen sich durch Gelübde verpflichten sich alles dess zu entschlagen. Zu der Flucht vor der Welt, welche sich in der jugendlichen Gemeinde , dem kleinen Häufchen der Aus- erwählten, als Neigung zu Eigenthums- und Ehelosigkeit, so wie als willenloses Dulden gezeigt hatte (s. oben §. 121), verhält sich diese, von den eigentlichen Auserwählten (dem Klerus) geforderte Absonderung von der Welt , wie sich zum Natürlichen das gewalt- sam Gemachte, wie sich zu den Einrichtungen der alten guten Zeit die Repristinationsversuche der Reaction verhalten. Ganz dem entsprechend macht sich im Staate, sobald ersieh in ein negatives Verhältniss zum Reich Christi stellt, das Princip wieder geltend, das, mehr noch als in dem Weltreiche der Römer, in dem Reiche hatte verschwinden müssen , in dem Alles in einer einzigen Sprache redete (s. oben §.116 u. a. a. 0.), das, vor dem Christenthum Allem voranstehende, Princip der Nationalität, und zwar tritt es hier auf als bewusstes , reflectirtes , was es im Alterthum nicht ge- wesen war. Nationale Interessen sind es, welche die, gegen die Päpste kämpfenden, Fürsten in den Vordergrund stellen, sie sind es gewesen, die ihnen, den oft gewissenlosen, auch bei religiösen Gemüthern Anhang verschafft haben. Wie die Kirche ihre Kam-

Einleitung. §. 228. 469

pfer gegen die Uebergriffe der Fürsten ganz besonders aus den, keinem Lande angeliörigen , Ordensgeistlicheu gewählt hat, zu de- nen sich bald die Glieder eines neuen Ordens gesellen werden, der wegen des klaren Bewusstseyns über seine Bestimmung der Orden aller Orden und am Meisten vaterlaudslos ist, eben so ist es be- greiflich, dass sich politische Gegnerschaft gegen die Uebergriffe der Kirche überall mit Nationalismus, d. h. mit besonderem Beto- nen des Nationalitätsprincips , verbindet.

§. 228. Wie dem Verhältniss, in welchem die Welt die Zwecke der Kirche verwirklichen musste, die Scholastik als kirchliche Philo- sophie entsprach und (natürlich stets nachfolgend nach §. 4) die einzelnen Phasen jenes Verhältnisses wiederholte, so entspricht dem langen Todeskampfe des Mittelalters , der nach dem Ende der Kreuz- züge eintritt , ein völliges Auseinandergehen der Elemente der Scho- lastik , von denen schon in ihrer Verfallperiode gezeigt worden ist, wie sie sich zu sondern beginnen, und dass sie sich trennen müs- sen. Diese Elemente waren gewesen der Glaube und die Welt- weisheit, welche, noch ehe die Scholastiker zu einer kirchlichen Theologie gelangten, die Kirchenväter zu einer kirchlichen Lehre, d. h. zu Dogmen, verschmolzen hatten. Macht sich nun hier das eine dieser Elemente von dem anderen wieder frei , so wird gewis- ser Maassen der Gegensatz sich wiederholen, in dessen Ausglei- chung die patristische Philosophie bestanden hatte (s. oben §. 132), der - des Gnosticismus und Neoplatonismus. Es wäre auch nicht schwer, eine Menge von Berührungspunkten zwischen den Theoso- phen dieser Periode und den Gnostikern , so wie zwischen den Welt- weisen und den Neuplatonikern nachzuweisen. Dennoch war es nothwendig, nur „gewisser Maassen" eine Rückkehr zu statuiren, da die Gnostiker und Neuplatoniker eine Kirchen -Lehre und dann weiter eine kirchliche Wissenschaft noch vor sich, hier dagegen die beiden sich gegenüberstehenden Richtungen, dieselben hinter sich haben. Der antischolastische Charakter ist beiden, den Got- tesweisen oder Theosophen, so wie den Weltweisen oder Kosmoso- phen, gemeinschaftlich, er erklärt Berührungspunkte namentlich bei den Anfängern dieser Richtungen , während an ihrem Culmina- tionspunkte klar wird, wie weltvergessen die Gottesweisen sind, und wie nahe die Weltweisen an Gottvergessenheit streifen.

470 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

I.

Die PLilosophie als (Jottesweisheit (die Theosophen).

C. Ullmann Reformatoren vor der Reformation. 2 Bde. Hamburg 1842.

§. 229. Bei aller, zum Theil sogar auf nachweisbare Einflüsse gegrän- deten, Verwandtschaft mit den Mystikern der früheren Periode, unterscheiden sich die Theosophen der Ue})ergangsperiode doch sehr wesentlich von den Victorinern, von Bonaventura . ja von Gcrson. Während nämlich diese an das festgestellte kirchliche Dogma sich anschliessen, also au das was aus der ursprünglichen Heilsverkün- digung gemacht worden war, darum aber auch nie aufliören kirch- lich zu speculiren , knüpfen Jene ihre tiefsinnigen Speculationen an das ursprüngliche /j]qiyf.ici an (vgl. §. 131), stellen sich also mehr auf den Gemeinde- als auf den eigentlich kirchlichen Standpunkt. Wie dieser Umstand es erklärlich macht , dass sie von der römisch- katholischen Kirche mit Misstrauen angesehn, ja zum Theil als Ketzer verdammt werden, so wieder dass den Protestanten die unter ihnen, die nicht wirklich zu ihnen gehören, als Vorläufer ihres eignen Standpunktes gelten. Nach dem oben aufgestellten Begriff der Scholastik durften die älteren Mystiker nicht von ihr getrennt werden, und der eine Bonaventura würde ausreichen um zu beweisen, dass Mystiker und Scholastiker keinen Gegensatz bil- den. Erst die Mystiker der Uebergangsperiode , die eben als Theo- sophen bezeichnet worden sind, sind Antischolastiker. Nach dem was oben gesagt worcteu, wird man es keinen unwesentlichen Um- stand nennen, dass die Victoriner und Bonaventura lateinisch schrieben. Letzterer selbst wo er dichtete, während die Mystiker des vierzehnten und der folgenden Jahrhunderte in der Volkssprache schreiben, ja die Ersteren zu denen gehören, welchen die eigne Sprache unendlich viel verdankt. Auch dass sie ihre Lehren nicht in Commentaren zu den Sentenzen, sondern in an das Volk ge- richteten Predigten entwickelten, muss charakteristich genannt wer- den. Gcrsons Predigten sind an Kleriker und Professoren gerich- tet, und werden darum lateinisch gehalten.

§. 230. A. Meister Eckhart «ud die speciilative Mystik.

K. Schmidt in Studien und Kritilieu von Umbreit und Ullmann Jahrg. 1839. 3<es Heft. Martensen Meister Eckart. Hamburg 1842. Jos. Bach Meister Eckhart der Vater der deutschen Speculatiou. Wien 1864.

1. Li der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts, wahr- scheinlich in Sachsen geboren, durch seine Studien in Paris mit

I. Die Theosophen. A. Die speculative Mystik. §. 230, 1. 2. 471

Kirchenvätern und Scholastikern so wie mit der Aristotelischen Philosophie gründlich vertraut gemacht , erscheint der Bruder Eck- linrt im J. 1304 als Provinzial des Dominicanerordens für Sachsen, im folgenden Jahre als General - Vicar für Böhmen und zeichnet sich in heiden Stellen durch seine wohlthätigen Reformen und seine Predigten aus. Es folgt eine Zeit, wo man ihn aus dem Gesichte verliert und er, wahrscheinlich in Strassburg, mit Begharden und Brüdern des freien Geistes scheint in Berührung gestanden zu ha- ben. Später sammelt seine Wirksamkeit in der Schule und auf der Kanzel seines Klosters in Cöln viele Schüler um ihn; unter diesen Svso und Taulcr. Der heftigste Gegner der Begharden, Heinrich von Virrenberg . Erzbischof von Cöln, verurtheilt seine Lehren und erlangt, da ErkhurL sich nicht fügen will, die Bestä- tigung seines Urtheils durch den Papst , worauf er im J. 1327 seine Lehren feierlich widerruft, aber auch bald darauf stirbt. Seine gelehrten Arbeiten, von welchen Triüicim viele angegeben hat, sind grösstentheils verloren. Seine Predigten, die zuerst in der Samm- lung der 7V/?//^^y"schen zu Basel 1521 und 22 erschienen , sind voll- ständiger nebst einigen kleineren Aufsätzen von Pfeiffer herausge- geben (Deutsche Mystiker des vierzehnten Jahrhunderts. 2'' Bd. Leipzig 1857).

2. Als der Fundamentalgedanke, auf den Echharl bei allen seinen Speculationen immer wieder zurückkommt , muss der ange- sehen werden, dass Gott, um aus der dunklen und finsteren Gott- heit, da er nur Wesen ist, zum wirklichen lebendigen Gott zu werden, sich aussprechen und erkennen, „sich bekennen und sein Wort sprechen" muss (bei Pf ei ff. p. 180. 181. 11). Das Wort nun, welches Gott ausspricht, ist der Sohn, dem der Vater Alles mit- theilt , so dass er gar nichts für sich behält ; darum auch die Pro- ductionsfähigkeit nicht , so dass der Sohn gleichfalls producirt und „in demselben Ursprünge da der Sohn urspringet, da urspringet auch der heilige Geist und fliesset aus" (p. 63). Indem der Geist den Vater und Sohn mit einander verbindet, ist er die „Minne" und ist die Lust an sich selber; darum liegt „sein Wesen und Le- ben darin , dass er minnen muss , es sey ihm lieb oder leid" (p. 31). Gott bleibt, indem er sich ausspricht, in sich; sein Ausgang ist sein Eingang (p. 92), und dieser Aus- und Eingang geschah nicht nur , er geschieht und wird geschehen , weil er ein ewiger Ausfluss ist (p. 391). Das Weitere aber ist, dass mit diesem innengöttli- chen Aussprechen seiner selbst, sogleich auch ein Aussprechen von Solchem gesetzt ist, das nicht Gott ist. Da Gott allein wahrhaf- tiges Seyn, so ist dies was nicht Er ist. Nichts. Die Creatur ist

472 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

daher nicht nur aus Nichts, sondern für sich genommen ist sie selbst Nichts (p. 136). Zöge Gott aus ihnen das Seine zurück, so würden die Dinge wieder zu nichte (p. 51). Dieses Seine ist Er selbst, denn nur Gott kommt Istheit zu, weil er alleine ist (p. 162). Was die Dinge in Wahrheit sind, sind sie in Gott (p. 162), oder was dasselbe heisst, das eigentlich Wahre in ihnen ist Gott. Die- ses eigentlich Reale in den Dingen spricht Gott aus, indem er sich selbst ausspricht; er ist so sehr ihr Seyn und Wesen, dass Eck- liart sich bis zu den Ausdrücken versteigt, Gott sey alle Dinge und Alles sey Gott (p. 163. p. 37. p. 14). Gott ist in den Dingen nicht nach seiner Natur, nicht als Person, sondern die Dinge sind Gottes voll nach seinem Wesen (p. 389). W^eil Er in den Crea- turen ist, deswegen liebt er die Creaturen, er minnet in ihnen sich selbst. Mit derselben Minne, mit der Gott den eingebornen Sohn minnet, mit derselben auch mich und in dieser Weise geht der heilige Geist aus (p. 146). Mit derselben Liebe, mit der Gott sich minnet, minnet er alle Creaturen. Nicht aber als Creaturen (p. 180). Das nämlich, was sie zu Creaturen und Dingen macht, das ist ihre Anderheit, ihr Hie und Nu, ihre Zahl, Eigenschaft und Weise, ohne welche Alles nur Ein Wesen wäre (p. 87), dies aber ist Alles eigentlich Nichts, es ist also für Gott nicht da. Von diesem Allen, von Zeit, Raum, Zahl, Eigenschaft, Weise u. s. w. muss man absehn, wenn man das sehen will was in ihnen wahr- haft Ist; dies ist natürlich in allen Dingen gut, alle Schranke und alles Uebel der Dinge ist nur ihr Nichts. Wie die Kohle meine Hand nur brennt, weil meine Hand nicht der Kohle Wärme hat, so liegt auch die Qual der Hölle eigentlich in dem Nichts -seyn, so dass man sagen kann: das Nichts ist das was in der Hölle pei- nigt (p. 65). Natürlich aber ist die Creatur, sofern sie in sich selber steht, nicht gut (p. 184).

3. In allen Dingen wird also, nur in jedem in besonderer und darum mit Nichtigkeit behafteter Weise, Gott offenbar; sie sind seine Abbilder. Weil aber Gott ein denkendes Wesen, so sind die nicht denkenden Wesen nur seine Fusstapfen , dagegen ist die Seele sein Ebenbild (p. 11). Vor Allen ist es der Mensch, in dem die Seele mit dem Leibe verbunden, und den Echluirt . zwar nicht immer aber oft , weit über die Engel setzt (u. A. p. 36). Wie Gott alle Dinge ist , weil er alle Dinge in sich enthält , so ist auch die Seele alle Dinge, weil sie aller Dinge edelstes (p. 323). In den drei obersten Kräften der Menscheuseele, der Erkenntniss, dem Kriegenden oder Zornigen ( irascihlle) und dem Willen spiegelt sich Vater, Sohn und heiliger Geist (p. 171). Wie alle Dinge nach

I. Die Theosophen. A, Die speculative Mystik. §. 230, 3. 473

dem Grunde zurückstreben, aus dem sie stammen, so auch der Mensch, nur ist hei dem Menschen diese Rückkehr eine bewusste, und darum weiss sich Gott in dem Menschen als von diesem ge- wusst. Weil nun aber in der menschlichen Seele alle Dinge idea- liter („vernünftig") enthalten sind, so werden sie, indem die den- kende Seele zu Gott zurückkehrt, zu Gott zurückgeführt (j). 180). Zwischen Gott und der Creatur findet darum ein Verhältniss ge- genseitiger Hingabe statt, das beiden Theilen gleich wesentlich ist. Gott sehen und erkennen und von ihm gesehen und erkannt wer- den ist Eins (p. 38). Gott mag daher unser so wenig entbehren, als wir seiner (p. 60). Die gegenseitige Vereinigung zwischen Gott und Menschen , die Minne oder Liebe . ist von Seiten Gottes ein Thun, aber kein beliebiges, denn „Ihm ist es nöther zu geben als uns zu nehmen" (p. 149) ; dies aber enthebt uns nicht der Dank- barkeit, vielmehr dass Er uns lieben muss dafür danken wir ihm. Von Seiten des Menschen ist jene Vereinigung zunächst ein Lei- den, an das sich aber eine thätige Hin- und Rückgabe schliesst: die Seele soll „eine Jungfrau die ein Weib ist" seyn , d. h, sie soll empfangen um zu gebähren (p. 43). Da diese Liebe nicht eigent- lich in uns ist, sondern wir in ihr sind (p. 31), und da sie darin besteht, dass Gott in dem Menschen denkt und will, so hat der Mensch sein eignes Denken und Wollen aufzugeben , Nichts zu wol- len als Gott. Wer noch etwas neben Gott will findet Ihn nicht, wer nur Ihn will, findet mit und neben Ihm Alles (u. A. p. 56). Wenn des Menschen Wille Gottes Wille wird , so ist das gut ; wenn aber Gottes Wille des Menschen Wille wird, so ist das besser: dort fügt sich der Mensch nur , hier dagegen wird Gott in ihm geboren, und darin der Zweck der Weltschöpfung erreicht (p. 55. 104). Dies Geborenwerden Gottes in der Seele verbindet beide zu der Einheit, in der Gott kein grösseres Leid geschehn kann, als dass der Mensch gegen seine eigne Seligkeit etwas thue, und dem Menschen kein grösseres Glück, als dass Gottes Wille geschehe und Gottes Ehre gewahrt werde. Der Mensch , der seinen Willen ganz Gott hingab, der „vahet und bindet" den Willen Gottes, so dass dieser nicht mag was jener nicht will (p. 54). In dieser Hin- gabe wird der Mensch durch Gnade zu dem was Gott von Natur ist (p. 185). Dabei muss aber nie vergessen werden, dass ein grosser Unterschied Statt findet zwischen Einem Menschen (Bur- chard, Heinrich) und dem Menschen oder der Menschheit. Die letztere oder die menschliche Natur hat Christus angenommen; zum Glück, denn wäre er nur ein Mensch geworden, so hülfe uns das wenig (p. 64). Jetzt aber ist, so weit ich nicht Burchard oder

474 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

Heinrich, sondern Mensch bin, was Gott Christo gab auch mein. Ja gegeben ist eigentlich mir noch mehr als Christo, da er ja Al- les von Ewigkeit her schon besass (p. 56). Dazu aber muss Alles, was zu Einem Menschen macht, aufgegeben und darf nicht der geringste Unterschied gemacht werden zwischen mir selbst, meinem Freunde und Einem jenseits des Meeres, den ich nie sah. Die Person muss aufgehört haben, damit der Mensch da sey (p. 65). Wo die persönliche, creatürliche , Weise ausgegangen, Gott Inder Seele geboren ist, da weiss der Mensch sich gleich Christo als Kind, Sohn, Gottes; da ist ihm aber auch nichts mehr vorenthal- ten; wie Gott ihm zu Willen, so thut er sich ihm. auch zu wissen, verbirgt ihm Nichts (p. 66. 63). Nicht durch unser natürliches Verständniss erkennen wir Gott, denn dem ist Er unfassbar, son- dern dadurch , dass wir von Ihm in das Licht erhoben werden, in dem Er sich offenbart.

4. Was den Menschen von Gott trennt, ist nur das Festhalten au sich selber und dem Seinigeu. Mit diesem hört auch die Tren- nung von Gott auf. So weit darum der Mensch sich selbst abge- schieden ist, so weit wird er Gott und also alle Dinge (p. 163). „Du sollst entsinken deiner Deinesheit und soll dein Dein in sei- nem Mein ein Mein werden" ruft Echlmrl der Seele zu und ver- heisst ihr dafür die Vereinigung mit Gott, nicht wie Er dies oder das ist, sondern wie er über jede Bestimmtheit hinaus, und ge- wisser Maassen das Nichts ist (p. 318. 319). Die reine Gottheit ohne alles „Mitwesen" (Accidens), diese soll der Mensch in sich aufnehmen (p. 163. 164). Deinuth und heisses Begehren sind die Mittel dazu, denen Gott nicht widerstehen kann, die ihn bezwin- gen (p. 168). Weil die Seele in Gott ihren eigentlichen Ort hat (p. 154), deswegen ist die selige Vereinigung mit Gott Ruhe; sie ist das Ziel der Weltschöpfung (p. 152). Ruhe ist aber nicht Un- thätigkeit, sie ist „Freiheit der Bewegung" (p. 605). Wie Echliart nicht will, dass aus seiner Behauptung, dass das ewige Leben in der Erkenntniss bestehe, gefolgert werde, sie bestehe nicht in der Minne, d. h. dem Willen (p. 359), so warnt er, namentlich in der überhaupt sehr merkwürdigen Predigt über Martha und Maria (p. 47 53), vor allem unthätigen Quietismus. Nur sollen die Werke nicht abgesehn von der Gesinnung hochgestellt werden. Absichtslosigkeit entschuldigt jedes Verbrechen, ohne die fromme Absicht hilft alles Fasten , Wachen und Beten nichts. Ueberhaupt quäle man sich nicht zuerst damit ab, was man zu thun habe, sondern gebe seine Seele Gott hin und lasse sich dann gehn. Dass man aufrechtem Wege, sieht man daraus, dass Einem Gott immer

I. Die Theosophen. A. Die speculative Mystik. §. 230, 5. 6. 475

lieber, die Dinge immer gleichgültiger werden (p, 178. 179). Zwi- schen beide, darum zwischen Ewigkeit und Zeitlichkeit, ist die Seele gestellt. Keiner von beiden „geeignet" steht es ihr frei sich der einen oder der anderen hinzugeben. Hält sie fest an dem Nichtigen, an dem Unterschiede von nun und gestern und morgen, so lebt sie in der Verdammniss, weil sie in Gott ist, aber wider- willig (p. 169); will sie aber das Nichtige nicht festhalten, ver- zichtet auf alles Zeitliche, darum auch auf das eigne Wollen und die eigne Meinung, dann ist sie selig, auch weil sie in Gott ist, aber willig. Da wird ihr Alles zu einem ewigen Nun, wie es für Gott ist, Zeit wird ihr wie Ewigkeit und die drei höheren Kräfte der Seele werden zum Sitz der höchsten Tugenden , des Glaubens, der Hoffnung, der Minne (p. 171 ff. Etwas anders p. 319 ff.). Die letzte der drei, das eigentliche ewige Leben, besteht in der Ge- lassenheit, der Alles recht ist was Gott thut, und wäre es auch dass Er uns verlassen und ohne Trost lassen wollte, wie einst Christum (p. 182).

5. Den aller entschiedensten Einfluss hat Eckluirl gehabt auf Heinrich Snso (vgl. IM. Dicpcvhrock Heinrich Suso's genannt Amandus Leben und Schriften. Regensb. 1829). Im J. 1300 in Schwaben in der Familie von Berg geboren, nannte er sich we- gen der Frömmigkeit seiner Mutter nach deren Familiennamen Sevss oder Siiss . der, latinisirt, zu Suso wurde. Nach seinem Tode hat man ihm den Beinamen Amandus beigelegt. Friih in den Dominicanerorden eingetreten , fand sein poetisches Gemüth in dem „süssen Trank", den ihm der „hohe und heilige" Meister ErU/art bot, am Meisten Befriedigung. Die „Minne", bei ihm zu- gleich in ritterlicher Weise gefasst, ward der leitende Gedanke seines Lebens, den er theils als wandernder Prediger, theils als Schriftsteller in gebundener und ungebundener Rede überall aus- sprach. Er ist am 25. Jan. 1365 in Ulm im Kloster seines Or- dens gestorben. Unter seine Schriften, die wahrscheinlich alle deutsch geschrieben , zum Theil von ihm selbst ins Lateinische übersetzt wurden, ward früher auch die von den neun Felsen gezählt, die gegenwärtig ziemlich allgemein dem Rulmmni Meer- sH-ein. einem frommen Laien in Strassburg, zugeschrieben wird. Das Buch ist 1352 geschrieben und schildert in einer Vision die Verdorbenheit aller Stände, so wie die neun Stufen, welche erstie- gen werden müssen, wenn der Mensch dahin gelangen soll, seinem Eigenwillen ganz abzusterben.

6. Auch für Jolmiin Tauler (1290 1361) waren wohl weni- ger die scholastischen Studien , die er gemacht hat , als der Un-

476 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (üebergang).

temclit und die hinreissenden Reden Evlharfs, die Basis gewor- den, auf der sein früh erworbner Ruhm als Kanzeh-edner ruhte. Aus der Art und Weise aber, wie in reiferem Alter durch einen frommen Laien (Niiolaus von Basel, der an der Spitze der waldensischen Gottesfreunde stand und später in Vienne als Ke- tzer verbrannt wurde) der glänzende und gefeierte Redner zu einem die Herzen erschütternden Glaubensboten wird, scheint her- vorzugehn, dass er anfänglich nur die intcllectuelle , man möclite sagen geistreiche, Seite der Eckhartsclien Mystik gewürdigt, und auch diese (vielleicht mehr als Evhharl selbst) in seinen Predig- ten geltend gemacht habe. Nachdem aber jener Laie ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, dass seine Predigten mehr glänzten als erwärmten , ändert sich dies. Die praktische Seite tritt in den Predigten, die er in den ersten zehn Jahren nach seiner Umkehr gehalten hat, viel mehr hervor. Hnysbroek (s. §. 231), dessen Umgang er in jener Zeit gesucht hat, mag ihn darin wohl be- stärkt haben. Jetzt ist es nicht, wie bei Eckhart, die mystische Wiederholung Christi in uns, die er predigt, als vielmehr die Mahnung, dass man dem armen und demüthigen Leben Christi nachfolgen solle. Wird doch seine Schrift von der Nachfolgung des armen Lebens Christi zu seinen vorzüglichsten gerechnet. Wo rein speculative Sätze bei ihm vorkommen, stimmen sie ganz, oft wörtlich , mit denen Echhurls überein. Die älteste Ausgabe seiner Predigten ist die Leipziger vom J. 1498 , ihr folgt die Augsburger vom J. 1508, dann 1521 die Basler von llynmunii; nach der Cöl- ner Ausgabe von Petei' von Nymwegen 1543 ist die lateinische Paraphrase des Sarins gemacht, Cöln 1548 Fol. Uebersetzungen in neuere Sprachen sind oft gemacht. Unter den hochdeutschen kann die von Schlosser (Frankf. 1826) und, als die neueste, die von Kvnite und Bicsentlml genannt werden (Berlin 3 Bde.). Eine gute Monographie über Tauler hat C. Schnidt gegeben (Johan- nes Tauler von Strassburg. Hamburg 1841). Dass Luther Tauler sehr hoch stellte, der Doctor Evh- dagegen ihn einen der Ketzerei verdächtigen Träumer nennt, kann nicht befremden.

7: Noch viel mehr Uebereinstimmung als diese persönUchen Schüler des Meisters Eckhart zeigt mit ihm der unbekannte Ver- fasser der Deutschen Theologie (herausg. von Luther 1518, dann sehr oft). Einen grossen Theil der Sätze, welche in den sechs und fünfzig Capiteln dieses Büchleins enthalten sind, kann man wörtlich bei Evhhurt finden. Kaum einen wird man finden, der mit dein stritte was Eckhart gesagt hat, nur dass bei diesem die Form der Predigt eine, oft an die Hyperbel streifende, Le-

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I. Die Theosophen. B. Die praktische Mystik. §. 231, 1. 477

bendigkeit des Ausdrucks zur Folge hat, die der ruhige Ton der späteren Abhandhing nicht fordert. Man hat aber diesen Unter- schied überschätzt, wenn man gesagt hat, der Pantheismus Eck- hnrts sey in der deutschen Theologie vermieden : Eckluirt ist nicht so sehr, die deutsche Theologie nicht so wenig pantheistisch, als Jene meinen. Die Grundgedanken: dass Gott das Vollkommene weil das Eine, weil Alles und über Allem, dagegen die Dinge un- vollkommen weil zertheilt und dies und das, dass die Gottheit nur dadurch dass sie sich ausspricht („veriehet") zu Gott wird, dass Gott zwar auch ohne Creatur Offenbarung und Liebe, aber nur wesentlich und ursprünglich, nicht förmlich und wirklich wäre, dass die Creatur nur dadurch von Gott abfällt, dass sie das Ich Mich und Mein väW anstatt nur Gott zu wollen, so dass Adam, alter Mensch, Xatur, Teufel, Sich Annehmen, Ich und Mein ganz dasselbe bedeutet, dass nur in dem vermenschten Gott oder dem vergotteten Menschen, d. h. in dem in welchem, weil er sich aufgab, Cfiristtfs lebt, das Heil sich finde. dass der Wille frei und edel sey so lange Gott in ihm lebt, durch Abkehr aber von Gott zum (leib-) eigenen d. h. unfreien Willen werde, -- dass die Hölle selbst zum Himmel wird, sobald das eigne Wollen aufhört u. s. w. alle diese liehren finden sich schon bei Ecklmrl. Die deutsche Theologie hat sie aber conciser gefasst, und, weil ihr Verfasser die VeriiTungen des „freien Geistes", gegen den er oft polemisirt, kannte, in einer Weise ausgedrückt, welche die Gefahr des Misverständnisses mindert. Eckliar! . der gerade durch die Kühnheit seines Ausdrucks oft besonders ergreift, lässt manchmal den Gedanken aufkommen, er habe absichthch paradox gespro- chen. Da war es freilich nicht unverschuldet, dass man ihn hetero- dox fand und noch findet,

§. 231. B. Ruysbroek und die praktische Kystik.

I. O. V. Engelhardt Richard von St Victor und Johannes Ruysbroek. Erlangen 1838. (Vgl. §. 172.)

1. Joliniiiies, dem anstatt seines vergessenen Famihenna- mens der seines Geburtsortes Ruyshroek (auch Rvshrnck, Rvs- hroch u. dgl.) beigelegt wird, ist im J. 1293 geboren, ward, mit- telmässig unterrichtet, in seinem vier und zwanzigsten Jahre Prie- ster und Vicar an der St. Gudulakirche in Brüssel, zog sich aber als Sechziger in das Augustinerkloster zu Grünthal zurück, als dessen Prior er, nachdem man ihm wegen seiner mystischen Ein- gebungen den Beinamen des Doctor cxtaticiis gegeben, am 2*^"

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Decbr. 1381 gestorben ist. Die meisten seiner Schriften sind in bra- bantischer Sprache verfasst, sein Schüler aber Gerhard de Groot und nach diesem Siniiifs haben sie ins Lateinische übersetzt, und so sind sie im J. 1552, und dann 1609 und 1613 gedruclit. Un- ter den 14 Scliriften, die diese Sammlung enthält (Speculum aeternae salutis, Commentaria in tabernaculum foederis, De prae- cipuis quibusdam virtutibus. De fide et judicio. De quatuor subti- libus tentationibus, De septem custodiis, De Septem gradibus amo- ris, de ornatu spiritualium nuptiarum, De calculo, Regnum Dei araantium. De vera contemplatione, Epistolae septem, Cantiones duae, Samuel s. de alta contemplatione) ist die vom Schmucke der geistlichen Hochzeit die bedeutendste.

2. Zu der Einheit mit Gott, die auch bei üm/sbroel- das letzte Ziel ist, gelangt man nach ihm entweder durch praktische Askese, oder durch inneres Leben, in dem wir uns Gott so hin- geben, dass er stündlich in uns geboren wird, endlich aber durch den allerhöchsten Grad der Contemplation, in dem selbst die Lust des inneren Lebens aufhört und der lauteren Ruhe und Gelassen- heit Platz macht. Der Hauptunterschied zwischen Rinjsbroek und Eckli(trt liegt darin, dass dieser immer die Einigung als schon erreicht darstellt, während Jener mehr das Erreichen, darum aber auch die Mittel desselben schildert. Darum Avird er nicht müde die verschiedenen Arten der Einkehr Christi , die verschiedenen Be- gegnungen mit ihm, die einzelnen Momente der Begnadigung, die zuvorkommende Gnade, den freien Willen, das gute Gewissen u. s. w. aufzuzählen, und man kann es charakteristisch finden, dass, wäh- rend Echhnrl sich darin gefällt zu zeigen, dass der Mensch ein Christus ist, llmjsbrock ihn ermahnt ein Petrus, Jacobus, Jo- hannes zu werden. Ein Vergleich beider muss daher auf Eclhart den Schein des Pantheismus werfen. Liegt doch wirklich der Un- terschied zwischen der Einheit mit Gott, die der Pantheist lehrt, und der unio mystica besonders darin, dass die letztere durch Til- gung der Sünde vermittelt, jene dagegen eine unmittelbare und natürliche ist, so dass Rmjsbroe/,- den Hauptpunkt ganz richtig trifft, wenn er, nachdem er eine Menge von pantheistischen Irr- thümern geschildert und classificirt hat, zuletzt besonders dies an ihnen rügt, dass nach ihnen die Ruhe durch blosse Natur erreicht werde, und geht doch Eclhart wirklich über die Vermittelungen, die zu jenem Ziele führen, oft etwas eilig hinweg. Dass bei die- sem Unterschiede Eckhart mehr Berührungspunkte mit Erigena, Enijsbroek mit den Victorinern zeigt, darf nicht befremden.

3. Die Lehre von der Dreieinigkeit, so sehr Rvysbroek sie

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auch von der Schöpfuugslehre zu souderu sucht, steht doch bei ihm in der engsten Verbindung mit derselben: durch die ewige Zeugung des Wortes sind alle Creaturen von Ewigkeit her aus Gott hervorgegangen. Gott erkannte sie, ehe sie zeithch als Crea- turen wurden, in sich selbst in einer gewissen, aber nicht ganz- lichen. Anderheit. Dieses ewige Leben der Creaturen ist der eigent- liche Grund (ratio) ihrer zeitlich geschaffenen Wesenheit, es ist ihre Idee. Durch sie, ihr Urbild, sind die Dinge Gott ähnlich, der sich in sofern in den Dingen erkennt, als er sich in ihrem Ur- bilde erkennt. In ihrem l'rbilde haben die Dinge ihre Gottähn- hchkeit; ihr Streben nach dem Urbilde, als dem Grunde ihres We- sens ist darum Streben nach Gottähnlichkeit. In dem Menschen, bei dem dieses Streben ein bcwusstes ist, fällt die Erreichung des- selben mit dem Walten der Liebe zusammen, die den Menschen gottförmig macht. In dem höchsten Grade hört jedes Wissen von Gott und von uns selbst auf; wir werden nicht Gott, sondern wer- den Liebe, sind selbst die Ruhe und SeUgkeit. Bedingung der Erreichung des Ziels ist, dass der Mensch sich selber sterbe. Dies Sterben ist im Theoretischen : ein Aufgeben des Wissens und Hineingelm in die Finsterniss des Nichtwissens, in der die Son- ne der Offenbarung aufgeht, im Praktischen: ein Aufgeben des eignen Thuns und Wirkens an das Gewirktwerdeu durch Gott. Durch dieses Von -sich -selbst -lassen und Ueberwiuden des eignen Willens gelangt der Mensch dazu, dass Gottes Wille seine höchste Freude, und darin besteht die wahi-e Gelassenheit und Ruhe.

4. Wie sich an Evkliorl Suso, Taulcr und später die deut- sche Theologie anschUessen, so bleibt auch Hnt/sbroek nicht ohne Anhänger und Fortbildner seiner Lehre. Zuerst ist Geerl de Groot (Gerhardns Magnits) zu nennen, der 1340 geboren, in Paris gebildet, eine Zeit lang in Cölu mit Beifall Philosophie ge- lehrt hatte, dann aber nach einer plötzlichen Sinnesänderung als Volksredner auftrat, und in Folge seiner Bekanntschaft mit dem greisen Ixtiyabrock der Stifter der Brüderschaft zum gemeinsamen Leben (Collatienbrüder, Fraterherren, Hieronymianer u. s. w.) wur- de, die sich bald im Besitz vieler Bruderhäuser befand. Gerhard starb den 20. Aug. 1384, aber die Brüderschaft verfolgte seine Zwecke weiter, unter welchen nicht der unbedeutendste war, durch Bibelübersetzungen und den Gebrauch der Landessprache im reli- giösen und kirchhchen Leben das niedere Volk demselben zu ge- winnen. In dem ältesten dieser Bruderhäuser, zu Deventer, ward nun auch der erzogen, dem die Brüderschaft ihren höchsten Ruhm verdankt, Thomas (Jlumerhen, latinisirt Mulleolus, gewöhnlich

480 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

aber nach seinem bei Cöln gelegenen Geburtsort Kempen a Kem- pis genannt), der im J. 1380 geboren, vom dreizehnten bis zwan- zigsten Jahre in Deventer unterrichtet, nach siebenjährigem Novi- ziat als reguhrter Canoniker in das Kloster St. Agnes nahe bei Zwolle trat, welches aus jener Brüderschaft hervorgegangen war, Avo er bis an seinen Tod (1471), zuletzt als Subprior gelebt hat. Unter seinen Werken, die zuerst 1494, später in Antwerpen von dem Jesuiten Sommn'ivs im J. 1609 herausgegeben wurden, wel- che letztere Ausgabe vielen anderen, namenthch der Cidner in 2 Quartbänden 1725, zu Grunde liegt, ist keines so berühmt gewor- den als de imitatione Christi libb. IV. Da dies Werk in den ältesten Handschriften, selbst in den von Thomas selbst augefertigten, keinen Autornamen angibt, so ist es auch Anderen zugeschrieben. Mit dem grössten Schein von Wahrscheinlichkeit hat im J. 1616 der Benedictiner ConslavVuis Cdjvtdnns dieses Werk dem, im drei- zehnten Jahrhundert lebenden Johann Gcrscii, Abt von Vercelli zuzuschreiben versucht. Im Wesentlichen sind es nur seine Gründe, welche in neuerer Zeit von Grcfjorii in Paris im J. 1827, Para- rla in Turin 1853 und Pwnaif in Paris 1862 wiederholt worden sind; da er aber bereits von Amorl schlagend widerlegt war, so brauchten Si/hert , X^Umann u. A. nur zu wiederholen, was Amort l)ereits gesagt hatte. Dass Nirolairs ron Ciisa, der nachweislich der Imitatio Vieles dankt, dort wo er den Meister Eckhart rüh- mend erwähnt, neben ihm ahhafem Vcrcellcnsem anführt (Apolog. doct. ignor. fol. 37), ist nicht wichtig genug, um die Gegengründe, unter welchen die vielen Germanismen der Schrift nicht die unwich- tigsten sind, zu schwächen. Thomas muss, wie die Sache bis jetzt steht, als der Verfasser dieser Schrift gelten, die nächst der Bibel vielleicht am häufigsten gedruckt sein möchte. Mit allen Ueber- setzungen soll es gegen zweitausend, darunter allein tausend fran- zösische, Ausgaben geben. Schon dieser Umstand übrigens zeigt an, dass das Werk nicht als ein wissenschaftliches beurtheilt wer- den darf, sondern ein grösseres Publicum hat als das welches sich mit Wissenschaft zu thun macht. Darum ist es auch ein un- glücklicher Einfall, die Nachfolge Christi mit der deutschen Theo- logie zu vergleichen; damit schadet man beiden Schriften, die jede in ihrer Art so bewundernswerth sind. Die Nachfolge Christi will nur ein Andachtsbuch seyu und ist als solches vortrefflich, viel- leicht unübertroifen. Dass die Jesuiten vor Allen es in Aufnahme gebracht haben, hat in den Augen beschränkter Jesuitenfeinde ihm geschadet. Interessant ist, wenn man dieses Buch mit paräneti- schen Schriften z. B. des Bonaventura oder Gerson vergleicht, zu

I. Die Theosophen. üebergang zur Blüthe der Mystik. §. 233, 1. 2. 481

sehen, wie sehr hier die Lehren zurücktreten, \Yelche der spätere Protestantismus verwarf, z. B. der Mariendienst.

§. 233.

Üebergang zum Höhepunkt der Mystik.

1. Einen der wichtigsten, vielleicht den allerwichtigsten , Ca- nal, durch welchen sich die Ideen sowol der speculativen als der praktischen Mystik auf den fortpflanzen, in welchem die Theosophie der Uebergangsperiode ihre Blüthe erreicht, bildet Luther (1483 Nov. 10.— rl546 Febr. 18.). Herausgeber der deutschen Theologie und warmer Verehrer von Taii/cr, hat sein inniges Verhältniss zu dem praktischen Mystiker Statipiiz seinen Sinn für Schi'iften wie die Nachfolge Christi nur noch steigern können. Wie sehr in diesem Manne, dessen Wesen kein menschliches, namentlich kein deutsches, Element ausschloss, auch die mystische Seite mäch- tig war, darauf hat in neurer Zeit besonders Weisse (Martinus Lu- therus etc. Lips. 1845 und ausführlicher in: die Christologie Lu- thers Leipz. 1852) aufmerksam gemacht. Er hat zugleich mit Recht darauf hingewiesen, dass in vielen Punkten die Lehi'en Andreas Osiinidcrs (14:98 1552), welchen die orthodoxen Lutheraner ver- dammten, mit Luthers persönlichen Ansichten mehr übereinstimm- ten, als die seiner Gegner.

2. Das Gleiche gilt in noch höherem Grade von den Lehren Schwcuvlifehls und vielleicht war es das Gefühl, dass hier wirklich nur die Consequenzen aus den eignen Lehren gezogen wurden, was Luthern mit solcher Härte über den edlen Manu urtheilen lässt. Im Wohnsitz seiner Väter zu Ossing in Schlesien im J. 1490 geboren, war Caspar Scinrcnck feld von Ossing im J. 1519 für die Neuerungen Luthers gewonnen. Sein ernster Sinn und rei- ner Eifer für Wahrheit liess ihn nicht dabei stehen bleiben. Er konnte, um seine eignen Worte zu brauchen, nicht bloss nach - er musste fortfahren, und das Sehen durch fremde Augen hat er Zeit- lebens verachtet und getadelt. Schon im J. 1527 erliess er, von Liegnitz aus, wo er ein Herzogliches Amt bekleidete, seinen „Send- brief an alle christgläubige Menschen vom Grund und Ursache des Irrthums im Artikel vom Sacrament des Nachtmahls", in dem er gegen die fleischliche Auffassung der Sacramente durch Katholi- ken und Lutheraner, eben so aber auch gegen die Zn'inglVs und der Taufgläubigen polemisirt, und seine Lehre, die er als die wahre Mitte zwischen jenen vier Secten bezeichnet, entwickelt. Es ist dieselbe, der er sein ganzes Leben hindurch treu geblieben ist, und die er (indem er in den Worten Das ist mein Leib „Das" als

F.rdmann , Gesch. d. Pliilos 1. ß1

482 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

Prädicat des Satzes nimmt) auch als die allein exegetisch haltbare bezeichnet, dass sich an das Geniessen Christi, der geistigen Nah- rung, durch Glauben und Hingabe, auf das Geheiss desselben die äussere Handlung schliessen müsse, in der sein Gedächtniss ge- feiert und sein Tod verkündigt werde. Die Verfolgungen der Lu- theraner, die er sich dadurch auf den Hals zog, zwangen ihn schon im folgenden Jahr sein Vaterland zu verlassen, und er ist von da an von Ort zu Ort gezogen, hat verborgen besonders in Schwaben und am Rhein gelebt und ist im J. 1561, wahrscheinlich in Ulm, gestorben. Dass Svlnceiichfeld in allen seinen Streitschrif- ten, in die der eigentlich friedfertige Mann hineingezogen wird, immer auf das Sacrament zurückkommt , hat seinen Grund darin, dass er in der Lutherischen Sacramentenlehre den Culminations- punkt der Richtung sieht, die er als fleischliclie an den Lutheri- schen tadelt. Was er nämlich immer und immer ihnen vorwirft ist, dass sie das Ewige und Innere mit dem Zeitlichen und Aeus- seren verwechseln, und eben darum an die Stelle des wahren al- lein seligmachenden Glaubens den historischen oder ^'ernunft-Glau- ben setzen. Was von dem ewigen Worte Gottes, das in Christo Fleisch geworden ist, und als verklärter Menscb zur Rechten Got- tes sitzt, vollständig richtig ist, das beziehen sie auf da;^ geschrie- bene Bibelwort, ja auf das Wort, das auf der Kanzel aus dem Munde ihrer Pastoren geht: in ihm allein soll das Heil liegen. Was von dem verklärten Christo ganz richtig ist, dass der Ge- nuss seines verklärten Fleisches und Blutes als alleinige Nahrung den Gläubigen Vergebung der Sünden gewähre, das beziehen sie auf den leibhchen Genuss des Brotes und Weines , und behaupten, dass dadurch Christus sich sogar mit dem Ungläubigen verbinde. An die Stelle der ecclesia iiUernu, ausser der es allerdings kein Heil gibt, haben sie ihre nur zu verderbte cccleüa e.itcrna ohne Bann und Kirchenzucht, ohne Wiedergeburt und Heihgung, gestellt, und beschwichtigen die Gewissen anstatt sie zu schärfen. Immer mehr werde von ihnen, sagt er, der Ruhm und die Ehre Christi verkürzt, seine Wirksamkeit an ihre Predigt gebunden, endlich ihre Pastoren zu denen gemacht, welche die Vergebung gewähren, statt dass ihr Beruf nur sey Zeugniss abzulegen für dieselbe. Von Sammlungen der W'erke ScIucenckfeUls kenne ich; Epistolar des Edlen von Gott hochbegnadigteu Herrn Caspar Schweuckfelds von Ossing aus der Schlesien u. s. w. Der erste Theil 1566 (s. 1. viel- leicht Strassburg), Fol. welcher hundert in den Jahren 1531 33 geschriebene Briefe enthält. Der andere Theil 1570 (s. 1. Ebenda- selbst) enthält zuerst vier Sendbriefe an alle chiistgiäubigen Men-

I. Die Theosophen. Uebergaug zur Blüthe der Mystik. §. 233, 2. 3 483

sehen, dann acht und fimfzig Briefe an bestimmte Personen, wel- che das erste von den vier Büchern bilden, in welche dieser zweite Theil zerfallen sollte. Ob die folgenden Bücher erschienen sind, weiss ich nicht. Zu dieser Sammlung kommt der erste (allein erschienene) Theil der christlichen orthodoxischen Bücher und Schriften des Edlen u, s. w. 1564. Fol. (s. 1.). Darin sind enthal- ten drei und zwanzig Aufsätze: Bekenntnis« vom J. 1547, Rechen- schaft von C. S's, Yocation, Sendbrief von der h. Dreieinigkeit 1544, Ermahnung zum wahren Erkenntniss Christi, die (grosse) Confession in drei Theilen, Vom Evangelio, Von Sund und Gnad Adam und Christo, Sendbrief von der Justitication, Von der gött- lichen Kindschaft, klare Zeugnisse ausser delu N. T. für Christum, Sendbrief von seligmachender Erkenntniss Christi, Summarium von zweierlei Ständen, Drei christliche Sendbriefe, Vom ewigen Leben Gottes, Catechismus vom Worte des Kreuze«, deutsclie Theologie für Laien, Von dreierlei Leben der Menschen 1545, Vom christ- lichen Streit, Summarium von Streit und Gewissen, Von himmlischer Arzenei, Vom Christenmeuschen, Vom Artikel der Vergebung der Sünden, Ein Bedenken \on der Freiheit des Glaubens, Kurzes Bekenntniss von Christo. Ausserdem kenne ich von einzeln ge- druckten Schriften: Vom Gebet 1547, Vom Lehramt des N. T. 1555, Fragen der christlichen Kirche, Ablehnung von Dr. Luthers Malediction 1555, Zwei Verantwortungen gegen Melanchthon, Kurze Ablehnung der Calumnien des Simon Museus 1550. Schon im J. 1556 sagt Schicenchfeld in seiner^ zweiten Verantwortung gegen McUmvhtlion. er habe mehr als fünfzig Büchlein geschrieben. Er gibt einige derselben an, die meisten sind solche, die hier ange- führt worden sind, einiger aber habe ich nicht habhaft werden können. Die Wolffenbüttler Bibliothek soll noch viel Handschrift- liches von Schceiichfeld besitzen.

3. Ein entschiedner Geistesverwandter Svhwenckfeids ist Va - lentin Weiffei. Geboren 1533 in Hayna bei Dresden, hat er dreizehn Jahre in Leipzig und Wittenberg zugebracht, und kam dann als Pfarrer nach Zschopau. Obgleich er seine mystischen Lehren nur vor Vertrauten mitzutheilen pflegte und seine nieder- geschriebnen Abhandlungen nicht durch den Druck veröffentlichte, so geht doch aus seiner am 23. Decbr. 1594 geschriebenen Theo- logia Weigelii (gedr. 1618 Neustadt [wahrscheinlich Magdeburg] bei Knaber [pseudonym]) hervor, dass er ob derselben von vielen Widersachern angefeindet worden ist. (Jenes Datum widerlegt übri- gens was man überall findet, dass er 1588 gestorben sey.) Ausser der eben genannten Schrift hat derselbe Verleger 1615 rvco^i

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484 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (ITebergang).

oeavTov Nosce teipsum, im Jahre 1618 aber Studium generale, Moise tabernaculum, Libellus disputationis, im J. 1619 de boiio et malo in homine veröffentliclit. Bereits im J. 1613 war in Halle bei Krnsicke erschienen: Der güldene Griff. Die gleichfalls bei Knuber im J. 1618 erschienene Schrift Soli Deo gloria kann in dieser Form von Weigel nicht geschrieben seyn, da sie Sachen citirt, die nach WeiyeVs Tode erschienen sind. Ausserdem finde ich folgende Schriften citirt, die mir fremd geblieben sind: Postil über Evangelia und Fest, Confession Teutsch und Bethbuch, In- formatorium, Vom Ort der Welt, Dialogus de Christianismo „und alle seine anderen Bücher und Schriften so albereit in Druck auss- gangen und noch künftig aussgehn wei'den". Am Häufigsten und Wärmsten führt Weigid als Gewährsmann an den Paracehns (s. weiterhin §. 241), nächst diesem den Nürnberger Apokalyptiker Paulus Lautersdck. Nach ihnen die deutsche Theologie und Taii- Icr, dem er übrigens auch die Nachfolge Christi zuschreibt. We- niger oft, und nicht immer lobend, wird Lulher citirt. Dagegen wird, zwar nicht genannt, aber sehr oft benutzt Nicvlaiis ron Citsa (s. §. 224), dem nicht nur die coincidentia contradictoriorum, sondern auch die iii dessen Schrift de conjecturis gebrauchte sche- matische Darstellung der sich ausgleichenden Gegensätze entlehnt wird. In allen oben genannten Schriften kehrt der Gedanke sehr oft wieder, dass der Mensch, weil aus dem linuis terrae geformt, als Mikrokosmus die ganze Welt in sich befasse, „alle Dinge ist, wie Gott", indem der mit Sinnlichkeit begabte Leib irdisch ele- mentaren, der Geist, der Sitz der verständigen Klugheit, sideri- schen Ursprungs sey. Zu beiden kommt dann als Wirkung des eingehauchten göttlichen Odems die, mit dem iidcUeclus ausgestat- tete Seele, in der Gott wohnt. Dass öfter, z. B. in Tabern. Moys., Seele und Geist ihre Stelle vertauschen, hat vielleicht die bes- sernde Hand der Herausgeber verschuldet, die sich öfter bemerk- bar macht. Eben deswegen erkennt der Mensch die Welt und Gott nicht sowol durch ihre Einwirkung von Aussen, als vielmehr indem er sich in sich vertieft. Nicht der „Gegenwurf" macht uns sehen, sondern das Auge. Um etwas zu verstehn muss man es in sich tragen. Nosce le ipsum ist deswegen die wahre Philo- sophie ; Philosophie als Liebe zur Weisheit führt aber zu Christo der die Weisheit ist. Darum sind die Welt, die h. Schrift, deren Inhalt Christus, und das eigne Selbst die drei Bücher, aus denen die wahre Erkenntniss geschöpft wird. Wer sich selbst richtig er- kennt, dem erscheint es kein Frevel, wenn gesagt wird, dass im Nosce te ipsum die dritte Person im göttlichen Wesen erkannt

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wird. Das ist eben der Fehler der Buchstabentheologie, dass sie, als müsse der Sonnenschein auch den Blinden sehend machen, durch Lehren und Glaubenssymbole dem Menschen das Heil zu verschatFen wähnt. Es gibt nur einen einzigen Weg dazu zu ge- langen: seinen Willen Gott gefangen geben. Gott nämlich, der ohne Welt nur Gottheit, willen- und affectlos und also nicht ganz wäre, gibt in der Schöpfung der Creatur Wesen und empfängt da- durch Willen, als der er nun in der Creatur lebt. Im Stande der Un- schuld ist es nur ein Wille, der Wille Gottes, der in -dem Men- schen lebt. Indem der Mensch diesen Willen Gottes sich aneig- net, in seinen eignen Willen verwandelt, verfällt er der Verdaram- niss, so dass die Hölle nichts ist, als der sogenannte freie Wille. Gibt er aber seinen Willen gefangen, so ist er selig, denn Seligkeit ist srrrian arhlfrimn. Erstirbt in uns der Wille wie er in Clristo starb, so lebt C/.ri.slifs in uns und Alles was Er that gehört uns an. Umgekehrt aber: Nehmen wir uns Etwas an, so sind wir böse. Der Gute und Böse vollführen beide Gottes Werk, jener mit Wissen, dieser indem er es für sein eignes ansieht. Auch ist der Unterschied zwischen dem Menschen vor dem Falle und nach demselben nicht der, dass in jenem nur Gutes, in diesem nur Bö- ses ist, sondern er liegt darin, dass dort das Böse hier das Gute „verborgen" bleibt. Die ganze Theologie ist in dem Namen Jesus C//ristifs enthalten; lebt Jesus in uns, so liest man aus diesem inneren Worte die Heilslehre besser, als aus der Bibel, aus der die Ketzer alle möglichen Irrthümer herausgelesen haben. Am Richtigsten verstand die Schrift Paifliis Lauter sack, der die Of- fenbarung fiu' das Hauptbuch erklärte, zugleich aber dies festhielt, dass sie nicht Offenbarung Johannis heisst, sondern Offenbarung Jesu Christi, weil Jesus Christus ihr ganzer Inhalt ist. Wer CLri- stnm in sich aufnahm, dem bezeugt die Bibel, was er in sich ge- lesen hat, d. h. was aus dem Geiste geschöpft ward, aus dem auch die Bibel geschöpft wurde. Die, welche behaupten, nur au das Bibelwort söy die Wirksamkeit des h. Geistes gebunden, müss- ten eigentlich behaupten, dass die Bibel nur vermittelst der Bibel geschrieben werden konnte.

Vgl. Jul. Otto Opel Valentiu Weigel, ein Beitrag zur Literatur- und Culturge- scliichte des 17. Jalirh. Leipz. 1864.

4. Alle in diesem §. genannten Männer sind durch theologi- sche Studien , wenigstens unter denselben , zu ihren mystischen Lehren gekommen. Dieselben bleiben darum, was auch durch die Terminologie sich ausspricht, in einem stetigen Zusammenhange mit dem, was die h. Schrift, was die traditionelle Dogmatik, was

486 Mittelalterliclie Philosophie. Dritte Periode (Uehergang).

hergebrachte Exegese lehrte. Wo sie abweichen, behaupten sie nur, es sey bisher nicht richtig exegesirt worden. Anders gestal- tet sich die Sache dort, wo ein, nicht durch Universitätsstudien Geschulter, dessen innere religiöse Erfahrungen zwar auch durch eifriges Lesen der h. Schrift, viel mehr aber durch Vertiefung in sich selbst genährt wurden, mit den Schriften der eben ge- nannten Männer bekannt wird. Nicht im Stande, der Mittelglie- der bewusst zu werden, welche die biblische und kirchliche Ueber- lieferung mit diesen mystischen, in seinem Geiste wuchernden, Ideen verbinden, muss er die letzteren als ganz neue, erst ihm zu Theil gewordene, Offenbarungen ansehn und für diese neuen Gedanken Namen suchen, die der Wortvorrath des Ungelehrten enthält oder zu denen er wenigstens den Stoff liefert. Damit wird der Mystik ihr, der früheren Wissenschaft entlehntes gelehrtes Gewand ganz abgestreift, sie wird zu dem was man Theosophie im Unterschiede von Theologie zu nennen pflegt: an die Stelle der ruhigen discursiven Betrachtung tritt die begeistei-te Intuition, und dem Leser wird nicht dargelegt, was der Schreibende ergrübelt hat, sondern was ihm die sich offenbarende Gottheit dictirte. Was dieser Theosophie vor anderen eine Einwirkung auf die weitere Entwickelung der Philosophie und darum einen Platz in der Ge- schichte derselben sichert, ist, dass sie eine von ihrer Zeit postu- lirte Erscheinung und darum, wenn gleich in phantastischer Form ausgesprochenes, Zeitverständniss , dann aber auch Philosophie ist (s. §. 3).

§. 234. €. Jakob Böhme und die tbeosophische mystik.

J. Hamherger Die Lehre des deutschen Philosophen Jakob Böhme. München 1844. H. A. Fechner Jakob Böhme. Sein Leben und seine Schriften. Görlitz 1857.

1. Jdkoh Böhme {Böhm) Avurde 1575 in Altseidenberg bei Gör- litz geboren, trat, nachdem er einen verhältnissmässig guten Schul- unterricht erhalten hatte, durch den er, wie es scheint, sogar die Rudimente des Latein kennen lernte, bei einem Schuhmacher in die Lehre, und begab sich, nachdem er '1592 freigesprochen war, auf die Wanderschaft, während welcher er, von den confessionel- len Streitschriften abgestossen, neben der ihm schon früher ver- trauten Bibel, allerlei mystische Schriften las, unter welchen sich nachweisbar Paracelsische und Schwenkfeldsche , wahrscheinlich aber auch handschriftlich cursirende Weigelsche befanden. Im 19*^" Jahre nach Görlitz zurückgekehrt, wird er daselbst im J. 1599 Meister und Ehemann und lebt als Vater von sechs Kindern ein ruhiges

I. Die Theosopheu C. Jakob Böhme. §. 234, 1. 2. 487

durch Fleiss und Frömmigkeit ausgezeichnetes Leben. Der An- blick eines von der Sonne erleuchteten Zinngeschirrs soll zuerst im J. IßlO in chaotischer Einheit die Gedanken hervorgerufen ha- ben, die er erst zehn Jahre später, in seiner Aurora, zu entwickeln versuchte. Da das MS. durch Herrn roih EiuJor , einen Schwenk- feldianer, in weiteren Kreisen bekannt geworden war und in Folge dessen ein Paar Paracelsische Aerzte, Walflrr aus Glogau und Kobcr aus Görlitz . ausser ihnen aber einige Görlitzei' Bürger sich näher an hDiwr ansclilosseu , so rief dies den Zorn des Obei-pre- digers Riiltcr hervor, in Folge dessen es vom Magistrat Bolivien verboten ward, zu schreil)en. Sieben Jahre lang gehorchte er die- sem Befehl , dann erklärte er , er vermöge es nicht länger und nun wurden von ihm niedergeschrieben: Im Jahre 1619: Von den drei Principien des göttlichen Wesens nebst dem xVnhange: Vom dreifachen Leben des Menschen. Im J. 1620: Vierzig Fragen von der Seele nebst dem Anhange: Das umgewandte Auge, Von der Menschwerdung Jesu Christi. Sechs theosophische Punkte, Sechs mystische Punkte , Vom irdischen und himmlischen jMysterium. Im J. 1621 : Von vier Complexionen , Schutzschrift wider BaUhaser Tilclrn, zwei Streitschriften gegen Esains Sliefel. Im J. 1622: Signatura rerum , von wahrer Busse , von wahrer Gelassenheit, vom übersinnlichen Leben, von der Wiedergeburt, von der göttlichen Beschaulichkeit. (Die letzteren fünf mirden ohne sein Vonvissen unter dem Gesammttitel : Weg zu Christo, 1623 gedruckt.) Im J. 1623 wurde verfasst: Von der Gnadenwahl, von der h. Taufe, vom h. Abendmahl, Mysterium magnum. Im J. 1624 endlich: Ge- spräch einer erleuchteten und unerleuchteten Seele, vom h. Gebet, Tafeln von den drei Principien göttlicher Offeubarang, Clavis oder Schlüssel der vornehmsten Punkte. Einhundert und sieben und siebzig theosophische Fragen. Ausser diesen Schriften existiren noch seine vom J. 1618 24 geschriebenen theosophischen Send- briefe. Der Druck des Weges zu Christo erneute die Angriffe der Ortsgeistlichkeit, vor denen Böhme endlich durch eine Reise nach Dresden, wo er mit den höchsten Geistlichen und vielleicht mit dem Churfürsten selbst in Berührung kam, sicher gestellt ward. Bald darauf starb er an der ersten Krankheit, die ihn je befallen hat, am 7. (17.) November 1624. Seine Werke sind zuei-st von Bethe in Amsterdam 1675, dann vollständiger von Giehtel in 10 Bänden, Amsterdam 1682 herausgegeben. Die 6 bändige Amster- damer Ausgabe von 1730 wird am Meisten geschätzt. Die neuste ist die von Sr/tiebler, Leipzig 1831 ff., in sieben Oetavbänden. 2. Da Böhme' s Bestreben vor Allem darauf geht, gleichzeitig

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Gott als den Urgrund alles Seyns zu fassen und doch die unge- heure Gewalt des Bösen nicht zu leugnen, so ist es erklärlich, wie er denen, die zum Pantheismus neigen, als Manichäer, denen wieder, die eine fast blinde Furcht vor dem Pantheismus verra- then, als Pantheist erscheinen konnte. Wie weit er aber vom Pan- theismus entfernt ist, zeigt seine unaufhörliche Polemik gegen die „Gnadenwähler", die Gott zur Ursache des Uebels, ja des Bösen, machen. Freilich kennt er auch die Gefahr, die in der Flucht vor dem Pantheismus liegt, und auf diese Gefahr möchte es zie- len, wenn er erzählt, dass der Anblick des Bösen ihn zu der Me- lancholie gebracht habe, in der ihm der Teufel oft „heidnische" Gedanken eingegeben habe, die er hier verschweigen wolle. Das wahre Verständniss wird nur errungen, indem der Geist durch- bricht bis in die innerste Geburt der Gottheit (Auror. 19, 4. 6. 9 11). Die Furcht, dass dies dem Menschen unmöglich, gibt der Teufel uns ein, dem freilich daran liegt, dass man nicht dahinter komme. Nicht umsonst sind wir Ebenbilder Gottes und Götter, dazu bestimmt Gott zu erkennen (Auror. 22, 12). "Weil wir es sind , deswegen führt die Selbsterkenntniss zur Erkenntniss Gottes, und nur weil sie zu träge dazu ist, redet die Vernunft so gern von der Unbegreiflichkeit Gottes, vor dem sie stehen bleibt wie die Kuh vor der neuen Stallthür (Myst. magn. 10, 2). Das , worin und woraus Gottes Wesen und innere Geburt erkannt werden kann, trägt der Weiseste wie der Ungelehrteste in sich. Wenngleich da- her Blihvie als die Quelle seiner Lehren nicht Bücher, sondern die unmittelbare Offenbarung Gottes angibt, als dessen oft ganz willen- und bewusstloses Werkzeug er schreibe, um die wahre „philosophische" Erkenntniss auszusprechen und den Tag des Herrn zu verkündigen, dessen Morgenröthe angebrochen sey (Auror. 23, 10. 85), so gesteht er doch jedem Leser die Fähigkeit zu, seine Schriften zu verstehn (Ebend. 22, 52). Freilich dürfen sie nicht aus eitlem Fürwitz und blosser Neugierde gelesen werden , sondern in dem Sinne, in dem sie geschrieben wurden, so dass man „gleich als wenn man todt" sich dem erleuchtenden Geiste hingibt, nicht mehr wissen als dieser offenbaren will. Man muss eben Gott selbst in sich forschen lassen (Schlüssel, Vorr.). Die blosse Vernunft reicht dazu nicht aus, denn diese kommt, wie der Sinn dem irdi- schen aus den Elementen gebildeten Leibe, so dem Geiste zu, dem siderischen aus den Gestirnen stammenden Sitze der Klugheit und Künste. Vielmehr bedarf es dazu des Verstandes, welcher zu sei- nem Sitze die von Gott eingehauchte Seele hat, und da Jedes nach dem trachtet, woraus es seinen Ursprung hat, nach der Er-

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kenntniss Gottes trachtet (Sig. rer. 3, 8). Freilich ist durch den Fall Adams auch diese Erkenntniss sehr verdunkelt, und ohne das Sterben des alten Menschen, was keine leichte Sache ist, kann Gott nicht erkannt werden. Der Wiedergeborne aber, d. h. der, in welchem Gott geboren ward, kann in dem wie es geschah, Got- tes ewige Geburt lesen, denn wie Gott heute ist, war er ewig und wird er ewig seyn.

3. Da ist nun Gott ganz zuerst zu denken, wie er die ewige Ruhe ist , eine „Stille ohne Wesen" , als Ungrund und Wille ohne Gegenstand (Myst. magn. 29. 1). So gedacht ist er nicht dies oder das , sondern vielmehr als ein ewiges Nichts , ohne alle „Qual" d. h. qualitäts- und trieblos. Nichts und Alles, weder Licht noch Finsterniss, das ewig Eine (Gnadenw. I, 4). In dieser seiner Tiefe, wo er selbst nicht Wesen ist, sondern Urständ aller Wesen, ist Gott nicht offenbar, nicht einmal sich selber (Myst. magn. 5, 10). Um ihn so zu denken, nehme man Natur und Creatur weg, denn alsdann ist Gott Alles (Gnadenw^ I, 9). Darum wird er auch oft der Unnatürliche, Uncreatürliche u. dgl. genannt. Durch ein Bli- cken in sich selbst, siebet er was er selber ist und machet sich selber zu einem Spiegel, wodurch der ewige unfassliche Wille zu einem fassenden (Vater j und einer fasslichen Kraft (Sohn) sich ge- boren hat , und das Unfindliche , der ungi-ündliche Wille , durch sein ewig Gefundenes aus sich ausgeht und sich in ewige Beschaulich- keit seiner selbst einführt. Der Ausgang des ungründlichen Wil- lens durch den Sohn ist der Geist, so dass also der einige Wille des Ungrundes sich in dreierlei Wirkung scheidet, dabei aber ein Wille bleibet (Gnadenw. I, 5. 6. 12). Jetzt also ist Unfindliches und Findhches da, der Ungrund hat sich in Grund, das ewige Nichts in ein ewiges Auge oder Sehen gefasset (Gnadenw. I, 5, 6, 8). In dieser Gebährung steht dem Willen das Gemüth gegen- über, der Ausgang aber aus beiden ist der Geist (Myst. magn. 1 , 2). Die vierte Wirkung geschieht in der ausgehauchten Kraft als in der göttlichen Beschaulichkeit oder Weisheit, da der Geist Gottes aus sich selber spielet und in Fomiirungen einführt (Gna- denw. I, 14). Dabei muss man nicht, wozu die Bezeichnung als vierte Wirkung verleiten kann, die Weisheit als ein, den drei anderen coordinirtes Moment ansehn. Vielmehr ist sie das jene drei Um- fassende, sie ist der Ort, in dem Gott von Ewigkeit her alle die Möglichkeiten sieht, mit denen sein Geist spielt (Gnadenw. 5, 12). Die ewige Weisheit oder Verstand ist die Wohne Gottes, er der Wille der Weisheit (Myst. magn. 1, 2). Als diese „Wohne" und Ort der göttlichen „Bildnisse" ist die Weisheit passiv und

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wird darum dieser Umschluss gewölmlicli als die Jungfrau bezeich- net , die nicht empfängt noch gebiert (Dreif. Leben 5 , 44) , auch dem h. Geiste so entgegengestellt, dass er das Aushauchen, sie das Ausgehauchte ist (Myst. magn. 7, 9). Nach Bnlvte's ausdrück- licher Erklärung ist die eben entwickelte Dreiheit nicht die der drei Personen des göttlichen Wesens. Für den Terminus Perso- nen hat er keine Vorliebe; dersell)e ist nicht nur missverständlich, sondern auch ungenau, da eigentlich „Gott keine Person ist als nur in Christo" (Myst. magn. 7, 5). Indess will er nicht rechten mit den „Alten, die es also gegeben haben" (Ebend. 7, 8). A])er „allhier' kann man mit „keinem Grunde sagen, dass Gott drei Personen" sey, denn in dieser ewigen Gebärung ist er nur Ein Leben und Gut (Ebend. 7, 11). Der Unterschied ist bisher eben nur einer, der „Verstand", ideal würde man heut zu Tage sagen, ist, dazu dass er so zu seinem Eechte komme, wie die kirchliche Lehre von der Dreipersönlichkeit es fordert, dazu ist nöthig, dass das bisher ganz einige Wesen in „Schiedlichkeit" oder „Unter- schiedlichkeit" trete. Das Princip derselben ist das, was höhne ewige oder geistliche Natur, auch Natur schlechthin nennt. Jene Dreifaltigkeit gewinnt Wesen mul OfFen])arung , wird mehr als „nur Verstand", indem der ewige Wille sich „in Natur fasset", wodurch seine Kraft in Schiedlichkeit und Empfindlichkeit kommt (Gnadenw. 4, 6; 2, 28). Die Lehre von der ewigen Natur, wor- unter Bnlniie ungefähr das versteht, was bei N?ro!nns r. Cimr al- ter ifns, bei früheren Mystikern Anderheit hiess (vgl. §. 224, 3 und 229, 2), und was man heute vielleicht Für sich seyn oder Selbst- ständigkeit nennt, kommt als der wichtigste Punkt fast in allen seinen Schriften zur Sprache. Am Ausfühi'lichsten in der Aurora (Cap. 8 11), am Uebersichtlichsten in Myst. magn. Cap. 6. Fast überall wird dabei derselbe Gang befolgt, wie in dem Erstlings- werke: Die sieben Momente der Natur werden, in derselben Rei- henfolge, wenn auch nicht immer unter denselben Namen nach einander betrachtet. Indess erleichtert es das Verständniss, wenn, mit Anschluss an Winke, die sich namentlich in späteren Werken finden, ein andrer Weg eingeschlagen wird. Der Weisung, dass aus dem in der Creatur Erkannten zurückgeschlossen werde auf den Urgrund derselben, folgt /nun selbst auch dort, wo er den Uebergang des verborgeneu Gottes in die Offenbarung erforschen will. Da liefert ihm nun die Aussenwelt die Erkenntniss, die al- lerdings beim Anblick des Zinngefässes aufgehn konnte, welches, obgleich selbst dunkel, das Licht der Sonne offenbart, dass „überall Eins gegen das Andere ist, nicht dass sichs feinde, sondern da-

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mit es dasselbe bewege und offenbare" (Gnadenw. 2, 22). Und wieder sagt ihm die Selbst erkenntniss, dass in dem stillen Ge- müthe es zu einer Aeusserung nur kommt, wo es in Begierde ent- brennt (Schlüssel 8 , 55. ßO). Dem gemäss wird auch der Ueber- gang des stillen Ungrundes in die „Empfindlichkeit", d. h. Wahr- nehmbarkeit, so gefasst, dass in der stillen Lust der Weisheit die „Begierde" erwacht, welche als das Fiaf und der Urständ al- ler Wesen, zugleich aber auch als das Feuer bestimmt wird, durch welches Gott sich offenbart und überhaupt alles Leben aufgeht (Myst. magn. 3, 4. 8. 18). Nun enthält aber das Feuer auch die zuerst erwähnte Bedingung alles Offenbarwerdens: es verbindet mit der verzehrenden Kraft die leuchtende, mit dem Zorn die Liebe, so dass also das göttliche Feuer „sich in zwei Principia theilt, damit jedes an dem anderen offenbar werde" (Myst. mgn. 8, 27). Als Gegensatz zum laicht wird das Zorn -Feuer Finster- niss genannt, worunter nicht das Böse zu verstehn, obgleich, wie sich später zeigen wird, daraus das Böse in der Creatur wird (Gnadenw. 4, 17). (Uebrigens bleibt Böhme selbst der hierin aus- gesprochnen Weisung nicht treu, und nennt oft diese Wurzel des Bösen: das Böse in Gott.) Sondert man nun, wie wir in der Be- trachtung das müssen , obgleich in Gott sie sich nie trennen , den Zorn von der Liebe, so lassen sich in jedem der beiden je drei Momente (Umstände, Eigenschaften, Qualitäten, Geister, Quell- geister, Gestalten, Species, Essentien u. s. w.) unterscheiden, die, indem das Feuer als das Mittlere zwischen ihnen erscheint, jene Siebenzahl geben, von der Böinne nie abweicht, obgleich sich dem Leser öfter die Frage aufdrängt , wamm , da er zu den drei ersten Gestalten sehr oft (u. A. Dreif. Leben 1, 22. Myst. magn. 7, 1) das Zornfeuer als viertes hinzurechnet , nicht ein Gleiches mit dem Liebesfeuer geschieht, woraus sich die Achtzahl ergäbe. Da es sich hier luii den Uebergang zu bestimmter Gestaltung handelt, dabei aber dem Mittelalter der Begriff der contractin geläufig war, so ist es erklärhch, dass bei Böhme als die erste Quahtät die zu- sammenziehende erscheint, die er die Herbe, auch Härte, Hitze u. dgl. nennt. Ohne sie ist Alles, was er Compaction, Coagula- tion u. s. w. nennt, nicht denkbar. Eben so wenig auch Vielheit. Sie ist „haltend" und darum bildet einen Gegensatz zu ihr die zweite Eigenschaft, welche ausdehnt, in der sich das „Fliehen" zeigt. Zuerst wohl auch die süsse Qualität und das Wasser ge- nannt , wird sie später verschieden , besonders oft als der „Sta- chel" bezeichnet. Die Verbindung jener beiden gibt die dritte Ge- stalt, die Angst, Angstqual, die bittere Qualität u. s. w. Alle

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drei werden dann auch mit den Paracelsischen (s. unten §. 241) Namen Sal, Mercurius und Sulphur, ihre Summe als Salniter be- zeichnet. Aus ihnen bricht nun, wie aus dem Stein und Stahl der Funke, als vierte Gestalt das Feuer hervor, wegen der Plötz- lichkeit des Hervorbrechens der Blitz, noch häufiger der Schreck oder Schrack genannt, mit dessen Anzündung erst das fühlende und verständige Leben aufgeht (Myst. magn. 3, 18) und das nach seiner einen Seite, als Zorufeuer oder Feuer im engeren Sinne, zusammen mit den drei erstgenannten Gestalten (der Begieiiich- keit, Beweglichkeit und Empfindlichkeit nach recht. Betkunst 45), das Reich des Grimmes und der Finsteruiss bildet, während es nach seiner anderen Seite mit den sogleich zu betrachtenden Ge- stalten das, in freier Lust triumphirende Freudenreich bildet (Myst. magn. 4, 6). Die fünfte Gestalt ist nämlich das warme Licht, in dem die Hitze und die Angstqual gedämpft sind, das „Wasser als wie ein Oel brennt"; die sechste gibt den, das Feuer, wie der Donner den Blitz, begleitenden. Schall oder Ton, worunter über- haupt alle Mittel der Verständigung verstanden werden, so dass hier Geruch, Geschmack u. s. w. zur Sprache kommen und die sechste Gestalt öfter „Verständniss und Erkenntniss" genannt wird (so recht. Betk. 45). Endlich die siebente Gestalt oder Qualität, die „Leiblichkeit", fasst alle früheren in sich zusammen , gleichsam als ihr Gehäuse und Leib, darinnen sie wirken wie das Leben im Fleisch (Schlüssel 8, 35). Indem diese letzte Gestalt nicht nur der rechte Geist der Natur, sondern schlechtweg Natur genannt wird, wird dieses Wort sehr vieldeutig. Einmal nämlich fasst es alle diese Gestalten zusammen, woher sie Naturgestalten, Natur- geister u. s. w. heissen. Zweitens soll es, wie eben gesagt, den Umschluss der sechs übrigen und also die siebente Gestalt allein bezeiclinen , womit zusammenhängt , dass sehr oft die Aehnlichkeit der Natur mit der Weisheit oder Jungfrau hervorgehoben wird. Drittens kommt es sehr oft vor, dass nur die drei (oder vier) ersten Gestalten mit dem Worte Natur bezeichnet, und die übri- gen ihr als das „Geistliche" entgegengestellt werden (so u. A. Myst. magn. 3, 19). Endlich aber weil unter diesen die herbe Qualität, die erste und eigentlich charakteristische war, so wird diese nicht nur das Ceitlrmu imturne , sondern geradezu die Natur genannt. Eins steht bei allen diesen Ungenauigkeiten fest: dadurch, dass der ewige Wille sich bewegte, in Begierde und Feuer gerieth, ist zwar keine Trennung in derselben eingetreten, denn die Eigen- schaften bilden eine Harmonie, in welcher jede der Gestalten die anderen mit enthält und alle Eins sind (Myst. magn. 5, 14. 6, 2),

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aber doch immer ein Unterschied, der göttUche "Wille, indem er sich „in Eigenschaften eingeführt" hat, ist nicht mehr unberührt von allem Gegensatz, sondern hat sich im Feuerschreck in zwei Reiche getheilt (Ebend. 3, 21. 4, 6), die sich zwar nicht anfein- den , denn der Grimm dient zum Leben, das Strengste und Grimm- ste ist das Nützhchste, weil es Ursache der Beweglichkeit und des Lebens, die aber doch unterschieden sind und von denen das eine, die Finsterniss, nicht Gott, sondern nalirra, das zweite da- gegen Gott als A und O pflegt genannt zu werden. (Dreif. Le- ben 2, 8. 10.) Beide stehn in dem Verhältniss zu einander, dass jenes die Urständ oder Wurzel von diesem ist, aus dem Zorn, in welchem Gott ein verzehrendes Feuer ist, die Barmherzigkeit, in der er sein Herz zeigt, hervorgeht und das Licht an der Finster- niss offenbar wird (u. A. Myst. magn. 8. 27). Durch diese Unter- schiedliclikeit wird nun aus der Dreifaltigkeit, die „nur Verstand" gewesen war , die Dreiheit solcher , die „zu AVesen" geworden, der drei Personen. Die ewige Natur ist also gleichsam der Stoff für die Dreipersönlichkeit und heisst darum ihre Mutter oder mairix. Wie aber diese Verselbstständigung geschieht, und welche Eigen- schaften namenthch für dieselbe die wichtigsten, darüber gelingt es Böhme nicht, sich klar und verständlich auszudrücken. Viel- leicht weil er es sich selber nicht war. Bald nämlich soll die erste und siebente Gestalt dem Vater, die zweite und sechste dem Sohne, die dritte und fünfte dem h. Geiste zukommen und die vierte als Scheideziel die Mitte bilden (so Schlüssel 75 78); bald . wieder werden von den sieben Eigenschaften die erste, vierte und siebente so betont, dass der harte Zorn ganz dem Vater vindicirt, dagegen der Sohn als das Herz des Vaters ganz dem Feuer gleich gesetzt, endlich aber die Leiljlichkeit oder ganze Natur als der Leib gefasst wird , in dem der h. Geist sich spiegelt (so u. A. Dreif. Leben 5, 50); endhch aber kommt auch dies vor, dass die Fin- sterniss oder Natur in Gott , d. h. die befeuerten drei ersten Ge- stalten ganz dem Vater, die befeuerten drei letzten ganz dem Sohne gleich gesetzt werden , die sich dann zu einander verhalten wie Zorn und Barmherzigkeit, verzehrendes Feuer und Sanftmuth der Liebe (so u. A. Dreif. Leben 1, 42). Aus dieser Fassung ist erklärlich, wie Böhme dazu kommt den Sohn „tausend Mal grös- ser als den Vater" zu nennen (Dreif. Leben 6, 98), andrerseits warum man ihm Dualismus vorgeworfen hat. Man vergass dabei nur zu sehr, dass die Zwciheit weder ursprünhch ist, noch einer über ihr stehenden Einheit ermangelt.

4. Dass nun das. was für Gott selbst unentbehrliches Ver-

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wirklich ungsmittel ist, auch die Wirklichkeit des Aiissergöttlichen bedingt, ist erklärlich. Böhme äussert sich sehr unzufrieden über die gewöhnliche Formel, dass Gott die Welt aus Nichts geschaf- fen habe, nicht nur weil sie negativ ist, sondern Aveil sie gegen das Axiom verstösst, dass aus Nichts nichts wird (Aur. 19, 56). Seine eigne Lehre gibt ihm die Daten zu einer andern, und po- sitiven, Schöpfungslehre. Unterscheidet man, wie er, allerdings etwas willkührlich , thut, von dem göttlichen Ternar den terna- r'ms sanctiis so, dass der letztere den ersteren sammt den sieben Naturgestalten befasst (Dreif. Leben 3, 18), so ist die Welt das Werk des letzteren. An jenen Esscntien hat nämlich der Wille den Stoff, aus welchem er die Dinge macht. Dies gilt schon von ihrem „geistlichen" Zustande, wo sie gleichsam als Spiele der Gott- heit in der ewigen W^eisheit existiren , denn diese „Bildnisse" sind nur die verschiedenen möglichen Combinationen jener Essentien, Aus diesem Zustande werden sie dann, durch den göttlichen Wil- len in Sichtbarkeit und Wesen eingeführt (Schlüssel 8, 41), in- dem der ewige Wille einen anderen Willen aus sich schöpft, denn sonst wäre er mit sich einig , würde nicht aus sich ausgehen (Dreif. Leben 1, 51). Dieses Werden zu „compactirten" Wesen, oder dieses Coaguliren bedarf natürlich der zusammenziehenden, d. h. der herben Qualität, die also als die matrlx der sichtbaren Dinge erscheint (Gnadenw. 1, 20. Dreif. Leb. 4, 30), und ohne das fin- stere und feurische Princip keine Creatur seyn würde (Gnadenw. 2, 38). Darum wird Gott oft als Vater , die ewige Natur als Mut- ter der Dinge gefasst i^Dreif. Leb. 4, 89), und von ihren Kindern gesagt, dass sie Zorn und Liebe, jenen als Urständ von dieser, in sich tragen (Ebend. 5, 8L G, 93). Da beide ewig sind, so ist nicht nur das, was vor der Schöpfung als „unsichtbare Figur" in der göttlichen Weisheit sich findet (Ebend. 9, 6), sondern auch das, was Gott durch sein Schöpferwort aus sich heraus setzt, zu- nächst ein Ewiges. Darum beginnt die Welt mit der Schöpfung der ewigen Engel. Da Gott alle Wunder der ewigen Natur offen- baren wollte und also aus allen Naturgestalten Geister hervorgin- gen je nach ihrer Art, so bilden die Engel eine Vielheit von Ord- nungen , die unter ihren verschiedenen Thronen und Fürsten stehn. Unter diesen nehmen die oberste Stelle die drei ein, welche als die ersten Abbilder der dreipersönlichen Gottheit erscheinen: Mi- chael, welcher dem Vater, Lucifer, welcher dem Sohne, Uriel, welcher dem h. Geiste entspricht (Aur. 12, 88. 101. 108). Indem Lucifer, anstatt sich in das Herz Gottes hinein zu „iraaginiren" und hinein zu „wachsen", vielmehr sich in das ccntrum nalnrae

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vergafft, die herbe Matrix erweckt und erregt, so dass sein Fall nicht sowol darin besteht, dass er als ein Gott seyn wollte, son- dern dass er des Feuers Matrix wollte über die Sanftmuth Gottes herrschen machen, geschieht ihm v,as er will: er steht lediglich im Zorn Gottes (Dreif. Leben 8, 23. 24). Mit Gott geht dadurch keine Aenderung vor, wenn er als ein verzehrendes Feuer dem gegenüber steht, der zum hassenden Teufel ward (Wiedergeb. 2, 4. Aur. 24, 50). Wohl aber hat der Fall Lucifers den Gegensatz zweier Priucipien (Fürstenthünier , Reiche) hervorgerufen, indem durch ihn das Reich des Zornes, allein festgehalten, zum Höllen- reich wird , in dem Gott nur nach seinem Zorn waltet , der Teufel aber als sein Scharfrichter hauset, während in dem Himmelreich Gott in seiner Ganzheit herrscht (Dreif. Leb. 5, 113). Gott um- fasst beide Reiche, das Höllenreich, in welchem der Teufel die Siegel des götthchen Zornes eröffnet, und das Himmelreich oder die englische AVeit, wo sich das Herz Gottes als Centrum erweist, indem es den Zorn Gottes beschwichtigt (Dreif. Leben 4, 90. 5, 18). Bei der Zusammengehörigkeit der drei ersten Xaturgestalten und dem Uebergewicht , das darin das herbe cculnnn miUirue hat, wird es erklärlich \\ie Bölnne es oft so darstellt, dass der gefal- lene Lucifer die drei ersten Qualitäten festhalte, der drei letzten verlustig geworden sey (Aur. 21 , 102). Aber ausser jenen l)eiden Principien (Reichen) entsteht durch den Fall noch ein drittes. Durch die Gewalt, die der herben zusannnenziehenden Essenz ge- geben wii'd, entsteht das Harte und Starre, wie Erde, Steine u. s. w. , welche Gott zusanmienballt und um die er den Himmel legt, so dass „diese Welt'', welche Lucifer als ihr Fürst bewohnt, von dem Wohnsitz Michaels und Uriels umgeben ist (Dreif. Leben 8, 23). Mit der Scheidung beider beginnt die Erzählung Mosis. Da weder er noch irgend ehi Mensch bei jenen Vorgängen zugegen war, so kann die Erzählung davon den ersten Menschen nur von Gott offenbart worden seyn; in ähnlicher unmittelbarer Weise wie Böhme selbst seine Offenbarangen empfangen hat. Das Gedächt- niss daran aber hat sich nicht rein erhalten und Vieles ist nicht unentstellt auf die nachsündfluthhchen Menschen und Moses ge- kommen (Aur. 18, 1 5. 10, 79). Vielleicht Hess Gott solche Ent- steilung zu , damit der Teufel nicht hinter alle göttlichen Geheim- nisse komme, die jetzt, da Üurch die Nähe des Weltendes des Teufels Macht ihrem Ende entgegengeht, ausgesprochen werden dürfen (Aur. 20, 3—7). liöhmc scheut sich daher nicht. Manches aus der Mosaischen Erzählung wegzulassen, weil es ganz „wider die Philosophiä und Vernunft laufet" (Aur. 19, 79), wie z. B. der

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Abend und Morgen ehe es eine Sonne gab. Anderes deutet er geistlich um, wie die „Feste" zwischen den oberen und unteren Wassern, die ihm nur das Geschiedenseyn zwischen dem begreif- lichen sublunarischen und dem belebenden himmlischen Gewässer, dem Wasser nach dessen Genuss Keiner mehr durstig bleibt, be- deutet (Ebendas. 20, 28). EndHch aber erkennt er neben der Richtigkeit der Erzählung noch einen tieferen in derselben ver- borgenen Sinn an (u. A. Aur. 21 , 10 ff.). Auf diese Weise ge- lingt es ihm, an die Mosaische Erzählung seine, in Vielem dem Paracehus ahgeborgte, Naturphilosophie anzuknüpfen, nach wel- cher aus dem ewigen Salitter oder Salniter, d. h. dem Naturgeist oder der Einheit der Quellgcister die Erde geboren, nach dem Falle Lucifers aber als hart und starr „ausgespien" (Ebend. 21, 23. 25) , d. h. vom Himmel geschieden wird , am dritten Tage aber der „Feuerblitz", das Licht, aufgeht, welcher die in dem verdor- benen irdischen Salniter zwar latente Kraft der sieben Geister, die in ihm „nur gefangen nicht ermordet" sind, erweckt, dass sie Gras und Kräuter hervorbringt, die, obgleich dem Tode geweiht, doch besser sind als der Boden, der sie trägt (Ebend. 21, 19. 26, 101). Obgleich jedes Gewächs alle sieben Qualitäten in sich hat, so ist doch in jedem eine andere ,,Prm«Ä'% und darum hat jedes seine eigne Art. Darum sind u. A. zur Reinigung des Me- talls sieben Schmelzungen nöthig. Jede entfernt eine Qualität (Aur. 22, 90). Die Betrachtungen über den vierten Schöpfungstag geben Gelegenheit, von der „Zusammencorporirung der Körper der Sterne", so wie von den „sieben Hauptqualitäten der Planeten so wie von derselben Herz welches ist die Sonne" zu handeln, in einer Weise wie nicht Philosophia, Astrologia und Theologia, son- dern ein andrer Lehrmeister, nämlich „die ganze Natur mit ihrer instehenden Geburt" lehrt (Ebend. 22, 8. 11). Was Moses von den Sternen sagt, das genügt Böhmen noch weniger, als was die weisen Heiden gelehrt haben, die doch in ihrer Verehrung der Gestirne wenigstens bis vor Gottes Antlitz gedrungen sind (Ebend. 22, 2Q. 29). Um ihr Wesen richtig zu erkennen, darf man nicht bei dem stehen bleiben, was die Sinne uns lehren, die zeigen nur Tod und Zorn. Auch dies reicht nicht aus durch Vernunft seine Gedanken zu erheben und zu forschen und zu fragen: da gelangt man nur bis zum Streit von Zorn und Liebe. Sondern man muss mit dem Verstände durch den Himmel brechen, und Gott bei sei- nem heiligen Herzen ergreifen (Ebend. 23, 12. 13). Thut man dies, so erkennt man, dass die Sterne die Kraft der sieben Gei- ster Gottes sind, indem Gott in die finster gewordene Welt die

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Qualitäten hineingesetzt hat, damit, wie sie von Ewigkeit her ge- than, so auch jetzt in dem Hause der Finsterniss , Creaturen und Bildnisse hervorbringen (Auror. 24, 14. 19). Die Sterne sind da- her die Vermittler aller Geburten; der siderischen nämUch, wo Zorn und Liebe mit einander kämpfen, denn mit der Wiederge- burt haben sie Nichts zu thun, die geschieht durch das Wasser des Lebens (Ebend. 24, 47. 48). Die vornehmste Stelle unter den Sternen nimmt die Sonne ein ; obgleich auch in ihr Liebe und Zorn mit einander ringen und sie deshalb nicht angebetet werden darf, so ist sie dennoch das Herz in der Mitte, und geht von ihr das sanfte und belebende Licht aus , das die um sie kreisende Erde und Planeten erleuchtet. (Ebend. 24, 64. 25, 41. 60. 61.) Die Geburt oder der Aufgang der Sterne und Planeten ist, wie auch jede andere Geburt, nur eine Wiederholung der ewigen Ge- burt Gottes (26, 20), und wie in dem, was aus der Erde wuchs, gerade so ist auch in den einzelnen Planeten je einer der «sieben Quellgeister A\ieder zu erkennen.

5. Ihre eigentliche und letzte Bestimmung haben die Sterne darin, dass durch sie die Schöpfung des Menschen vermittelt wird, der als Gottes Ebenbild an des verstossenen Teufels Stelle geschaf- fen wird (Aur. 21, 41), selbst ein Engel, ja mehr als ein Engel, der aus sich ihm gleiche Creaturen gebären sollte, aus denen mit der Zeit ein König hervorginge, der statt des verstossenen Lucifer die Welt beherrschen sollte (Aur. 21, 18). Schon in leiblicher Hinsicht ist der Mensch mehr als alle Creatur , weil ihn nicht die Erde hervorbringt, sondern er aus ihr, d. h. aus einem Extract aller ihrer Elemente, von Gott geformt wird und also alle Crea- turen in sich vereinigt, sie alle ist (Dreif. Leben 5, 137. 6, 49). Zu dem Leibe kommt zweitens der aus den Gestirnen stammende Geist, vermöge dess der Mensch gleich den Thieren ein siderisches Leben führt, Vernunft und Kunstfertigkeit besitzt. Endlich ver- bindet sich mit beiden das, was nicht aus den Elementen und Sternen kommt, der Funke aus dem Licht und der Kraft Gottes, die Seele, die, weil sie aus der Gottheit stammt, aus dieser ihrer Mutter Nahrung zieht und in sie hineinschaut (Auror. Vorr. 96. 94). Da so ein dreifacher Mensch unterschieden werden muss, der irdi- sche, siderische, himmlische, so kommt es öfter vor, dass von drei Geistern und drei Leibern des Menschen die Rede ist, deren erster aus den Elementen, der zweite aus siderischen Substanzen, der dritte aus lebendigem Wasser oder heiligem Elemente bestehen soll (u. A. Myst. magn. 10, 20). Damit trägt der Mensch nicht nur alle Creaturen in sich, sondern auch die göttliche Dreiheit, wir

Erdmaon Oe^cb. d. FLil. 1 Q9

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sind Gottes Ebenbilder und Söhne , „Götterlein" in ihm , durch die er sich offenbart (Dreif. Leben 6, 49. Aur. 26, 74). In dieser Gottähnlichkeit vermag der ursprüngliche (paradiesische) Mensch Alles von Neuem zu schaffen; dies geschieht vor Allem in der Sprache , in welcher das Wesen der Dinge noch einmal (Gott nach-) geschaffen wird, und eben darum der Mensch Herr der Dinge wird (Aur. 20, 90. 91. Dreif. Leb. 6, 2). Darum ist unsere eigentliche Muttersprache, die Sprache Adams im Paradiese, die eigentliche SiyiKittira verum. Sie ist es, die bei Böhme Natursprache heisst, im Gegensatz zu den Sprachen der gefallenen Menschheit (u. A. Sign. rer. 1, 17). Ganz wie der göttliche Geist in der Weisheit oder Jungfrau das Receptaculum hat , in der er Bildnisse entwirft und Dinge erdenkt, so besass der Gott nachschaffende Mensch diese ewige Jungfrau und trug sie in sich. Sie war es auch, ver- möge welcher der, den Engeln ähnliche und darum von thierischer Geschlechtlichkeit freie, Mensch seine Nachkommen erzeugen sollte, die also alle Jungfrauenkinder gewesen wären (Dreif. Leben 6, ö8). In diesem Zustande bleibt aber der Mensch nicht. Vielmehr, in- dem er, der bestimmt war über die vier Elemente zu herrschen, sich in die Elemente vergafft, in das thierische Leben hinein ima- ginirt, sinkt er unter seinen Zustand herab. Jetzt erst, wo Gott sieht, dass ihm gelüstet, spricht Gott, es sey nicht gut, dass der Mensch allein sey, ein Wort, das nur darum keinen Widerspruch damit bildet, dass doch Alles sehr gut gewesen war, weil der Mensch herunter gekommen, matt geworden ist; was sich auch an dem Schlaf zeigt, dessen der ganz vollkommene Mensch nicht bedurft hätte (Dreif. Leben 5, 135 ff'.). Während dieses Schlafes wird ihm das Weib gegeben, die Gehülfin, mit der zusammen er hinfort , da die Jungfrau in ihm verdunkelt worden , seine Bestim- mung erfüllen soll. Jetzt , wo die eine Hälfte von ihm geschieden, sind die beiden „Tincturen", die bisher in ihm vereinigt waren, getrennt. Die mnirix Vcneris, die er früher in sich trug, findet der Mensch jetzt in das Weib hinaus gesetzt ( Gnaden w. 6, 5. Wiedergeb. 2, 18). Erst dem so heruntergekommenen Menschen erwächst der Versuchbaum, d, h. erst jetzt wird es für ihn eine Versuchung irdische Frucht zu essen, die irdisches Fleisch macht (Dreif. Leben 6 , 92), anstatt, wie seine Bestimmung gewesen war, sich in das Herz Gottes hinein zu imaginiren und aus dem verbo dUino Nahrung und Kraft zu ziehn (Ebend. 6, 39). Dass er dieser Versuchung folgt, vollendet seinen Fall, jetzt verfällt er ganz dem dritten Principio, dieser Welt, deren Geist ihn gefangen hält (Dreif. Leben 8, 37), so dass er zwischen Himmel- und Hol-

I. Die Theosophen. C. Jakob Böhme. §. 234, 5. 499

lenreich gestellt, sich nach seinem Willen für das eine oder an- dere entscheiden kann, alle drei Reiche um ihn streiten (Dreif. Leben 9, 17. 18). Wie dem Falle Lucifers die erste Verderbung der äusseren Natur, so folgt dem Falle des Menschen eine neue Verfluchung und noch grössere Verschlimmerung derselben. Dass der thierisch gewordene Mensch ganz teuflisch werde ist natür- lich, da Lucifer nur durch den Menschen wieder die höchste Ge- walt in der Welt bekommen kann, dessen fortwährendes Bestre- ben. Dem aber begegnet Gott, indem er sein Herz, den Sohn, in das dritte Princip eingehen, Mensch werden lässt, damit er den Tod in der menschlichen Seele tödte und das Siegel des centri naturae zerbreche (Dreif. Leben 8, 39. 40). Was alle Nachkom- men Adams eigentlich hätten seyn sollen, das ist dieser Mensch wirklich: Sohn der ewigen Jungfrau, die wie in allen Menschen verborgen gewesen war, so auch in der zwar nicht sündlosen aber reinen menschlichen Jungfrau (Ebend. 6, 70). Eben so ist er, weil an ihm Lucifers Verführungskünste scheitern, Herr der Ele- mente, Herr der Welt. Aber nicht nur er ist dies, denn, wie der Name Christ andeutet , was er ist das wird jeder Mensch, der an ihn glaubt , durch die ihm eiugeborne Essenz Christi (Wiederg. 5, 1. 12). Freilich ist unter Glauben nicht zu verstehn das Für- wahrhalten einer Historia. Das hilft so wenig wie das einer Fa- bel , und mancher Jude und Türke ist mehr Christ und Kind Got- tes als Einer, der von Christi Leben und Sterben weiss, was übri- gens auch die Teufel thun. Der Vernunft ist freilich Buchstabe und Schrift das Höchste (Sign. rer. Vorr. 4). Solcher Vernunft- glaube ist aber nicht genug, der wahre Glaube ist, dass man Christum in sich geboren werden lässt und wiederholt, so dass man mit ihm Alles, seine Taufe, Versuchung, Leiden, Sterben u. s. w. erfährt (Wahre Busse 34). Geschieht dies , und tritt also anstatt des verderbten „monstrosischen" Menschen der „inwendige" hervor, so wird die Seele, da sie des Mächtigsten, nämlich des Zornes Gottes, Herr wird, gewisser Maassen stärker als Gott (Dreif Leb. 8, 9). Mit dieser Macht hängt nun auch die gestei- gerte Erkenntniss zusammen, die der Mensch erlangt, indem er, was der auswendige Mensch nicht kann, wieder der Natursprache mächtig wird (Dreif. Leben 6, 16). (Hier erklärt sichs, wie BUmc dazu kommen konnte, von deutschen sowol als von fremden Wör- tern, ja von den einzelnen Silben derselben Sul-Phur, Barm- Herz-Ig u. s. w. anzugeben was dies in der Natursprache heisse.) Wie alle Creaturen die Wunder Gottes offenbaren, die Teufel offenbaren die des göttlichen Zornes (Dreif. Leben 4, 90), ~ so

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500 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (üebergang).

auch der Mensch, bei dem, wenn er wiedergeboren, das Offenba- ren Gottes ein bewusstes und also ein Leben ist (Ebend. 4, 58. 89). Auf diesen Punkt gelangen aber ist nicht leicht. Zwar kön- nen wir dazu nicht eigentlich etwas thun, zu lassen aber haben wir sehr viel: unsere Selbstheit nämlich und unser eignes Wollen, durch welche wir in die Hölle nicht erst kommen, sondern schon gerathen sind (Uebers. Leben 36. 40). Die Hölle, auch die, in welche Christus fuhr , ist der Grimm Gottes (Wiederg. 3, 12), und wer sich verhärtet, der steht im Grimm Gottes; darum verstockt ihn Gott nicht nach seinem göttUchen Willen, also nicht das was eigentlich Gott heisst, sondern der Zorn Gottes oder sein eignes Wollen, Natürlich versucht der Teufel alles Mögliche, um den Menschen in dieser Hölle festzuhalten. Kann er ihn nicht durch Eitelkeit beruhigen, dann versucht er ihn durch seine Unwürdig- keit und sein Sündenregister zu ängstigen, als sey ihm nicht zu helfen (Wahre Busse 3G). Da soll man nur nicht viel mit ihm disputiren, sondern sich in die stets offnen Arme Gottes werfen (Dreif. Leben 9, 30. 29). Freilich auch in diesen Armen wird man in der Hölle seyn, wenn man noch selbst etwas seyn, selbst et- was thun will. Dies muss in mir sterben. Nur in meiner Nicht- heit, wo er meine Ichheit tödtet, wird Christus in mir geboren und lebt in mir (Sign. rer. 9, 04). In dieser Wiedergeburt, oder diesem Geborenwerden Christi in uns besteht das Essen seines Fleisches, ohne das Niemand selig wird (Sign. rer. 10, 50). Die äusseren Gnadenmittel allein machen es nicht; weder das Lesen der Schrift, noch der Besuch der Kirche, noch die uns verkün- digte Absolution. Dass sie auf das Aeussere so viel gibt, ist der Hauptgrund, warum Böhme die römisch-katholische Kirche stets Babel nennt. Aber nicht nur sie ist es, sondern jede Ansicht, welche den Buchstaben und die Historie über Alles stellt. Dem Heiligen predigt nicht nur die Bibel, sondern alle Creatur; seine Kirche ist nicht das steinerne Haus, sondern die er mitbringt in die Gemeinde; seine Sündenvergebung ertheiltihm nicht ein Mensch, sondern Gott selber; sein Abendmahl besteht darin, dass sein in- wendiger Mensch den wahren, darum nicht den sinnlichen, Leib Christi geniesst; ihm wird das Verdienst Christi nicht nur ange- rechnet, sondern da Christus in ihm lebt ist es wirklich seines (u. A. Wiedergeb. 6, 2. 8. 14. 16. 1,4). (Wenn Böhme trotz dieser Behauptungen öfter gegen Schwenrkjeld polemisirt, der ganz dasselbe gelehrt hatte [s. oben §. 233, 2], so geschieht es besonders wegen dessen Terminologie, welche denselben gehindert hatte , den verklärten Christus eine Creatur zu nennen.) Wer auf-

I. Die Theosophen. C. Jakob Böhme. §. 234. 5. 6. 501

gehört hat sich selbst zu leben, der ist bereits im Himmel, nur sein auswendiger Mensch lebt in dieser Welt, ist Ehemann, Bür- ger, der Obrigkeit unterworfen. Auch die Sünden, die der Wie- dergeborne begeht, sind Sünden nur des auswendigen Menschen, sie schaden dem inwendigen nicht mehr. Ja an ihnen zeigt sich recht, wie den Kindern Gottes Alles, ohne alle Ausnahme, zum Besten gereicht. Die Erinnerung an die Sünden, die uns verge- ben wurden, kann nur die Lust an Gottes Gnade steigern, so dass also die Sünde gleich ist dem „Feuerholz" im Ofen , das , in- dem es verbrennt wird, das Wohlseyn steigert. Wie dem Wie- dergebornen Alles zum Heil wird, sogar seine Sünde, weil er Al- les, auch sie, dem Willen Gottes zu Gebote stellt, so wird dem, der in seinem eignen Willen bestehen will. Alles zur Pein, selbst dies, dass Gott nicht von ihm lässt. Dadurch eben steht der Kichtwiedergeborne im Zorn Gottes oder in der Verdammniss. Nicht als wenn Gott seine Verdammniss gewollt hätte oder wollte, denn wirkhch Gott war ja nur der barmherzige Gott gewesen, sondern der Zorn Gott will es, d. h. der eigne Wille des Men- schen, durch welchen dieser im Zorn Gottes steht. Darum steht unerschütterlich fest: Gott will dass Allen geholfen werde, und es ist nicht Gottes Fürsatz, dass Einer verstockt werde, sondern das Bleiben im göttlichen Zorn, d. h. der W^ille des Todes und Teu- fels, macht es (u. A. Myst. magn. 10, J7. 38).

6, Die Fülle von Tiefsinn, die, wer sich in Böhme hinein zu denken versucht, ihm schwerlich absprechen wird, erklärt die Hochachtung, die Philosophen, wie Bdtirler, Svliflllvg, llcf/cf. ihm zollen. Der fromme, njilde und allem Hader abgeneigte Sinn des Mannes wieder hat zu allen Zeiten religiöse Gemüther aogezogen. Freilich hat die, mit seinen alchymistischen Studien zusammen- hängende, durch den steten Kampf mit der Sprache noch gestei- gerte, Verworrenheit seiner Darstellung auch viel Unheil angerich- tet. Vielleicht war sie der Grund warum, was er selbst sich er- spart wünschte, er sehr früh zu einem Sectenhaupte gemacht worden ist. Namentlich ist dies durch Givlitd (geb. 1638, gest. 1710) geschehen, der in Deutschland so sein Apostel gewesen ist, wie Pol doffe, Brinitfoi/ und Jane Lende in England. In Frank- reich hat im siebzehnten Jahrhundert Poirei ihm Vieles entlehnt, im achtzehnten noch mehr St. Martin (geb. 1743, gest. 1803), der übrigens seinen Landsleuten noch immer der philosophe in- connu ist.

502 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergftng).

II.

Die Philosophie als Weltweishcit (die Kosmosophen).

§. 235. Zu dem Unternehmen der Theosophen, die Glaubenslehre in einer Weise zu entwickeln, wie es, z. B, von den Aposteln, ge- schehen war, noch ehe die Weltweisheit sich hineingemischt hatte, auf Grund nur von Gott empfangener Offenbarung, bildet das entsprechende Correlat der Versuch , so zu philosophiren , als wäre nie eine vom Christenthum angeregte Gottesweisheit dagewesen. Die vorchristlichen Weltweisen hatten dies gethan; in ihrem Geiste zu philosophiren ist also Aufgabe der Zeit, und gegen den, der es thut, wird, als gegen den Zeitverständigen, Jeder der den scholastischen Standpunkt festhalten wollte, als der Zurückgeblie- bene, als unphilosophischer Kopf, erscheinen. Der Schutz der römisch-katholischen Kirche kann dies nicht ändern: die Zeit ist vorüber, wo ihre Sache zu vertheidigen die höchste Aufgabe und darum Kirchlichkeit der Maassstab für den Werth einer Philoso- phie gewesen war. Eine Mitte gleichsam zwischen Beiden nehmen die ein, die zwar die Forderung im Geiste des Alterthums zu phi- losophiren vernehmen, dieselbe aber so missverstehn, als handle sichs darum die Geister der alten Philosophen heraufzubeschwö- ren. Was zu anderen Zeiten ein blosser Widersinn gewesen wäre, das wird hier zu einem entschuldbaren Missverständniss, und was sonst ein Verkennen der Zeit verriethe, zeigt hier, dass ihr Ruf nicht ungehört vorüberging. Darum sind diese ihre Zeit (wenn auch nur miss-) Verstehenden nicht ohne Wirkung für das spä- tere Philosophiren geblieben , und wenn auch nicht so ausführliche Darstellungen wie die, welche selbst als Weltweise philosophiren, so doch, als deren Vorläufer, Erwähnung verdienen auch die, wel- che die Weltweisen des Alterthums für sich philosophiren lassen.

A. Wiedererweckung antiker Systeme.

§. 236. So sehr die sogenannte Renaissance sich von den übrigen mittelalterlichen Erscheinungen unterscheidet, so hat sie doch einen rein mittelalterlichen Charakter, etwa wie die römische Kaiserzeit einen antiken trotz ihres Gegensatzes zu den früheren Gestalten des Alterthums. Was sie zu einem, noch dazu sehr sprechenden, Zuge in der Physiognomie des Mittelalters macht, ist der Indivi- duaUsmus, der sich kaum jemals so geltend gemacht hat, als wo

II. Die Weltweisen. A. Die Renaissance. §. 237, 1. 503

man für das Altertlium schwärmte , das doch stets den Einzehien, sey es in der Nation, sey es im Staate, verschwinden liess. Eben darum ist es nicht nur die Abstammung von den Römern, oder der Umstand, dass nach der Eroberung Constantinopels griechi- sche Gelehrte und griechische Bücher sich nach Itahen flüchteten, sondern es ist noch mehr die staatliche Zersplitterung Italiens, welche dem Italiäner die wichtigste Rolle in dem grossen Schau- spiel der Renaissance zuweist. Den übrigen Formen derselben reiht sich die Wiedererweckung antiker Philosophenschulen an; ebenfalls erst in Italien und erst von da sich in andere Länder ausbreitend. Trotz des Hasses gegen die scholastische Philoso- phie, trotz des Bestrebens nur die Alten selbst reden zu lassen, das Manchen zum blossen Uebersetzer und Ausleger macht, ath- men doch auch die Schriften, die diesem Zwecke dienen, den Geist des, wenn auch scheidenden, Mittelalters. Wenn auch nicht in derselben Reihenfolge, in der sie entstanden, so doch ziemlich vollständig, treten alle Systeme des Alterthums wieder ins Leben. Dass dies zuerst mit den Systemen geschieht, mit welchen Kir- chenväter und Scholastiker den Glauben versetzt hatten, um zu einer Glaubenslehre, dann zu einer Glaubens Wissenschaft zu kom- men, und weiter dass gerade diese Belebungsversuche an Bedeu- tung allen anderen bei Weitem vorstehen , ist sehr natürlich. Er- steres aus dem oben (§. 228» angegebenen Grunde. Letzteres weil im Piatonismus und Aristotehsmus alle früheren griechischen Systeme als Momente, alle späteren als Keime enthalten sind.

§. 237. Erneuerung des Platouismus. L Wie früher die von Alexandria ausgehenden, so haben auch die Florentinischen Neuplatoniker sich stets für ächte Platoniker gehalten und ihre Akademie, über die /?. SieDchivg eine gute Monographie geschrieben hat (Götting. 1812), eine Platonische genannt. Veranlassung zu ihrer Gründung gab Gcargios TJienn- slios Plclhon, ein im J. 1370 geborner Grieche, der im J. 1437 mit dem Kaiser Jo. Pafäo(o</os nach Italien kam, um die Union der griechischen und römischen Kirche zu fördern. Die Fragmente seiner No/noi (Neu herausg. von Alexandre. Paris. Didot 18G0) beweisen, dass sein eigner Standpunkt ein, aus Begeisterung für Attische Weltweisheit hervorgegangenes, modernes Heidenthum war. Er nun war es, welcher das Entstehen eines Vereins pla- tonisirender Männer veranlasste, so wie den Schutz vermittelte, den Cosmns von Medivi demselben angedeihen liess. Ein Schüler

504 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

PJcthnn's, Bcssarion (geb. 1395, gest. 1472), vertheidigte den riatonismus gegen den Aristoteliker Georg von Trapezunt. All- mählich kam es dazu, dass in diesem Kreise fortwährend Vorle- sungen über Platonische Philosophie gehalten wurden, ja dass MitrsU'uis Ficimis (geb. 1433, gest. 1499» zum Lehrer derselben geradezu erzogen ward. Mit welchem Erfolge zeigen seine, bis heute immer wieder abgedruckten, lateinischen Uebersetzungen sämmtlicher Werke des Pinto und Plotin, die er zugleich mit mehr oder minder ausführlichen Commentaren begleitete. Hiezu kommen seine Uebersetzungen einzelner "Werke des Porphirins, (Pseudo-) J(inthli(//vs, l'rohlüs, Dloviisitrs Ai eojxigita , Hermes Ttisniey'islas, A/rinoos, Xnnocritles , Speit s'ippns. Dass aber die von ihm übersetzten Werke nicht von ihm selber nicht getheilte Gedanken enthalten, geht aus seiner im 24""" Jahre verfassten Sclirit't de voluptatc hervor, in der sich seine Ueberzeugung von der Uebereinstimraung des Pitito und Arislotcles ^ so wie von der Wahrheit ihrer Lehren, ganz wie bei Piol'm und Prfh/os, aus- spricht. Durch sein ganzes Leben halt er die Maxime fest: A'o- ///// Mur.sUiuvam docIriiKim oppovere Plitlovirne. In seinem zwei und vierzigsten Jahre Priester geworden, wirft er sich mit Eifer auf die Theologie, wie seine Abhandlung de religione chri- stiana, sein Commentar zum Römerbrief, seine vielen Predigten, beweisen. Dabei hört er nicht auf Platoniker zu seyn, und seine Theologia Platoiiica in 18 Büchern, in der er besonders die Un- sterblichkeit behandelt, zeigt, dass er den Platonisraus im Ein- klänge mit der Kirchenlehre weiss. In seinen Berufungen auf Oriyevrs, deiiievs. Ancfusltu, vergisst er die veränderte Zeit, und dass er selbst die Erfahrung gemacht hat, auf die oben (§. 133) hingeN\iesen ward, dass Polemik gegen Arerroes und andere Ari- stoteliker um den Piatonismus zu erheben jetzt der Kirche ver- dächtig erscheint, dies scheint daraus hervorzugehn , dass er seine Platonische Theologie mit der, später sehr oft vorkommenden, Formel schliesst: In omvihns fpttte mit hie (tut alibi a mc traetiin- tiir , tdvtiim (t.ssertiim esse rolo (piimtnin ab eevlesln vomprolxitiir. In der Sammlung seiner W^erke, die Adam llevricpetri in Basel 157G in zwei Foliobänden veranstaltete, finden sich nur die Ueber- setzungen des P.oto und Plotin nicht, sonst Alles was er ge- schrieben hat, darunter auch Medicinisches und Astrologisches.

2. Aus den Briefen des Fidv (12 Bücher) geht hervor, wie gross der Kreis derer war, die er Platonici und Conphilosophi nennt. Auch , dass unter ihnen er Keinen so hoch geachtet hat, als den, wie er sagt aus deutschem Blute stammenden, dreissig

II. Die Weltweisen. A. Die Renaissance. §. 237, 2. 3. 4. 505

Jahr jüngeren Jolaimcs Picvs, Fürsten von Mirandula und Con- cordia (geb. 1463, gest. 1494), auf den man in neuerer Zeit wie- der angefangen hat mehr zu achten (vgl. Droydfjrff das System des Joh. Pico, Mai'burg 1858), weil man gefunden hat, dass der Schweizer Reformator Ziciiigli ihm sehr viel verdankt. Gerade das aber, was ihn neueren Protestanten werth gemacht hat, er- klärt auch das Misstraun der Kirche, welche die Riesendisputation verbot, zu der dies ivgeniinn praero.K, dem es feststand, dass der Piatonismus vor Allem im Stande sey, vom Averroismus und anderen verdammungswürdigen Irrthümern zum Christenthum zu- rückzuführen, die Gelehrten der ganzen Welt aufgefordert hatte, auf seine Kosten nach Rom zu kommen. Von den neun hundert Thesen, die er zu diesem Zwecke zusammengestellt hatte, sind vier hundert den bedeutendsten Scholastikern, Arabern, Neupia- tonikern, Cabbalisten, entlehnt, die übrigen sind seine eignen, und ven"athen die Tendenz, Antagonisten als übereinstimmend er- scheinen zu lassen. Die Werke des Jo//. Piciis sind zuerst 1498 in Venedig, dann sehr oft, zuletzt zusammen mit denen seines Neffen Jo. Franriscus Picns in Basel bei Henric Petri in zwei FoUob<änden 1572 und dann wieder 1601 gedruckt worden.

3. Durch Firin und Pico wird der Mann angeregt, der den wieder belebten Piatonismus in Deutschland vertritt. Joh mm Ucnch- Un , 1455 in Pforzheim geboren, in Orleans und Paris gebildet, war, während er Professor der klassischen Literatur in Basel war, als geistreicher Humanist bekannt geworden. Später ward er Pro- fessor in Ingolstadt, dann in Tübingen und ist am 30. Juli 1522 gestorben. Im Jahre 1487 hatte er zuerst in Florenz die persön- liche Bekanntschaft Flchi's gemacht, an welche sich dann später die Pho's schloss. Da beide zwischen Platonischer und Pythago- reischer Philosophie kaum einen Unterschied annehmen , so störte es ihr Einverständniss nicht, wenn Reuclilin besonders das Pythago- reische Element hervorhob. Eben so wenig, wenn der für das Hebräische interessirte Mann, der sich rühmen durfte der Kirche die Kenntuiss desselben wieder geschenkt zu haben , kabbalistische Vorstellungen mit dem Piatonismus verschmolz. Hatte doch Pico selbst dies schon vor ihm gethan. Die beiden Schriften: Capnion s. de verbo mii'ifico (Bas. 1494. Tübing. 1514. Fol.), worin ein Heide, ein Jude und ein Christ {lU'ucUin. Capnion) sich unterre- den und Jeder in einem der drei Bücher das Wort führt, und De arte cabbalistica Libb. III (Hagenau 1517 Fol.), gehören zusam- men, indem jenes auf dieses hin-, dieses auf jenes zurückweist.

4. Dieselben Elemente wie bei llenvldin mischen sich bei dem

506 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

Venetianer Zoi^zi {Franciscus Gcorgius Venetvs), geb. 1460, gest. 1540, und dem Cölner Cornelius Agrippa von Nettesheim, geb. 1487, gest. 1535. Das Werk des Ersteren: De harmonia mundi Cantica III Venet. 1525 Fol. ist nicht so phantastisch, wie die Jugendschrift des Zweiten: de occulta philosophia libri tres, die er im J. 1510 zuerst herausgab, und welche, zum Theil wenigstens, durch die 1531 erschienene: De incertitudine et vanitate scientia- rum rectificirt wird. Agrippa's durchweg abenteuerliches Treiben hat ihn in eine Menge, zum Theil verdienter, Verdriesslichkeiten gebracht. Seine Werke, die ausser den beiden genannten auch Anpreisungen der Lullschen Kunst (s. oben §. 206) enthalten, sind in zwei Octavbänden erschienen: Henr. Corn. ab Nettesheim Opera omnia Lugd. Bat. per Bernigos fratres (das Titelblatt trägt bei einigen Exemplaren die Jahreszahl 1600, bei anderen gar keine). Unter den Franzosen pflegen als Repräsentanten dieser Richtung angeführt zu werden der, wegen seiner Verdienste um den Aristo- totes von ReuchUii gepriesene Jaques Le/erre aus Etables (Fabci- Sfapittensis. gest. 1537) und sein Schüler Charles Bonille {Bo- villifs) , dessen Werke 1510 in Paris erschienen. Beide sind, wie auch Reuclilii}, Bewunderer des Nicolnvs von Cusa. Gleiches gilt auch von einem anderen Schüler Fabers, und Freunde Bonille s, dem Polen Jadociis CUrlitomtis , der im Anfange des sechzehnten Jahrhunderts Lehrer an der Sorbonne war, und sich auch durch seinen Eifer gegen Luther einen Namen gemacht hat.

§. 238. Ariatoteliker. 1. In Padua, welches für den Aristotelismus das werden sollte, was Florenz für den Piatonismus, hatten gegen die wachsende Macht des Nominalismus und seiner Consequenzen Viele den Ver- such gemacht, den Vor-Occamistischen Aristotelismus festzuhalten. Arerrnes namentlich soll dazu helfen, und ihm warfen sich Einige so in die Arme, dass sie, wie Alexander Ae/nllinns, der Mediciu und Philosophie zuerst in Padua, dann in seiner Vaterstadt Bo- logna lehrte und dort 1518 gestorben ist, sogar die Lehre von der Einheit des Menschengeistes sich aneigneten, und nun durch eine Silbenstecherei sich als Vertheidiger der Unsterblichkeit , des (frei- lich nicht der) Menschen darstellten. An diese Averroisten, die zum Theil viel weiter gingen als AeJ/illiiii, ist zu denken, wenn man von Petrarca hört, dass Philosoph und Unchrist als gleich- bedeutend gelte. Diese averroistisch - scholastische Auffassung des Aristoteles dauert sogar noch fort, nachdem Leonicns Tliomäus

II. Die Weltweisen. A. Die Renaissance. §. 238, 1. 2. 507

(geb. 1456) in Padua seine epochemachenden Vorlesungen über Aristoteles gehalten, und durch sie bewiesen hatte, dass derselbe im Original und an der Hand griechischer, nicht arabischer, Com- mentatoren zu studiren sey. Zwar kein gewöhnlicher Averroist ist Atigiisiinvs N'iphns (geb. 1472 in Suessa, daher Snessainis), der in Pisa, Bologna, Rom, Salerno und Padua bis gegen 1550 gelehrt und als Arzt, Astrolog und Philosoph einen solchen Ruhm erworben hat, dass Papst Leo X ihm erlaubte den Namen und das Wappen der Medici zu führen. Aus seinen vielen Werken aber, deren vollständiges Register nebst Druckort Gahriel Nau- däiis der Pariser Ausgabe von August. Niphi Opuscula moralia et politica 2 Bde 4. 1654 beigelegt hat, geht hervor, dass er nicht mit Unrecht den Averroisten zugezählt wird. Mehr als dies, dass er in eignen Schriften den Arerroes commentirt und gegen Poin- poiKitiiis vertheidigt hat, berechtigt zu solcher Zusammenstellung, dass er den Aristoteles gerade so auffasst, wie es Sitte geworden war, seit die vom Neupiatoni smus angeregten Araber, und nament- lich Arerroes, die Lehrer in der Philosophie geworden waren. Auch der Paduaner Jneob Zabarelia (geb. 1533, gest. 1589) ist wenigstens in dem Theil der Philosophie, wo er den grössten Ruhm erworben hat, der Logik, ganz Averroist. Wenn er in der Physik abweicht, und zu Resultaten kommt, die weniger mit der Kirchenlehre streiten, so behauptet er dadurch mehr in Aristo- teles' eignem Sinne zu sprechen, so dass es ihm also wie dem Alhert und TI>onias feststeht, dass Aristoteles die Kirchenlehre verbürge, und er sich im Grunde nur durch seine Kenntniss des Griechischen und seine geschmackvollere Darstellung von den scho- lastischen Peripatetikern unterscheidet. Seine Werke sind in fünf Iheilen in Leyden bei Marschall 1587 Fol. erschienen, von denen die vier ersten die logischen Schriften, der fünfte die dreissig Bü- cher de rebus naturalibus enthält. Jene sollen auch Francof. 1608, diese Francof. 1607 erschienen seyn.

2. Viel mehr als die bisher Genannten suchte in den ur- sprünglichen Sinn des Aristoteles einzudringen der als Naturfor- scher berühmte, um Thier- und Pflanzenphysiologie verdiente, An- lireas Caesalpintis (geb. in Arezzo 1519, gest. in Pisa 1603). Seine fünf Bücher Quaestiones peripateticae (u. A. mit dem Hauptwerke des Telesiifs zusammen herausg. von Eiistliüt. ll(j)(oji in den Tractat. philos. Tom. L Atrebat. 1588 Fol.) sind aber ein Be- weis , wie sehr die Neuplatonischen Ansichten ein unbefangnes Ver- ständniss des Aristoteles erschweren. Viel mächtiger hatte der von Tiiomüus gegebene Anstoss auf den Mantuaner Petrus Pom-

508 Mittelalterliche Philosophie Dritte Periode (Uehergang).

ponnfhfs gewirkt, der 1462 in Padua Medicin und Philosophie stu- dirt hatte, Querst dort, dann in Ferrara, zuletzt in Bologna, lehrte und am letzteren Orte 1524 starb. Zuerst in seiner berühmtesten Schrift: Tractatus de immortalitate aniinae (gedr. u. A. ohne Druck- ort 1534; dann sehr oft) dann aber auch in anderen Schriften, weist er nach, dass die Ansicht der Averroisten von dem einen unsterblichen intellevbis aller Menschsen mit des Aristoicics Lehre, dass die Seele Form eines organischen Leibes, unvereinbar sey, dass eben deswegen Aristoteles weder den noch die Menschen un- sterblich seyn lasse. Dies sey nicht der einzige Punkt, in dem Aristoteles von der christlichen Lehre abweiche. Eben so wenig stimme er überall mit Pinto überein. Eben deswegen sey es nicht rathsam die arraim der Philosophie den Schwachen mitzutheilen, denn die könnten leicht irre reden. Was ihn selbst betreffe, so denke er ganz anders als Aristoteles, denn ihm sey nicht dieser, sondern die Kirche Autorität. Man kann es seltsam finden, dass dies Buch auf Geheiss der Kirche verbrannt wurde, und dass in den sich daran anschliessenden Streitigkeiten mit den Averroisten, trotz seiner angesehenen Freunde in Kom, die Kirche sich gegen den Powponntlus erklärte. Allein man muss bedenken, dass er der Neuerer war, dass die Verehrer des Averroes die Tradition für sich hatten. Die Werke des Powpovntivs sollen auch in ei- ner Gesammtausgabe Basil. 1567. 8. existiren. Die im J. 1520 verfasste Schrift: de naturalium effectuum causis s. de incantatio- nibus ist ebendas. bei Henric Petri 1556. 8. erschienen.

§. 239. Erneuerer anderer Systeme. 1. Von viel geringerer philosophischer Begabung sind und haben daher, wenn auch in anderen Gebieten bedeutenden, so doch in der Philosophie nur geringen, wenigstens keinen nachhal- tigen, Einfluss gezeigt die, welche den Versuch machten, die Systeme der Verfallperiode griechischer Philosophie (s. §. 92 1 15) ins Leben zurückzurufen. So hat Joost Lijts (Justirs Lijtsiiis, geb. 1547, gest. 1606), dessen Werke 1585 in acht, 1637 in vier Folio- bänden erschienen sind, mit seinen darin enthaltenen Lobpreisun- gen des Stoicismus nicht den Ruf eines Philosophen, sondern nur den Namen eines Philologen und Kritikers erworben. Dass es dem gesinnungslosen Kaspar Schoppc {Sdoppivs, geb. 1562 in der Pfalz) mit seinen Elementa philosophiae Stoicae eben so ging, ist begreiflich. Ja selbst dem viel bedeutenderen Pierre Gnsseiid {Petrus Gitsseiidi. geb. 1592, gest. 1655), der freilich zu einer Zeit, wo Des Curtes (s. weiterhin §. 266. 67) bereits aufgetreten

II. Die Weltweisen. A. Die Renaissance. §. 239, 1. 2. 3 509

war, lehrte, ist es, als er dem mittelalterlichen Aristotelismus mit seinem Leben des Epikur (1647) und seinem Syutagma philosophiae Epicuri (1649) entgegentrat, kaum anders gegangen. Nur als Phy- siker hat er Einfluss gewonnen, und unter den Gassendisten, die man eine Zeit lang den Cartesianern entgegenstellte , sind Physiker zu verstehn, die mit atomistischen Theorien die Wirbel theorie be- stritten. Die gesammelten Werke Gnssendis (Lyon 1658 in sechs, Florenz 1728 in eben so vielen Foliobänden) enthalten ausser je- nen beiden Schriften auch das posthume Syntagma philosophicum, in dem er die Philosophie als Logik, Physik und Ethik abhandelt. Die späteren Sensualisten in England und Frankreich haben ihm vielleicht Manches abgeborgt.

2. Da die nacharistotelischeu Systeme ihre Hauptrepräsentan- ten in der römischen Welt gefunden haben, die römischen Philo- sophen aber wegen ihres mehr oder minder synkretistischen Cha- rakters, im Cicero ihr eigentliches Haupt haben, so ist es be- greiflich, dass er und mit ihm das rhetorische Philosophiren zu Ehren kommt. Mit oder ohne Bewusstseyn nehmen ihn zu ihrem Vorbilde die, auf die der, in jener Zeit aufkommende Name der Ci- ceronianer sehr gut passt. Schon der im J. 1459 gestorbene Römer Lfaircnliifs Vidia, so wie der deutsche Ihidolph Agricola (geb. 1442, gest. 1485) hatten diesen Ton angeschlagen, nur dass ih- nen QiiiiüUian fast so viel galt als Cicero. Dagegen haben der Spanier Liidoricus Vires (geb. 1492, gest. 1540), dessen Werke 1782 in Valencia erschienen sind, und mehr noch der Modenese Marias Nizolius (geb. 1498, gest. 1575), sowol in seinem The- saurus Ciceronianus als in seiner Schrift gegen die falschen Philo- sophen (auch Antibarbarus genannt), die Leibuiiz im J. 1670 in Frankfurt (Marii Nizolii contra Pseudophilosophos libri IV) neu herausgab, kein Hehl, dass sie dem Cicero mehr danken als den Sokratikeru Pinto und Aristoteles , weil die letzteren die Philoso- phie von der Rhetorik getrennt haben.

3. Zu diesen rhetorisirenden Philosophen ist nun auch der Picarde Pierre de la Btimee {Petrus Itumiis) zu rechnen.

Vgl. Waddington 'Kaitus De Petii Rami Vita, scriptis, philosophia. Paiis 1848.

Im J. 1517 nahe bei Soissons geboren, hat er im Kampf mit den grössten Schwierigkeiten seine Studien in Paris gemacht, so dass er in seinem 21'"^" Jahre jene Disputation wagen durfte, die ihn berühmt gemacht hat, in der er siegreich vertheidigte, dass Alles, was Aristoteles gelehrt habe, falsch sey. Vor Allem war es die Logik des Aristoteles , die er, auch in Schriften ( Aristo telicae ani- madversiones) , bekämpfte und an deren Stelle er eine bessere

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ZU setzen versuchte (Dialecticae partitiones , später als Institutio- nes dialecticae wieder herausgegeben). Das Eigenthümlichste ist- dabei die Verschmelzung der Logik, die er eben deswegen als die nrs dissercndi bezeichnet, mit der Rhetorik. Aus der genauen Beobachtung der Art, wie Cicero und andere Redner ihre Hörer überzeugen, lerne man die Regeln der Logik besser kenneu als aus dem Organon. Einiges was Bnmns zuerst in die Logik hinein- brachte, ist bleibendes Besitzthum der logischen Handbücher ge- worden. So die Unterscheidung der natürlichen und künstlichen Logik. So eigentlich auch der Gang , den ' die ganze Logik nimmt. "Was nämlich bei llamvs den ersten Theil bildet (De inventione), die Lehre vom Begriff und der Definition pflegt jetzt überall den Anfang zu bilden. Der zweite Theil jde judicio (daher Pars se- cunda Petri als scherzhafte Bezeichnung für Judicium, d. h. Ur- theilskraft) enthält die Lehre vom Urtheil, vom Schluss und von der Methode. Dass liiinnts wieder nur drei Schlussfiguren statuirt, muss als ein Vorzug seiner Logik gegen die scholasti- sche angesehn werden; darin dass er später sogar die dritte fal- len lässt, kann eine Ahndung anerkannt werden, dass dieselbe ohne Ergänzung wirkhch nicht volle Beweiskraft hat. Uebrigens deducirt er die Schlussfiguren nicht wie Aristoteles (s. §. 86, 2) aus dem verschiedenen Umfange des Termhms mcduis, sondern (wie die meisten Neueren nach ihm) aus der Stelle , die er in den Prämissen einnimmt. Zuerst wurden die Schriften des Unmus ver- urtheilt und ihm die logischen Vorlesungen verboten, so dass er sich auf mathematische und solche beschränken musste, in wel- chen die rhetorischen Meisterwerke Cieero's commentirt wurden. Nach dem Tode Franz des Ersten aber erscheint er an den Col- lege de Presles wieder als Lehrer der Dialektik. Die Anfeindun- gen, die seit seinem Uebertritt zum Calvinismus noch viel hefti- ger geworden waren, brachten ihn dahin, eine Reise ins Ausland (Deutschland, Italien, Schweiz) zu unternehmen, die ein grosser Triumphzug wurde. Sein Hauptgegner in Paris, der Theologe Clnir- pentier, hat die Mörder gedungen, die nach des /»«/k//5 Rückkehr ihn in der Bartholomäusnacht mordeten. Das genaue Register der fünfzig Schriften, die schon während seines Lebens, zum Theil in sehr vielen Auflagen, und der neun, die nach seinem Tode ge- druckt wurden, so wie derjenigen Schriften, deren Titel wir ken- nen, die aber nicht erschienen sind, findet sich in der angegebe- nen Schrift von Waddivgtoii-KnstKs. Eine Gesammtausgabe der Schriften des Ramus existirt noch nicht. Seine logischen Neue- rungen fanden für eine Zeit lang grossen Anklang, und es bildete

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sich eine wirkliche Schule, der Ramisteu, im Gegensatz zu den Aristotelikern. Coüfessionelle Gründe haben wohl dazu beigetra- gen , dass ihre Zahl in Deutschland noch grösser war als in Frank- reich. Dass ArmhÜHs in Genf den Bamiis gehört hatte, entschied für seinen Einfluss bei den Arminianern in Holland. Seine genaue Verbindung mit iSturm in Strassburg war eine Empfehlung bei al- len humanistisch Gebildeten. Die oben augeführte Monographie von Waddinyion-Kaslus gibt p. 129 ff. eine Reihe von Namen an, welche beweist, wie sehr Ramus geehrt ward.

4. Bei Weitem nicht das Aufsehn wie Ilamvs machte ein um dreissig Jahre jüngerer Zeitgenosse desselben, dessen Hass gegen Aristoteles entschiedene Nahrung gezogen hat aus dem Studium des Ramus, der aber wie keines Philosophen unbedingter Anhän- ger, so auch keiner des Rmnnus heissen will; es ist der in Möm- pelgard im Jahre 1547 geborene Nico laus Tanrellus (wahr- scheinlich war sein Familienname Oechslein). Das theologische Studium, dem er sich zuerst in Tübingen gewidmet hatte, ver- tauschte er mit dem medicinischen, und nachdem er im Jahre 1570 in Basel Doctor der Mediciu geworden war, lehrte er daselbst zu- erst Medicin, später Ethik. Hier nun wagte er es im Jahre 1573 seinen Absagebrief an die Peripatetische Philosophie zu veröffent- hchen : Philosopliiae triumphus etc. Basil. 1573, der von den, längst wieder zu Scholastikern gewordenen protestantischen Theologen nicht weniger als von den katholisclien, ihm den Vorwurf der Gott- losigkeit zuzog. Die hundert und sechs und sechszig Thesen, wel- che der eigentlichen Abhandlung vorausgeschickt sind, so wie die sich daran anschhessenden Vorreden zu den einzelnen Theilen, enthalten eigentlich schon Alles, was die ganze spätere Schrift- stellerthätigkeit des Tnurcllns durchzuführen sucht. Unter den vielen Irrthümeru, welche als solche aufgezählt werden, die durch Aristoteles sich eingebürgert haben, wird besonders der gerügt, dass die höchste Seligkeit im Erkennen bestehe. Vielmehr wie Gottes Seligkeit darin besteht, dass er sich selbst hervorbringt, erzeugt, will, weswegen er auch mehr ist als blosse Mens, ganz eben so besteht die des Menschen darin, dass er Gott liebt und will. Die Abhandlung selbst zerfällt in drei Tractate, von denen der erste von den Kräften des menschlichen Geistes handelt, der zweite die AristoteUschen Principien der Physik kritisirt, der dritte den Versuch macht, eine wahre, mit der Theologie übereinstim- mende Philosophie aufzustellen, die nicht auf Autorität des Ari- stoteles, sondern auf Vernunft sich stützt. Dieser Gegensatz von Aristoteles und Vernunft erbitterte die philosophische Welt.

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Nicht minder zürnte ihm die theologische, weil er die Folgen des Sündenfalls nicht so weit ausdehnte, dass dadurch die Vernunft die Fälligkeit der Erkenntniss verloren habe. Chicanen aller Art Hessen ihn eine Reihe leidensvoller Jahre durchleben, bis er end- lich die Professur der Physik und Medicin in Altwf erhielt, einer Universität, auf der gleichfalls die Peripatetische Philosophie im höchsten Ansehn stand. In seiner Medicae praedictionis metho- dus etc. Francof. 1581 spricht er deshalb die Absicht aus, sich ganz auf das Gebiet seiner Professur zu beschränken, ein Wort dem er treu blieb, als er seinen de vita et morte libellus etc. No- ribergae 1586 veröffentlichte, und mit dem die Herausgabe zweier Bändchen Gedichte Carmina funebria Norib. 1592 und Emblemata physico-ethica Norib. 1595 sich zur Noth vereinigen lässt. Auf die Länge aber vermochte er nicht dem Drange zu widerstehn, der ihn zu erneutem Kampfe gegen den Erzfeind trieb. Seiner Sy- nopsis Aristotelis Metaphysices etc. Hanov. 1596 (die ich nie ge- sehen habe) folgten bald die heftigen Angriffe gegen den überall, namentlich in Altorf selbst durch Sc/ierhiifs gefeierten Cäanlphi (s. §. 238, 2), in seinen: Alpes caesae h. e. Andr. Caesalpini Itali monstrosa et superba dogmata etc. Norimb. 1597, in welcher dem pantheistisch gefärbten Aristotelismus die herbsten Wahrheiten ge- sagt wurden. Die späteren Werke die Koofioloyia h. e. physica- rum et metaphysicarum disquisitionum de mundo libri IL Amberg. 1603 und die OiQctvolnyia , h. e. physicarum et metaphysicarum disquisitionum de coelo libri IL Ebendas. 1605, endlich die von Leibnilz sehr hoch gestellte Schrift: De rerum aeternitate, meta- physices partes quatuor Marpurg. 1604, sind eben so polemisch, nur dass sie zu ihrem Gegenstande besonders Picvolomhd und die jesuitischen Peripatetiker in Coimbra, so wie andere katholische Geistliche nehmen, und die Behauptungen derselben streng kriti- siren. Die stets wiederkehrende Behauptung, Arisiote/es sey nicht die Philosophie, der Kampf gegen ihn selbst auf dem logischen Gebiete, auf dem Tnitrcllvs die Herrschaft der revtn ratio for- dert, anstatt der AristoteUschen Subtilitäten, ist der Grund gewe- sen, warum er hier zu Ramvs gestellt wurde, wie ihn denn auch seine Zeitgenossen theils zu Jenem, theils zu Anderen gestellt ha- ben, welche bei den römischen Eklektikern, Cicero, Seneca in die Schule gingen. Es darf aber nicht verschwiegen werden, dass die Gründe, aus welchen TaureUiis die Peripatetiker angreift, zum Theil ganz andere sind, als die Repräsentanten der Renaissauce geltend machen, so dass man oft zweifelhaft werden kann, ob er nicht, eher als zu ihnen, zu den Naturphilosophen (s. §. 240 ff.)

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ja manchmal ob er nicht zu den Mystikern zu zählen sey. Wa- rum nämlich TavrcUvs von der Scholastik nichts wissen will, ist, dass sie eine Philosophie, die durchweg heidnisch, mit einem Dog- ma verschmolzen habe, das christlich ist; diese Zumuthung Chri- stum mit dem Herzen, Aristoteles mit dem Kopfe anzubeten, sey eine so widersinnige, dass es zu begreifen sey, warum die Scho- lastiker zuletzt bei dem Unsinn einer doppelten Wahrheit ange- langt seyen. Um christlich (christimu') zu philosophiren, und na- mentlich das Verhältniss zwischen Philosophie und Theologie rich- tig zu würdigen, muss man dies festhalten, dass die Philosophie Alles zu erkennen vermag, was Adam vor dem Falle, und was die Menschen nach dem Fall, durch ihr discursives Denken zu er- grübein vermochten. Dagegen Alles was dem Menschen erst in Folge der in C/rrislo erschienenen Gnade gewiss worden ist, gehört lediglich der Theologie an. Darum ist Vieles was man für eine theologische Lehre ansieht, eine philosophische; so z. B. die von der Trinität, denn Gott wäre nicht, wenn er sich nicht ewig zeugte; so ferner die von der Auferstehung des Leibes, denn die Vernunft lehrt uns, dass der ganze Mensch, und nicht bloss ein Theil des- selben, unsterblich ist, und da er (nicht bloss die Seele) sündigte oder Gutes that, Strafe oder Lohn zu erwarten hat. Dagegen wäre es eine Anmassung, wenn man etwa philosophisch beweisen wollte, dass C//ristiis Wunder thut u. s. w. Damit ist aber durch- aus nicht eine Trennung zwischen Philosophie und Theologie be- hauptet; vielmehr bildet jene das Fundament für die letztere. Es ist nämlich damit gerade wie mit dem Gesetz, das ein Zuchtmei- ster ist auf Christum. Gerade so ist es die Philosophie, welche den Menschen zu der verzweiflungsvollen Einsicht bringt, dass es ihm, einmal gefallen, ganz unmöglich ist, der Strafe und Ver- dammniss zu entgehn, damit aber geneigt macht, die Genugthuung, welche der Sündlose gegeben hat, sich anzueignen. Uebrigens kann, dass eine solche Genugthuung möglich ist, durch die Phi- losophie bewiesen werden. Freilich nicht durch eine Philosophie wie die Aristotelische, die, weil sie unsinniger Weise die Frage nach dem Anfange der Welt, d. h. nach dem Vornatürlichen, in- nerhalb der Naturwissenschaft behandelt, und dabei den Grundsatz einer christlichen Philosophie, dass der Mensch der letzte Zweck der Schöpfung ist, ausser Acht lässt, zu dem Irrthum gelangt, dass die Welt ewig und unzerstörbar ist. Die wahre Philosophie folgert daraus, dass das Menschengeschlecht einmal ein Ende neh- men wird, dass auch die Welt einmal, als unnütz, verschwin- den müsse. Ein mit der Ewigkeit der Welt zusammenhängender

Erdmaun. Gesch. d. Phil. 1. VJ^

514 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang)

Irrthum ist, dass Gott bei der Schöpfung eines Stoffes bedurft habe. Die matevia prima, deren er bedurfte, ist das Nilnluw, so dass die Dinge Producte Gottes und des Nichts,^ darum theils Seyn theils Nichtseyn sind. Dass das i^ndenken des TanreUns so bald verschwand, dass seine Bücher bald eine Seltenheit wur- den, hat schwerlich, wenigstens gewiss nicht allein, seinen Grund in einer schlauen Tactik seiner Gegner. Am Meisten trug wohl dazu die isolirte Stellung bei, in welche dieser Feind alles Secten- wesens, welcher nicht nur wünscht, man möge mehr Christ seyn als Lutheraner, sondern sagt, nur der Unwissende nenne sich Lu- theraner oder Calvinist anstatt Christ, dadurch gerieth, dass er weder, wie die Vertreter der Renaissance, ein klassisches Latein anstrebte, noch, wie die Mystiker und Theosophen, in der Mutter- sprache schrieb, dass er, nicht weniger gegen die Scholastik ein- genommen als die Theosophen und Kosmosophen dieser Periode, dennoch, ganz anders als diese und eigentlich im Geiste der von ihm Angefeindeten, eine Philosophie im Dienste der Theologie, eine Theologie begründet durch Philosophie, will. Diese Zwitter- stellung spricht nicht für grosse wissenschaftliche Bedeutung. Spä- tere Zeiten, welche die Einseitigkeiten hinter sich haben, können oft solche Standpunkte, die noch nicht einmal in dieselben hin- eingetreten waren, unbewusst idealisiren und dann überschätzen. Sollte nicht Leibnitz etwas der Art geschehen seyn, wenn er den TanreUns als ingeniosissimvs und Germanorvm Scaliger be- zeichnet?

Vgl. F. X. Schmid aus Schwarzenberg Nicolans Taurellus. der erste deutsche Philosoph. Erlangen (Nene Ausg.) 1864.

§. 240. Nicht entstellt durch das oben (§. 235) angegebne Missver- ständniss vernehmen die Forderung der Zeit die, welche es unter- nehmen , die Philosophie in eine Weltweisheit zu verwandeln , die von der Kirche so unabhängig ist, wie in der Zeit, wo es noch gar keine Kirche gab. Naturgemässer Weise wird dies Ziel so er- reicht, dass das bisherige Band der Philosophie mit der kirchli- chen Lehre zuerst sich lockert, dann reisst, endlich vergessen ist. Dem ersten Stadium entspricht freundhches Verhältniss zum kirch- lichen Glauben, dem zweiten Hass, dem dritten Gleichgültigkeit dagegen. Durch diese drei Stufen geht die Weltweisheit sowol dort hindurch, wo ihr die sinnliche, als da, wo ihr die sittliche Welt als das Höchste gilt. Die während der Scholastik ganz zu- rückgedrängte, erst in der letzten Periode derselben wieder etwas hervortretende Physik und Politik werden wieder, was sie im AI-

n. Die Weltweisen. B. Naturphilosopheu. Paracelsus. §. 241, 1. 515

terthum gewesen waren, Haupttheile der Philosophie und zwar so sehr, dass die Philosoplien dieser Periode fast nur Xaturphiloso- phen oder Politiker, sehr selten Beides, niemals Beides gleich sehr, sind. Der besseren Uebersicht wegen mögen sie, je nachdem das eine oder das andere Element vorwiegt, zu einander, oder sich ge- genüber, gestellt werden. Indem sie beide den bisher betrachte- ten Lobpreisern der alten Weltweisen als wirkliche. Jenen Gei- stesverwandte, Weltweise gegenüber- und vorstehen, wäre es ei- gentlich richtiger, zu dem A über dem §. 236 hier als B die Ueber- schrift Wirkliche Weltweise oder eine ähnliche, unter dieser aber als zwei sich coordinirte Gruppen die mit 1 und 2 oder sonst wie bezeichneten Naturphilosophen und Naturrechtslehrer zu setzen. In der Sache aber ändert es nichts, wenn mit Weglassung jener zusammenfassenden Ueberschrift zu den bisher Betrachteten die Naturphilosophen als zweite, die Naturrechtslehrer als dritte Gruppe kommen.

B.

Naturphilosophen.

T. A. Rixiier und T. Sieber Leben und Lehrmeinungen berühmter Physiker am Ende des 16. und Anfang des 17. Jahrhunderts. 7 Hefte. Sulzbach lb;l9— 1826.

§. 241. Paracelsus. 1. Würdig eröffnet hier den Reigen PJ/ilippus Anrenlvs Theo- pIiTdstiis Bombast con Hohcnheim (wahrscheinlich um ihn zu ehren Paracelsus zubenannt, wenn nicht, wie neuere Untersuchungen wahrscheinlich machen, dies eine lateinische Uebersetzung seines Namens ITöhener ist, den erst die Sage mit dem adlichen von Ilolienlieim vertauscht haben soll) ein Mann, der im J. 1493 in Marien Einsiedeln geboren, am 24. Sept. 1541 sein unstätes Le- ben in Salzburg beschloss, nachdem er viele hundert grössere und kleinere Aufsätze verfasst hatte, die, ohne dass er ein Buch zu Rathe zog, in deutscher Sprache in die Feder dictirt und erst von seinen Schülern ins Lateinische übersetzt wurden. Die meisten sind verloren; die aufgefunden werden konnten, gab mit den be- reits gedruckten der Churfürstliche Rath und Medicus Joliann Hit- ser in zehn Theilen nebst Appendix (Basel Waldkirch 1789. 4) heraus. Später erschienen dieselben in lateinischer Uebersetzung in Frankfurt, viel correcter aber in der dreibändigen Genfer Folio- Ausgabe (sumptib. Jo. Antonii et Sarauelis de Tournes 1658) , wel- che auch die gleichfalls von Unser (Basel 1591) deutsch heraus-

33*

516 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (üebergang).

gegebnen chirurgischen Schriften enthält,- die übrigens auch in Strassburg bei Lazarus Zelzners Erben 1618 in Folio erschienen sind. (Hier wird noch Hnsers Ausgabe citirt werden.)

2. Es ist kein Zufall, dass der epochemachende Arzt, wel- cher der bisherigen Humoralpathologie die Lehre entgegenstellte, dass jede Krankheit ein Organismus sey („ein Mann" Paramirum WW. I, p. 77), der sich zu dem Körper verhält wie ein Parasit zum Gewächs (Philos, WW. VIII, p. 100 flf.), und dass sie je nach Geschlecht und Individuum sich in Jedem anders gestalte (Param. WW. I, p. 196), und der in der Therapie gegen die bisherige Art, nur die von den Alten gebrauchten, darum ausländischen Heilmit- tel, diese aber in allen möglichen Combinationen anzuwenden, auf das Heftigste stritt, dass dieser neuernde Bekämpfer des Galen und Avicemuty der es mit einer gewissen Freude hört, wenn seine Gegner ihn mit Luther vergleichen (Paragranum Vorr, WW. II, p. 16), auch in der Philosophie eine neue Periode beginnt und gegen den Herrscher der vorigen, den Aristoteles > polemisirt (Ebend. p. 329). Dass auch die Krankheit ihren Lebenslauf hat, und wieder, dass der Mittel, die auf den menschlichen Organis- mus einwirken, viel mehr sind als man gemeint hat, dies Beides legt viel mehr als bisher den Gedanken nahe, dass Alles von Ei- nem Leben durchdrungen ist, und dass dieses Eine Leben in dem Menschen als dem Gipfel der W^elt sich concentrirt. War gleich die Lehre vom Makro- und Mikrokosmus uralt, und noch zuletzt durch Tiaymvnd von Sahnnde (s. §. 222), der dem Paracelsus nicht fremd geblieben, sehr betont worden, so wird sie doch erst seit dem Letzteren und durch ihn zum Mittelpunkt der ganzen Philosophie gemacht. Als das Gebiet der letzteren bezeichnet er mit Nachdruck die Natur und schliesst daher aus ihr alle Theo- logie aus. Nicht als ob beide je stritten, oder als ob die Theo- logie unter der Philosophie stünde, sondern die W^erke Gottes sind entweder Werke der Natur oder Werke Christi; jene begreift die Philosophie, diese die Theologie (Lib. meteor. WW. VIII, p. 201). Deswegen spricht die Philosophie heidnisch und war sie ein Be- sitzthum schon der Heiden ; dennoch kann der Philosopli ein Christ seyn, denn Vater und Sohn vertragen sich (Erkl. der ganz. Astron. WW. X, p. 443). Philosopliie und Theologie fallen ganz auseinan- der, weil das Instrument jener das natürliche Licht, die Vernunft, sie selbst ein Wissen ist, während die Theologie ein Glauben ist, durch Offenbarung, Lesen der Schrift und Gebet vermittelt. Der Glaube übertrifft das natürüche Licht, aber nur weil er nicht ohne natürliche Weisheit seyn kann, sie aber ohne ihn und er also

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mehr ist als sie (Philos. sagax. WW. X, 162. 24). Die Philosophie hat die Natur zu ihrem aller einzigen Gegenstande, ist nur er- kannte („unsichtige" d. h. ideale) Natur, wie die Natur nur sicht- bare, reale Philosophie ist (Paragr. WW. II, p. 23). Da die Phi- losophie nur Wissenschaft der W^elt ist, die Welt aber theils die grosse ist, in der, theils die kleine, die der Mensch ist, so ent- hält die Philosophie des Paracelsus nur, was man Kosmologie und Anthropologie zu nennen pflegt, nur dass Beides nie gesondert wird, und Einiges was den Menschen betrifft, wie sich sogleich zeigen wird, ausserhalb der Philosophie hegt.

3. Wie kein Menschenwerk richtig gewürdigt werden kann, ohne dass man weiss, wozu es unternommen ward, so muss auch bei der Schöpfung zunächst nach dem „Fttrnehmen" Gottes gefragt werden. Es ist ein doppeltes: Gott will, dass Nichts verborgen bleibe, Alles sichtl)ar und offenbar werde, und zweitens, dass Al- les w^as er angelegt und unvollkommen gelassen hat, zur Vollen- dung komme. (Phil. sag. WW. X, p. 29.45. 51.) Beides vollbringt der Mensch, da er die Dinge erkennt, und da er sie ihrer Bestim- mung entgegenführt, indem er sie verwandelt; darum ist der Mensch das Letzte in der Schöpfung und ist Gottes eigentliches Fürneh- men (de Vera infl. rer. WW. IX, p. 134), und die Welt ist nur zu erkennen, indem die Philosophie den Menschen, als ihr Letztes und ihre Frucht, ins Auge fasst, in ihm als dem Buche, aus dem mau die Heimlichkeiten der Natur herausliest, forscht (Lib. Me- teor. WW. IX, p. 192. Azoth Vorr. WW. X. Append.). Auf der anderen Seite kann der Mensch, wie jede Frucht aus dem Samen, nur aus dem was voi- ihm war, und woraus er hervorging, also der Welt, verstanden werden (Labyrinth, medic. W^W. II, p. 240). Dieser Cirkel kann dem Paracehiis nicht als fehlerhafter erschei- nen, da er als Grundsatz ausspricht, dass ein Philosophus nur sey, wer Eines im Andern weiss (Paragr. alter, WW\ II, p. 110). Auch Moses erzählt, dass, nachdem alle Dinge aus Nichts geschaf- fen waren, zur Schöpfiuig des Menschen ein „Zeug" nöthig gewesen sey. Dieser, der limus terrnc, ist ein Extract und eine Quintes- senz („fünftes Wesen") alles dessen was vor dem Menschen geschaf- fen war, und könnte eben so gut limKs mundi heissen, da alle creafa in demselben, darum aber auch in dem daraus geformten Menschen enthalten sind, und also hervortreten können. Dies gilt nicht nur von der Kälte und dem Feuer, sondern auch vom Wolf und vom Ottergezüchte, und wenn dies geschieht, so werden mit buchstäblicher Wahrheit die Menschen Wölfe u. s. w. genannt. (Phil, sag. WW. X, p. 28. 63. 27. 35.) Weil der Mensch Alles ist, des-

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wegen ist ihm, als dem Centrum und „Punkt" von Allem, Nichts undurchdringlich. Das All aber befasst ausser der Erde auch den Himmel, d. h. die Gestirne oder die firmamentischen siderischen oder ätherischen Kräfte, die, selbst unsichtbar, an den sichtbaren Sternen ihr „corpHs'' haben (Erkl. d. ganz. Astron. WW. X, p. 448). Darum ist der Umvs terrae und ist der daraus gewordene Mensch ein Zweifaches; einmal der sichtbare, greifbare, irdische, und zwei- tens ein unsichtbarer, ungreifbarer, himmlischer, astrahscher Leib. Dieser letztere heisst bei Parncelstis gewöhnlich spirihis; wer dies Wort mit Lebensprincip oder Lebensgeist übersetzen wollte, könnte sich darauf berufen, dass Paracr/s/is selbst anstatt Leib und Geist auch öfter sagt: corpus und Leben (u. A. de pestilit. WW. III, p. 25). Nicht nur die Menschen bestehen aus einem, den Ele- menten entsprossenen, Leibe und dem aus dem Gestirn stammen- den Geiste, so dass sie Kinder aus der Ehe jener beiden genannt werden können (Erkl. d. g. Astr. WW. X, p. 407), sondern alle We- sen, selbst die empfindungslosen, leben und sind von dem astra- lischen Geiste durchdrungen CPhil. sag. WW. X, p. 191); alle übri- gen sind aber nur Bruchstücke dessen, was der Mensch ganz ist. Einem allgemeinen Weltgesetz zufolge, das Paravelsus Grund sei- ner ganzen Philosophie nennt (de pestilit. WW. III, p. 97) ver- langt Jedes nach dem, woraus es geworden, theils um sich zu er- halten, denn Jedes isst seine Mutter und lebt von ihr, theils um darin zurückzukehren, denn Jedes stirbt und wird begraben in seinem Vater (Phil. sag. WW. X, p. 34. 14). Demgemäss ziehen auch die beiden Bestandtheile des Menschen, wie der Magnet das Eisen, so das an sich woraus sie wurden : dem Hunger und Durst, welcher den Leib dahin bringt, die Elemente sich anzueignen und in Fleisch und Blut zu verwandeln, entspricht im Geiste die Ima- gination, durch die er sich aus dem Gestirn nährt, Sinn und Ge- danken gewinnt, die seine Speise sind (u. A. Phil. sag. WW. X, p. 32. Erkl. d. Astr. WW. X, p. 474). Als die eigentUche Func- tion des Geistes ist sie von solcher Bedeutung bei der Bildung des Samens und der Frucht, bei der Erzeugung und Heilung von Krankheiten, vermittelt sie die iUnmbtutio natirra/is, macht den Geist der Speculation fähig u. s. w. (de gener. hom. WW. VIII, p. 166. Phil. sag. WW. X, p. 33. 58). Wie daher alle natürlichen Triebe im irdischen Leibe, so haben alle Künste und alle natürli- che Weisheit, im siderischen Leibe oder (Lebens) Geiste ihren Sitz (Ebend. p. 148). Auch darin sind sie sich gleich, dass sie beide vergehn ; bei dem Tode geht der Leib in die Elemente zurück , der Geist wird vom Gestirn verzehrt; letzteres geschieht später als

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jenes, daher können Geister an den Orten erscheinen, an die sie durch ihre Imagination gebunden sind, aber auch sie sterben, in- dem ihre Gedanken, ihr Sinn und Verstand allmählich schwindet (u. A. de animab. post mort. appar. WW. IX, p. 293).

4. Zu diesen beiden Bestandtheilen, die den Menschen zu einem animal machen, kommt nun hinzu der Sitz nicht des na- türlichen Lichtes , sondern der ewigen Vernunft , die aus Gott stammende Seele (unimu). Sie ist der lebendige Odem, den Gott als er den Adam schuf zu dem limvs terrae, bei der Erzeugung jedes Menschen zu dem Samen, diesem Extract sämmthcher Glied- massen, hinzutreten lässt und der bei dem Tode, selbst ewig, zu dem Ewigen zurückkehrt. Die, vom Geist wesenthch verschiedene, Seele, die sich zu seinen Gedanken verhält wie der König zu seinem Rath, hat ihren Sitz im Herzen, mit dem man eben des- wegen Gott lieben soll (Phil. sag. WW. X, p. 263. 264). Zu dem Geiste verhält sie sich so, dass er ihr Leib, sie sein Geist ge- nannt werden kann (de anim. hom. WW. II, p. 272 ff.). Uebrigeus kommt es vor, dass Paracelsvs das W^ort splritits in so weitem Sinne braucht, dass darunter der (Lebens) Geist und die Seele be- fasst wird. Auf einer Verwechslung von Geist und Seele beruht es, wenn man es auf die Gewalt der Elemente oder des Gestirns schiebt, dass Einer böse oder gut ist. Ob er hitzig, ob kalt hängt von den ersteren, ob Schmied oder Baumeister vom letzteren, ob aber gut oder böse nur von der Seele ab, die Gott los- und in deren Ge- walt er es gelassen hat, sich so oder so zu entscheiden. Was Gott zu solchem Loslassen gebracht hat, in welchem verharrend die Seele unselig ist, während die Sehgkeit in der völligen Hin- gabe zu Gott besteht, darüber hat Philosophie Nichts zu sagen. Wird doch eigentlich Alles was die Seele, dieses übernatürliche Wesen, betrifft, verunreinigt, wenn es mit dem natürlichen Licht be- trachtet wird (Phil. sag. WW. X, p. 148). Durch diese Dreiheit ist der Mensch drei anderen Arten von Wesen theils ähnlich theils über- legen. Er ist Xatur, Geist und Engel, vereinigt die Eigenschaf- ten in sich, in welche sich die Thiere, Engel und Elementargei- ster (Saganac) theilen. Diese letzteren nämlich, die je nach dem Elemente dem sie angehören Wassermenscheu (Nymphen, Uudinen), Erdmenschen (Gnomen, Pygmäen), Luftmenschen (Sylphen, Sylva- nen, Lemurenj, Feuermenschen (Salamander, Penaten) heissen, ha- ben keine Seelen und werden darum oft Imiuimaia genannt. Nur durch Heirath mit Menschen können sie für sich und ihre Kinder eine empfangen (De nymphis WW. IX, p. 46. ff", u. a, a. 0.). Wie der Leib an den Elementen, der Geist an dem Gestirn, so hat die

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Seele an Christo ihre Speise, der zu ihr spricht, wie die Erde zu ihren Kindern: nehmet und esset, das bin ich (Phil. sag. WW. X, p. 24). Werkzeug für dieses Nahrungnehmen ist der Glaube, der eben darum um so viel mächtiger und mehr wirkt als die Imagi- nation, als die Seele mehr ist denn der Geist.

5. Wie der Mensch durch seine drei Bestandtheile auf die elementarische, siderische und göttliche („dealische") Welt zurück- weist, so ist die Erkenntniss dieser drei Welten die Bedingung für eine vollständige Kenntniss des Menschen. Darum werden als die Grundpfeiler, auf welchen die wahre Medicin ruht, die Philosophie, die Astronomie, die Theologie angegeben. Auf die Medicin aber hinzuweisen hatte Pararelsus ausser dem Grunde, dass er selbst Arzt war, auch noch den, dass er in dem wahren Arzt das Ideal eines Wissenden sah, so dass er sagt, unter allen Künsten und Facultäten habe Gott den Arzt am Liebsten (Paragr. WW. II, p. 83). Sehr natürlich, denn wer das Höchste in der Welt zu erfor- schen und dessen AVohl zu fördern hat, der mag wohl auf die Uebrigen herabsehn. Ausser der Würde ihres Gegenstandes kann die Medicin noch auf etwas Andres stolz seyn: In ihr verbinden sich nämlich die beiden Elemente, die nach Paracchus zur wahren Wissenschaft gehören, die Speculation, die ohne Erfahrenheit „eitel Phantasten" gibt, und das e.cperuneitlnm, das ohne Scientia aller- dings, wie Hippokrates sagt, fallux ist und nichts gibt als „Expe- rimentler", die vor manchen alten Weibern und Bartscheerern kei- nen Vorzug verdienen, sie verbinden sich zur wahren Experienüa oder zu einer deutlichen, zeigenden, augenscheinlichen Philosophie (u. A. Paragr. alt. und Labyrinth, med. WW. II, p. 106. 113. 115. 216). Ohne philosophische, astronomische und theologische Kennt- -^nisse ist der Arzt nicht im Stande zu entscheiden, welche Krank- heiten irdischen, welche siderischen Ursprungs und welche Heim- suchungen Gottes sind. Da nun die Tlieorica raustie mit der Theo- rien cm'dc zusammenfällt (Labyrinth, medic. WW. II, p. 224), so läuft er Gefahr elementare Krankheiten mit siderischen Heilmitteln oder umgekehrt anzugreifen, oder auch, natürliche Heilversuche dort zu machen wo sie nicht hingehören (Param, WW. I, p. 20 23). 6. Diesen an den Arzt gestellten Forderungen schliessen sich, als Hülfsleistungen zu ihrer Erfüllung möchte man sagen, die Dar- stellungen der drei angegebeneu AVissenschaften an. Was nun zu- erst die Philosophie betrifft, diese „Gebärerin eines guten Arz- tes" (V. d. Gebär, d. Mensch. WW. I, p. 330), so ist darunter, wenn die Astronomie von derselben abgetrennt wird, die allge- meine Naturwissenschaft zu verstehn, die alle ercata . die vor dem

I. Die Weltweisen. B. Naturphilosopheu. Paracelsus. §. 241, 6. 521

Menschen da waren, betrachtet (Paragr. WW. II, p. 12). P/irä- cefsiis geht hier bis auf den letzten Grund alles Seyns zuräck, den er in dem Fiat findet, mit welchem Gott seinem Alleinseyn ein Ende machte, und welches darum die prima matcria genannt werden kann (Paramir. WW. I, p. 75), oder auf das iinjsferimn vntyvvm , in welchem alle Dinge enthalten waren , nicht wesent- lich oder qualitätisch , sondern wie in Holz die daraus zu schnitzen- den Bilder (Philos. ad Athen. WW. YIII , p. 1. 3). Beide Namen werden aber auch dem Product des Fiat, in dem es materialisch wird, dem Samen aller Dinge, beigelegt. Der, seltner gebrauchte Name yle (Philos. WW. MII, p. 124) , der stets vorkommende ylia- ster oder yliastron für dieses erste Product der göttlichen Schöpfer- kraft wird den nicht befremden, der an die lylc und das l.yl eu- ch im mancher Scholastiker denkt (s. oben §. 200, 9). In diesem sind, als in ihrem Samenbehältniss (limbus) alle kommenden Dinge enthalten (De generat. stultor, W'W\ IX, p. 29). Weil der das Fiat sprach der Dreieinige ist, deswegen unterliegt dem all- gemeinen Weltgesetz der Dreiheit auch der gestaltlose Urstoff (Lib. meteor. WW. Ylll, p. 184) und enthält drei Priucipien, die Para- celsus gewöhnlich Sal, Snlphar und Mcrairius nennt. Schon dass er anstatt dessen auch (Labyr. med. W^W. II, p. 205) Batsamiim, Besinn und Lifjaor sagt, ausserdem aber seine ausdrückliche Er- klärung beweist, dass darimter nicht die körperlichen Substanzen Salz, Schwefel und Quecksilber zu verstehn sind, sondern die er- sten Kräfte (daher „Geister", auch materiue primae)^ die sich in unserem Salz u. s. w. am Meisten abspiegeln. Alle körperlichen Wesen enthalten diese Principien, wie denn was im Holze raucht, Mercurius, was in ihm brennt, Sulphur, was als Asche übrig bleibt, Sal ist (Param. WW. I, p. 73 tf.). Durch Sublimation, Verbrennung und Auflösung dieser Drei, und dadurch dass sie in verschiede- nen Verhältnissen sich verbinden, entsteht die Mannigfaltigkeit der Dinge, so dass „alle Dinge in allen Dingen verborgen sind, eines ihr Verberger, leiblich Gefäss und sichtlich" ist (Lib. vexat. WW. VI, p. 378). Wie aus dem Holz durch Abschneiden des üeberflüs- sigen das Bild wird, so ist auch der Weg, auf welchem aus dem Yliaster die verschiedenen Wesen werden, die Scheidung, Sepa- ratio. Und zwar werden in solcher Scheidung zuerst die Elemente (Phil, ad Athen. WW^ VUI, p. 6) , welche vier Theile des Yliaster, manchmal selbst wieder die vier (einzigen) ylinstri genannt wer- den (Philos. WW\ VIII, p. 60). Unaufhörlich polemisirt Paracelsus gegen die peripatetisch- scholastische Theorie, nach welcher die Elemente Complexionen der Urqualitäten Heiss und Kalt u. s. w.

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seyn sollten. Theils, weil diese Qualitäten als Accidenzien der Substrate bedürfen, theils Aveil jedes Element nur eine Hauptqua- lität hat. Nicht weil sie Complexiouen , sondern weil „Mütter" der Dinge, sind sie Elemente (Ebendas. p. 56). Auch von den Ele- menten gilt übrigens, was von den in ihnen enthaltenen drei pri- mis sitfjstantiis galt: Elcmcnlvm nqinie ist nicht das Wasser was wir sehen, sondern was dies Sichtbare, minder Nasse, erzeugt, die unsichtliche Mutter unseres Wassers, eine Seele, ein Geist (Phil, ad Ath. WW. VIII, p. 24 ff. Lib. Meteor, ebendas. p. 188). In der ersten Scheidung stellen sich die Elemente ignis und <ier zusam- men den andern beiden entgegen und so entsteht dort der Himmel, hier der, darin wie der Dotter im Eiweiss schwimmende, „Globul" der Erde. Im erstem bilden sich aus dem elemcnhnn iyvis, der lebengebenden Mutter unseres (verzehrenden) Feuers das Firmament und die Sterne, unter ihnen der durchsichtige Himmel („Chaos". Philos. WW. VIII, p. 61. 66. Lib. Met. ebendas. p. 182). Im letz- teren wieder scheidet sich das Wasser vom Trocknen und es ent- steht Meer und Land. Innerhalb dieser vier entstehen nun aus den vier Elementen vermöge des ihnen innewohnenden „Vulcanus", der kein persönlicher Geist, sondern eine ..rirtns'- , die dem Men- schen unterworfene Naturkraft ist, die einzelnen Dinge, bei deren Entstehung manche errala nnliirac unterlaufen (Lib. meteor. WW. VIII, p. 204. Phil. sag. WW. X, p. 102). (Man denke hier an des Arisloieirs dämonisch wirkende, dazwischen ihren Zweck verfeh- lende, Natur, s. §.88, 1.) Die Producte der Elemente, die nicht, wie die der zusammengesetzteren Körper, ihren Erzeugern gleich- artig, sondern ..divcrtal/a'' sind (Philos. ad Athen. WW. VIII, p. 24) , zerfallen in empfindliche , die oben erwähnten Elementar- geister, sowie die verschiedenen Thiere, und in unempfindliche, wie die Metalle, die aus dem Wasser, die Pflanzen, die aus der Erde, die Blitze, die aus dem Himmel, den Regen, der aus der Luft kommt. Was in den Elementen Vulcanus gewesen war, das ist in jedem einzelnen Dinge der „Regierer" oder .,Arclieus'' , d. h. ihre individuelle Naturkraft, durch welche sie sich erhalten, na- mentlich aber im Ausstossen der Krankheit wieder herstellen (Lib. meteor. WW. VIII, p. 206). Der Mensch ist von allen anderen Na- turwesen dadurch unterschieden , dass er nicht nur einem Elemente angehört, sondern vielmehr, weil er aus ihnen besteht, sie alle ihm gehören, er also nicht in, sondern auf der Erde lebt u. s. w. (Ebendas. p. 202). Weil er der Auszug aus allen Dingen, ihr „fünftes Wesen", deswegen ist er auf sie angewiesen, sein Geist wie sein Leib erstirbt ohne Nahrung von Aussen (Phil. sag. WW.

n. Die Weltweiseu. B. Natui'philosophen. Paracelsus. g. 241, 6. 7. 523

X, p. 28. 104. 105. Erkl. d. Astroii. ebeiid. p. 405). Eben so kann er und sein Zustand nur aus dem der Elemente und überhaupt der Natur erkannt werden, imd dies ist ein Glück für die Kran- ken , denn müsste der Arzt an ihnen selbst lernen , wie es mit ihnen steht, so wäre dies Vieler Tod (Paragran. alter. WW. II, p. 117). 7. Die Erkenntniss des Wassers und der Erde gibt die Buch- staben zu einer Sentenz nur über den irdischen Leib des Menschen. Die über das eigentliche Leben desselben wird gefallt nur vermit- telst der Erkenntniss des Gestirns, und darum ist die Astrono- mie, der „Obertheil" der Philosophie neben der Elementarphilo- sophie dem Arzt unentbehrlich (Phil. sag. WW. X, p. 13). Die himmhsche und die irdische Welt dürfen, da sie aus denselben ersten Substanzen bestehn, auch in beiden ein Vulcanus wirkt, nicht so getrennt werden, wie es zu geschehen pflegt. Dasselbe, was als Stern am Himmel, existirt auch auf der Erde aber als Kraut, und im Wasser aber als Metall (Philos. WW. VIII, p. 122). Wer dies ganz klar durchschaute und dabei die „Kunst Si(jvata'' besässe, welche den Dingen nicht gleichgültige Namen beilegt, sondern solche, die ihre Natur ausdrücken, dem würde der Him- mel zu einem Inborivin splrititdlc sirlercum werden, indem er eine siclla Jrlem'tslae . Melissae u. s. w. hätte (Labyr. medic. WW. II, p. 233). Schon unsere gegenwärtige Kenntniss reicht aus, um zu sagen, dass es viel mehr ^Metalle geben niuss als die sieben, die man, wegen der Planetenzahl, anführt (De miner. WW. VIII, p. 351). Natürlich muss, was von dem Wasser und der Erde gilt, seine Anwendung auch finden auf ihre Quintessenz , den Menschen : Nichts ist am Himmel was nicht auch in ihm wäre, was dort Mars und in der Erde Eisen, das ist im Menschen Galle (Param. WW. I, p. 41). Dies ist nun für die Beurtheilung der Krankheit und die Wahl der Arznei wichtig. Beide gehören zusammen , denn wo der Grund der Krankheit, da ist auch der der Heilung zu suchen. Das ron- trarin coiiirariis hat nicht den Sinn, dass das Kalte durch das Warme, sondern dass die Krankheit durch die Gesundheit, die schädliche Wirkung eines Princips durch seine wohlthätige ver- nichtet werden soll (Paragr. WW. II , p. 58. 39). Auch hier müss- ten, wenn man die Krankheiten ihrer Natur gemäss bezeichnen wollte, die alten Namen aufgegeben, und anstatt dessen von mar- tialischen und mercurialischen Krankheiten gesprochen werden, denn die Sterne sind die prunipitt morboriim (Philos. WW. VIII, p. 123). Freilich, um dies zu können, muss man den Menschen nicht isoliren, sondern ihn vom Standpunkt des Astronomen und Astrologen betrachten, muss im Sturmwind beschleunigten Puls der

524 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Ue"bergang).

Natur, im fieberliafteii Puls des Kranken Innern Sturm erkennen, muss in der Entstehung des Blasensteins denselben Process erken- nen, durch den der Donner wird u. s. w. (Paragr. WW. II, p. 29. Paramir. "WW. I, p. 186if.). Wie diese Erkenntniss den Arzt in Stand setzen wird , siderische Krankheiten , wie z. B. die Pest , in welcher, weil sie dies ist, die Imagination eine so wichtige Rolle spielt (de occult. phil. WW. IX, p. 348), nicht wie gewöhnliche elementarische zu behandeln , so wird sie ihn auch von dem hoch- müthigen Wahne befreien, als heile er den Kranken. Nur die Natur thut dies, und seine Aufgabe ist, zu entfernen, was sie da- ran hindert, sie vor widerwärtigen Feinden zu schützen (Grosse Wundarznei Ausg. von Zetzner p. 2). Ein andrer Ausdruck für dieselbe Behauptung ist , dass der Arzt den Archeus , d. h. die in- dividuelle Naturkraft, zur heilenden Thätigkeit zu veranlassen habe. Da dies durch , dem Magen beigebrachte Arznei geschieht , des- wegen wird oft der Magen als der besondere Sitz des Archeus be- stimmt.

8. Sowol der obere als der untere Theil der Philosophie wei- sen auf den Grund aller Dinge, deswegen nennt Paracelsvs das natürliche Licht den Anfang der Theologie; wer in natürlichen Dingen ein richtiges Urtheil habe, werde Christum und die hei- lige Schrift nicht „leichtlich wägen'^ (De nymph. WW. IX, p. 72). Weil es ihm Ernst ist, dass die Philosophie sich an die Theolo- gie als an ihren Eckstein lehnen müsse, und er weiter als Quelle der Theologie lediglich die h. Schrift gelten lässt, deswegen hat er die letztere so eifrig studirt. {Morhof will ausführliche Com- mentare dazu, von seiner eignen Hand geschrieben, selbst gesehen haben.) Weil er aber zugleich die Theologie stets dem Wissen entgegensetzt, deswegen ist hier auf die seinige nicht weiter ein- zugehn. Nur Eines muss berücksichtigt werden, weil es mit sei- ner Stellung zur scholastischen Philosophie genau zusammenhängt: die zur römisch-katholischen Kirche. Wenn man sieht, dass er unter den zur Doctrin Prädestinirten neben Albert und Lactunüvs den Wilde f nennt (Phil. sag. WW. X, p. 95), dass er die grösste Hochachtung gegen ZwlvgU hegt, dass er die Gegner Luthers verhöhnt, missachtend vom Papste spricht, sich oft gegen Messe- lesen, Heiligenverehrung, Wallfahrten erklärt, so kann man ver- sucht werden , ihn ganz den Neuerern seiner Zeit beizuzählen. Und doch wäre dies unrichtig, denn es stritte damit sein Mariencultus (Lib. Meteor. WW. VIII, p. 213), seine Versicherungen, er wolle nur die unnützen Buben vom Messelesen weg haben, nicht die Heiligen u. s. w. Man könnte seine Stellung mit der des Erusmus

II. Die Weltweisen. B. Naturphilosophen. Paracelsus. §.241, 8. 'J. 525

vergleichen, den er ja auch von allen Gelehrten seiner Zeit am allerhöchsten stellt ; mit noch mehr Grund vielleicht mit der einiger der oben betrachteten Mystiker , die ohne aus der römischen Kirche herauszutreten, die Punkte vernachlässigten, die später von den Reformatoren bekämpft wurden.

9. Wäre die Medicin nur Wissenschaft und Theorie, so würde sie sich nur auf die drei eben charakterisirten Wissenschaften stützen. Nun legt aber Paracclsas das grösste Gewicht gerade darauf, dass sie Kunst sey und Praxis (Labyrinth, med. WW. II, p. 208). Er muss ihr deswegen, als einen vierten Pfeiler, auf dem sie ruht, eine Anweisung und Technik zuweisen. Diese gewährt nun die Alchymie, unter der eigentlich jede Kunst, Verände- rungen hervorzubringen, zu verstehn ist, so dass der Bäcker, der aus Korn Brot, der Rebmann, der aus Trauben Wein macht, eben so Alchymist ist, wie der Archeus, der Speise in Fleisch und Blut verwandelt (Paragr. WW. II, p. 61 u. a. a. 0.). Diesen, die Dinge ihrer Bestimmung gemäss Aendcrnden, gesellt sich nun der Alchymist im engern Sinn, d.h. der Chemiker, zu, welcher die Dinge läutert, veredelt und heilt, eben darum aber gerade das Gegentheil des Schwarzkünstlers ist. Das Reinste und Lauterste in jedem Dinge ist seine Quintessenz oder (da dieses Wort eigentlich nur dort gebraucht werden darf, wo ein Extract, wie der Hmiis lerrac, alles enthält, woraus er extrahirt ward, ohne dass dadurch dem Residuum Etwas entzogen wurde) genauer gesprochen: sein arcanum, seine Tinctur oder sein Elixir (Archi- doxis WW. VI, p. 24 ff.). Da in diesem das Ding mit seiner Kraft und Eigenschaft ohne fremde Zuthat enthalten ist, so ist natür- lich die Hauptaufgabe der ärztlichen Alchymie die Bereitung der Quintessenzen, Arcana oder Tincturen. Sie werden aus Metallen, sie werden aber auch aus Solchem gezogen was da lebt, aus Pflan- zen, und sind je mehr es lebt (frisch ist), um so kräftiger. Könnte man, ohne ihn zu tödten, aus dem Menschen einen solchen Extract ziehn, so wäre das das absolute Heilmittel. Die „Mumie" ist eine Annäherung dazu, sie ist aber, da sie meistens aus an Krankheit Gestorbenen, im günstigsten Falle aus Hingerichteten, also im- mer aus Todten, gezogen wird, mit jenem nicht zu vergleichen (u. A. de vita longa WW. VI, p. 181). Als solche arcana, denen man nachzustreben habe, führt Paracelsus prima maferia, lapls p/nlosop/ioriint , Mercitriirs rifae und Tincliira an, zu deren Ge- winnung er die Methoden angibt (Archidoxis WW. VI, p. 42ff). Es ist hier schwer, anzugeben wo die Selbsttäuschung aufhört und die Charlatanerie anfängt. Von beiden ist er nicht frei zu spre-

526 Mittelalterliche Pliilosophie. Dritte Periode (Uebergang).

chen; dagegen möchte weder hier, noch bei dem berühmten Re- cept zur Hervorbringung des homimcvlits (de nat. rer. WW. VI, p, 263) an ironischen Scherz zu denken seyn. Dass er bei allen alchy mistischen Arbeiten fordert, dass die Sterne und ihre Con- stellation beachtet , dass zwischen Ernte - und Brachzeit der Sonne, d. h. Sommer und Winter, ein Unterschied gemacht werde, ist eine nothwendige Folge des von ihm behaupteten Zusammenhanges aller Dinge. Bei allen uns phantastisch erscheinenden Behauptun- gen, wird er nicht müde vor Phantastereien zu warnen und zu fordern, dass man sich von der Natur selbst den Weg weisen lasse. Als solche Weisung sieht er aber nicht nur an , dass das zufällige cxperimeutiim lehrt wie ein Kraut einmal gewirkt hat, sondern auch dies, wenn die Natur durch die Gestalt eines Krautes, als seine sigiinturn , eine bestimmte Wirkung verspricht, endlich aber, wenn wir daraus , dass ein Thier sich von Solchem , das uns Gift ist, nährt, d. h. dasselbe an sich zieht, folgern, es werde dieses Gift auch aus unserer Wunde aus- d. h. an sich ziehii, so folgen wir dabei nicht unseren Einbildungen, sondern der Natur. Es ist ihm völliger Ernst, dass all unser Wissen nur Selbstoffenbarung der Natur, dass unser Wissen ein sie Belauschen ist, und dass er ihr wirkHch sehr viel abgelauscht hat, bewiesen seine glücklichen Curen und beweist noch heute das Factum, dass viele Grundge- danken seiner Lehre sich erhalten haben.

10. Von seinen persönlichen Schülern hat er die meisten, als zu frühe der Schule entlaufen, getadelt. Lobsprüche erhalten Joannes OporinnSy der lange Zeit sein Sekretair war, und viele seiner Werke ins Lateinische übersetzt hat, ferner Petrus Sereri- nns , ein Däne, der am Meisten dazu gethan hat, dass seine Lehre systematisch geordnet und dem Publicum zugänglich ward, dann die Doctoren Ursinm. Pancralins und der Magister linpl/dcl. Van llehnont dankt ihm zwar viel, geht aber seinen eignen Weg. Er sowol als die Uebrigen eigneten sich übrigens nur das an, was von praktischem Werth für die Medicin war, die philosophische Begründung haben sie mehr bei Seite gelassen.

§. 242. C a r d a n u s.

1. Hieronymus Cardamis, ein ausserhalb seiner Vaterstadt im J. 1500 geborner vornehmer Mailänder, schon im Kindesalter zu Hallucinatiouen und Visionen geneigt, besuchte nach einem viel- seitigen, von der gewöhnlichen Methode abweichenden Unterrichte, den ihm der Vater ertheilte. vom 19. Jahre an die Universitäten

II. Die Weltweisen B. Nntiirphilosophen Cardauus. §. 242, 1 V. 527

Pavia imd Padua und las dann auf der letzteren über den EulUd, später auch über Dialektik und Philosophie. Im J. 1525 Doctor der Medicin geworden, lebte er sechs Jahre als praktischer Arzt in Sacco , dann in Gallarate , zuerst mit Sorgen um den Unterhalt seiner Familie kämpfend, später derselben ledig. Endlich im J. 1634 ward sein Lieblingswunsch, in der Vaterstadt zu leben und zu lehren, erfüllt; ehe er aber sein Amt definitiv antrat, vergingen Jahre, die er in Pavia lehrend verbrachte. Später lehnte er man- chen vortheilhaften Ruf ab und blieb, Reisen ausgenommen, zu welchen der weltberühmte Arzt aufgefordert ward, seiner Vater- stadt bis zum J. 1559 getreu. Dann lebt er wieder sieben Jahre in Pavia, von wo ihn die, wie er meint, ungerechte Hinrichtung seines Sohnes nach Bologna trieb. Hier ward er selbst eingeker- kert, und ging nach bald erfolgter Freisprechung im J. 1571 nach Rom, wo er 1576 gestorben ist. Bis zum Anfange der Dreissiger hat er gar nicht, dann aber sehr viel geschrieben. Ein genaues Register seiner Schriften hat er selbst in mehreren Aufsätzen de libris propriis nachgelassen, an seiner Selbstbiographie de vita propria noch ganz kurz vor seinem Tode geschrieben. Von philo- sophischen Werken sind am Bekanntesten : das im J. 1552 vollen- dete de subtilitate Libb. XXI, von welchem er drei verschiedene Drucke erlebt, und das er dann zum vierten noch umgearbeitet hat, ferner: de varietate rerum Libb. XVII, welches 15.56 vollen- det ward , und Manches , was in der ersten Schrift sehr allgemein gehalten ist, specieller durchführt. Als sein schwierigstes und bedeutendstes Werk l>ezeichnet er selbst die Arcana aeternitatis, die aber, darnach zu urtheilen, dass der Herausgeber der sämmt- lichen Werke sie nach einem Ms. gibt, zu Cardun's Lebzeiten nicht gedruckt sind. Die Sammlung seiner Werke erschien unter dem Titel: Hieronymi Cardani Mediolanensis philosopbi et medici celeberrimi Opera omnia cura Caroli Sponii in decem tomos di- gesta Lugduni sumptibus Jo. Ant. Huguetan et M. Ant. Ravaud 1663. 10 Voll. Fol. Sie wimmelt leider von Druckfehlern, die den Sinn entstellen und oft ganz verderben. Die ersten drei und der zehnte Band enthalten die philosophischen, der vierte die mathe- matischen, die übrigen die medicinischen Schriften.

2. Die zwischen Cardamis und Paravelsus Statt findende üebereinstimnumg darf nicht dazu bringen , hier Entlehnungen an- zunehmen. Qndunus scheint keine Notiz davon zu haben, was der Andere gelehrt hatte. Die gleichen Resultate bei- beiden er- klärten sich durch die Zeit, in der beide leben, durch den glei- chen Beruf und zum Theil auch durch die Verwandtschaft ilu-er

528 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

Charaktere, die Unterschiede wieder aus der verschiedenen Natio- nalität und dem verschiedenen Gange, den ihre Studien genom- men hatten. Dem Paraceisus ist immer die Wahrnehmung das Erste, und eben so die Praxis, an die sich die Theorie erst an- schliessen soll, darum lernt er erst, und wäre es auch durch Bartscheerer und alte Weiber, was heilsam ist, und sieht erst nachher zu, warum es hilft. Darum sind ihm die Anstalten so- wol als die Männer der Theorie ein Gräuel ; wie über Universitä- ten, so spottet er über Galen. Anders Cttrdanus ; Universitäts- lehrer mit Passion, will er vor Allem rationelle Behandlung, und geht mit immer neuer Bewunderung zu Aricenna und Galen in die Schule. Er rühmt sich nicht nur, wie Par<tcclsiis , seiner glücklichen Erfolge, sondern auch dessen, dass er kein roher Em- piriker sey; Avie jener auf Reisen, hat dieser in Bibliotheken sich zum Arzt gebildet; es hängt damit zusammen, dass Paracclsns gerade in der Hülfswissenschaft der Medicin alle Zeitgenossen übertrifft, die (namentlich damals) nur aus vereinzelten aber selbst- gemachten Wahrnehmungen besteht, der Chemie, während Cav- danns sich als Mathematiker so ausgezeichnet hat, dass die dank- bare Nachwelt die bekannte Formel nach ihm benannt hat, ob- gleich in ihrer heutigen Gestalt sie nicht von ihm stammt. Wenn schon dies Alles den, so oft als Phantasten verschrieenen, Car- danns dem Andern gegenüber als nüchternen Rationalisten er- scheinen lässt, so macht diesen selben Eindruck ihr Verhältniss zur Religion. Einverstanden darin, dass philosophische und theo- logische Betrachtung auseinander zu halten seyen, machen sie doch in sehr verschiedenem Grade mit dieser Trennung Ernst. Pctra- eelsiis, der sich von der römischen Kirche durch seinen mysti- schen Subjectivismus sehr entfernt und oft ganz nahe an die Lu- therische Formel sola jide heranstreift, kann von der Religion, weil sie ihm Sache des Herzens und der Gesinnung ist, nie ganz abstrahiren, und darum hat nicht nur seine Theologie, sondern auch seine Philosophie eine mystische Farbe. Anders bei Carda- nns. Er ist so sehr ein Anhänger des römischen Katholicismus, dass einer der Gründe, den glänzenden Ruf nach Dänemark aus- zuschlagen, der dort herrschende Cultus ist. Dieser aber, über- haupt die kirchliche Praxis, das Nichtantasten der kirchlichen Dogmen mit einbegriffen , das ist ihm die Hauptsache. Ohne Un- terwerfung unter die Autorität ist ihm keine Religion noch Kirche denkbar. Lieber gar keine, sagt er, als eine, die nicht geachtet wird (Polit. WW. X, p. 66. 67). Da nun die Philosophie es le- diglich mit dem Wissen, der Theorie, zu thun hat, so kann sie

n. Die Weltweisen. B. Naturphilosophen. Cardanus. §. 242, '^. 3. 529

uie dahin briilgen, die Kirche, dieses praktische Institut, anzugrei- fen , und er fordert für sie die grösste Freiheit. Nur für die ^Yis- senden. Der Laie, d. h. der Idiot, welcher im praktischen Leben versirt , kann natürlich auf dieses Privilegium nicht Anspruch ma- chen, diesen sollen die strengsten Strafen von jeder Verletzung der kirchlichen Praxis zui'ückschrecken , und damit die Grenze zwischen ihm und den AVissenden uie verrückt werde , soll es ver- boten seyn, wissenschaftliche P'ragen in der Muttersprache zu er- örtern (De arcan. aet. WW. X, p. 35). Dem Volke soll es unter- sagt seyn über religiöse Gegenstände zu streiten, ja es soll von allem Wissen fern gehalten werden, nam ex lils tumi/llns orinx- tnr (Polit. WW. X, p. 67. 66). Dieser wissenschaftliche Aristo- kratismus bildet gleichfalls einen Gegensatz zu dem zur Schau getragenen Plebejerthum des Parncelsiis.

3. Ganz wie dem Parace/sus, so steht auch dem Cardanus dies fest, dass alles Existirende ein zusammenhängendes Ganzes sey, in dem Alles durch Sympathie und Antipathie, d. h. Anziehung des Gleichen und Abstossung des ungleichen ohne sichtbaren Grund (de uno WW. I, p. 278. de subtil. WW. III, p .557. 632), verbunden ist. Der Grund dieser Einheit, die inniger ist als die in einem Menschen, ist die, nicht an einem Orte, sondern überall oder nirgends, woh- nende Seele des Alls, und es war eine Thorheit, wenn ArhUdelcs eine solche leugnete und nur ein Analogon davon , eine Natur, im All statuirte (u. A. de nat. WW. II, p. 285 ff). Das Vehikel oder die Erscheinungsform der uiibna mnndi ist die Wärme, die eben deswegen selbst oft Seele des Alls genannt wird de subtil. WW. III, p. 388). Auch mit dem Lichte wird sie identificirt, da Licht und Wärme dasselbe sind (Ebend. p. 418). Diesem activen und himmlischen Principe steht nun gegenüber als das passive Princip die Materie, die hyle oder die Elemente, deren Grundeigenschaft die Feuchtigkeit ist (Ebend. p. 359. 375). Die peripatetische Ab- leitung verwirft Girdau theils aus dem Grunde, dass Eigenschaf- ten der Substrate bedürfen, theils weil Kalt und Trocken blosse Privationeu, Abwesenheiten, sind (u. A. Ebend. p. 374), Durch das Zusammentreten des Activen (animn . caior, forma u. s. w.) und des Passiven (lyle, hvmidinu, miifprui u. s. f.) entstehen alle Dinge. Wer anstatt dessen sagt, Alles entstehe weil es Gott so behebt, vemnehrt Gott , weil er ihn ohne Grund handeln und weil er ihn um das Kleinste sich kümmern lässt (Ebend. p. 388. 404. de rer. var. WW. II, p. 33). Innerhalb des Feuchten unterschei- den sich nun die drei Elemente Erde, Wasser, Luft; das Factum, dass das Feuer der Nahrung bedarf, beweist allein schon, dass

Erdjiiiiuu, üesch. d. I'lul. 1 ßA

530 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

es kein Element seyn kann. Als Gegensatz zum Warmen sind natürlich die Elemente unendlich kalt, dagegen sind, da die Seele alle Mischung bewirkt, die mlsid mehr oder minder warm oder beseelt. Es gibt nichts absolut Unbelebtes (de subtil. WW. III, p. 374. 375. 439 ). Dies gilt schon von den unvollkommensten Mischungen, den Mineralien (MpliiUicft) und Metallen (Ebend. Lib. V u. VI), mehr noch von den Pflanzen (Lib. VII), die schon Liebe und Hass zeigen, noch mehr von den unvollkommneren, aus Faul- niss , und den vollkommneren durch Zeugung entstehenden Thieren (Lib. IX u. X), am allermeisten vom Menschen (Lib. XI— XVIII). Dieser darf eben so wenig zu den Tliieren gerechnet werden, wie ein Thier zu den Pflanzen. Schon von seiner leibhchen Seite ist er durch seinen aufrechten Gang und den, damit sogleich gegeb- nen, Besitz wirklicher Hände, so wie durch Sprachbegabung von allen Thieren unterschieden. Dazu kommt aber zweitens, dass die Seele des Menschen durch ihren Verstand (im/cnhnit) die der Thiere so weit übertrifft, dass er alle zu überlisten vermag und er darum als das aiiunnl jallox bezeichnet werden kann (u. A. Politic. WW. X, p. 57). Nur in seiner untersten Classe, dem ge- viis beUuiniüH, besteht das Menschengeschlecht aus Solchen qni (fc(ip'uint)/r , in der höheren, dem yeinis hvnnmiim, aus Solchen, die betrügen, aber nicht betrogen werden. Zwischen beiden in der Mitte stehn die, welche (Jcriplmtf ei ileviphnitiir (de subt. WW. III, p. 550 553). Weder im Körperlichen noch im Seeli- schen geht übrigens dem Menschen Etwas ab, was Pflanzen oder Tliiere besitzen, den Muth des Löwen, des Hasen Geschwindig- keit besitzt er auch, kurz er ist nicht ein Thier, wohl aber alle Thiere. Endlich aber ist er noch mehr, indem zum Leibe und der Seele als Drittes die unsterbliche nn'vs hinzutritt, die durch ihr Vehikel, den .vp/r////.« (Lebensgeist), mit dem beseelten Leibe ver- bunden ist (de rer. variet. WW. III, p. 156). Kur vermöge dieses vermag die lucns den Leib zu regieren, da Körperhches bloss durch Körperliches in Bewegung gesetzt werden kann (Ebend. p. 330». Solcher mciifcs hat Gott eine, für immer bestimmte, Zahl geschaffen, und daher verbindet Cdnlanns seine Unsterblichkeits- lehre mit der von einer Seelenvvanderung, die einmal mit dem Gesetz der i)eriodischen Rückkehr aller Dinge, andrerseits aber mit der Gerechtigkeit Gottes sehr gut stimmt, indem jetzt Keiner bloss Nachkonmie und Erbe der Früheren ist, sondern Jeder auch das Umgekehrte (u. A. Paralip. Lib. IL WW. X, p. 445). Indem diese drei in dem Menschen verbunden sind, und zwar so enge, dass er oft sich f.ir nur Eines ansieht und dem Ganzen zuschreibt

n. Die "Weltweisen, ß. Naturphilosophen. Cardanus. §. 242, 3. Ool

was nur einem Tlieile zukommt, ist der Mensch durch Leib und Seele den Elementen und dem Himmel, durch die mens aber Gott gleich , herrscht er über das Thier in sich , dem er nur unterliegt, wenn er sich von ihm erbitten liess (de subt. WW. III, p. 5.')7. Lib, Paralip. 13. WW. X, p. 541). Da die Function der i/ieiis das Wissen ist, welches den Menschen unsterblich macht, so steht über den oben erwähnten Classen von Menschen das (/enus rltrl- niim , welches ans Solchen besteht, die ncc di'cipiuitl nee deriinmi- tnr (de subt. WW. III, p. 539. 550). Diese, die in Gott Entbrann- ten, die durch den Glauben gerade so erquickt werden, wie die müden Lebensgeister durch den Schlaf, sind allerdings sehr sel- ten (de rer. var. WW. III, p. 159 ff.;. Ihr Wissen, snpienfln, ist von dem der übrigen Menschen, der periflti , wesentlich verschie- den. Die letztere, die zu ihrem Organ die, von der Materie nie freie, ra/io hat, die ist es, um welcher willen die berühmten Scholastiker Vincent von heainaiSi Seofns, Ocrnm u. A. geprie- sen werden, die doch von der wahren Weisheit sehr fern sind. P'reilich noch lächerlicher ist es , wenn man wie /»///yy/. Lii/i/'s alle Wissenschaften lehren will ohne sie zu kennen (Paralip. WW. X, p. 542. 5G2. 588j. Eben so strenge wie Lii/f , wird Atp/ftp/i ron ISeltesIteim beurtheilt (de subt. WW. III, p. 629). Der wahren Weisheit wird nun ausser der Vertiefung in Gott von Ct nhnnis auch die mathematische Erkenntniss, namentlich die, welche die Natur der Zahlen betrifft, zugeschrieben, und die Verschmelzung der Theologie mit der Zahlenlehre war gewiss einer der Gründe, warum er den Niraidiis ron Ciisa so weit über alle seine Zeitge- nossen, ja über alle Menschen setzt, obgleich er zugibt, dass des- sen Quadratur des Kreis.'S ein von Htyiomoniinnts widerlegter Irrthum sey (Exaeret. math. WW. IV, p. 406— 462. de subt. WW. III, p. 602). Nächst diesem rühmt er besonders den Jf». Snisset (C(ihiitalor). Die Wiederkehr gewisser Zahlen in den Bewegun- gen der Sterne, soll ein Beweis seyn, dass Gott selbst dem Ge- setz der Zahlen seine W^erke unterworfen hat. Mit allen seinen Zeitgenossen nimmt CardonKs das Daseyn geistiger Wesen ausser dem Menschen an. Den Dämonen wird die Luft, den reinen In- telligenzen (pr'uuue snbshiniaie) werden die von ihnen beseelten unsterblichen Gestirne zum Wohnsitz angewiesen (de subt. p. 655. 661). Aber auch hier zeigt er seinen klaren Verstand, indem er von einer, nicht an die Naturgesetze gebundenen, Wirksamkeit der Dämonen nichts wissen will (de rer. var. WW. III, p. 332), und die Freiheit des Willens auch gegen die JMacht der Gestirne in Schutz nimmt.

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532 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

4. Obgleich der Mensch nicht, wie die Thiere, ein blosses Glied der Gattung ist, sondern ein Ganzes für sich, so genügt er sich doch nicht, sondern wie die in Heerden lebenden Thiere ist auch er, namentlich durch seine Hülflosigkeit , zum Leben in der Gemeinschaft bestimmt, in der er zum glücklichsten, freilich auch, wenn sie schlecht eingerichtet ist, zum elendesten Wesen wird (Polit. WW. X, p. 50). Diese Gemeinschaft, den Staat, be- trachtet Cdvdduvs in seiner , leider Fragment gebliebenen , Politik. Mit Hohn spricht er darin von Plaio's, ziemlich nichtachtend von Arhtoicics' Arbeiten und bedauert , dass man , um die Regierungs- kunst, diese Schwester der höchsten Weisheit (de arcan. aet. WW. X, p. 102), zu lernen, nicht anstatt jener beiden Philosophen die beiden Piepubliken genauer studire, welche uns Muster darbieten: das alte Rom und das moderne Venedig , das nur durch seinen Geiz verhindert sey, wie jenes, die halbe Welt zu beherrschen (Ebendas. p. 29. Polit. p. 52). Als Hauptfehler bei allen Untersuchungen ta- delt Cardnnus, dass der Unterschied der Völker, dass ferner bei einem und demselben Volk der Unterschied seiner Lebensalter, endlich dass der Unterschied gesunder und kranker Zeiten unbe- rücksichtigt bleibe (Polit. p. 53). Der mit allen thierischen Trie- ben , dabei aber mit List (jaUucui) und Verstand (ivgcnium) aus- gestattete Mensch kann nur in ganz kleinen Gemeinschaften ohne Gesetze leben; in grösseren sind sie ihm unentbehrlich. (Die an- gekündigte Untersuchung darüber, wann und wo die ersten Ge- setze entstanden seyen , fehlt in dem Fragmente der Politik.) Ver- bindlichkeit haben Gesetze nur, wenn sie mit Religion und Philo- sophie übereinstimmen, was beides den Longobardischen und Sa- lischen Gesetzen abgehen soll. Tyrannische Gesetze darf man brechen, Tyrannen morden, gerade wie man Krankheiten, die ja auch von Gott zugelassen oder angeordnet sind, doch vertreibt. Trotz aller Uebelstände, welche die Ehe, sowol wo Scheidung möglich als wo sie unmöglich ist , mit sich führt , ist sie doch für den Staat noth wendig. Darum soll, bei Strafe, Jeder heirathen und die strengsten Gesetze die Heiligkeit der Ehe schützen. Noch wichtiger ist für den Staat die Religion, deren Bedeutung Mac- clnnveHi. den Cardnnus überhaupt oft tadelt (s. u. A. de arcan. aet. WW. X, p. 29), ganz verkannt haben soll. Heer, Rehgion und Wissenschaft werden als die wichtigsten Stücke im Staate bezeichnet, dabei aber die ReUgion nur als Stütze des Staats be- trachtet. Da der Staat nur als Einheit stark ist, so darf geist- liche und weltliche Macht nicht getrennt werden; der Staat soll darüber w^achen, dass die Dogmen von Gott und einstiger Ver-

11. Die Weltweiseu. B. Naturphilosoiihen Telesius. §. 243, 1. 7. 533

geltuiig, welche den Bürger zur Treue, den Soldaten zur Tapfer- keit bringen, unerschüttert bleiben, dass die kirchlichen Handlun- gen feierlich und ernst vollzogen werden. Drakonische Strenge zeichnet dabei den Staat aus, dessen Grundriss Cardamis in sei- nem Fragment und auch sonst, entwirft. Die Frage, ob Verbre- cher zu, der Wissenschaft förderlichen, Vivisectionen zu verur- theilen seyen, wird nicht unbedingt von ihm verneint. Seinem Wahlspruch: Veritas omnibus aiiiepoiiendd nefjiie Impiiim diixe- rim prnpter illani adver s(tri legibus, ist er stets treu geblieben, namentlich wo es sich um die Wissenschaft handelt, die er neben der Mathematik und Regierungskunst am Höchsten, ja manchmal über jene beiden, stellt, die Medicin (de subt. WW. HI, p. 633).

§. 243. Telesius.

1. Bernardlnvs Telesius, im J. 1508 in Consenza im Neapo- litanischen geboren, zuerst von seinem Oheim unterrichtet, dann in Rom, seit 1528 in Padua, in Philosophie und Mathematik 'ge- bildet, begab sich, nachdem er 1535 Doctor geworden war, nach Rom, wo er sich ganz auf naturwissenschaftliche Studien warf, die ihn immer mehr zu einem Gegner des Aristoteles machten. Häusliche Verhältnisse unterbrachen diese Beschäftigung, zu der er nach Jahren mit verdoppeltem Eifer zurückkehrte, und deren Früchte er in seiner Schrift de natura rerum juxta propria prin- cipia im J. 1565 der Welt vorlegte, zuerst in zwei, in der dritten Auflage aber, die kurz vor seinem Tode, im J. 1596, erschien, in neun Büchern, von denen die vier ersten das frühere Werk, die fünf übrigen hinzugekommen sind. Gleich nach dem ersten Er- scheinen dieser Schrift ward er nach Xeapel gerufen, wo er, theils als Lehrer, theils als Gründer und Haupt einer gelehrten (der Consentinischen) Gesellschaft bis in sein achtzigstes Jahr thätig blieb. Im J. 1588 ist er in seiner Vaterstadt gestorben. Ausser dem erwähnten Werke, dessen zweite unveränderte Auflage in Neapel 1570 in 4'', und das in neun Büchern 1586 in Neapel apud Horatium Salvianum in Fol. erschien, sind nach seinem Tode von seinem Freunde Ant. Pcrsius herausgegeben : Varii de naturalibus rebus libelli Venet. ap. Fei. Valgrisium 1590 Fol., worunter sich auch die gegen Galen gerichtete Schrift über die Seele findet, wie- gen der seine Werke später in den Index gekommen sind. Aus- serdem Abhandlungen über Cometen , Lufterscheinungen , Regen- bogen, das Meer, das Athmen, die Farben und den Schlaf.

2. Obgleich Telesius den Cardanus nie erwähnt, und es also

534 Mittelalterliche Philosophie Dritte Periode (Uebergang).

nicht durch seine eigne Erklärung bewiesen werden kann, dass er von ihm angeregt wurde, so darf seine Lehre doch als ein Fortschritt der des Anderen bezeichnet werden. Wie Jener, so spricht auch er es aus , dass er nur aut Wahrnehmungen sich ver- lassen , nur der stets sich gleich bleibenden Natur nachgehen wolle (de rer. iiat. Lib. I prooem.), um zu erzählen wie sie wirkt, und dann zu zeigen wie alle Erscheinungen am Einfachsten erklart werden können. Erst in der letzten Ausgabe seines Werks hat er hinzugefügt: Alles was der katholischen Lehre widerspreche, nehme er, v^eil gegen sie auch .sfv.sirs H ralln zurückstehen müs- sen, zurück. Durch diese, ohne Zweifel ehrlich gemeinte, Erklä- rung hat er sich mit der Theologie abgefunden, kaum dass er weiterliin der theologischen Ansichten nur erwähnt. Erscheint da- rum die Philosophie bei ihm als reine, nicht mehr wie bei Para- cr.'sifs als religiös -mystische, Weltweisheit, so unterscheidet er sich vom Canlnvns dadurch, dr.ss er viel weniger aus Büchern als aus eignen Beobachtungen, oder, wenn aus jenen, doch mit mehr Besonnenheit, geschöpft hat. Daher lange nicht solche Phan- tastereien wie dort: an die Stelle geheimnissvoller Antipathien und Sympathien tnten hier einige wenige, an unveränderliche Gesetze gebundene, Naturkrafte. Durch eine solche Betrachtung der Welt glaubt Tfirsirs Gott mehr zu ehren, als wenn er, wie die Peri- patetiker mit Gott gleichsam wetteifernd , anstatt der von Ihm ge- schaffenen Welt eine selbst ersonnene construiren wollte. Eben so ist die Reduction auf sehr wenige einfache Principien anstatt der complicirten Annahmen der Peripatetiker, Nichts was der Ehre Gottes Abbruch thut. Ist Gott alhnächtig, so kann er auch ge- wissen von ihm erschatfenen Principien die Kraft geben , ohne sein weiteres Eingieifen, das Uebrige zu thun. Diese von ihm aufge- stellten Principien allein, nicht die durch das ganze W^erk gehende Bekämpfung der Aristotehker, liat die Darstellung zu beachten. 3. Die erste Thatsache, die Jedem aufstösst, und die auch von der h. Schrift als sogleich mit der Schöpfung gegeben aner- kannt wird, ist der Gegensatz des Himmels mit seinen Wärme ausstrahlenden Gestirnen und der von ihm umkreisten Erde, die, wie Jeder nach Sonnenuntergang wahrnimmt, Kälte ausstrahlt. Eine weitere Thatsache ist, dass, von der Sonne angeregt, die Erde allerlei Wesen hervorbringt. Wenn die Peripatetiker rlurch ihren aus der Bewegung abgeleiteten Doppelgegensatz des Kalten und Warmen, Trocknen und Feucliten, Alles zu erklären versu- chen , so machen sie erstlich das Abzuleitende zum Ersten , häufen zweitens ganz unnütz die Annahmen, und können drittens nicht

II. Die Weltweiseii. B Naturphilosophen. Telesius. §. 243, 3. 4. 535

einmal die Tliatsachen erklären. Dem Allen entgeht man, wenn als die zuerst (eigentlich allein wirklich) geschaffenen Principien der Dinge drei angenommen werden : die passive ganz eigenschafts- lose körperliche Masse, und die beiden activen auf sie einwirken- den Principien Kälte und Wärme, die, weil sie sich selbst zu er- halten suchen, einander aber hassen, auch unkörperlich sind, Gei- ster (spliitii.s) genannt werden können. Die Wärme ist das Princip der Bewegung, und nicht ihre Folge; durch sie wird Alles aufge- lockert, verdünnt und also ausgedehnt. Zu ihrer Erscheinungs- form hat sie das, überall mit Wärme begleitete, ja fast mit ihr zusammenfallende Licht. Ihr entgegengesetzt ist die Kälte, das Princip der Erstarrung und Bewegiingslosigkeit , die , Eins mit dem Dunkel oder der Schwärze , darauf ausgeht Alles zusammenzuziehn und zu verdichten. Durch die weise Einrichtung, dass der käl- teste Theil der Masse in den Mittelpunkt gesetzt, der wärmste um ihn herumgelegt ward, und nun, da Wärme bewegt, sich um jenen herumbewegt, ist dies erreicht, dass in dem Kampfe beider Principien nie das Eine vernichtet, ja im Ganzen genommen nicht einmal vermindert wird. In dem Umgebenden, dem Himmel, con- centrirt sich nun Licht und Wärme am Meisten in der Sonne, in geringerem Grade in den übrigen Sternen. Sie alle sind feuriger Natur, daher ausserordentlich dünn, und dienen dazu durch Schmel- zen der Erde Wasser, den Schweiss der Erde, hervorzubringen, wie andrerseits die Luft verdichtetes oder erkältetes Himmelsfeuer ist. Die Einwendung , dass die Wärme doch oft , z. B. beim Aus- trocknen, verdichte, wird sehr einfach und siegreich widerlegt, und dann gezeigt, wie mannigfaltig sich die Erscheinungen der Erwärmung und Erkältung gestalten müssen, wenn die Structur der Körper keine gleichartige ist u. s. w. Da Wärme und Licht (Weisse), Kälte und Dunkel (Schwärze) zusammenfielen, so wird bei der Betrachtung der Mittelproducte immer auch auf die Far- ben Rücksicht genommen, über die Telesius einen eignen Tractat geschrieben hat.

4. Das bisher Entwickelte findet sich Alles schon in der er- sten Auflage, also in der dritten in den ersten vier Büchern. Mit dem fünften geht Telesius zu den Pflanzen und Thieren über. Ein aus ganz verschiedenartigen Theilen zusammengesetztes Gan- zes kann nur durch eine Seele, deren Werkzeug also der Leib ist, zusammengehalten werden. Wenn aber die Peripatetiker diese Seele zu einer immateriellen Form machen , so verwickeln sie sich in Schwierigkeiten, denen man entgeht, wenn man die Seele als eine sehr feine Substanz fasst , deren Natur in der Wärme besteht,

536 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

die also Princip der Bewegung ist, und bei Thieren und Menschen ihren Sitz im Blut und in den Nerven, darum vor Allem im Ge- hirne hat, in dessen Ventrikel sich die Ganzheit (vnlrcrsitas) die- ses feinen spirihis findet , und wohin er sich von Zeit zu Zeit ganz zurückzieht. Er entsteht mit der Zeugung, deren Theorie im sechsten Buch betrachtet wird, bethätigt sich in den Sinnen, welche das siebente Buch abhandelt, in welchem auch gezeigt wird, wie eine Menge von Erscheinungen im lebendigen Organis- mus durch Contraction und Expansion (z. B. der Blutgefässe) er- klärt werden können. (Wer, bei der fast wörthchen Uebereinstim- mung in der Beschreibung der Blutbewegung zwischen Tcleshis und Cäsiilplv , der Gebende, wer der Entlehnende gewesen,* ist schwer zu entscheiden. Beide streifen ganz nahe an IJurreifs epochemachende Entdeckung.) Die, an die Wahrnehmung sich anschliessenden, übrigen Functionen des Geistes werden im ach- ten Buche stets auf sie zurückgeführt: selbst die Geometrie be- dürfe der Erfahrung, es gebe keinen reinen Verstand, der unab- hängig von der Wahrnehmung u. s. w. Denken und Urtheilen als Wirkungen der empfindenden Substanz kommen auch dem Thier zu. Wie aber der Geist des Menschen feuriger und feiner ist, als der des Tliiers , so übertrifft an Feuer und Feinheit auch ein Men- schengeist den anderen, was mit Klima, Lebensweise, Nahrung u. dgl. zusammenhängt. Dies gilt vom Theoretischen wie vom Praktischen, da alles Wollen eine Folge des Denkens, indem man nur will was man als gut erkennt. Das neunte Buch, welches die Tugenden und Laster betrachtet, stellt in fortwährender Po- lemik gegen Aristoleles als höchstes Gut und Ziel alles Handelns die Selbsterhaltung hin, und sucht zu zeigen, dass die Haupttu- genden (Sapieitiin . Solert'id . ForlHtido, Bevigniins) nur Bethäti- gungen des Triebes sich zu erhalten sind, nur darin unterschie- den , dass stets verschiedene Seiten des Selbsts (sein Wissen, seine Bedürfnisse, gefundner Widerstand, Verkehr mit Anderen) ins Spiel kommen.

5. Ganz wie PnrncelsKs und Cnrdaims sieht auch Telesbrs in dem Menschen ausser dem vollkommensten Thier ein darüber Hinausgehendes. Dazu wird er, indem zu dem belebten Leibe die von Gott geschaffene unsterbliche Seele tritt; diese ist wirk- lich eine immaterielle Form, nicht aber nur des Leibes, sondern seiner und des Geistes, so dass beide ihr Werkzeug sind. Ihr kommt Gottähnlichkeit und Gotteserkenntniss zu. Ob sonst noch Etwas, ist schwer zu entscheiden, da Telesivs nur sehr selten von dieser ,j,jorma super addilu'' spricht, und da Imngbiaiio,

n. Die Weltweiseu. B. Natiirphilosophen, Patritins. §. 244, 1. 037

Memnrhi, RaUochudio , ja die Tugenden, dem spiritns zugeschrie- ben , auch den Thieren nicht absohit abgesprochen wurden. Viel- leicht war ihm das Leben der unsterblichen Seele eben nur Glau- bensleben.

§. 244. P a t r i t i u s. 1. Francesco Patrizzi , im J. 1529 zu Clissa in Dalmatien geboren, früh sehr gut unterrichtet, ward schon in seinem neun- ten Jahre in Verhältnisse hineingezogen, von denen er später klagt, dass sie nur Anderen, nicht ihm, am Wenigsten seiner wissenschaftlichen Ausbildung genützt hätten. Erst im J. 1546, wo er als Begleiter des Zacf/mins Macciiiyo in Venedig, so wie später in Padua, Vorlesungen über Aristoteles hörte, beginnt seine eigentliche Studienzeit. Schon während derselben ward, wenig- stens theilweis, das erste Buch seiner Discussiones Peripateticae geschrieben, welches Untersuchungen über das Leben und die Schriften des Aristoteles enthält. Auch eine Rhetorik hat er in dieser Zeit verfasst , die aber erst später ( Venet. 1562. 4.) erschie- nen ist. Eine Reise nach Spanien, auf der er seine mit früh er- wachtem Eifer gesammelten Bücher einbüsste, unterbrach für eine Zeit lang seine Studien. Zurückgekehrt vollendete er den ersten Theil der Disc. Perip. , veröflfentlichte ihn aber erst im J. 1571. Hin und her geworfen erhielt er endlich eine Professur der pla- tonischen Philosophie in Ferrara, die er vom J. 1576 bis 1590 be- kleidete. In dieser Zeit vollendete er die drei übrigen Bücher seiner Disc. Perip., in welchen sich sein Hass gegen den Aristo- teles, den er in Padua, dem Sitz des Averroistischen Aristotelis- mus, eingesogen, dann durch Beschäftigung mit den Neuplatoni- kern und manchen Neuem, z. B. Telesius. genährt hatte, noch viel mehr ausspricht als im ersten Theil. Das Werk erschien zuerst in Basel (ad Pernaeum Lecythum 1581. Fol.). Bald darauf gab er in lateinischer Uebersetzung den Commentar deS Jo. Phl- lopovus zu Aristoteles' Metaphysik, und gleichzeitig in italiäni- scher Sprache eine Abhandlung über die Kriegskunst der Alten heraus. Auch die 1586 erschienene Poetik, in der er gegen T. Tasso polemisirt , ist italiänisch geschrieben , so wie sein Versuch die Methode der Geometrie ganz umzugestalten. Endlich wurde in dieser Zeit, am 5. Aug. 1589, seine Nova de universis philo- sophia vollendet, deren erste Ausgabe 1591 in Rom erschienen seyn soll. Die hier benutzte zeigt auf ihrem Haupttitel die Firma: Venet. excud. Robertus Meiettus 1593 (Fol.), dagegen auf den Titel-

538 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

blättern der einzelnen Äbtheilungen liest man: Ferrariae ex typo- graphia Benedicti Mammorelli. Dieselbe enthält ausserdem die Zo- roaster'schen Orakelsprüche, die gesammelten Schriften des Her- mes Trisnieghlns, den Aahlepins, die Mystica Aegyptiorum, und eine Abhandlung über die Reihenfolge der Platonischen Dialoge. Ein, wie es scheint, sehr lange gehegter Wunsch des Patriiiiis ging durch seine Berufung nach Rom in Erfüllung. Hier wurde sein, von vielen Späteren ausgebeutetes "Werk Paralleli militari verfasst, das aber erst nach seinem, am. 6. Fbr. 1593 erfolgten, Tode herauskam.

2. Die dringende, von Pairiluis an Gregor XIV gerichtete, Bitte, dafür Sorge zu tragen, dass statt des Glaubensfeindes .-^r/- slfjleles, den erst seit vierhundert Jahren die Scholastiker in die Schulen eingeschwärzt, die, schon von den Kirchenvätern geprie- senen Platoniker gelesen würden, könnte versuchen, ihn ganz zu ISlursUiiis und Piro zu stellen. Das Werk aber, das, obgleich es viel weniger Wirkung gehabt hat als sein kritisches, doch von ihm selbst als sein Hauptwei'k angesehn wurde, die Nova philo- sophia, beweist, dass er ein Mann ist, der nicht nur an der Hand der Alten, sondern unabhängig von ihnen gleich ihnen zu philo- sophiren versucht hat. Weil der Gegenstand der Philosophie das All ist, und weil in der Untersuchung sich zeigt, dass das All der Abglanz eines Urlichtes , dass es in einem Einzigen begründet und von ihm beherrscht, dass es beseelt, endlich dass es eine in sich geschlossene Ordnung ist, deswegen gibt der für das Grie- chische begeisterte Mann den vier Tiieilen, in welchen diese vier Punkte durchgeführt werden, die Ueberschriften : Panaugia, Pa- narchia, Pampsychia, Pancosmia.

3. In den zehn Büchern des ersten Theils (Fol. 1 23), dem er den, dem Piilo abgeborgten, Namen Panaugia gibt, den er selbst mit onntifnrenfia übersetzt, entwickelt er seine Theorie des Lichts. Wie Telesvis, so stellt auch er demselben die Finsterniss nicht als Abwesenheit, sondern als contrarutm positintm von prt- vdilvjim entgegen , und lässt darum der abnehmenden Eraanations- reihe lux, radi'i, I innen, sp.'cndor , n'üor als Correlat gi^^genüber- stehn Corpus opacum , fenehrae, obscif ratio, nmbra , mnbratio. Nachdem er das Licht als ein Mittleres zwischen Materie und Form, als substanzielle Form, bestimmt hat, geht er nach einer Betrachtung des irdischen (hyUschen) Lichtes zu dem ätherischen über, und bestimmt mit Tefesiits den Himmel als warm oder feu- rig und also leuchtend, so wie die Sonne und die Sterne als Con- centrationen dieses Himmelsfeuers. Ihr Licht verbreitet sich über

n. Die Weltweisen B. Naturphilosoplien. Patritius. §. 244, 3. 4. 539

die Grenzen der Welt hinaus und erfüllt den unendlichen, die Welt umgebenden Raum, das Empyreum, in dem es keine Dinge gibt, wohl aber Geister. Nach diesem, dem himmlischen, Lichte wird das unkörperliche betrachtet, wie es sich in den Seelen der Pflanzen, 1 liiere und Menschen manifestirt , und mit einer Betrach- tung des Vaters alles, körperlichen sowol als unkörperlichen, Lich- tes geschlossen, so dass, mit steter Erinnerung -an christliche, hellenistische und neuplatonische Weisheit, das dreieinige Urlicht zum Quell alles Lichtes gemacht wird. Ob nun dieser Vater alles Lichtes auch der Ursprung und das Princip aller übrigen Dinge ist, dies soll in den zwei und zwanzig Büchern der Panarchia, des zweiten Theils (Fol. 1 48), untersucht werden. Hier wird zuerst gezeigt, dass das oberste Princip als All -Eines (Lhiomv'id) zu fassen sey, dass aus ihm als Zweites das hervorgehe, in wel- chem Alles nicht mehr iudisvrcte zu denken sey, so dass es zu dem Ersten als dem Einen (mnim) sich als Einheit (imUns) ver- halte, dass endlich beide durch Liebe wieder Eins seyen, worin Zoroaster, Platoniker und Christen übereinstimmen. Das oberste Princip ist daher nicht mit den Aristotelikern als sich , und zwar nur sich, denkende mcvs zu fassen, sondern als ein Höheres, aus dem erst die vievy. ja eine doppelte, die erste (opi/r.r) und zweite, hervorgeht. Anstatt mens pi inm sagt er auch manchmal in wört- licher Uebereinstimraung mit Pro/. /es: vitn. Der Stufenfolge des Höchsten, des Lebens und des Geistes, entspricht die ihrer Fun- ctionen, die oft als snpienfin, ivte/Zrc/io und iiUe//eclvs bezeich- net werden. Dass sie den kirchUchen Begriffen Vater, Sohn und Geist entsprechen sollen, versteht sich. (Es kommt indess auch vor, dass die Drei- durch die Vierzahl verdrängt wird, und (Jni- 1(1 s, cssntdft, ritn , iiiic/icrtiis als oberste Principien genannt wer- den.» Aus dem letzten Princip, dem Geist oder der nmis svcitvda, gehen dann weiter hervor: die Intelligenzen, in deren Hierarchie die drei Ordnungen den drei Principien entspiechen, unter diesen die Seelen, weiter die Katuren, dann die Qualitäten, Formen, end- lich zuletzt die Körper. Dabei wird stets der Grundsatz aller Emanationslehren eingeprägt (vgl. oben §. 128, 2), dass jede Pro- duction auf Niedrigeres, nicht Höheres, gerichtet sey.

4. Der dritte Theil, die Panipsychia in fünf Büchern (Fol. 49 59), bestimmt den Begriff der Seele (tivtmvs, da das Wort avimii f !r die menschliche Seele aufgespart wird) als Mittleres zwischen dem Körperlichen oder Passiven, und dem Activen, also Unkörperlichen. Ohne ein solcl.es Mittleres könnten jene gar nicht auf einander einwirken. Die Lclire von der Weltseele wird vor-

540 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Perlode (Uebergang).

theidigt, und geleugnet, dass es eine absolut unvernünftige Seele gebe. Am Wenigsten dürfe die thierische so angesehn werdeil. Am Ausführliclisten ist von Piitriüns der vierte Theil seines Sy- stems behandelt, die Pancosmia, in zwei und dreissig Büchern (Fol. 61 153), welche die Lehre von den einzelnen Dingen ent- halten. Als Bedingung aller materiellen Existenz muss der Raum das erste Element aller Dinge genannt werden. Zu ihm kommt das ihn erfüllende Licht und weiter die dasselbe stets begleitende Wärme. Endlich das vierte Element ist das Flüssige (fhior, ßui- (Jnm) , das Einige wohl auch das Feuchte , Andere Wasser genannt haben. Alle vier zusammen geben den einen Körper, dessen ins Unendliche sich ausdehnende äussere Region der Feuerhimmel ge- nannt wird, an den sich nach dem Centrum zu der Himmel an- schliesst, dem die Regionen des Aethers und der Luft folgen, so dass diese Worte nur locale Unterschiede in dem einen Conti- nuum bezeichnen. Die Sterne, Concentrationen des Lichts und der Wärme, sind ewige Flammen, die an dem Fluor ihren Nah- rungsstoff haben, und selbst leuchten, obgleich das hinzugetretene Sonnenlicht ihre Leuchtkraft steigert. Wie die Sonne von den übrigen Sternen zu trennen, namentlich nicht zu den Planeten zu rechnen ist, so auch der Mond nicht, dieser erdartige und (we- nigstens zum Theil) dunkle Körper. Wie Palrituis durch Leug- nung der bisher festgehaltenen Vielheit der Himmel den Bau des Weltgebäudes vereinfacht, so auch die Bahnen der Himmelskör- per , indem er der Erde Bewegung zuschreibt. FreiUch straft sich, dass er dem Copernikus nicht ganz folgt, so, dass er, um mit den Erscheinungen in Einklang zu bleiben. Vieles auf ganz will- kührliche Bewegung der Planeten zurückführen muss. Woraus die Sterne bestehn, das theilen sie mit; eine Einwirkung der Sterne auf die Erde ist daher ganz nothweudig. Vielleicht aber bilden Sonne und Mond dabei die Vermittler, so dass jene Licht und Wärme, dieser die Flüssig- und Feuchtigkeit der übrigen Sterne, neben der eignen der Erde zukommen lassen. Was nun die Erde selbst betriift, so polemisirt Ptitriüns in einer Weise, die mehr an den, von ihm nicht erwähnten, Cardanns erinnert, als an Telesins, den er sehr oft lobt, gegen die Peripatetische Ableitung der vier Elemente. Das Feuer ist ganz auszuschliessen und bei den drei übrig bleibenden nie zu vergessen, dass sie aus den vier oben angeführten eigentlichen (primarhi) Elementen zu- sammengesetzt sind. Auf die Particularkörper geht Pairitius nicht weiter ein. Ihm genügt, die integrirenden Haupttheile des Welt- ganzen angegeben zu haben.

n. Die Weltweisen. B. Naturphilosophen §. 245. 541

§. 245. So ehrlich es auch gemeint war, wenn Cardanus, Telesins und Pdtritiifs ihre Anhänglichkeit an die römisch-katholische Kirche und Unterwerfung unter ihr Urtheil erklärten , so hat dies sie doch nicht vor kirchlichen Censuren sicher gestellt. Die Kirche sah hier klarer als sie selbst: fortwährende Polemik gegen den, der einmal für die Stütze der recipirten Theologie galt, hätte höchstens dem vergeben werden können , welcher nachwies , dass aus den neuen Principien die wesentlichsten Dogmen eben so gut, oder leichter, abzuleiten seyen, als aus' den Lehren des Arisio- feles , gewiss aber nicht Solchen, welche diese Hauptlehren kaum erwähnen. Eine solche Stellung ist zu unentschieden ; sie ist so zweideutig wie sie nur bei Laien seyn kann, welche die Welt so gefangen hält, dass der Bedeutendste (Tc/eslus) sich sogar durch ein angebotenes Bisthum nicht dahin bringen lässt, auf Ehe und Famihenleben zu verzichten. Klarheit und Entschiedenheit in dies Yerhältniss zu bringen, wird dagegen Solchen nahe gelegt seyn, die zu dem stehenden Heere der sich vertheidigenden Kirche ge- hören. So wird sie denn auch gebracht durch zwei Mönche des- selben Ordens, welcher während der Blüthezeit der Scholastik in der Philosophie das grosse Wort geführt hatte, in dieser Periode dagegen fast verstummt war. Die beideh, sich durch Vaterland, Charakter und Schicksal so nahe stehenden Dominicaner Oinrpa- nclla und Bruno entscheiden, aber in ganz entgegengesetzter Weise. Den Ersteren bringen die neuen, von Telesins aufgefundenen Prin- cipien dahin, die Dogmen und die Verfassung der Kirche gegen alle Neurer zu vertheidigen, deswegen von allen Weltmächten die am Höchsten zu stellen, welche am Meisten als der Hort des Ka- tholicismus galt, endlich aber für das Papstthum mit weltlicher Herrschaft sich so zu begeistern, dass er eine entschiedne Vor- liebe für den Orden zeigt, der seit seiner Entstehung dies als seine Aufgabe ansah, es gegen seine Feinde zu vertheidigen. Den zweiten dagegen bringt die Begeisterung für die neuen Naturau- schauungen dahin, zuerst die Ketten des Ordens zu zerbrechen, dann den Krieg gegen Aristoteles auf die Kirche selbst auszu- dehnen, weiter die Rom am Meisten verhassten Personen und Orte, die englische Königin und Wittenberg, enthusiastisch zu preisen, endlich gegen die Jesuiten nur Hass zu empfinden und diesen Hass mit seinem Leben zu büssen. ^

542 . Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

§. 246. Campanella.

1. Thomas (ursprünglich Ginrmi Dnmeincn) Campniiella, am 5. Sspt. 1568 in Stylo in Calabrien geboren und schon in seinem 15'"' Jahre dem Dominicancrorden einverleibt, theils mit Poesie theils mit mittelalterlicher Logik und Physik beschäftigt, ward an dem Meister in beiden, dem Arislolvlps, irre, als ihn des Tele- slifs Schriften auf den Widerspruch zwischen dessen Lehre und der, die man in dem von Gott geschriebenen Codex Natur liest, aufmerksam gemacht hatten. Enthusiastisch ergreift er die neue Lehre, feierte in einem Gedicht ihren Urheber, vertheidigte sie ge- gen das Pugnaculuin des Aiilovivs Maria und suchte in seiner Schrift de sensu rerum und de investigatione rerum ihre Wahrheit und Uebereinstimmung mit den Lehren der ältesten Kirche darzu- thun. Während eines sechsjährigen Aufenthalts in Piom, Florenz, Venedig, Padua ruft die ungewöhnliche Gelehrsamkeit, so wie die schlagfertige Redegewandtheit tiberall Verwunderung aber auch mit Neid gemischtes Misstrauen hervor. Diesem verdankt er es, dass eine angefangene Metaphysik, der Anfang einer auf neunzehn Bücher angelegten Physiologie, ein Compendium derselben, eine Rhe- torik, eine Sclirift de Monarchia, eine andere de regimine ecclesiae ihm unter den Händen verschwinden und nach Jahren in dem Be- sitz der römischen Inquisition wieder gefunden werden. Im Jahre 1598 nach Neapel, dann nach Stylo zurückgekehrt, wird er, mit naturwissenschaftlichen, ethischen und poetischen Arbeiten beschäf- tigt, unter dem Vorvvande, gegen die spanische Herrschaft mit djn Türken conspirirt zu haben, eingekerkert. Dass gerade dieser Vor- wand gegen einen Mann gebraucht wurtlc, der während Ch'tnnis der Achte schon Papst war und PLiiipp der Zweite von Spanien noch regierte, seine Schrift de Monarchia hispanica schrieb (der Schluss ist freilich erst nach zehnjähriger Gefangenschaft geschrie- ben), ist eine merkwürdige Verhöhnung der Wahrheit. Sieben und zwanzig Jahre lang war er, in fünfzig verschiedenen Kerkern ein Gefangener, ward sieben Mal gefoltert, zuerst sehr streng ja grau- sam, (denn selbst Bücher versagte man ihm,) spater besser be- handelt. Im Gefängniss hat er viel geschrieben. Zu:^rst, weil es ihm an Büchern fehlte, nur italiänische Gedichte. Diese hat To- bias Allami, ein Deutscher, der als Instructor den sächsischen Edelmann von Biinatt begleitete, und Campn/tctla im Kerker ken- nen lernte, zuerst unter dem Titel Squilla septimontana herausge- geben. Derselbe Mann gab dann als Prodromus totius philosophiae

IL Die Weltweisen. B. Naturphilosophen. Campanella. §. 246, 1. 5iö

Cainpanellae das oben erwähnte Compendium Physiologiae heraus (Padua 1511; dann 1617 Frankf. bei Tanipdch). Eben so hat er die Schrift de sensu rerum, ferner im J. 1618 die Medicinalia, endlich im J. 1520 die Philosophia realis drucken lassen. Diese, so wie sehr viele andere Schriften, hatte CnnquinoUa , der, seit ihm wieder Bücher bewilligt waren, in der Stille des Gefängnisses, durch sein Riesengedächtniss unterstützt, zu einem der gelehrte- sten Männer geworden war, im Gefängniss verfasst, und nach sei- ner Art, Adi.niü mitgetheilt. Gegen Andere war er eben so ver- trauend; auf seine Kosten, denn von seiner früher schon begonne- nen Metaphysik sind zwei neue Redactionen ihm entwandt und erst in ihrer vierten Gestalt ist diese Biblia philosophorum, wie er sie stolz nennt, in seinem Todesjahr in Paris erschienen. Eine Theologie nach seinen Principien in neun und zwanzig Büchern, ein Buch gegen die Atheisten, seine Pliilosophia rationalis, meh- rere mathematischen Schriften, so wie seine Arbeiten über christ- liche Monarchie, sind alle im Gefängniss geschrieben. Endlich am 15. Mai 1526 schlug die Befreiungsstunde, und er ging nach Rom. Eine Vertheidigungsschrift, seine Schrift de gentilismo in philo- sophia non retinendo, die gegen Aiislnlr.les gerichtet ist, entstand hier, zugleich aber drohten neue Verfolgungen, denen er sich durch Flucht nach Paris entzog. Hier hat er sich mit hochstehenden Personen, namentlich aber mit Gelehrten befreuiidet. Unter An- deren mit dem gelehrten Bibliothekar Nanflaeits, an den sein: De libris propriis et recta ratioue studeudi syntagma gerichtet ist (Gedruckt Paris 164o). Hier ging er an eine Gesanimtausgabe aller seiner Schriften. Dieselbe sollte zehn Bände umfassen, und zwar iin 1^*^" die Philosophia rationalis, im 2'''" die Philosophia rea- lis, im S'*"" Philosophia practica, im 4'*"" Philosophia universalis s. Metaphysica, im 5"'" Theologica pro cunctis natiouibus, im 6*'=" Theologia practica, im 7'^*» Praxis politica, im 8"^" Arcana Astro- nomiae, im ü'*^^" Poemata, im 10'^" Miscellanea opuscula. Mit Cum- pane/ld's am 21. Mai 16i59 erfolgten Tode gerieth wohl das Unter- nehmen in Stocken. Wenigstens bezweifelt Mor/.o/ die Richtig- keit einer von ihm nachgesprochnen Notiz von den zehn Bänden. (Mir selbst ist bekannt: der erste Theil der Gesammtausgabe, auf dem Titel so bezeichnet, der die philosophia rationalis, d. h. die Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Poetik und Historiographie, enthält und in Paris 1638 in Quart apud Jo. du Bray erschien, und wieder der vierte Theil, gleichfalls auf dem Titelblatt als Operum meorum pars quarta bezeichnet, aber in Folio und zwar bei dem Italiäner M'//. Barrilij l(j3S erschienen. Er enthält die

544 Mittelalterliche Pliilosophie. Dritte Periode (Uebergang).

Metaphysica oder Philosophia universalis. Nach Bixner ist der zweite Band dieser Gesammtausgabe wieder bei einem andern Verleger erschienen, bei Dion. Houssaie 1637. Fol., wonach der zweite Band ein Jahr vor dem ersten erschienen wäre. Die Phi- losophia reahs, die er enthalten soll, kenne ich nur in der Quart- ausgabe von Tob. Adami . die 1623 in Frankfurt bei Tampnch erschienen ist, die für den dritten Band bestimmten Medicinalia nur in der Lyoner Qnartausgabe 1635 bei Oi/fin t^- P/d/giurrd^ die für denselben Band bestimmten Astrologica in der Frankfurter Quartausgabc von 163U, die Schriften Atheismus triumphatus, de non retinendo gent. und de praedestinatione, die der sechste Band enthalten sollte, in der Quartausgabe von dn Bray Paris 1636, die für den siebenten Band bestimmte Monarchia hispanica in einer Sedezausgabe Hardervici 1640, und itahänisch in Opere di Tora- maso Campanella. Torino Cugini Pomba e Comp. 1854. Voll. 2, endlich die Poesie filosofiche, die in den neunten Band kommen sollte, in der OreUischen Ausgabe Lugano 1834.)

2. Das Urtheil OuviKtnelln's über seine Vorgänger ist über Ciirdtmiis am Abfälligsten, derselbe wird fast nur erwähnt um ihn zu widerlegen und um ihm Vorliebe für phantastischen Aberglauben vorzuwerfen. Viel mehr Gewicht legt er auf Pinuicclsits. doch nur als Scheidekünstler, das Urtheil über die Paracelsisten : in opcra- üonihiis acuti, in jiidicio jcre ohtiisi (Met. II, p. 194) dehnt er wohl auch auf ihren Meister aus. Das Studium des Patritiiis räth er dringend an, und zwar nachdem das des Arisloleles voraus- gegangen, denn durch diesen Gegensatz werde die Wahrheit um so besser erkannt (de libr. propr. p. 46). Vornehmlich aber ist es Telcsiiis, den er bis in sein spätstes Alter als den ersten Philo- sophen gepriesen hat. Er muss es auch, denn seine Physik hat er sich so angeeignet, dass er selbst sagen kann, er selbst habe nur gezeigt, dass dieselbe den Lehren der Väter nicht widerspre- che (Monarch, hispan. XXVII, p. 265 u. a. a. 0.). Doch ist er kein bloss wiederholender Schüler, sondern geht in doppelter Weise über den Tclesins hinaus: einmal, indem er dessen Voraussetzun- gen begründet und dadurch der Physik ein festeres Fundament zu geben sucht, andrerseits indem er derselben eine, von Telesiits mehr angedeutete, Ergänzung gibt. Jenes geschieht in der Meta- physik, dieses in der Politik. Das Verhältniss beider zur Physik wird von ihm selbst ausführhch besprochen in dem Werk, das eben bestimmt war, im Umriss („per eucyclopaediam") von den Principien und Grundlagen aller Wissenschaften zu sprechen, eben seiner Metaphysik oder Philosophia universalis (so u. A. II, p. 4).

II. Die Weltweiseu. B. Naturphilosopheu. Campanella. §. 246, 2. 545

Der seit Ma.vumis Confessor (s. §. 146) fast vergessene Gedanke, dass Gott seine Oifenbarungen in zwei Büchern, der Welt und der Bibel, niedergeschrieben habe, war, seit Ixitymund von Sabnnde ihn wieder ins Gediichtniss gerufen hatte (§. 222, 3) sehr oft, na- mentlich von den Xaturpbilosophen dieser Periode wiederholt wor- den. Auch Campanclla lässt die alleinige Wahrheit, Gott, durch Hervorbringen von Werken und durch Dictiren von Worten zu uns sprechen , und so die Welt als codex virus und die h. Schrift als codex scriptiis entstehn. Was der letztere enthält, eignen wir uns durch den Glauben, was der erstere, durch die Wahrnehmung (sen- svs) an, sowol unsere eigne als auch fremde (p. 1 tf.). Durch die wissenschaftliche Bearbeitung des Geglaubten entsteht die göttliche Wissenschaft, die Theologie, durch die der Wahrnehmungen die menschliche Wissenschaft, die, weil der Mensch Gott gegenüber so klein ist, Mikrologie genannt werden kann, und zu der erste- ren im Magdverhältniss steht (V, p. 346), Wie die Quelle beider verschieden ist, so auch die Begründung in ihnen; für den Theo- logen sind Weissagungen und Wunder die Beglaubigung, Vernunft und Philosophie gelten nicht als Bew^eis mittel, höchstens als Zeu- gen. Anders in der Philosophie. Ihre Quelle ist auf Wahrneh- mung gegründete Kunde (lihtorine) , ihre Beweisgründe Vernunft und Erfahrung. Es ist daher ein logischer Fehler, wenn der Phy- siker sich auf Aussprüche der Bibel, der Theolog auf physikalische Gesetze bemft (Phil. rat. II, p. 425). Die Theologie des Campd- nella ist nun im Wesentlichen die des Thomas von Afpdno. Nur in der Freiheitslehre nähert er sich den Scotisten, wozu auch sein Zorn gegen Lntlier und Oilvlu, deren Erwählunglehre er nicht müde wird, dem Muhamedanismus gleichzustellen, beigetragen ha- ben mag. Was aber die Philosophie betrifft, so zerfällt sie, wenn man von den instrumentalen Wissenschaften absieht, die nicht mit Objecten des Wissens, sondern mit der Weise desselben sich be- schäftigen, wie die Logik und Mathematik, die nur Hülfswissen- schaften sind, in die PJa/osophia uaturulis und P/iil. moratis oder, wie sie wohl besser genannt würde, legalis, da die icf/islaturn, die Staatsleitung, darin der höchste Gegenstand ist. (Phil. univ. V, p. 347.) Sie beide zusammen geben was Cuwpanella Scientia (oder Plälosophia) retdis nennt im Gegensatz zu der Scientia ra tionalis oder insiriimentidis.

3. Die Kluft zwischen Theologie und Philosophie wird nun dadurch viel geringer, dass Campanella zwischen beiden eine mitt- lere Wissenschaft annimmt, die, wie das in der Natur der Sache liegt, allmählich zu einer über beiden stehenden, oder sie bfide

Erdruann , Gesch. d. Philos I. 35

546 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (üebergaug).

begründenden wird, dies ist die Metajjhysik, die sich uacli ihm zu allen Wissenschaften so verhält, wie die Poetik zu den Gedichten, die, selbst voraussetzungslos, Alles begründet, was für die ande- ren Wissenschaften die Voraussetzung bildet, und durch deren Ausbau er glaubt sagen zu dürfen: Omues scicntuis restaiiram (Epist. dedicat, zur Phil. univ.). Versteht man unter Principien Gründe des Seyns, so bilden den Inhalt der Metaphysik nicht nur die Principien, sondern die propriucipui (Urgründe) von Allem, da hier betrachtet werden soll, wodurch Alles nicht nur ist, son- dern auch sein Wesen hat {esseniiatir Phil. univ. 1, p. 78. II, p. 93). Um zu diesem zu gelangen, geht Cauipanellu wie früher Avyvstin (s. §. 144, 2) und wie später Üescartes (s. weiterhin §, 267, 1) von dem aus, was auch der äusserste Skepticismus nicht leugnen kann, von der Existenz des eignen Selbsts. Da sich Je- der als ein Seyendes, aber als ein beschränktes und endliches fin- det, Schranke aber und Endlichkeit eine Negation ist, so sind die Vorbedingungen oder priiuipia meines wie jedes anderen Seyns Ein und ISon-vns oder ISildl (I, p. 78). Dass das Ens^ welches alles Non-ens ausschliesst und also unendlich ist, existire, ist durch das blosse j actum bewiesen, dass ich es denke : ein so unbedeu- tender Theil der Welt, wie ich bin, kann doch unmöghch Grös- seres erfinden, als die Welt (p. 84). Retiectire ich nun weiter nicht nur darauf dass, sondern auch was ich bin, so finde ich, dass mein Wesen im pusse , coynoscere und velle besteht, alle drei sind beschränkt, d. h. mit ihrem Nichtseyn behaftet. Ich muss also, da der Grund mindestens enthalten muss, was das Be- gründete enthält, indem Niemand mehr geben kann als er hat, in das Etis und Non-cns Solches setzen, das im eminenten Sinne enthält, was beschränkt in meinem Können, Wissen und Wollen enthalten ist. Und so ergeben sich als Propriucipui oder Pri- muliUdes des Eiis: Puteiiliu, Supientia, Anior^ des Non-ens: Im- poteulia, lusipiciitia, fJisamor oder Odium (p. 78), welche letz- tere nur Grenzen, also nichts Positives, bezeichnen. Das Evs mit dem göttlichen Wesen, die drei Primalilates mit den drei Perso- nen gleich zu setzen, konnte Campauclld um so weniger Beden- ken tragen, als seit Abülurd (s. §. 161, 4) und Uiigo (s. §. 165, 3) die späteren Theologen gewohnt waren, wo sie die „relationes'- und die ,,appropriata'' in Gott besprechen, gerade so zusammen- zustellen.

4. Wenn dieses Wesen, das als unendlich nichts sich gegen- über hat, sondern Alles umfasst (VIII, p. 155), ja Alles ist (VII, p. 130), über im eminenten Sinne und darum über Allem ist, wenn

II. Die Weltweisei). B. Naturphilosophen. Campanella. § 246. 4. 547

dieses nicht dabei stehen bleibt, nur in sich selbst zu produciren, sondern, wofür kein andrer Grund angeführt werden kann als Ueberjfiuss an Liebe (VIII, p. 173), auch ausser sich hervorbrin- gen will, es aber ein logischer Widerspruch ist, dass ihm Unend- liches gegenüber stehe, so entsteht das EndUche, in welchem das Seyn von Gott ist, die Schranke davon, dass es Gott oder das Seyn nicht ganz, nur partiell, in sich hat. Man kann sagen, dass, was in einer solchen Participation sich an Seyn findet, ihr von Gott gegeben, was an Nichtseyn, ihr von Gott gelassen sey, als ein Ueberrest des Nichtseyns, aus dem Gott sie ins Seyn rief (VII, p. 138). Je näher ein solches Product der Gottheit steht, je weniger ist darin das Nichtseyn mächtig. Darum steht am Höchsten das ewige Urbild der Welt, der mniuhts arc/telypiis, wel- cher die unendlich vielen Welten befasst, die Gott hätte schaffen können (IX, p. 243). Das ganze dreizehnte Buch ist dieser urbild- lichen Welt, d. h. den Ideen, gewidmet. Wie bei dem ausstrah- lenden Lichte die vom Mittelpunkte entfernteren Lichtsphären im- mer dunkler werden, so macht sich auch hier bei den weiteren Productiouen Gottes, der Einfluss des noneiis immer mehr geltend. In das Gehaltenseyn durch die Macht Gottes oder die Nothwen- digkeit (nccr.ssifus) , durch seine Weisheit oder die Bestimmtheit (jntiim). endlich durch seine Liebe oder die Ordnung (liarmonin)^ mischt sich daher immer mehr coulinc/cnfia, casus und fortima als die, jenen drei correlaten, Einwirkungen des Nichts (VI. Prooem.), die weil sie nichts Reales, vom Ens nicht gewollt, sondern nur geduldet werden. Warum?, das ist nicht zu beantworten; höch- stens kann man sagen wozu, d. h. welchen Zweck Gott bei sol- cher Duldung hatte (VII, p. 138). Abwärts gehend von dem iimn- ihfs arvlietypiis ergibt sich als die nächste Participation an ihm, also als ein noch schwächerer Lichtkreis gleichsam, die Geister- welt (ninndas inrittalis. auch (Diijelicifs und mctaphiisiciis genannt), in welchen die ewigen Ideen Gottes, weil durch das nih'dnm de- terminirt, die nur äviternen Intelhgenzen geben. Unter diesen fin- den sich erstlich die bekannten neun Engelordnungen. Die unter- ste der (inmiiuk'wucs soll die Weltseele seyn. Zweitens gehören aber hierher auch die unsterblichen Menschenseelen, die mentes. Sie alle werden ausführlich im zwölften Buche der Phil. univ. be- sprochen. In weiterem Herabsteigen gelangt Onnpitnclla zu dein mitndns seiiipiterni/s oder inalf/etnaticiis. worunter der Raum zu verstehn ist, als die Möglichkeit aller körperlichen Gestaltung, mit der sich die Mathematik beschäftigt. Durchdrungen von der über ihm stehenden (Geister; Welt, participirt er an ihr, wie wieder

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548 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

an ihm der munrliis iemporaHs oder corporalls participirt. Aber auch diese Welt erscheint dem CampmieUa noch nicht als die un- terste, sondern er unterscheidet von ihr die, welche zu ihrer Exi- stenzweise nicht Raum und Zeit (lempits), sondern den bestimm- ten Ort und eben so bestimmten Zeitpunkt (ieinpestas) hat. Mim- diis sUiKills ist der Name, den er für diese Welt gewöhnUch braucht; ihm entspricht vielleicht am Besten, wenn wir Jetztwelt sagen. Das Verhältniss dieser Welten zu einander und eben so die Ein- flüsse der je drei Primalitäten auf sie hat Cantj/auelfd versucht in graphischen Schematen darzustellen, welche zeigen, dass, trotz vielfaltiger Polemik gegen Bnimundns Liülns , er sich durch des- sen Versuche doch hat beeinflussen lassen.

5. Betrachtet man die unterste (die Jetzt-) Welt, so ist, da Alles ein, wenn auch verunreinigtes, Abbild des Urwesens, in jedem Dinge jene Dreiheit vorhanden. Wenn Etwas nicht seyn könnte, sein Seyn nicht fühlte, d. h. wüsste, endlich es nicht wollte, so träte es nicht in Existenz und erhielte sich nicht darin, wäre also nicht. Darum gibt es Nichts, was nicht beseelt wäre. Der Durchführung dieses Gedankens und dem Nachweise, dass er mit dem Christenglauben nicht streite, ist die Schrift de sensu rerum gewidmet. Dies gilt schon vom Raum, diesem unvergänglichen und fast göttlichen (II, p, 279) Alles durchdringenden Behältniss aller Dinge, denn die Erscheinungen, die man auf den honor ra- ciä zurückführt, zeigen dass er nach Erfüllung strebt, also fühlt (VI, p. 41). Eben so gilt es von den beiden activen Priucipien, durch deren Einwirkung auf den Stoft' alle Dinge entstehen, der in der Sonne concentrirten, im Lichte sichtbar werdenden Wärme, und der von der Erde als ihrem Sitze ausstrahlenden Kälte: sie streben sich selbst zu erhalten und ihr Gegentheil zu vernichten, sie lieben also und hassen, d. h. sie empfinden (VI, p. 40). Nicht minder ist es wahr von der ganz passiven Materie, die durch ihr Beharren, durch das beschleunigte Fallen u. dgl. beweist, dass sie nichts Todtes ist. Daraus folgt nicht dass der Raum, die Wärme, die Materie Thiere seyen; auch die Pflanzen sind keine Thiere, und wer, der sie nach dem Regen erquickt sieht, wird zweifeln dass sie leben und empfinden? (p. 44.) (Höchstens könnte man sie unbewegte Thiere nennen, die die Wurzel zum Munde haben [Phil. real. p. 59].) Dass Alles empfindet, macht die überall sich zeigende Sympathie unter Gleichen, Antipathie unter Ungleichen, erklärlich, die sonst unbegreiflich wäre. Ganz wie bei Tefcshis, entsteht auch hier durch das Suchen des Gleichen und Hassen des Entgegengesetzten der Gegensatz der kalten Erde im Centro

II. Die Weltweisen. B. Natnrphilosophen. Campanella. §. 246, 5. 549

und des sie von allen Seiten angreifenden Himinels, in dem die Anhäufungen der leuchtenden Wärme zu der, am Mächtigsten wir- kenden, Sonne, und zu, theils wegen ihrer Entfernung, theils we- gen ihrer Xatur, minder wirksamen Fixsternen und Planeten wer- den. Eine wichtige Abweichung von Telcshis ist, dass Compa- nnl/n durch Gnlilcxs Untersuchungen dahin gebracht wird, die Planeten als erdartige Körper (.si/stemata) zu fassen, welche um die Sonne kreisen, die ihm ein blosses Feuer bleibt. Auch die Lehre von der Bewegung der Erde, sucht er in einer Schrift als dem Glauben ungefährlich darzuthun. Indess ist es ihm doch eine Art Herzenseiieichterung, als die Kirche sich gegen Galilei erklärt; er sieht darin eine Bestätigung seiner eignen Ansicht, nach wel- cher sich die Planeten um die Sonne als ihr cevtrum amoris be- wegen, diese aber, weil das mit der feurigen Natur streitet, nicht stille steht, sondern sich als um ihr cevirnm odll, um die Erde bewegt; mit den Planeten, die auf diese Weise zwei Centra haben. Noch sichtbarer ist dieses in Hass und Liebe sich bethätigende Bet^eeltseyn in den, aus jenen Principien hervorgehenden, durch ihr Zusammentreffen gebildeten und in sofern gemischten Wesen. So in den Thieren, in welchen ein freier und warmer Geist (spi- riti/s) durch die Wärme des Bluts mit einer kalten und trägen Körpermasse verbunden ist. Ihr Instinct ist nichts Andres als mit Nichtwissen gemischtes Wissen (VI, p. 45), ihr Selbsterhaltungs- trieb Liebe zum eignen Seyu. Dasselbe gilt natürlich von dem Men- schen, diesem omvivm mvndornm epilogns (IX, p. 249), der eine Verbindung des vollkommensten Thiers mit dem, unmittelbar von Gott ausgehenden Geist (miimus. inens) darstellt, von dem der Leib und der Lebensgeist regiert wird (Philos. real. p. 102. 164). Die Bekämpfung der Aristotehschen Anthropologie, die Untersu- chungen über die Körperlichkeit und den Sitz des spiriüis u. s. w. zeigen eine fast wörthche Uebereinstimmung mit Telesius und sind zu übergehen. Eigenthümlich ist ihm, wie er die Lehre vom Men- schen an die Grundwissenschaft anknüpft, und wie sie ihm die prak- tische Philosophie begründet. Sie wird ihm dadurch gewisser Maas- sen zur Brücke von der Metaphysik zur Ethik und Politik. Da das Können, Wissen und Wollen das Wesen des Menschen aus- macht, so geht natürlich keines derselben über sein Wesen hinaus, und wie ich nicht eigentlich die Dinge empfinde, sondern mein Angeregtseyn durch sie, so verlange ich auch nicht nach Speise, sondern nach meiner Sättigung, hebe nicht mein Eheweib, sondern mein Ehehchseyn u. s. w. Die Liebe keines Wesens geht darum über sich selbst hinaus; jeder liebt um seinetwillen, strebt nach

550 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang),

Erhaltung und Nahrung nur des eignen Selbsts (II, p. 173. VI, p. 77 u. a. a. 0.). Xur eine einzige Vusnahme muss hier statuirt werden. Die Liebe zu Gott ist nicht nur ein Accidens an der Selbstliebe, sondern in ihr vergisst der Mensch sich selbst, so dass man sagen kann, sie geht der Selbstliebe voraus, und der Mensch strebt nach der Erhaltung seiner selbst nur als einer Par- ticipation Gottes (II, p. 274). Die Liebe zu Gott ist bei dem Menschen, was bei allen anderen Wesen der Trieb ist, in den eig- nen Ursprung zurückzukehren, eine Tendenz die sich überall ne- ben dem Selbsterhaltungstriebe zeigt (u. A. II, p. 217. XV, p. 204). G. Dass Cdvipanelia in seiner praktischen Philosophie viel unabhängiger von Teles'uis erscheint als in seiner Physik, hat sei- nen Grund theils darin, dass von Anfang an sein Nachdenken sich mehr auf die Menschen- als auf die untermenschliche Welt gerich- tet hatte, theils darin, dass die historische Kunde, die ihm ja die Basis der philosophischen Erkenntniss war, so weit sie die Ply- sioloyicd betraf, im Gefängniss schwerer zu erlangen war, als die vom Menschen. Psychologische Erfahrungen kann man auch im Kerker, ethnologische Kenntnisse pflegt auch der nicht Eingeker- kerte durch Bücher zu erwerben. Mit Tvles'uis darin einverstan- den, dass die Forderung des eignen Daseyns das höchste Ziel des Handelns, definirt Oimjjiniella die Tugend (rirliis) als die Regel zur Erreichung jenes Ziels (Realis philos. II, p. 223). Er weicht aber vom Tclesuis nicht nur in der Systematik der Tugenden ab, sondern auch darin, dass er die Besiegung der Triebe als Maass- stab der Verdienstlichkeit einführt (Ebend. p. 225), wodurch er vom Tugend- mehr zum Pflicht -Begriff einlenkt. Mit dieser Abweichung geht die andere Hand in Hand, dass er mehr als Telcsins den Menschen nicht nur für sich, sondern für ein grösseres Ganzes, für den Staat, geboren seyn lässt. (Ebend. p. 227.) Wie der Mensch, so ist auch seine Erweiterung, der Staat, ein Abbild Gottes, und man kann ihn daher theils so betrachten, dass man vom ober- sten Wesen zu ihm herabsteigt und nun zusieht wie er demselben gleicht, theils wieder dass man zusieht, wie der einzelne Mensch zu jener Erweiterung kommt. Die erste (metaphysische) Betrach- tungsweise ist die in Campane//(i's Jugendschrift, Civitas solis, einem, wie er selbst sagt, das Original übertreflenden Gegenstück der Platonischen Republik, in welchem ein viel gereister Genuese seinem Gastfreunde von einem Staate erzählt, an dessen Spitze, mit dem Namen Sonne bezeichnet, ein Mctaphiisicus als Herrscher steht, dem die drei Repräsentanten der PotenlUt . Sapieiitut und des Amor zur Hand gehn, unter deren Aufsicht die Ehen ge-

II Die Weltweisen B Naturphilosophen. Campanella. §. 24S. 6. 551

schlössen, die Gerechtigkeit gehandhabt, die Gewerbe betrieben werden u. s. w. In seinen übrigen Werken schlägt CinupaiicUa den entgegengesetzten (empirischen) Weg von unten nach oben ein. Mit ArisUitclps (s. §. 89, 2) lässt er zuerst das Haus, aus den Hausständen die Gemeinde, aus Gemeinden die cirifas ent- stehn. Dann aber geht er weiter: Cirifafes vereinigen sich zur Prorinriri. Provinzen zum rrr/inim, Königreiche zum Jmpoiitm, Kaiserreiche zur MnnarrMn . worunter er Universal reich versteht, das, wie das Beispiel Roms zeigt, sogar in republikanischer Form existiren kann, obgleich ihm die monarchische mehr entspricht. Aber auch darüber steht eine höhere Macht, denn während die Mnvnrchia höchstens einen oder ein Paar Welttheile, und in die- sen nur die Leiber beherrschen kann, ist das Papstthum durch keine dieser Schranken gebunden, und ist also die wahre Univer- salherrschaft. Drei Punkte interessiren hier besonders. Einmal, wie weit die Maclit geht, die Onnpavclln dem Staat im Verhältniss zum Einzelnen einräumt? Bei allem Missbrauch, der im Interesse der Tyrannen mit der Formel getrieben worden sey, dass der ,,rn- lio sfddis''' Alles untergeordnet werden müsse, hält er sie doch für richtig. Das Wohl des Staates ist wirklich die höchste poli- tische Aufgabe (Pieal philos. p. 378). Von dreierlei hängt dies Wohl ab, von Gott, von Staatsklugheit ('prvdpiiüa) . die freilich etwas ganz Andres seyn soll als die nsiviia Mucvh'HtrellVs und von Glücksfällen (Occasio). Und wieder sind der Mitttel drei, wodurch dies Wohl gefördert wird : Ueben'edung (dnffita), Gewalt (MUilia) und Geld. Ueberall müssen sie sich vereinigen: der mit Gold beladeue Esel muss Soldaten hinter sich haben , welche die Zeit benutzen wo die Bestochenen ihr Geld zählen (Ebend. p. 387. 386. De mon. hisp. XXIY, p. 219). Die Gesetze, als die Regeln nach welchen das Wohl des Staates gefördert wird, sind also für das Ganze, was die Tugenden für den Einzelnen, und die Gesetz- gebungs- und Regierungskunst erfordert darum die höchste, ja eine fast göttliche, Weisheit (Reahs philos. II, p. 224. III, p. 381). Nie wird sie Einer üben der nicht versteht, sein Haus und sich selbst zu beherrschen, welches Beides man nur durch Gehorsam gegen Gott lernt. Ohne diesen wird der Herrscher, der ein Hirte seiner Untergebnen seyn soll, eine Geissei derselben (Ebend. III, p. 373). Schon der eigne Gehorsam gegen Gott, mehr noch die Rücksicht auf das Wohl des Staates, wird den gesetzgebenden Regenten dahin bringen, dem Entstehen und der Ausbreitung der Ketzerei entgegenzutreten. Da die Rehgion sich zum Staate ver- hält, wie der höhere Geist (mevs) im Menschen zu ihm selbst

552 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (üebergang).

(Ebend. p. 387), so muss in dem Staate nur eine einzige Religion gelten. Enthält nun gar die abweichende Religion Lehren, welche allen Staat unmöglich machen, wie der Calvinisraus, welcher lehrt dass Keiner an dem Schuld ist, was er thut, so ist es doppelt nothwendig, sie zu unterdrücken. Als wirksamstes Mittel dazu empfiehlt Qimpanefla, dass man den theologischen Grübeleien den Quell verstopfe, indem man anstatt des Studiums der grie- chischen und hebräischen Sprache, woraus die (eigentlich gram- matischen) Ketzereien zuerst in Deutschland, dann in Frankreich hervorgegangen seyen, auf den Schulen das Interesse auf Mathe- matik und Naturwissenschaften lenkt. Noch viel mehr Eigenthüm- liches zeigt ContpavcHa in dem Zweiten, was hier zu erwähnen ist, seinem Anpreisen der Universalmonarchie. Dass sie wün- schenswerth, das steht ihm fest; er untersucht daher nur, wie und wem sie möglich ist. Deutschland und Frankreich, welche sie früher wohl hätten gründen können, vermögen es jetzt nicht, wohl aber Spanien. Zwar hat man grosse Fehler begangen, in- dem man Lvihcr frei walten liess, und sich die deutsche Kaiser- krone entgehen liess, aber mit gehöriger Staatsklugheit, indem man die durch Lvllcr noch grösser gewordene Zersplitterung Deutschlands benutzte, das vereinigt mächtiger wäre als der Gross- türke, liesse sich das Verlorene wieder einholen. Heirathen der Herrscher und der Vornehmen mit Ausländerinnen, wodurch die Nationalunterschiede sich immer mehr verwischen, Schwächung der Vasallen, indem man sie unter einander zur Eifersucht reizt, und die Vornehmsten unter ihnen durch hohe Ehrenposten in frem- den Ländern unschädhch macht, gerechte Handhabung der Ge- setze und der Besteuerung, so dass sich der Glaube verbreitet, dass die Armen und Niedrigen bevorzugt werden, Sorge für die Schulen und vor Allem Freundschaft mit der Kirche, das sind die Rathschläge, welche in der Schrift de Mon. hisp. nicht nur im Allgemeinen, sondern mit steter Berücksichtigung der Weltlage ge- geben werden, mit der Campanella sehr vertraute Bekanntschaft zeigt. Einige Mal sagt er, dass er Genaueres, namenthch darü- ber, wie die Protestanten in Deutschland zu gewinnen seyen, für ein mündliches Gespräch mit dem König Philipp dem Zweiten sich vorbehalte. Nach seiner Freilassung haben angesehene Staatsmän- ner der verschiedensten Nationalität gern politische Gespräche mit ihm geführt. Wenn in diesen Lehren sich manche Berührungs- punkte mit Daiile (s, §. 208, 8) nachweisen Messen, so tritt dage- gen Campnvel/a in eine entschiedene und bewusste Differenz zu diesem in dem Dritten was hervorzuheben ist, in seiner Ansicht

n. Die Weltweiseu. B. Naturphilosophen. Bruno. §. 247, l. 553

vom Papstthum. Die weltliche Herrschaft desselben ist ihm einer der wesentlichsten Punkte. Die ganze Geschichte bestätige, dass Oberpriester ohne weltliche Macht zu Caplanen der weltlichen Für- sten werden, dass dagegen wo die wahre Religion mit der Predigt auch das Schwert handhabt, sie unwiderstehlich ist. Die beiden Schwerter, von denen C/risfns sagt, dass sie genügen, sind beide der Kirche übertragen. Wie darum die die Würde des Papstes nicht begreifen, welche das Concil über ihn, die Heerde über den Hirten, stellen, eben so wenig die, w^elche ihm die Macht bestrei- ten, widerspenstige Fürsten zu züchtigen. Auch hier bestätige die Geschichte, dass die scheinbar siegenden Concilien und Fürsten zuletzt den Päpsten unterlagen. Die Fürsten als ein Senat um den Papst versammelt, das ist Cdiupniiclla's Ideal. Begreiflich ist es darum, dass er gegen keinen Politiker einen solchen Grimm zeigt, wie gegen MdccIihn'cH (s. weiterhin §. 253). Des Florenti- ners so energisch durchgeführte (heidnische) Vergötterung des Na- tionalitätsprincips steht zu dem (katholischen) Universalismus des Calabresen, der immer auf Racenvermischung dringt, der Hass Je- nes gegen das Papstthum zu der Begeisterung dafür bei diesem in einem zu grellen Contrast, als dass man sich darüber wundern dürfte, dass der Letztere sich Jahre lang mit dem Plane herum- trug, gegen den Ersteren ein eignes Werk zu schreiben. Das hat er nicht gethan, wohl aber in allen seinen politischen Schriften nicht nur Mdcchidvellis Ziele als diabolisch, sondern auch die Mittel, die er anräth, als infernal verklagt. Wenn er dabei immer darauf pocht, dass man nicht gewissenloss sein solle in der Wahl derselben, so wird der Leser schwerlich, wie er selbst, vergessen, dass er selbst oft Rathschläge gibt, welche gar sehr an die Pra- xis erinnern, die man dem von ihm so hoch gestellten Jesuiter- orden (ob mit Recht oder Unrecht gehört nicht hierher) vorzuwer- fen pflegt.

§. 247.

Bruno.

Steffens Nachgelassene Schriften. Berlin 1846. p. 43 76. Chr. BaHholmess Jordano Bruno. Tom. I et II. Paris 1846. 47. F. J. Clemens Giordano Bruno und Nicolaus von Cusa , eine philosophische Ahliandlung. Bonn 1847. S. §. 2*24.

1. Giordano Bnmo ist, wahrscheinlich im J. 1550, obgleich Manche ihn bedeutend älter machen, in Nola nahe von Neapel als Kind einer guten Familie geboren , und sehr jung in den Domini- canerorden getreten. Seine Begeisterung für die Natur, die sich ihm auch in seiner glühenden Sinnlichkeit als seine Herrin an- kündigte, musste ihn mit einem Beruf in Conflict bringen, der im

554 Mittelalterliche 'Philosophie. Di-itte Periode (ITebergäng).

Namen der Gnade den steten Kampf gegen die Natur forderte. Wie früh er sich des inneren Zwiespalts bewusst wurde, ob dem- selben eine längere Zeit sdnvärmerischer Frömmigkeit vorausging, und ob die dem Papst Pinf; V zugeeignete Jugendschrift dell' arca Noe nicht nur den Titel, sondern auch den Geist mit der Schrift Hugo's (§. 165, 4) gemein hatte, ist nicht zu entscheiden. Die Beschäftigung mit, zum Theil leichtfertigen, Poesien, der En- thusiasmus, mit dem ihn die Entdeckungön des (hpcriiinis. so wie die Lehren des Tclesiiis und ihm nahe stehender Männer er- füllten , w^ar nicht geeignet ihn mit dem Ordenskleide auszusöhnen. Sein wachsender Widerwille dagegen erfüllt ihn mit immer grös- serem Hass gegen das, was in seinem Orden für Wissenschaft gilt, gegen den scholastischen Aristotelismus, und die Schriften so kirchlich gesinnter Männer wie Halm und LuH (§. 206) und Nl- colnus von Cvsa (§. 224) w^erden von ihm eifrig studirt nur um ihm neue Waffen zu schaffen gegen Arisfofc/rs und die kirchliche Theologie. Während solcher inneren Kämpfe und vielleicht auch äusserer Conflicte mit seinen Oberen ward wohl eine oder die an- dere der leidenschaftlichen Schriften, die er später drucken Hess, geschrieben oder doch entworfen. Durch Flucht entzieht er sich endlich dem unerträglich gewordenen Druck und beginnt ein Le- ben , das wohl dadurch so ruh - und rastlos wird , weil er nirgends, wenigstens für längere Zeit , Hörer fand , die für seine Lehren em- pfänglich waren , noch auch üljerall Buchdrucker , die bereit waren, dieselben der Nachwelt zugänglich zu machen. Beides fehlte am Meisten in Genf, wo er sich zuerst, im J. 1580, hinbegab, von wo aber die an Starrheit grenzende religiöse Strenge, die Beza's allbestimmender Einfiuss dort erhielt , ihn bald weiter trieb. Dann scheint er in Lyon und Toulouse sich längere Zeit aufgehalten zu haben, hat auch an letzterem Orte den vergeblichen Versuch ge- macht als Lehrer zu wirken. Glücklicher war er in Paris, wo bei seinem Erscheinen, 1582, sogar eine ordentliche Professur sein geworden wäre, wenn er sich zum Besuch der Messe verpflichtet hätte. Seine Vorlesungen betrafen nur die Lull'sche Kunst. Auch die in Paris gedruckten Sachen, mit Ausnahme des Candelajo, eines den Geiz , Aberglauben und Pedantismus verhöhnenden ita- liänischen Lustspiels, betreffen nur die ars mngjsa. Es sind: Can- tus Circaeus, Compendiosa architectura artis Lullii, und de um- bris idearum. Dass er die eigenthchen Interna seiner Lehre hier nicht öffentlich vortragen könne, sah er bald. Auch einen Drucker für sie fand er nicht, wenigstens Keinen, der so etwas in Frank- reich wagen wollte. Der Gunst des König Jlcivrichs lU und an-

II. Die Weltweisen. B Naturphilosophen Bruno. §. 247, 1. 555

drei" hoher Gönner dankt er es wohl, dass, als er im folgenden Jahre nach England ging, das Haus des französischen Gesandten Mmirissler ihn aufnahm. Neben diesem gehörte P/iil. Sidney zu seinen Gönnern. Selbst die Königin Elisabeth scheint ihm wohl gewollt zu haben. Als daher seine Vorlesungen in Oxford über Unsterblichkeit und das Copernicanische System bald inhibirt wur- den, zog er es vor in London im engen Freundeskreise zu leben; es gab ihm das zugleich Gelegenheit, durch den gelehi-ten Buch- drucker Vdufrollicr, der gleichzeitig mit ihm von Frankreich her- übergekommen war, der Welt endlich die eigentlichen arcava seiner Lehre vorzulegen. Es geschah dies in den italiänischen Schriften La cena delle ceneri, della causa principio ed uno, del infinito universo e mondi, Spaccio della bestia trionfante, Cabala del ca- vallo Pegaso , degli eroici furori. Die Explicatio triginta sigllloram mit dem Anhange Sigillus sigillorum Avard gleichfalls in London veröffentlicht , betrifft aber wieder mehr die Methode seiner Lehre als sie selbst. Es muss charakteristisch genannt werden, dass die Schriften, die am Meisten Hass gegen die kirchliche Philoso- phie athmen , in der profanen Nationalsprache verfasst sind. War es nun, weil seine Gönner England verliessen, oder haben andere Gründe es veranlasst, genug im J. 1586 erscheint Bruno wieder in Paris, aber nur wie ein Durchreisender, der einer dreitägi- gen Disputation präsidirt, in der ein junger Franzose, Hcnne- (jitiv, Bnino\s Articuli de natura et mundo vertheidigt, die gegen die Aristotelische Physik aufgestellt wurden. In derselben Zeit wurde auch die Figuratio Aristotelici auditus physici gedruckt. Nun versucht er es mit Deutschland. In Marburg zurückgewiesen begiebt er sich nach Wittenberg. Trotz der von ihm rühmend an- erkannten Duldsamkeit , die er hier fand , hat er doch in den zwei Jahren, die er daselbst zubrachte, in Vorlesungen und Schriften nur Exoterisches, Rhetorik und Lullsche Kunst betreffendes, ans Licht treten lassen. Der Acrotismus, welcher seine Pariser The- sen und ihre Vertheidigung enthält , de lampade corabinatoria Lul- liana, de progressu et lampade Logicorum, -endlich die Oratio valedictoria sind in Wittenberg bis zum J. 1588 gedruckt, so wie das erst 1612 erschienene Artificium perorandi im J. 1587 in die Feder dictirt ward. Vielleicht glaubte er in Prag, wo er sich 1588 hinbegab, sich freier bewegen zu können. Er täuschte sich: nur de specierum scrutinio und articuli centum sex adversus Ma- thematicos hujus temporis konnten dort gedruckt werden. Bessere Aussichten eröffneten sich ihm als der Herzog Jidiiis von Braun- schweig ihn nach Helrastädt zog. Kaum hingekommen musste er

556 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

auf den Tod seines Gönners eine Oratio consolatoria halten, ge- rieth auch in Händel mit dem Prediger Boctinvs, der ihn öffent- lich excommunicirte, und wenn er gleich noch ein Jahr in Helm- städt blieb, so hat dies Alles ihm doch den Aufenthalt verleidet. Im J. 15yi findet man ihn in Frankfurt, wo ausser de imaginura signorum et idearum compositione, die drei lateinischen Lehrge- dichte nebst Anmerkungen gedruckt wurden , welche mit den zwei itahänischen della causa und delinfinito, für die gründliche Kennt- niss seiner Lehre die wichtigsten sind: De triplici minimo et men- sura, de Monade numero et figura, de Immenso et innumerabilibus s. de universo et mundis. Während ihres Drucks , wie sein Ver- leger, der dem Phil. Sidiiey befreundete Buchdrucker Wcchel in Frankfurt meldet, verlässt Brvno Frankfurt und Deutschland, scheint im Fluge Zürich berührt und dort die Summa terminorura metaphysicorum dictirt zu haben, die zuerst in Zürich 1595, spä- ter erweitert in Marburg 1612 erschienen sind. In demselben Jahre lebt und lehrt er in Padua. Dem immer näher kommenden Ungewitter sich zu entziehn, begiebt er sich nach Venedig. Ver- gebhch, denn wenn ihn auch die Venetianer nicht gleich auf die Aufforderung des Gross -Inquisitors nach Rom ausMefern, so hal- ten sie ihn doch gefangen und weichen endlich dem wiederholten Drängen. Im J. 1598 nach Rom gebracht, hat er fast zwei Jahre der Zumuthung des Widerrufs widerstanden und hat „als Ketzer und Häresiarch" am 17""" Fbr. mit dem erhabnen Worte den Feuer- tod erlitten: Euch selbst macht euer Urtheil mehr zittern als mich. Die Schriften des Bruno waren, weil in sehr kleiner Anzahl ge- druckt, sehr selten geworden, als Ad. Wagner die italiänischen herausgab: Opere di Giordano Bruno Nolano Vol. I et II. Lips. 1830. Als Ergänzung dazu sollten dienen: Jordani Bruni Nolani scripta quae latine confecit omnia ed. A. F. G/rörer. Stuttg. Lond. et Paris. 1834, die Ausgabe ist aber leider ins Stocken gerathen, so dass darin nicht nur die beiden akademischen Reden, sondern auch die drei wichtigsten Schriften, die in Frankfurt herausge- kommenen Lehrgedichte , fehlen. Dabei ist ohne jedes Princip von der chronologischen Reihenfolge abgewichen. Ausser diesen Wer- ken finden sich von Brinio selbst einige Schriften citirt. Unter anderen ein Liber triginta statuarum, von dem neuerlichst die Buchhandlung Tross in Paris bekannt macht, sie besitze ein 1591 in Padua geschriebenes MS. desselben. Ausserdem kündigt dieselbe Buchhandlung einige bis jetzt ungedruckt gebliebene Autographa Brniids an.

2. Wollte Jemand aus Bruno" s Schriften alle Sätze, die er

II. Die Weltweiseu.» B. Naturphilosophen, Bruno. §. 247, 2. 3. 557

früheren Schriftstellern entlehnt, als fremdes Eigenthum zusam- menstellen, so gäbe das einen reichen Yorrath. Er selbst spricht sich über diese Entlehnungen oft so aus, als wäre er eiu reiner Eklektiker (vgl. u. A. della causa p. 258. de. umbr. id. p. 299). Nur darin zeigt er sich anders als die Synkretisten , dass er sehr genau die Verdienste seiner Gewährsmänner unterscheidet und ab- wägt. Unter den Alten stellt er besonders hoch den Pyllmgorus: er tadelt den Pinto, dass er, um originell zu seyn, die Lehren desselben oft verschlechtert habe. Aristoteles und die Peripate- tiker werden oft citirt, aber fast nur um sie zu widerlegen; ihnen gegenüber nennt er sich selbst wohl einen Platoniker. Die Stoi- ker werden von ihm oft in Schutz genommen. Mehr noch die Epikureer; kaum Einer dient ihm so oft als Gewährsmann, als der, gleich ihm selbst, die Xatur vergötternde LucreUiis, Sowol auf orientalisirende Hellenen, als auf hellenisirende Orientalen (s. oben §. 110 114) nimmt er Rücksicht. Kühler äussert er sich über Albert und Thomas, noch kälter über Onus. Dass er den Ersten dieser Drei einmal weit über ^dfy/A/oft'/es stellt, ist erstlich in seinem Munde kein sehr grosses Lob, zweitens aber ward es auch gesagt, wo es sich darum handelte Deutschland zu preisen. Mit grosser Anerkennung spricht er von Halm und Lull , aber nur wegen seiner Methode, die ihm als eine wirklich göttliche Erfin- dung gilt. Ungemessen aber ist seine Ehrfurcht vor Xlcolaus COR Cusa (§. 224); an diesen lehnt er sich so an, dass er gera- dezu sein Schüler genannt werden kann. Sogar das, wodurch Copernicirs ihm so hoch steht , die Unendlichkeit des Raumes und die Bewegung der Erde, sieht er nicht als dessen, sondern als des Cusaners Entdeckungen an. Neben diesen wird stets mit Lob Telcsiiis erwähnt, und nicht nur in der Bekämpfung der Peripateti- ker, sondern auch in vielen physikalischen Behauptungen schliesst sich Bruno ihm au. Dass die erstere allein in seinen Augen nicht adelt, zeigt er in seiner wegwerfenden Beurtheilung des P. Hamus (s. oben §. 239) und Patritius (s. §.244). Paracelsns (s. §. 241) gilt ihm als der genialste Arzt, Philosoph sey er so wenig wie Copernicus. Mit entschiedner Nichtachtung spricht er von den „Grammatikern", die an die Stelle der Philosophie die Philologie setzen, und Jeden, der, weil er neue Gedanken hat, neue Worte braucht, verschreien. Deutlich wird dabei auf JSlzollus und an- dere Ciceronianer hingewiesen, und ihnen der Maugel an Selbst- ständigkeit vorgeworfen.

3. Eine solche Forderung an Andere ist ein Beweis, dass Bruno sich selbst als einen originellen Denker ansieht, womit auch

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seine Gewissheit, bei der Nachwelt mehr als von der Mitwelt an- erkannt zu werden, zusammenstimmt. Auch hat er Recht, trotz aller jener Entlehnungen, denn eine ganz neue, bis dahin ganz unerhörte Stellung erhalten in seinem Munde alle Lehren, sie mö- gen ursprünglich angehören wem sie wollen , der römischen Kirche und dem ganzen Christenthum gegenüber. Dass er mit beiden gebrochen hat, das ist seine originelle That. Bei den formellen Untersuchungen, welche den Inhalt seiner Pariser Schriften bil- den, konnte dies nicht so sichtbar werden. Sollte ihm daher in Paris, so wie später in Wittenberg , nicht Vorsicht geleitet haben, so hätte schon die Wahl seines Gegenstandes ihm Zurückhaltung zur Pflicht gemacht. Bei seinen Betrachtungen der Lullschen Kunst konnten höchstens beiläufige Bemerkungen Platz finden, wie die, dass es Faselei gewesen sey, wenn Lud durch seine grosse Kunst gemeint habe, beweisen zu können: tjuae confrd omne ru- liocinltim, pliUosopli'uun, utiam ftdcm ei credtdUatcm , solis C/iri- slicolis siuii renelala. In den Pariser sowol als den Wittenberger Schriften, verfährt übrigens Bnnio so, als kenne er nur die Form der Lullschen Kunst, welche sie später in der Ars compendiosa. Tabula generalis und ihrer Brevis practica erhalten hatte , wo näm- lich die früher sechzehn Prädicate der VUjitru A auf neun, und die vielen Ringe der Fiijwru unirersalis auf vier reducirt waren (s. oben §. 206, 4 10. 11), setzt aber diese Darstellungen Lnlls bei seinen Lesern so voraus, dass er u. A. gar nicht einmal er- klärt, was der Buchstabe T bei Lull bedeutet, durch den seine Ternionen den Anschein von Quaternionen bekommen. (So in den Pariser Schriften; die Wittenberger geben diese Erklärung und sind darum verständlicher.) Die Pariser Schriften heben im Gan- zen mehr den mneinonischen Nutzen der grossen Kunst, die Wit- tenberger den topischen für das Reden und Disputiren hervor. Die beiden Schriften von den Schatten der Ideen, und von der logischen (d. h. W^ahrheits-) Jagd stellen sich in ein etwas freieres Verhältniss zu Lull, aber auch sie betreffen mehr die Methode als das Object des Erkennens und müssen darum, wie alle latei- nischen Schriften, mit Ausnahme der drei Frankfurter, zu den exoterischen gerechnet werden, welche die eigentüchen Geheim- nisse seiner Lehre nicht entwickeln, darum aber auch seine Stel- lung zur Kirche nicht verrathen. Dass er dies nicht dürfe, wo er an einer Universität wirken wolle, das hatten ihm Toulouse, Paris, Oxford gezeigt, und er vergass es auch später in Witten- berg und Helmstädt nicht. Nur unter gebildeten Weltmännern oder nur indem er zu einer fortgeschrittenen Nachwelt sjjrach,

U. Die Weltweiseu. B. Naturphilosophen. Bruno. §. 247, 3. 559

konnte er dem Drange sein tiefstes Inneres zu olfenbaren nach- geben. Für beide sind die Werke gescimeben , in denen er niclit die von der Kirche sanctionirte , sondern die profane Sprache re- det, die seine Muttersprache ist und zugleich die der gebildeten Höfe. In keinem seiner italiänischen Werke prägt sich der Bruch mit der kirchUchen Anschauung so grell aus, als in dem Spaccio, es ist als ob der Verfasser im Kreise wissenschaftlich gebildeter Gönner, unter dem Schutz einer vom Papst excommunicirten Kö- nigin, sich endlich frei fühlt von dem Druck, unter dem er in Itahen, Genf, Toulouse, Paris, Oxford, geschmachtet hatte, und nun all seineu Hass und Zorn auslässt. Zwar ist die bcaüa Irion- füute, die er hier abfertigt, nicht, wie Manche aus dem Titel ge- schlossen haben, der Papst oder das Papstthum, sondern Bruno legt in dieser Schrift die Grundbegriffe seiner Moralphilosophie so nieder, dass er erzählt, wie Jupiter sich mit den Göttern über die neuen Namen beräth, ^Yelche, anstatt der früheren mytholo- gischen, den Sternbildern zu geben seyen, damit, indem zu die- sen Namen lauter ethische Begriffe (Wahrheit, Klugheit, Gesetz- lichkeit u. s. w.) genommen, dagegen die früheren Ungeheuer am Himmel, als Symbole von Lastern, entfernt werden, die Menschen dahin kommen, statt dieser bisher herrschenden (triumphirenden) jene zu verehren. x\ber in der Durchführung dieses Thema's, ganz besonders in dem, was Momus (das personificirte Gewissen) vor- bringt, spricht sich ein solcher Hohn aus gegen die christlichen Dogmen, dass man es nicht als zufälhg ansehen darf, wenn der- selbe , welcher hier , bei Gelegenheit des Centauren , über die Ver- einigung zweier Naturen spottet, früher gegen die Transsubstan- ziation geschrieben und den Besuch der Messe verweigert hat, später bei seinem Tode sich unwillig vom Crucifix abwenden wird. Das Dogma vom Gottmenschen war ihm, der Jesum nur neben den PiiLliuynras stellt, und dem die „Galiläer" so viel gelten wie die Schüler anderer Weisen, ein Stein des Anstosses. War aber (s. §.117) der Gottmensch das Christenthum In nuce, so ist damit auch BnuKj's Stellung zum Christenthum gesetzt. Man darf ihn nicht einen Atheisten, man darf ihn nicht irreligiös nennen: seine eroici furori zeigen eine religiöse Begeisterung, die an Gotttrunken- heit streift, und ihm ein Recht gibt an den von ihm gern gebrauch- ten Namen Philollieus. Aber seine Religiosität hat gar keine christ- liche Färbung , seine Begeisterung gleicht viel mehr der, welche uns in dem Hymnus des Kleanlh (g. 97, 3) begegnet, als etwa der eines Bonaventura f und das weiss er selbst sehr gut. Darum ist es ihm mit dem Hereinnehmen mythologischer Götternamen viel mehr

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Ernst als etwa dem Dante, darum weiter sind seine Ausfälle ge- gen die Ciiculiafi stets auf die römische Kirche gemünzt, woraus aber gar nicht folgt, dass ihm das Lutherische oder Calvinische Bekenntniss mehr zusage: über die Rechtfertigung nur aus dem Glauben spottet er eben so bitter. Er versucht eben, und er ist der Erste der dies thut, sich ganz ausserhalb des Christenthums zu stellen, und bestätigt dabei das Wort dessen, der da sprach: wer nicht für mich ist , ist wider mich. Gebrochne Liebe ist Hass. Er weiss es selbst, dass seine Lehre heidnisch ist, darum nennt er sie die uralte (Cena p. 127).

4. Mit dieser Lossagung vom Christenthum aber muss die Lehre, als deren Anhänger sich Bruno stets bekennt, wenn er nicht nur die cohicidentia oppositorum als sein Princip angibt, sondern auch ihre Hauptlehren sich aneignet, die des Nicola ns ron Cnsa . sehr wesentliche Modificationen erleiden. Bei diesem war die Lehre vom Gottmenschen das Centrum seiner Speculation gewesen, indem ja in dem Gottmenschen das Unendliche mit dem Endlichen Eins ward, und also auch der Monismus oder Totalis- mus, den die Lehre von dem Unendlichen gezeigt hatte, sich mit dem Pluralismus oder Individualismus in der Lehre vom Endli- chen ausglich, und indem wieder, weil die Kirche nur der zum Organismus erweiterte Gottmensch war, sich von selbst der kirch- liche Charakter seiner Lehre ergab. Nicht nur den letzteren wird die jetzt entchristlichte Lehre bei dem Nolaner verlieren, sondern auch der Monismus und Pluralismus werden jetzt auseinandertre- ten, und so weit dies geschieht, sich den beiden Extremen, die Nicolaus so glücklich vermieden hatte , dem Pantheismus und Ato- mismus, annähern. Nirgends streift Bnino so nahe an den Pan- theismus als in den beiden italiänischen Schriften, die gleichzeitig mit dem Spaccio erschienen , der Schrift della causa , aus der eben darum F. H. Jacobi Auszüge machen konnte , um ihre Verwandt- schaft mit Spinoza zu zeigen , und der anderen del lufinito. Was der Cusaner von Gott gesagt hatte, das wird in diesen beiden Schriften (wenigstens nahezu) von der, von Nicofaus geleugneten, W^eltseele prädicirt, und damit das beseelte Univei-sum fast ganz an die Stelle Gottes gesetzt. Dabei ist sich Bruno seiner Annähe- rung an den Pantheismus der Stoiker so bewusst, dass er ihren Alles durchdringenden Zeus gern zur Bestätigung seiner Lehre citirt. Der allgemeine Verstand, der nicht als (von Aussen zie- hende) Ursache, sondern als (von Innen treibendes) Princip aller Dinge bestimmt wird, heisst ausdrücklich die vornehmste Kraft der Weltseele. Derselbe ist mit seinem Seyn- können, d. h. der

II. Die Weltweisen. B. Naturphilosophen. Bruno. §. 247, 4. 561

Materie, ganz Eins, so dass die Materie nicht mit den Peripate- tikern als ein prope vi/iit , sondern eher mit David ron Dhimif (§. 192) als ein Göttliches anzusehen ist, als der unendliche Aether, der alle Dinge in seinem Schoosse trägt und aus sich hervorgehn lässt. Dieser beseelte, den unendlichen Raum erfüllende, Aether oder das Universum ist, weil es Alles umfasst, das Grösste, weil es in Allem ist, das Kleinste, und verbindet mit diesem alle an- deren Gegensätze: weil es sich unendlich schnell bewegt ruht es, weil es überall Centrum, ist es überall (oder auch nirgends) Pe- ripherie u. s. w. In diesem unendlichen Universum bewegen sich, durch innere Beseelung und nicht durch einen von den Peripate- tikern ersonnenen primtts mntor , die Planeten und Kometen um ihre Sonnen, und bilden so unendlich viele Welten, zwischen de- nen nur Die Metakosmien annehmen werden, die von schaalen- artigen Himmeln träumen. Man darf ja nicht das Universjim oder All mit der Welt, ja nicht einmal mit dem Complex aller Dinge verwechseln. Die Welt ist nur ein Sonnensystem. Die Dinge wie- der sind nur wechselnde vorübergehende Weisen oder Zustände (civvonstanzie) des Alls, die immer neuen Platz machen, während das Universum, da es was es seyn kann schon ist, stets dasselbe bleibt. Darum ist die Weltseele als diese eine und selbige in der Pflanze und im Thier nicht nur zugleich, sondern in ganz glei- cher Weise, der Unterschied in der Beseelung von Pflanzen und Thieren kommt nur von der, zu jener hinzukommenden , beschränk- ten Pflanzen- und Thier -Natur. Während das unendliche Uni- versum was es seyn kann, ewig, ist, verwii-klicht sich in dem endlichen Einzelwesen Alles, was es seyn kann, nur nacheinan- der; alle, die körperlichen oder ausgedehnten sowol als die intel- lectuellen, denn sie sind der Substanz nach nicht verschieden, durchlaufen daher allmählich die in ihnen liegenden Möglichkeiten, die Thierseelen steigen zu Menschenseelen auf u. s. w. Die Ein- zelwesen, welche durch die Wahrnehmung percipirt werden, sind daher nicht, wie diese sie uns vorspiegelt, Substanzen, sondern sind Accidenzien und werden durch die Vernunft als solche er- kannt. Die Vernunft wird nämlich durch die Sinne veranlasst, zu dem aufzusteigen, das alle Gegensätze in sich verbindet, und an dem die wahrgenommenen Dinge Accidenzien sind. Dass dieses Eine nicht mit dem Gott der Theologen zusammenfällt, dess ist sich Bruno wohl bewusst, er trennt daher die Philosophie von der Theologie , beschränkt jene ganz auf die Naturbetrachtung und behauptet, der wahre Philosoph und der gläubige Theolog hätten Nichts mit einander zu theilen (della causa p. 275). Nicoluus,

Erdmann, Gesch. d. l'liil. I. ßfi

562 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (üebergang).

der dies nimmer zugestanden hätte , miiss sich von ihm den Vor- wurf gefallen lassen, sein Priesterkleid habe ihn zu sehr beengt. 5. Hatten die beiden Londoner Schriften gezeigt, wie nahe Bruno die Lehre des Cusaners dem Stoischen Naturpantheismus zu bringen vermochte, so zeigen dagegen die drei Frankfurter Lehrgedichte , wie viel dem Demokrit und Lircrez Verwandtes sich aus jener Lehre ziehen lässt. Es geschieht aber lange nicht mit solch einseitiger Consequenz wie dort mit dem entgegengesetzten Momente. Mag in den sieben Jahren zwischen der Herausgabe von: della causa und von: de triplici minirno die Erfahrung, dass man iu der ausschiesshch theologischen Universität den Anders- gläubigen ruhig gewähren Hess, ihn milder gegen die Theologie gestimmt haben, mag er wh'klich, wie Einige aus einer Aeusse- rung in der oratio consolatoria und dem Factum der Excommuni- cation gefolgert haben, in Helmstädt zur reformirten Confession aus innerem Drange sich bekannt haben, oder mag der frühere Grimm ruhiger Gleichgültigkeit gewichen seyn, was man fast da- raus schliessen möchte, dass er (de Immenso Lib. HI, p. 332) nur keiner Antwort würdige Dummheit darin sieht, wenn man die Physik mit Bibelstellen angreift, genug das Factum ist nicht abzuleugnen, dass Bnnio in seinen letzten Schriften sich weniger schroff über die Theologie äussert, und auch wieder mehr der ursprüngUchen Lehre des Nirolans von Cnsd annähert. In den mannigfaltigsten Formen werden die drei Stufen Dens T^//'- ciens ille , quortuifjnc (ippciietur nomine, uiiirersults sagt er De Immeuso I, 1. p. 151) Tsulura und Balio als Mens super omnia , omnibns hisitu , omnia pervddeiis , oder als dietans , fn- ciens , conleiiipluns, endlich als Monas, Numerus und Numerus numerans unter einander gestellt, so dass das Erste die Ideen in sich trägt, das Zweite die t:es(i(jla derselben darstelle, das Dritte die umhrae derselben erfasse, dass Tot um , Omnia und Siiigaltnn dieser Stufenfolge entspreche und des Menschen Auf- gabe sey, den omuiformis Deus aus der omni/ormis imayo ejus zu erkennen u. s. w. Eine Trennung von Gott und Universum will er auch jetzt nicht, Gott soll weder sKpra noch extra omnia, sondern in omnibns praesentissimns seyn (Ebend. VIII, 10. p. 649), ganz wie die entitas in allen entibus, aber dass sie beide mehr unterschieden werden , als in den italiänischen Schriften , und dass er sich im guten Glauben die Unterscheidimg des Cusaners zwi- schen implieatio und e.rplicatio aneignen kann, scheint zweifellos. Mit dieser Entfernung vom Pantheismus geht es nun Hand in Hand, dass das jenem entgegengesetzte Moment sich so in den

II. Die Weltweiseii. B Naturphilosophen. Bruno. §. 247, 5. 563

Vordergrund stellt, dass, wenn man mit Recht in della causa die Wurzeln des Spinozismus (s. §. 272) gesehen hat, mit vielleicht noch grösserem Rechte seine Schriften vom Kleinsten und der Monade die Quellen genannt worden sind, aus welchen Leilmiiz (s. §. 288) seine Monadologie schöpfte. Der Grundsatz des Nicolaus, dass es in der Sphäre des Theilbaren keinen endlosen Progress gebe, führt den Brinio dahin , dass überall der letzte Grund ein minimnm sey, welches sich zu den Dingen verhalte, wie die Einheit zur Zahl, das Atom zum Körper. Selbst die mathematischen Begriife Linie, Fläche u. s. w. machen keine Ausnahme. Zwar hinsichtlich derjeni- gen Punkte, welche Grenzen der Linie sind, ist es richtig, dass die Linie nicht aus ihnen be-, sondern dass sie aus ilmen entsteht. Es muss aber ein Unterschied gemacht werden zwischen tcrm'uiiis fjiti )utf((t est pars und minimvm rjiiod prima est pars. Wenn der Mathematiker vom Unendhchen spricht, so heisst das eigent- lich nur : gleichviel wie gross oder : unbestimmt gross, und es wäre besser er sagte anstatt uifinilnm vielmehr indefhiitum. Der Punkt, nicht als (er minus . sondern als prima pars , ist, wenn er bewegt wird, Linie, diese, die prima pars der Fläche, ist, wenn sie be- wegt wird, diese. Also enthält eigenthch der Punkt alle Dimen- sionen , da sie nur seine Bethätigungen sind , gerade wie der Saame den Körper enthält, weil dieser nur Ausdehnung seiner minima pars, des Saamens, ist. Denkt man sich, wie man dies muss, die minima sphärisch, so lässt sich durch schematische Darstel- lung zeigen, warum in jedem Quadrate die minima der Seite dichter, die der Diagonale undichter gedacht werden müssen (In- comraensurabilität), dass es unrichtig ist, dass unendhch viele Linien von der Peripherie aus das Centrum treffen , u. s. w. AVie nur durch die mathematischen minima mathematische, so sind eine Menge von physikalischen Schwierigkeiten nur durch physi- kalische minima zu erklären. So Berührung, so Zunahme der Körper, so das Factum, dass es nicht zwei ganz gleiche Dinge gebe. Ueberhaupt muss dies festgehalten werden, dass ohne ein mlnlmnm raloris . Iinninis u. s. w. weder von einer Steigerung noch von einer Vergleichung die Rede seyn kann, da überall das minimiim als Maasseinheit dient. Eben so endlich hat man drit- tens metaphysische minima zu denken (daher de iriptiri minl- inn). Wer die Seele als Entelechie oder Harmonie denkt, kann ihre Unsterblichkeit nicht fassen, wohl aber wer sie als wirklich Untheilbares fasst, das im Tode höchstens sich in sich ein- und zusammenziehen kann , wie es in der Geburt in Expansion trat. Wendet man den Namen, der ganz passend eigenthch nur für

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5C4 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (üebergang).

das minimvm der Zahl ist, auf alle an, so sind die Monaden Keime (modern ausgedrückt: Differenziale) alles Wirklichen und das Princip aller Principicn, die Monas moiuidum ist dann Gott, der, weil aus ihm Alles, das minimum, weil in ihm Alles, das maximnm ist.

6. Der zuletzt angeführte Satz, wie alle die übrigen über die minima der Schrift de tripl. min. entnommen, bahnt den üeber- gang zu der Explication der Ureinheit in dem System der relati- ven Einheiten. Sie bildet den Gegenstand der Schrift de Monade, an welche sich dann sogleich die de Immenso anschliesst, die natürlich viele Uebereinstimmung zeigt mit der italiänischen del Infinito. Die Entwicklung der Eins durch alle folgenden Zahlen bis zur Zehn ,- als der Zahl der Vollendung , welche zu erläutern ausser dem Commentar, der die Verse begleitet, auch schematische Zeichnungen bestimmt sind, hat wenig Interesse. Mehr dagegen, wie er sich über die Entwicklung im Ganzen ausspricht. Da ist besonders von ihm betont, dass das Setzen der Welt durchaus nicht als ein vvillkührlicher , sondern als noth wendiger, eben darum aber als freier Act zu denken sey. Freiheit und Nothwendigkeit ist Eines, weil beide den Zwang ausschliessen. Wie es mit dem Wesen Gottes unvereinbar ist, kein Universum zu setzen , so auch <lass er ein endliches setze. Das unendliche All enthält unendlich viele Welten, die, jede vollkommen in ihrer Art, in ihrer Totali- tät die höchste denkbare Vollkommenheit zeigen. Absolute ge- nommen ist Nichts unvollkommen oder ein Uebel; nur in Bezug auf Anderes erscheint es so , und was dem Einen ein Uebel , das ist dem Anderen gut. Je mehr der Mensch sich zum Anschauen des Ganzen erhebt, um so mehr verschwindet für ihn der Begriff des Uebels. Am Wenigsten wird er den Tod als ein solches an- sehn. Der Weise fürchtet den Tod nicht, ja es kann Fälle ge- ben, wo er ihn sucht, wenigstens ihm ruhig entgegengeht. (Dies ward geschrieben unmittelbar ehe Bruno seine Reise nach Itahen antrat.)

§. 24S.

1. Bruno ist eines der vielen Beispiele, welche zeigen, dass das Zerbrechen der Sklavenkette allein noch nicht frei macht. Alle Bitterkeiten gegen das Ordenskleid, all sein Lechzen darnach, ganz der Welt anzugehören, nimmt ihm nicht jenes mönchische Wesen, das ihn selbst im Freundeskreise zu einer fremdartigen Erscheinung macht und vereinsamt, und aller Hass gegen die Scholastik hat ihn nicht gehindert zu seinen Führern den Lvftiis zu uehmeu, in welchem die mittlere, und den Cusaner, in dem

II. Die Weltweisen. Skeptische Weltmänner. §. 248, 1. 2. 565

die letzte Periode der Scholastik gipfelte. Weder der, zuerst doch aus Neigung erwählte, dann unerträgliche Aufenthalt im Kloster, noch das spätere Leben an solchen Orten , wo nur die herrschende Confession Anhänger zählt, war geeignet, der Kirche gegenüber die unbefangene und freie Stellung zu erlangen, auf welche der Geist dieser Periode hinsteuert. Ein ganz anderer Geist entwickelt sich dort, wo verschiedene Confessionen neben einander vorkom- men, und wo die Erfahrung gelehrt hat, dass ein starres Fest- halten dieser Unterschiede zu Hass und Unfrieden führt , während ein Abstrahiren davon den Reiz des Zusammenlebens würzt, weil es den Gesichtskreis erweitert. Treten nun in diese Atmosphäre Solche, die von Geburt an ausserhalb der römisch-katholischen Kirche stehn, und welclie Geburt, Erziehung und Lebensgang dem Geistlichen ab-, dem Weltlichen zuwandte, so sind die objectiven und subjectiven Bedingungen gegeben zu einer Betrachtung der Welt, die, eben weil jedes Band mit der Kirche aufgehört hat, sie in ihrem Gebiete gewähren lässt, nicht ihr, sondern nur der Scholastik, dieser Vermischung des Kirchlichen und Weltlichen, zürnt.

2. Wie sehr die Voraussetzungen zur Bildung jener geistigen Atmosphäre gerade in den mittleren und südlichen Provinzen Frankreichs gegeben waren, sieht man, wenn man den Typus de- rer die sie bilden helfen, Michel de Mantingne (geb. 1533 gest. 1592) genauer betrachtet, wie er sich in den drei Büchern seiner Essais darstellt, die 1580 von ihm selbst, nach seinem Tode 1593 erweitert, dann sehr oft u. A. bei Dldot 1859, herausgekommen sind.- Sohn eines gebornen Engländers, vor der eignen Mutter- sprache mit dem Latein so vertraut, dass sein späterer Lehrer Mvrci sich scheute mit ihm I^atein zu sprechen, früh mit den rö- mischen Autoren vertraut, ganz jung ein sehr geachteter Parla- mentsrath in Bordeaux, wo ihn Bekanntschaft mit sehr Vielen, Freundschaft mit einem der bedeutendsten Geister seiner Zeit ver- band, endlich noch in der Fülle der Kraft als unabhängiger Land- edelmann lebend, der von seinen Reisen stets mit Lust heimkehrt, hat sich Montaigne zu einem wahren Ideal feingebildeter Lebensweis- heit ausgeprägt. Auf Selbstbeobachtung gegründete ausserordent- lich feine Menschenkenntniss ist sein Studium, und die Früchte dieses Studiums legt er in seinen Versuchen nieder, von denen er darum wiederholt, sie wollten Nichts schildern als ihn selbst; mit einbegritfen natürlich, wie sich in seinem Kopfe die Welt abspie- gelt. Gründlich gebildet, aber aller Pedanterei feind, ehrlicher Katholik, aber tolerant und in jeder religiösen Streitigkeit nur Un-

566 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

heil sehend, durch Seiteca für die stoische Lehre eingenommen aber aller Uebertreibung abhold und darum vor Allen dem P/n- turch zugethan, den er in AiinjoVs Uebersetzung liest, Bewunde- rer der höhen Aufgabe des Menschen, aber seiner Schwächen be- wusst und aus Grundsatz mit Geschmack geniessend, bildet sich bei ihm jener gemässigte Skepticismus aus, der zu allen Zeiten den feinen Weltmännern eigen zu seyn pflegt. Bei Mfuttnigne aber gründet er sich auch auf die Achtung, die er vor jeder Individua- lität hat, und die ihn, wenn er sieht wie verschieden Jeder ur- theilt, nöthigt. Allen, d. h. Keinem, Recht zu geben. Versuche wie der 25'*' des ersten Buchs über Erziehung, der 8"" im zweiten Buch über Elternliebe, oder der 13'*^ des dritten Buchs über die Erfahrung, sie zeigen in der Uebenswürdigsten Form den hon scvs des gebildeten Cavaliers; der längste unter den Versuchen, der 12'*' des zweiten Buchs, die Apologie Uaimunds von Snbitvde, des- sen natürliche Theologie Moiiiuigve auf den Wunsch seines Va- ters übersetzt hat, enthält ziemlich vollständig, was in den übri- gen über die Grenzen des Wissens und sein Verhältniss zum Glau- ben vereinzelt gesagt worden war.

3. Trotz dem, dass Monfnig/te so oft seine „Plaudereien und Phantasien" dem wissenschaftlichen Philosophiren entgegensetzt, und gewiss sehr erstaunt gewesen wäre, wenn ihn Jemand einen Philosophen vom Fach genannt hätte, ist doch von dem ihm be- freundeten ausgezeichneten Kanzelredner Pierre Clutrron (geb. 1541 1603) der Versuch gemacht worden, Monfaiffue's Gedanken in systematische Form zu bringen. Kicht gerade zu ihrem Vor- theil, denn wer von den Versuchen Montd'tgne's zu Vlmrron's drei Büchern de la sagesse (zuerst in Bordeaux 1601, später u. A. Amsterdam 1662 erschienen) übergeht, wird darin kaum einem Gedanken begegnen, der sich nicht bei Jenem anziehender behan- delt fände. In dem ersten Buche wird in fünf Betrachtungen die Selbsterkenntniss erst angepriesen, dann der Weg zu ihr gewiesen, indem die Eigenthümlichkeiten des Menschen, seine Unterschiede von den übrigen Wesen, die Verschiedenheiten des Naturells, Be- rufs, Standes u. s. w. ausführlich entwickelt werden. Das zweite Buch, welches die allgemeinen Regeln der Weisheit betrachtet, entwickelt in zwölf Capiteln die Voraussetzungen der Weisheit, setzt ihr Wesen in die Rechtschaffenheit (pritcV liommie, probite), zeigt wie sie sich in der wahren Frömmigkeit äussert, und wie Ruhe und Gleichmuth ihre Frucht ist. Endlich im dritten Buch wird in zwei und vierzig Capiteln nachgewiesen , wie sich die Weisheit in die vier Cardinaltugenden zerlegt. Das schulmässige

II. Die Weltweisen. Skeptit^cLe Weltmänner. §. 248. 3. 4. 567

Gewand, in welchem hier diese Gedanken auftreten, war wohl der Grund, warum gelehrte Schriftsteller von diesem Buche mehr No- tiz nahmen als von dessen eigentlicher Quelle. Clnirron ward hef- tig angegriffen und namentlich ihm vorgeworfen, er sey in Wider- spruch zu dem getreten , was er in früheren apologetischen Schrif- ten gelehrt habe. Mit Unrecht, denn es ist ihm Ernst, wenn er au das Herabsetzen des Wissens Lobpreisungen des Glaubens knüpft. Sein Glaube ist nur weitherziger als der seiner Gegner. W'eder will er die Protestanten aller W^ahrheit ledig, noch die ka- tholische Lehre ganz frei von aller menschlichen Zuthat seyn lassen.

4. Wie Mon((fi</ne in Bordeaux gebildet ist endlich der, 1562 in Portugal geborne Franz Sunclez, welcher, schon im zwei und zwanzigsten Jahre Professor der Medicin in Montpellier, ]ß32 als Professor der Medicin und Philosophie in Toulouse starb. Mit Ausnahme seiner skeptischen Hauptschrift (Qnnd nihil sciiiir), die, wenn die gewöhnliche Angabe richtig seyn sollte, bereits in seinem neunzehnten Jahre erschienen wäre, sind seine Schriften erst nach seinem Tode herausgekommen (Tolos. Tect. 1636. 4). Der hinere Widerspruch, in den er dadurch gerieth, dass sein Amt ihn verpflichtete, den Aristoteles zu commeutiren, den er ver- achtete, gibt seiner Skepsis mehr Schärfe und Bitterkeit, als sie bei j\Joiitai(/vc und Cliarroi} gehabt hatte. Da es ein wirkliches Wissen nur von dem gibt, was man selbst gemacht hat, so be- sitzt es eigentlich nur Gott. Darum ist unsere Weisheit Thorheit bei Gott. Gerade wie der Unwissende Alles was in der Natur geschieht, auf den Willen Gottes bezieht, so kommt auch der Philosoph zuletzt dazu , nur dass er nicht wie jener die Mittelur- sachen überspringt, sondern durch diese so weit hinaufsteigt als es eben geht. Dieser Mittelursachen gibt es noch sehr viele, die aufzusuchen sind, und damit hat es die wahre Philosophie zu thun, während die bisherige Philosophie sich nur mit Worten zu thun macht. Obgleich für den Arzt die Erforschung der physikalischen Gesetze mehr Interesse haben musste, als für seine Vorgänger, so hat doch Saiicliez mit dem Weltmann und dem Seelsorger das Interesse an dem Treiben der Menschen getheilt, und wie sie hat auch ihn die Verschiedenheit desselben zu nachsichtiger Beurthei- lung Anderer, zur Scheu vor Selbstüberhebung gebracht. Je mehr ich denke, um so zweifelhafter werde ich, sagt er oft.

5. Durch Männer, wie die drei Genannten, wird Frankreich in dieser Zeit immer mehr zu einer grossen Akademie der Lebens- weisheit, welche in immer weiteren Kreisen das Gefühl verbreitet, dass es nichts sey mit der Philosophie, welche, wie sie den Uni-

5C8 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (üebergang).

versitäten ihren grössten Glanz gegeben hatte, so jetzt fast nur auf den Universitäten den schuldigen Dank der Verehrung empfing; dass der Umgang mit Menschen, namentlich aber das Bereisen fremder Länder die wahre hohe Schule sey, auf der man verler- ne, das bei uns Geltende für das Allgemeingültige zu halten, und also sich von Vorurtheilen frei mache; dass endlich eine an die gegebnen Verhältnisse sich anschmiegende Weltklugheit, wenn auch nicht die ganze, so doch ein grosser Theil der wahren Weisheit sey. Eben deswegen war es zwar nicht unrichtig, aber es reichte nicht aus, wenn jene Männer Skeptiker genannt wurden; es wurde dabei das positive Moment vergessen, das sie von den blossen Skeptikern unterscheidet. Weder ist ihr Nichtwissen ein bloss ne- gativer Zustand, noch auch streben sie jene negative Unerschüt- terlichkeit an, nacli der sich die Skeptiker des Altcrthums sehn- ten. Jenes nicht, denn wenn man sieht, mit welcher Zuversicht ein Siinc/icz neue Entdeckungen und Erfindungen verheisst, so sieht man, dass es eigentlich nur das bisherige Wissen ist, das er so gering achtet. Dieses niclit, denn der Eudämoiiismus eines Mnvt(ji(/ite, seine Hoffnung, dass sichs bald viel besser auf Erden leben werde als jetzt, steht im bewussten Gegensatz zur sich iso- lirenden Ataraxie. Auf den Trümmern der bisherigen Wissenschaft, deren Bankerott sie laut ausrufen, ein Gebäude bequemer und be- glückender Lebensweisheit aufzuführen, das ist es wozu jene Män- ner auffordern, und indem sie diesen Ruf an die ganze Welt er- gehen lassen und überall gläubige Hörer finden, haben sie ganz, wie das früher (§. 62) von den Sophisten gesagt wurde, eine Rück- kehr zu jener Schulweisheit unmöglich gemacht, haben den Strich gezogen unter die bisherige Entwicklung und den Boden geebnet, in den die Keime einer neuen gelegt werden können.

6. Wegen des Gesagten mit Monlnignc und seinen Geistesver- wandten die dritte Periode des Mittelalters abzuschliessen , wäre nicht richtig. Einen Platz einzunehmen, wie er (§. 144) dem Aa- (jiisüniis und (§. 224) dem IMcohnts rmi Ciisa angewiesen ward, dazu gehört denn doch mehr, als Anleitung zu einer angenehmen Lebensweisheit zu geben. Es gehört schon dies dazu, dass dieses unklare Schwanken zwischen dem Misstrauen nur gegen die bishe- rige und dem gegen alle Wissenschaft aufliöre, also ohne alle skeptische Färbung mit der bisherigen Wissenschaft gebrochen werde; es gehört dazu, dass gezeigt werde, warum die, allerdings bei den Weltmännern in Verachtung gesunkene Scholastik diese Verachtung auch bei den schulmässig Gebildeten verdient; es muss wieder gezeigt werden, warum der Zug der Geister zu der Natur,

n. Die Weltweiseii. B. Naturphilosophen. Bacon. §. 249, 1. 569

der einen MoNtnh/ne dahin bringt, eine Zeit zu beneiden, in der es noch keine Kleider gab, eine wirkliche Berechtigung hat; es muss endlich nicht nur als eine glückliche Zugabe zu den natur- wissenschaftlichen Studien erscheinen, dass dadurch das Leben be- quemer und glücklicher werde, sondern mit bewusstem Ausschlies- sen aller idealen, über die wirkhche Welt hinausgehenden Zwecke, seyen sie nun kirchhche, seyen sie die der sich selbst genügenden Wissenschaft, müssen die, welche unser tägliches Treiben bestim- men, als das eigentliche Ziel der Wissenschaft dargestellt werden. Damit wird an die Stelle der nur geistreichen Lebensweisheit die auch wissenschaftliche Weltweisheit treten, die hier diesen Namen mehr als in allen bisherigen Erscheinungen verdient, weil sie so weltlich ward, dass auch das letzte Verhältniss zur Kirche, der Hass und die Furcht, aufgehört und der Indifferenz Platz gemacht hat. Dabei kann zugestanden werden, dass ohne jene französi- sche Lebensweisheit dieser Fortschritt unmöglich war, wie ja auch zugestanden ward, dass ohne die Sophistik Sokratismus und Pla- tonismus nicht möghch gewesen wäre. Wozu Movtdiyve und seine französischen Geistesgenossen das Vorspiel bildeten, das hat der als Protestant, in England geborene, aber von ihren Ideen genährte Bucon vollendet.

§. 249. Bacon.

W. Bavley The life of the right honourable Francis Bacon 1670. (Findet sich in fast allen lateinischen Ausgaben.) K. Fischer Franz Bacon von Verulam. Leipz. 1856. J. Speddiag The letters and the life of Francis Bacon. Lond. 1861. 62. ("2 Voll, bis jetzt.)

\. Francis Bacon, der jüngste Sohn des Grosssiegelbewah- rers von England Nlcoi'avs Bacon, wurde am 22. Jan. 1560 ge- boren und konnte schon 1575 nach vollbrachtem Studium in Cam- bridge seineu juristischen Cursus in Gray's Inn beginnen, während dessen er schon die Aufmerksamkeit der Königin Elisabeth auf sich zog. Ein zweijähriger Aufenthalt in Paris, wohin er den eng- lischen Gesandten begleitete, und der für seine Entwicklung sehr wichtig ward, konnte nicht verlängert werden, da sein Vater starb, ohne die für den Liebling zurückgelegten Summen durch Testament ihm gesichert zu haben. Der völlige Mangel an Vermögen, bei seinen vornehmen Verbindungen doppelt schmerzlich, die Masse von Schul- den, die während drei und zwanzig .Jahren stets sich wiederholen- den und immer wieder zu Wasser werdenden Aussichten, aus ei- nem unbesoldeten ein besoldeter Beamter zu werden, hätten viel-

570 Mittelalterliche Philosojihie. Dritte Periode (rebergang).

leicht auch einem stärkeren Charakter das Trachten nach Geld zur Gewohnheit gemacht. Seine Praxis als Jurist war unbedeutend, . desto grösser sein Name als Mitglied des Parlaments (seit 1584), und als Schriftsteller, seit er, von Movlaigve angeregt, seine lite- rarischen und moraUschen Essays (1597) herausgegeben hatte, die, unzählige Mal aufgelegt, in den lateinischen Ausgaben sermones fideles heissen. Die Strenge, mit der man es getadelt hat, dass Bacon, als sein Gönner der Graf Essex fiel, als Beistand des An- klägers fungirte und nachher dem Publicum einen die Königin rechtfertigenden Beiicht des Processes vorlegte, erscheint dem als ungerecht, welcher weiss wie sich Bacoji abgemüht hat, den Gra- fen zur A'ernunft, die Königin zur Milde zu stimmen, und dabei bedenkt, dass er was ihm die Mouarchin auftrug, kraft seines Am- tes thun inusste. Erst mit der Thronbesteigung Jnhohs. mit dem die beiderseitige Hochachtung vor gelehrtem Wissen ihn enge ver- band, änderte sich Bncoits Lage. Mit sechs Aemtern und drei Titeln hat ihn nach einander die Huld seines Königs beschenkt. Als er Grosssiegelbewahrer, Lord Kanzler, Baron von Verulam, Viscount von St. Albans geworden war, brach die Katastrophe ein. Bei der Anklage wegen Annahme von Geschenken erklärte er sich schuldig, ward aller Aeinter entsetzt, ja für einige Tage eingeker- kert. „Nie war ein Urtheil gerechter," sagt er später, „und doch hat England vor mir noch nie einen so redlichen Lord Kanzler gehabt." Alle späteren Anerbietungen, in das öffentliche Leben zurückzukehren, hat er abgelehnt, und ist in ländlicher Zurückge- zogenheit, nur mit der Wissenschaft beschäftigt, am 9. April 1626 gestorben. In diese Zeit der Zurückgezogenheit fällt zwar nicht die Abfassung, aber die Herausgabe der meisten seiner Werke. So erschienen- die 1612 vollendeten Cogitata et visa im J. 1620 als (zwölf Mal umgeschriebenes) Novum Organon, so das 1603 verfasste Advancement of learning sehr erweitert im J. 1623 als De dignitate et augmeiitis scicntiarum. Nach seinem Tode kam die Sylva sylvaruin s. historia naturalis (1664 Frankf. Schünwet- ler) heraus. Ausserdem gab Gntter eine Sammlung heraus, wel- che die Cogitata et visa, Descriptio globi intellectualis, Thema coeli, de fluxu et refluxu maris, de principiis et originibus s. Par- menidis et Telesii philosophia, endhch eine Menge kleiner Aulsätze unter dem Gesammttitel Impetus philosophici enthält. W'ie über- haupt Bdcon im Auslande eher anerkannt ward, als bei seinen Landsleuten, so erschien auch die erste Gesammtausgabe seiner Werke lateinisch in Frankfurt am Main (1665 Scliöuicetler Fol). Später begann erst die, fast zur Vergötterung steigende Vereh-

II. Die Weltweisen. B. Natiu-philosophen. Bacon §. 249, 2. 571

rung, von der man in England höchstens hmsichtlich seines Cha- rakters zurückkommt. Unter den englischen Ausgaben kann als erste die von 1740 London, mit dem Leben von Mallct, als neuste die von Spcddivg,' Ellis und Heaih (London 7 Voll. 8. 1857 59) genannt werden, an die sich die oben angeführte Biographie und Briefsammlung von Speddhuj anschliesst.

2. Schon dem in Cambridge studirenden Jüngling stand es fest, dass der Zustand sämmtlicher Wissenschaften ein trauriger, und dass er selbst berufen sey zur Besserung desselben beizutra- gen. Wie wenig er diese „Instauratio magna*' während seiner ju- ristischen und politischen Arbeiten aus den Augen verloren hat, beweist unter Anderem der Titel: Temporis partus niaxiraus, den er einer Jugendschrift vorgesetzt hat. Je älter er ward, desto mehr sah er ein, dass einem Versuch der Restauration der Nachweis vorausgehen müsse, dass wirklich die gegenwärtige Wissenschaft so mangelhaft. Diesen Nachweis gibt nun das advancement of leaniing, das in seiner erweiterten Gestalt als: De dignitate et augmentis seien tiarum eben darum als Erster Theil des gros- sen Werks bezeichnet wird. Damit nirgends eine Lücke bleibe, muss zuerst in einer encyclopädischen Uebersicht das ganze Ge- biet des W'issens (glohiis ui/e/lectiialis) dargelegt, dann aber zwei- tens bei jeder Wissenschaft gezeigt werden, was sie noch zu wünschen übrig lasse. Die menschliche Wissenschaft (so genannt im Gegensatz zu der von Gott geoffenbarten Theologie) wird am Besten nach den drei Grundvermögen der menschlichen Seele Ge- dächtniss, Phantasie und Vernunft in Geschichte, Poesie und Phi- losophie eingetheilt. Die Geschichte zerfällt in eigentliche und in Naturgeschichte. Zu jener, der Jnsioria cimlis, ist auch die Kirchengeschichte, die Literaturgeschichte, die uns noch ganz fehlt, endlich die Geschichte der Philosophie zu rechnen. Die hisloria nafiiralis wieder erzählt, wie die Natur wirkt sowol dort wo sie frei ist, als dort wo sie irrt, endlich da wo sie gezwungen handelt. Schon in erster Beziehung ist unsere Kenntniss sehr lückenhaft, viel mehr aber noch hinsichtlich des Zweiten und Dritten, der Monstra und Artefacta. Die Poesie wird von Bacon in erzäh- lende (d. h. epische), dramatische und parabolische (d. h. Lehr-) Poesie getheilt; die letztere stellt er am Höchsten und führt als Beispiele derselben die Mythen vom Pan. Perscus und Diovysos an, die er zu deuten versucht. (Eine verwandte Aufgabe stellt er sich in der der Universität Cambridge zugeeigneten Schrift De sa- pientia veterum.)

3. Mit dem dritten Buche der Schrift de dißn. et. augm, sc.

572 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

geht Bmon. zur Philosophie über. Nach ihren Objecten zerfällt sie in die Lehre von Gott, der Natur und dem Menschen; allen dreien aber liegt als gemeinschaftliches Fundament die philosophia prima zu Grunde, die nicht wie das, was man bisher so nannte, ein Gemisch theologischer, physikalischer und logischer Sätze seyn, sondern die eigentlich transscendenten, d. h. über alle besonderen Sphären hinausgehenden, darum in allen geltenden, Begriffe und Axiome entwickeln und zeigen muss, was ens und iion-evs, was möglich und unmöglich u. s. w. und warum manche Axiome, die man bloss für mathematische hält, in der Politik ganz dieselbe Gültigkeit haben. Die angegebnen drei Theile der Philosophie vergleicht er mit optischen Erscheinungen: unser Wissen von Gott gleicht dem, durch Hineintreten in ein andres Medium, gebroche- nen, unser Wissen von der Natur dem directen, unser Wissen von uns dem reflectirten Strahl. Eben darum muss die natürliche Theologie sich genügen lassen, die Gründe für den Atheismus zu widerlegen. Weil man in der gegenwärtigen Theologie mehr wollte, die Wahrheit der Dogmen beweisen, deswegen ist bei ihr nicht, wie bei den anderen Wissenschaften, Mangel, sondern viel- mehr der Ueberfluss zu bedauern. Der heidnische Gedanke, dass die Welt nicht Werk, sondern Abbild Gottes sey, der hat dazu verführt, aus der Beschaffenheit der Welt Rückschlüsse auf das Wesen Gottes zu machen, und Philosophie und Glauben so zu vermischen, dass jene phantastisch, dieser häretisch wurde. Im Gegensatz zu dieser Vermischung verlangt Barou stets, dass man dem Glauben gebe was des Glaubens, dem Wissen dagegen was sein ist, d. h. das durch Wahrnehmung und Vernunft gefundene. In jenes Gebiet hat die Vernunft nicht hineinzureden, in dieses der Glaube nicht. Wer in den Glaubenslehren Etwas findet was der Vernunft widerspricht, wird darüber nicht erschrecken. Ein grösserer Widerspruch als er zwischen den Lehren des Christen- thums und der Vernunft Statt findet ist kaum denkbar (so in dem Fragment de scientia humana, besonders aber in den nach seinem Tode erschienenen Paradoxa christiana) ein Widerspruch mehr oder weniger macht, wenn man einmal den Entschluss ge- fasst hat zu glauben, keinen Unterschied. Es ist wie mit dem, der einmal eingewilligt hat an einem Spiele Theil zu nehmen, und nun natürlich allen auch noch so seltsamen Piegeln desselben sich unterwerfen muss. Wie den Wissenden jene Widersprüche mit der Vernunft, weil sie nur im Gebiete des Glaubens auftreten, nicht turbiren, so braucht umgekehrt der Glaube von der Wissenschaft Nichts zu fürchten; vielleicht die eben erst gekostete nicht aber

II. Die Weltweisen. B. Naturphilosopheu. Bacon. §. 249, 3. 57d

die ausgeschöpfte Wissenschaft kann von Gott ableiten. ^Yeiss doch, wer die Wissenschaft ganz überschaut, dass das Gebiet des Glaubens ein völlig von dem seinen getrenntes, nur seinen eignen Gesetzen gehorchendes ist, und wird also den Glauben nie an- greifen. — Während die Theologie hier ganz verschwindet, ge- winnt dagegen der zweite Theil der Philosophie, die Naturphi- losophie (iKttuntJ plälosophy) eine um so grössere Ausdehnung. Dieselbe wird zunächst in speculative und operative eingetheilt, deren erstere die Naturgesetze kennen, die zweite sie benutzen lehrt. Jede derselben zerfällt wieder in zwei Theile, so dass der Physik als ihre praktische Anwendung die Mechanik, der Meta- physik dagegen die natürliche Magie entspricht. Unter Metaphy- sik ist also durchaus nicht, wie bisher, die philosophia prima zu verstehn, sondern der Theil (nur) der Naturphilosophie, welcher, während die Physik die materiellen und bewegenden Ursachen betrachtet, vielmehr die Formen und Zwecke ins Auge fasst. (Da- rum rauss der weltbekannte Satz Bacons. dass die Teleologie einer unfruchtbaren Jungfrau gleiche, auf die Physik beschränkt, auf seine Metaphysik nicht ausgedehnt werden.) Damit geht ein zwei- ter Unterschied Hand in Hand, dass nämhch die Physik es mit den concreten Erscheinungen, dagegen die Metaphysik mit dem Abstracten und Constanten zu thun habe. Eine Beschränkung er- leidet dieser Gegensatz, indem innerhalb der Physik ein unterer, der Naturgeschichte näherer, und ein oberer, der Metaphysik zu- gewandter, Theil unterschieden werden muss, von denen jener die concreten Dinge oder Substanzen, dieser dagegen ihre Naturen oder Eigenschaften, d. h. das Abstractere in ihnen, wie die Haupt- zustände (sclemaüsmi) der Materie und Hauptformeu der Bewe- gung, betrachtet. Schon die Physik lässt in ihrer gegenwärtigen Gestalt Vieles vermissen, wie z. B. die Astronomie ein Gemisch blosser Beschreibung (d. h. Geschichte) und allerlei mathemati- scher Hypothesen ist, welche alle ganz gleich gut zu den Er- scheinungen passen, anstatt dass sie physikalische, d. h. aus dem W^esen der Himmelskörper folgende, Erklärungen geben und so zu einer lebendigen Astromomie werden müsste, an die sich eine gesunde Astrologie anschliessen könnte. Und nun gar die Meta- physik! Diese ist ganz und gar ein Desiderat; denn was den einen Theil ihrer Aufgabe betrifft, die Zweckursachen, so hat man diese zwar berücksichtigt, aber in der Physik, wodurch diese verdorlien ward. Und wieder hat man geglaubt, an den wirkenden Ursachen, welche der Physiker findet, auch schon die denselben zu Grunde liegenden Formen zu haben, und sich mit physikalischen Erklä-

574 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

mngen begnügt, als gäben diese schon metaphysische Erkenntniss. Kurz eine Metaphysik, ohne welche man u. A. keine Theorie des Lichts haben kann, muss erst geschaffen werden. Als einen An- hang zur Physik, weil sie blosse Hülfswissenschaft, behandelt Ba- con die Mathematik; in einer Weise, welche zeigt, wie sehr ihm dieses Gebiet verschlossen war.

4. Das vierte Buch der Schrift de dign. et augra. sc. macht den Uebergang zum letzten Theil der Philosophie zur Lehre vom Menschen. Dieselbe ist, je nachdem sie den Menschen ausser- halb oder in der Gesellschaft betrachtet, Lehre vom Menschen oder vom Bürger. Die erstere, die philosophld /nimana, enthält theils die Wissenschaften, die seinen Leib, theils die, welche seine Seele betreffen. Beiden aber rauss vorausgeschickt werden die Lehre von der Natur und Person des ganzen Menschen und dem Bande (focdiis) jener Beiden, was Alles unter keine jener Abthei- lungen passt. Den Leib betreffen die Medicin, ferner die Schöu- heits-, Kraft- und Lustlehre (Cosmetha. AUdetica, Volnpiaria). Zu der letzteren werden auch die schönen Künste, mit Ausnahme der Poesie, gerechnet. Die Lehre von der Seele muss die ver- nünftige oder menschliche Seele (das spinicnliim) der theologi- schen Betrachtung überlassen, sich auf die Untersuchungen über die thierische Seele beschränken, diese aber nicht logisch als (tc- tiis. sondern physikalisch als durch Wärme sehr verdünnten Körper, d. h. ganz wie Telesins fassen. Ihre Haupteigenschaften hat man ziemlich genau untersucht, doch liegt ein Punkt noch sehr im Argen: das Verhältniss der spontanen Bewegungen zur Empfin- dung, so wie der Unterschied dieser letztern von der blossen Per- ception, die auch dem Empfindungslosen zukommt. Als Anhang zu den Thätigkeiten der Seele werden ihre ganz unvermittelten Perceptionen und Wirkungsweisen, die dirinfitlo und /'osciiKiflo betrachtet werden müssen. Die Bethätigung der Seelenthätigkei- ten und die Objecte derselben betrachtet die Logik (Lib. V und VI) und Ethik (Lib. \II). Jene betrachtet das Erkennen und das Verhalten zur Wahrheit, so dass sie die Anweisung zum Er- finden, Beurtheilen, Behalten und Mittheilen gibt, also Alles ent- hält was der Dialektik, Mnemonik, Grammatik und Rhetorik an- gehört, freilich noch viel mehr enthalten müsste. Die Ethik wie- der, welche den Geist betrachtet wie er Wille ist oder auf das Gute, d. h. das Nützliche geht, zerfällt in die Lehre vom Muster- bilde oder vom Guten, und die von der Leitung und Cultur des Willens (Georgien (in'imi). Nicht nur das individuell Gute (bo- nvm snitnfts). sondern auch das was der Gemeinschaft frommt

II. Die Weltweisen. B. Naturphilosophen. Bacou. § 249, 4. 575

ist schon in der Ethik zu betrachten, weil die sittliche Cultur da- rin besteht, dass der Mensch nicht nur sich, sondern auch Ande- ren lebe, etwas was die Alten bei ihrer Verherrlichung des specu- lativen Lebens verkannt haben. Eine ausführliche Darstellung der Ethik hat Bacoii nicht gegeben. Zerstreute Bemerkungen auch über die Fundamente derselben finden sich in seinen Essays. Seine Betrachtungen über Selbstliebe und Liebe zur Gesellscliaft, über Triebe und Leidenschaften, über die Beherrschung der letz- teren u. s. w. zeigen den gemässigten, allen Extremen abholden Sinn des gebildeten Weltmannes. Ein Gräuel sind ihm alle Strei- tigkeiten, welche durch die Religion, das Band des Friedens, ver- anlasst werden. Er nennt dies, die eine Tafel des Gesetzes ge- gen die andere stossen, und darüber dass mr Christen sind, ver- gessen dass wir Menschen seyn sollen. Den zweiten Theil der Lehre vom Menschen, den letzten der Philosophie, bildet die Po- litik (philosophia ririlis) , welche das achte Buch bildet. Von ihren Gegenständen, dem geselligen, geschäftlichen und staatli- chen Leben, j)llegt man die ersten beiden gar nicht, das letztere nur vom Standpunkt weltunkundiger Philosophen oder der Juristen zu betrachten, die beide, nur aus entgegengesetzten Gründen, dazu nicht taugen. Der Staatsmann wird hier das entscheidende Wort sprechen. Einem Könige gegenüber wie der, an den er schreibt , will Baron sich mit Winken begnügen , und gibt eine Menge von Aphorismen, unter welchen die wichtigsten sind, dass der Staat nicht nur Sicherheitsaustalt für Privatrechte sey, son- dern dass zum Wohl der Bürger auch Rehgiou, Sittlichkeit, ehren- volle Stellung zum Auslande u. s. w. gehöre. Praktische Rath- schlägc über das zu Stande kommen und Anwenden der Gesetze schUessen sich daran. Da der Inhalt der Theologie als geoffen- bart ganz ausserhalb des Gebietes der Philosophie lag, so betref- fen die Untersuchungen des neunten Buches, in dem er sich sehr heftig gegen die erklärt, die wie Paracclstts und die Cabbahsten aus der Bibel Philosophie lernen, oder wieder die Bibel philoso- phisch erklären wollen, nur die Form, in welcher die Glaubens- wahrheiten vorzutragen sind. Hier vermisst er alles das, was in späterer Zeit Apologetik, Irenik und Biblische Theologie genannt worden ist. Zuletzt stellt er alle seine Desiderate als einen no- vus orbis scientiarum zusammen.

5. Wenn diese Umschau über den ganzen Wissenskreis ge- zeigt hat, dass sein Zustand nicht sein- glänzend, so entsteht die Frage : warum so ? Ein Hauptgrund ist dem Bacou die sklavische Abhängigkeit von den Alten. In fast wörtlicher üebereinstimmung

576 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

mit Bnnio (Cena delle cen. p. 132) sagt er, dass die Ehrfurcht vor dem Alter uns dahin bringen müsse, unsere Zeit über Alles zu setzen, denn sie ist um Jahrtausende älter, als die der s. g. Alten, und ist in ihrem längeren Leben durch Erfahrungen und Erfin- dungen aller Art gereifter. Mit Telesins. den er als den grössten unter den neueren Philosophen bezeichnet, weisst Bacon oft auf die drei grossen Erfindungen des Schiesspulvers, der Magnetnadel und der Buchdruckerkunst hin, durch welche die Gegenwart sol- chen Vorsprung vor der Vergangenheit habe. Da dem Alterthum mit diesen und anderen Erfindungen auch alle gemeinnützigen An- wendungen derselben fremd waren, so ist es erklärlich, dass dort der selbstsüchtige Gesichtspunkt festgehalten ward, dass die Phi- losophie nur um des Genusses zu wissen willen da sey. Die ver- ständig gewordene Menschheit denkt nicht so epikureisch, sie setzt als Maassstab der Philosopliie die Gemeinnützigkeit, die praktische Anwendbarkeit. Die Ausstattung des Lebens mit Bequemlichkei- ten aller Art ist ihr Ziel (so u. A. im Valerius Terminus p. 223. ed. Ellish Dazu kommt, dass man von dem Alterthum nicht ein- mal die Lehren entlehnt hat, die es am Meisten verdient hätten. Pi'alo, namentlich aber der neidische Aristoteles , der wie die tür- kischen Kaiser sicher zu herrschen nur glaubte, wenn alle Präten- denten des Throns getödtet wurden, sind vom Schicksal begün- stigt, fast allein zu uns gelangt, ein Beweis, dass auch auf dem Strome der Zeit die leichte Waare fortgetragen wird, die gewich- tige zu Boden sinkt. Hätte man, anstatt dieser Beiden, von de- nen der Erstere wegen seiner Vorliebe für Theologie und Politik die Physik vernachlässigt, der Zweite wegen seines Eifers für Lo- gik sie verdirbt, indem er die Welt aus Kategorien ableitet, den Dcmokrit, Empedokics und andere Naturphilosophen zu Lehrern genommen, welche Alles aus wirkenden Ursachen, nichts teleolo- gisch wie jene Beiden, erklärten, so stünde es besser. Denn, da jede gemeinnützige Praxis sich zuletzt auf Beherrschung der Na- tur zurückführen lässt, die, seit sie der Mensch durch seinen Fall verlor, nur durch Benutzen, darum aber Erkennen, ihrer Gesetze möglich ist, so muss die Naturphilosophie als der Haupttheil der Philosophie angesehen, und auf ihre Anwendung vor Allem hin- gearbeitet werden. Dies aber Hess der Einfluss des Aristoteles nicht zu, indem es durch ihn zu einem fast stehenden Axiom wurde, dass das einzig wissenschaftliche Verfahren das syllogisti- sche sey. Zwar wird in der Logik des Aristoteles und der Scho- lastiker neben dem Syllogismus auch die Induction angeführt; ab- gesahn davon aber, dass ihr eine untergeordnete Stellung ange-

II. Die Weltweisen. B. Naturphilosophen. Bacou. §. 249, 5. 6. 577

wiesen wird, ist auch diejenige Induction, welche sie meinen, eine ganz untergeordnete, ja kindische, indem sie darin besteht, dass einzehie Beispiele gesammelt werden, was doch allerhöchstens zu einer Vermuthung, nie zu einem Wissen, bringt. Für die Schola- stiker, die durch ihr Denken nichts Neues gefunden, höchstens das Alte zerlegt haben, war das syllogistische Verfahren, das nur dem schon Bekannten Alles subsumirt, das nicht Erfindungen sondern nur Worte macht, und dem an dem regnum hominis wenig, an dem nuniiis pro/essoriiim sehr viel zu liegen scheint, ausreichend. Anders in der Gegenwart. Die Zeit, deren Eigenthümlichkeit ist, täglich neues Gemeinnütziges zu erfinden, bedarf einer neuen Lo- gik, durch welche jene Erfindungen aufhören, wie bisher, ein Ge- schenk des Zufalls zu seyn, also die Erfiudungskunst die erste Stelle einnimmt.

6. Zu dieser neuen Logik geben nun die Grundzüge die co- gitata et visa vom Jahre 1607, in erweiterter Gestalt das Novum Organon, welches darum als Zweiter Theil des grossen Werkes zu dem globus intellectualis als dem ersten (s. oben sub 2. 3. 4) hinzutritt. Nach dem so eben Erörterten kann es nicht Wunder nehmen, wenn als das Ziel das Verständniss der Natur (iniev- prefatio milurae) angegeben wird. Wie bei jeder, so ist auch bei dieser Interpretation das Hineintragen zu vermeiden; darum sind vor Allem alle Anticipationen wegzulassen. Auf sie bezieht sich der Zweifel, mit dem nach Bacon angefangen werden soll, und der eben deswegen gar nicht mit dem der Skeptiker des Alterthums verglichen werden kann. Weder gründet er sich auf Misstrauen gegen Wahrnehmung und Vernunft, denn Bacon vertraut beiden, noch auch dehnt er sich so weit aus, wie dort, denn anstatt des Skeptischen: Nichts wird gewusst, sagt Bacou: bis jetzt wird sehr wenig gewusst (vgl. §. 248, 6), noch endhch beruhigt er sich bei der Akatalepsie (s. §. 101, 1. 2), sondern er sucht vielmehr die Eukatalepsie. Er wird es nicht müde, die zu tadeln welche, weil sie Etwas nicht erkannt haben, sogleich durch eine matitiosa civcumscriplio der Vernunft die Fähigkeit des Erkennens abspre- chen. Auch mit dem absoluten Zweifel des Üescartes (s. unten §. 267, 4) darf der Baconische nicht zusammengestellt werden, da sich der letztere nur auf die ÜTigen vorgefassteu Meinungen, auf das was er idola nennt, bezieht, durchaus aber nicht so weit geht, das Daseyn der Sinnenwelt, Gottes u. s. w. in Frage zu stellen. Dieser idola werden nun zuerst drei, später vier, Arten unter- schieden : die welche in allen Menschen herrschen, weil sie in der Menschen Art gegründet zu seyn scheinen, können deswegen idola

Knlm.iuu Oescli. d. i'liil. 1. "tT

578 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

tribus heissen; die Vorurtlieile wieder, die in den Schranken der eignen Individualität, die Bncon oft mit der Höhle des P.'ato (s. §. 77, 8) vergleicht, ihren Grund haben, nennt er eben darum idola specvs; im Verkehr mit Menschen unter einander entwickelt sich eine dritte Art von Vorurtheilen , die idola fort (pdlalii); endUch kommt dazu eine vierte, die Fictionen nämlich und fal- schen Theorien, welche uns beherrschen weil sie Mode sind, die Idola thediri Da der zweiten Art unzählige shid, so verzichtet Bncon darauf, auch niu' die hauptsächlichsten namhaft zu machen. Anders bei den übrigen: Unter den idoUs tribus wird besonders die Neigung, überall Gleichmässigkeit vorauszusetzen, ferner die, aus Finalursachen zu erklären, unter den idolis fori vor Allem das Vorurtheil gerügt, dass man in den Worten mehr sieht als Spielmarken, welche anstatt der Dinge gelten, ein Vorurtheil aus dem eine Menge von Irrthüniern, z. B. alle antinominalistischen Sätze, entstehn. Die falschen Modetheorien endlich, die idola thcu- tri, sind der Wissenschaft am Verderblichsten geworden. Man kann sie auf die Hauptformen der sophistischen, empirischen und abergläubigen Theorie zurückführen, von denen die erste sich durch Worte und allgemein herrschende Vorstellungen, die zweite durch unvollständige und nicht gehörig geprüfte Erfahrungen, die dritte durch Hineinmengen theologischer Ansichten fesseln lässt.

7. Die Reinigung des Geistes von den Idolen ist nur der nega- tive Theil dessen , wozu das neue Organon anleiten will , und Bu- con selbst vergleicht sie oft mit dein Reinmachen der Tenne. Als positive Ergänzung tritt hinzu die Anweisung, wie man zu wahrer und gemeinnütziger Erkeuntniss gelangt. Sie bildet den Inhalt des zweiten Buches, während das erste besonders die Idole be- traf. In dem richtigen Verfahren lassen sich zwei Stufen unter- scheiden: Zuerst müssen aus der Erfahrung die Axiome abgeleitet werden , dann aber inuss von den gefundenen Axiomen zu neuen Erfahrungen übergegangen werden. Ausgangspunkt also ist die Erfahrung, d. h. der allein richtige Weg ist die Induction. Nur muss man nicht, wie dies gewöhnlich geschieht, sich damit begnü- gen, diejenigen Fälle (iitslanüae) zusammenzustellen, die für Et- was sprechen, sondern mit derselben Genauigkeit muss man die Fälle registriren, die das Gegentheil darthun (instdufiue neguticae^ exclnsirue) . also allen den Fällen, wo Licht und Wärme zusam- men vorkommen, die entgegenstellen, wo sie nicht vereinigt sind, gerade wie man in einem Process Belastungs- und Entlastungs- zeugen vernimmt. Endlich aber müssen auch die Fälle zusam- mengestellt werden, wo mit Mehrung oder Minderung des Lichts

n. Die Weltweisen. B. Naturphilosophen. Bacon. §. 249, 7. 8. 579

eine gleiche der Wärme, und wieder, wo nicht, eintritt. So genau nun auch diese Instanzentafehi eingerichtet seyn mögen, so ist klar, dass eine absolute Vollständigkeit unmöglich erreicht wird, und es entsteht nun die Frage, wie trotz dem der inductive Weg eine Sicherheit gewähren kann? Nur dadurch, dass einzelne Fälle, wenn auch sehr selten, den Vorzug haben vor anderen, die sehr häufig vorkommen. Den geraden Gegensatz gegen diese werden die, sehr häufig vorkommenden, Zufälhgkeiten oder „Possen" der Natur bilden, die der Beachtung gar nicht werth sind. Jene Prä- rogative, d. h. der -qualitative Vorzug, gewisser Instanzen wird nun von Bacon sehr genau betrachtet und auf sieben und zwanzig Hauptarten zurückgeführt, welche nach der ihm eigenthümlichen Weise mit Namen bezeichnet werden , die, wenn auch seltsam, ihm die prägnantesten scheinen. Unter ihnen kommt die iustantki cruci.s (enghsch: /im/erposl) vor, so genannt, weil sie, wie der Wegwei- ser am Kreuzweg, auf die Lösung anderer Aufgaben hinweist. Da eine solche Rangordnung nur ein Product des abwägenden Ver- standes ist, so hat Bacon Recht, wenn er den von ihm beschrie- benen Empirismus dem gewöhnlichen als e.vperientia Uferata ent- gegenstellt. Eben so aber auch dem Ableiten aus blossen Hypo- thesen. Nicht wie die Ameisen nur sammeln, nicht wie die Spinne aus sich selbst die Fäden ziehn, sondern wie die Biene aus dem Gesammelten Honig macheu soll der wahre Empirismus, d. h. die Philosophie. Eine jModification früherer Ansichten muss man da- rin sehn, dass, wenn er unter den entscheidenden Instanzen die anführt, welche durch Parallelismus und Analogie mit anderen eine besondere Wichtigkeit bekommen, hier Sätze durchgenommen wer- den , welche Bacon früher der philosophia prima zugewiesen hatte (s. oben sub 3) , so dass also diese letztere zu verschwinden scheint. Unter den für die Naturwissenschaft fruchtbaren Analogien wird nicht nur der Aristotelische Gegensatz zwischen dem Oben und Unten der Pflanzen und dem der Menschen angeführt, sondern auch die Analogie zwischen Spiegeln und Sehen, zwischen Wie- derhallen und Hören.

8. Die möglichst vollständige Aufzählung der wichtigsten In- stanzen gibt nun den Stoff (darum oft syha genannt), dieser heisst ihm auch hlsioria, so dass also, ganz wie bei den italiä- nischen Naturphilosophen, die Geschichte zur Grundlage der Wis- senschaft wird. Eine möglichst vollständige hislorla iiatiiralis sollte sich als dritter Theil seines grossen Werks der encyclopädi- schen Uebersicht und dem Novum ürganon auschliessen. Nur Bruchstücke einer solchen hat er gegeben. Die historia veiitorum

580 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

und h. vitae et mortis sind ausführliche Abhandlungen, die h. densi et rari, h. sympathiae et antipathiae rerum, h. sulphuris mercurii et salis, sind nur Inhaltsangaben von dergleichen. Er gibt mehr als vierzig solcher historiae an, die geschrieben werden müssten. Seine, erst später ins Lateinische übersetzte, Sylva sylvarum, so genannt weil hier die (historiae oder sylvae genannten) Materia- liensammlungen zu einer Sammlung verbunden wurden, zeigen Ba- ron als fleissigen Compilator, der, ohne* sie immer zu nennen, als Hauptquellen die Probleme des .Aristoteles, die Naturgeschichte des P/inius, Arosta-'s Historia natural y moral de las Indias, Por- ta's Magia naturalis, Cardav's Schriften de subt, und de variet., Scnligers Exercit. adv. Card., Sendifs Reisen und andere Werke excerpirt. Ueberhaupt schöpft er fast nur aus Büchern ; wie schlecht es mit seinem eignen Experimentiren aussieht, darauf haben Las- son, Liehuj u, A. ein grelles Licht geworfen, und was er als von ihm selber gesehn erzählt, zeigt wie wenig er Einbildung und Wahr- nehmung zu unterscheiden vermochte. Mit Absicht vermeidet er in dieser Materialiensammlung jeden Anschein einer systematischen Ordnung, denn die Zusammenstellung von je hundert Erfahrungen zu einer Centurie wird man doch nicht so nennen, und geht, nach- dem eine Menge von theils vereinzelten (solitary) theils combinir- ten (consort) Erfahrungen hinsichtlich der Töne aufgezählt waren, zu solchen über, welche die Farben der Metalloxyde, dann zu sol- chen, welche die Verlängerung des Lebens betreffen u. s. w. Diese Materialien aber geben nur den Stoff, aus welchem die Biene den Honig machen sollte, und Tiacon sucht, da er die interpretafio der ganzen Natur als Etwas ansehn gelernt hat, was über die Kräfte eines Menschen geht, wenigstens an einem Beispiel zu zeigen, wie er sich diese, höchste, Aufgabe der Naturphilosophie denkt. 9. Was Bacon dem vierten Theil seines grossen Werks als Aufgabe zuweist, ist eigentlich das Werk selbst, eben die iii- terpretatio naturae, deren Nothwendigkeit im ersten, Methode im zweiten, Ausgangspunkt im dritten Theil festgestellt worden war. Hier handelt sichs zunächst darum, das Ziel dieser Naturerklä- rung zu fixiren, eine Aufgabe die so nahe mit der methodologi- schen zusammenhängt, dass ihre Beantwortung in dem Neuen Or- ganon versucht wird. Als dies Ziel wird wiederholt angegeben, dass die den Erscheinungen zu Grunde liegenden Formen erkannt werden sollen. Da nun dies oben (sub 3) als die Aufgabe der Metaphysik bezeichnet war, so ist also die Aufgabe: die dort ver- misste Metaphysik aufzustellen. Der Weg dahin führt durch die Physik, die an die Naturgeschichte anknüpfend in ihrem oberen

II. Die Weltweiseu. ß. Naturphilosophen. Bacon. §. 249, 9. 10. 581

Theile sich mit den abstracten Naturen oder Eigenschaften der Körper, wie Hitze, Kälte, Dichtigkeit u. s. w. beschäftigt. Aber auch bei ihnen hat sich die aufsteigende Induction nicht zu beru- higen, sondern fortzugehn zu dem Aufsuchen der Formen dieser Qualitäten. Mit dem Worte Form, das Bacon den Scholastikern entlehnt, verbindet er einen ganz andern Sinn als sie. Ihm ist Form der allerdings zunächst verborgene, aber durchaus nicht un- erkennbare, tiefere Grund der sich manifestirenden Erscheinungen und Eigenschaften. Daher fällt ihm Form bald mit der wahren Differenz oder wesentlichen Eigenschaft, bald mit der erzeugenden Natur der Dinge, bald mit dem den Erscheinungen zu Grunde lie- genden Gesetze zusammen, so dass ihm Suchen der Formen und der letzten Axiome zum Synonymon wird. Sehr früh hat Bacon darauf hingewiesen, dass dieser letzte Gmnd der physikalischen Eigenschaften ganz besonders in der verschiedenen Configuration der kleinsten Theilcheu (den Schematismen) der Materie und den verschiedenen Bewegungen liegen möge. Sollte er ja die Hoffnung gehabt haben, dass ihm selbst die Reduction aller von der Phy- sik betrachteten Naturen auf diese, ihnen zu Grunde liegenden natnrae naturanles gelingen werde, so hat er diese stolze Hofifnung bald mit der viel bescheidenem vertauscht, dass er an einem Bei- spiel diese Reduction zeigen könne. Dies ist die Wärme, die in ihrem tiefsten Grunde nichts seyn soll, als eine zitternde Bewe- gung der kleinsten materiellen Theilchen, so dass also Bewegung die Form der Wärme ist. Hinsichtlich der Wärme wird dies wie- derholt und ganz entschieden ausgesprochen. Andeutungen, dass es hinsichtlich andrer physikalischer Eigenschaften sich eben so verhalte, kommen bei ihm vor; sie berechtigen höchstens zu sa- gen, er habe gewünscht, nicht: er habe gesagt, dass alle physi- kalischen Eigenschaften sich auf das zurückführen Hessen, was man heute Molecularbewegung nennt. Dagegen ein Andres, was man nach heutiger Ansicht für untrennbar hält von solcher Nei- gung, Vorliebe für die Anwendung der Mathematik auf die Phy- sik, findet sich bei ihm gar nicht. Im Gegentheil, wie Aristote- les wegen seiner teleologischen Ansicht (s. §. 88, 1) den Pytha- goreern, so wirft Bacon den Mathematikern vor, dass sie die Phy- sik verderben, weil diese es mit dem Quahtativen zu thun habe. Diese Nichtachtung der Mathematik ist einer der Gründe, warum er die Ungeheuern Entdeckungen seiner Zeit so wenig würdigte.

10. Aber auch das Finden der zu Grunde liegenden Formen ist noch nicht das Letzte. Dies liegt vielmehr in der auf solches Erkennen gestützten Naturbeherrschuug. Die Erkenntniss der pri-

582 MittelalteiHche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

mitiven Formen setzt in Stand, neue, secundäre, Qualitäten er- scheinen zu lassen. Wer den Grund aller Eigenschaften des Gol- des erkannt hätte, wäre im Stande alle seine Eigenschaften zu- sammen erscheinen zu lassen, und dann hätte er Gold. Der letzte Zweck alles Wissens ist Macht über die Natur, und deswegen zielt es eigentlich auf das Hervorbringen von Artefacten. Auch bei die- sen ist ein Repertorium dessen, was bereits erfunden ist, Vorbe- dingung dazu, dass man das zu Erfindende erkenne. Darum theilt sich die letzte Aufgabe in eine doppelte, und Bncon kann als fünften Theil seines grossen Werks ein Register des schon Er- fundenen, als sechsten Winke zu neuen Erfindungen angeben. Was er hier geleistet hat, von dem gesteht er selbst, es sey äus- serst gering. Für uns ist das wichtigste der durchgeführte prak- tische Gesichtspunkt, der ihn nicht abschreckt auch wo er ihn da- hin bringt, die Wissenschaft banausisch, die Poesie prosaisch zu behandeln. Glaubt er doch den Mythen des Alterthums einen gros- sen Dienst zu erweisen, wenn er sie in oft sehr frostige Allego- rien physikalischer und moralischer Lehren verwandelt. Gemein- nützigkeit, Förderung der menschlichen Bequemlichkeit, dieser letzte Zweck alles menschlichen Thuns und Treibens wird am Sichersten erreicht durch Naturerkenntniss , denn Wissen ist Macht.

§. 250. Die nicht abzuleugnende Thatsache, dass die Schriften Ba- coiis. mit denen der italiänischen Naturphilosophen verglichen, mehr als sie den Geist der Neuzeit athmen, und dass er doch die Entdeckungen, welche sich für die Folgezeit als die fruchtbarsten erwiesen haben, ja ihre Urheber (Cojiermcvs , Galilei. Gilbert, Harrcy u. A.) ignorirt oder doch nicht wie jene zu würdigen weiss, dass ferner trotz seines Lobes der Naturwissenschaft er ge- rade auf die Ausbildung dieser keinen nennenswerthen Einfluss geäussert hat (Thatsachen die in neuester Zeit zu so ver- schiedner Beurtheilung des Bncon geführt haben) lassen sich nur (dann aber leicht) vereinigen, wenn man dem Bncon nicht die Stelle eines Anfängers der neueren Philosophie anweist, son- dern in ihm den Abschluss der mittelalterlichen sieht. Er hat hin- ter sich die Standpunkte, wo die Naturwissenschaft sich dem Dogma unterwarf und wo sie es bekämpfte. Er steht darum höher als sie und der Neuzeit näher. Dieser Fortschritt betrifft aber nur das Verhältniss der naturwissenschafthchen Lehren zur Rehgion und Kirche. Die Lehren selbst aber, wenn ihnen auch das Skla- ven- oder Freigelassenenkleid abgestreift wurde, sind im Grunde nicht sehr verschieden von denen, welche jene niedrigem Stand-

II. Die Weltweisen B Katurphilosophen. Bacon. §. 250. Oöo

punkte hervorbrachten. Es ist wahr, er sagt, die bisherige Wis- senschaft sey nicht die rechte, aber eine bessere an ihre Stelle zu setzen vermag er nicht, und er zeigt daher stets diesen Contrast zwischen dem berechtigten Gefühl ganz anders zu stehn als die Frühereu, und der Unfähigkeit eine Naturwissenschaft darzustellen, die specifisch von der des Telesuis und CdnipanoUn verschieden ist. AVie der Vogel der noch nicht flügge mit aller Anstrengung der Flügel allerhöchstens sich etwas über das Nest erhebt, aber stets in dasselbe zurückfällt, so quält sich Bacon ab, aus den mit- telalterlichen Lehren herauszukommen, bei denen es ihm nicht ge- heuer, und verfällt ihnen stets wieder. Den gi'ossen Schritt, durch welchen sich die moderne Naturforschung von der antiken und mittelalterlichen unterscheidet, dass an die Stelle der Erfahrung, die man macht, das Experiment tritt, in dem man auf dieselbe ausgeht, ahndet er nur; sobald er ihn in Gedanken fixiren will, verschwindet er ihm oder wird wenigstens schief gefasst. Dass im Experimente absichtlich alles Individuelle entfernt, nur was Be- dingung des Gesetzes ist, übrig gelassen wird, verwandelt er in ein Aufsuchen negativer Instanzen, als wäre Abwesenheit wahrnehmen schon: sie veranlassen. Und wieder, wenn er in der Lehre von der Prärogative einiger Instanzen vor anderen ganz richtig zeigt, dass nicht Alles, was oft oder auch immer sich zeigt, darum ein durch Experiment gefundenes Gesetz sey, so fehlt doch bei ihm die positive Ergänzung, dass nur, wenn das Gefundene rational, darum <i priori gewnsst, es als Gesetz anzusehn ist. Hätte er mehr als in Worten zwischen Erfahren und Experimentiren unterschieden, so hätte es ihm nicht geschehen können, dass* bei der Ermittelung des specifischen Gewichtes, obgleich er das Verfahren kannte, das längst Archimedcs und kurz vor ihm selbst Porlu eingeschlagen hatte, sein eignes so roh bUeb. Die Erfahrung und darum die Induction, durch die sich Bacon leiten lässt, war schon von Te- lesiiis und Cavtpanel/a zur Führerin genommen ; sie Alle aber wis- sen höchstens der Natur Geheimnisse abzulauschen, dagegen Fra- gen an sie zu stellen, auf die sie, und zwar mit Ja oder Nein, antworten muss, und bei denen man die Antwort voraussieht, vermögen sie nicht. Die bei dem Studium Baconischer Schriften sich oft aufdrängende, und auch oft gezogene, Parallele zwischen Bacon und A. von HumbokU übersieht den Umstand, dass der Letztere nicht nur Lücken im Wissen bemerkte, sondern auch füllte, mehr aber noch bestimmte Aufgaben zu stellen vermochte, durch welche sie gefüllt wurden, darum aber auch mit jedem auf- strebenden Geist sich in Rapport zu setzen wusste, während, sei-

584 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

ner Stellung gemäss, Bncov mit den gleichzeitigen Gründern mo- derner Naturwissenschaft gar keinen Verkehr hat, nur von damals schon Gestorbnen, d. h. Büchern, sich helfen lässt. Sein Vergleich des eignen Thuns mit dem Thun des Richters, der die Zeugnisse für und wider abwägt, ist charakteristisch: weder mit dem Augen- zeugen noch gar mit dem Polizeispion wagt er sich zu vergleichen. Kurz, des Erasmvs Wort über Sciiccn (s. §. 107, 3) gilt auch hier: An dem Maassstabe des Mittelalters gemessen erscheint Ba- coii als modern, an dem der Neuzeit, als mittelalterlich. Damit aber ist auch ausgesprochen, dass sein Verdienst kein kleines ist. Er hat, was die mittelalterliche Naturphilosophie geleistet hatte, zusammengefasst , er hat ihr dann weiter einen ganz weltHchen Charakter gegeben, indem er alle idealen Zwecke, sey es nun die Ehre Gottes, sey es Befriedigung des Wissensdurstes, bei ihrem Studium verwarf, und die prosaischen industriellen Zwecke an ihre Stelle setzte. Es scheint als wäre ein Weltmann im gu- ten und schlechten Sinne des Worts am Meisten geeignet gewe- sen, dies durchzuführen. Gewiss aber waren der enghsche Ur- sprung und das so frühe Einathmen der Atmosphäre, die im vo- rigen §. geschildert wurde, wesentliche Momente für die Entwicklung dieses Standpunkts, der sich allerdings rühmen kann, er sey ein ganz andrer als die bisherigen, und doch zu dem der Neuzeit un- gefähr so sich verhält wie sich des Prologoras: Jeder Mensch ist das Maass aller Dinge, zu des Sokrates: „Der" Mensch ist es, ver- halten hatte (s. §. 64, 1).

C. (vgl. §. 241.) Rechtsphilflsophen.

H. Fr. W. Hinrichs Geschichte des Natur- und Völkerrechts etc. 1848 52. 3 Bde.

§. 251. Während die Weltweisheit als Naturphilosophie den Makro- kosmus zum ausschliessenden Gegenstand ihrer Betrachtung macht, lenkt sich bei anderen, gleichfalls von der bisherigen Gottesweis- heit Abgewandten, das Interesse auf die Welt im Kleinen. Die Gesetze derjenigen Welt, deren Bestandtheile nicht Elemente oder Gestirne, sondern Menschen, deren bewegende Kräfte nicht 'Wär- me oder Kälte, sondern Leidenschaften und Neigungen sind, diese zu erforschen wird jetzt die Hauptsache, und wenn dort allmählich die ganze Philosophie der Physik untergeordnet ward, so geschieht hier ganz Aehnliches hinsichtlich des jus natiirae et gentium. Die drei verschiedenen Stellungen der Weltweisheit zur Kirche und

II. Die Weltweisen. C. Rechtsphilosophen a. Kirchliche. §. 252, l. 585

zur christlichen Religion sind bereits oben (§. 240) angegeben; auch das Naturrecht und die Politik dieser Periode durchläuft die Stadien des kirchlich-, antikirchlich- und unkirchlich -Seyns. Nur unterscheidet sich der Gang hier von dem, den die Naturphilo- sophie ging, dadurch, dass der Bruch mit der Kirche und der Hass gegen sie, früher eintritt als dort. In der Entwicklung der Rechtsphilosophie steht der, welcher in der sich entwickelnden Naturphilosophie dem Bruvo (s. §. 247) entspricht, dem Anfange der Periode fast eben so nahe, wie sein entsprechendes Correlat ihrem Ende. Eine Folge davon ist, dass das Gleichgültig werden gegen die Kirche einen längeren Zeitraum einnimmt und eine grös- sere Zahl von Zwischenstufen darbietet. Wo die kirchhch gesinn- ten Naturrechtslehrer auf jenen Bruch mit der Kirche Rücksicht nehmen und demselben entgegentreten, wird ihr Standpunkt zur Reaction ; wo er ihnen unbekannt bleibt, ist ihre Kirchlichkeit un- befangen, naiv, und selbst wenn sie später leben, als der, der mit der Kirche brach, werden sie vor ihm abgehandelt werden müssen. Ein solches Ignoriren aber ist hier um so eher möghch, als die Empörung gegen die Kirche zu ihrem Organ einen praktischen Staatsmann hat, dessen Theorie nicht als solche vorgetragen ward, sondern aus seinen praktischen, auf örtliche und Zeit - Umstände berechneten Rathschlägen erst später herausgelesen worden ist.

§. 252. a. Die kirchlichen Naturrechtslehrer. C. V. Kaltenbom die Vorläufer des Hugo Grotius. Leipz. 1848.

1. Bei dem Ansehn, welches Thomas von Aqvino in der rö- mischen Kirche genoss, lag es in der Natur der Sache, dass die auf dem Standpunkte der unveränderten römisch-katholischen Lehre verharrten, und die deswegen die alt-katholischen Rechtsleh- rer genannt werden können, die von ihm gelegte Grundlage (s. §. 203, 8. 9) nicht verliessen. Namentlich wenn sie wie z. B. Do- men'icus de Solo (1494 1560), Verfasser der libri decem de ju- stitia et lege (gedr. u. A. Venet. 1588) zu dem Orden gehörten, den T/'omas verherrlicht hatte. Nur muss nicht an eine blosse Wiederholung gedacht werden. Durch entschiedenere Berücksich- tigung des kanonischen Rechts drängt sich bei diesen Nachfolgern des Thomas, viel mehr als bei ihm selbst, eine und die andere Bestimmung des römischen Rechts in den Vordergrund. Mehr noch als bei den Theologen, welche wie Thomas die Aristoteli- sche Begründung besonders festhalten, geschieht dies natürlich bei den Juristen, welche namentüch (wie Cicero und andere römische

586 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

Schriftsteller) das jus nainrae und gentium als Eins setzen , und nun die Bestimmungen desselben mit dem kanonischen Rechte in Einklang zu bringen suchen. Die Juristen Franciscirs Coimanris, Didaevs Covarrnrius von Leyva (1517 1577), Albertus Bolog- netus (1539 1588), Verfasser der Schrift de lege, jure et aequi- tate, können hier als Beispiele einer Behandlung der Rechtslehre angeführt werden, bei der es ganz erklärlich ist, dass sich Theo- logen mit ihr befreundeten.

2. Zwar im Gegensatz zu der römischen, aber durchaus nicht zur katholischen Kirche behaupten die Protestanten zu stehn. Bei der Stellung aber, die Luther dem kanonischen Rechte gegen- über einnahm, bei dem ausschliesslichen Betonen des Schriftprin- cips, mussten sich ihre Untersuchungen anders gestalten, als bei den römisch-katholischen Theologen und Canonisten. Luther selbst hat es mehr bei gelegentlichen Aeusserungcn über Recht und Ge- rechtigkeit, über den Staat und seine Gewalt bewenden lassen. Der mystische Zug in seinem Wesen lässt ihn oft diese Fragen, als den äusseren Menschen betreffend, in einer Weise behandeln, die es erklärlich macht, dass der weltverachtende Böhme (s. §. 234) so "Vieles ihm entlehnen konnte, und wieder lässt der tiefe Re- spect vor der von Gott eingesetzten Obrigkeit ihn Aeusserungen thun, welche Staatsvergötterer mit Freuden citirt haben. Dies ist einmal das liOos in sich reicher Naturen, die nicht nur Eines sind, sondern Viel. Ganz anders als Luther steht Philipp Melanclithou (1407—1560). Seine Ethicae doctrinae elementa, zuerst 1538, dann oft gedruckt, sind für die Protestanten auch in ihrem na- turrechtlichen Theil lange Zeit von fast kanonischem Ansehn ge- wesen. Der Hauptunterschied zwischen ihm und den römischen Katholiken besteht darin , dass er das jus nftturate, diese Gmnd- lage alles positiven Rechts, ganz besonders im Dekalog wieder zu entdecken sucht. Dies hindert ihn aber nicht, die Aristotelischen Untersuchungen über die Gerechtigkeit, so wie die Begriffsbe- stimmungen des Corpus juris gleichfalls auszubeuten. Im Inhalt unterscheidet sich die Lehre Mehiuchthons von der der Römisch- Katholischen natürlich dort, wo das Verhältniss von Staat und Kirche zur Sprache kommt. Zwar nicht eine absolute Trennung, wie Luther vielleicht eine Zeit lang gewünscht hatte, doch aber eine strengere Sonderung beider Gebiete, und besonders eine grös- sere Unabhängigkeit des Staates wird von ihm gefordert.

3. In dem Gleichsetzen des jus naturale mit den Vorschriften des Dekalogs, so wie vielen anderen Punkten, schliesst sich selbst- geständig an MeUmchthon an Johannes Oldevdorp , der als Pro-

II Die Weltweisen. C. Rechtsphilosophen, a. Kirchliche §. 252, 4. 5. 587

fessor juris 1561 in Marburg starb, und dessen sämmtliche Werke in Basel 1529 in zwei Foliobänden erschienen sind. Seine juris naturalis gentium et civilis elacr/coyt) war bereits früher Cöln 1589 erschienen und ist als der erste Versuch anzusehn, ein System des Naturrechts aufzustellen. Die Kenntniss des urspilinglichen J7(s naiiirnle, dessen Ausdehnung auf die Thiere an Ulplan streng zu tadeln, ist durch den Sündenfall verdunkelt, durch den De- kalog wieder erneuert. Da die Griechen von den Hebräern ihre Weisheit entlehnten, die Verfasser der zwölf Tafeln aber von den Griechen gelernt haben, so ist die Uebereinstimnmng des römi- schen Rechts mit dem Dekalog und dem natürlichen Rechte er- klärlich.

4. Der Däne Nicohms Jlemvüny (1518 1600), ein langjäh- riger persönlicher Schüler ISJelavclthoiis ist besonders zu erwäh- nen, weil er in seiner Schrift de lege naturae methodus apodictica (1562, dann öfter gedruckt) für das Naturrecht eine strenge Form nach Art der philosophischen Wissenschaften und eine Ableitung aus dem Principe des Rechts fordert. Das von Gott in den Men- schen gesetzte, durch das Gewissen laut werdende, Gesetz der Natur bezieht sich eben sowol auf sein Denken als auf sein Handeln. Darum gibt es einmal eine Dialektik, andrerseits eine Moralphilosophie. Hat man bei jener es als nothwendig erkannt, alles methodisch abzuleiten, so ist es inconsequent , es bei dieser nicht zu thun. Es muss also eine Definition des Naturgesetzes für das Handeln aufgestellt werden (ähnlich wie dort das Denk- gesetz) und durch Anakse alles darin Enthaltenen müssen die Normen für alle Verhältnisse abgeleitet werden. Der Aristoteli- schen Eintheilung gemäss wird ethisches, ökonomisches und poli- tisches Leben unterschieden, das erstere aber als rita spiritvalis gefasst und über die beiden anderen gestellt, wie denn auch in dem Dekalog, dieser epitome legis naturae. die erste Tafel die vitn spiritiialis betreffe, während die Gebote, welche das ökono- mische und politische Leben, den Hausstand und die Erhaltung des Friedens, betreffen, sich auf der zweiten Tafel finden. Die Ver- bindlichkeit aller jener Bestimmungen lasse sich übrigens, ohne Berufung auf die Offenbarung, aus der Vernunft ableiten.

5. Was Hemmivg gefordert hatte, das sucht Bcnedlrt Wivk- Icr (Professor der Rechte in Leipzig, starb als Syndicus von Lübek im J. 1648) auch zu leisten. Seine Principiorum juris libri quin- que erschienen in Leipzig 1615, und sind wirklich ein methodisch gedachtes Buch. Vor Allem warnt er vor einer Verwechslung von lex xmdjvs. die sich wie consl'dvens und covstitvtum oder Ursache

588 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

und Wirkung verhalten. Zuerst betrachtet er die lex nnturne, dann das jus natvrae. Wie von Allem, so ist ihm auch vom na- türlichen Rechte Gott der aller erste Grund. Indem aber das Recht vermittelst der menschlichen Freiheit und des Willens ent- steht, ist Gott nur entfernte Ursache desselben, und so lange Gott die menschliche Freiheit, die cunsd pro.rhnn des Rechts bestehn lässt, kann Gott selbst es nicht ändern. Hinsichtlich des Rechts muss aber unterschieden werden zwischen dem jus iwivrae privs, dem Rechte, wie es in dem idealen Zustande des Menschen wäre, wo es in der Liebe seinen Grund hat, und dem jvs nahirne poste- rius s. jus gentium, d. h. dem Recht, welches aus der Natur des gegenwärtigen Menschen folgt, eben darum aber auch bei allen Völkern der Gegenwart gilt. Dieses hat zu seiner Quelle die pru- deiitid und verhält sich zu jenem, wie zum Verkehr mit Freun- den der mit Nichtfreunden. Zu diesen beiden kommt dann als Ergänzung hinzu das durch die lex civilis bestimmte Recht, das also einen positiven Charakter hat, während das nattirliche Recht als Folge der, den Menschen vom Thiere unterscheidenden rciHo einen rationalen hat. Dem jus jwturac prius ist das dritte, dem jus vnturae posterius das vierte, dem jus cimle das fünfte Buch des Werks gewidmet, in welchem stets mit Nachdruck hervorge- hoben wird, dass für den Rechtslehrer das Wohl des Einzelnen nur untergeordnetes, das des Staats das höchste Interesse habe. Im dritten sowol als im vierten Buche wird gezeigt, dass sich die aus der Vernunft abgeleiteten rechtlichen Bestimmungen, im Deka- log finden, der deshalb auch als der InbegTitf (iudex) des natür- lichen Rechts bezeichnet wird.

6. Wenn der Standpunkt der Jesuiten von dem des altrö- mischen als neukatholischer unterschieden wird, so stimmt dies mit der Aufgabe, die dieser Orden stets als die seinige an- erkannt hat: gegen den Protestantismus zu reagiren. Jedes Reac- tionssystem ist verghchen mit dem Standpunkt der guten alten Zeit eine Neuerung. Dass aber der Jesuitismus durch seine eigen- thümliche Ausprägung der Lehre vom freien Willen wirklich dog- matische Neuerungen eingeführt, und nur durch das Betonen der päpstlichen Gewalt sich vor kirchlichen Censuren sicher gestellt hat, möchte selbst der rechtgläubigste römische Katholik, voraus- gesetzt natürlich, dass er nicht selbst zum Orden gehört, einge- stehn. Alles drei aber, die Reaction gegen den Protestantismus, die zum Pelagianismus hinneigende Lehre vom freien Willen, end- lich der Eifer im Vertheidigen der päpstlichen Gewalt, ist ein we- sentliches Moment geworden in der jesuitischen Ansicht vom Recht

II. Die Weltweisen. C. Eechtsphilosophen. b. Widerkirchliche. §. 253, 1. 589

und namentlich vom Staat. Wenn die protestantischen Xaturrechts- lehrer stets betonen, dass der Staat eine göttliche Ordnung, wenn sie den Unterthan dem Monarchen gegenüber so gern in die Stel- lung setzen, in dem das Kind dem, nicht selbst gewählten Vater gegenüber steht, wenn sie endhch an der unantastbaren Majestät des Staatsoberhauptes festhalten, so treten dem die jesuitischen Staatsrechtslehrer auf das Entschiedenste entgegen. Im Interesse der Kirche wird von ihnen der menschliche Ursprung des Staats durch einen ursprünglichen Gesellschaftsvertrag behauptet, und daraus gefolgert, dass wo der Fürst sich der ihm übertragenen Macht unwürdig zeige, das ihm ertheilte Mandat zurückgenommen werden dürfe. Nur das Haupt der Kirche, die von oben her ent- stand, ist unabsetzbar. Diese Grundsätze, die schon der zweite Ordensgeneral Laijnez während des Tridentiner Concils öffentlich aussprach, sind dann weiter geltend gemacht worden von Ferdi- nand Vusfjuez (1509 1566), LndoiUus Molinii (1535 1600), schärfer von Bellar min {1542 1621), am Schroffsten von Ma- riana (1537 1624). Bei Fr. Snarez (1548 1617) und Leo7ift. Less (1554 1623) treten sie etwas gemildert hervor, aber doch nicht so sehr, dass man deshalb, wie Werner in seiner Schrift über Suarez (Regeusb. 1861), behaupten darf, dass ihnen, noch viel weniger, dass überhaupt den Jesuiten die Theorie vom Ge- sellschaftsvertrage fremd sey. Uebrigens liegt es in der Natur der Sache, dass die genannten Männer sich besonders mit dem kanonischen und dem Staats-Rechte beschäftigen, dagegen das Ci- vil- und namentlich das Privatrecht mehr vernachlässigen. Dass mit ihren Lehren Campanel/a (s. §. 246, 5) nicht unzufrieden seyn konnte, ist begreiflich.

§. 253.

b. Die widerkirchliche Politik.

Th. Muiidt Nicolo Machiavelli uud das Princip der raoderneu Politik. Dritte Ausgabe Berlin 18C1.

1. Bei allem Unterschiede zwischen der Behandlung des na- türlichen Rechtes vom (alt)katholischen , reformatorischen und an- tireformatorischen (neukatholischen) Standpunkte aus , sind sie doch darin einverstanden, dass die beiden Schwerter, möge nun ein, mögen zwei Männer sie führen, nur zu Christi Ehre gebraucht werden müssen. Noch mehr, dass das Schwert der geistlichen Gewalt dem welthcheu Schwert vorgehe, die höchste Pflicht des Staates die sey, die Kirche zu schützen, das gestehen am Ende auch die Protestanten ein, bei denen Wlnkler , der doch oifenbar

590 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergaug).

der Vernunft des Menschen mehr als Alle bisher einräumt, nicht müde wird, die Jurisprudenz thcologiae famula zu nennen, und wo die Consistorien und theologischen Facul täten es völlig in der Ordnung finden, wenn der Fürst sie befragt, ob er Krieg anfan- gen dürfe. Ist zwar, dass überhaupt so viel über den Staat nach- gedacht wird, ein Beweis, dass er viel höher in Achtung steht, als in der Zeit der Scholastik , so nähert sich doch , was über ihn gesagt wird, in so Vielem den frülieren Ansichten, dass es be- greiflich ist, unter den jesuitischen Ilechtslehreru auch Solche zu finden, die sich um das Wiederbeleben der absterbenden Schola- stik am Meisten gemüht haben. Und doch kann es bei der An- sicht, dass der Papst die Länder vertheile, nicht bleiben. Gerade wo mächtig in die Welthändel eingreifende Päpste die Tiara tra- gen , niuss es dem Näherstehenden klar werden , dass ihre Erfolge nicht mit dem Schlüssel Petri erreicht wurden, sondern mit dem Schwerte und durch Bundesgenossen, d. h. dass sie den Geboten der Staatskunst gehorchen, nicht befehlen. Nahe aber musste mau dem Getriebe der röunschen Curie stehn. Darum ist es begreif- lich, dass in Italien zuerst der Versuch gemacht werden konnte, nicht, wie bisher, im Gehorsam gegen die Kirche, sondern in der Empörung gegen sie, das Heil des Staates zu sehn, anstatt des über die Natur , und darum auch über die Nationalitäten , hinaus- gehenden Christenthums , vielmehr das Princip der Nationahtät zur entscheidenden Norm zu machen.

2. Nicolo Machiavelli, am 3. Mai 1469 in Florenz geboren, war schon in seinem 29''" Jahr Secretair der Regierung seiner Vaterstadt, was er auch nach der Vertreibung der Medici blieb. Diplomatische Reisen nach Frankreich und Deutschland entfernten ihn oft für längere Zeit von Florenz. Die Rückkehr der Medici im J. 1512 beraubte ihn seiner Stellen, brachte ihn auf die Folter und ins Gefäiigniss und endlich dahin, von allen Staatsgeschäfteu entfernt in kümmerhchen Verhältnissen auf dem Lande zu leben. Hier ent- standen seine Discorsi über den Limas und seine Denkschrift del Principe, letztere in der offen ausgesprocheneu Absicht, sich mit den Medici zu versöhnen. Erst nach dem Tode Lorenz' con Medici (1519) hat er sich wieder längere Zeit in Florenz aufgehalten; im Verkehr mit dem Kreise, der sich damals in den Gärten Rucellai versammelte, wurden die Discorsi geendigt, sein Buch über die Kriegskunst so wie sein für Leo X bestimmtes Memoire über die Reformen der Florentinischen Verfassung geschrieben. Das Ein- zige, was er von den Mediceern erreichte, war, dass die Verschwö- rung der Alamauni nicht auch an ihm gestraft wurde und dass

II. Die Weltweisen. C. Rechtsphilosophen, h. Widerkirchliche. §. 253, 2. 3. 591

der Cardinal Julius ihm den Auftrag gab, die Florentinische Ge- schichte zu schreiben, später (als Papst Clemens VII ), seine Va- terstadt zu befestigen. Als in Folge der Einnahme Roms durch die kaiserlichen Truppen das Volk die Medici abermals vertrieb, musste MadilarelH für den mit ihnen gemachten Frieden büssen. Jede Wirksamkeit im Staat ward ihm genommen und er starb missvergnügt am 22. Jul. 1527. Von den Gesammtausgaben sei- ner Werke ist die in Quarto vom Jahre 1550 (ohne Druckort) die erste.

3. Man hat es ein unauflösliches Räthsel genannt, dass, wäh- rend MucliuirdU's Discorsi überall , namentlich in seiner Beurthei- lung Cäsars, den für die Republik begeisterten Mann verrathen, er doch in derselben Zeit, wo jene, seinen Principe schreiben und darin die Mittel angeben konnte, wie, mit oder ohne Beobachtung republikanischer Formen, eine Gewaltherrschaft gegründet und be- hauptet werden könne. Des Räthsels Lösung ist, dass ein ein- ziger Wunsch ihn beseelt: Itahen als einen Einheitsstaat gleich Frankreich oder Spanien zu sehn, dass er als die Aufgabe des Politikers ansieht, die Erfüllung seiner Wünsche nicht zu träumen, sondern als erreichbar darzustellen, und dass der zum Diploma- ten geborne und erzogene Mann den Muth hatte sich selbst und aller Welt zu gestehn, was bis jetzt die Diplomaten aller Zeiten nur in ihrem Handeln verratheu, dass der Erfolg die Mittel hei- lige. Obgeich von den fünf Staaten, die damals in Italien in Rechnung kamen, MucJdiivelit Venedig am Meisten bewundert, so kann doch der Florentiner den Wunsch nicht aufgeben, dass von der eignen Stadt die Einigung Italiens ausgehe. Florenz zu- erst in sich stark, dann zum Haupt Italiens zu machen, das ist wonach er strebt. Wäre nun das italiänische Volk so gesund, wie es das römische nach Vertreibung der Könige und vor Cäsar war, oder zeigte es so viel Gewissenhaftigkeit wie das deutsche, an welchem MiicIihneUi u. A. bewundert (Discors. I, c. 55), dass in seinen freien Städten die (heut zu Tage nur in Bremen fort- dauernde) — uncontrollirte Selbstbesteuerung auf Bürgereid mög- hch sey, so wäre ein einiges Italien als Republik möglich. Jetzt ist dies eine Unmöglichkeit, denn unter allen Völkern sind die romanischen, unter diesen aber ist das italiänische, am Meisten verdorben. Als einzige Hoffnung bleibt daher, das^s in Florenz ein Mann (Lorenz von Medici) sich der absoluten Selbstherrschaft bemächtige. Durch welche Mittel dies geschehen kann, das ist in dem Principe auseinandergesetzt und dabei oft C(l.s<tr Borgia. we- gen seiner Rücksichtslosigkeit im Verfolgen seiner Zwecke, zum

592 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

Muster genommen. Ist erst Florenz zu einer Militärmonarchie ge- worden, wobei sichs empfiehlt, republikanische Formen, z.B. das so leicht zu lenkende allgemeine Stimmrecht, beizubehalten, so sind die Mittel zur allmähhchen Vergrösserung und Annäherung an den letzten Zweck gegeben. Ausbildung der Militärmacht ist dabei die Hauptsache, und sind dabei besonders die Römer zu Mu- stern zu nehmen. Es handelt sich nämlich darum, an die Stelle des Söldnerheers ein Volksheer zu setzen, andrerseits aber den Bür- ger dahin zu bringen, dass, wenn er ausgedient hat, er eben nur ein ruhiger Bürger sey. Die Verpflichtung Aller, für einige Jahre als Soldat zu dienen, scheint das beste Mittel zu seyn. Dass bei der Verdorbenheit xVller das Werk nicht mit reinen Händen ausgeführt werden kann, gesteht Mach'uweUi ein. Der Schein des Guten ist bei dem Staatsmann mehr als das Gutseyn selbst. Nur vor den Verbrechen hat sich der Gewalthaber unbedingt zu hüten, welche, wie die Erfahrung lehrt, überall die Gemüther erbittern: vor Eingriffen in das Privateigeuthum und die Farailienehre. Hü- tet er sich vor diesen , vergisst er nie, dass alle Menschen schlecht, die allermeisten dabei auch noch dumm sind, und handelt dem- geraäss , so wird er. sich erhalten , sonst nicht. Die Geschichten Roms, Florenz', Venedigs werden vor Allem angezogen, um die Richtigkeit dieser Weisungen zu belegen.

4. Wie Mac/fiavc/li Alles entschuldigt, was dem von ihm gewünschten Ziele näher führt, so muss er natürlich Alles ver- werfen, was seine Erreichung verhindert. Darum vor Allem die römisch-katholische Kirche, dieses eigentliche Hinderniss der Einheit Italiens (Disc. I, c. 12). Die beiden einzigen Weisen, in der die Kirche diese Einheit nicht hindern würde, wären: Ent- weder die weltliche Herrschaft des Papstes erstreckt sich über ganz Italien, oder: sie hört ganz auf. Das letzte Mittel führt, wie das Beispiel Dantes zeigt, zu einem ausländischen Schutz- herrn. Das erstere (welches im Gegensatz zu Dante und Ma- chlaoelli später Campanella vorschlägt) erscheint dem Machia- tielli als platter Unsinn, so verharrt er also in der ganz negati- ven Stellung gegen die Kirche. Fort mit ihr! Seine Politik ist ganz antikirchlich. Darum bestreitet er, dass der Staat die An- stalt sey, welche die Sicherheit gibt, dass der Zweck der Kirche, die Seligkeit, ungestört angestrebt werden könne; ihm ist der Staat Selbstzweck, sich zu erhalten und zu vergrössern ist seine alleinige Aufgabe. Was die Handlungsweise des MachuweHi zeigt, behauptet auch seine Theorie : Wirksamkeit im Staat ist die höch- ste Aufgabe des Menschen. Daher auf der einen Seite seine Be-

n. Die Weltweisen. C. Rechtspliilosoplien. c. Kirchl. indifTereute. §. 254, 1. 59o

geisteruiig für den antiken Staat und seine Annäherung andrer- seits an den modernen Staatsbegriff. Ist er doch eigentlich der Erste gewesen, bei dem // stato nicht, wie bisher, den Zustand eines bestimmten Volks, sondern das Abstractum Staat bezeich- net. Ganz wie Giordano Bnmo durch seine feindselige Stellung zur römisch-katholischen Kirche dazu kam, zwar nicht der Religion, wohl aber der Christlichen, den Rücken zuzukehren, ganz so MuchhirelU. Irreligiös ist seine Staatslehre nicht; man braucht nur das 11^'' Capitel im ersten Buch seiner Discorsi zu lesen, seine Vergleichung der Verdienste des Romnlus und Ninmi , um zu sehn, dass es ihm Ernst ist, wenn er so oft die Religion das Funda- ment der Staaten nennt. Aber er spricht es ohne Scheu aus (üisc, II, 2), dass die Religion der Römer dem Staatsleben för- derlicher war als die christliche, weil jene Mannhaftigkeit und Liebe zum Vaterlande, diese Ergebung und Sehnsucht nach dem Jenseits lehrt. Doch möge das ursprüngliche Christenthum besser gewesen seyn, als das gegenwärtige, bei dem es so weit gekom- men sey, dass je näher eine Gegend dem Sitze des Papstes hege, um so weniger Rehgion in ihr zu finden sey. Als römisch-katho- lisches ist ihm das Christenthum der Gegensatz zur wahren Reli- gion, ein anderes aber kennt er nicht, Ist nun aber das Christen- thum der eigentliche Träger aller ideellen Interessen, so bringt seine widerkirchliche und antichristliche Tendenz den Machiavelli dazu, auf alles Ideale in seiner Politik zu verzichten. Er gibt eine Theorie des Staates , die ausser Erhaltung und Vergrösserung der materiellen Macht, worin das Wohl des Staates besteht, nichts Höheres kennt. Ja selbst die Liebe zur Freiheit gründet sich nach ihm darauf, dass dieselbe mehr Macht und Reichthum gibt (Disc. II, 2).

§. 254.

0. Die kirchlich indifferenten Politikei'. Bodin. Grentilis. Grotius. 1. Ueber das unfreie Unterordnen des Staates unter die Zwecke der Kirche durch die Theologen, über den nicht minder unfreien Hass des Staatsmannes gegen die Kirche, gehen die hinaus, wel- che in ihren politischen und rechtsphilosophischen Untersuchungen die Rechte der Kirche gar nicht antasten, aber sie dahin gestellt seyn lassen und nur fordern, dass der Staat nicht in seinem Thun gehindert werde. Noch sehr bescheiden sind in dieser Hinsicht die Forderungen zweier Männer, die ihre Arbeiten gegenseitig mit •Achtung erwähnen, und deren Uebereinstimmung wohl noch grös-

Erdiuaan, Gesch. d. Tliil. 1 iJK

594 Mittelalterliche Philosoi)hie. Dritte Periode (Uebergang).

ser wäre, wenn nicht der Eine durch Geburt und mit seinem gan- zen Herzen dem katholischen Frankreich angehörte, der Andere durch freie Wahl sich zu einem Gliede des englischen Staats und der englischen Landeskirche gemacht hätte. Jean Bodin und Al- hericvs GentUis zeigen und bahnen den Weg einem Dritten, des- sen Ruhm den ihrigen so weit überragt, dass sie heut zu Tage höchstens als seine Vorläufer pflegen genannt zu werden. Dieser, nicht immer dankbare, Erbe Beider, Hugo GroCuis, den eine be- deutende Stellung in einer Republik, dann die eines, von einem der grössten Staatsmänner^ an den grösstcn seiner Zeit geschick- ten Gesandten zu vielseitiger, seine Stellung innerhalb der eignen Confession zu (;iiier freisinnigen Ansicht des staathchen Lebens bringen konnte, macht einen Fortschritt, der es, wenn auch nicht rechtfertigt, so doch erklärt, dass er als der Vater des Natur- rechts bezeichnet wird.

2. Jcdu Bofliit , 1530 in Angers geboren, 1597 gestorben, nachdem er zuerst als Lehrer des Rechts in Toulouse, dann als Advocat in Paris, endlich als königücher Beamter in Laon ge- lebt hatte, kommt hier besonders in Betracht durch seine 1577 herausgegebenen Six livres de la republique, die er im J. 1586 in lateinischer Bearbeitung herausgab, weil die in England heraus- gekommene Uebersetzung zu fehlerhaft war, und die er im J. 1581 in einer anonym herausgegebenen Schrift vertheidigt hat. Erst in neuerer Zeit ist sein Colloquium heptaplomeres vollständig her- ausgegeben (von Noac/, 1857), in welchem eine Disputation unter sieben Religionsparteien zur Toleranz mahnen soll. Gleich im Be- ginnen seines Werks erklärt sich Bo<J'ui sehr entschieden gegen alle utopistischen Darstellungen des Staates und fordert das stete Zurückgehn auf die Geschichte. Er selbst kommt dieser Forde- rung so nach , dass er jede Behauptung durch historische Citate unterstützt, die dem Verfasser der L5G6 in Paris erschienenen, von Montaigne gelobten, Methodus ad facilem historiarum cogni- tionem sehr geläufig waren. Vor Allem die Geschichte Roms, aber auch die Frankreichs, der Schweiz und Venedigs dient ihm dabei. Mit demselben Nachdruck aber fordert er, dass der Rechts- begriff festgehalten, namentüch aber, dass exacte Definitionen von Allem aufgestellt werden. Er will damit eben sowol gegen die Ver- theidigung des Hergebrachten als solchen, wie gegen das unklare Räsonnement die Rechts- und Staatslehre sicher stellen. Seine De- finition vom Staat bestimmt denselben als eine durch Autorität und Vernunft geregelte Gemeinschaft von Familien. (So im Er- sten Buch p. 1 173 der lateinischen Bearbeitung.) Als erster,

n. Die Weltweisen. C. Rechtsijhilosopheu. c Kirchl. indifferente. §. 254. 2. 595

Bestancltheil des Staats wird zuerst die Familie betrachtet. Der Familienvater, der als solcher imbediugter Herr ist, verliert im Ziisammeutreffen mit anderen durch die sich hier zeigende unter- drückende Gewalt einen Theil seiner Freiheit und wird dadurch zum Bürger, d. h. einem unterworfenen Freien. Als Hauptmangel der bisherigen Staatslehren wird getadelt, dass der Begriff der Majestät, d.h. der dauernden, durch Gesetze nicht gebundenen, Macht nirgends richtig bestimmt noch gehörig betont worden sey. In der Monarchie kommt die Majestät dem Fürsten zu, dessen Macht darum absolut ist. Umgekehrt, da die Macht des Kaisers beschränkt, so ist er kein Monarch und das deutsche Ptcich ist eine Aristokratie. Alle Majestätsrechte, deren Untersuchung na- türlich die wichtigste ist , werden auf das eine Recht reducirt, al- lein Gesetze zu gel)en und von Keinem empfangen zu dürfen, aus welchem sich die übrigen, wie Begnadigungsrecht u. s. w. von selbst ergeben. Dabei wird stets die Untheilbarkeit der Majestäts- rechte ausdrückhch behauptet. Im zweiten Buch e (p. 174 2'd6) wird durchgeführt, dass, je nachdem die Majestät bei Einem, Vie- len oder Allen, der Staat Monarchie, Aristokratie oder Demokra- tie ist. Durch das ganze Buch geht Polemik gegen Aristoteles hindurch, dem namentlich ein Vorwurf gemacht wird, dass er aus- ser jenen dreien noch gemischte Verfassungen als gesunde an- führe, wozu ihn, wie viele Andere, die Verwechslung z^\ischen Status und gubernundi ratio gebracht habe; bei monarchischer Verfassung kann republikanisch regiert werden; nicht dies macht den Unterschied zwischen König und Tyrannen, dass jener weni- ger selbstständig wäre , sondern dass er sich dem Gesetz der Na- tur und Gottes unterwirft, der Tyrann nicht. Das dritte Buch (p. 237 365) betrachtet die verschiedenen Aemter im Staat , und zwar zuerst den (nur berathenden) Senat, dann dic-vorübergehend mit einer Commission betrauten, endlich die permanenten Ftegie- rungsbeamten. Wiederholt wird diesen das Recht abgesprochen, die Rechtmässigkeit der Gesetze zu prüfen ; Vorstellungen zu ma- chen ist ihnen erlaubt. Nur bei ganz unzweifelhaftem Widerspruch gegen Gottes Gebot kann man dem vom Herrscher Befohlenen ungehorsam seyn; ßodin warnt aber davor, subjective Ansicht für Ueberzeugung zu halten. Stände -Vereine und Corporationen sind für den Staat nothwendig, obgleich sie, namentUch wo heimliche Zusammenkünfte erlaubt, gefährlich werden können. Die Rang- ordnung der Stände führt Bodin auf die Sklaverei, deren Ver- schwinden er für wünschenswerth hält, ohne sie selbst für abso- lut unvernünftig zu erklären. Im vierten Buche (p. 365 490)

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596 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

werden die Umwandlungen der Staatsform und ihr Untergang be- trachtet. Diesen verzögert am Sichersten Vorsicht und Langsam- keit bei Veränderung der Gesetze. Die Beantwortung der Fragen, ob lebenslängliche, ob jährlich wechselnde, oder ob auf Widerruf übertragene Staats - Aemter vorzuziehn, ob der Monarch überall persönlich hervortreten, wie er und wie Private sich bei Parteiun- gen zu benehmen haben, zeigen überall den durch Erfahrungen gewitzigten Praktiker, der, je weniger er hofift, dass überall die Tugend auf dem Throne sitzt, um so mehr nach Mitteln sucht, welche diesen unter allen Bedingungen sicher stellen. Interessant sind seine Aeusserungen über religiöse Secten. Es ist ein ent- schiedener Irrthum , dass der Staat ohne Religion bestehen könne, den Atheismus darf er daher nicht dulden, eben so wenig die Zauberei, welche völHge Gottlosigkeit ist, und gegen welche Bo- diii theoretisch (Demouomanie des sorciers Paris 1578) und prak- tisch sich sehr streng erwiesen hat. Anders ist es mit der Ver- schiedenheit der Religionen, hier soll der Staat um so weniger exclusiv seyn, als er aus ihr Vortheil ziehn kann. Wünschens- werth ist, dass nicht nur zwei Confessionen den Staat spalten, sondern dass eine grössere Zahl möglich mache, sie gegenseitig in Schach zu halten. Das fünfte Buch (p. 491 G20) betrachtet, was bisher Alle vernachlässigt haben sollen, die natürlichen Unter- schiede der Völker, aus welchen sich nothwendig Verschiedenheit der Staatsformen und Gesetze ergeben. Nicht nur, dass es ein Naturgesetz, dass die südlichen Völker der Religion, die nörd- lichen der Gewalt, die mittleren der Klugheit und Gerechtigkeit die höchste Stelle einräumen, sondern innerhalb desselben Klima's ist es ein Naturgesetz, dass die Bergvölker die Freiheit mehr He- ben u. s. w. Diesen Unterschied muss man auch bei der Frage berücksichtigen, ob ein Staat stets militärisch gerüstet seyn müsse. Was hinsichtlich einer Republik richtig , kann falsch seyn für eine Monarchie ; was für ein kleines Bergland nothwendig , für ein gros- ses ebnes Land unnütz. Betrachtungen über Verträge und ihre Garantie schliessen das Buch, Das sechste Buch (p. 621— 779) beginnt mit volkswirthschaftlichen Untersuchungen, wobei, wie schon früher in einer eignen Schrift (Discours sur le rehaussement et la diminution de la monnaie) Bod'm seine gründliche Bekanntschaft mit dem Münzwesen beweist. Dann wird zu einer Vcrgleichung der Staatsformen übergegangen und die Erbmonarchie als die beste bestimmt, selbst was die Ausartung betrifft, denn die Tyrannei Eines sei weit der der Masse vorzuziehn. Das Schlusscapitel preisst den monarchischen Staat als die Erscheinung der wahren

II. Die Weltweisen. C. Rechtsphilosophen. c. Kirchl. indifferente. §. 254, '2. 3. 59 <

Gerechtigkeit, deren mathematisclie Foniiel über den einseitigen Formen des arithmetischen und geometrischen Verhältnisses hinaus liege, und die er als das harmonische Verhältniss bezeichnet. Er wirft dem Plaio und Arisfoleles vor, sie hätten seine Bedeutung nicht, darum aber auch nicht erkannt, wie hoch über der Aristo- kratie die Monarchie stehe, dieses schönste Abbild des harmoni- schen, von Einem beherrschten, Alls.

3. Alhericus GentUis. 1551 in der Mark Ancona gebo- ren, verliess, vielleicht aus religiösen Gründen, sein Vaterland und kam nach England, wo er als regius professor an der Uni- versität Oxford 1611 gestorben ist. Seine erste Schrift mag wohl die de legationibus gewesen seyn, von der er im J. 1600 sagt, sie sey vor langen Jahren geschrieben, (r. Kditenhorn führt eine Ausgabe von 1585 an; ich kenne nur die 1594 Hanoviae. Auch von seiner wichtigsten Schrift de jure belli libri tres kenne ich die bei r. Kaltenborn citirte von 1588 nicht, sondern die Hanauer von 1612. Obgleich Genlilis in seiner Schrift de nuptiis Hanov, 1601 jene Hauptschrift citirt, steht doch auf dem Titel der Aus- gabe von 1612: mmc primum editi. Ausserdem führt er als eigne Schriften au: de maleficiis, disputatio ad prim. libr. Machab., de armis Romanis, de legitimis temporibus, de condicionibus, die ich Alle nicht zu Gesicht bekommen habe.) Nachdrücklich unter- scheidet Genlilis zwischen dem Rechtskundigen und dem, der die Rechtswissenschaft betreibt (de nupt, I) und tadelt darum die, welche, was Recht ist, nur aus der Geschicbte und dem herr- schenden Brauch abstrahiren wollen , anstatt es aus höheren Prin- cipien abzuleiten. Wie gegen die einseitigen Routiniers und Prak- tiker, eben so erklärt er sich gegen die Kanouisten und Theolo- gen, welche nicht gehörig sondern, was zum menschlichen und was zum göttlichen Recht gehört. Damm ist auch bei ihm nicht mehr, wie bei Mclanchlhon oder auch noch WinLler, davon die Rede, dass der Dekalog einen Inbegriff des Naturrechts enthalte, sondern hier wird geschieden: die erste Gesetz -Tafel (d. h. nach reformirter, nicht nach lutherischer Abtheilung, die ersten fünf Gebote) sind der Theologie zu überlassen, dagegen unterliegt die tabula secunda, deren Zusannnenfassung in dem Non concupisces enthalten ist, der rechtswissenschafthchen Untersuchung viel mehr als der theologischen. Einzelne Punkte gibt es indess, wo die Rechtswissenschaft auch ül)er Kirchliches entscheidet,^ z. B. über Verbrechen der Geistlichkeit, in einigen Ehesachen u. s. w. Im Ganzen aber wird man sich hier der Landeskirche zu unterwerfen haben (de nupt. I, 88). Ihre eigenthümlichen Lehren hat die

598 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang\

Rechtswissenschaft weder aus der Geschichte noch aus der kirch- lichen Autorität zu schöpfen , sondern aus dem natürlichen Rechte. Dieses gründet sich zum Theil auf allgemeine, über die Menschen- welt hinaus gehende Naturgesetze , wie z. B. das Occupationsrecht auf das Herrenlose nur eine Folge davon ist , dass die Natur kein Leeres duldet (de jur. belli p. 131). Vorzüglich aber sind die Bestimmungen des Naturrechts aus der Natur des Menschen zu schöpfen. Diese nun fordert nicht den Streit unter den Indivi- duen (Ebend. p. 87) , sondern vielmehr sind wir Alle Glieder eines grossen Körpers und darum auf die Gemeinschaft hingewiesen (p. 107). Nur in der Gemeinschaft aber gibt es Rechte, wie ja auch das jus divimnn oder die religio ledighch die Gemeinschaft mit Gott betrifift. Da es unter Menschen und Thieren keine wahre Gemeinschaft gibt, so auch Rechte nur unter Menschen (p. 101), daher ist die römische Unterscheidung unter jvs iiatvrae und fieii- tium unhaltbar. Aus der Bestimmung zur Gemeinschaft folgt, dass der eigentlich sittliche Zustand der Friede ist, der Krieg aber nur erlaubt als Abwehr oder Verhinderung der Friedensstörung (p. 13). So ist auch die Sklaverei, die eigentlich gegen die Na- tur ist, hinsichthch derer, die gegen die Natur handeln, kein Un- recht (p. 43). Die öffentliche Verletzung des natürlichen Rechts durch die Cannibalen berechtigt jedes Volk , mit ihnen Krieg an- zufangen (p. 191). Eben so gegen solchen Götzendienst, der Men- schenopfer fordert ; sonst aber sollen Religionskriege nicht geführt werden, und die, von Bodhi geforderte, Toleranz des Staates ist das richtigste Verhalten (p. 71). Nur mit erklärten Atheisten ist es eine andre Sache, die sind den Thieren gleich zu achten (p. 203). Wie schon der Anfang des Krieges nicht allem Rechte ein Ende macht, so bestehen auch während des Krieges noch Rechte, ja bilden sich neue: ein Krieg ohne Ankündigung, mit unehrlichen Waffen u. s. w. ist gegen das Jus geid'uim und das jus müurue. Als eine Verletzung desselben ist auch der Versuch anzusehn, das Meer zu verschliessen, das nach natürlichem Rechte Allen offen steht (p. 209. 228. 148).

4. Hugo de Grooi (bekannter unter dem lateinischen Na- men Grotius), geboren zu Delft am 10. April 1583, als Jurist und Theolog gleich beriihmt, schrieb während er Generalfiscal in Rotterdam war, sein Mare liberum (Lugd. Bat. 1609), in dem er aus dem Natur- und Völkerrecht beweist, dass Niemand das Recht habe, den Niederländern den Handel nach Ostindien zu verweh- ren. Als Rathspensionarius in Rotterdam mit Oldenbarnerelde eng verbunden, verlor er sein Amt und lebte von da an meist in

II. Die Weltweiscn. C. Rechtsphilosophen. c. Kinhl. indifferente §.254.4.5.590

Paris, zuerst als Privatmann, später, durch O.rievstcrna zum schwedischen Gesandten ernannt, als solcher. Vor dieser Ernen- nung, im J. 1625, ^Yurde mit einer Dedication an Lvdmg XIIl sein weltberühmtes Werk de jure belli et pacis libri tres veröffent- licht. Auch die Al)fassung seiner theologischen ^Yerke, der Anno- tationes in V. T. , in N, T , so wie seine apologetische Schrift de veritate rehgionis Christian ae fällt in die Zeit seines Pariser Aufent- halts. Am 28. August 1G45 ist er auf einer Reise, in Rostock gestorben. Sein Hauptwerk ist später oft gedruckt. Der hier fol- genden Darstellung liegt die Ausgabe Amstelod. apud Janssenio- Waesbergios 1712 zu Grunde.

5. In den Prolegomenen , welche auch eine kritische Ueber- sicht der bisherigen Leistungen für Rechtswissenschaft enthalten, rühmt Groibis den Genitlis (p. 08) und Bodiu (p, 55), citirt aber im weiteren Fortgange nur den Letzteren, obgleich er gerade dem Ersteren Manches entlehnt haben möchte. Was er an ihnen, so wie au allen bisherigen Rechtslehrern tadelt ist, dass Keiner das Recht, welches die Völker unter einander verbindet und in der Natur des Menschen gegründet sey (p. 1), gehörig betrachtet, ge- schweige denn wissenschaftlich dargestellt habe (p. 30). Diesen edelsten Theil der Rechtswissenschaft (p. 32) wolle er hier so be- arbeiten, dass er ihn auf gewisse Principien zurückzuführen ver- suche, die Niemand, ohne sich Gewalt anzuthun, bezweifeln kann (p. 39), dass er ferner genaue Definitionen aufstelle und streng logisch eintheile. Namentlich das Letztere sey nöthig, um den gewöhnlichen Fehler des Vermischens ganz verschiedner Dinge zu vermeiden. Es handelt sich erstlich darum, dass man nicht, wie' Bodiii; die Wissenschaft vom Recht mit der Politik, der nur auf den Nutzen gehenden Staatskunst, verwechsle (p. 57), ferner, dass man nicht, was natürliches und darum uothwendiges Recht ist, mit dem verwechsle, was nur bei einem einzigen Volke Recht ist, oder auch, worüber die Völker willkührlich übereingekommen sind (p. 40. 41). Zu diesem Zweck muss vor Allem nach der eigent- lichen Quelle alles Rechts gesucht werden. Wie Alles, so hat natürlich auch das Recht seinen ersten Grund im Willen Gottes und ist in sofern jedes Recht dirinmn und roliodarinm. Indess ist doch ein Unterschied zu machen zwischen dem, was Gott di- rect als seinen Willen in der Bibel ausspricht und dem, was eine . Folge ist der (von Gott gewollten) menschlichen Natur. Von dem, was Gott in der ersten Weise will, kann man sagen: weil er es will, deswegen ist es gut, von dem aber, was Gott in der zweir ten Weise, mittelbar, will: weil es gut ist, deshalb wollte er es

600 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

(Lib. I, 1, 15). Damit hängt zusammen, dass Gott das Erstere ändern kann, das Zweite aber eben so wenig, als dass zwei mal zwei vier ist (ebend. 20). Dem Letzteren muss man deswegen eine Geltung beilegen unabhängig von Gott, so dass es gültig wäre, wenn kein Gott existirte (Prol. p. 71). Der grösseren Be- stimmtheit halber soll unter/».« divinum nur verstanden werden der Inbegriff dessen, was Recht war oder noch ist, weil Gott es, jenes im Alten, dieses im Neuen Testamente ausdrücklich vorgeschrieben hat, und diesem soll entgegengesetzt werden das menschhche Recht (jus humaiunn), mit dem allein die gegenwärtige Untersuchung zu thun hat. Etwanige Anführungen aus der Bibel können nie beweisen, dass etwas natürliches Recht, wohl aber, dass es nicht gegen das natürliche Recht ist, da die beiden Willen Gottes sich nicht widersprechen können (I, 1, 17). Was nun das menschliche Recht betrifft, so ist dieses nach den verschiednen Subjecten des- selben Personenrecht oder Vökerrecht (so dass also unter jus (jen- lium nur das internationale Recht von Groüits verstanden wird). Bei beiden ist aber wieder der Unterschied zu machen, dass die Quelle des Rechts entweder die Natur der Menschen und Völker ist, oder ihr Beheben, so dass also viererlei unterschieden wer- den muss: jus naiurae^jus civil e und Jus (/eufiurn nahirale (in- ternum, necessarium) ^ jus gentium voluntarium , welches letztere also das jwjy civih' populonnn wäre (Prol. p. 40. 41. Lib. III, 2, 7). Durch Vernachlässigung dieser Unterschiede, welche zu tadeln Grotius nicht müde wird, sey es gekommen, dass die rein positiven Bestimmungen des römischen Rechtes für natürliche Rechte, blosse Gebräuche unter den gebildeten Völkern für Regeln des Völker- rechts gehalten seyen. Auch sey es dadurch gekommen, dass man die Rücksicht auf den Nutzen, die allerdings die Quelle des jus voluntürium sey, zum Princip des Naturrechts gemacht habe (Prol. p. 16). Wie das jus divinum sich zum jus huimmnm ver- hält, gerade so das jus dvile und jus gentium voUintarium zu dem natürlichen (Einzel- und Völker-) Rechte: sie enthalten nähere Bestimmungen zu dem letzteren, also mehr als es und sind stren- ger als dasselbe. Darum kann , wie die Berücksichtigung des gött- lichen Rechtes wenigstens ein negatives Correctiv wurde für die Betrachtung des menschlichen, ganz eben so die Berücksichtigung des jus volnntarium fruchtbar werden für das jus naturae. Na- mentlich gilt dies vom Völkerrecht; wo sich bei allen, wenigstens bei den edleren, Völkern gewisse völkerrechtliche Bestimmungen finden, da kann man ziemlich sicher seyn, dass dieselben nicht gegen das natürliche Recht der Völker sind (p. 40).

II Die Weltweiseii. C. Rechtsphilosopheu. c. Kirclil. iudiflferente. §. 254. 6. 7. 601

6. Unter dem natürlichen Rechte ist also zu verstehn das Recht, welches nicht beliebig von Gott oder Menschen festgestellt ist, sondern aus der Xatur des Menschen nothwendig folgt. Nur des Menschen, denn die bei den römischen Juristen recipirte De- finition des jus nutnrav ist zu weit (Lib. I, 1, 11. Prol. p. 8). Durch seine eigne, ihn vom Thier unterscheidende, Natur aber ist der Mensch, der eben deshalb auch allein Sprachfähigkeit be- sitzt, auf die Gesellschaft gewiesen, d. h. auf die ruhige , vernunft- mässig geordnete (darum von einer Heerde zu unterscheidende) Gemeinschaft (Prol. p. 5). Alles nun, was mit einer solchen ge- ordneten Gemeinschaft von Vernunftwesen streitet, ist unrecht (Injustmn) , was aber nicht unrecht ist, nennt man Recht (jus). Dabei ist zu bemerken, dass dieses Wort gebraucht wird, sowol um den moralischen Zustand der Person zu l)ezeichnen, als auch die gesetzhchen Bestimmungen, die jenen Zustand sicher stellen (Lib. 1 , 1 , 3. 4. 9). Ob Etwas dem natürlichen Rechte gemäss, kann a priori und (i jtoslcriori festgestellt werden. Jenes ge- schieht, wenn gezeigt wird, dass aus der auf die Gesellschaft ge- wiesenen Natui" des Menschen, die allgemeine Geltung des zu Prü- fenden folgt, dieses dagegen, wenn aus der allgemeinen Geltung desselben darauf zurückgeschlossen wird, dass es in der Natur des Menschen liege. Die zweite Weise des Verfahrens ist zwar populärer, die erste aber wissenschaftlicher (ebendas. p. 12).

7. Bei dieser Solidarität von Recht und Gesellschaft, ist es natürlich, dass Grotiirs. wo er den Ursprung des Rechts erörtert (und mit dieser Aufgabe beschäftigt er sich am Anfange des er- sten Buches) die Betrachtung dort beginnt, wo die Gesellschaft noch nicht zu Stande gekommen ist. Den Zustand des ganz iso- lirten Menschen nennt er den Naturzustand. In diesem haben Alle auf Alles in sofern ein gleiches Recht, als Alles eigentlich nicht Allen, sondern Keinem gehört, ein Zustand der, wenn er einmal aufgehört hat, nur in den Fällen der äussersten Noth und annäherungsweise im Kriege wiederkehrt. Diesem Zustande macht die Occupation ein Ende, durch welche das Hen*enlose in Besitz und Eigenthum verwandelt wird, eine Verwandlung, der sich das nicht Occupirbare, wie Luft und Meer entzieht (vgl. II, 2, 6 ff.). Wird das so Angeeignete angetastet, so entsteht durch den ge- waltsamen Widerstand Krieg, zu dem der Angegriffene berechtigt ist, sowol um das Seinige zu behaupten, als um es wieder zu be- kommen, endlich auch um den Angreifer zu strafen. Dass Einer wegen zugefügten Uebels Uebel erleide, ist ein Naturgesetz, und darum darf im Naturzustande Jeder den Angreifer nicht nur abweh-

602 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

ren , sondern streifen. Dies ändert sieb nun , wenn durch das frei- willige Zusammentreten von Menschen, jene künstlichen Körper entstehen, in welchen die Vereinigung gleichsam die Seele (11, 9, 3), und deren vollkommenste der Staat ist, in welchem eben deswegen das Uebergewicht des Ganzen über die Theile am Gröss- ten ist (II, 5, 23). Wenn gleich, eben weil es ein freiwilliges Uebereinkommcn , die Einzelnen nicht so unselbstständig wer- den, wie die Glieder eines Leibes (II, 5, 8 und G, 4), so erlei- den doch im Staat die Rechte des Einzelnen eine sehr wesent- liche Modification, indem jetzt der Staat die höchte Gewalt be- kommt. Dies heisst nicht, dass das Volk, d. h. Alle, diese Macht habe, denn mit dem Begriff der Gesellschaft ist eben sowol Gleich- heit als Ungleichheit vereinbar, und es ist sehr gut möglich, dass ein Volk den Entschluss fasst, sich einem Einzelnen als Haupt zu unterwerfen, der dann das Herrscherrecht, imjieriiim, allehi besitzt (I, 1, 3. 3, 7). In diesem Falle kann die, höchste Gewalt temporär oder dauernd übertragen seyn; die Dictatur und das Königthum unterscheiden sich daher nicht so, dass der König mehr Gewalt, sondern dass er mehr Würde (majestas) hat (I, 3,. 11). Das Königthum selbst aber kann verschieden seyn, je nachdem das imppr'mm. als reines Eigen thum, das der Inhaber veräussern darf (rcgvmv jutirtmoniale) erscheint, oder er (was jetzt meistens der Fall) vielmehr nur Nutzniesser und Fideicom- missar desselben ist; es kann ferner die Gewalt des Königs mehr oder minder beschränkt, sie kann ganz ungetheilt seyn oder ge- theilt (ebend. 14. 16. 17). Welches dieser Verhältnisse Statt fin- det , und in wie weit dem gemäss die Unterthanen dem Monarchen gegenüber berechtigt sind, hängt von dem ursprünglichen Sub- jeetionsvertrag ab , welcher die Nachkommen bindet , weil das Volk, wenn gleich jetzt aus anderen Individuen bestehend, doch (wie ein Wasserfall oder Strom) dasselbe geblieben ist, und man prä- sumiren muss, es wolle dasselbe wie damals, eine Vermuthung, die übrigens durch die stillschweigende Einwilligung bestätigt wird (II, 7. 27). Eben so wird man ganz neue. Verhältnisse nur dann richtig beurtheilen, wenn man sich fragt: wie würden wohl die, welche den Urvertrag abschlössen, in diesem Falle gewollt haben? die Antwort darauf gibt an , was heute Recht ist. Gerade so grün- det sich ja im Civilrecht die Intestaterbfolge des Sohnes auf die Vermuthung, der Vater würde, hätte er testirt, den Sohn zum Er- ben eingesetzt (ebend. 10. 11). Diesem Principe gemäss wird in der Erbmonarchie eigentlich nicht gesagt werden dürfen , dass das imperivm übergeht, sondern dass es in der, ursprünglich gewähl-

II. Die Weltreisen. C. 'Rochtspliilosoplicn. c. Kirdil. inclifFeiente. §. 254, 7. 8. 60o

ten Familie gel3lieben ist (I, 3, 10). Stirbt die Familie aus , dann kehrt das Imperium zum Volk zurück , d. h. es tritt der Naturzu- stand vor dem Staatsvertrage ein (II, 9, 8).

8. Da der Staat, gerade wie der Einzelne, Rcclitssubject ist, so ergeben sich eine Menge von Rechtsverhältnissen unter den einzelnen Staaten , welche eben das jus geitllnm bilden. Wie der Einzelne, so kann auch der Staat, wo sein Recht verletzt wird, in Krieg gerathen, und so werden vier Arten von Kriegen unter- schieden werden müssen: des Einzelnen gegen den Einzelnen, ei- nes Staates gegen einen Staat, des Staates gegen den Einzelnen und zwar gegen den eignen oder gegen einen fremden Unterthan, endhch des Unterthans gegen den Staat. Die drei ersten können gerecht oder ungerecht, der letzte kann nie gerecht seyn (I, 4, 1). Der Untersuchung, welche Fälle den einen oder andern dieser Kriege rechtfertigen, wobei der leitende Gesichtspunkt im- mer der ist, dass der normale Zustand der Friede ist, dessen Störung den Krieg veranlasst, dessen Wiederherstellung er be- zweckt, ist der bei weitem grössere Theil des Werks gewidmet, das eben darum seinen Namen erhielt. Eingeflochten aber wird die Betrachtung aller Rechtsverhältnisse. Ja noch mehr, indem dem jus externvm sehr oft das jns inferrnnu entgegengestellt und diesem Alles zugewiesen wird, was die BilMgkeit, das Ehrgefühl, besonders aber das Gewissen betrifft, so ist auch die Moral von ihm, zwar nicht ausführlich abgehandelt, aber gegen die Rechts- lehrc abgegrenzt. Wie gesagt aber, die Betrachtung des Krieges ist der Hauptgegenstand. Da der öffentliche (Staats -) Krieg ganz dieselben Rcchtstitel hat, wie der private (Einzel-) Krieg, so wird sehr ausführlich (II, 20) der Fall betrachtet, wo der Staat Ge- walt übt , nicht um einen Angriff abzuwehren , sondern um den gemachten Angriff zu strafen. Was zunächst die Strafe des Ein- zelnen betrifft, so durfte im Naturzustande der Uebelthäter sie von jedem erleiden. Im Staat verliert der Einzelne das Strafrecht und es geht schickHcher Weise auf den über, der die Gewalt im Staate hat. Zweck der Strafe ist immer die Besserung, theils des Bestraften, theils der Uebrigen (durch Abschreckung). Denjeni- gen, welche die Strafe als Vergeltung fassen Avollen und sich da- bei auf die göttlichen Strafgerichte berufen , erwidert Grolivs, Got- tes Berechtigung, auch den zu strafen, der sich nicht bessern wird oder sich gebessert hat, liege, wie das Heimsuchen an den Kindern, was der Mensch nicht dürfe, darin, dass er der All- mächtige sey, der nach Belieben mit uns schaltet und waltet. Menschen dürften nur, wie Sencvn richtig sage, strafen von (piia

604 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode Uebergang).

pecaUnm est sed ne jieccetur. Was dann das Verhältniss zu an- deren Staaten betrifft, so wird die Frage aufgeworfen, ob ein Staat den anderen mit Krieg überziehen dürfe, bloss um ihn zu strafen. Nur offenbare Verletzung des göttlichen und natürlichen Rechts scheint ihm dazu ein Recht zu geben. Daher dürfe der Staat erklärte Feinde der „wahren Religion, die allen Zeitaltern gemeinschaftlich" und als deren Inhalt er das Daseyn Gottes und die Vergeltung für unser Thun angibt, wenn sie seine Untertha- nen sind, unterdrücken, wenn nicht, bekriegen. Wer aber dies auf Alle ausdehnen wollte, die nicht Christen, der bedenke wie viel ganz unwesentliche Lehren sich an das ursprüngliche Chri- stenthum angesetzt haben, die man Niemand aufdrängen darf. Zum Scliluss möge noch zur Uebersicht bemerkt werden , dass des Gro- tiiis Buch im Ersten Buch in vier Capiteln den Ursprung des Rechts, den Begriff des Krieges, den Unterschied des^ privaten und öffentlichen Krieges, endlich das Verhältniss von Herrscher und Unterthanen erörtert, im zweiten Buche, welches das aus- führlichste, in sechs und zwanzig Capiteln die verschiedene Ent- stehungsart der Kriege, ausserdem aber auch das Eigenthum, das Vertragsrecht, das Strafrecht betrachtet, endlich im dritten Buch in fünf und zwanzig Capiteln untersucht, was während des Krieges nach natürlichem Rechte zu beobachten ist, avo er von Friedenschlüssen und Abkommen handelt und zu dem Resultate kommt, dass Treue und Redlichkeit die beste Politik sey.

§. 255. So gross der Fortschritt auch ist, den Bodin, GenüUs , na- mentlich aber Grntlvs gemacht haben, wenn man sie z. B. mit den jesuitischen Staatsrechtslehrern vergleicht, oder auch mit den kirchlich gesinnten Protestanten , so tritt doch bei ihnen eine eigen- thümliche Halbheit hervor, die den Letzteren abgeht. GenUlis, dem das Loskoinmen vom Dekalog nur in soweit gelingt, als er die eine Tafel ignorirt und nur die zweite als Norm beibehält, zeigt diese Halbheit in der schlagendsten Weise. Groüns aber laborirt an ihr kaum minder und geräth durch sie in höchst selt- same Widersprüche. Er hat sich vorgenommen von dem geoffen- barten Worte Gottes, ja von Gott selbst ganz zu abstrahiren, und den Menschen zu betrachten in paris natnralibus . wie der Aus- druck lautete. Und dieser natürhche Mensch, wie er nichts ver- nimmt vom Worte Gottes, wird von ihm geschildert wie 'er das göttliche Gebot christlicher Bruderliebe vernimmt, denn etwas An- deres ist wirklich jenes Verlangen nach friedlicher und vernünfti- ger Gemeinschaft nicht. Von dem wirklichen Menschen gibt Gro-

II. Die Weltweisen. C. Rechtspbilosophen. c. Kirchl. indifferente. §. 255. bUD

tius es zu, dass sein natürlicher Trieb ihn ganz wo anders hin- führt , denn das ganze Ji/s vohmiurunu geht ihm auf gar nichts Andres als auf Nutzen. Aber in jenem Zustande, welcher der Staatenbildung vorausgeht, da soll er seinen Nutzen vergessen haben und nur nach friedlicher Gemeinschaft getrachtet haben. Heisst dies etwas Andres als unter anderem Namen die blibhsche Lehre vom Paradies und Sündenfall einführen? Er will weiter in seinem Naturrecht von aller Geschichte abstrahiren , den Menschen betrachten als wäre er nicht Kind eines bestimmten Volks, einer bestimmten Zeit, also in seiner vollständigen Vereinzelung, und doch kann er wieder nicht umhin dort, wo er die späteren Gene- rationen durch den Urv ertrag gebunden seyn lässt, das Volk als ein Continuum (einen Strom) zu denken, in welchem den Einzel- nen (Tropfen) durch das Ganze die Stelle angewiesen ist. Heisst dies etwas Anderes als, trotz aller Entstehung des Staates aus dem Belieben der Einzelnen, ihn doch vor sie stellen? Es geht ihn wie bei der Intestaterbfolge , die er auf die Vermuthung grün- det, im Falle eines Testaments wäre dieses ausgefallen, wie es iicqnissimum et honesüssimum war, wo er nicht bedenkt, dass er also ein ae(jintm et hone st um statuirt, welches unabhängig ist von allem Testiren, und dass seine Behauptung, bei der Thronfolge gehe die Herrschaft eigentlich gar nicht über, sondern bleibe in der Famihe, gerade so auf jeden vererbten Besitz anwendbar ist. Immer drängt sich bei Grofuis, was er eben geleugnet hatte, wie- der hervor, und die Behauptung, dass erst in der Gemeinschaft das Unrecht hervortreten kann, wird neutralisirt dadurch, dass der Mensch von Natur, also auch vor dem Urvertrage, Rechte habe. Alle diese Halbheiten werden verschwinden, wenn in dem fingirten Zustande, der dem Staate vorausgeht, der Mensch genom- men wird, wie er auch heute ist, weil die Natur des Menschen eine und dieselbe, d. h. so war, wie sie gegenwärtig ist, und wenn ge- zeigt wird, dass auch die gegenwärtigen, niu' ihren Nutzen su- chenden, Menschen wenn sie sich zuerst träfen, einen Staat bilden würden. Mit diesem Eliminiren einer paradiesischen Natur wird erst wirklich alle Theologie über Bord geworfen, damit aber auch jede Spur scholastischer Behandlung des Naturrechts verschwun- den seyn. Statt der wenigstens halbtheologischen tritt hier eine physikahsche oder naturalistische Politik hervor, die, weil sie die Geschichte ganz ignorirt, den Staat völlig a priori construirt.

606 Mittelalterliche Pliilosopliie. Dritte Periode (Uebergang).

§. 256. d. Die naturalistische Politik. 1. T/toriKts Hohbes, am 5. April 1588 in Malinesbury in Wilt- sliire geboren, auf der Schule sehr gründlich unterrichtet, wurde in Oxford in die scholastische Philosophie eingeführt, und hat von daher, trotz seines Gegensatzes gegen die Scholastik, gewisse no- niinalistische Grundsätze in sich aufgenommen, die unerschüttert ge- blieben sind. Im Jahr 1610 als Begleiter eines jungen Edehnanns nach Frankreich und Italien gereist, machte er dort Bekanntschaft mit den bedeutendsten Männern, die ihn der scholastischen Philoso- phie noch mehr entfremdeten. Nach sehier Rückkehr besonders mit den Alten beschäftigt, trat er (wohl erst nach dessen Sturz) mit Lord Bacon in Verbindung, dem er bei 'der Uebersetzung sei- ner Werke ins Lateinische geholfen haben soll, von dem er aber dafür manche wissenschaftliche Anregung empfangen hat. Es ist vielleicht kein Zufall, dass erst nach dem Tode desselben, wäh- rend eines neuen Aufenthalts ün Auslande, llobbcs anfing, sich mit Mathematik zu beschäftigen, woran sich während eines dritten Besuches von Paris (1631) eine genaue Freundschaft mit Gasseiidi und Mersoine, so wie Berührung mit Dcscartcs schloss. Bei seiner Rückkehr bewog ihn die, sich vorbereitende, Revolution seine Gedanken über den Staat in den beiden englischen Schriften On human nature und De corpore politico niederzulegen, die, nur einem kleinen Kreise mitgetheilt, uns zeigen, dass seit dem er eigentlich gar keine Modification seiner Ansichten erfahren hat. Unzufrieden mit dem Gang der Dinge ging er wieder nach Paris, und Hess, in wenigen Exemplaren, 1642 seine Schrift de cive dru- cken, die im J. 1647 erweitert bei Elzecir in Amsterdam erschien. Auf dieselbe folgte: Leviathan 1651 (1670 lateinisch), nach dessen Herausgabe er, weil er den Hass der Kathohken fürchtete, nach England zurückging. Hier erschien de corpore 1655 und de ho- mine 1658. Die erste Sammlung seiner Werke in lateinischer Sprache veranstaltete er selbst. Sie erschien bei Blacif in Am- sterdam 1668; weder sind sie in drei Theilen noch in der Reihen- folge gegeben wie er gewünscht hatte, sondern ohne eigeuthches Princip in zwei Quartbände vertheilt. Nachher verfasste er eine Selbstbiographie so wie die Uebersetzung des Homer, beide in la- teinischen Versen. Kurz vor seinem Tode erschien sein Behemoth, ein früher geschriebner Dialog über die englische Revolution; ge- gen seinen Willen, da Carl II den Druck nicht gewünscht hatte. Er starb am 4. Dec. 1679. Zwei Jahre darauf erschien eine.ano-

II. Die Weltreisen. C. Reehtsphilosophen. d. Naturallstische. §. 256, 2. 607

iiynie Biographie (Carolopoli apud Eleutlierium Aiigiicum 1681) (leren Verfasser nach Einigen Hobbes selbst, nach Anderen Aitbnj seyn, und die Ilalp/f Balhursf, nach Anderen Rlcf/ard Blackbourn übersetzt haben soll. Eine englische Gesainintausgabe erschien in London 1750 in Folio. In neurer Zeit hat ISiolesvorUi eine ver- anstaltet.

2. Durch die Definition der Philosophie, nach welcher sie die durch blosse Vernunft theils aus den Ursachen vorwilrts, theils aus den Wirkungen rückwärts erschlossenen Erkenntnisse enthält (De corp. c. 1) stellt er sich erstlich in Gegensatz zur Scholastik, die zu schelten er nicht müde wird (de corp. Schluss. Leviath. c. 8). Denn da die Theologie nicht aus der Vernunft, sondern aus übernatürlicher Offenbarung stammt, so ist sie sogleich aus der Philosophie ausgeschlossen. Die Vermischung beider, des Glau- bens und der Vernunft, ist eine Versündigung an beiden. Wer den Glauben mit der Vernunft prüft, gleicht dem Kraidcen der anstatt die heilsame Pille zu verschlucken sie zerkaut und nur einen bittern Geschmack gewinnt (de civc 17, 4. Leviath. 32). Und wieder, wer gegen Physiker oder Politiker die Bibel citireii wollte, vergässe dass sie nicht dazu gegeben ist, uns die Natur oder den irdischen Staat, sondern den Weg zu dem Picich, das nicht von dieser Welt ist, kennen zu lehren. Was mit diesem Zweck nicht zusammenhängt, hat Christus dahin gestellt seyn las- sen. (Leviath. 8. 45.) Bis dahin ist nun llobbcs ganz mit Lord Bücon einverstanden, wie denn der Vergleich mit der Pille und der mit dem Spiel (s. oben §. 249, 3) ganz auf Eins herauskommt. Seine Definition der Philosophie aber lässt ihn zweitens dieselbe dem Empirismus entgegenstellen; zunächst dem Baconischen, da llobbes, der Verehrer der Geometrie, mit ihres Verächters Anprei- sen der Induction nicht zufrieden ist, sondern ausdrücklich den der Induction entgegengesetzten Weg der Philosophie eben so vin- dicirt. Das ganze sechste Capitel der Schrift de corpore behan- delt den Unterschied der ntcihodiis reso/ulird oder (utalt/ftc(( und rompusUiia oder sijitl/tetica und behauptet mit Nachdruck, dass beide befolgt werden müssen. Dann aber setzt er die Philosophie überhaupt allem Empirismus entgegen. Er nimmt dazu Vieles, was eigentlich im zweiten Theil seines Systems abgehandelt wer- den müsste, vorweg: der aller erste Ursprung alles Wissens liegt in der Einwirkung der Dinge auf unsere Sinnesorgane, die, wie alle wirkenden Thätigkeiten , nichts Andres seyn können als Be- wegungen. Die, durch die Reaction des Organs vermittelte Wir- kung jenes Gegenstandes (nicht sein Bild, denn blau, wohlriechend

608 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

u. s. w. hat nicht die geringste Aehnlichkeit mit den Bewegungen im Gegenstände) nennen wir Empfindung (sensioj oder auch Wahr- nehmung (conccption)f wobei nie vergessen werden darf, dass die- selbe nur in uns liegt, also tdea, plmnUisma, fannj, kurz etwas ganz Subjectives ist (u. A. Human nature c. 2. Leviath. c. 1). Da alle Körper gegen Einwirkungen reagiren, so haben einiger Maas- sen die Recht, die allen Dingen Empfindung beilegen. Da unter Object einer Empfindung nur die Ursache derselben zu verstehn ist, so darf man wohl sagen: ich sehe die Sonne, nicht aber: ich sehe das Licht; die Bewegung, die sich meiner Netzhaut mittheilt, wird nicht gesehen. Nach einem überall herrschenden Naturgesetz mu5s auch die Affection des Sinnesorgans, wenn die Einwirkung aufgehört hat, fortdauern, und dieses Nachtönen der Empfindung heisst Erinnerung, Gedächtniss oder Imagination. Es ist von dem Empfinden so untrennbar, dass es der, die übrigen begleitende, sechste Sinn genannt werden kann (Human nature c. 3), ja es ist das Empfinden selbst, denn smlirr se scnsisse esl mcmorln , und ohne dasselbe wäre gar kein Empfinden möghch, indem Einer der nur sähe und nur Eines sähe, in dem er das Sehen nicht vom (frü- heren) Hören, die gegenwärtige P'arbc nicht von einer anderen (frü- her gesehenen) unterschiede, eigentlich gar nicht empfände (de corp. c. 25). Die Summe dessen, was in unserem Gedächtniss sich befindet, nennt man Erfahrung, die, je grösser um so mehr, ver- bunden ist mit der Erwartung des bereits Erfahrnen, der Vor- aussicht oder Klugheit (u. A. Human nature c. 4), welche dem Thier nicht abzusprechen ist, dass aber darum keine Wissenschaft, noch Philosophie besitzt. Zu diesen ist ein Hauptschritt die Er- findung der Wörter, d. h. willkührlich erfundener Namen oder Zei- chen zunächst zur Erinnerung an Wahrgenommenes (murks, no- lue), dann zur Mittheilung (signs, signa) (Human nature c. 5. De corp. c. 2). Da Wörter die Gegenstände bezeichnen wie sie in der Erinnerung liegen, so aber sie weniger deutlich vorgestellt wer- den als während sie angeschaut wurden, so werden sie zu Zeichen für viele, ähnliche, und bekommen den Charakter der Allgemein- heit, den also die Dinge nie, die Wörter wohl, haben (Human na- ture c. 5). Nennt man Verstehen (nnterslandiny) das Verbinden einer Vorstellung mit dem gehörten Wort, so kommt dies auch dem Thier zu, welches z. B. einen Befehl versteht (Leviath. c. 2). Dagegen vermag nur der Mensch die Zeichen unter einander zu verbinden oder sie zu trennen. Etwas was man, wenn es Zahlzeichen sind. Rechnen, sonst aber Denken oder Vernunft (rcnsnnmg) nennt. Vernunft ist daher nur die Fähigkeit zu addiren und zu subtrahi-

II. Die Weltweisen. C. Rechtsphilosophea. d. Naturalistische. §. 2.j6, 2. 3- 609

ren, uud Kinder, die noch nicht sprechen, haben keine (Leviath. c. 5). Eine Wortverbindung, die Vereinbares zusammenstellt, d. h. das was aus einem Worte folgt von ihm bejaht, ist eine Wahrheit, ihr Gegentheil Un^vahrheit oder eine Absurdität. Beide Prädicate haben nur einen Sinn für Wortverbindungen oder Sätze; den Din- gen Wahrheit beilegen heisst Verschiedenes so confundiren, wie die Scholastiker das Wesen eines Dinges mit seiner Definition (Leviath. c. 4). Der Besitz wahrer Sätze ist: Wissenschaft (science), sehr vieler: Weisheit (sapicnfiaj. Die Wissenschaft hat es deshalb nur mit Solchem zu thun was aus den Namen der bezeichneten Dinge folgt, und wieder was aus den wahren (d. h. diese Fol- gerungen ziehenden) Sätzen folgt, immer also mit Folgerungen (Leviath. c. 9). Darum gibt uns die Erfahrung Bericht über ein- zelne Facta und schützt uns vor Irrthum, die Wissenschaft dage- gen gibt uns, da Worte Allgemehies waren, allgemeine Wahrhei- ten und sichert vor dem Absurden. Da aber Wörter und Sätze das Werk des Menschen sind, so hat man ein wirkhches Wissen nur hinsichtlich dessen, was man selbst gemacht hat, und dies ist einer der Gründe, warum flohhea die Geometrie über alle Wis- senschaften stellt, ja oft fast als einzige ansieht (De hom. c. 10. De corp. c. 30).

3. Natürlich erscheint hier als erste Aufgabe die genaue Be- stimmung der Bedeutung der Wörter. Verständlichkeit derselben ist das eigentliche Licht des Verstandes und verständliche Defini- tionen sind der Anfang alles Räsonnements (Leviath. c. 5). Der In- begriff der Definitionen aller der Wörter, deren man sich in al- len Wissenschaften bedient, bildet bei llohhcs die pinlosophia priiud. Es ist darum eigentlich nicht richtig, wenn er diesell)e in seiner Schrift de corpore abhandelt (c. 7 14) uud in der sche- matischen Uebersicht aller Wissenschaften (Leviath. c. 9) ausdrück- lich der natirnil pliUosophy zuweist. Da ohne sie sogar die ganze Eintheilung des Systems als rein zufällig erscheint, so hätte, mehr als dies jetzt geschieht, hervorgehoben werden müssen, dass die erste Philosophie die gemeinschaftliche Grundlage aller Wissen- schaften ist. Die wichtigsten Capitel sind hier die drei ersten (De corp. 7. 8. 9), welche von Raum und Zeit, Körper und Acci- dens, Ursache und Wirkung handeln. Ausser ihnen verdient be- sonders der Abschnitt über Quantität (c. 12) Beachtung. Denkt man sich, um das Universum aus Principien zu entwickeln, für den Augenblick Alles uns Gegenüberstehende weg, so bleibt doch die Erinnerung des uns Gegenüber gestanden habens, oder Aus- ser uns gewesen seyns; dieses Ausser uns seyn nennen wir

Krdmaiu). (iescli d. Phil. i. ^9

610 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

Raum, unter dem also ein inuujbwr'uim zu verstelin ist oder das blosse phanidsma rel p.risfenifs (jvaicuifs exislenils. Ganz eben so hinterlcässt die Erinnerung der früher wahrgenommenen Bewe- gungen in uns das phantasma der Bewegung, sofern sie Succes- sion ist, d. h. die Zeit, von der Ifobbes zugibt, dass bereits jlrl- sfofelps sie so (subjectiv) gefasst habe. Eine Menge unnützer und nicht zu entsclieidender Fragen, wie nach Unendlichkeit und Ewig- keit der Welt, meint er seyen nur entstanden, weil man Raum und Zeit als etwas an den Dingen Haftendes ansah. War einmal die Räumhchkeit als das bestimmt, ohne welches es keine Gegen- ständlichkeit gibt, so ist es kaum eine Folgerung zu nennen, wenn weiter gelehrt wird, dass alles Gegenständliche ein Räumliches oder ein Körper ist, dem wir, weil es unabhängig von uns ist, Subsistenz beilegen, und das wir, weil es dem Theile jenes (imagi- nären) Raumes mit dem es coincidirt unterliegt, supposltmn oder snbjectnm nennen. Die Grösse oder Ausdehnung eines Körpers, das was man wohl seinen realen Raum genannt hat, bestimmt, welchen Theil des (imaginären) Raums oder welchen Ort er ein- nimmt. Beide unterscheiden sich wie Wahrgenommenes und Erin- nerungsbild desselben. Die Bewegung oder Ortsveränderung, ver- möge der der Körper nie an einem einzigen Ort sich befindet, denn dies wäre Ruhe, bringt ihn, wie die Grösse unter die Gewalt des Raumes, so unter die der Zeit. Es folgt dies, wie Hobbes selbst sagt, aus seiner Definition der Zeit. Auf die verschiedenen Bewegungen kommt nun Alles hinaus, was wir Accidcnzien der Dinge nennen, von welchen dasjenige, nach dem wir den Körper nennen, sein Wiesen heisst. Xennt man, wie das zu geschehen pflegt, dieses Hauptaccidens Form, so wird das Substrat oder die Substanz den Namen Materie bekommen, der also nur dasselbe besagt, wie : Körper. Wird Körper gedacht und dabei von aller Grösse abstra- hirt, so gibt dies den Gedanken der maier ia prima, dem zwar nichts Reales entspricht, der aber für das Denken unentbehrlich ist (c. 8). Es schliesst sich hieran die Reduction der Begriffe Kraft und Ursache auf den des Bewegenden, der Aeusserung und Wirkung auf den des Bewegten, wobei das grösste Gewicht darauf gelegt wird, dass nur Bewegtes und Berührendes bewegen kann, so dass der scholastische Begi'iff eines unbewegten Bewegenden, und die Aimahme einer Wirkung in die Ferne gleich widersinnig seyen. Da nun alle Accidenzien oder Qualitäten der Dinge Wir- kungen derselben auf unsere Sinne waren, so kann die wissen- schafthche Betrachtung ihres Wesens, d. h. ihrer Hauptaccidenzien, nur ihre Bewegungen zum Gegenstand haben (c. 13), und die Pili-

II. Die Weltweisen. C. Rechtsphilosoplieii d. Naturalistische. §. 256, 3. 4. 611

losophie hat es lediglich mit dem Körperlichen als dem allein Exi- stirenden zu thiiii. Dem Einwand, dass es doch Geister gebe, be- gegnet er damit, dass unkörperliche Substanzen viereckige Cirkel seyen (u. A. Human nature c. 11); dem weiteren, dass doch Gott existire, stellt er entgegen, dass Gott kein Object des Wissens und der Philosophie (u. A. Leviath. c. 3), abgesehn davon, dass sehr fromme Männer Gott Körperlichkeit beigelegt haben (Answ. to bish. Bramh. p. 43«). Also Philosophie ist Körperlehre. Nun aber gibt es natürliche und künstliche Körper, und da unter den letz- teren der Staat die höchste Stelle einnimmt, so zerfällt die Phi- losophie in nntaral und civil philosoplni (Politics), jene handelt de corpore diese de ciritate. (Leviath. c. 9. Table.) Die Lehre vom Menschen, welcher höchstes Naturwesen und wieder erster Bestandtheil und Urheber des Staates ist, wird bald (de corp. J) dem zweiten, bald (Leviath. 9. Table) dem ersten Theile zuge- wiesen. Beides offenbar, weil Hohhes von der Vorstellung der Scholastiker nicht loskommt, dass die Eintheilung dichotomisch seyn müsse. Hätte er inmier festgehalten, was er in seiner ersten Schrift erklärt, dass die Philosophie in drei theilen de corpore, de homine, de clrilafe handle, Etwas was am Schluss seines Le- bens, in dem Fingerzeig, den er seinem Verleger für die Anord- nung seiner Werke gab, bestätigt wird, so wäre es ihm nicht ge- schehen, dass in der Uebersichtstafel aller Wissenschaften im neun- ten Capitel des Leviathan die Bau - und Schifffahrtskunst zwischen die Astronomie und Meteorologie, und getrennt von dem zu stehn gekommen wäre, was die übrigen Artefacta des Menschen betrifft. Auf die philosophia prima folgen also die Physik, Anthropologie und Politik als die drei Theile, in welche die Philosophie zerfällt. 4. In der Physik beschäftigt er sich mit Vorliebe mit dem Theil, der mehr angewandte Mathematik ist. Neun Capitel der Schrift de corpore (c. 15—24) betrachten die raliones motunm et magiiitudiiuim, d. h. die Gesetze der gradlinichten und kreisförmi- gen Bewegung, der gleichförmigen und beschleunigten Geschwin- digkeit, der Reflexion und Refraction, wobei der Begriff des punc- iiim (unendlich kleines) eine wichtige Rolle zu spielen hat. Den Ruhm, den er für diese Partie in Anspruch nimmt, Alles streng bewiesen zu haben, ambirt er nicht für den Theil, den er selbst Physica nennt, wo er es mit dem Qualitativen zu thun hat, und welcher darauf ausgeht die Phänomene der Natur durch angenom- mene Hypothesen zu erklären (c. 25 30). Er erkennt sich als dankbaren Schüler des Copeniicns und Kepler, seit denen es erst eine Astronomie, GalUeVs, seit dem es erst eine allgemeine

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612 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uehergang).

Physik, ganz besonders aber flarrey's, seit dem es eine Wissen- schaft vom Lebendigen gebe. Er erklärt am Schhiss seiner Physik, jede seiner Hyothesen aufgeben zu wollen, freilich nicht gegen die Träume der Scholastiker von substanziellen Formen und verborge- nen Qualitäten, sondern gegen einfachere als die seinigen, und die eben so Avenig wie diese gegen die Priiicipien der philosophia prima streiten. Diese Principien fordern nun, dass das die Erde in Bewegung setzende Centrum unseres Planetensystems selbst als (in einem kleinen Kreise) bewegt gedacht werde, ferner dass die Bewegimg der Planeten nicht durch Wirkung in die Ferne sondern als durch den, zwischen ihnen und der Sonne liefindlichen , an sich ruhigen, Aetlier vermittelt erklärt werde. Nimmt man dabei Rücksicht auf die Wasser- und Festland - hälfte der Erde, so lässt sich die von Kepler behauptete elliptische Bahn der Erde, und las- sen sich die Nutationen der Erd-axe construiren. Eben so wird man mit Kepler die anziehende Kraft der Sonne mit der des Magnets zusammenstellen können, ohne eine Wirkung in die Ferne anzu- nehmen, und wird zugleich erklären können, warum der Magnet sich stets nach Norden richtet. Man hat dal)ei nur festzuhalten, dass seine anziehende Kraft nur in der stetigen Bewegung seiner kleinsten Theilchcn besteht, die sich, durch ein Medium natürlich, dem Eisen mittheilt und deren Ptichtung der Erdaxe parallel ist. Nicht nur bei den empfindungslosen, sondern auch bei den sinn- begabten Wesen, sind alle Erscheinungen nur verschieden compli- cirte Bewegungen. IJurcey hat bewiesen, dass das Leben im Blut- umlauf, der Tod im Aufhören desselben besteht. Das Herz, das dabei als Druckwerk dient, wird selbst in Bewegung gesetzt durch gewisse mit der Luft eingeathmete Körperchen, welche der Orga- nismus behält, so dass die ausgeathmete Luft nicht mehr diese belebende Wirkung zeigt (de hom. c, l). Wie das Leben so ist auch das Empfinden eine, sehr complicirte, Bewegung. Das Sehen z. B., mit dem sich Ihhhes am Meisten beschäftigt und dem er neun Capitel (1 9) seiner Schrift de hominc gewidmet hat, kommt so zu Stande, dass die Sonne, oder auch die Flamme, d. h. der eigenthümlich sich bewegende (brennende) Körper, den sie umge- benden ruhenden Aether in Bewegung setzt und die Unruhe (fer- mentuüo), in die er geräth, die Netzhaut, diese aber wieder ver- möge der in den Nerven befindlichen feinen Materie (spirits) das Gehirn bewegt, von wo sich die Bewegung auf den eigentlichen Grund der Empfindung, weil von da die Reaction ausgeht, das Herz, fortpflanzt. Weil diese von Innen nach Aussen gehende Reaction die Empfindung blau u. s. w. hervorbringt, deswegen kann

II Die Weltweiäeii C. Eechtsphilosophen. d. Naturalis^tiscLe. §. 256. 4. 3. blö

dieselbe aucli ohne äussere Einwirkung im Traum u. s. w. eiit- stelin. Ganz Aelmliches wie vom Sehen lasse sich vom Hören, Tasten u. s. w. nachweisen. Alles dies gilt vom Tliier nicht min- der wie vom ]\Ien5chen, daher werden in der Febersichtstafel der Wissenschaften die Optik und ^lusik (d. h. Akustik) zu den Wis- senschaften gerechnet, welche die (iiümals in gener al betreifen. Erst die Untersuchungen, mit welchen das folgende Capitel der Schrift de homiue sich beschäftigt, rechnet jene Uebersicht zur Wissenschaft vom Menschen insl)esondere.

5. Die Anthropologie anlangend, so sind die theoretischen Vorzüge des Menschen vor dem Thier, die Sprache und die Wis- senschaft (de hom. c. 10) bereits oben sub 2 erörtert. Es kom- men hier also nur die Untersuchungen über das praktische Ver- halten des Menschen in Betracht, die de hom. c. 11 15 ange- stellt und in der Uebersichtstafel des Leviathau unter den Namen Ethivs zusammengefasst sind. Was das Verhältniss des Theore- tischen und Praktischen betrifft, so ordnet er jenes entschieden die- sem unter. Obgleich er manclimal die Seligkeit des Wissens preist, so besinnt er sich doch immer ^^1eder und verwii-ft das Wissen um des Wissens willen; sein Zweck sey der allgemeine Nutzen. Selbst seine Lieblingswissenschaft die Geometrie nmss sich gefal- len lassen, besonders gepriesen zu werden, weil sie lehrt Maschi- nen l)auen. Neben der, durch Einwirkung der Objecte hervorge- rufenen Reaction, welche die Empfindung erzeugte, geht eine an- dere, welche in dem Bestreben Lust zu empfinden, Unlust los zu werden besteht, appetUvs und [''(ja. Von der ersten Regung der- selben, d. h. der kleinsten und innerlichsten Bewegung (conntirs, endedvovr) bis zur heftigsten zum Ausbruch kommenden (anind perfirrbiilio) gibt es eine Stufenfolge, die ffobbes ziemlich genau beschreibt, und in der jene beiden Bewegungen verschiedene Na- men bekommen. Das Abwechseln verschiedener Begehrungen heisst Ueberlegung (de'iberafioj; was man bei diesem Abwechseln zu- letzt begehrt, das will man. Der Wille, der nicht die Fähigkeit, sondern der Act des Wollens ist, ist also die letzte der Ausfüh- rung vorausgehende Regung. Weder das Begehren noch das Ver- al)schcuen kann frei genannt werden ; schon deshalb nicht, weil es Wirkung, zunächst der Eindrücke, später der Zeichen und Worte, und also passives Bewegtwerden ist. Dann aber, weil es ein lo- gischer Fehler ist, das Wort frei, das nur bei Subjecten d. h. Körpern einen Sinn hat, einem Accidens oder einer Bewegung, wie das Begehren oder der Wille ist, beizulegen. Nur beim Thun des Gewollten ist man frei, den Willen aber will man nicht (u. A. Le-

614 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (UehergaDg).

viath. c. 21). Worauf das Begehren geht nennt man gut, worauf das Verabscheuen: übel. Bonmn , jucundum^ pu/c/irmif, utile be- deutet daher ganz Gleiches , d. h. - eine Beziehung zu einem be- stimmten Subject; Verschiedenen ist Verschiedenes gut oder be- gehrungswerth. Bomim simpllciler dici non polest. Für Jeden aber gibt es ein höchstes Gut, das ist die Erhaltung der eignen Existenz, und ein höchstes Uebel, das ist der Tod. Jene zu su- chen, zu schützen und durch Befreiung von allen Schranken zu wahren, diesen abzuwehren ist daher das höchste Gesetz der Na- tur. Denkt man sich nun mehrere Menschen zusammen, so sind sie, da auch der Schwächste und Dümmste dem Stärksten und Klügsten sein höchstes Gut, das Leben, nehmen kann, offenbar an Stärke, Verstand, Erfahrung einander nahezu gleich. Eben so darin, dass Jeder eben so gut wie der Andere thun kann was er will, sind sie alle gleich frei. Die Folge dieser Gleichheit kann nur seyn gegenseitige Furcht, beiderseitige Schutzversuche, kurz Krieg Aller gegen Alle, dessen bester Ausdruck ist I/omo hom'mi Ivpus (De cive I, 1. 3. 11. Epist. dedic). Es wäre nun ein Wi- derspruch in sich, wenn der Mensch, dem die Natur vorschrieb sich zu sichern , in diesem Zustande verharrte , und weil für den Einzelnen die Selbsterhaltung, so ist für eine Summe von Einzel- nen Sicherheit, d. h, Frieden, zu suchen das erste Naturgesetz (II, 2), woraus sich weiter ergibt, dass, was als unerlässliche Friedensbedingung, damit als ein Grundgesetz der Natur darge- than ist (I, 15. 1). Sowol in der Schrift de cive (cap. 3) als im Leviathan (c. 16) werden, dort zwanzig hier neunzehn, solche Fundamentalgesetze aufgestellt, die sich als Folgerungen aus je- nem Naturgesetz ergeben, indem, wenn Verträge nicht gehalten, wenn Dankbarkeit nicht geübt u. s. w., jener erste Zweck verfehlt würde. Zum Schluss gibt er als einfachste Regel zu finden, was zu thun, diese an: Man frage sich stets, wie man wünsche, dass die Andern gegen uns handeln mögen. Da mit der natürlichen Freiheit Aller, zu thun was Jedem beliebt, die Sicherheit unver- einbar ist , so bleibt nur übrig, dass Jeder auf diese Freiheit ver- zichtet unter der Bedingung, dass die Andern dies auch thun. Dieser Vertrag ist darum nicht, wie man (d. h. Aristoteles. Gro- tius) gesagt hat, eine Folge des Geselligkeitstriebes oder der Liebe zu seinen Genossen, sondern lediglich der Furcht und der Sorge für den eignen Nutzen (de cive II, 4. I, 2). Da ein solcher Ver- trag ein Widersinn wäre ohne die Sicherheit, dass die Anderen an der Verletzung desselben durch Furcht verhindert seyn werden (V, 4), so ist er nur so möglich, dass die bisherige Macht und

II. Die Weltweibeii. C Recbt!*pliilosoplien. d. Naturalistische. §. 256, 5. 6. 61ö

Freiheit Aller Einem (Menschen oder CoUegium) übertragen wird, unter dem nun Alle stehn, und der anstatt ihrer will und kann (V, 8). Durch diesen Unterworfungsact , durch welchen an die Stelle der bisherigen Freiheit die Herrschaft (iinpcrlnm , domi- niiitfij tritt, wird aus der bisherigen blossen Summe (niulütiido) eine wirkliche Einheit, eine Person die ihren Willen hat (V, 11). Ist diese Unterwerfung eine von Xatur gesetzte, nur auf Gewalt gegründete, so hat man patriarchalische Herrschaft, wie sie uns in der elterlichen Gewalt entgegentritt, und in der Herrschaft über Sklaven. Ist sie dagegen eine selbstgewollte und vertragsmässige (insiifi/llrd). dann hat man einen Staat (cirUasJ. die Verbindung, in welcher der Naturzustand, in dem der Mensch frei und darum /omo I/omii/i Inpiis gewesen war, dem der Gebundenheit Platz ge- macht hat, in welcher Isomo 'loin'mi Dens wird. (De cive. Epist. dedic.)

G. Die Lehre vom Staat betrachtet das Artefact, welches die höchste Stelle einnimmt, denn wenn der Mensch in seinen Automaten das Lebendige wiederholt, so bringt er im Staat einen Menschen im Grossen hervor, ein Werk das mit jenem: Lasset uns Menschen machen! parallelisirt werden kann (Leviath. Introd.) Eben weil der Staat Werk des Menschen, gibt es von ihm eine demonstrative Wissenschaft, obgleich mau gestehn muss, dass, ehe die Schrift de cive geschrieben war, auch nicht einmal ein Ver- such zu einer solchen existirt hat. (De hom. 10, .3. de corp. Ep. dedic.) Der Staat ist wesentlich von der Menge verschieden, und es ist ein Unglück, dass das Wort "S'olk, welches dem ersteren synonym, von Vielen zur F)ezeichnung der Menge gebraucht wird (De cive (3, 1). Da bloss durch das siimmum unperiitm die Menge zu einem Volke, d. h. zu einer Person mit einem Willen wird, so ist der Herrscher nicht mit dem Haupt, sondern mit der Seele eines Körpers zu vergleichen (Ebend. 6, 19), ja der Souverain ist das "N^olk und die unter ihm stehenden dürfen sich nicht Volk, sondern müssen sich Ljiterthanen irennen (12, 8). Indem in dem Urvertrage Alle sich ihrer Macht und ihres Willens entäussert ha- ben, stehen sie dem Staate gegenüber machtlos; er ist der Le- viathan der sie alle verschlingt oder, um ehrfurchtsvoller zu spre- chen, der sterbliche Gott, der, dem unsterbHchen ähnlich, nach seinem Wohlgefallen schaltet und dem wir Friedeh und Sicherheit danken (Leviath. c. 17). Erst im Staate und durch ihn gibt es ein Mein und Dein, da im Naturzustande Jeder Alles als das Sei- nige ansah und darum Keiner es als das Seinige hatte (de cive 6, 5). Da Angriff gegen das Eigenthum Unrecht, I'reiheit sich da-

616 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uehergang).

gegen zu wahren Recht ist, so gibt es Recht und Unrecht eigent- lich nur im Staat. Im Naturzustande fällt Macht und Recht zu- sammen. Im Staat dagegen ist Unrecht was der Souverain ver- bietet, Recht was er erlaubt. Die GeAvohnheit ist eine Quelle des Rechts nur in sofern als der Souverain geduldet hat, dass Etwas zur Gewohnheit wird (Leviath. c. 29). Die Gesetze des Staats können, da er die Sicherheits- und Friedensanstalt ist, mit dem Grundgesetz der Natur, den Frieden zu suchen, und den Folge- rungen daraus, nicht streiten, dagegen der natürlichen Freiheit zu Allem treten sie, als dieselbe beschränkend, entgegen. Ueber- haupt ist es eine grosse Verwirrung, wenn man anstatt die Be- griife von lex und jks als entgegengesetzte zu nehmen, sie als Eins nimmt. Je nachdem die Souverainetät ausgeübt wird durch Stimmenmehrheit, durch Wenige oder durch Einen, je nachdem ist der Staat Demokratie, Aristokratie oder Monarchie. Wer sie schelten will pflegt anstatt dessen Ochlokratie, Oligarchie, Des- potie zu sagen. Da der Vertrag, durch welchen der Staat erst wurde, einer war in dem die Mehrheit die dissentirende Minder- heit zwang, so kann man sagen, die Demokratie ist der Zeit nach allen Staatsformen vorausgegangen (De cive 7, 1. 7). Sonst muss auf die Frage: welche die beste dieser Formen? geantwortet wer- den: die gerade bestehende (Leviath. c. 42). Hobbcs wird es nicht müde auszusprechen, dass jeder Versuch, eine Staatsform zu än- dern, ganz wie der Verjtingungsversuch der Peliaden endige. Wel- che dieser Formen aber in einem Staate die bestehende sey, bei je- der hat der Souverain das unbedingte Recht zu befehlen, der Un- terthan die unbedingte Pflicht zu gehorchen, und dies Verhältniss kann, da ja nicht der Einzelne mit dem Staat den Vertrag abge- schlossen hat, nur so aufhören dass, wie bei dem Urvertrage, alle Einzelnen, also der Souverain mit, erklären sie wollten in den Natur oder Kriegszustand zurückkehren (De cive 6, 20). Ein Ueber- rest des Naturzustandes ist der Krieg, welchen auch wo er straft der Staat gegen den Angreifer führt. Sein Zweck dabei ist, den Wi- derstand den er findet zu brechen, daher den Verbrecher, oder wenigstens andere zu bessern (Leviath. c. 28). Ueberhaupt darf man keinen Unterschied machen zwischen dem natürlichen Recht der Menschen und der Völker. Das sogenannte Völkerrecht ist das Recht, dessen Subject nicht eine Einzelperson, sondern ein Volk ist, eine moralische Person, (de cive 14, 4. 5.) Da erst der Staat, d. h. der Souverain dem Unterthan Rechte gibt, so ver- steht sichs von selbst, dass weder jener diesem Unrecht thun kann, noch umgekehrt dieser jenem gegenüber Rechte hat (De cive

II. Die Weltweisen. C. Rechtsphilosophen, d. Naturalistische. §. 256, f.. 7 617

7, 14). Es sind aber gegenwärtig überall einige Grundsätze ver- breitet, eben so falsch wie staatsgefährlich, zu deren Ausrottung der Staat Alles thun, namentlich aber dafür sorgen muss, dass auf den Schulen und Universitäten nicht die Lehre des Aristote- les Alles beherrsche, dessen Politik das gefährlichste Buch ist, ■wie seine Metaphysik das al)surdeste (Leviath. c. 46). Der weit verbreitete Irrthum, dass man Eigenthum besitze, das der Sou- verain nicht antasten dürfe, vergisst, dass Eigenthum nur im Staat, d. h. durch den Souverain existirt; der nicht minder weit verbreitete Wahn, dass der Souverain unter Gesetzen stehe, be- denkt nicht, dass nur sein AVille Gesetz ist; von dem dritten Irr- thum, dass die Gewalt im Staat getheilt seyn müsse, hat der einzige Bodin eingesehn, dass dies den Staat zerstöre; einen vier- - ten, nach welchem mau das Volk oder auch die Yolksrepräsen- tauten dem Souverain gegenüber stellt, als wäre er nicht der ein- zige Repräsentant des Volkes, ja das Volk selbst (Leviath. c. 22), danken wir ganz besonders dem Aristoteles . der in seiner Vor- liebe für republikanische Staatsformen behauptet , nur bei ihr werde das Wohl der Regierten, dagegen in der Monarchie das des Re- gierenden zum Principe gemacht. Dies ist ganz falsch, in jeder Staatsform ist das Wohl des Volks, d. h. des Staats das aller- höchste Gesetz (De corp. polit. II, 8. 5). Kein Irrthum aber ist so gefährlich als der, dass der Unterthan nicht gegen sein Ge- >vissen handeln, und dariun wo dieses ihm Etwas verbietet, dem Befehl des Souverains nicht gehorchen dürfe. Als wenn nicht das Gewissen vielmehr antreiben müsste, den auf den Frieden gehen- den L^rvertrag zu halten (De corp. polit. II, 6), und als wenn nicht für das , was auf Befehl geschieht , einzig und allein der Be- fehlende einstünde (Leviath. c. 29 u. 16). Eins gi1)t es freilich, worin man nicht zu gehorchen braucht, dies aber ist das Ein- zige: Sich selbst zu tödteu ist Keiner verpflichtet, da ja Selbst- erhaltung der Zweck der Staatenbildung gewesen war (Leviathau c. 21).

7. Da die saatsgefährliche Lehre von der Berechtigung der Privatül)erzeugung einen starken Halt daran hat, dass die Reli- gion mit ins Spiel gezogen wird, so spricht sich Uobhcs sehr ausführlich über sie, namentlich über die christliche aus, sowie über die Kirche im mittelalterlichen Sinne. Bei de cive cap. 15 17 und Leviath. c. 32 47, die ganz diesem Gegenstande gewid- met sind, muss man stets bedenken, dass ein Glied der engli- schen Landeskirche redet: Von den beiden Wegen, auf welchen Gott sich dem Menschen vernehmlich macht, der gesunden Ver-

618 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

nunft und der Offenbarung durcli seine Propheten, führt schon der Erstere dazu, die (lediglich) auf die Allmacht der Weltursache gegründete Ehrfurcht durch äussere Zeichen , Worte und Handlun- gen, unter welchen letzteren der Gehorsam gegen die Gebote der Natur die erste Stelle einnimmt, zu äussern (Leviath. c. 31). In diesem Cultus besteht die Religion (de hom. c. 14). Der Staat zeigt, dass er Eine Person ist so, dass er den Personen, aus wel- chen er besteht, gebietet ihren Cultus öffentlich und gleichförmig zu üben. Je mehr die Erfahrung lehrt, dass nichts den Frieden so stört, wie Differenzen in diesem Punkte, um so weniger darf sich der Staat darauf einlassen , dass ihm, wie man das ausdrückt, nur das weltliche, nicht das geistliche Scepter zukomme. Die, aus der Souverainetät folgende geistUche Macht des Staats, ver- möge der der Souverain den Cultus vorschreibt, soll nun, wie die Leute meinen, unvereinbar seyn mit einer durch Propheten geoffen- barten Religion , obgleich doch Christus nirgends den Königen pro- phezeiet liat, dass sie durcli Uebertritt zum Christenthum an Rechten und an Macht einbüssen würden (Leviath. c. 49). "Viel- mehr muss gerade das Gegentheil gesagt werden. Die Geschichte des Alten Bundes zeigt eine vollständige Verschmelzung dev geist- lichen und weltlichen Macht in Mose. .Josita. später den Königen, welchen nur in einzelnen Fällen die Propheten sie zu kürzen ver- suchen (Leviath. c. 40). Was aber Clirisium betrifft, unseren Kö- nig, so wird er dies doch nur durch die vollbrachte Versöhnung, ist es also vor seinem Tode nicht; ferner sagt er selbst, das Reich, dessen König er sey, sey nicht von dieser Welt, es werde erst beginnen, wenn er kommen wird, um die könighche Funktion zu übernehmen in dem Reich, in welchem die Gläubigen ewig le- ben sollen. Bis dahin, fordert er, sollen wir uns auf jenes Reich vorbereiten, indem wir die Gesetze des bestehenden Staates be- folgen (c. 41). So Clivisliis. Gerade wie Gott sich in Mose als eine Person, in Christo als zweite Person gezeigt hat, gerade so im heiligen Geiste, d.h. den Aposteln und ihren Nachfolgern als dritte. (Persona ganz wie im Drama genommen.) Durch die Haud- auflegung wird bei diesen das Amt C//risli, für das künftige Reich durch die Predigt zu werben und vorzubereiten, immer w^eiter fortgepflanzt. Sie sind also Lehrer, Zeugen (Mar ty res) dessen was sie gesehn haben, die, eben weil sie zum Glauben bringen sollen, der keinen Zwang leidet, keine Zwangs-, darum aber über- haupt keine Gewalt haben. Die Excommunication schliesst nur von dem künftigen Reiche aus. Mit dem Augenblick, wo der Sou- yerain eines Staates Christ wird, wird die bisher verfolgte Ge-

II. Die Weltweiscn. C. Rechtsphilosoiihen. d. Xaturalististlie. §. 25ß, 7. (öH*

meiude zu einer Kirche, unter welcher also uur zu verstelm ist ein aus Christen bestehender Staat, in welchem die Unterordnung unter den Souverain ganz dieselbe ist, wie bei den Juden und Heiden. Wie Conslaniin der erste Bischof des römischen Reichs war, so ist es in jedem aus Christen bestehenden Staate, wenn er eine Monarchie ist, der König, der sich eben deshalb allein „von Gottes Gnaden", die unter ihm stehenden Bischöfe aber „durch die Huld Seiner Majestät" so nennen. Zwar tauft u. s. w. der Kö- nig nicht, aber nur weil er Anderes zu thuu hat. Der Staat setzt fest, welche Schriften kanonisches Ansehn haben, welcher Cultus zu üben sey, und fordert darin unbedingten Gehorsam; er behan- delt den als Ketzer, welcher eigenshmig seine Privatüberzeugung im Gegensatz zu der vom Souverain autorisirten Lehre öffentlich ausspricht (c. 42). Alle diese Lehren können den nicht beunruhi- gen, der seine rehgiösen Belehrungen aus der Bibel schöpft, und daraus lernt, dass es zur Aufnahme in das Reich Gottes nur zweier Dinge bedarf, des Gehorsams und des Glaubens. Der Gerechte (nicht der Ungerechte) wird seines Glaubens leben heisst es. Die Summa nun des von Christo geforderten Gehorsams liegt in seinem Worte: Alles was Ihr wollt, dass euch die Leute u. s. w., die Summa wieder alles Glaubens ist in dem Satze enthalten, dass Jesus der Christ ist, aus dem sich das ganze Taufsj-mbolum mit Leichtigkeit ableiten lässt. Bedenkt man nun , dass eben alle na- türlichen Gesetze in dieselbe Weisung zusammengefasst wurden, so ist klar, dass ein Conflict zwischen dem Gehorsam des Bürgers und des Christen gar nicht vorkommen kann, und wieder wie ein Souverain, sogar wenn er selbst yicht Christ wäre, dazu konnnen sollte, seinen Unterthanen zu verl)ieten, auf ein, jenseits des Auf- erstehungstages liegendes Reich zu hoffen, bis dahin aber den Staatsgesetzen zu gehorchen, ist gar nicht abzusehn (c. 43). Bibel- gläubige aber sind es auch gar nicht, welche den Ungehorsam und die Rebellion predigen, sondern die Kinder der Finsterniss, welche die Bibel theils nicht verstelm, theils durch Heidenthum, falsche Philosophie und allerlei Sagen und Mährchen verunreini- gen. Ihr Hauptirrthum ist, dass sie das künftige Reich Christi mit einem gegenwärtigen Institute verwechseln, das sich Kirche nennt, ohne doch eine bestimmte (d. h. Landes-) Kirche zu seyn, in welchem Weihungen , wie es die Sakramente sind , in heidnische Verzauberungen verwandelt wurden , in welchem anstatt der allein bibhschen Lehre, dass die durch Adams Fall sterblich geworde- nen Menschen nur durch den Glauben das ewige Leben em- pfangen, also nach der Auferstehung die Ungläubigen erst ihre

620 Mittelalterliche Philosophie. Dritte Periode (Uebergang).

Strafe, dann aber den zweiten (d. h. wirklichen) Tod erleiden werden , eine Unsterblichkeit auch der Ungläubigen gepredigt wird, und daran Fabeln vom Fegfeuer u. dgl. geknüpft werden (Lev. c. 44). Alle diese Irrthümer, die freilich der römischen Klerisei sehr profitabel sind, finden stete Nahrung darin, dass man die Gebiete des Glaubens und Wissens nicht sondert, dass man in die Glaubenslehre allerlei Lehren der Physik hineingebracht hat, die doch ganz der Vernunft angehört, und wieder, dass man über den Glauben nachgrübelt ohne zu bedenken, dass, wo gewusst wird, der Glaube aufhört (de hom. c. 14). Vor Allem aber nährt diese Irrthümer die auf Universitäten und Schulen herrschende Aristote- lei. Die einzige Hoffnung bleibt, dass Schriften, wie der Levia- than, die eine gesunde Philosophie lehren, in die Hände eines mächtigen Fürsten fallen, und durch ihn die darin entwickelten Grundsätze immer mehr in die Praxis eingeführt werden mögen (Lev. 40. 47. 31).

§. 257. Schlussbemerkuug. Wenn oben (§. 14) die Reformation als die Epoche bezeichnet worden ist, welche das Mittelalter von der Neuzeit scheidet, so zwingt dies nicht, Böhme . ßacov und llohbes, weil sie nach der- selben lebten, ja in den durch sie geltend gemachten reUgiösen Vorstellungen aufgewachsen sind, zu den Philosophen der Neuzeit zu rechnen. Dass ein neues Princip erst später als in den ande- ren Gebieten des Lebens sich in der Philosophie geltend macht, dass dies, wenn jenes Princip ein sehr wichtiges und reiches ist, oft sehr viel später geschieht, das folgt aus dem Begriff der Phi- losophie (vgl. oben §. 12), und dies hat sich bei den ersten An- fängen der christlichen Philosophie gezeigt, die durch fast zwei Jahrhunderte vom Eintritt des Christenthums getrennt sind. Und wieder lehrt das Beispiel nicht nur Luthers, der die Philosophie bekämpft, sondern auch Melanchihons . der sie achtet und lehrt, dass es für sie keine andere Philosophie gab , als den Aristotelis- mus des Mittelalters, d. h. einer Zeit, der im religiösen Gebiete sie selbst ein Ende gemacht hatten. Zu allen Zeiten hat es Sol- che gegeben, deren Herz dem Kopf voraneilte, oder denen das Herz brennt und deren Augen doch gehalten sind, so dass sie nicht wissen, wer zu ihnen redet, und darum ist es an und für sich keine Unmöglichkeit, dass Kinder der Neuzeit und eifrige Protestanten in ihrem Philosophiren sich vom Geist des Mittelal- ters nicht losgemacht haben. Dass dieses an sich Mögliche aber

Sfhlussbemerkung zur Mittelalterlichen Philosophie. §. 257. D-il

hinsichtlich der drei, von welchen hier die Rede ist, wirklich Statt findet, geht aus dem Inhalt und Charakter ihrer Lehre hervor. Als das Eigen thüniliche des Mittelalters war ohen (§. 119) ange- geben, dass durch den Gegensatz zur Welt, die Forderung Geist zu seyu zu der geworden war geistlich zu seyn. Damit bekommt natürlich das Hingegebenseyn an die Welt den Charakter des un- geistlich-seyns, den es im Alterthum nicht gehabt hatte, und darum auch die Weltweisheit den Cliarakter der ungeistlichen Weisheit. Dass über diesen Gegensatz, um den sich das Mittel- alter dreht, die Neuzeit liinauszugehn habe, ist ebendaselbst schon angedeutet worden, und wird sogleich ausführlicher zur Sprache kommen. Von dem Versuch eines solchen Hinausgehens zeigt sich bei den genannten Männern keine Spur. Böhme mit seiner Verach- tung alles weltlichen Treibens und aller weltlichen Weisheit, steckt nicht tiefer in diesem mittelalterlichen Dualismus als Bacou und Hobhcs mit ihrer Verachtung der Geistlichen und der geistlichen Wissenschaft. Die Zahl der Darstellungen, welche sie von dem Mit- telalter trennen, ist sehr gross; besonders hinsichtlich Barons nnd llohhes'. Der Hauptgrund scheint ihr Gegensatz zur Scholastik zu seyn. Soll aber dies entscheiden, dann muss man auch so cousequent seyn, wie Bilfcr, der alle in diese Uebergangsperiode Fallenden zur Neuzeit rechnet. Ja wenn dies der leitende Gesichtspunkt, und also die mittelalterliche Philosophie als gleichbedeutend mit Scholastik genommen wird, so ensteht die Frage: wo gehijren die Kirchenväter hin, die doch gewiss eben so wenig Scholastiker wa- ren, wie der Meister Erkhart oder Böhme, von denen sie sich nur so unterscheiden, dass sie es noch nicht, diese nicht mehr sind. Die dem Baron und llohbes hier angewiesene Stellung, dass sie eine Periode abschlicssen, erklärt auch warum nicht, wie bei allen epochemachenden Systemen , sich sogleich ein Kreis von Schülern und Fortbildnern ihnen anschliesst, sondern geraume Zeit vergehen musste, ehe sich die Aufmerksamkeit späterer, weit vorgeschrittener Geschlechter auf sie richtet. Es ist wie mit iSiro- lans ron Cusa, bei dem zu den im §. 225 angeführten Gründen auch dieser angeführt werden konnte, um zu rechtfertigen, dass er nicht an den Anfang einer Periode gestellt ward. Umgekehrt kann , was ganz am Ende jenes §. gesagt ward, hier hinsichtlich Böhmens, Barons und Ifohhes' Wort für Wort wiederholt werden. Ein Piückblick aber auf den Verlauf, den die Philosophie des Mit- telalters genommen hat, zeigt, dass auch hier, wie im Alterthum, von den drei Perioden, die sich von einander sondern (§. 121 148, 149 228, 229^256), die mittelste nicht nur den am Mei-

622 Mittelalter!. Philos. Dritte Periode (Uebergang). Schlussbemcrkung. §. 257.

sten systematischeu Charakter zeigt, sondern überhaupt die be- deutendste ist. In ihr wiederholen die drei Nebenperioden, wel- che unterschieden wurden (§.152 177, 178 209, 210 228), in verkleinertem Maassstabe den Unterschied der patristischen, scholastischen und Uebergangs - Periode , und dass der Erste inner- halb der Jugendperiode der Scholastik, Erigemi . in seinein Phi- losophiren an die Art der Kirchenväter erinnert, die Letzten in der Verfallperiode derselben sich den Philosophen des fünfzehn- ten und sechzehnten Jahrhunderts annähern, darf nicht Wunder nehmen.

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DrucU von Kr. Fiommanu in Jena.

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Series 9482

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