EERESKUNDE —^^— ^^1 HEFT 137 |^^^^^M^^^^M= IC L 137 Jg. 12 4eft 5 0BA N FRANZOSISCHEN LAGERN AFRIKAS ERLEBNISSE EINER ZIV VON ELSE FI HERAUSGEGEBEN VOM INSTITUT FÜR MEERESKUNDE AN DER UNIVERSITÄT BERLIN BERLIN 1918 / ERNST SIEGFRIED MITTLER UND SOHN KÖNIGLICHE HOFBUCHHANDLUNG / KOCHSTR. 68—71 12. JAHRGANG, 5. HEFT A PREIS 60 PFENNIG * MEERESKUNDE ^ SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRAGE Bisher erschienen folgende Hefte: *Das Museum für Meereskunde. Von Prof. Dr. A. Penck. Die Meeresräume, ihre Wasserfüllung und ihre Küsten. Flaschenposten und treibende Wracks. Von Prof. Dr. 0. Krümmel. *Das Eis des Meeres. Von Dr. L. Mecking. *Die Küste der englischen Riviera. Von H. Spethmann. *Unsere Kalisalzlager ein Geschenk des Meeres. Von W. Stahlberg. Der Deichschutz an Deutschlands Küsten. Von Dr. W. Behrmann. *Der Golfstrom. Von Dr. Ludwig Mecking. Meer und Küste von Rügen bis Alsen. Von H. Spethmann. Tier- und Pflanzenwelt des Meeres. Über marine Sedimente und ihre Benutzung zur Zeitbestimmung. Von Dr. G. Braun. Die Meeressäugetiere. Ihre Stammesgeschichte. Von Prof. 0. Abel. Die westindischen Korallenriffe. Von Dr. R. Hartmeyer. *Das Reich des Todes im Meer. Von Walter Stahlberg. ^Tierische Wanderungen im Meere. Von Prof. R. Woltereck. *Die Scholle, ein Nutzfisch der deutschen Meere. Von Dr. V. Franz. *Gefiederte Bewohner des Meeres. Von Dr. K. Wenke. Das schwimmende Leben der Hochsee. Von Dr. G. H. Fowler. ^Tierisches Licht in der Tiefsee. Von Prof. Dr. E. Mangold. *Neue Forschungen über die Biologie der Tiefsee. Von Professor Dr. F. Doflein. Die zoologische Station in Neapel. Von Prof. Dr. Armin v.Tschermak. Wehr und Schutz der Meerestiere. Von Dr. L. Glaesner. Geschichte, Seekriegsgeschichte, Lebenserinnerungen. Die deutsche Handelsmarine im 19. Jahrhundert. Von Dr. W. Vogel. *Die Anfänge der Nordpolarforschung. Von Dr. P. Dinse. Zeitalter der Entdeckungen. Von S. Günther. *Der Seeraub. Eine geographisch-historische Skizze. Von Dr. P. Dinse. Die Kontinentalsperre. Von Rob. Hoeniger. *Nordische Seefahrten im früheren Mittelalter. Von Dr. W. Vogel. Die Abschaffung des britischen Sklavenhandels im Jahre 1806/07. Von Dr. Franz Hochstetter. Die Fahrten eines deutschen Seemanns um die Mitte des 19. Jahr- hunderts. Aufzeichnungen des Segelschiff-Kapitäns G. W. Kroß. Die Schiffahrt auf den Karolinen und Marshallinseln. Von Dr. P. Hambruch. *Die Namen der Schiffe. Von Dr. W. Vogel. "Ein Ausflug nach Sansego in der Adria. Von Dr. L. Glaesner. "Deutschlands Lage z. Meere im Wandel der Zeiten. Von Dr. W.Vogel. Handelswe <5 e im Ostseegebiet in alter u. neuer Zeit. Von Chr. Reuter. Ostseehandel und Landwirtschaft. Von Chr. Reuter. Die Nautik im Altertum. Von Dr. Aug. Koste r. Das Seekriegsrecht im jetzigen Kriege. Von Johannes Neuberg. Die südeuropäischen Staaten und unser Krieg. Von Prof. Dr. Alfred Merz. Englands Willkür und bisherige Allmacht zur See. Von Vize- admiral z. D. Hermann Kirchhoff. * Preis 50 Pf., die übrigen Hefte kosten 60 Pf. MEERESKUNDE SAMMLUNG VOLKSTÜMLICHER VORTRÄGE ZUM VERSTÄNDNIS DER NATIONALEN BEDEUTUNG VON MEER UND SEEWESEN ZWÖLFTER JAHRGANG FÜNFTES HEFT In französischen Lagern Afrikas. Erlebnisse einer Zivilgefangenen. Von Else Ficke. inem Ansuchen an meinen Vater, die Leiden unserer Gefangenschaft der Öffentlichkeit in einem Vortrage zugängig zu machen, mußte er leider entsagen, denn die Folgen der erduldeten Strapazen, Entbehrungen und schwerer Krankheit machen es ihm unmöglich1). Da ich dieselben Leiden miterlebt habe, so habe ich mich dazu erboten, so gut ich es vermag. Obgleich an den Toren Europas gelegen, war Marokko für die Allgemeinheit ein ziemlich verschlos- senes und daher wenig bekanntes Land. Erst das Jahr 1907 änderte die Lage, als im August die fran- zösische Flotte die offene Stadt Casablanca in ver- räterischer Weise beschoß und Tausende von Un- schuldigen mordete. Auch wir haben diese Beschießung miterlebt und alle Schrecken der französischen Kriegführung kennen- gelernt. *) Der Vortrag wurde am 27. Februar 1917 gehalten. Herr Konsul Heinrich Ficke, der verdiente Vorkämpfer für den deutschen Handel in Marokko, ist inzwischen den Folgen der erlittenen unwür- digen und barbarischen Behandlung erlegen und am 2. Juni 1917 gestorben. Stahlberg. Meereskunde, Vorträge. XII. Heft 5. 1 2 Meereskunde. Bei Ausbruch des gegenwärtigen Krieges war mein Vater über 37 Jahre als selbständiger Kaufmann eines Import- und Exportgeschäftes in Casablanca ansässig. Meine einzige Schwester und ich sind dort geboren. In Deutschland ist man vielfach der Ansicht, daß dem Kaufmann im Auslande die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Aus Erfahrung bin ich darüber anderer Ansicht, wenigstens was Marokko anbetrifft. Der Sommer im subtropischen Klima ist recht lang, und in diesen fällt die Hauptarbeitszeit. Während des Sommers ritten unsere Herren bereits früh um 5 Uhr zu den außerhalb der Stadt belegenen Magazinen, und allwöchentlich einmal noch früher zu einem etwa drei- einhalb Stunden entfernten Wollmarkt. Mit Abzug einer eineinhalb- bis zweistündigen Mittagspause wurde bis sieben und siebeneinhalb Uhr abends im Geschäft gearbeitet. Während der Regenzeit im Winter und während der kurzen Tage gehen die Herren allerdings erst morgens zwischen acht und neun Uhr ins Geschäft. Mein Vater ist Senior der deutschen Kolonie in ganz Marokko. Bald nach ihm kamen mehr und mehr Deutsche ins Land; der Handel mit Deutschland nahm stetig zu, so daß der Verkehr mit den Jahren eine direkte Dampferiinie mit Hamburg schuf. Etwa vom Jahre 1900 an gelangte der deutsche Handel zur vollen Blüte und nimmt seitdem an der Seite des englischen eine erste Stelle ein. Die Flotte der deutschen Dampfer- linie hat sich schnell vermehrt und immer größere Dampfer eingestellt. Der Umfang des deutschen Handels gab der Deut- schen Orientbank Veranlassung, in verschiedenen Orten Marokkos Filialen zu gründen. Obgleich der Geschäfts- gang dieser Filialen gute Ergebnisse zeitigte, hat sie nach einigen Jahren des Bestehens leider ihre Niederlas- In französischen Lagern Afrikas. 3 sungen einer französischen Bank verkauft und sich aus Marokko zurückgezogen. Zwar überschwemmten nach der Beschießung Ca- sablancas und Besitzergreifung der Provinz Schauia von 1908 an französische Handeltreibende ganz Ma- rokko, besonders Casablanca; abej diesen ist es trotz der vielen Vorteile, die ihnen die französischen Behör- den boten, und zum großen Ärger dieser, nicht ge- lungen, auch nur annähernd an Seite der Deutschen und Engländer Fuß zu fassen. Unsere Herren behaupteten, die Franzosen, die nach Marokko gekommen, seien keine Kaufleute, in der Mehrzahl auch nicht ehrlich, so daß Deutsche und Eng^ länder Geschäfte mit ihnen mieden. Ein großer Fehler der Franzosen ist, daß sie sich nicht bemühen, die arabische Sprache zu erlernen, ohne welche ein Verkehr mit den Landesbewohnern schlechterdings unmöglich ist. So sind die französischen Kaufleute fast ausschließ- lich auf die Einfuhr und den Vertrieb am Platze von Baumaterialien angewiesen. Durch diese Umstände und angesichts des blühenden deutschen Handels hat sich nicht allein bei den französischen Kaufleuten, son- dern auch bei den französischen Behörden (die Zoll- ämter werden ja ebenfalls von Franzosen verwaltet), den Generalresidenten Lyautey an der Spitze, mit den Jahren ein glühender Haß gegen das ganze Deutschtum aufgespeichert. Hat doch der Generalresident auch auf den großen Inlandmärkten öffentlich erklärt, daß er das Deutschtum mit der Wurzel ausrotten wolle. Im allgemeinen ist noch zu bemerken, daß das kaufmännische Geschäft in Marokko viel des Inter- essanten bietet. An Erzeugnissen gibt es die folgenden Zerealien: Pferdebohnen, Gerste, Hartweizen, Hafer, Kichererbsen, Mais; an Sämereien: Foenum graecum, 1* 4 Meereskunde. Koriander, Leinsamen und Kanariensamen. Ferner ver- schiedene Gummiarten, Olivenöl, Mandeln, Aprikosen- kerne, Rosenblätter, Kümmel, Bienenwachs, Wolle, Häute, Ziegen- und Schaffelle. Alle diese Gegenstände werden ausgeführt; bis 1909 auch Hühnereier in großen Mengen. In Tanger wird noch ausgeführt lebendes und geschlachtetes Vieh, in der Hauptsache für die Truppen in Gibraltar, sowie lebendes Geflügel, auch Wild, gleichfalls nach Gibraltar. Eingeführt werden alle Nahrungs- und Genußmittel, die verschiedensten Textil- waren in Seide, Sammet, Wolle und Baumwolle, auch Glas-, Porzellan- und Metallwaren, Anilinfarben, Drogen, Gewürze, Chemikalien usw. Die Industrie beschränkt sich auf Teppiche, etwas Seiden- und Lederwaren, alles Hausarbeit für den Be- darf der Eingeborenen. Wir kommen nunmehr zu den erschütternden Er- eignissen des Jahres 1914. Es muß auf den ersten An- blick sonderbar erscheinen, daß bei dem drohenden Gewitter, das sich Ende Juli am politischen Horizont zusammenzog, nicht ein großer Teil der in Marokko lebenden Deutschen, ,der eigenen Sicherheit wegen, dieses Land verließ und nach Deutschland oder sonstwohin übergesiedelt war. Demgegenüber muß jedoch bemerkt werden, daß wir uns im Sultanat Ma- rokko befanden, das nur unter dem Protektorat Frank- reichs steht, aber mit der offenen Tür für alle Nationen. Deutschlands Verträge mit Marokko garantierten uns in jeder Beziehung volle Sicherheit für Leben und ge- samtes Eigentum. Niemand von uns konnte den jedes Völkerrechtes spottenden Vertragsbruch Frankreichs voraussehen. Das allerhöchste, was Frankreich hätte wagen dürfen, wozu es aber auch keinerlei Recht hatte, war, uns des Landes zu verweisen und uns nach einem In französischen Lagern Afrikas. 5 neutralen Hafen einzuschiffen. Zwar ist uns von den französischen Behörden unaufgefordert zu den ver- schiedensten Malen erklärt worden, daß unsere Ge- fangennahme lediglich unserer Sicherheit wegen ge- schehen sei, und daß wir nach einem neutralen Hafen befördert werden würden. Zuletzt wurde uns das noch bei unserer Einschiffung feierlichst wiederholt. Während in Deutschland täglich, ja stündlich zu- verlässige Nachrichten über die Lage bekanntgegeben werden, waren wir in Marokko ausschließlich auf die uns zugehenden Nachrichten aus französischer Quelle angewiesen; die aus Deutschland kommenden Tele- gramme waren einer strengen Zensur unterworfen und wurden uns späterhin überhaupt entzogen. Daß Frankreich übrigens längst sich auf einen Krieg vorbereitete, erhellt aus folgender Tatsache: Die Ernte, die in ganz Marokko im Mai ihren Anfang nimmt, war 1914 ganz besonders günstig ausgefallen. Entgegen allen Verträgen untersagten bereits im April die französi- schen Behörden alle Zufuhr von Weizen und Gerste nach den Küstenplätzen bei Androhung von hohen Strafen für die Eingeborenen. Dabei erklärten diese Behörden sich bereit, auf den Inlandmärkten zu guten Preisen alle Erträge beider Getreidearten zu kaufen. Außer den französischen erhoben die Kaufleute aller Nationen gegen diesen Vertragsbruch bei ihren Gesandt- schaften in Tanger Protest, um so mehr, als ein großer Teil der Ernte bereits von den Kaufleuten auf dem Halm gekauft und bezahlt war. Bei Ausbruch des Krieges war die Lösung dieser Angelegenheit noch schwebend. Von 1914 bis heute hat Frankreich be- deutende Mengen von Weizen und Gerste aus Marokko herausgezogen. Am 26. Juli 1914 fand sich ein großer Teil der Meereskunde, Vorträge. XII. Heft 5. 2 6 Meereskunde. deutschen Kolonie zum Tennis im Garten eines Lands- mannes ein, die Stimmung war recht fröhlich und nie- mand ahnte den kommenden Schrecken, Der nächste Tag, der 27. Juli, brachte dem österreichischen Konsul die telegraphische Nachricht von der Mobilmachung Österreich-Ungarns gegen Serbien. Schon am 28. Juli begannen die Zeitungen in Casablanca, besonders die ,,Vigie Marocaine", durch Extrablätter über die Lage in Europa auf Grund von Depeschen der „Agence Havas" zu berichten. ,,La Vigie Marocaine" richtete ihrem Bureau gegenüber einen Depeschensaal ein, in dem die einlaufenden Telegramme veröffentlicht wurden und wo von dem Tage ab stets eine dichte Menschenmenge auf die neuesten Nachrichten wartete. Am gleichen Tage erhielten auch verschiedene Mit- glieder der deutschen Kolonie Telegramme aus Deutsch- land, die auf etwaige Komplikationen hinwiesen. Am nächsten Tage, dem 29., verschlechterte sich die all- gemeine Stimmung; die Banken fingen an, sich Be- schränkungen in ihren Operationen aufzuerlegen, be- sonders als bekannt wurde, daß der Teilhaber einer englischen Firma, der Marineoffizier der Reserve ist, Befehl erhalten hatte, unverzüglich nach Gibraltar ab- zureisen. Die am Sonnabend nach und nach veröffentlichten Depeschen veranlaßten den Verweser des Kaiserlichen Konsulats, auf Grund der aus Berlin drahtlos vor- liegenden Nachrichten, daß die Mobilmachung bevor- stände, die auf der Reede liegenden deutschen Dampfer „Tetuan", „Picador" und ,, Energie" mit etwa 30 wehr- pflichtigen Deutschen nach Cadiz zu senden. Die Be- stürzung im internationalen ,,Anfa Club", dem Treff- punkt der angesehenen Kaufleute und Beamten Casa- blancas, war groß, als diese Maßnahmen langsam In französischen Lagern Afrikas. 7 bekannt wurden. Für die noch zurückgebliebenen Wehrpflichtigen hatte das Konsulat den Dampfer „Oldenburg" zurückgehalten, wodurch es möglich wurde, eine weitere größere Anzahl Sonntag, den 2. August, nach Cadiz einzuschiffen. Alle diese Dampfer haben glücklicherweise den vorgeschriebenen Hafen er- reicht. Weniger glücklich war der deutsche Dampfer „Gibraltar", der sich zur Zeit des Kriegsausbruchs in Mogador befand. Er wurde von den französischen Be- hörden genommen, in „Mogador" umgetauft und mußte einen Teil der deutschen Kolonie in die Gefangenschaft nach Oran bringen. Sonntag, den 2. August, morgens um 11 Uhr, wird im Depeschensaal der „Vigie" eine Mobilmachungsorder Frankreichs angekündigt. In einer am Nachmittag um 5 Uhr im französischen Konsulat abgehaltenen Kon- sularsitzung wird den versammelten Konsuln mitgeteilt, daß die Polizeigewalt auf die Militärbehörde übertragen worden sei, daß aber sonst keinerlei Änderungen mit Bezug auf Kapitulationen getroffen werden würden» Einige Augenblicke später erhält das deutsche Konsulat die amtliche Depesche aus Berlin über die deutsche Mobilmachung. In der Stadt herrscht lebhafte Be- wegung, da um Mitternacht der erste Tag der französi- schen Mobilmachung beginnen soll. Verschiedene fran- zösische Passagierdampfer sind von den Behörden für Truppeneinschiffungen requiriert. Montag, den 3. August, wird bekannt, daß die deutschen Botschafter London und Paris verlassen haben, Italien seine Neutralität erklärt habe, und Eng- land bereit sei, die französische Küste durch seine Flotte zu schützen. Dienstag, den 4. August, morgens, wird von den französischen Behörden die deutsche Dampfmühle mit 2* 8 Meereskunde. ihren Getreide Vorräten mit Beschlag belegt. Um 12 Uhr mittags wird durch das französische Konsulat in Casa- blanca der Belagerungszustand verhängt. Die seitens unseres Konsulats hierauf sofort erfolgte Anfrage wird vom französischen Konsul dahingehend beantwortet, daß die Kapitulationen für die Deutschen aufgehoben seien. Auf die gleiche Anfrage des italienischen Kon- sulats heißt es, daß die Kapitulationen der anderen Nationen unberührt bleiben! Am Nachmittag erscheint der französische Konsul, begleitet von dem „Chef du Service diplomatique" von der Generalresidentur in Rabat, im deutschen Konsulat, um die Kriegserklärung zu überbringen. Sie verlangen die Einziehung der Konsulatsflagge und die Übergabe des Archivs an ein fremdes Konsulat. Um 4 Uhr 35 mußte unsere deutsche Flagge dieser Aufforderung weichen und wurde von dem Verweser des Konsulats in Anwesenheit der übrigen Beamten eigenhändig her- untergeholt. Des weiteren übermittelte der französische Konsul die Aufforderung, zwecks „unserer persönlichen Sicherheit", uns abends bis 7 Uhr in dem Privathause von Carl Ficke, das infolge seiner Lage außerhalb der Stadt und nach der Größe des Hauses und des Gartens dafür am besten geeignet erscheine, zu versammeln. Für unsere Sicherheit in diesem Hause wurde uns durch Schutzwache so lange garantiert, bis die Regierung, die uns gleichzeitig aufforderte, innerhalb 48 Stunden Ma- rokko zu verlassen, Dampfergelegenheit beschafft habe, um uns nach einem neutralen Hafen zu bringen. Nach- mittags wurde auch die deutsche Post von den Fran- zosen mit Beschlag belegt, doch konnten alle Barmittel noch vorher in Sicherheit gebracht werden. Nach und nach stellten sich die noch etwa hundert Köpfe zählenden Mitglieder der Kolonie im Hause In französischen Lagern Afrikas. meines Onkels ein, wo man auf eine Beköstigung und Unterbringen so vieler Menschen nicht vorbereitet war. Spät abends richten wir uns für die Nacht ein, die Damen und Kinder werden möglichst in Zimmern unter- gebracht, die Herren in der Halle und auf den Korri- doren, wo sie auf Teppichen schlafen. Die Wache aus Senegalesen, unter einem Leutnant, zieht auf, besetzt die Gartentore, wird an der Umfassungsmauer auf- gestellt mit dem Auftrage, jeden niederzuschießen, der sich der Mauer nähert. Hiermit beginnt eine endlose Kette von Gemeinheiten, der empörendsten Behandlun- gen und Beschimpfungen, die uns auferlegt wurden. Was die raffinierteste Bosheit nur ersinnen konnte, wurde an uns ausgeübt. Am nächsten Tage, am 5. August, verbrennt das Kaiserliche Konsulat seine Codes und übergibt das Archiv dem italienischen Konsul. Während des Tages treffen verschiedene Herren aus Marrakesch ein. Am 6. August, nachmittags, kommt der französische Konsul mit einem Artilleriehauptmann zu uns. Ersterer erklärt, daß als Gegenmaßregel für von Deutschen an Fran- zosen begangene Grausamkeiten wir alle als Kriegs- gefangene betrachtet würden und sämtliche Waffen an den Hauptmann zu übergeben seien, ebenso hätte sich die österreichische Kolonie bis abends 6 Uhr im Hause meines Onkels einzufinden. Wer nach 6 Uhr in der Stadt angetroffen würde, würde vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Am 7. August erhalten wir zum ersten Male von der Militärbehörde rohes Fleisch, etwas Ge- müse, Trinkwasser und Soldatenbrot — bisher hatte mein Onkel die Beköstigung aus seinen Vorräten liefern müssen — ; doch reichten die gelieferten Nahrungsmittel nicht aus. In den Zimmern, namentlich in denen kleine Kinder 10 Meereskunde. schliefen, war in der Nacht wiederholt das elektrische Licht angedreht worden, was als Lichtsignale ausgelegt wurde. Infolgedessen mußte um 9 Uhr abends alles Licht gelöscht werden. Bei Zuwiderhandeln sollte auf das betreffende Fenster geschossen werden. Am näch- sten Nachmittag treffen drei höhere Offiziere ein und teilen mit, daß mein Onkel, weil er nachts Lichtsignale gemacht habe, auf Befehl des Generalresidenten ver- haftet und in das Militärgefängnis abgeholt werden würde. Unsere Klarstellungen über den Sachverhalt werden schroff abgewiesen und mein Onkel abgeführt. Allmählich trifft die deutsche Kolonie aus Fez und Rabat ein, die über die ihnen angediehene Behandlung entsetzlich klagt. Endlich, am 12. August, morgens, wird uns mit- geteilt, daß von uns 50 unverheiratete Herren mit dem auf der Reede liegenden Dampfer ,,Mogador" eingeschifft werden sollen, während die übrigen, etwa 150, an Bord des französischen Viehtransportdampfers ,,Turenne" gehen sollen, um nach einem neutralen Hafen befördert zu werden; dazu würde sich mein Onkel ebenfalls an- schließen. Jeglicher Verkehr mit Außenstehenden auf dem Wege zum Hafen sei strengstens untersagt. Kurze Zeit darauf kommt mein Onkel zu uns. Gleich nach Mittag wird nochmals alles Gepäck untersucht, dabei wieder alles aus Kisten und Koffern herausgeworfen. Notdürftig zusammengepackt, wird es auf die unmittel- bar vor dem Garten haltenden Eisenbahnwagen ver- laden. Bald darauf besteigen wir den Zug, Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett begleiten uns. Wir werden bei dichtverhangenen Fenstern und festverschlossenen Türen zum Hafen gefahren. Dieser ist zum Teil durch Truppen abgesperrt, hinter denen eine große Volks- menge, meistens aus Eingeborenen bestehend, lautlos verharrt. In französischen Lagern Afrikas. 11 Mit welchen Gefühlen wir Marokko, das Feld un- serer langjährigen Tätigkeit, das vielen von uns eine zweite Heimat geworden war, verließen, wo uns Haus, Hof und aller Besitz brutal entrissen wurde, läßt sich nicht schildern. In Leichterfahrzeugen, die für den Gütertransport benutzt werden, wurden wir, ohne Rücksichtnahme auf die Kranken, zusammengepfercht und an den Dampfer befördert. Hier war in keiner Weise für uns gesorgt, Lebensmittel wurden uns nicht verabreicht; man stellte uns aber frei, uns auf eigene Kosten zu enormen Preisen zu verpflegen. In der einzigen kleinen Kajüte wurden die kleinsten Kinder und ihre Mütter untergebracht. Die größeren Kinder und die Erwachsenen mußten sich Unterkunft in den von Schmutz starrenden Laderäumen, die Damen hinten, die Herren vorne, suchen; den Damen wurden einige schmutzige Strohsäcke hinuntergeworfen; Decken gab es überhaupt nicht. Am nächsten Morgen liegen wir noch auf derselben Ankerstelle. Erst gegen 12 Uhr setzt sich der Dampfer in Bewegung; Dampfer ,,Mogador" mit den übrigen Gefangenen folgt, ferner ein Truppentransportdampfer und zwei französische Kreuzer. Gegen 6 Uhr desselben Tages treffen wir in Rabat ein und fahren nach kurzem Aufenthalt mit Kurs nach Norden weiter. Den 14. August passieren wir früh- morgens Tanger und beobachten mit banger Erwartung den Kurs, der uns nach einem neutralen Hafen führen soll. Aber schon bald, indem wir Gibraltar passieren, wird uns klar, daß man uns wieder einmal schändlich betrogen hat, und daß man uns, allen Versprechungen zuwider, nach Oran oder Algier transportiert. Der Dampfer nimmt Kurs auf die afrikanische Küste. Früh am Morgen des 15. August treffen wir in Oran 12 Meereskunde. ein, ohne zu ahnen, welche Ereignisse uns noch am selben Tage bevorstehen. Nachdem unser Schiff am Kai festgemacht hat, müssen wir mit unserem Hand- gepäck an Deck antreten. Den glühenden Sonnen- strahlen ausgesetzt, ohne Nahrung, ja selbst ohne Wasser, müssen wir bis gegen 3 Uhr daselbst aus- harren. Zuerst wird unseren Herren befohlen, an Land zu gehen. Sie sollen zu Fuß durch die Stadt zum Bahn- hof gehen, die Damen, Kinder und Kranken den Weg dahin mittels Wagen zurücklegen. Ich lasse hier den Bericht eines unserer Herren, namens Gustav Fock, ziemlich wörtlich folgen1): ,,Wir Männer ergriffen das Handgepäck und be- gaben uns zum Kai hinab, wo wir zu vieren, etwa 60 Mann, aufgestellt wurden. Der Oberleutnant, der den Transport von Casablanca nach Oran begleitet hatte, zählte uns und gab uns dann an einen Sergeanten ab, der uns zum Bahnhof zu geleiten hatte. 16 Zuaven mit aufgepflanztem Bajonett gaben. uns das Geleit; je vier wurden hinten, vorne und an die Seiten des Zuges verteilt. Der Sergeant, der auffälligerweise überhaupt nicht umgeschnallt hatte, keinen Dienstanzug trug und mit einem marokkanischen Ehrensäbel, als einziger Waffe, herumfuchtelte, den er aus dem Handgepäck eines Mit- gefangenen, des Legationsrates Moraht, entwendet hatte, erhielt von dem erwähnten Tirailleur-Oberleutnant den Befehl, uns nicht durch die Hauptstraßen der Stadt direkt zum Bahnhofe, wie es doch das Natürlichste ge- wesen wäre, und auf welchem Wege man auch nachher die Gefangenen der „Mogadar" geleitete, zu führen, ') Gustav Fock, Wir Marokkodeutschen in der Gewalt der Franzosen. Herausgegeben von Ludwig Brinkmann. Berlin 1916. Ullstein & Co. In französischen Lagern Afrikas. 13 sondern durch die elenden und verrufenen Vororte Orans. Mit satanischem Lächeln machte der Ober- leutnant ihn dafür verantwortlich, daß wir „richtig" an- kämen. Dabei zwinkerte er dem Sergeanten zu, und dieser nickte verständnisvoll. Der Zug setzte sich in Bewegung. Zuerst liefen nur einige Kinder neugierig hinter uns her, dann schlössen sich auch Erwachsene an, und es wurden immer mehr, je weiter wir kamen; Neugierige, Nichtstuer, die in jeder Stadt der Welt einem so seltsamen Zuge gefolgt wären, um zu gaffen, die aber ganz friedfertig erschienen. Da fühlte sich unser Sergeant, der ganz zweifellos ein Agent provocateur und gedungener Mörder war, berufen, die Leute einmal richtig in hetzerischer Weise über uns auf- zuklären, und seine Belehrungen fielen auf keinen un- fruchtbaren Boden. Besonders ein frecher Bursche von etwa 20 Jahren, der barhäuptig nebenher lief und dessen Maulwerk nicht einen Augenblick zum Stillstand kam, bedachte uns mit ehrenden Zurufen, wie: „Verfluchte Boches, Hunnen, Kinder- und Frauenmörder" und be- hauptete schreiend, wir wären alle gefangen genommen, weil wir deutsche Spione seien, weil wir versucht hätten, in Marokko Brunnen und Mehlvorräte zu vergiften, um die französischen Soldaten zu töten usw. Der Lümmel ist ebenfalls ein bestellter und gedungener Provocateur gewesen. Die nebenherlaufende Menge blieb noch ziemlich friedlich. Da brachte der Sergeant Schwung in die Sache. »Wenn ihr Männer wäret«, rief er den Leuten zu, »und keine feigen Memmen, so dürfte nicht einer von diesen deutschen Hunden lebendig zum Bahn- hof kommen! Alle müssen totgeschlagen werden.« Und uns schrie er ins Gesicht: »Ihr müßt nicht glauben, daß ihr lebendig zur Bahn kommt! Heute sollt ihr das fran- zösische Volk in seinem Hasse kennen lernen! Und Meereskunde, Vorträge. XII. Heft 5. 3 14 Meereskunde. wenn ihr jetzt davonkommt, morgen werdet ihr doch alle erschossen! Ich bin dazu kommandiert, ich bin der- jenige, der morgen , Feuer' kommandieren wird!« Da bestand für uns kein Zweifel mehr, daß unsere Aufseher mit unserer Ermordung beauftragt waren. Aber die Menge blieb immer noch ruhig. Da sahen wir von der Stadt her eine Droschke auf uns zukommen, in der mehrere Herren saßen. Kurz vor uns hielt der Wagen an, und der Kutscher fragte den Sergeanten, was wir für Leute wären. Seine Antwort war: »Gefangene Boches, die versucht haben, französische Soldaten zu vergiften, und morgen erschossen werden!« Da nahm der Kutscher seine Peitsche und schlug sie weit aus- holend dem nächsten Gefangenen über den Kopf. Dieser hielt zum Schutze seinen Arm hoch und versuchte dem Schlage auszuweichen. Ein Leidensgefährte, der rechts neben mir ging, ein Mechaniker aus Rabat, namens Kuppler, rief ihm zu: »Mensch, seien Sie doch kein Feigling, warum weichen Sie aus? Zeigen Sie ihnen, daß wir Deutsche sind, die keine Angst haben, aber auch gar keine! Sie dürfen nicht mit der Wimper zucken, und wenn Sie in Stücke gehauen werden!« Der schurkische Sergeant schrie jetzt: »Habt ihr eben gehört, was der da von euch gesagt hat? Ich kann Deutsch und habe es verstanden! Ihr wäret alle Schweinehunde! Chiens de cochons hat er gesagt, und das laßt ihr euch bieten?« Der Kutscher, der vermutlich auch bestellte Arbeit leistete, hatte das Zeichen und Beispiel gegeben, der Sergeant ihn gedeckt; nun gab es für die Menge kein Halten mehr. Ich sah, wie plötzlich ein baumlanger Kerl an Kuppler heransprang, und, ehe ich es verhin- dern konnte, weit ausholend ihm mit der geballten Faust einen fürchterlichen Schlag zwischen die Augen ver- setzte. Taumelnd, die Arme weit ausstreckend, ließ In französischen Lagern Afrikas. 15 Kuppler seine Handtasche fallen und brach zusammen. Ich griff ihm von rechts unter die Schulter; ein Leidens- gefährte unterstütze ihn von der anderen Seite, und so schleppten wir ihn mit uns, damit er nicht auf der Straße liegen blieb. Jetzt faßten auch andere Mut, als sie sahen, daß wir uns nicht wehren konnten und für sie keine Gefahr dabei war, und von rechts und links setzte es Faustschläge und Fußtritte. Wir kamen an ein paar Haufen Steine vorbei, mit denen die Straße ausgebessert werden sollte. Mit lautem Jubel stürzte sich die Menge darüber her, und bald regneten von allen Seiten faust- dicke Kiesel auf uns nieder. Die Situation wurde kri- tisch; die Soldaten taten nichts, den Ausschreitungen des Pöbels Einhalt zu gebieten. Das Gebrüll um uns wurde immer stärker und unheimlicher, die Menge schwoll immer mehr an. Da tauchten, durch den Lärm angelockt, aus einer Seitengasse drei französische Sani- tätssoldaten auf, die das Rote-Kreuz-Abzeichen auf dem Ärmel trugen; ein paar Augenblicke gingen sie ruhig in der Reihe der Soldaten neben dem Zuge her und be- trachteten uns, so daß wir schon zu hoffen anfingen, daß sie gekommen wären, um uns zu helfen. Da sprangen plötzlich, erst der eine, dann auch die beiden anderen in unsere Reihen hinein und entrissen den Gefangenen Spazierstöcke. Erbarmungslos schlugen sie damit auf uns ein, auf Kopf und Rücken und in das Antlitz, wohin es traf. Ihr Beispiel erweckte Nacheiferung. Wir verließen die steile Chaussee, und umjohlt von der brüllenden Menge wälzte sich unser armes Häuf- chen von mißhandelten Gefangenen durch die Straßen und Gäßchen der verrufensten Stadtteile Orans. Hier schien die Hölle los zu sein. Ein derartiger Lärm setzte ein, daß man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte. Pfeifen, Johlen, Hohnrufe wie Espions! Assas- 3* 15 Meereskunde. sins! A la guillotine! Allemagne kaput! Mort a Guil- laume le Fou! Ein französischer Offizier, auch einer der Helden der grande nation, eilte herbei, reizte die Menge zu immer bestialischeren Greueltaten auf und schlug mit seiner Reitgerte selbst in die Reihen der Ge- fangenen ein. Er stellte sich nachher sogar persönlich an die Spitze des Zuges; an jeder Straßenecke ließ er halten, damit möglichst viel Pöbel herbeiströmen konnte, und hielt an das Volk aufreizende Ansprachen, während- dem das Gesindel von allen Seiten mit Fäusten, Knüp- peln und Flaschen auf uns eindrosch. Unsere Lage wurde immer ernster. Verschiedene von uns waren schon vor Schmerzen und Ermattung so von Kräften, daß sie sich nicht mehr auf den Füßen zu halten vermochten und von den Leidensgefährten, die selbst meist am Ende ihrer Leistungsfähigkeit angelangt waren, weitergeschleppt werden mußten. Von den am Ende des Zuges Marschierenden waren schon drei Herren, Krake, Habermehl und Carl Ficke, liegen ge- blieben. Sie waren von der Menge rücklings nieder- gerissen worden, ohne daß wir es bemerkt hatten. Er- barmungslos trampelten die Nachdrängenden den zu Boden Liegenden mit ihren schweren Stiefeln ins Ge- sicht, während die uns begleitenden Soldaten die Un- glücklichen mit dem Kolben in die Rippen schlugen und mit dem Bajonett in die Seiten stachen, was freilich nicht das geeignetste Mittel war, ihre entschwindenden Lebensgeister wieder zu wecken. Habermehl wurde endlich von einem mitleidigen Spanier unauffällig in einen Hausflur gezogen und so vor der wütenden Menge gerettet, Ficke und Krake wurden zum Bahnhof hinauf- getragen; ersterem waren sämtliche Vorderzähne aus dem Munde getreten worden. Inzwischen hatte die Wut der Menge ihren Höhe- In französischen Lagern Afrikas. 17 punkt erreicht. Wir verloren immer mehr die Kraft; von der furchtbaren Glut, dem langen Wege den steilen Berg hinan, dem Lärme, den schmerzenden Wunden und dem Staube versagten unsere Nerven. Kaum konnte einer noch aufrecht gehen; wir wankten und schleppten uns nur mühsam weiter mit dem Gefühl, wir werden einfach so lange in den Gassen herumgeführt, bis der Pöbel uns umgebracht hat. Da ertönt plötzlich von vorne der Ruf: Aushalten, der Bahnhof ist da! Jeder rafft aufatmend nochmals seine letzten Kräfte zusammen, um auch diese kleine Strecke noch zu überwinden. Das Gesindel fürchtet jetzt, wir könnten ihm entrinnen. Alles verläßt uns plötzlich und eilt zum Bahnhof, wo die Treppen besetzt werden. Dort erwarten uns die Bestien in Menschen- gestalt und nochmals geht es über uns her. Taumelnd schleppten wir uns in die Bahnhofshalle, wo wir ermattet auf die Steinfliesen niedersanken. Draußen johlte noch immer die Menge, die die Eingänge zu stürmen suchte, aber von Soldaten, die endlich, viel- leicht auf höhere Weisung, wahrscheinlich aber aus eigener Initiative ihre Pflicht zu tun anfingen, und vom Bahnhofspersonal zurückgedrängt wurde. Wer weiß, ob es ihr nicht doch noch gelungen wäre einzudringen, wenn nicht gerade noch zur rechten Zeit weitere Sol- daten, ebenfalls Zuaven, angerückt wären, die uns ins Innere begleiten sollten. Die griffen endlich energisch ein, besetzten die Eingänge und schafften Ruhe. Erst jetzt, wo die größte Gefahr vorüber schien, trat bei den meisten ein gänzliches Versagen aller Kräfte ein. Die Nerven, die aufs äußerste angespannt waren, brachen auf einmal zusammen. Viele hatten die Augen geschlossen, lagen langgestreckt auf dem Boden und kümmerten sich um gar nichts mehr. Mochte kommen 18 Meereskunde, was da wollte, viel schlimmer konnte es doch nicht werden. Andere blickten mit starren Augen vor sich hin. Ich selbst gehörte zu den wenigen, die verhältnis- mäßig gut davongekommen waren, und erhob mich, um zu sehen, ob ich irgend jemand helfen könnte. Ein junger Mann aus Marrakesch lag stöhnend da und hielt sich jammernd den Kopf. Er hätte so gräßliche Schmer- zen klagte er, es sei sicher etwas entzwei. Ich gab ihm Wasser zu trinken und legte ihm meine Handtasche unter den Kopf. Leider war dem armen Kerl nicht mehr zu helfen. Er fiel bald darauf in Ohnmacht und mußte in Oran zurückgelassen werden, wo er bereits am näch- sten Tage an seinen Wunden gestorben ist. Drei andere Leidensgefährten fielen in Krämpfe und bekamen Tobsuchtsanfälle. Schauerlich erklang ihr Geschrei in der weiten Halle. Der erstere wurde von mehreren mitleidigen Soldaten gehalten, die vergebens versuchten ihn zu beruhigen und ihm Wasser einflößten. Mit Händen und Füßen wehrte er sich dagegen und schlug wie wild um sich. »Ich will nichts von euch, ihr seid Mörder, ihr wollt mich vergiften!« schrie er. Auch die zwei andern konnten nur mit äußerster Mühe durch kräftige Fäuste niedergehalten werden; immer gellender wurde ihr Geschrei. — Am Eingang des Bahnhofs legte man Krake, Habermehl und Carl Ficke nieder, die, wie ich schon erzählte, von uns in den Straßen blutüber- strömt zurückgelassen wurden. Alle drei lagen bewußt- los da. Da ertönte plötzlich draußen wiederum lautes Ge- schrei und Gejohle; schon fürchteten wir, daß der Pöbel noch einmal versuchen würde in die Halle einzudringen und über uns herzufallen, als wir Frauenstimmen und Kindergeschrei am Eingang des Bahnhofes vernahmen. Unsere Angehörigen waren angekommen. Aber zu uns In französischen Lagern Afrikas. 19 durfte keine von ihnen. Sie wurden in einen Wartesaal geführt, wo sie uns nicht mehr sahen. Daß es ihnen unterwegs nicht ebenso ergangen war wie den Männern, hatten sie nur dem Umstände zu ver- danken, daß sie nicht zu Fuß, sondern im Wagen den Weg zurücklegten. Auch sie wurden bald von einer schreienden Menge umringt, und die gemeinsten Schimpfworte wurden ihnen zugerufen. In den Straßen schlugen einige ganz brutale Ge- sellen mit Peitschen und Knüppeln in die Wagen hinein. Die Frauen versuchten die Fenster zu schließen; jedoch machten die Soldaten, als die Menge dagegen pro- testierte, die Fenster wieder auf und befahlen den Frauen sie geöffnet zu lassen. Am gemeinsten führte sich auch diesmal die weibliche Bevölkerung auf; sie versuchten die Männer beiseite zu drängen und an die Wagen zu gelangen, um hinein zu schlagen und zu spucken. Einige riefen: »Reißt ihnen die Bebes weg, diese deutschen Bebes, und zerreißt sie vor ihren Augen!« Ein Trupp Sanitätssoldaten unter Führung eines Sergeanten und eines Unterarztes kam an. Lachend und höhnend betrachtete letzterer, die Hände in den Taschen seiner weiten Hose, das armselige Häufchen der am Boden Liegenden und begrüßte es mit den Worten: »Das habt ihr Boches verdient! Man hat euch zu gut behandelt! Viel schlimmer hätte es kommen müssen!« So brachten wir von Anfang an dieser Bestie in Menschengestalt wenig Vertrauen entgegen. Wäh- rend die Soldaten den Verwundeten ihre Wunden ab- wuschen und das Blut vom Gesicht entfernten, indem sie der Einfachheit halber jedem von uns so lange Eimer Wasser über den Kopf gössen, bis das Blut einigermaßen beseitigt war, nahm der Arzt selbst die drei in Krämpfen 20 Meereskunde. Liegenden in »Behandlung«. Der eine beruhigte sich bald wieder und hörte zu schreien auf. Der zweite schlug wie toll um sich und konnte nicht gehalten wer- den. Da ließ ihm der Arzt von vorne seinen Mantel als Zwangsjacke überziehen und ihn mit einem dicken Strick von oben bis unten einschnüren, »Den wollen wir schon ruhig bekommen«, meinte er höhnisch und ließ dem armen Kranken, der wie ein Bündel wehrlos jetzt am Boden lag, Eimer um Eimer über den Kopf gießen. Als er trotzdem nicht zu schreien aufhörte, rief er ihm höhnisch zu: »Du hast eine solche prächtige Stimme. Ich habe nie gedacht, daß ein Boche so schreien kann! Jetzt singst du sofort die Marseillaise, sonst laß ich dich verprügeln!« Und richtig fing der Kranke in seinem Irresein zu singen an: »Allons enfants de la Patrie, le jour de gloire est arrive«. War er mit dem Liede fertig, fing er sofort wieder von vorne an; ohne aufzuhören, ohne eine Pause zu machen, sang er mit lauter Stimme immer wieder die Strophe. Ein gräßlicher Anblick. Und der Arzt stand dabei und schüttete sich vor Lachen aus. Auch so ein Musterexemplar der »Großen Nation«, Auch den armen Dritten nahm er sich auf ähnliche Art vor. Er ließ ihn mit Stricken fesseln und mit Wasser überschütten- Als alles nichts half und er nicht zu schreien aufhörte, wurde der Arzt wütend. Er ließ den Kranken zu Boden sinken, hielt ihm seinen Fuß übers Gesicht und rief: »Wenn du jetzt nicht gleich stille bist, zertrete ich dir den Kopf mit meinem Stiefel.« Ruhig hatte der deutsche Arzt Dr. Küppers den Franzosen bisher gewähren lassen. Dies schien ihm aber zu viel zu sein; er stellte sich als Kollege vor und bat um die Erlaubnis, daß er versuchen dürfe, den Kranken zur Ruhe zu bringen. Der Franzose erlaubte es mit den In französischen Lagern Afrikas. 21 Worten: »Vielleicht haben Sie bei Ihrem Landsmann mehr Glück. Machen Sie mit ihm, was Sie wollen, mir ist es gleich!« Und damit wandte er sich^ ab. Nach kurzer Zeit gelang es denn auch dem Arzte durch freundliches Zureden die beiden Unglücklichen zu beruhigen, und das Schreien hörte auf. Dann ertönte der Befehl: Aufstehen und wieder in Reih und Glied stellen. Wir nahmen das wenige Gepäck, das wir noch besaßen, zur Hand und begaben uns auf den Bahnsteig, wo unser Zug hielt. Wiederum rief man uns mit Namen auf, und die Aufgerufenen mußten in einen Viehwagen einsteigen. Als niemand mehr hinein- ging, wurde abgeschlossen und ein zweiter Wagen ge- füllt, dann noch ein dritter." Soweit dieser Bericht. Die Damen und Kinder wurden in Personenwagen dritter Klasse, unter Be- deckung, eingepfercht. Nach sechs Stunden kamen wir in Tlemcen an. Auf der Fahrt hielt der Zug auf einer Station, hier wurde Herr Brandt, auch ein seit vielen Jahren in Casablanca ansässiger Kaufmann, aus einem der Viehwagen herausgeholt, gefesselt und nach Oran zurücktransportiert. Mein Vater war in Oran in einem Sanitätswagen, mit anderen Kranken, zum Bahnhof ge- führt. Hier hatte man ihm einen Platz auf einem Karren angewiesen, gegenüber seinem bewußtlosen Bruder und zwei anderen Herren. Bei einem Versuch sich diesen zu nähern, wurde er von Soldaten geschlagen. Man schien ihn ganz vergessen zu haben; denn als ich in Tlemcen nach ihm suchte, fehlte er. Erst am nächsten Tage, mit den Gefangenen des Dampfers ,,Mogador", traf er ein. Wie ich erfuhr, hatte man ihn des Abends spät in ein Zimmer eingeschlossen, worin sich auch noch andere Personen befanden, wo er auf einer schmalen Holzbank die Nacht zubringen mußte. Er hatte hohes Fieber. 22 Meereskunde. Seine Bitten um Chinin, Milch oder Wasser blieben un- beachtet; sonstige Nahrung wurde ihm nicht verabreicht, auch am nächsten Tage nicht. In Tlemcen wurden wir in einer Kavalleriereitbahn untergebracht, wo wir auf dem Boden, bestehend aus Lohe, Erde und Pferdemist, schlafen mußten; als Nah- rungsmittel erhielten wir vor- und nachmittags eine Wassersuppe, worin etwas Gemüse schwamm und etwas Soldatenbrot. Bei unserer Ankunft im Reitstall bot sich uns ein schrecklicher Anblick. Unsere Herren, welche etwa zwei Stunden vor uns dort angekommen waren, lagen blutüberströmt mit zerfetzten Kleidern auf dem Boden umher, teils schlafend, teils teilnahmslos vor sich hinstarrend und völlig erschöpft. Und nun folgten herz- zerreißende Szenen des Wiedersehens unter den ver- schiedenen Familienmitgliedern. Kaum waren wir in der Reitbahn, erschien ein höherer Offizier und teilte uns mit, daß bis auf weiteres die Türen geschlossen würden, selbst wenn Feuer ausbräche, würden sie nicht geöffnet, was denn auch geschah. Trotz aller Aufregung und Strapazen fanden wir keinen Schlaf, die Kinder weinten, die Verwundeten stöhnten, und wir Frauen waren der Verzweiflung nahe. Am nächsten Tage erhielten wir nach vielem Hin und Her die Erlaubnis, uns und unser Zeug, so gut es ging, zu reinigen; namentlich die Herren, um ihre Wunden zu waschen und die Blutspuren zu entfernen. Abends erhielten wir einen leeren Strohsack, des- gleichen Kopfkissen, Decke, einen Eßnapf, für je zwei Personen einen Löffel und eine Gabel, Messer wurden nicht verabreicht. Gegen 4 Uhr morgens wurde der „Turenne"-Transport alarmiert, um auf Lastautos ein- gezwängt nach Sebdou weiterbefördert zu werden; der „Mogador"-Transport folgte nachmittags. In französischen Lagern Afrikas. 23 Sebdou liegt 920 m über dem Meeresspiegel, ein- gefaßt von Bergen, die zum größten Teil mit Wald be- standen sind. Der Ort hat gutes Quellwasser und ist sehr hübsch gelegen. Im Sommer ist es sehr heiß, ohne Brise, im Winter kalt, bis unter 15° unter Null gehend und ziemlich viel Schnee. Der Ort, erbaut 1854, besteht aus einem Dorf mit 400 Einwohnern, Spaniern, Arabern, Hebräern und nur zehn Franzosen als Behörden, sowie einem Fort mit geräumigen Kasernen, Ställen, Maga- zinen, einem Hospital, einer Apotheke usw. Früher lag ziemlich viel Militär in Sebdou, da es der äußerste gegen die marokkanische Grenze vorgeschobene Posten war; seitdem Marokko französisches Protektorat ist, hat es alle Bedeutung verloren. Unmittelbar neben dem Dorfe befindet sich ein großer viereckiger Platz, eingeschlossen von einem Graben und einem Erdwall, der mit einem Gitter aus jungen Baumstämmen gekrönt ist. Inmitten befinden sich 15 einstöckige Steinbaracken mit Stein- fußböden und Pfannensatteldächern, sowie geschlossene und offene Pferdeställe, auch eine Küche. Diese Räume hatten zum Aufenthalt von Fremdenlegionären gedient, die allen französischen Truppenteilen hintenangesetzt werden; seit langen Jahren hatten sie leer gestanden. Um die Räumlichkeiten in einen einigermaßen bewohn- baren Zustand zu bringen, mußten wir sie erst gründlich reinigen, denn sie waren mehr denn verwahrlost. Stroh zum Füllen der Säcke wurde uns erst nach Tagen ge- liefert, bis dahin mußten wir auf den leeren Säcken auf dem Steinfußboden schlafen. Bettstellen gab es nicht, solche durften wir uns nach Monaten aus jungen Baum- stämmen selbst zimmern. In diesen Baracken wurden wir ohne Unterschied des Geschlechts zusammen- gepfercht; Räume, die für 18 Mann Militär vorgesehen waren, wurden mit 32 von uns belegt. Aus Stoff haben 24 Meereskunde. wir uns dann schleunigst getrennte Abteilungen ge- macht. Unterstellt waren wir einem Unterleutnant, zwei Sergeanten und etwa 60 Zuaven, letztere fast alle He- bräer. Die Küche besorgten in der ersten Zeit die Zuaven, die Speisen waren schmutzig und ungenießbar; in der Suppe schwammen Kaffeebohnen, im Kaffee Kohlblätter und dergleichen. An Nahrung wurde uns verabreicht: Morgens ganz früh sehr dünner, etwas an- gesüßter Kaffee, gegen 11 Uhr eine Wassersuppe mit Gemüse, oder Linsen, Erbsen, Bohnen; um diese Hülsen- früchte weich zu kochen, wurden große Stücke Soda hineingeworfen, was bei sehr vielen von uns Ausschlag hervorrief. Nachmittags gegen 5 Uhr dieselbe Suppe, dazu täglich ein halbes Soldatenbrot. Später bereiteten für uns die Speisen zwei Köche von deutschen Dampfern. Die Bessersituierten von uns gaben einen täglichen Zu- schuß zur Küche, aber trotzdem war die Nahrung nicht ausreichend, so daß wir uns Fleisch, Eier usw. dazu- kaufen mußten. Bei unserer Ankunft in Sebdou war mein Vater in- folge seiner Krankheit, der Strapazen und der nichts- würdigen Behandlung bewußtlos. Der erbetene Arzt stellte sich erst am nächsten Tage ein; dieser ließ meinen Vater sofort in das Hospital tragen. Auf meine Bitten erhielt ich die Erlaubnis, täglich einige Stunden bei ihm verweilen zu dürfen. Sein Zustand war äußerst bedenk- lich; es war fast keine Hoffnung vorhanden, ihn am Leben zu erhalten. Er ist noch weitere 13 Tage bewußt- los gewesen und wurde nach 40 Tagen, noch sehr schwach, aus dem Hospital entlassen. Die Behandlung seitens der Hospitalangestellten war äußerst nichts- würdig; in seinen Fieberphantasien hatte mein Vater das Bestreben aufzustehen, dann wurde er mit Faust- In französischen Lagern Afrikas. 25 schlagen und Schimpfworten bedacht. Die Pflege war sehr minderwertig, und es war nur gut, daß ich ihn etwas pflegen durfte; sonst wäre er sicher dem Tode ver- fallen gewesen. Nach acht Tagen wurde uns erlaubt unser Gepäck, das bis dahin inmitten des Lagers auf einem freien Platze, von Militär bewacht, der heißen Augustsonne ausgesetzt war, in Empfang zu nehmen. Sehr viel war auf dem Transport durch die rohe Behandlung verloren gegangen, oder auch gestohlen. Die Empfangnahme war aber nicht leicht; jedes Gepäckstück mußte in ein Zimmer des Leutnants gebracht und geöffnet werden. Dann wurde der Eigentümer hinausgeschickt. Der Leutnant durchsuchte selbst und ließ alles, was ihm ge- fiel, auch Geld und Wertsachen, unter einem großen Sofa verschwinden. Darauf wurde der Inhaber des Ge- päcks wieder hereingerufen, ihm ein Schriftstück zum Unterzeichnen vorgelegt, des Inhalts, daß er seine Sachen richtig erhalten habe. Er hat sich auf diese Weise so viel zusammengehamstert, daß er damit gut einen Laden hätte eröffnen können. Einige Monate später ist die Sache ruchbar geworden, und die fran- zösischen Behörden konnten nicht umhin, die Sachlage zu untersuchen, worauf der Leutnant degradiert und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden ist; damit haben wir- unser Eigentum allerdings nicht zurück- erhalten. Eine schreckliche Quälerei war das Zählen. In den ersten acht Tagen wurden wir fast jeden Morgen zu- sammengerufen auf einen freien Platz. Hier mußten wir stundenlang in der größten Hitze stehen, einerlei ob gesund oder krank, und dann fingen der Leutnant und die beiden Sergeanten an uns zu zählen. Aber jedesmal, wenn sie am Ende ankamen, stimmte die Rechnung 26 Meereskunde. nicht, immer waren einer oder zwei zu viel oder zu wenig. Alles Bitten der Kranken, wenigstens in den Schatten treten zu dürfen, wurde schroff abgewiesen, erst wenn sie ohnmächtig hinfielen, durften sie in die Baracken getragen werden. Eine nicht geringe Aufregung und Unruhe ver- ursachte es jedesmal, wenn der Kommandant von Tlemcen seinen Besuch angesagt hatte, wozu er ge- wöhnlich den Sonntag wählte. Dieser, ein ganz ungebil- deter, brutaler Deutschenfresser, traf eines Sonntags wieder ein. Wie gewöhnlich, ließ er auch diesmal zum Appell zusammenblasen und erklärte uns, daß wir alle genötigt seien, sämtliche Gelder bis auf 200 Frcs. für die Person abzuliefern, und das sogleich. Wenn nach der Ablieferung und darauf folgender Untersuchung sich bei irgend jemand eine weitere Summe außer der be- zeichneten finden sollte, so würde der Betreffende füsi- liert werden. Die Gelder würden in Tlemcen deponiert und erst dann wieder ausgeliefert, wenn wir Algerien verließen. Das ist dann auch geschehen. Aber wo wir Gold, Silber und Noten der Bank von Frankreich ab- geliefert haben, sind uns minderwertige algerische Banknoten zurückgegeben. — Während meine Leidens- gefährten ihre Gelder abliefern mußten, befand ich mich im Hospital bei meinem Vater. So kam ich um die Ab- lieferung unserer Banknoten herum, die ich stets in einem Säckchen bei mir trug. Damit bei einer etwaigen Untersuchung kein Geld bei mir gefunden würde, kamen wir beide auf den Einfall, die Banknoten unter dem Futter meines Hutes zu verbergen. Das hat wenig zu meiner Erbauung beigetragen, denn mein Vater ver- folgte ewig mit Argusaugen meinen Hut, und wo immer ich vergaß ihn aufzusetzen, bekam ich Schelte über meine Vernachlässigung gegen die Sonnenstrahlen. In französischen Lagern Afrikas. 27 Wir unterstanden den Militärbehörden, die Herren* wurden ganz, die Damen teilweise als Kriegsgefangene behandelt. Für die Herren wurde im Sommer um 1 L>5, im Winter um 6 Uhr zum Aufstehen geblasen. Eine Viertelstunde später mußte jeder fertig vor seinem Bette in strammer Haltung stehen; denn um diese Zeit machte der Sergeant die Runde. Wer nicht fertig war, wurde bestraft. Dann tranken wir schnell Kaffee, wozu wir das erste Frühstück nahmen, aus unserer Tasche bestritten. Eine halbe Stunde nach dem Wecken wurde zum Appell geblasen. Hier wurden die verschiedenen Kolonnen zu den verschiedenen Arbeiten zusammengestellt: Reinigen und Fegen des großen Lagers, Fegen der Dorfstraßen, manchmal zusammen mit eingeborenen Sträflingen, Fällen von jungen Bäumen und Tragen bis zu sechs Stück zum Lager von den umliegenden Bergen, Fällen von abgestorbenen Bäumen, Roden der Wurzeln und Zerkleinern für Feuerholz, Bearbeiten des Offiziers- gartens und des Küchengartens, Brot- und Essenholen usw. Diese Arbeiten dauerten bis gegen 10 Uhr. Gleich nach 10 Uhr Appell, einschließlich der Damen, wobei verlesen wurden: die Strafen, die Arbeiten für den näch- sten Tag, Lagerbestimmungen usw., auch wurden ein- gelaufene Briefe verteilt. Nach dem Appell gab es die erwähnte Wassersuppe mit Gemüse. Während der glühenden Hitze im Sommer war nach dem Frühstück bis 2 Uhr Ruhe. Um 2 Uhr wieder Appell mit Arbeits- antritt, Arbeiten bis gegen 5 Uhr. Um 5 Uhr zweite Gemüse-Wassersuppe. Um 8 Uhr Blasen. Wieder mußte jeder vor seiner Lagerstatt stehen, der Stuben- älteste hatte dem Sergeanten zu melden, daß alle zur Stelle waren. Um 9 Uhr Blasen zum Lichtlöschen. Jeden Freitag gab es Lumpenparade. Die Baracken waren völlig zu entleeren und tüchtig zu reinigen, Fenster- 28 Meereskunde. putzen usw. Die Bettstrohsäcke, Kopfkissen und Decken waren zu klopfen und zu bürsten und vorschriftsmäßig hinzulegen. Das ganze wurde vom Sergeanten beauf- sichtigt. Sonntags war Ruhetag, jedoch um 10 Uhr großer Appell mit Damen, wie täglich. Die Baracken reichten für uns bei weitem nicht aus, so daß eine größere Anzahl der Unverheirateten in den Pferde- ställen untergebracht werden mußten. Manchmal hatten wir Erlaubnis, nachmittags gegen 6 Uhr auf etwa ein bis zwei Stunden ins Dorf zu gehen, um Lebensmittel, Kleidungsstücke usw. einzukaufen oder einen kurzen Spaziergang zu machen. Es wurde uns manchmal auch erlaubt, im Dorfe heiße Bäder zu nehmen, da sich hier ein maurisches Bad befand. — Strafen, und schwere Strafen, in den meisten Fällen ganz willkürlich, wurden für jede Kleinigkeit verhängt, so daß die Zellen fast nie leer wurden. Im Winter wurden diese natürlich nicht geheizt, die Pritsche war aus Stein, dabei wurde nur eine dünne Decke erlaubt. In Marokko fällt die Temperatur im Winter ganz ausnahmsweise nachts auf 0°, in Sebdou aber hatten wir Mitte November bereits — 8° nachts; bis Mittag stieg die Temperatur bis 0° an. Dabei waren in den Baracken keine Öfen vorhanden, die Türen und Fenster wiesen große Spalten auf, die Strohsäcke und die zwei Decken waren ganz ungenügend, so daß wir Tag und Nacht ent- setzlich froren. Matten zur Deckung des Steinfußbodens wurden uns verweigert. Die für uns Marokkaner unver- hältnismäßig große Kälte stellte erhöhte Anforderung auf kräftige Nahrung. Was uns geliefert wurde, reichte bei weitem nicht aus. So mußten wir uns Fleisch, Eier, Butter usw. kaufen. Ebenso mußten wir uns mit Winter- kleidung versorgen, denn alle verfügten nur über dünne Sommersachen. Unsere Herren, deren Stiefel bei den In französischen Lagern Afrikas. 29 vielen Märschen und Arbeiten in die Brüche gingen, konnten nicht einmal erreichen, daß ihnen Stiefel ge- liefert wurden. Wir alle, ohne Ausnahme, erhielten eine tägliche Löhnung von 5 Centimes. Diejenigen, die noch über Geld verfügten, verzichteten hierauf zugunsten derjenigen, die mittellos waren, und stifteten auch warme Kleidung für diese, wie sie auch eine wöchentliche Summe zu der Küche leisteten. In den Baracken hatten wir es uns, soweit es ging, gemütlich gemacht, Bettstellen, Tische und Stühle waren selbst gezimmert, ebenso Wandbretter und dergleichen Gegenstände; an den Fenstern befanden sich Gardinen aus bunten Stoffen, auf den Tischen Decken usw., eben- sowenig fehlte es an Feldblumen in Fülle. Unter uns Gefangenen befand sich auch ein Ham- burger Pfarrer, der alsbald einen vierstimmigen Männer- chor ausgebildet hatte. Sonntags morgens hielt er im Freien, im Schatten der Bäume, Gottesdienst ab. Dabei wurde unserer Lieben in der Heimat und unserer Schick- salsgenossen gedacht, die im Kerker in Casablanca schmachteten; auch um unsere baldige Befreiung wurde der Schöpfer angefleht. Es ist wohl kaum glaubhaft, daß uns selbst diese Andachten nach kurzer Zeit verboten wurden. Eines Tages traf ein Schreiben des Kultus- ministers in Paris ein, der den Gottesdienst untersagte, unter der Begründung, daß kein geeignetes Gotteshaus vorhanden sei. Die hohe Obrigkeit war ja eben ohne Unterlaß bemüht, Mittel zu erfinden, um uns zu peinigen. Die unwürdige und unmenschliche Behandlung, so- wie der Mangel eines einigermaßen befähigten Arztes, hatte verschiedene Todesfälle zur Folge. Eine etwa drei Monate verheiratete junge Frau mußte bereits während unseres Aufenthaltes in Tlemcen ins Hospital gebracht 30 Meereskunde. werden, wo sie nach wenigen Tagen starb. Ihr Mann mußte mit uns nach Sebdou weiter fahren; er wurde nach einigen Tagen nach Tlemcen zurückberufen, wo seine Frau im Fieberwahn im Hospital umherlief; sie er- kannte ihren Mann nicht mehr und verschied einige Stunden später. Das zweite Opfer war ein junger, hoff- nungsvoller Mann. Er litt bereits seit längerer Zeit; da sein Fieber aber noch nicht 40° erreicht hatte, so nahm ihn noch nicht einmal der Militärarzt in Behandlung. Erst nachdem das Fieber 40° überschritten hatte, fand er Aufnahme im Hospital. Selbstverständlich erkannte der Arzt die Krankheit nicht, verschrieb indes große Dosen Chinin sowie Chinineinspritzungen, bekümmerte sich auch ebensowenig um ihn wie um seine übrigen Kranken. Er lebte nur noch wenige Wochen. Ein drittes Opfer war unser langjähriger Arzt in Casablanca, der indes keine Praxis mehr ausübte. Man hatte ihn auf eine lächerliche Anklage hin vor das Kriegsgericht in Casa- blanca geschleppt. Die barbarische Behandlung während dieser Zeit, der Aufenthalt in unterirdischen Kerkern, die Anstrengungen der Reise und alle ausgestandenen Leiden haben den Einundsechzigjährigen bald nach seiner Freisprechung und Rückkehr nach Sebdou da- hingerafft. Wir begruben ihn am Tage vor unserer Abreise. Außerdem starb das Kind eines Österreichers, das sehr leicht hätte am Leben erhalten werden können. Auch hier hatte der Arzt die Krankheit verkannt und gar nicht weiter beachtet. Unter uns befand sich ein zweiter Arzt aus Casablanca, der sich erst vor kurzem da ansässig gemacht hatte. Dieser durfte uns nicht behandeln; wo er es getan hatte und es bekannt wurde, wurde er mit 14 Tagen Arrest bestraft. Zeitungen zu kaufen oder zu besorgen war streng- stens verboten, nur am Wachlokal wurden Ausschnitte In französischen Lagern Afrikas. 31 daraus angeklebt; selbstverständlich solche, die das deutsche Barbarentum und ähnliches behandelten, oder Siege verherrlichten. Uns gutgesinnte Bewohner des Dorfes steckten uns heimlich das ,,Echo d'Oran" zu. Das wurde dann unter Ausstellung eines Postens unsrer- seits abends in einer Ecke der Baracke bei einem Licht- Dr. Dobberts Grab in Sebdou. stummel den Umstehenden mit leiser Stimme vorgelesen, und dann an die nächste Baracke weitergegeben. Vor den Annoncen befanden sich in der Zeitung häufig klein- gedruckte Mitteilungen über die Kriegslage, torpedierte Kriegsschiffe usw., aus denen wir berechtigte Schlüsse ziehen konnten, um so mehr, als wir einen guten Atlas und selbst ein Handbuch aller Flotten im Besitz hatten. Wenn uns unsere Peiniger unter Hohnlächeln erklärten, daß Deutschland sich in kurzer Zeit ergeben würde, am 32 Meereskunde. Ende seiner Kräfte sei und demnächst auf der Landkarte völlig ausgelöscht werden würde, so schmunzelten wir innerlich dazu. Im August und September wurden verschiedentlich Listen zusammengestellt über die, denen die Reise nach Deutschland erlaubt werden sollte; es handelte sich dabei um Frauen, Kinder und Männer, die das 17. Jahr noch nicht erreicht, oder Personen, die das 60. Jahr über- schritten hatten. Die vielen Redensarten des Leutnants darüber erweckten in uns wenig Vertrauen. Am 27. September, morgens in aller Frühe, wurden die Herren durch Blasen zum Appell gerufen. Nachdem alles versammelt war, erschien der Leutnant mit einer Abteilung Zuaven mit aufgepflanztem Bajonett. Er be- nannte dann elf mit Namen, die vor die Zuaven treten mußten. Nun erklärte der Leutnant, daß die elf nach Oran transportiert werden würden, um sich einem Ver- hör zu unterwerfen. Es wurde ihnen erlaubt das Not- wendigste zu packen und mitzunehmen, wozu ihnen etwa zehn Minuten unter Begleitung eines Soldaten Zeit gegeben wurde. Den Älteren und Schwächlichen wurde erlaubt, auf einem Karren Platz zu nehmen, die anderen mußten den Weg bis Tlemcen in der Sonnenglut zu Fuß zurücklegen. Mit der Bahn sind sie von da weiter nach Oran befördert, und haben einige Tage in unterirdischen Gefängniszellen schmachten müssen. Der Sergeant vom Lager, der die elf begleitet hatte, erzählte bei seiner Rückkehr triumphierend, daß die Herren zu zweien und dreien gefesselt, zusammen mit drei unserer Leidens- gefährten, die bereits derzeit in Oran zurückgehalten waren, an Bord eines französischen Dampfers gebracht wären, um in Casablanca vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden. Einige Zeit nach unserer Ankunft in Sebdou wurde In französischen Lagern Afrikas. 33 uns erlaubt, unseren Angehörigen in der Heimat Mit- teilungen über unseren Verbleib zu machen. Selbst- verständlich waren diese Mitteilungen einer strengen Zensur unterworfen, und zwar in Sebdou, Oran und Frankreich, und so mußten wir uns jedesmal auf wenige Schilderungen beschränken. Unsere ersten Briefe, die frankiert werden mußten, fanden wir nach einiger Zeit zerrissen, der Marken beraubt, im Wallgraben unseres Lagers liegen. Die ersten Nachrichten erreichten die Unseren gegen Ende September, man kann sich denken, welche Angst und Sorgen diese bis zum ersten Lebenszeichen von uns durchlebt haben. Im Verlauf unserer Gefangenschaft sind verschiedentlich unsere Briefe wochenlang zu- rückgehalten, oder, wie Telegramme, unterschlagen worden. Auch Briefe aus der Heimat wurden zurück- gehalten. So kamen am Tage vor unserer Abreise etwa 800 Briefe zur Verteilung. In der zweiten Hälfte des Oktobers traf ganz un- erwartet die Erlaubnis zur Abreise ein. Gleichzeitig wurde uns gesagt, daß die Rückreise in Gruppen zu je fünf Personen anzutreten und aus eigenen Mitteln zu bestreiten sei, die Reihenfolge habe der Leutnant zu be- stimmen. Am 28. war die Reihe an uns; meine Tante, zwei Dienstmädchen, mein Vater und ich sollten am nächsten Morgen 5 Uhr abreisen. Abends hatten wir unser Ge- päck bereits aufgegeben und von unseren Leidens- genossen Abschied genommen. Ganz spät aber lief vom Kommandanten in Tlemcen eine Depesche ein, des In- halts, alle weiteren Abreisen zu verbieten. Dieser Schlag traf uns schwer, denn wir hatten unsere Abreise bereits in der Heimat angekündigt. Vor allem aber wurde es uns nun unmöglich, für unsere Angehörigen, 34 Meereskunde. die vor das Kriegsgericht gestellt werden sollten und in Casablanca im Kerker schmachteten, in der Heimat einzutreten, um sie vor dem Schlimmsten zu bewahren. Seitdem lastete auf uns ein Druck, und die Tage flössen langsam in Betrübnis dahin, als uns gegen Mitte No- vember die Schreckensnachricht von der am 5. No- vember in Casablanca erfolgten Erschießung unseres Schicksalsgenossen, des Postbeamten Seyfert, erreichte, die uns wie ein Keulenschlag traf, harrten doch weitere dreizehn der Unglücklichen des Urteils durch das Kriegsgericht. Endlich, in den ersten Tagen des Dezembers, wurde bekanntgegeben, daß die in den Listen Angeführten sich zur Abreise bereit zu halten hätten. Diejenigen, die in Besitz von Mitteln seien, hätten die Reisekosten selbst zu bestreiten, für die Mittellosen würden die Behörden eintreten. Einige Frauen mit Kindern wollten ihre Männer nicht verlassen; sie blieben und haben es später bitter bereut. Am 8. Dezember, früh 7 Uhr, fing man mit dem Verladen des Gepäcks auf fünf vorsintflutlichen Post- kutschen an. Gegen 9 Uhr wurden wir, 63 Frauen und Kinder, ein junger Mann unter 17 Jahren, zwei Männer über 60 Jahren, darunter mein Vater, in des Wortes höchster Bedeutung wie die Heringe eingepökelt, drei Wächter begleiteten uns. Es war ein herrlicher Winter- morgen mit hellem Sonnenschein. Gegen Abend, es war schon fast dunkel, so daß wir vom Pöbel wenig zu leiden hatten, fuhren wir in Tlemcen ein bis in einen Kasernenhof. In der Kaserne wurden uns zwei miteinander verbundene Räume mit je 32 Sol- datenbetten angewiesen; angekleidet legten wir uns zum Schlafen. Von Schlaf war aber wenig die Rede; längst vor Tagesanbruch waren wir auf den Beinen. Zu unserer In französischen Lagern Afrikas. 35 großen Freude entdeckten wir am Eingang der Kaserne eine ambulante Kantine, wo wir warmen Kaffee und Milch sowie Brot kaufen konnten; namentlich den Kin- dern kam die Milch sehr gelegen. Noch vor Tages- anbruch wurden wir in Droschken gepackt, die wir vor Abfahrt bezahlen mußten, und zum Güterbahnhof ge- fahren, wo wir zwei für uns reservierte Eisenbahnwagen dritter Klasse bestiegen. Gegen 8 Uhr setzte sich der Zug in Bewegung, die Fahrt ging durch eine wunderbare Gegend, große Ge- treidefelder mit grünen Saaten und kaum absehbaren Wein- und Olivenanpflanzungen. Nachmittags erreichten wir Oran. Wo immer wir abgingen und ankamen, mußten wir uns aufstellen und erfolgte Namensaufruf, so auch hier. Von hier wurden wir in bereitstehende elektrische Straßenbahnwagen mit heruntergelassenen Jalousien zum Hafen gebracht, der abgesperrt war, und wo wir erleichtert aufatmeten, denn uns allen hatte sich die Be- fürchtung aufgedrängt, die Ereignisse vom 15. August könnten sich wiederholen. Nachdem wir uns hier wieder aufgestellt hatten und unsere Namen verlesen worden waren, wurden wir auf den am Kai vertäuten fran- zösischen Dampfer ,,Duc de Braganze" gebracht, wo uns die zweite Kajüte und die Kabinen angewiesen wurden. Die Ausgänge nach dem Deck wurden durch Soldaten besetzt, wir durften also dieses nicht betreten. Der Hafen war mit Truppen angefüllt, die unter dem Druck von Alkohol lärmten und wüste Szenen auf- führten. An Bord unseres Dampfers wurden 800 Sol- daten untergebracht, die vorläufig auf Deck verblieben. Ein Teil davon stellte sich an die offenen Salonfenster, verhöhnte und beschimpfte uns in der gemeinsten Weise. Seit früh hatten wir nichts genossen, aber erst auf wiederholtes Bitten bekamen wir Tee, wofür wir 1 Frc, 36 Meereskunde. die Tasse zu zahlen hatten, wobei uns die leeren Tassen zugeworfen wurden. Essen sollten wir erst bekommen, sobald der Dampfer um 6 Uhr in See ginge. Man spe- kulierte dabei auf die Seekrankheit. Und mit Erfolg. Eben in die freie See gelangt, spürten wir die Wucht des Unwetters. Der Dampfer rollte und stampfte gleich- zeitig und das Schiff arbeitete schwer in dem Sturm. Eine See schlug eine Eingangstür neben dem Salon ein, und das Wasser schoß die daneben befindliche Treppe hinab, die zu den Kabinen führte, so daß in diesen und den Gängen über ein Fuß hoch Wasser stand. Wir waren infolge der Seekrankheit unver- mögend uns zu erheben und ergaben uns apathisch in unser Schicksal. Unsere vielen Bitten um etwas Tee oder Suppe blieben unbeachtet. In dieser Verfassung verblieben wir fast 48 Stunden, bis wir unter Land kamen, die See sich etwas beruhigte und wir aufstehen konnten. Kurze Zeit darauf liefen wir in Marseille ein. Wieder Aufstellen und Namenverlesen, dann wurden wir, noch an Bord, den Landbehörden übergeben. Diese führten uns an Land und in ein, wie der betreffende Be- amte sich ausdrückte, „anständiges und gleichzeitig billiges Hotel", in der Nähe des Hafens. Dort an- gekommen, fanden wir eine berüchtigte Spelunke vor, wo erst einmal eine ganze Anzahl sehr zweifelhafter Kerle aus den Betten geholt, und diese, wie sie waren uns zur Verfügung gestellt wurden. Einige von uns fanden keinen Platz, darunter meine Tante, mein Vater und ich. Wir fanden Unterkunft in einem ganz in der Nähe belegenen, wenigstens anständigen und reinlichen Gasthof, auch war die Verpflegung ziemlich gut und nicht teuer. Wir durften in die Gaststube kommen, wo wir auch unsere Mahlzeiten einnehmen, uns an einem In französischen Lagern Afrikas. 37 Ofen wärmen und ausliegende Zeitungen lesen konnten. Die Straße durften wir nicht betreten; aber durch die Fenster konnten wir sie beobachten. Sie zeigte wenig Leben, von den weiblichen Passanten waren viele in Trauerkleidung. Am 13. wurden wir nachmittags mit der elektrischen Straßenbahn zum Güterbahnhof ^befördert. Der Zug ging erst gegen 10 Uhr abends. Auf dem Bahnhof sahen wir viel Militär, darunter Russen und Engländer. An Schlaf im Eisenbahnwagen war nicht zu denken, so waren wir eingezwängt. Am nächsten Nachmittag er- reichten wir Genf. Hier wurden wir in Freiheit gesetzt, jedoch nur halbwegs, denn vom Bahnhofe wurden wir unter Gendarmeneskorte nach einer Knabenschule über- geführt, wo uns der große Turnsaal angewiesen und wir mit Kaffee und Butterbrot bewirtet wurden. Nachher konnten wir Briefe und Telegramme schreiben und ein Bad nehmen. Die Kinder wurden ebenfalls gebadet und teilweise mit neuer Wäsche und Kleidung versehen. Abends wurden wir, wieder von Gendarmen begleitet, zu einer Restauration geführt, wo uns ein gutes Abend- essen aufgetischt wurde. Nach Beendigung des Essens wurden wir unter Eskorte zum Bahnhof zurückgeführt. Hier wurden uns bis Singen Wagen dritter Klasse bei freier Fahrt zur Verfügung gestellt. Um Mitternacht erst setzte sich der Zug in Be- wegung und leichten Herzens verließen wir Genf. Eine große Überraschung wurde uns zuteil, als wir am näch- sten Morgen gegen 8 Uhr in Zürich ausstiegen und in den Wartesaal geführt wurden; auf langen Tafeln war für uns gedeckt, rechts für die Deutschen, links für die Österreicher, und auf jedem Mitteltisch war ein Tannen- baum mit brennenden Lichtern; den meisten von uns traten die Tränen in die Augen. Während des Früh- 38 Meereskunde. i stücks brachten uns liebenswürdige Damen und junge Mädchen Kuchen, Früchte, Zeitungen usw., auch später auf allen Stationen wurden wir mit Liebesgaben reich bedacht. An der deutschen Grenze hatten sich Kinder mit der deutschen Fahne aufgestellt, die Häuser waren beflaggt und alles winkte uns Willkommengrüße zu. Gegen 2 Uhr nachmittags lief unser Zug in Singen ein, und weitere Überraschungen standen uns bevor. Auf dem Bahnhofe wurden wir von den Herren der Gefangenenfürsorge empfangen und zu den ganz in der Nähe befindlichen, zu diesem Zwecke erbauten Baracken geleitet. Hier erwartete uns ein recht gutes und reich- liches Mahl. Der Bürgermeister des Ortes hieß uns im Namen des Deutschen Reiches herzlich willkommen. Daran schloß sich der Namensaufruf, der bei der Fran- zösierung der Namen nicht ganz leicht war. Dann gab uns der Bürgermeister einen gründlichen Überblick über den Verlauf des Krieges und den damaligen Stand der verschiedenen Fronten. Nach dem Essen wurden wir auf etwaige Augenkrankheiten untersucht. O himmlische Freiheit nach vier Monaten, nach all den ausgestandenen Drangsalen! Damit endet unsere Leidensgeschichte. Ein Wort aber noch über unsere Angehörigen in Casablanca. Trotz aller Anstrengungen und Bemühungen war es nicht möglich, meinen Onkel zu retten; am 11. Januar wurde er vom Kriegsgericht mit seinem Geschäfts- teilhaber, Herrn Gründler, zum Tode verurteilt, angeb- lich wegen Aufreizung der Eingeborenen gegen die französischen Behörden, obgleich keinerlei Beweise gegen die beiden vorlagen, und die französischen Ver- teidiger daher die Freisprechung beantragten. Am 28. Januar 1915 fand die Vollstreckung unter Auf- bietung aller Truppen in Casablanca und unter großem In französischen Lagern Afrikas. 39 Schaugepränge durch Erschießen statt. Als ein ganzer Deutscher, fest, ohne mit der Wimper zu zucken, ist mein Onkel in den Tod gegangen. In dem stolzen Ge- danken an unsere deutschen Helden, die sich für das Vaterland opfern, ist er gestorben. „Tausende Un- schuldige sterben in diesem Augenblick; ich werde ein Opfer mehr sein", waren seine letzten Worte. Gedruckt in der Königlichen Hofbuchdruckerei von E. S. Mittler & Sohn Berlin SW68, Kochstraße 6S— 71. Triest und Venedig. Von Dr. Leopold Glaesner. Politisch-geographische Lehren des Krieges. Von Prof. Dr. A. P e n c k. Eine ägyptische Expedition als Kampfmittel gegen England. Von Prof. G. Roloff. Die Engländer als Inselvolk. (Vom Standpunkt der Gegenwart aus betrachtet.) Von Prof. Dr. H. Spie s. Deutschlands Zurückdrängung von der See. Von Dr. W. Vo gel. Angriffe und Angriffsversuche gegen die britischen Inseln. Von Dr. Walter Vogel. Zwei Kriegsjahre in London. Von Missionspastor J. L. 0. Krüger. Die Südsee im Weltkriege. Von Prof. Dr. Alfred Man es. Die nordischen Dardanellen. Von Samuli Sario. Bei Kriegsausbruch in Hawaii. Von Pastor Engelhard t. In französischen Lagern Afrikas. Von Else Ficke. Konterbande, Blockade und Seesperre. Von Geh. Justizrat Prof. Dr. Triepel. Kriegsmarine. Kiel und Wilhelmshaven. Von Kontreadmiral Ed. Holzhauer. * Kohlenvers orgung und Flottenstützpunkte. Von Kontreadmiral Ed. Holzhauer. * Vierzig Jahre Schwarz- Weiß-Rot. Von Geh. Admiralitätsrat P. Koch. *Die Torpedowaffe. Von Kapitän zur See a. D. R. Wittmer. x Kriegsschiffsbesatzungen in Vergangenheit Und Gegenwart. Von Kapitän zur See a. D. R. Wittmer. Unterseebootsunfälle. Von Fregattenkapitän Mich eisen. Die Zusammensetzung und Taktik der Schlachtflotten. Von Kapitän zur See a. D. R. Wittmer. Die Deutsche Eisenindustrie und die Kriegsmarine. Von P. Koch. Die wichtigsten Kanalhäfen und ihre Bedeutung für den Krieg. Von Prof. F. W. 0. Schulze-Danzig. Englands Mannschaftsersatz in Flotte und Heer. Von Prof. Dr. S p i e s. Volks- und Seewirtschaft. Marokko. Von Dr. Joachim Graf v. Pfeil. *Die deutsche Hochsee-Segelfischerei. Von H. Lübbert. *Der Hafen von New York. Von Professor Dr. Alb recht Penck. Lübeck, sein Hafen, seine Wasserstraßen. Von Dr. Franz Schulze. *Eine Wanderung durch altniederländische Seestädte. Von Dr. W. Vo gel. "Die Freie Hansestadt Bremen. Von Baurat Prof. G. d. Thierry. *Die Häfen der Adria. Von Dr. N. Krebs. *Tsingtau. Von Professor Dr. Alb recht Penck. *Auf den Färöern. Von Prof. D. Dr. Edward Lehmann. Valparaiso und die Salpeterküste. Von Dr. Rud. Lütgens. *Die festländischen Nordsee -Welthäfen. Von Dr. H. Michaelsen. Die deutsche Seekabelpolitik. Von Dr. R. Hennig. *Das Meer als Nahrungsquelle. Von Prof. Dr. H. Henking. * Kriegsrüstung und Wirtschaftsleben. Von P. Koch. *Die großbritannische Hochseefischerei. Von H. Lübbert. *Triest und die Tauernbahn. Von Prof. Dr. F. Heiderich. *Von Singapur bis Yokohama. Von L. Mecking. "San Franzisko. Von A. Rühl. Wohlfahrtseinrichtungen in der Seefischerei. Von F. Duge. Durch die Magellanstraße. Von Gustav Goedel. Überland und Übersee im Wettbewerb. Von Dr. Richard Hennig. Nach Deutsch-Neuguinea. Von Dr. Walter Behrmann. * Preis 50 Pf., die übrigen Hefte kosten 60 Pf. fr