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HANDBUCH
DER
PHYSIOLOGIE DES MENSCHEN
IN VIER BÄNDEN
BEARBEITET VON
CHR. BOHR-KorenHasen, R. pu BOIS-REYMOND-Berım,
H. BORUTTAU-BerıLm, O0. COHNHEIM-HeiıpeLsere, M. CREMER-Müncnen,
M. v. FREY-Würzsure, F.B. HOFMANN-Inssgruck, J. v. KRIES- FREIBURG 1. BR.,
0. LANGENDORFF-Rostrock R. METZNER-BaseL, W. NAGEL-Rostock,
G. F. NICOLAI-BeruLm, K. OPPENHEIMER-BerLın, E. OVERTON-Lunp,
L PAWLOW-Sr. PETERSBURG, K. L. SCHAEFER-BEerRLS, FR. SCHENCK-
MARBURG, P. SCHULTZ-BerLıs, H. SELLHEIM-Tüsınsen, T. THUNBERG-Lunp,
R. TIGERSTEDT-Hersıserors, A. TSCHERMAK-Wiıen, E. WEINLAND-
München, O0. WEISS-Könıssgere, 0. ZOTH-Graz
HERAUSGEGEBEN VON
W. NAGEL
IN ROSTOCK
MIT ZAHLREICHEN EINGEDRUCKTEN ABBILDUNGEN
ERSTER BAND
PHYSIOLOGIE DER ATMUNG, DES KREISLAUFS.
UND DES STOFFWECHSELS
BRAUNSCHWEIG
DRUCK UND VERLAG VON FRIEDRICH VIEWEG UND SOHN
1909
HANDBUCH
DER
PHYSIOLOGIE DES MENSCHEN
HERAUSGEGEBEN VON
W. NAGEL
IN ROSTOCK
ERSTER BAND
PHYSIOLOGIE DER ATMUNG, DES KREISLAUFS
UND DES STOFFWECHSELS
BEARBEITET VON
CHR. BOHR-KorrenHagen, H. BORUTTAU-BerLm,
F. B. HOFMANN -Insseruück, G. F. NICOLAI-Berum, K. OPPENHEIMER -Beruın,
R. TIGERSTEDT-Hersınorors =, S
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MIT 86 IN DEN TEXT EINGEDRUCKTEN ABBILDUNGE %
BRAUNSCHWEIG
DRUCK UND VERLAG VON FRIEDRICH VIEWEG UND SOHN
1909
Alle Rechte, namentlich das Recht der Übersetzung in fremde Sprachen,
-vorbehalten.
nr
3| |
NORKWOR T.
Dreißig Jahre sind gerade verflossen, seit L. Hermann sein
großes Handbuch der Physiologie herausgab, das uns allen unent-
behrlich geworden ist und es noch lange bleiben wird. Wenn ich es
jetzt unternehme, ein neues Sammelwerk über Physiologie den Fach-
genossen vorzulegen, so bin ich wenigstens darin der Zustimmung
vieler sicher, daß es keine überflüssige Arbeit war, wieder einmal
unter Zusammenfassung der Kräfte mehrerer Forscher das jetzige
Wissen auf physiologischem Gebiet festzulegen. Viel Neues haben die
Jahre, die seit dem Erscheinen des Hermannschen Buches dahin-
gingen, uns gebracht; die Anschauungen über manche Dinge haben
sich von Grund aus geändert, auf manchen Gebieten ist die erregte
Erörterung zur Ruhe gekommen und hat einer verhältnismäßigen Klar-
heit Platz gemacht. Neue Forschungsmethoden und neue Forschungs-
gebiete sind uns erschlossen worden; ein modernes Lehrbuch muß an-
sehnliche Kapitel über Gegenstände enthalten, die man noch vor 20
bis 30 Jahren kaum mit einem Worte berührte.
Fast noch wichtiger als für den Fachphysiologen erschien mir die
Schaffung eines neuen Handbuches der Physiologie für die Vertreter
der Nachbargebiete. Der Zoologe, der Anatom, der Pathologe, Neu-
rologe, Psychologe, Psychiater, der Ophthalmologe, sie alle kommen
häufig genug in die Lage, sich über die Stellung der Physiologie zu,
dieser oder jener Frage genauer unterrichten zu wollen, als es aus den
für Studierende geschriebenen Lehrbüchern geschehen kann. Die
physiologischen Zeitschriften und die monographische Fachliteratur
sind nicht leicht genug zugänglich; ein größeres Handbuch ist in
solchem Fall das erwünschte. Hilfsmittel.
Diese Erwägungen veranlaßten mich, als die Verlagshandlung
Friedr. Vieweg & Sohn an mich mit der Anregung zur Herausgabe
eines Handbuches der Physiologie”herantrat, diesem Plane lebhaftes
Interesse entgegenzubringen und den Versuch zu machen, ob ich unter
VI Vorwort.
den Fachgenossen die entsprechende Unterstützung fände. Ein Sammel-
werk mit Beteiligung nicht zu weniger Autoren konnte von vornherein
nur in Betracht kommen, wenn die einigermaßen gleichwertige Durch-
arbeitung der verschiedenen Gebiete gewährleistet sein sollte.
Ich hatte das Glück, in Deutschland und im Auslande hervor-
ragende Forscher zur Mitarbeit bereit zu finden, und so unternahm
ich die Herausgabe des Werkes, von dem nunmehr nur noch die
Schlußlieferung des vierten Bandes und ein in Aussicht genommener
Ergänzungsband ausstehen.
Das Werk soll eine Zwischenstufe bilden zwischen unseren ver-
schiedenen Lehrbüchern für Studierende und den umfangreichen Dar-
stellungen der Physiologie, wie sie das französische Dietionnaire de
physiologie gibt und wie sie sich aus dem verdienstvollen Werke von
Asher und Spiro, den „Ergebnissen der Physiologie“, in gewissem
Sinne entwickeln wird. Vollständigkeit der Literaturzitate muß Werken
der letzteren Art vorbehalten bleiben, das Handbuch dagegen soll eine
von zuständiger Seite getroffene Auswahl aus dem vorhandenen
Material an veröffentlichten Untersuchungen bieten, die wichtigsten
Werke zitieren und demjenigen, der tiefer in das Studium der Physio-
logie eindringen will, die Wege ebnen. Inwieweit uns dies gelungen
ist, werden die Fachgenossen zu entscheiden haben.
So manches wird an einem derartigen Buche auszusetzen sein. In
erster Linie wird die Anordnung des Stoffes nicht jedermanns Beifall
finden. Doch ich getröste mich der Nachsicht der Fachgenossen, denen
es allen bekannt sein wird, daß es eigentlich unmöglich ist, das
(resamtgebiet der Physiologie in einer wirklich befriedigenden. Weise
einzuteilen, und nun gar noch, wenn es sich um die Verteilung des
Materials an eine größere Zahl von Mitarbeitern handelt. Mannigfache
Gründe, deren Erörterung nicht hierher gehört, nötigten zuweilen, ein
Gebiet der Physiologie zu teilen, den einen Teil diesem, den anderen
‚jenem Autor zur Bearbeitung zu übergeben, während es am wünschens-
wertesten gewesen wäre, das ganze Gebiet ungeteilt in einer Hand zu
lassen. Auch Hermann hat ja seinerzeit die gleiche Schwierigkeit
gefunden, wie er in seinem Vorwort erwähnt. Immerhin habe ich
mich bemüht, das einzelne Arbeitsgebiet, wo irgend möglich, so abzu-
grenzen, daß es sich zu einem abgeschlossenen Ganzen rundete. Dies
schien mir wichtiger und für Autor wie Leser befriedigender, als wenn
das Hauptaugenmerk darauf gerichtet worden wäre, zu vermeiden, daß
ein und derselbe Gegenstand in verschiedenen Kapiteln, von verschie-
denen Autoren besprochen und verschieden beurteilt wird.
Vorwort. VII
Die Reihenfolge, in der die einzelnen Kapitel sich aneinander-
schließen, war in vielen Fällen durch den sachlichen Zusammenhang
ohne weiteres gegeben. In anderen Fällen, wo man über die zweck-
mäßigste Art der Aneinanderreihung im Zweifel sein konnte, habe ich
äußere Gründe entscheiden lassen, die Reihenfolge des Eingangs der
Manuskripte, den Umfang der einzelnen Kapitel usw.
Einer der Forscher, die sich zur Mitarbeit bereit erklärt hatten,
J. Munk, schied durch frühzeitigen Tod schon aus unserem Kreise
aus, ehe die erste Lieferung erschienen war; Paul Schultz starb, ehe
er seine Bearbeitung der Physiologie der glatten Muskeln fertigstellen
konnte. Diese und andere Umstände wirkten zusammen verzögernd
auf den Fortschritt des Werkes und nur durch mehrfache Umstellung
der Kapitelfolge und durch Ersatz einzelner Mitarbeiter durch andere,
die hilfreich in die Lücken traten, wurde es möglich, das Handbuch
seinem nunmehr bevorstehenden Abschluß entgegenzuführen. In
manchen Punkten mußten wir dabei von dem ursprünglichen Plane ab-
weichen, um die Herausgabe der einzelnen Teile des Buches sich nicht
zu sehr verzögern zu lassen.
Die Physiologie des Menschen soll das Handbuch behandeln;
die Untersuchungen an Tieren sollten nach unserer Verabredung nur
insoweit herangezogen werden, als das Tier bei den Versuchen gewisser-
maßen für den Menschen substituiert gedacht ist. Das geschieht nun
bekanntlich in sehr vielen Fällen, große Abschnitte stützen sich fast
ausschließlich auf Tierversuche. Nur die eigentliche vergleichende Phy-
siologie, so interessante Ergänzungen sie vielfach geboten hätte, mußten
wir, von einigen speziellen Fällen abgesehen, beiseite lassen, um das
Werk nicht allzu sehr anschwellen zu lassen. Das Prinzip, die Physio-
logie des Menschen in den Vordergrund zu stellen, hat mich auch
bei der Bemessung des relativen Umfanges der einzelnen Kapitel ge-
leitet, die in einzelnen Punkten von der in vielen Lehrbüchern
üblichen abweicht. Denjenigen Kapiteln wurde mehr Raum gegeben,
die für die Kenntnis der Lebensvorgänge im menschlichen Organismus
besondere Bedeutung haben und demnach den Arzt am nächsten be-
rühren. Einzelne Kapitel freilich sind stark über meine Veran-
schlagung hinaus angewachsen.
Eine Eigentümlichkeit der durch Zusammenarbeit vieler ent-
standenen Werke ist und bleibt ja immer die Ungleichartigkeit in der
Darstellung der einzelnen Gebiete. Daß diese Ungleichartigkeit sich
auch auf rein Äußerliches erstreckt, ist in gewissem Sinne bedauerlich,
aber wohl kaum zu vermeiden. Das Maß der Literaturangaben und
VIII Vorwort.
der nötigen Abbildungen bemessen die einzelnen Autoren bekanntlich
sehr verschieden. Der Herausgeber kann hier nur ungefähre Anhalts-
punkte geben, nicht aber seine eigenen Grundsätze durchführen. Hin-
sichtlich der Abbildungen habe ich im allgemeinen auf Sparsamkeit
mit solchen Figuren hinzuwirken gesucht, die, ohne das Verständnis
des Textes wesentlich zu fördern, mehr nur zur Dekoration gedient
hätten. An wirklich instruktiven Abbildungen aber ist nicht gespart
worden. Die Verlagshandlung hat in dieser wie in jeder anderen Hin-
sicht ein weitgehendes Entgegenkommen bewiesen und dem Heraus-
geber die nicht immer ganz leichte Aufgabe in verschiedener Richtung
nach Möglichkeit erleichtert. Ich benutze gern diese Gelegenheit, der
Verlagshandlung Friedr. Vieweg & Sohn auch an dieser Stelle
meinen wärmsten Dank zu sagen.
Zu herzlichem Dank bin ich den Herren Mitarbeitern verbunden,
die sich bereit finden ließen, gemeinsam mit mir dieses neue Hand-
buch der Physiologie zu verfassen. Möchte es uns gelungen sein, ein
Werk zu schaffen, das vielen gute Dienste leistet.
Rostock, im Februar 1909.
Wilibald Nagel.
Mitteilung ‚des Herausgebers.
Um das seit geraumer Zeit fertiggestellte Manuskript des
Herrn Professor Tigerstedt nicht allzulange ungedruckt liegen
zu lassen, bis die noch ausstehenden Manuskripte zum zweiten
Teil des ersten Bandes eintreffen, habe ich mich in Überein-
stimmung mit der Verlagsbuchhandlung entschlossen, eine Um-
stellung der Abschnitte vorzunehmen. Die aus anderen Gründen
wünschenswerte unmittelbare Aufeinanderfolge der die Kreis-
laufsorgane betreffenden Abschnitte wird dadurch allerdings un-
möglich, doch erschienen mir die für eine Umstellung sprechenden
Gründe schwererwiegend.
W. Nagel.
INHALTSVERZEICHNIS.
Die Atembewegungen und ihre Innervation.
Von H, Boruttau.
. Die Bedeutung der Atembewegungen. Vergleichendes ..;..
. Die physikalischen und anatomischen Grundlagen der Lungen-
stmung . . .., . DE N Eee esliene ı
. Die Kine; fhre Begleit- und Folgeerscheinungen
ee chin a a mr A a Ba EN SER EEE LAN IE FE A ee
2. Die Veränderungen der Körpergestalt durch die Atembewegungen, und
deren Registrierung. Atemtypen :. .... 22200000.
3. Frequenz, Tiefe und zeitlicher Verlauf der Atemzüge. Schwankungen
des Lungenvolumens und Spirometrie . ».. 2. 2 22 20222000.
4. Respiratorische Schwankungen des intrapleuralen und des intrapulmo-
nalen Druckes. Pneumatometrie '. "2 ee ne
5. Die Luftwege. Begleitende Atembewegungen und besondere Atemformen
. Die Innervation der Atembewegungen » . . »: 22... 0...
1. Die mötorischen Nerven der Atemmuskulatur. . » .» 2.2... EEE
2. Die zentrale Innervation der Atembewegungen; das Atemzentrum
3. Die Atemreflexe und die Regulierung der Atembewegungen . . ... .
4. Besondere Zustände der Ateminneryation: Apnoe, Dyspnoe und Asphyxie
Blutgase und respiratorischer Gaswechsel.
Von Christian Bohr.
Einleitung «..... a he Se er ter re Re ie»
Die Gase des Blutes, sowie der Lymphe und der Sekrete ......
I. Allgemeine Aussicht über die Absorption der Gasarten in
Flüssigkeiten unter besonderer Berücksichtigung der Ver-
Baltaisseim Biute ; VE 2 ee ne nen tee
%, Düse von Gassen in WEBBer es... 3 5 einer en.
2. Lösung von Gasen in Wasser, das gelöste feste Stoffe enthält
3, Absorption von Gasen in einer Flüssigkeit, die wie das Blut disso-
ziable gasbindende Stoffe enthält . » ». 2»: 2.20.00.
$ 1. Hauptzüge der empirischen Resultate und deren allgemeine Be-
deutung für die Respirationsphysiologie . » » : ......
$ 2. Theoretische Behandlung der Gasbindung der einzelnen im Blute
enthaltenen: Stoffe an. nee inte en ne
Dissoziation des Natriumbikarbonats . . . x... 0...
Die Gasbindungen des Hämoglobins . . » . v0.
Die Verbindung des Hämoglobins mit Kohlensäure .
Die Verbindungen des Hämoglobins mit Sauerstoff .
Die Verbindung des Hämoglobins mit Kohlenoxyd .
Die Verbindung des Hämoglobins mit Sauerstoff und
Monlenoyd.ie ensure nd
vr
vI Inhaltsverzeichnis.
IL Die Gase ARZT
1. Die Gase im arteriellen und im venösen Blute. . . . 22.2...
Gans in arteriellen Binte . . - - > + ia. ER wre
GEBSEn Wehen Blute . . + <\. 0... 0.0 are ee u
2. Absorption und Bindungsweise der einzelnen Gase im Blute. .. .
BIEMEE = 25 se ee a re RE
Die Verteilung des Sauerstoffs unter Plasma und Blut-
BIRDSEChBBL © 2 + 0 00 ae ee os
Das Verhältnis der Spannung des Sauerstoffs zu dessen Te
BE ee .
Die spezifische Sauerstoffkapazität im Biute ... »...% A ar
>») Du blue ee ee ee a RD
Das Verhältnis der absorbierten N zur
Spannung - +. “reis Sera kaine lee re
Gleichzeitige Absorption der Kohlensäure and des Sauerstoffs
Näheres über die Bindungsweise der Kohlensäure im Plasma
und in den Blutkörperchen 2... es 0 Ei
Die Bindung der Kohlensäure im Plasma . .... .
Die Bindung der Kohlensäure in den Blutkörperchen
Finfluß der Wechselwirkung zwischen den Blutkörperchen
und dem Serum auf die PRENE der Kohlensäure im Blute
0) Btickstoll und. Argon: 4 sei -mmrd! wre sria ser Wear WI
Stickstoff ; 3. 50 n2r. na ste ERENTO SBE N De eich
ATgON: ai a, ul a ee da N
@) Das Kohlenoxyä . + 2... het fa a ee ee
Absorption von reinem oder mit indifferenten Gasen gemischtem
Kohlenoxyd . + ,..,. = Vienna kiss anke . Sk le
Das Verhältnis zwischen der Spannung und den auf-
genommenen OO-Mengen . x»: vr rer re.“
Spezifische Kohlenoxydkapazität . . .
Absorption einer Mischung von Kohlenoxyd. und Beuerstoit
IH. Die Gase der Lymphe und der Sekrete. . 2... 2. cr. e 2...
1. Di Yu N UHREN TEE a
2. Normale und pathologische Sekrete . . . . . ai a ei
Respiratorischer Gaswechsel . . . . . 2. 2 cher... er
I. Der Gaswechsel durch die Lungen. . cv. 220. I
1. Größe des a er und Zusammensetzung der Exspira-
tionsluft. . ...» R PR 23 SS ie
2. Untersuchungen über die pen ar Pro ynuhäire den Lungengas-
wechsel vermitteln... 2... 2 2 en. IE ,
$ 1. Größe der Esapiratörisähen Oberfläche und Zassıhniensötzung
der Gase in den Hohlräumen der Lunge . ...... Fk:
Die respiratorische Oberfläche der Lungen . ... .
Die Zusammensetzung der Luft in den Hohlräumen und
die Sauerstoffspannung in der Oberfläche der Lunge
$ 2. Nachweis und Beschreibung der Gassekretion in der Lunge. .
Versuche betreffend die beim en er wirk-
samen Kräfte . . AERUERUGS De 0
Ältere Versuche . :::) sm. en
Neuere Versuche "5 1 ee
Näheres über die spezifische Tätigkeit der Lunge beim
Gaswechsel I WER EL ae TE PEPIER
$ 3. Die Gassekretion in der Froschlunge und in der Schwimmblase
der Fische . . . LEEREN FE 1 ee a
Die Haut- nd: Lungdurgepäritioh: der Frösche . tee
Die Sauerstoffsekretion der Schwimmblase. ..... .
Inhaltsverzeichnis.
$ 4. Die relative Unabhängigkeit der Gassekretion in jeder der beiden
Bungn 2 ee
3. Einfluß von Änderungen der eingeatmeten Luftmenge auf den
| Masmeahsal der Büngen.2: a... 0.00 ee na .
$ 1. Accommodation der Atemgröße an die Größe des Stoffwechsels
$ 2. Einfluß einer primären Änderung der Atemgröße auf den Gas- .
RT a ET ee RR er ir Le BEE TR AT
4. Einfluß der die Lungen passierenden Blutmenge auf deren Gaswechsel
5. Einfluß des Nervensystems auf die Gassekretion . . 2» 2.2...
I. Die innere Atmung ae Bde ee a er ce
1. Allgemeine Übersicht der Prozesse . » » » 2. 22.200000.
2. Über den Anteil der Lunge an der inneren Atmung . . .... .
3. Gaswechsel zwischen Blut und Gewebe . : 2... 2.22.2000.
Die Sauexstoff- und die Kohlensäurespannungen i im Arterien-
und im Venenblute . . 2... .. EN RE Dr re
Regulation der Konzentration des Sauerstoffs im Plasma des Blutes
Regulation der Konzentration der Kohlensäure im Plasma
IH. Einfluß einer geänderten Zusammensetzung der Ein-
atmungsluft auf den Respirationsprozeß ..... RE
1. Verteilung des respiratorischen Gaswechsels unter die beiden Lungen
bei verschiedener Zusammensetzung der Einatmungsluft für jede
einzelne -GOrselben. ur, Sin ae wre ee. ee oe
Einfluß ‘des Partialdruckes des Sauerstoffs auf die Verteilung
des Gaswechsels unter die beiden Lungen .. ......
Einfluß des Kohlensäurepartialdruckes auf die Verteilung des
Gaswechsels unter die beiden Lungen . . .» 2... BE
2. Der respiratorische Prozeß bei verschiedenem Partialdruck des Sauer-
‚stoffs und der Kohlensäure in der umgebenden Atmosphäre
Änderungen des Partialdruckes des Sauerstoffs. . .. . » -
Vermehrung des Partialdruckes der Kohlensäure . . . .. »
Iv. Haut- und Darmatmung. Fötale Atmung... ..v.....
Anhang. Einige Bemerkungen über die Gewinnung der Blutgase mittels
TEN ERLIGE AR RIESEN een ee oe ee Ten elle nie
Allgemeine Physiologie des Herzens.
Von F. B. Hofmann.
Automatie des Herzens und seiner Teile .... 2.0.0.
Die, HReizbärkeit des Herzens... sc: he en ernste lee ee
Rhythmische Kontraktionen bei Dauerreizen . . ». ee...
Rhythmische Aktion des Herzens nach starker Momentanreizung . » -
Rhythmischer Wechsel der Reizbarkeit des Herzens. Refraktäre Phase
Horsbasami. 0 ne ae re ehe ee N ER ÄEENET er
ESTER ee RR Er Er er ar LE EEE
Lokale Beiswirküngen . . 2... 0er eltern.
Flimmern; Wühlen und Wogen . . cr... een.
Über die Beschaffenheit der normalen „inneren“ Herzreize ....
Der Blutdruck als Herzreiz . : - - » «ce se... 00m
Die Leistungsfähigkeit (Kontraktilität) des Herzensundihre rhyth-
mischen Schwankungen. . .. x: ser.
Die Leitung der Erregung im Herzen ..... ee ren.
Geschwindigkeit der Leitung - » » ver eeeeeennnne
| DEE: > - - san ee ne
N VE a, SEP Er er, BER or Br Ber BE Sr EL Br SL Dur Br Zr Zu
Blockierung der Erregungsleitung . » » » rennen
172
175
177
181
181
187
194
195
196
204
205
206
206
209
209
210
216
217
220
vm Inhaltsverzeichnis.
Die Innervation des Herzens und der Blutgefäße.
Von F. B. Hofmann.
Die Innervation des Herzens ....... 22... N en
. Die einzelnen Wirkungen der Hemmungs- und Förderungs-
DOEYER A UN ann ee &
Die chronotsope Wirkung > 2.0.0 + .-0 ni. 8° Re
Inotrope Nervenwirkung . . =: sv: 22000000 Te Je
Bathmotrope Nervenwirkung . » » 2 222000000. .
Wirkung der Herznerven auf den Tonus. . 222...
Dromotrope Nervenwirkung . . 2». 22 2.020. ARE
Theorie der Hemmungs- und Förderungswirkung.. . . . » ‘en
Die Zentren der regulatorischen Herznerven und ihre Er-
FegUnNg - » 00er ern en ae ER er
N RR RR EEE REN
Tonus der Zentren . ...... ER SER REG
Direkte Reizung der Zentren . .. 2 ver eee.. RN
Beeinflussung der Herznervenzentren von anderen Teilen des
ZAnUrKIRrVORBYOE . . 0 6 ee
Reflektorische Erregung der Herznervenzentren . . . -» in
Die Acceleration des Herzschlages bei der Muskeltätigkeit . one
Die Innervation der Blutgefäße . BIiBHTG ‚eco: vet am Feb ee
1..Go$Eßnervon: -.. “12.0.0 0% een ee re a Na BR
Verhalten der Gefäßnerven bei künstlicher Reizung . sy
Der ‚Verlauf der Gefäßuerven . . » u... u. e Weite es area
3. Gofäßzeutrn vn nr ee
Die Zentren der Vasoconstrietoren . » » 2 22.2.0.“ ee
Die Zentren der Vasodilatatoren . . . x»... ee
Periphere Gefäßzentren . » » 4. ee een ot
Direkte periphere Einwirkungen auf die Gefäße . . »....
Einfluß von Ernährungsstörungen auf die Gefäßnervenzentren .
Die Beziehungen der Gefäßnerven zum Großhirn . . » » +».
Die zentral bedingten Schwankungen des Gefäßtonus . . . . »
8. Gefäßreoflexd. an. se a ee ee
Reflexe vom Herzen auf die Gefäße und von den Gefäßen auf-
einander vi ya era ae a en nn: Eee eh
Reflexe auf das Gefäßsystem von anderen Organen...» ..«
Die Abhängigkeit der Gefäßweite von der Temperatur . ... .
Die Gefäßerweiterung in tätigen Organen . vv er re.
3 u Ze
EN a
alerts ee eee
Inhaltsverzeichnis. IX
Die Physiologie des Stoffwechsels.
Von R. Tigerstedt.
Seite
RE Re as MA ey Per ar EEE RD; 331
Erstes Kapitel. Allgemeine Übersicht der Einnahmen und Aus-
TR az, a RE Eee Be ar er er a Er Er Sr: 334
a iur ir EA BE 334
N ar er a ar RE 336
I. Das Sammeln der Ausscheidungsprodukte . » 2 2222.20. 337
a) Das Sammeln der gasförmigen Ausscheidungsprodukte und die
Bestimmung des verbrauchten Sauerstoffs . . . 2.2... 337
b) Das Sammeln von Harn und Kot... .: 2 2 22.220. 341
07 Ds mem FG Schweiß u. 0 3. 0 nenne 342
d) Sonstige Abgaben vom Körper...» 2 2.2.2000... 343
II. Die Verteilung der einzelnen Elemente auf die verschiedenen Aus-
scheidungen "2. MEN? Ne N ee Bra 343
a) Die Abgaben durch die Respiration . » » » » 2... FW ' ©.
b) Die Abgaben durch die Haut...» .: 2er... 345
e) Die Abgaben durch die Nieren . .» .: » 222220... 346
0). Die Abusben dureh den Darm = 32.0... wi we . . 846
e) Die Ausscheidungswege des Stickstoffs . » : » 2.2.0... 352
$ 3. Die Berechnung eines Stoffwechselversuches . » » » : 2.2... 354
Zweites Kapitel. Die Verbrennung im Körper ..... 2.2.0... 357
$ 1. Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe . ..... 357
$ 2. Die Berechnung des Energiewechsels aus dem respiratorischen Stoff-
WOCHBER TS ed sa er net eine Mas a gene; Bee a ee, ae 374
Drittes Kapitel. Der Stoffwechsel beim Hunger . ......... 375
$ 1. Der allgemeine Zustand beim Hunger . ..». .»: 22 22220. 376
53. Der Biulkeshsel beim Hunger ’...:, =... 1. 0 ae a 379
$ 3. Die Zersetzung von Eiweiß und Fett beim Hunger... ...... 383
8 4. Der Verlust der verschiedenen Organe beim Hunger . »..»..... 388
Viertes Kapitel. Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Nahrung. .. . 391
$ 1. Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Eiweiß ... 22222000. 392
$ 2. Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Fett...» 2.2.2... RR.
$ 3. Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Kohlehydraten . . .». . ...... 414
$ 4. Der Stoffwechsel bei Zufuhr von anderen N-haltigen Verbindungen als
DEN A ra ante elta ae ae © 2 ee 420
1. Die Verdauungsprodukte des Eiweißes . . 2x... 0.. 421
DE TE NER AEE Va pr BEER Bere er Br 423
3. Die N-haltigen Extraktivstoffe des Fleisches . . ». ». . 2.2.0... 427
We ae ea Er re BE ur Br 429
$ 5. Der Stoffwechsel bei Zufuhr von einigen N-freien Verbindungen . . 432
BoreIe Poser ee, lee ne de nie ee en 432
ee ee nee 433
DE Er a ua Ve on ae u ae ee ee 434
ER Re ET Re EL RL Br Er Er er 435
5. Andere Kohlehydrate : - ! ce. 2 euren 437
a a ae ee nen 437
Fünftes Kapitel. Der Stoffwechsel bei körperlicher Arbeit . . . . 441
$ 1. Welche Nahrungsstoffe werden bei der Muskelarbeit verbrannt? . . 441
$ 2. Die Verwertung der Energie bei der Muskelarbeit . . + 451
Sechstes Kapitel. Der Stoffwechsel bei verschiedener Außen-
ERBE a re a ee a aaa ee ae een ee 459
x Inhaltsverzeichnis.
Siebentes Kapitel. Der Stoffwechsel bei verschiedener Körper-
größe und verschiedenem Lebensalter . . .. .: .» 2:22... 0.
Achtes Kapitel, Der Ansatz von Eiweiß im Körper. ........
Neuntes Kapitel. Der Ansatz von Kohlehydraten im Körper RE
Zehntes Kapitel. Der Ansatz von Fett im Körper ...... ev...
Elftes Kapitel. Die mineralischen Nahrungsstoffe. .... 2...
Ga De N :
Be wi
DE DETRRE E enee ee en ee
N er ae 0: > ce ee
8 5. Oaleium und Magnesium . . - » -.2 2 see seele“ as
») Oldum’. . . ». ee ee BR 2 a Be
b) Magnesium . ». 2.000. EEE EEE GE =.
ec) Bilanzversuche über Caleium und Magnesium . . » . cr...
8 0. Das Eisen .. .:.-. 0.0» BE EEE SFT
Zwölftes Kapitel. Die Ernährung des Menschen . .... vv...
$ 1. Anforderungen an die qualitative Beschaffenheit der Kost . ... .
$ 2. Der Bedarf des Menschen an potentieller Energie . . » » +.
$ 3. Die Verteilung der Zufuhr auf Eiweiß, Fett und Kohlehydrate ee
Die Wärmeökonomie des Körpers.
| Von R. Tigerstedt.
Erstes Kapitel. Die Körpertemperatur des Menschen ..... IL
Zweites Kapitel. Die Topographie der Wärmebildung. ..... 5.
Drittes Kapitel. Der Wärmeverlust des Körpers ..... cv... R
Viertes Kapitel. Der Schutz gegen Wärmeverlust .........
Fünftes Kapitel. Die Regulierung der Körpertemperatur......
$ 1. Die Regulierung des Wärmeverlustes . . 222er eeen.
$ 2. Die Zentren der Wärmeregulierung . » : : . +» ne Re
$ 3. Die Wärmeregulierung bei Neugeborenen . .» vr. re... .
$ 4. Anhang. Die Wärmeökonomie der kaltblütigen Wirbeltiere
557
577
581
588
593
594
598
604
606
\
|
SER -
en ne re >
En er er ee
Inhaltsverzeichnis.
Elemente der Immunitätslehre.
Von Carl Oppenheimer.
I. Die erworbene antitoxische Immunität
Antitoxine und ihr Verhältnis zu den Toxinen .
IH. Die Immunität gegen Zellen :
Der Mechanismus der bakteriziden Trrmnmitkt
Die natürliche Immunität .
Die Mechanik des Kreislaufs.
Von Georg Fr. Nicolai.
L: Der’ Kreislaufals Ganzes... vo.
Das Verteilungssystem in der Tierreihe E
$ 1. Die Bedeutung eines Werkeitbnissyetens -
$ 2. Das Verteilungssystem bei Wirbellosen
Bei den Schwämmen HR:
Bei den Cölenteraten
Bei den Würmern .
Bei den Echinodermen .
Bei den Mollusken
Bei den Arthropoden
Bei den Tunicaten R
$ 3. Das Verteilungssystem bei den Wirbaeren.
Das Schema des Kreislaufs der Säugetiere . . -
$ 4. Die methodische Entwickelung der ET: de chemss
$ 5. Historisehe Entwiekelung der Kenntnis des Schemas .
Vor Harvey ...
$ 6. Seit Harvey .
I. Allgemeine Mechanik des Blutdrucks
$ 7. Übersicht und Erklärung
Der hydrostatische Druck .
$ 8. Verteilung’ von Binkdrnck und Biotinenzs infolge dei Sehwere
$ 9. Die Kompensation des Einflusses der Schwere .
$ 10. Der hydraulische Druck
$ 11. Der dynamische Druck . . .
$ 12. Die Bedingungen des Binidrucks. im Kör a
IH. Methodisches über Kreislaufexperimente.
$ 13. Arbeiten am Herzen ........
$ 14. Freilegung und Konservierung des ‚Abeelshenden Herzens :
Apparate für das Froschherz .
: Apparate für das Säugetierherz
$ 15. Die Speisung des Herzens . . .
Kymographik
$ 16. Direkte Meinung ne Eröffnung ER Kräinlaufs h
$ 17. Messung des mittleren Blutdrucks mit Flüssigkeite-
(Quecksilber-)Manometern
$ 18. Messung des maximalen und inimnlen Diokas ale
Ventilmanometern . .
$ 19. Messung der Blutdruckschwankungen ie enhsn
Manometern ;
Die elastischen Manometer .
$& 20. Unblutige Druckmessung . . 5
$ 21. Methode des völligen Vorschlnsies #
$ 22. Die Methode der entspannten kei and:
$ 23. Die Methode des übertragenen Druckes
Nagel, Physiologie des Menschen. I.
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XI Inhaltsverzeichnis.
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$ 24. Maximal- und Minimaldruck (sog. systolischer ‚und
MIBILONBDHER DUCK) : 5 =. »..0. 0 Sn eae 2 710
$ 25. Sphygmographik (Pulsschreibung) . -. » » :» 2» 2 2 220. 713
Die Sphygmographie (im engeren Sinne) . . 718
$ 26. Onychographen, Längenpulsschreibung ühd Cnrtiagiaahle : 716
u) Onyehographen. . . „. sr. 0 00.00 ve 716
b) Längenpulse : . : - RU WITTEN 716
6) Oardiographie . .: : 22er... Ba TERN
$ 27. Die Registrierung der Herztöne . . »... 22220... 717
Die Plethysmögraphie.: . + u... 2. 0 n. 0 0 el ey; |
& 38.. Allgemeine Methodik: . » =. Fu hie sie 2.10 ae 719
$ 29. Herzplethysmographie u. plethysmographische Geschwindig-
keitamessüng ’..% \. 13 2 Re ee 722
$ 30. Das Plethysmogramm als Geschwindigkeitskurve . . 723
$ 31. Das Plethysmogramm als Integralkurve der Ge-
schwindigkeit ",.72..:<.:.0 6 le Fa In Feen 724
Tachographie (Messung der Geschwindigkeit). -» - » 2...» .,
$ 32. Geschwindigkeit und Ausflußmenge . .» » : 2 re... 726
$ 33. Direkte Bestimmung der Blutgeschwindigkeit. . . » . . » 727
$ 34. Bestimmung der Umlaufzeit des Blutes . .. 2.2... 728
IV. Die Bedingungen des Blutdrucks im Körper. .... 2 2.. 729
Hlantisität 1. I Nauen de an a a ae Re he N 729
$ 35. Zustand der Wandung . . .». ..» 2222 .2. 000
8 36. Gefäßtonus und Lumenweite . ».» 2»: 2200200. 733
$ 37. Lumenweite der kleinen Gefäße. . . .. 22... 733
$ 38. Lumenweite der großen Gefäße . . .. 2... .% 737
$ 39. Spezielle Physiologie des Kreislaufes einzelner Organe 739
8 40.. Blaimnenge «20 00 uds 2 N a ae ED 741
Plethörs und »Blütarmnt 5 2 2.08 a Se era 743
Das Schlagvolum des Herzens. - . + u 2.0 un. ie eu oe on eine 744
8 41. Bedeutung des Schlagvolums . ... 2. 222. 220. 744
8 42. Die Größe des Schlagvolums . . . . 2... 222200. 745
Direkte Messung: 05 050 re re 745
Indirakte' Bestimmung: 2 Sa Su en Ns 746
$ 43. Die Ermittelung aus der Aortengeschwindigkeit und
der Umlaufsgeschwindigkeit . . .».. 2.2... 746
$ 44. Berechnung des Schlagvolums aus der Bestimmung des
Sekundenvölums“ 7... 2.78 Per urn ee ee 748
Die Frequenz des Herzschlages . . ». ... 22 2.2.2.0. a ARE 751
$ 45. Herzfrequenz und Blutdruck .» .. 2. 22222220. 751
$ 46. Abhängigkeit der Pulsfrequenz von den wichtigsten physio-
logischen Bedingungen . . : 2. 2 2 2 2 rennen 752
1, Von,der-Körpergrbbe SR ET EE Er 752
2. Vom Alter HH RER ET RE 753
3. Vom Geschlecht 2.5.4.1. va a u, Gries 754
4. Von der Temperatur und dem Barometerdruck . . . 755
5.. Von Körperbewegungen . . . . 2. 2 on... 756
6. Von der Körperlage. . .. . a ie ee en 757
Die Widerstände im System (die Capillaren) . . . : . 2 22220. 758
$ 47. Verzweigungsmodus der Gefäße und dadurch bedingter
Widerstand HE RR IR RIO ee, 758
Die ‚Oapillaren . . "HT A 760
$ 48. Die Strömung in den Capillaren. ......... 760
$ 49. Das Poiseuillesche Gesetz. . . . . ! 222 2.. 764
$ 50. Gesehwindigkeit in den Blutcapillaren . . .... . 765
$ 51. Gesamtquerschnitt und Menge der Blutcapillaren.. . 766
Die Konsistenz des Blutes. , vv vv eo nr on onen nn nn 768
.
er eh Dec ee ee De ee ee era este
Ve
Inhaltsverzeichnis.
$ 52. Definition von „Blutkonsistenz“ . .
$ 53. Bestimmung der Blutkonsistenz .
$ 54. Anderungen der Blutkonsistenz
V. Der Blutdruck .
$ 55.
$ 586.
8 57.
$ 58.
$ 59.
Bedeutung von EEE TE :
Der
mittlere Blutdruck bei Tieren und Mischer:
- Der mittlere Blutdruck des Menschen .
Einfluß von Alter, Größe und Geschlecht .
Der
Blutdruck an den verschiedenen Stellen des Körpers
a) Der Druck in den Arterien . rn
b) Der Capillardruck . . .. 2. .2....
e) Der Venendruck . . . 2.2.2...
Der Einfluß verschiedener See aklarin Aut den
BIT uoR RL Ei;
KOrDeRaBe REN I Ale. RL
Arbeit, Massage und Nervenreizung re
Die NIBRSRBEERISIDerAKUr TREE
Herzfrequenz wer
VI. Die Pulswelle
$ 60.
8 81.
8 82.
S
8 63.
64. Die
Die
Entstehting “der Pulswelle UL Men an
Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Pulswelle H
Dekrement und Reflexion der Pulswellen..
Reflexion der Pulswellen . . .
Der
Dikrotismus des Pulses .
Dikrotie, bedingt durch beriphärische. Erscheinungen
(Reflexion) .
$ 65. Die Dikvotie, REN dutch Drssabeni 1 im Hasen und
in der Arterienwand .
Ursachen in der Arterienwand
$ 66. Dynamische Theorie
$ 67. Der Dikrotismus als eine Folge des Somilunarklappen-
mechanismus
$ 68. Sonstige Wellen im Puls und ihre Beziehungen zum Blutdruck
VI. Die morphologischen Grundlagen der TIERE:
8 69.
$ 70.
$ 1.
$ 72.
$& 73.
Das
Die
Die
Die
Herz als Muskelsyneytiun
Faserrichtungen des Herzens
Vorhofmuskulatur gr
drei Muskelsysteme der Ventiikel i
$ 74. Die äußeren Spiralfasern ;
$ 75. Das Treibwerk und das Papillarsystam
Das Papillarsystem .
Die muskulösen Verbindungen der einsainen Muskeisyrieme :
$ 76.
Verbindungen des Vorhofs mit den Venen und dem
Ventrikel .
a) Muskulöse Verbindungen. zwischen Venen und Vorhof
b) Muskulöse Verbindungen zwischen Vorhof u. Ventrikel
$ 77. Muskuläre Verbindungen der einzelnen See
des Ventrikels .
VII. Allgemeine Mechanik des Herzmuskels
Der Ablauf der Erregungswelle . . .
$ 78. Begriff und Dauer der Systole .
Der Weg der Erregungswelle .
$ 79. Die ursprüngliche Hersperistaltik. ei
$ 80. Versuche, die Richtung der Erregungswelle zu bestimmen
g 8ı.
Systolen und Extrasystolen (abnorme Ventrikelschläge)
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xIV Inhaltsverzeichnis.
$ 82. Ablauf der Erregungswelle auf Grund des Elektro-
Karllogramms . : si win email
SR msleyıtollen . . ı a ae
$ 84. Einteilung der Herzperiode nach der Tätigkeit (Grad der
MT) . '- 0 2.60 ee te
$ 85. Einteilung nach der Funktion. .. . . De s
IX. Formveränderung und Spitzenstoß . ».. 2 22.2220. ae
Formveränderung des Herzens . ;.:. +» ars ur aaa ae
$ 86. Bestimmungen aus Messungen am toten Herzen . . .. .
$ 87. Die Formveränderung am lebenden Herzen (graphische
Begistrierung‘) x x: wide wie ae ae
5 '88.: Dar Buitwenstöß "ya ee Sn”
1..Die Bückstoßtheorie +... 75 ml ae au
2. Die Dehnnngstheorie .: 2.2.0... WR ee
3. Die Streckungstheorie. . » 2... een.
4. Die diastolische Theorie. . » 2: 2: 2222200.
X; Klappen and Heratöne:., Kr en ee DT
$ 89. Die Ventile des Herzens ., ..... ee SR Ya
8.90. :Die Bemilunarklanpen. . » .. .. i...... «rlagiralst wis =
$ 91. Die Selbststeuerung des Herzens. . .» : : v2...
$ 92. Die Atrioventrikularklappen. . . » : x» 222.0. a
698. Die Herutime. 05 4.153.H ng ef ra hin pre, ARE A ER
XIL:Acocessörischae Herzen . HE KaIEN SA Te
$ 96. Der Donderssche Druck. . . . : 2 2 2 cn 2 0 0. 3
$ 97. Mechanischer Druck auf die Venen (RDEDOEROWEREAENE
Massage, Attoftenpia): ! 3 ir 2 ce Fe
$ 98. Aspirierende Kräfte der Herzwand selbst. (Die sog. aktive
Dissbole) . 2.32 BR ER een
Die Tatsachen . . ... . BE ER a ee Re
8 99. Theoretische Deutungen... iT. 2. 2 0 00m ne
a) Dilatatorische Fasern (Expansions- und Antagonisten-
N RE Er ET IRRE ER Le ee >
b) Die Elastizität (Elastizitäts- u. mechanische Diastole)
c) Die Injektionsentfaltung des Herzens (Erektions-
NN ET EN er
d) Die Lucianische „aktive“ Diastole te Be
ZU. Die Arbeit des Hörsene..,4%. 31:2 DEE Bra a Er
8 100 2 20 Se ers a A ae
De dr al his |. 4» a a
e x by rin
Die Atembewegungen und ihre Innervation
von
Heinrich Boruttau.
Monographische Literatur:
Vierordts Artikel „Respiration“ in Wagners Handwörterbuch der Physio-
logie, Zweiter Band, Braunschweig 1844, auf $. 828ff., umfaßt noch
Respirations-Chemie und Mechanik; gesondert ist die letztere und ihre
Innervation behandelt durch Rosenthal in Hermanns Handbuch der
Physiologie, Vierter Band, Zweite Abteilung, Leipzig 1882, auf $. 165 ff.;
endlich neuestens durch Starling in Schäfers Textbook of Physiology,
Zweiter Band, Edinburgh und London 1900, auf 8. 274 ff. Gesondert er-
schienene Monographien über die Atmungsmechanik und Innervation,
außer den im Text zitierten größeren Spezialarbeiten, sind mir nicht
bekannt.
I. Die Bedeutung der Atembewegungen. Vergleichendes.
Bei den niederen Tieren genügt im allgemeinen zur Unterhaltung der
Öxydationsvorgänge der diffusive Gasaustausch an der äußeren Oberfläche,
deren dauernde oder zeitweise Vergrößerung (amöboide Bewegungen usw.)
bereits hier unterstützend mitwirken dürfte: mit ansteigender Vollkommen-
heit des Körperbaues in der Tierreihe sehen wir die Oberflächenvergrößerung
sich auf spezielle, dem Gasaustausch mit dem umgebenden Medium dienende
Organe beschränken und eine Unterstützung derselben durch passive oder
aktive Bewegung dieser Organe auftreten: den Vermittler, das „Transport-
mittel“ der Gase zwischen deren äußeren, der Diffusion dienenden Oberflächen
und den übrigen Organen und Geweben, als den Orten der inneren Atmung,
bilden die Körperflüssigkeiten — Lymphe, Hämolymphe, Blut. Wo für
letztere noch kein geschlossenes Gefäßsystem ausgebildet ist, sehen wir ge-
legentlich ein vielverzweigtes Luftröhrensystem, durch welches die Luft von
der Körperaußenfläche der Flüssigkeit in den Gewebsspalten zugeführt wird:
— Tracheen der Landarthropoden — , wobei bereits aktive (muskuläre) Be-
wegung die Ventilation unterstützen kann (Atembewegungen der Cole-
opteren); im übrigen ist bei höherstehenden Wassertieren das besondere
Atmungsorgan meist als Epithelflächenausstülpung eingerichtet, die Ober-
flächenvergrößerung durch vielfache Faltung oft schon eine sehr bedeutende:
Die den Austausch zwischen den im Wasser gelösten und den im Blute oder
der sonstigen Körperflüssigkeit im Innern dieser (als Kiemen bezeichneten)
Organe vorhandenen Gasen begünstigende Bewegung ist meist einfach das Vor-
beifließen des Wassers, eventuell die hierdurch gesetzte passive Bewegung der
Nagel, Physiologie des Menschen. I. \ 1
9 j Physik und Anatomie der Lungenatmung.
Kiemenanteile. Bei den außerhalb des Wassers wohnenden Wirbeltieren da-
gegen sind die Organe der äußeren Atmung ausnahmslos als sackartige Ein-
stülpungen der dem diffusiven Gasaustausch zwischen Blut und Außenluft
dienenden Epithelflächen eingerichtet, welche man als Lungen bezeichnet.
Die die Ventilation begünstigende Bewegung besteht hier in einer rhythmisch
abwechselnden Erweiterung und Verengerung dieser Hohlräume,
deren Mechanismus hier genauer behandelt werden soll, insoweit als er den
Menschen und die übrigen Säugetiere betrifft; ein genaueres Eingehen auf
die vergleichende Physiologie der Atemmechanik und Innervation liegt außer-
halb des Rahmens dieses Handbuchs.
II. Die physikalischen und anatomischen Grundlagen der _
Lungenatmung.
Man hat die abwechselnde Erweiterung und Verengerung der Lungen
mit der Arbeitsweise des Blasebalgs verglichen: sie wird durch rhythmische
Kontraktionen quergestreifter Muskeln hervorgebracht, doch mit Unterstützung
einer Hilfskraft in ganz ähnlicher Weise, wie sie auch bei größeren (Schmiede-,
Orgel- usw.) Blasebälgen durch ein 'belastendes Gewicht dargestellt wird.
Diese Hilfskraft ist in unserem Falle die Elastizität des Lungen-
gewebes und des sie einschließenden knöchern-knorpeligen Brustkorbes:
durch sie kann rhythmisch unterbrochene Muskelbewegung nur in der einen
Richtung genügen zur Erzielung rhythmisch-abwechselnder Erweiterung und
Verengerung des Binnenraums der Lungen, indem ein Teil der Muskelenergie,
aufgespeichert als elastische Spannkraft, in den Ruhepausen zwischen den
einzelnen Bewegungen zur Veränderung des Lungenvolumens in der anderen
Richtung bis zur Ausgangsstellung nutzbar gemacht wird: es ist so aktive
Erweiterung und damit Einströmen der Luft in die Lungen, also aktive
Inspiration denkbar, kombiniert mit der Wiederverengerung lediglich durch
die Elastizität, also mit „passiver Exspiration“, aber auch ebensogut
„aktive Exspiration“, kombiniert mit „passiver Inspiration“; in der
Tat kommen auch beide Kombinationen für sich allein, wie auch zu einem
vierteiligen Ganzen verbunden, vor; bei der ruhigen, normalen mensch-
lichen Atmung indessen haben wir es ausschließlich mit dem erst-
. genannten Falle zu tun: aktive Inspiration alternierend mit passiver
Exspiration.
In der Tat ist die anatomische Einrichtung des knöchern-
knorpeligen Thorax eine derartige, daß die Elastizität seiner Bestandteile
sowohl bei seiner aktiven Erweiterung, als auch bei seiner Kompression ge-
weckt wird; bei aufrechter Körperhaltung des Menschen ist es ferner noch
die Schwerkraft, welche seiner Erweiterung entgegenwirkt und ihr passive
Verengerung folgen läßt; denn es sind die 12 Paar Rippen mit den ent-
sprechenden 12 Brustwirbeln gelenkig verbunden und vorn durch Vermitte-
lung der Rippenknorpel und deren (nur bei dem obersten Rippenpaar durch
starre Verbindung ersetzten) Amphiarthrosen an das Brustbein derartig an-
gefügt, daß sie in der Ruhelage nach vorn abwärts gerichtet sind; hieraus
folgt, daß Erweiterung des Thorax durch die Tätigkeit rippenhebender Mus-
keln zustande kommen muß, und daß bei Nachlassen derselben die Schwer-
‚dagegen im transversalen
Rippenmechanik. 3
kraft passive Wiederverengerung durch die Rippensenkung bedingen wird:
freilich dürfte bei Vorhandensein aller Weichteile ihre Bedeutung gegenüber
derjenigen der elastischen Kräfte ziemlich verschwinden. Die Hebung und
Senkung der Rippen erfolgt unter Drehung derselben gewissermaßen
als Speichen je um eine Achse, welche für jede Rippe den beiden Gelenken
gemeinschaftlich ist, durch welche diese mit dem betreffenden Brustwirbel be-
weglich verbunden ist: der Articulatio capituli costae am Wirbelkörper und der
Articulatio tuberculi costae am Querfortsatz: entsprechend der verschiedenen
Richtung der Querfortsätze an den oberen und unteren Brustwirbeln verlaufen
diese Achsen oben mehr frontal, unten mehr in sagittaler Richtung. Dem-
entsprechend ist es bei der „Rippenhebung“ oben mehr das vordere Ende,
welches nach vorn und höher rückt, unten mehr die seitliche Krümmung der
Rippe, welche mit der Hebung mehr lateralwärts gedreht wird; bei der
„Rippenatmung“ (s. weiter unten) i Fig. 1.
erfolgt die stärkste inspira-
torische Erweiterung des
Thorax in seinem oberen
Teile im anteroposterioren,
in seinem unteren Teile
Durchmesser (s. Fig.1; a oben,
b unten.) Alle Rippen sind nun
ferner mit dem Brustbein, wie
auch untereinander direkt oder indirekt verbunden (abgesehen von den letzten
zwei sog. freien Rippen) durch ihre vorderen knorpeligen Verlängerungen;
diese Rippenknorpel haben unmittelbar oder nahe vor ihrem Rippenansatz eine
Umkniekungs- resp. Umbiegungsstelle, von welcher ab sie, im Gegensatz zu
den knöchernen Rippen selbst (außer bei der ersten Rippe) nach vorn aufwärts
gerichtet sind. Es bedingt diese, wie wir bald sehen werden, für das Ver-
ständnis der Wirkungsweise der Musculi intercartilaginei wichtige Anordnung
ein: Vorwärtsstoßen des Brustbeines zugleich mit Torsion der Rippenknorpel
als notwendige Begleitung jeder Rippenhebung.
Auch eine die angestrengte Rippenatmung angeblich begleitende Streckung der
Wirbelsäule soll zur Erweiterung des Thoraxraumes beitragen: analog derselben ist
neuestens von D. Rothschild!) auch eine inspiratorische Geradestreckung des Brust-
beins, resp. Vergrößerung des sog. „Sternalwinkels“ angegeben worden: Die Bedeu-
tung des letzteren (des „Louisschen Winkels“, Angulus Ludovici), speziell seiner
Verkleinerung beim sog. phthisischen Habitus, ist ja bekannt; nach W.A. Freund’)
ist hier auch die Beweglichkeit der Verbindung zwischen Rippenknorpeln und
Brustbein beschränkt.
Die Elastizität der Rippenknorpel ist es also vorwiegend, welche
auf eine aktive Erweiterung des Thorax durch die Kontraktion rippenhebender
Muskeln eine passive Wiederverengerung folgen läßt, und ebenso auf eine
aktive Kompression) durch die Tätigkeit rippensenkender Muskeln eine
passive Wiedererweiterung. Doch auch nach unten zu besitzt der Brust-
!) Berl. Klin. Wochenschr. 1903, $. 190. — *) Therapie der Gegenwart 1902,
S. 26. — °) Dieselbe ist nach Volkmann (Zeitschr. f. Anat. u. Entwicklungsgesch. 2,
159) nur in geringerem Grade möglich, als die Erweiterung.
1*
4 Pleuraspalte.
raum einen gewissermaßen elastischen Abschluß: Denselben bildet be-
kanntlich eine wesentlich muskuläre Zwischenwand, welche gleichzeitig
durch ihr Herabtreten bei der Kontraktion den Hauptanteil der inspira-
torischen Erweiterung besorgt, nämlich das Zwerchfell. Dasselbe wird .
emporgedrängt durch den Inhalt der Bauchhöhle, welcher, zum Teil gas-
förmig, außerdem nach vorn durch die variable elastische Spannung der
Baucehmuskulatur komprimiert, ein höchst elastisches Widerlager darstellt.
In dem dergestalt gewissermaßen allseitig von elastischen Wandungen
begrenzten Brustraume liegen nun die beiden Lungen mit ihren
Außenflächen seiner Innenfläche dicht an und erweitern sich
passiv mit, seinem Zuge folgend, wenn er aktiv erweitert wird.
Dazu sind sie in hohem Maße befähigt durch ihren reichlichen Gehalt
an elastischem Gewebe, dessen Verteilung die gleichmäßige Erweiterung
aller Alveolen bei der Inspiration erlaubt.
Jeder Bronchiolus oder kleinste Endast des durch die mehr oder weniger
dichotomische Verzweigung der Hauptbronchien entstandenen „Bronchialbaumes“ er-
weitert sich zu einem als Infundibulum bezeichneten trichterartigen Hohlraum, °
dessen Wände durch ein Netz von Querleisten in die eigentlichen Lungenbläschen
oder Alveolen abgeteilt sind. Die Alveolarwände bestehen aus den Gefäßendothelien
der äußerst dicht- und engmaschigen Lungenkapillaren, den dazwischen ausgespannten
Lungenepithelzellen und endlich typischen elastischen Fasern, während das Vor-
kommen sonstiger Bindesubstanzen auf die Bronchialwände beschränkt ist (über
die Bronchialmuskulatur s. weiter unten). Angeblich schon normal finden sich in
den Scheidewänden zwischen den einzelnen Alveolen desselben Infundibulums
Kommunikationsöffnungen, welche beim echtem rarefizierendem Emphysem sich bis
zu völligem Schwunde der Scheidewände vergrößern können.
Durch die mediane Doppelwand des Mediastinums und die zwischen
seinen beiden Blättern gelegenen Organe (Herz und sog. große Gefäße im
vorderen, Ösophagus, Aorta desc. und Vena cava inf. im hinteren Mediastinal-
raum) ist der Hohlraum des Thorax in zwei Hälften geteilt, deren jede mit
dem parietalen Serosablatt — Pleura costalis, diaphragmatica und media-
stinalis — völlig ausgekleidet ist. Dieser Auskleidung liegt das die Lunge
überziehende viscerale Serosablatt — Pleura pulmonalis —, wie schon an-
gedeutet, dicht an, derart, daß zwischen beiden nur eine capilläre, wenig
seröse Flüssigkeit enthaltende Spalte — die „Pleuraspalte* — liegt, wie
dies übrigens im Normalzustande für alle mit Unrecht so genannten „serösen
Höhlen“ !) gilt, welche sich von den gewöhnlichen Lymphräumen oder Gewebs-
spalten nicht prinzipiell unterscheiden. Erst wenn die Pleuraspalte durch
eine bis zu ihr reichende Kontinuitätstrennung der Thoraxwand — „pene-
trierende Brustwunde* — mit ‚der Außenluft in Kommunikation gesetzt
wird, wird aus der Pleuraspalte eine (nicht mehr von einem Organ erfüllte)
Pleurahöhle, indem Luft von außen eindringt: „Pneumothorax“. Dabei fällt
die Lunge zusammen („kollabiert“), indem die in ihr enthaltene Luft (wenn
auch nicht gänzlich, s. weiter unten) durch die Atemwege entweicht, und
folgt fortan nicht mehr dem ‚Zuge des durch die Inspirationsmuskeln
erweiterten Thorax, auch wenn die hergestellte Öffnung verschlossen
Y) Die’ „Höhle“ ist eben nicht hohl, sondern mit Organen (Brust-, Bauchein-
geweide usw.) völlig angefüllt.
Bl a
N a = a mn
.
a u . eis
u ee ee
Dondersscher Versuch. 5
wird !). Dieses am Lebenden wie an der Leiche in gleicher Weise vorhandene
Verhalten ist nur dadurch erklärlich, daß die Elastizität der Lunge bereits
in der Ruhestellung des Thorax in Anspruch genommen, ihr Vo-
lumen dauernd ein größeres ist, als sie es im herausgenommenen
Zustande besitzen würde, ihre Wandung dauernd gedehnt, die
elastischen Fasern in ihrem Gewebe dauernd gespannt sind. Da
nun auf der Außenfläche des Thorax, wie auch, durch Vermittelung der offen-
stehenden Atemwege, auf der Innenfläche sämtlicher Alveolen, zunächst
Ruhestellung vorausgesetzt, der volle atmosphärische Luftdruck lastet, so
muß in der capillären Pleuraspalte der Druck kleiner sein als der
äußere Luftdruck, um einen Betrag, welcher, in Gewichtseinheiten auf
die Flächeneinheit (g oder kg pro qem) ausgedrückt, ein genaues Maß der
elastischen Spannung bildet, welcher die Lungenwandung unterliegt. Man
hat diese Druckdifferenz weniger passend als „negativen Druck“ im
Thorax bezeichnet (das „negative“ liegt unterhalb der Nullinie, aber nicht
unterhalb eines positiven Wertes, wie ihn der Luftdruck darstellt); man kann
sie an der Leiche messen, indem man in die Trachea luftdicht („endständig“)
ein nicht zu weites Quecksilbermanometer einbindet und dann beide Brust-
hälften eröffnet. Die freiwerdende elastische Spannkraft der kollabierenden
Lungen komprimiert die in ihrem Innern enthaltene Luft, und es steigt das
Manometer in dem abgekehrten, offenen Schenkel um einen der vorher be-
stehenden elastischen Spannung entsprechenden Betrag, welcher somit auch
der zuvor in der Pleuraspalte bestehenden Druckdifferenz gegen den atmo-
sphärischen Luftdruck gleich ist: sog. Dondersscher Versuch 2), oft wieder-
holt (Hutchinson, Harless u. a.); an der menschlichen Leiche erhielt
Donders so den Mittelwert für die Normalstellung von 6mm Quecksilber-
‚säule, Hutchinson von 13,5 mm); natürlich verändert sich dieser Wert
mit den Atembewegungen, wie unten ausführlicher erörtert wird. Auch am
Lebenden der Messung zugänglich ist die in Rede stehende Druckdifferenz
bei direktem Verfahren, d. h. Verbindung des Manometers mit der Pleura-
spalte unter möglichster Vermeidung des Luftzutritts. Dieser Versuch ist
mehrfach am (kranken und gesunden!) Menschen durch Aron) angestellt
worden und ergab im Mittel 4!/;, mm Quecksilber; schon früher war durch
Schreiber), Luciani®) und Rosenthal”), in der Voraussetzung, daß die
Druckdifferenz im Mediastinalraum die gleiche sei, wie in der Pleuraspalte,
eine unter Luftabschluß mit einem Manometer verbundene Schlundsonde in
den Ösophagus eingeführt worden, wodurch man Werte bis zu 4/,mm beim
Menschen und 3mm beim Kaninchen erhielt; auch Adamkiewicz und
Jacobson®), welche durch eine mit Einstichtroicart und Hahn armierte
Sonde das Manometer‘ mit dem Herzbeutelinnern verbanden, erhielten so
3 bis 5mm beim Kaninchen.
) Daher hat beiderseits penetrierende Verwundung (Brustschüsse u. a.) mit
dem eintretenden doppelseitigen Pneumothorax sofortigen Erstickungstod zur
Folge. — *) Zeitschr. f. ration. Med., N. F., 3, 287. — °) Zitiert nach Rosenthal
in Hermanns Handbuch :4, Abteil. 2, 8. 225. — *) Arch. f. pathol. Anat. 126,
517, 1891; 160, 564, 1900. — °) Arch. f. experim. Pathol. 10, 19, 1878. —
6) Archivio per le scienze mediche 2, 177, 1878. — 7) Arch. f. (Anat. u.) Physiol.
1880, Suppl.-Bd., S. 34. — ®) Centralbl. f. d..med. Wiss. 1873, S. 483.
6 Anektasie. — Fötallunge.
Der Unterschied zwischen den nach beiden Methoden beim Menschen er-
haltenen Werten ist unbefriedigend (Hermann) und unklar; er würde für einen
dauernden Kompressionszustand in der ruhigen Exspirationsstellung sprechen, gegen-
über dem beim Kaninchen meist angenommenen Tonus der Inspiratoren (s. unten);
doch wahrscheinlich handelt es sich um Fehlerquellen, vor allem bei der direkten
Methode um die Wirkung des „schädlichen Raumes“ ; bei möglichster Vermeidung
desselben erhielten in der Tat Einthoven und van den Brugh!) 80 mm Wasser
— etwa 6mm Quecksilber, wie im Dondersschen Versuch.
Beim Fötus und beim Neugeborenen füllen die Lungen die
Thoraxhöhlen auch nach Einstich in die Pleuraspalten vollständig aus und
es ist keine Druckdifferenz bei Anstellung des Dondersschen Versuchs
zu beobachten; dieselbe stellt sich erst mit zunehmendem Wachstum ein,
wahrscheinlich indem der Thorax schneller wächst als die Lungen und so
allmählich deren Elastizität auch in der Ruhestellung in Anspruch zu nehmen
beginnt [Hermann] ?); die Lunge des Fötus oder Totgeborenen ist luft-
leer [anektatisch oder „atelektatisch“]), wogegen vom ersten Tage an
sie lufthaltig bleibt („Lungenprobe“ der Gerichtsärzte: Die -lufthaltige Lunge
schwimmt auf Wasser, die anektatische sinkt unter), nachdem einmal der
Widerstand überwunden ist, welchen die Adhäsion der Alveolar- und Bron-
chiolenwände in der luftleeren Lunge bildet; der letztere zeigt sich darin,
daß zur Aufblasung der anektatischen Lunge ein viel größerer Druck nötig
ist, als bei der lufthaltigen [Hermann und Keller]2). Auch die kolla-
bierte Lunge des Erwachsenen bleibt lufthaltig („Minimalluftgehalt“,
siehe später) und läßt sich durch bloße Kompression nicht anektatisch machen,
wahrscheinlich weil zuerst die Bronchioli an ihrer engsten Stelle (Übergang
ins Infundibulum) völlig zusammengedrückt werden und so der Alveolarluft
den Ausgang versperren. Um die Lunge „künstlich anektatisch“ zu machen,
muß man ihren Inhalt durch Kohlensäure ersetzen, welche bald durch Wasser,
in welches man die Lunge eintaucht, völlig resorbiert wird (Hermann und
Keller).
Dasselbe geschieht seitens der Gewebeflüssigkeit, wenn man bei einem Tiere
Pneumothorax macht und die Brustwunde offen hält; auch hier wird die Lunge
nach 8 bis 10 Stunden völlig anektatisch. Verschließt man hingegen die Brust-
wunde (am günstigsten auf der Höhe einer Exspiration, Langendorff und Cohn‘),
so wird umgekehrt mit der Zeit die Luft aus der Pleurahöhle resorbiert und es
stellt sich allmählich der normale Zustand wieder her. Beschleunigen kann man
diese Heilung des Pneumothorax durch Einsetzen eines nach außen schlagenden
Ventils [beim Tier, Northrup]?’) oder Aussaugen vor dem Schließen der Wunde.
Die Veranlassung zu den Versuchen von Hermann und Keller hatte eine
Arbeit von Bernstein°) gebildet, welcher fand, daß nach künstlicher Aufblasung'
der Fötallunge der Donderssche Versuch alsbald 6 bis 7mm Quecksilber Druck-
differenz gab und, entgegen den Tatsachen, den ersten Atemzug für die Ursache
einer sofort vorhandenen vollen Druckdifferenz wie beim Erwachsenen ansah.
Dem Anfänger wird das Anhaften der Lunge an der Innenfläche des Thorax
am klarsten durch den Vergleich mit den Haftplatten der Insektenfüße, den
!) Onderzoekingen Physiol. Labor. Leiden, II/II, p. 1, 1898. — ?) Pflügers
Arch. 20, 365, 1879. — °) Falsch gebildeter Ausdruck, der mindestens „telanekta-
tisch“ heißen müßte, „mit nicht erweiterten Endigungen“; @reAng heißt steuerfrei,
vgl. das richtig gebildete „Philatelie“-Briefmarkenliebhaberei. — *) Pflügers Arch.
37, 209, 1885. — °) Researches Loomis Labor., New York, 1890, 8. 53. — °) Pflügers
Arch. 17, 617, 1878; siehe auch die darauffolgende Polemik zwischen ihm und
Hermann: ebenda 28, 229, 1882; 30, 276, 1883; 34, 362, 1884; 35, 26, 1885.
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u
Inspirationsmuskeln. 1’
bekannten, durch eine Gummischeibe an jeder Spiegelglasplatte haftenden Wand-
leuchtern u. a.; man redet ja auch geradezu von der, durch die Inspiration ver-
stärkten (s. u.) Ansaugung oder „Aspiration des Thorax“.
: Um Tierversuche mit Eröffnung der Pleurahöhlen vornehmen zu
können, ebenso zum Ersatz der durch Curare gelähmten natürlichen Atembewe-
gungen verwendet die physiologische Methodik die „künstliche Atmung“ in
Gestalt rhythmischer Einblasungen durch einen passenden Blasebalg, welcher
meist durch eine Trachealkanüle mit den Atemwegen in Verbindung gebracht
wird; auf die Geschichte und die technischen Einzelheiten der künstlichen Atmung
kann hier nicht näher eingegangen werden.
Neuestens ist nicht nur für Tierversuche, sondern besonders auch für chirur-
gische Eingriffe am Menschen, welche die Eröffnung der Pleurahöhlen nötig
machen („Thorakotomie“), vorgeschlagen, entweder den Körper mit der er-
öffneten Brusthöhle sowie den operierenden Personen innerhalb einer
abgeschlossenen Kammer unter geringeren Druck zu versetzen, während
der Kopf außerhalb bleibt und die Außenluft unter Normaldruck in die Lunge
dringt, — oder aber umgekehrt, nur den Kopf in einen Hohlraum einzuschließen,
welcher unter Überdruck ventiliert wird, während der Körper und die Opera-
teure unter Normaldruck stehen (Mikulicz und Sauerbruch'), Petersen und
Brauer?): in der Tat setzt hierbei das Tier bzw. der Mensch seine Atem-
bewegungen in normaler Weise fort, was natürlich dem Verfahren der
künstlichen Einblasungen weit vorzuziehen ist.
Geschichtliches. Die äußere Erscheinungsweise der Atembewegungen, sowie
die muskuläre Kontraktilität des Zwerchfells ist zwar bereits Galen bekannt ge-
wesen und Borelli®) beschreibt die passive Rolle der Lunge bei den Atembewe-
gungen sehr deutlich, indessen behaupteten noch nach diesem viele Physiologen, so
‚Hampberger, steif und fest, daß im Pleuraraum Luft enthalten sei und daß die
Lunge sich aktiv kontrahiere. Diese Irrtümer beseitigt Haller‘), indem er am
lebenden Tier in den Intercostalräumen die Pleura costalis, ohne sie im geringsten
zu verletzen, von den darüberliegenden Weichteilen so vollständig befreite, daß die
Lunge- durchschimmerte, und bewies, daß sie, weil elastisch, sich bei der Einatmung
passiv erweitere, indem sie dem Zuge des Thorax und des von ihm sehr genau be-
schriebenen Zwerchfells?) folge.
III. Die Atembewegungen, ihre Begleit- und Folgeerscheinungen.
1. Die Atemmuskeln.
A. Einatmungs- oder Inspirationsmuskeln. Der normale
Hauptfaktor der aktiven Inspiration ist das Zwerchfell. Dasselbe bildet
eine, den Brustraum nach unten gegen die Bauchhöhle abschließende
und von dieser trennende [daher der Name Zwerch- (gleich Quer-)fell
oder Diaphragma] Wand, an deren sehnigem Mittelteil — Centrum ten-
dineum — die Muskelfasern sich ansetzen, welche ringsherum von den
unteren Teilen der knöchernen Thoraxwand derart entspringen, daß man
einen Vertebral- oder Lumbalteil (von den obersten Lendenwirbeln), jederseits
einen Costalteil, sowie vorn den Sternalteil unterscheidet. Durch die Druck-
differenz in den Pleuraspalten, resp. die Lungenelastizität einerseits, sowie
durch den Binnendruck der Unterleibsorgane und den Tonus der’ Bauch-
!) Centralbl. £. Chirurgie 1904, Nr. 6; Deutsche medizin. Wochenschr: 1904,
Nr. 15, 8. 530. — ?) Zeitschr. f. physiol. Chemie 41, Nr. 4, 1904. — °) De motu
animalium. — *) De respiratione experimenta anatomica, P. I u. II, Göttingen,
1746 u. 1747. — °?) De Diaphragmate, Göttingen, 1741.
8 Zwerchfellatmung.
muskulatur wird nun das schlaffe Zwerchfell in seiner (exspiratorischen)
Ruhestellung dermaßen kuppelförmig in den Thorax hinaufgesogen bzw.
gedrängt, daß seine Muskelfasern zu einem großen Teile vertikal aufsteigen
und dann ziemlich plötzlich mit scharfer Krümmung horizontal umbiegen,
um das sehnige Zentrum zu erreichen. Es liegt somit ringsherum an der
Brustwand die mit der Pleura diaphragmatica überzogene Ober- resp. Außen-
fläche des Zwerchfells der mit der Pleura costalis überzogenen Thoraxinnenfläche
capillar an (Fig. 2, 2.). Bei jeder Inspiration nun ziehen sich die sämtlichen
Muskelfasern des Zwerchfells zusammen (in Gestalt eines kurzen oder längeren
Fig. 2. „Tetanus“ — siehe die allgemeine -
Muskelphysiologie —, niemals in
5 Einzelzuckungen!), und indem zu-
nächst das Centrum tendineum so
gut wie die untere knöcherne Brust-
wand fixiert bleibt (näheres siehe
weiter unten), müssen sie aus der
b gekrümmten resp. geknickten in eine
mehr geradlinig gestreckte Lage und
mit ihren unteren Teilen aus der
vertikalen in eine Schrägstellung
übergehen, so daß sich ihre pleura-
bedeckte Außenfläcke von der
Thoraxinnenfläche, von oben nach unten fortschreitend, abhebt. Aus dem
capillaren Spaltraum wird so ein ringförmiger Raum von keilförmigem
(dreieckigem) Querschnitt — der sogenannte komplementäre Pleura-
raum, in welchen alsbald die Lunge mit ihrem unteren Rande hinabsteigend
einrückt, um ihn völlig auszufüllen; das gesamte Zwerchfell geht aus der
Kuppelform mehr in die Gestalt eines abgestumpften Kegels (das Centrum
tendineum als obere Fläche angesehen) über (Fig. 2, b.). Die Lunge erweitert
sich dabei in allen ihren Teilen gleichmäßig, was deutlich erkannt werden
kann, wenn man in einem obersten und einem untersten Intercostalraum die
Weichteile bis auf die Pleura abräumt und die durchschimmernde Lunge be-
obachtet (Hallers Versuch, siehe oben das Historische). Man erkennt an
ihren Pigmentflecken überall das Auf- und Abgehen der Lungenoberflächen-
teile, natürlich unten am ausgiebigsten und oben am geringsten.
Aus letzterem Grunde erklärte sich die Bevorzugung der Lungenspitze in
bezug auf pleuritische Adhäsionen, ebenso, wie die leichte Primäraffektion der-
selben bei Erkrankungen — Spitzenkatarrhe, tuberkulöse Spitzeninfiltration — außer
durch die relative Anämie sicher auch durch die etwas mangelhaftere Ventilation
erklärt wird; umgekehrt erweitern sich zuerst und am kräftigsten die Alveolen
des unteren Lungenrandes, weswegen das FERESR STEHE bei mechanischer usw. Atem-
behinderung stets hier beginnt.
Jedenfalls befindet sich aber nicht etwa die Lunge dauernd, also im exspira-
torischen Ruhezustande, im kollabierten Zustande innerhalb des „komplementären
Pleuraraumes“, sondern steigt erst bei der Einatmung in ihn hinab. Mißverständnisse
dieser einfachen Sache sind nämlich vorgekommen !
Dem inspiratorischen Tiefertreten des Zwerchfells und der stärkeren
Dehnung der Lunge entspricht natürlich, wie unten quantitativ des näheren
erörtert wird, eine Vermehrung der Druckdifferenz in der Pleura-
ua
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Hilfsmuskeln der Inspiration. 9
spalte gegenüber dem äußeren Luftdruck, eine vergrößerte „Aspiration
des Thorax“; da nun die Lunge Zeit braucht, um mit ihrem unteren Rande
in den komplementären Pleuraraum einzurücken, wird sich insbesondere bei
mageren Individuen die Aspiration, resp. der äußere Luftdruck an den Inter-
costalräumen darin äußern, daß hier die Weichteile eingedrückt resp. -gezogen
werden, dort, wo immer die Abhebungsstelle der Zwerchfellfasern ist. Dem
entsprechend, daß diese bei ruhiger Atmung nur wenig hinauf- und hinab-
rückt, findet sich bei mageren Individuen, atrophischen Kindern u. a., rings
um den Thorax dauernd eine dem mittleren Zwerchfellstande entsprechende
Furche, die Linea diaphragmatica der klinischen Diagnostik; bei tiefem
Atemholen geht diese Furche, wie ein Wellental, gefolgt von einem Wellen-
berg, über die Intercostalräume abwärts und aufwärts, was man in Gestalt
‘eines ab- und aufwärts wandernden Schattens sichtbar machen kann, wenn
man die Versuchsperson passend lagert, so daß das Licht den Thorax (in
Seitenlage) unter einem sehr spitzen Winkel trifft: Phänomen von
Litten!). Vortrefflich beobachten läßt sich in neuester Zeit die Zwerch-
fellbewegung bei der Körperdurchleuchtung vermittelst der Röntgen-
strahlen. Diese Untersuchungsmethode lieferte auch einen neuen Beweis
dafür, daß bei der normalen ruhigen Atmung das Centrum tendineum dia-
phragmatis wesentlich fixiert bleibt (Fig. 2, a’); es senkt sich höchstens um
lem, bei tiefem Atemholen dagegen um mehrere Üentimeter.
An Tieren läßt sich das Gleiche durch eine von der Vena jugularis aus
in die Vena cava bis zum Zwerchfell (foramen pro vena cava) vorgeschobene
Sonde zeigen, welche nur bei Dyspnoe mitbewegt wird [Starling]?).
Außer dem Zwerchfell sind als Inspirationsmuskeln noch eine
ganze Reihe anderer Muskeln genannt worden, welche neuestens R. du Bois-
Reymond in vier Gruppen teilen will?): Erstens solche, welche schon bei
der ruhigen normalen Atmung mittätig sind, welche also zusammen mit dem
Zwerchfell eine erste Hauptklasse bilden würden. R. du Bois-Reymond
nennt hier die Intercostalmuskeln, von welchen weiter unten besonders die
Rede sein soll, während die manchmal hier mitgenannten Mm. levatores
costarum longi et breves nach neueren Untersuchungen überhaupt nicht die
Rippen heben, sondern zum Muskelsystem der Wirbelsäule gehören, zusammen
mit den auch oft bei der Atemmuskulatur genannten Teilen des M. ilio-
costalis. Schon bei normaler ruhiger Atmung, sofern costaler Atemtypus
vorwiegt, wie beim weiblichen Geschlecht, scheinen mir indessen die Mm.
Scaleni als echte Rippenheber (der oberen Rippen) beteiligt; jedenfalls ge-
hören sie mindestens zu der ersten Gruppe der zweiten Hauptklasse der
Atemmuskeln, nämlich denjenigen, welche bei erschwerter Atmung in Tätig-
keit treten; diese erste Gruppe (die zweite von du Bois-Reymond) bilden
solche, welche den Thorax aktiv durch Rippenhebung erweitern, zu ihnen
gehören noch der Serratus posticus superior und (bei fixiertem Kopf) der
Sternocleidomastoideus. Die nächste Gruppe (zweite der inspiratorischen
Hilfsmuskeln, dritte von R. du Bois-Reymond) entlastet den an der Atmung
behinderten Thorax von dem Druck der oberen Extremität; es sind dies die
!) Deutsche medizin. Wochenschr. 1892, Nr. 13. — ?) Schäfers Textbook of
Physiol. 2, 276, London 1900. — *) Ergebnisse der Physiologie, herausgeg. von
Asher und Spiro, 1. Jahrg., 2, 387 ff., 1902.
10 Aktive Exspiration.
Mm. trapezius, rhomboides (maior et minor) und levator anguli scapulae.
Die letzte Gruppe endlich vermag, wenn ihre Ursprungsstellen am Schulter-
gürtel durch Muskeln der vorhergehenden Gruppe fixiert sind, resp. bei auf
die Unterlage aufgestützten Armen — „Orthopnoe* als äußerster Zustand an-
gestrengter Atmung — den Thorax zu erweitern; es sind dies die Mm. Ser-
ratus anticus maior, Pectorales maior et minor.
B. Die Schulphysiologie lehrt, daß die Ausatmung beim ruhigen
Atmen des Menschen und der Säugetiere rein passiv durch die Elastizität
des Thorax und der Lunge erfolge. Dem gegenüber haben schon Henke!)
und Donders?) darauf hingewiesen, daß die elastischen Kräfte des Thorax
in der Ruhestellung denjenigen der Lunge entgegengesetzt sind, indem sie
Inspirationsstellung (Erweiterung der Lunge!) herbeizuführen trachten, wäh-
rend die Lunge auf Exspirationsstellung (Verengerung!) tendiert. Dies er-
leichtert die Inspiration in ihrem Anfange, erschwert dagegen die Exspiration
gegen ihr Ende, so daß hier Muskeln aktiv einwirken müßten. Andererseits
wird letzteres um so mehr überflüssig, je mehr die exspiratorische Ruhe-
stellung des Thorax von seiner Gleichgewichtslage bei der Leiche — Kadaver-
stellung — im Sinne der Inspiration abweicht, durch einen dauernden Tonus
der Inspiratoren (wie er von Gad beim Kaninchen behauptet wird). Jeden-
falls ist die Frage nicht mit einem Worte zu entscheiden, da, wie man sieht,
Fragen der Innervation hineinspielen, welche erst später zu erörtern sind,
und jedenfalls bei verschiedenen Tierarten die Beteiligung der
„aktiven Exspiration“ an der ruhigen Atmung sehr verschie-
den ist.
Treves®) hat nachgewiesen, daß bei experimenteller Behinderung der Inspiration
durch Ventile beim Menschen die mit jedem Atemzug geatmete Luftmenge die gleiche
bleibt, was nur durch kompensierendes Eintreten aktiver Exspiration denkbar ist.
Man hat als Träger dieser „normalen aktiven Exspiration“ die Inter-
costales interni bezeichnet (s. unten); viel wichtiger ist die beim Blasen,
Stimmgeben — Sprechen, Schreien, Singen —, bei den Reflexen des
Hustens, Niesens usw. (s. unten) grundlegende kräftige aktiveExspi-
ration, deren Faktoren die äußeren Bauchmuskeln sind, besonders die
Mm. recti und obliqui abdominis (externus et internus), doch soll auch der
Transversus abdominus indirekt dabei beteiligt sein: sie nähern den Rippen-
‘bogen der Symphyse, ziehen also die Rippen herab und verengern schon da-
durch den Thoraxraum; indem sie aber ferner auf den Bauchinhalt drücken,
drücken sie durch dessen Vermittelung das Zwerchfell nach oben, so daß es
sich stärker wölbt und von unten her den Thoraxraum verkleinert. Gleich-
zeitige Kontraktion des Zwerchfells und der Bauchmuskeln wird
dagegen zur Kompression des Bauchinhaltes dienen: „Bauchpresse*“;
„Pressen“, „Drängen“ bei der Defäkation, beim Geburtsakt usw.
Auch der Quadratus lumborum kann mitwirken bei der Verengerung
der Bauchhöhle; zur Verengerung der Brusthöhlen noch der M. serratus
posticus inferior, M. latissimus dorsi und endlich triangularis sterni.
") Handbuch der Anat. und Mechanik der Gelenke, Leipzig 1863, 8. 86
(nach R. du Bois-Reymond). — ?°) Physiologie des Menschen, deutsch von
Theike, 1, 391, Leipzig 1856 (nach du Bois-Reymond). — °) Arch. italiennes
de biol. 31, 130. he:
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LTE,
Ba lu de, ala > Du, 0) [10 2 2 nur
Wirkungsweise der Intercostalmuskeln. 11
C. Bis auf den heutigen Tag viel umstritten ist die Funktion der
Intercostalmuskeln. Ausführlichere Literaturberichte hierüber geben Rud.
Fick!) und R. du Bois-Reymond?°). Es sei als anatomische Grundlage
hier vor allem betont, daß der Hauptanteil der Außenschicht zwischen den
nach vorn abfallenden knöchernen Rippen in der Richtung von hinten oben
nach vorn unten verläuft; diese „Intercostales externi“ sind zwischen den
nach vorn aufsteigenden Rippenknorpeln durch das Ligamentum coruscans
ersetzt; dagegen liegt hier unter diesem der Hauptanteil der Innenschicht,
die von vorn oben nach hinten unten verlaufenden „Intercartilaginei“; die
ebenso verlaufenden Intercostales interni zwischen den knöchernen Rippen
reichen nicht sonderlich weit nach hinten. Man hat nun nach dem Vorgang
von Bayle und Hamberger Wirbelsäule w und Brustbein st durch zwei
Vertikalen, von denen w fixiert gedacht ist, und die Rippen cs und ei durch
die beiden Schrägen des beweglich gedachten Parallelogramms (Fig. 3a) dar-
gestellt. Es ist klar, daß Verkürzung der dem Verlauf der Intercostales
externi entsprechenden geraden Linie e [welche an einem hölzernen Modell
durch einen Gummifaden oder tetanisierbaren Froschmuskel (Fick und Gad)
dargestellt werden kann] zur Hebung von st bei fixierter w führen muß, in-
dem diese Verkürzung nur mit einer Geradestreckung des Parallelogramms
möglich ist; umgekehrt muß
Verkürzung einerdem Verlauf
der Intercostales interni ent-
sprechenden Geraden (resp.
eines so.angeordneten Fadens
oder Froschmuskels) zur Sen-
kung von st führen. Nun
gehen ja aber (Fig. 3b) die
Rippen es und ci in die aufwärts gerichteten Rippenknorpel erts und erti
über, die erst an ihrem vorderen Ende durch st beweglich verbunden
sind. Es ist weiterhin klar, daß gleichzeitige Verkürzung von e und der dem
Verlauf der Intercartilaginei entsprechenden Geraden int. zur Streckung des
Winkels zwischen Rippen und Rippenknorpel und zum Vorwärtsstoßen des
Sternum st führen müssen. Die Intercartilaginei wirken zusammen
mit den Intercostales externi inspiratorisch [R. du Bois-Reymond
und Masoin°); Bergendal und Bergmann]®), und nur die (nicht sehr
weit nach hinten reichenden) Intercostales interni exspiratorisch; doch ist die
tatsächliche Beteiligung dieser Muskeln an den Atembewegungen, trotz
Anerkennung der Richtigkeit obiger Darstellung, auch auf Grund anatomischer
Untersuchung — noch neuerdings ganz geleugnet worden [Henle,
v. Ebner’), Weidenfeld#)], und nach meiner Ansicht für die ruhige
Atmung des Menschen mit Recht; wenigstens habe ich bei mehreren
Beobachtungen von vollständigen Pectoralisdefekten bei mageren Individuen
respiratorische Kontraktionen der Intercostalmuskeln niemals konstatieren
können. Daß sie nicht dennoch bei angestrengter Atmung und bei Tieren
Fig. 3.
?) Arch. f. (Anat. u.) Physiol., Suppl.-Bd., 1897, S. 43. — ?) A. a. 0. — ') Arch.
f. (Anat. u.) Physiol. 1896, S. 85. — *) Skand. Arch. f. Physiol. 7, 178, 1897. —
°) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1880, 8. 185. — °) Sitzungsber. d. Wien. Akad. 101,
421, 1892; 103, 24, 1894; Centralbl. f. Physiol. 10, 253, 1896.
12 Atemtypen.
auch normal im oben auseinandergesetzten Sinne funktionieren, soll damit
nicht geleugnet werden; für gewöhnlich spielen sie wohl mehr eine passive
Rolle, indem sie durch ihre tonische Kontraktion die Intercostalräume ver-
steifen und vor dem Eingedrücktwerden durch den äußeren Luftdruck be-
wahren, und indem sie ferner die Rippen untereinander verbinden, so daß
bei Hebung der oberen (durch die Mm. scaleni) die übrigen mitgehoben
werden.
Historisches. Gegen die Hambergersche Lehre wandten sich seiner Zeit vor
allen Boerhave und Haller mit dem Einwand, daß sie am Bänderpräparat von
menschlichen Leichen keine Wirkung im Sinne derselben erhalten konnten. Man
liest gewöhnlich, daß in diesem Punkte seines schon früher erwähnten lange
dauernden und heftigen Streites mit Hamberger Haller Unrecht behalten habe.
Andererseits entspricht, wie schon oben angedeutet, das ursprüngliche einfache
Hambergersche Modell (Fig. 3a) nicht der Wirklichkeit. Konstruiert man aber
ein Modell aus „Wirbelsäule“ und vielen, untereinander durch Fäden verbundenen
Rippen, so brauchen dieselben kein „Brustbein“ zur Parallelaufwärtsbewegung, und
man kann sie auch mit beweglichen, den Knorpeln entsprechenden Vorderteilen
mit den Intercartilaginei darstellenden Fäden kombinieren und so ein einwands-
freies Modell erhalten (R. du Bois-Reymond u. a.).
2. Die Veränderungen der Körpergestalt durch die Atem-
bewegungen, und deren Registrierung. Atemtypen.
Da die Muskelfasern des Zwerchfells von den unteren Rippen und dem
Sternum nach dem Centrum tendineum zu verlaufen, so sollte man meinen,
daß bei seiner inspiratorischen Kontraktion die untere Thoraxapertur verengert
werden müßte. Bei eröffneter Bauchhöhle am Versuchstier ist dies in der
Tat der Fall; bei normalen Verhältnissen aber drückt das Zwerchfell dabei
nach unten auf den Bauchinhalt, welcher außer durch Becken und Wirbel-
säule von elastischer Muskulatur allseits umschlossen ist, und, im allgemeinen
als flüssig anzusehen, wie jede unter Druck gesetzte Flüssigkeit das Bestreben
haben wird, die Gestalt anzunehmen, welche die kleinste Oberfläche mit dem
größten Inhalt verbindet, — nämlich Kugelform. Es werden also bei jedem
inspiratorischen Absteigen des Zwerchfells die Bauchdecken sich
vorwölben und durch Zug an der unteren Thoraxapertur diese erweitern:
man bezeichnet das als den abdominalen Atemtypus, und derselbe soll
beim Menschen in ruhiger normaler Atmung dem männlichen Geschlechte
zukommen, wogegen beim weiblichen Geschlechte schon in der Norm
Erweiterung des Brustkastens durch Tätigkeit der Rippenheber (besonders
der Scaleni) stattfindet, wobei diese Erweiterung äußerlich stärker aus-
gesprochen ist (Heben des Busens) als das inspiratorische Vortreten des Ab-
domens, sog. costaler Atemtypus. Natürlich müssen mechanische Hinder-
nisse für die’ Zwerchfellbewegungen (Schnürleib, Schwangerschaft, Tumoren
im Abdomen) das Vorwiegen der Rippenatmung verstärken; Tumoren und
Ascites werden sie auch beim männlichen Geschlecht erzeugen; andererseits
ist viel gestritten worden, wie weit von Natur der Atmungstypus bei beiden
Geschlechtern gleich oder verschieden ist. Bei Nichteuropäern soll in der
Tat der Unterschied nicht oder kaum vorhanden sein [Sewall und Pol-
lard!) u. a.].
!) Journ. of Physiol. 11, 159, 1890.
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Pneumographie. 13
4
Hutchinson!) hat die Exkursionen der Brust- und Bauchwand bei den ver-
schiedenen Atemtypen in Form von Schattenrissen dargestellt, welche, wenn auf
verschieden tiefe In- und Exspirationsstellungen bezogen, auch die später zu be-
sprechenden spirometrischen Werte graphisch erläutern können. Indessen muß
speziell für die Unterscheidung der Atemtypen berücksichtigt werden, daß Indi-
vidualität, Kleidung (s. oben) und Körperlage große Verschiedenheiten bedingen
werden [Hultkrantz?)]. Im Schlafe soll nach Mosso°) auch beim männlichen
Geschlecht Rippenatmung überwiegen. Durch Übung gelingt es ferner, Brust-
und Bauchatmung willkürlich voneinander unabhängig zu machen —
Sewall und Pollard, Mosso u. a.; besondere Virtuosität hat hierin Hultkranz?)
in Selbstversuchen bewiesen. Die hiermit zusammenhängende Frage nach dem
Grade der Unabhängigkeit resp. Koordination der Zwerchfell- und Rippenbewegung
wird bei der Innervation unten noch zur Sprache kommen.
. Messungen des Brustumfanges, resp. der verschiedenen Durch-
messer des Thorax in den verschiedenen Atemphasen sind schon sehr früh-
zeitig ausgeführt worden, da sie auf das Lungenvolumen und seine Ver-
änderungen bei der Respiration gewisse Rückschlüsse gestatten.
‘ So ist bei der Prüfung zur Militärdiensttauglichkeit die Messung des Brust-
umfanges in Mamillarhöhe bei Ruhestellung und bei höchster Inspirationsstellung
üblich.
Die dazu dienenden einfachen Vorrichtungen — Bandmaß, Tasterzirkel,
Sibbsons Thorakometer — bedürfen kaum der Erwähnung. Auch können
mit den einfachsten Mitteln — Fühlhebel od. ähnl. — die Exkursionen
einzelner Punkte der Körperoberfläche bei den Atembewegungen
graphisch registriert werden: Vierordt und G. Ludwig), Riegel’)
(Doppelstethograph) u. v. a. Weitergehende Rückschlüsse nicht nur auf die
Exkursionen einzelner Punkte und die Frequenz, sondern auch auf die Tiefe
und den zeitlichen Verlauf der einzelnen Atemzüge hat man machen zu
können geglaubt bei der Anwendung von Apparaten, welche die Durch-
messer- oder Umfangsänderungen der unteren Thoraxapertur
oder der Öberbauchgegend registrieren, meistens mit Hilfe hohler
elastischer Organe. Als solche ist direkt eine Mareysche (Aufnahme-)
Kapsel benutzt worden [etwa an einem Tasterzirkel befestigt [P. Bert®)],
oder in einem beweglichen Rahmen [recording Stethometer von Burdon
Sanderson?)]}, oder auch ein anderes Hohlorgan, am einfachsten eine flache
Flasche aus Weichgummi, welche vermittelst Lederriemen um die Oberbauch-
gegend geschnallt und durch Schlauch mit der Mareyschen Schreibkapsel
verbunden wird (Knoll). Alle diese Vorrichtungen ergeben Kurven, deren
aufsteigender Schenkel die Inspiration, deren absteigender Schenkel die Exspi-
ration darstellt (vgl. Fig. 6, obere Kurve, auf S. 17). Dagegen gibt der
durch Bert modifizierte Pneumograph von Marey°), dessen Hohlorgan
aus einem Metalleylinder mit zwei Gummi-Endmembranen besteht, an welchen
der Leibriemen angreift, dessen Volumen also bei der Inspiration durch die
. Artikel Thorax in Todds Cyclopaedia, 8. 1080 ff. — °) Skandinav. Arch.
2. Physiol. 3, 70, 1891. — °) Atti r. Accad. Torino 1897; Arch. f. (Anat. u.)
Physiol. 1878, 8. 463. — *) Arch. £. physiol. Heilkunde 14, 253, 1855. — °) Die
Atembewegungen. Würzburg 1873. — °) Arch. de physiol. 2, 178, 1869. — ’) Hand-
book for the physiol. Laboratory, 8. 291, Taf. 94. — °) Marey, Du Mouvement
dans les fonctions de la vie, Paris 1868; La Methode graphique, ebenda 1873;
Bert a.a. O0.
14 Frequenz, Tiefe und Verlauf der Atemzüge.
\
Drehung der Membranen vergrößert wird, natürlich Kurven, bei denen der
absteigende. Schenkel die Inspiration anzeigt.
Sichere Kenntnis der Tiefe und des zeitlichen Verlaufs der
„Atemzüge*, im Sinne der Volumänderungen der Lungen als Re-
sultierenden der Atembewegungen, können solche Vorrichtungen in-
dessen keineswegs vermitteln, indem einmal Vorwölbung des Abdomens
gleichzeitig mit exspiratorischer Thoraxkompression denkbar ist, und um-
gekehrt !), ferner aber allgemeine Körperbewegungen (asphyktische Krämpfe
od. ähnl.) die Registrierung so stören, daß sie völlig. unbrauchbar wird.
Sicherere Ergebnisse, insofern sie wenigstens die Kontraktionen des Haupt-
inspirationsmuskels, nämlich des Zwerchfells, treu registrieren, geben die
Phrenographen, wie sie besonders Rosenthal konstruiert hat?); sie sind
aber, wegen der zu ihrer Applikation nötigen Bauchwunde, nur im Tier-
versuch zu brauchen.
3. Frequenz, Tiefe und zeitlicher Verlauf der Atemzüge.
Schwankungen des Lungenvolumens und Spirometrie,
Einfache Beobachtung wie auch Registrierung der Atembewegungen mit
den soeben aufgezählten einfachen Mitteln gibt Aufschluß: 1. über die Fre-
quenz der „Atemzüge“ (wie man die Kombination einer einmaligen In-
und Exspiration nennt); sie kann beim erwachsenen Menschen im
Mittel zu 17 (15 bis 20) in der Minute angenommen werden; sie ist ab-
hängig vom Wachen oder Schlafen — im Schlafe etwas verringert —,
Körperlage — im Liegen geringer als im Sitzen und Stehen —, Muskelarbeit,
Temperatur, ferner willkürlich veränderbar. Die Besprechung des Mechanis-
mus dieser Dinge gehört in das Kapitel der Innervation; endlich ist sie
ebenso wie die Pulsfrequenz abhängig von der Körperlänge; man rechnet
durchschnittlich einen Atemzug auf vier bis fünf Pulse. Bei Kindern ist
die Atmung frequenter als bei Erwachsenen und bei kleinen Tier-
arten frequenter als bei großen (sehr häufige Atembewegungen kleiner
Nagetiere).
Außerdem zeigen die in Rede stehenden Methoden die Unterschiede an
Ergiebigkeit der Atembewegungen, insofern bei jedem Atemzug die Kon-
traktionsgröße der, dabei beteiligten Muskeln (Zwerchfell usw.), dementsprechend
die Exkursion der Bauch- und Brustwand, und demzufolge die Größe der
Volumänderung von Brustraum und Lunge eine verschiedene sein kann. Man
faßt dies als „Tiefe* des Atemzuges zusammen. Endlich erkennt man
unschwer als Merkmale des zeitlichen Verlaufs der normalen Atemzüge, daß
die Inspirationsbewegung rasch erfolgt und von kurzer Dauer ist,
— normal nicht in die Länge gezogen mit einem tetanischen „Plateau“ der
Kurve oder sog. inspiratorischen Pause, vgl. dagegen die unten zu schildern-
den Folgen der Vagusdurchschneidung —, daß sie vielmehr plötzlich
unterbrochen wird durch die Exspirationsbewegung, welche an-
!) Von Sewall und Pollard (a. a. O.) tatsächlich durchgeführt, speziell
zur Erzeugung tiefer (Brust-) und hoher (Kopf-) Töne. — ?*) Die Atembewegungen
und ihre Beziehungen zum N. Vagus, 8. 50; vereinfachte Form in Hermanns
Handbuch 4, 2. Hälfte, 275, 1882.
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Spirometrie. 15
fangs ebenfalls rasch erfolgt, dann aber immer langsamer wird
und schließlich mehr oder weniger unmerklich geworden ist,
wenn die nächste Inspiration einsetzt: relative oder absolute
exspiratorische Atempause (siehe Fig. 6).
Indessen kann solche Beobachtung oder Registrierung einzelner Faktoren
keinerlei sicheren Aufschluß erteilen hinsichtlich der quantitativen Werte,
bzw. deren zeitlichen Ve ränderungen für die Gesamtresultierende
der Atembewegungen — und als solche erscheint uns doch nach der
am Anfang dieses Abschnittes gegebenen Definition die Volumveränderung
der Lungen. Die Feststellung der jeweiligen Größe dieser Volumverände-
rung ist nun am Lebenden ohne weiteres möglich durch luftdichte Verbindung
der Luftwege mit einem. kalibrierten Gaso- Fig. 4.
meter, welches in bezug auf diese Verwendung
als Spirometer bezeichnet wird, und die
Messung der Lungenvolumänderung als Spi-
rometrie; diese Namen stammen von Hut-
ehinson!), welcher zuerst für diesen Zweck
ein einfaches Glockengasometer mit Rolle und
Gegengewicht empfahl (eine im verkleinerten
Maßstabe demjenigen der Gasbereitungs-
anstalten entsprechende Konstruktion); solche
Spirometer sind mit unwesentlicher Modifi-
kation von Wintrich2), Panum?) und vielen
anderen benutzt worden (siehe nebenstehende
halbschematische Fig. 4). Der Hutchinson-
sche Grundversuch besteht darin, daß man
so tief als möglich einatmet und dann
bei geschlossener Nase und luftdicht ange-
paßtem Mundstück soweit wie irgend
möglich in das Spirometer hinein aus-
atmet. Das hiernach abgelesene Luftvolumen,
entsprechend der Volumendifferenz zwischen äußerster In- und äußerster
Exspirationsstellung wird als „Vitalkapazität“ bezeichnet. Ihr Mittelwert
beträgt für erwachsene kräftige Männer nach Hutchinson!) und Arnold)
3770 cem. Er ist selbstverständlich starken Schwankungen unterworfen, beim
weiblichen Geschlecht kleiner, bei Völkern von geringerer mittlerer Körper-
größe desgleichen (obiger Wert paßt eher auf Engländer und Norddeutsche,
als auf Franzosen, Italiener oder gar Japaner); bei Individuen mit außer-
gewöhnlich kräftig gebauter Brust und durch Übung ausgiebigen Atem-
bewegungen (Bläser von Militärmusikkapellen) kann er selbst 4 Liter weit
übersteigen.
Man machte sich in früheren Zeiten übertriebene Erwartungen von der
Bedeutung der Beobachtung der Vitalkapazität für die Diagnose von Lungenkrank-
heiten, speziell Phthisis. Es versteht sich, daß ausgedehnte Anektasen, Emphyseme
?) Medico-chirurg. Transact. 29, 137, 1846; übers. von Samosch, Braun-
schweig 1849. — ?) Krankheiten der Atmungsorgane in Virchows Handbuch 4, 2;
1857. — ®) Pflügerg Arch. 1, 150, 1868. — *) Über die Atemgröße des Menschen,
Heidelberg 1855.
16 Atemvolumschreiber.
oder Infiltrationen die Vitalkapazität herabsetzen werden; indessen wird bei den
großen individuellen Verschiedenheiten eine solche Veränderung nur bei spiro-
metrischer Untersuchung desselben Menschen im gesunden und später im kranken
Zustande erkennbar sein; da ferner die geringen Veränderungen im Beginn der
Phthise den in Rede stehenden Wert noch gar nicht beeinflussen, kann von einer
diagnostischen Bedeutung der Spirometrie heutzutage kaum mehr die Rede sein.
Auch das Luftvolumen eines gewöhnlichen zuhigen Atemzuges
läßt sich durch Ausatmen in das Spirometer messen; man bezeichnet seinen
Wert als die „Respirationsluft“ (Atemluft) und rechnet ihn im Mittel
beim erwachsenen Menschen zu einem halben Liter, 500 ccm; natürlich wird
er auch in der Norm innerhalb gewisser Grenzen schwanken, und man wird
deshalb den Mittelwert der während einer größeren Periode proZeit-
einheit ein- und ausgeatmeten Luft, oder die „Atemgröße“* (Arnold),
wie man ihn im Gegensatz zur „Tiefe“ jedes einzelnen Atemzuges nennt,
lieber durch „Gasuhren“ oder ähnliche Vorrichtungen unter Einschaltung
von T-Rohr und Ventilen zur Trennung der In- und Exspirationsluft messen,
— Methoden, welche im vorhergehenden Abschnitt bei der Besprechung der
quantitativen Untersuchung des Gaswechsels genügend behandelt worden sind.
Endlich läßt sich die Differenz zwischen der gewöhnlichen Respirations-
luft und der Vitalkapazität auch noch spirometrisch in zwei Teile sondern,
indem man nämlich erstens von tiefster bis zu gewöhnlicher Inspirations-
stellung in das Spirometer ausatmet (oder von letzterer zu ersterer aus dem-
selben einatmet). Das so erhaltene Luftvolumen, welches außer dem gewöhn-
lich geatmeten sich überhaupt noch bei äußerster Erweiterung in die Lunge
aufnehmen läßt, heißt die Komplementär- oder Ergänzungsluft.
Andererseits kann man auch nach gewöhnlicher Exspiration weiter in das
Spirometer hinein ausatmen bis zur äußersten beim Lebenden möglichen
Kompression der Lungen und erhält so das Volumen, welches man Reserve-
oder Hilfsluft nennt. Jeder der beiden letztgenannten Werte kann im
Mittel gleich 1600 ccm gesetzt werden, denn Komplementärluft + Respirations-
luft + Reserveluft müssen natürlich gleich der gesamten Vitalkapazität sein:
1600 + 500 + 1600 = 3700 cem.
Es läßt sich dies leicht graphisch darstellen und auch leicht direkt mit
einem Zuge registrieren, wenn man das Spirometer gut äquilibriert
und durch Anbringung eines Schreibstiftes auf einer horizontal bewegten
Fläche schreiben läßt, wie das schon Panum eingerichtet hat; man ist be-
strebt gewesen, durch möglichst geringes Gewicht, leichte Beweglichkeit und
völlige Äquilibrierung des bewegten Spirometergefäßes zu erreichen, daß eine
‘derartige Vorrichtung auch den zeitlichen Verlauf der Schwankungen des
Lungenvolumens möglichst treu wiedergebe, womit in der Tat die voll-
kommenste Art der Registrierung der Gesamtresultierenden der
Atembewegungen erreicht wäre: — so Gad!) mit der Konstruktion
seines „Aöroplethysmographen“ oder „Atemvolumschreibers“, bei welchem
die „Glocke“ durch einen parallelepipedischen „Deckel“ ersetzt ist, welcher sich
um eine einer Kante parallele horizontale Achse im Kreisbogen auf- und ab-
wärts bewegt und mit seinen Rändern in eine am Umfange des unteren Ge-
fäßes angebrachte, behufs Abdichtung mit Wasser gefüllte Rinne eintaucht;
!) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1879, 8. 181.
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Atemkurven. 17
derselbe ist aus sehr leichtem Material (dünne Glimmerplatten, ev. Kupfer-
'bleche, nach meinen Erfahrungen zweckmäßig aus dünnem Aluminium-
blech) gebildet und durch
ein senkrecht zur Achse
verschiebbares Laufgewicht
genau äquilibriert (Fig. 5).
Er kann je nach seiner
Verwendung für den Men-
schen oder Tiere verschie-
denster Artin verschiedenen
Größen ausgeführt und zu
längerdauernder Registrierung der Atmung benutzt werden,
wenn zwischen ihn und das Versuchstier eine große Flasche
als „Vorlage* zwischengeschaltet wird, deren Luftinhalt öfter erneuert
werden muß, um Dyspnoe zu vermeiden.
Fig. 5.
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Eine gewisse Trägheit und zu große Reibung haftet diesem Apparat entschieden
immer noch an, meistens sind an seiner Stelle neuerdings wieder registrierende
kleine Glockengasometer verwendet worden, so von Lindhagen!), sowie in Gads
Laboratorium selbst von R. F. Fuchs?) in Gestalt kleiner Glocken aus paraffi-
niertem Papier. Sehr empfehlenswert scheint für kleinere Tiere auch die Verwen-
dung der von Brodie®) konstruierten „Balgenschreiber“ (bellows recorder) zu sein,
jedenfalls besser als die von Mareyschen Kapseln — Methode von Hering und
P. Bert —, welche, wenn groß und mit nachgiebigen Membranen versehen, aller-
dings Volumschwankungen anzeigen, durch ihre Elastizität aber von-Haus aus
manometrische Vorrichtungen sind, weshalb diese Methode auch erst weiter unten
bei der Besprechung der Druckregistrierung näher gewürdigt werden soll.
Natürlich kann auch jedes solche schreibende Spirometer unter Einschaltung
von Ventilen zur Trennung der In- und Exspirationsluft zum Zwecke der Messung
der Atemgröße benutzt werden; man erhält dann eine treppenförmige Kurve, deren
einzelne Stufen durch ihre Höhen die Tiefe der einzelnen Atemzüge angeben.
Die luftdichte Verbindung mit den Atemwegen kann beim Menschen
‚und auch im Tierversuch durch eine luftdicht festgebundene Gesichtsmaske
resp. Schnauzenkappe, im letztgenannten Falle besser durch eine
Trachealkanüle erfolgen, welche in die Tracheotomiewunde luftdicht ein-
gebunden wird.
Die Trachealkanüle muß, wenn „endständig“, natürlich mit der Öffnung nach
der Lunge zu eingebunden werden. Recht zweckmäßig sind auch die Gadschen
Trachealkanülen mit Dreiweghahn, welche gestatten, abwechselnd durch Hahn-
drehung aus der Vorlage und durch die Nase aus der freien Luft zu atmen, be-
sonders für Versuche am Kaninchen, welche, wie seinerzeit Billroth fand, mit
gewöhnlichen Trachealkanülen nur kurze Zeit am Leben bleiben.
Fig. 6 gibt in der unteren Kurve einen Begriff
der Registrierung der Lungenvolumschwankungen
mit einem solchen „Atemvolumschreiber* — die in-
spiratorischen Zacken sind nach unten gerichtet —,
in der oberen Kurve die mit den oben erwähnten
Knollschen pneumatischen Vorrichtungen regi-
Y) Skand. Arch. f. Physiol. 4, 296, 1892. — °) Lotos 1898. — °) Journ. of
Physiol. 27, 473, 1902.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 2
18 Residualluftbestimmung.
strierten Umfangsschwankungen der Oberbauchgegend — die inspiratorischen
Zacken sind nach oben gerichtet.
Fig. 7 zeigt die vom Menschen (willkürlich , und daher beim Tier Pe
unmögliche) am Atemvolumschreiber in einem Zuge ausgeführte Darstellung
Fig. 7. der Respirationsluft, Komplementärluft,
FR gesamten Vitalkapazität, Reserveluft
4500 und wieder Respirationsluft.
4000 Der direkten spirometrischen
Bestimmung naturgemäß unzu-
gänglich ist das Volumen der-
jenigen Luft, welche auch nach
stärkster Exspiration noch in den
Lungen zurückbleibt, die „rück-
ai ® [ ständige“ oder „Residualluft“.
; Man hat schon frühzeitig ver-
2 x ] Fr sucht, diesem Wert durch Messungen
ya; V an der Leiche beizukommen: Good-
x ne „wyn!) (1786), welcher die Thorax-
* stellung bei der Leiche fälschlich für
die äußerste Exspirationsstellung ansah, füllte die eröffneten Pleurahöhlen
menschlicher Leichen mit Wasser und sah das dazu nötige Volumen für
dasjenige der rückständigen Luft an; er erhielt so bei natürlichen Todes
gestorbenen Personen im Mittel 109 Cubikzoll gleich 1788 cem. In neuerer
Zeit hat auf Hermanns Veranlassung Jacobson?) bei menschlichen Leichen
durch Kompression des Abdomens äußerste Exspirationsstellung herzustellen
versucht, hierauf die Trachea fest zugeklemmt und von den so heraus-
präparierten, offenbar innerhalb der Grenzen der dieser primitiven Methode
anhaftenden Versuchsfehler gerade die Residualluft enthaltenden Lungen
durch Eintauchen in ein vollgefülltes Gefäß das Volumen (gleich demjenigen
des überfließenden Wassers) bestimmt. Hiervon war noch dasjenige der
Lungensubstanz selbst abzuziehen, welches durch Wägung der Lungen und
Division mit der wahrscheinlichen Dichte der Lungensubstanz erhalten
- wurde: so ergab sich als Mittel aus neun Versuchen 981ccm, aus zwei
Fällen mit ganz normalen Lungen 914,5 cem.
Sehr zahlreich sind die mit Zuhilfenahme indirekter Methoden aus-
geführten Untersuchungen. Hierher gehört zunächst die Methode der
Mischung derin den Lungen enthaltenen Luft mit einem be-
kannten Volumen eines fremden Gases und Untersuchung der Zu-
sammensetzung des so erhaltenen Gemisches, woraus sich das Volumen
der in den Lungen enthalten gewesenen Luft nach der Regeldetri ohne
weiteres ergibt. Humphrey Davy?), welcher diese Methode 1803 erfand,
ging von der tiefsten Exspirationsstellung aus und atmete siebenmal schnell
in ein mit Wasserstoff gefülltes Gasometer aus und ein, um dann wieder äußerste
.") The connexion of life with respiration ete., London 1788. Deutsch von
Michaelis, Leipzig 1790; zit. nach Berenstein (s. u.). — ?) Pflügers Arch. 43,
236 u. 440, 1888; Diss., Königsberg 1889. — °?) Untersuchungen über das oxydierte
Stickgas und Äns Atmen desselben. Deutsche Übers. 2, 70, Lemgo 1814; zit. nach
Berenstein.
Residualluftbestimmung. 19
Exspirationsstellung einzunehmen. Der aus seinem (mit den nötigen Korrek-
turen versehenen) Analysenwerte des Mischgases direkt für die Residualluft
sich ergebende Wert würde 602 ccm betragen. Ohne Davys Versuch zu
kennen, erfand Gr&hant!) die gleiche Methode von neuem und stellte fest,
daß fünf Atemzüge zur völligen Mischung genügen; er ging aber von der
gewöhnlichen Exspirationsstellung beim ruhigen Atmen aus, erhielt also als
Lungeninhalt Reserve- + Residualluft, und zwar Mittelwerte um 2800
herum 2); zieht man hiervon die wie oben zu 1600 ccm veranschlagte Reserve-
luft ab; so blieben 1200 ccm als Mittelwert der Residualluft.
Fehlerquelle war bei Davy. die durch das Beginnen mit äußerster
Exspirationsstellung hervorgerufene Dyspnoe, bei Gr&ehant dagegen die Un-
sicherheit der Ausgangsstellung; um beides zu vermeiden, benutzte Beren-
stein?) unter Hermanns Leitung zwei Spirometer; aus dem einen mit
Wasserstoff gefüllten A wurde mehrmals hin und her geatmet und mit äußerster
Exspirationsstellung abgeschlossen; die so den gleichen Prozentgehalt Wasser-
stoff wie A enthaltende Residualluft in der Lunge wurde dann (durch Hahn-
umstellung) mit einem zweiten mit einem genau bekannten Luftvolumen V
gefüllten Spirometer B verbunden und wieder mehrmals geatmet, zum Schluß
die Prozentgehalte Wasserstoff in beiden Gasometern a und b bestimmt; es
ergibt sich aus einfachster Betrachtung:
Residualluft x — a,
a—b
Als Mittelwert aus seinen Bestimmungen nennt Berenstein 800 ccm.
Ausgehend von Analysen, welche beweisen sollen, daß die Alveolarluft
beim Menschen am Schlusse einer normalen Exspiration eine konstante Zu-
sammensetzung mit 80 Proz. Stickstoff besitzt, hat endlich neuestens Durig®)
ein Mischverfahren unter Benutzung eines sehr sauerstoffreichen Gasgemenges
von bestimmter Zusammensetzung benutzt und als Mittelwert für die Größe
der Residualluft bei normalen Personen 1000 bis 1250 cem gefunden; die
Methode soll nur mit sehr geringen Fehlerquellen behaftet sein (s. das Ori-
ginal. Indem wir angebliche Schätzungen des Residualluftwertes durch
Hutchinson, sowie Ableitungen aus dessen Brustmessungen [Speck 5)],
sowie die Methode von Allen und Pepys‘) als zweifellos fehlerhaft hier
übergehen, haben wir als zweite Hauptmethode der indirekten Re-
sidualluftbestimmung die sog. pneumatometrische (Pneumatometrie gleich
Atmungsdruckmessung, siehe unten) zu erwähnen; ihre Erfindung stammt
von Harleß”), der aber keine Ergebnisse veröffentlicht hat. Sie beruht
auf der umgekehrten Proportionalität zwischen Volumen und Druck nach
dem Gesetz von Boyle-Mariotte: wird aus einem Manometer resp. mit
derartigem versehenen starren Luftgefäß eingeatmet, so verhält sich der ver-
minderte Druck b— d, zu dem ursprünglich vorhandenen b wie das Thorax-
volumen v am Beginn zu dem durch die Inspiration vergrößerten v + d,;
Y) Journ. de l’anat. et de la physiol. 1864, 8. 523. — *) Grenzen 2190 bis 3220 ccm. —
®) Pflügers Arch. 50, 363 u. Diss., Dorpat 1891. — *) Zentralbl. f. Physiol. 17, 258,
1903. — °) Deutsch. Arch. f. klin. Med. 33, 72, 1883. — °) Philos. Transact. Roy.
Soc. 1809; Schweiggers Journ. f. Chem. u. Phys. 1, 200, 1811. — 7) Münchener
gelehrte Anzeigen, Sept. 1854, 8. 93.
9%*
4
20 Ventilation der Lungen.
man erhält also v (als Residualluft + Reserveluft oder Residualluft allein je
nach der Ausgangsstellung) einfach nach der Gleichung:
® b—dy
v—+d, : b
oder
_ db—dı)
ae re
Indem er die Thoraxerweiterung gleich der Vitalkapazität zu machen
suchte, fand nach diesem Prinzip Neupauer!) den ungeheuerlichen Wert von
19,8 Liter, Waldenburg?), indem er zwischen das Manometer und die Ver-
suchsperson einen Luftraum einschaltete, in Gestalt eines spirometerähnlich
Fig. 8. beweglichen „pneumatischen Apparates“, welcher
gleich die Thoraxerweiterung messen sollte, immer
2 noch fast 12 Liter! Wesentlich verbessert wurde
das Verfahren durch Gad’), welcher das Versuchs-
: individuum in einen großen, dicht verschlossenen
KL Zylinder c setzte und vermittelst eines durch
dessen Wand hindurchgehenden Rohres r, aus dem
draußen befindlichen Manometer m einatmen ließ,
während ein mit dem Zylinderraum durch r, ver-
.bundener Atemvolumschreiber pl seine Thorax-
erweiterung ‚angibt (Fig. 8). In einer Reihe von
an sich selbst angestellten Versuchen erhielt so Gad für die Residualluft
Werte gleich einem Drittel bis zur Hälfte der Vitalkapazität, also 1200
bis 1800 cem.
Etwas abweichend hat endlich Kochs*) vermittelst eines von Pflüger’)
konstruierten „Pneumonometers“ ein bestimmtes Luftquantum passiv aus
der Lunge heraussaugen lassen und die dabei stattfindende Druckverminde-
rung beobachtet. Die Schwierigkeit liegt hier in der Forderung des völligen
Stillhaltens in einer bestimmten Respirationsstellung seitens der Versuchs-
person, weshalb die erhaltenen, auffällig niedrigen Mittelwerte (500 ccm)
wohl kaum mitrechnen. Im übrigen bildet stets eine Fehlerquelle die Kom-
pression resp. Dekompression der Darmgase und eine wichtige, oft übersehene
Korrektur die Berücksichtigung der Wasserdampfspannung: siehe hierüber
unter anderem die lange Polemik zwischen Schenck und Hermann) in
Sachen der Residualluft, sowie auch neuerdings von Wengler’) gemachte
Bemerkungen über die Fehlerquellen bei der Spirometrie.
Bedenkt man ferner, daß auch bei der Residualluft bedeutende
Unterschiede durch Alter, Geschlecht, Körpergröße und etwaige pathologische
Veränderungen bedingt sein müssen, so wird man wohl als Grenzwerte
800 und 1600 und als allgemeinen Mittelwert etwa 1200cem hin-
stellen dürfen.
®
!) Deutsch. Arch. f. klin. Med. 23, 481, 1879. — *) Die pneumatische Be-
handlung der Respirations- und Zirkulationskrankheiten 1880, 8. 131. — ®) Tage-
blatt der 54. deutschen Naturforscherversammlung, Salzburg 1881. — *) Zeitschr.
f. klin. Med. 7, 487, 1884. — °) Pflügers Arch. 29, 244, 1882. — °) Ebenda 55,
191, 1894; 57, 387, 1894; 58, 233, 1894; 59, 165 u. 554, 1895; 60, 249, 1895. —
”) Ebenda 95, 297, 1903. ;
Atemschwankungen des intrapleuralen Druckes. 21
Als mittleren Luftgehalt der Lungen hätte man dann zu setzen
die Summe Residualluft + Reserveluft + etwa die Hälfte der Respirations-
luft (eigentlich weniger, da die exspiratorische Phase länger dauert als die in-
spiratorische), also 1200 + 1600 + 250 oder weniger Öubikcentimeter,in Summa
rund 3000, von denen bei jedem Atemzuge 500 erneuert wurden; also wäre
der „Ventilationsquotient“* der normalen Atmung beim Er-
wachsenen — einem Sechstel; größer ist er beim Neugeborenen, wo in
Exspirationssteliung noch keine Thoraxaspiration vorhanden ist und die Re-
sidualluft gleich demjenigen Anteil derselben beim Erwachsenen ist, welchen
- Hermann!) als „Minimalluft“ bezeichnet hat; nämlich dasjenige Quantum,
welches auch in der kollabierten Lunge zurückbleibt, während er dasjenige
Volumen, welches bei dem Kollabieren entweicht, als „Kollapsluft“ be-
zeichnete.
4. Respiratorische Schwankungen des intrapleuralen und des
intrapulmonalen Druckes. Pneumatometrie.
Es leuchtet ohne weiteres ein, daß bei der aktiven inspiratorischen Er-
weiterung des Thoraxraumes, deren Zuge die elastische, schon in ihrer Ruhe-
lage gedehnte Lunge folgen muß, die Spannung der letzteren und damit ihr
Ausdruck, die Druckdifferenz in der capillaren Pleuraspalte, größer werden
muß, — wie auch, daß diese absinken muß bei aktiver Kompression des
elastischen Thorax durch die Exspirationsmuskeln über dessen Gleichgewichts-
lage hinaus, wobei ja die Lungendehnung vermindert wird. Nur die inspi-
ratorische Vergrößerung der intrapleuralen Druckdifferenz (des
„negativen Drucks“, vgl. oben), die inspiratorische Vergrößerung der „Aspi-
ration des Thorax“ ist bisher Gegenstand der Messung gewesen. Donders?)
erhielt bei Anstellung seines Versuches Vermehrung des Manometeranstiegs
von 6 auf etwa 30mm, Hutchinson desgl. von 13,5 auf 37,6 mm Queck-
silber, wenn zuvor die Lunge zur Nachahmung einer tiefen Inspiration künst-
lich ausgedehnt resp. aufgeblasen war; davon, daß Bernstein bei Auf-
blasung der Fötuslunge auch bereits einen Aspirationswert erhielt, war oben
die Rede. Bei der Verbindung des Herzbeutels mit dem Manometer fanden
Adamkiewiez und Jacobson) am Kaninchen Vermehrung des Manometer-
absinkens bis auf 9mm bei dyspnoischer Atmung; Aron*) an der Pleura-
spalte des lebenden Menschen Absinken bis um 7 mm bei der Inspiration.
Man hat wohl die pleurale Druckdifferenz und die passive Erweiterung der
Lungen bei der Inspiration durch ein „Atmungsmodell“ zu veranschaulichen
gesucht, indem man in eine oben tubulierte, unten offene Glasglocke ein frisches,
aus beiden Lungen (event. Herz) und Trachea bestehendes Präparat vom Kaninchen
oder der Katze befestigt, derart, daß ein den die Glocke verschließenden Stopfen
durchsetzendes Glasrohr in die Trachea luftdicht eingebunden ist; ein zweites den
Stopfen durchsetzendes Rohr ist außen rechtwinklig umgebogen und mit Hahn ver-
sehen; hierauf wird die Glocke unten durch eine feuchte tierische Blase oder eine
Gummimembran verschlossen, an welcher unten ein Handgriff (in einen Zulp der
Blase eingebundener Kork) befestigt ist. Durch Saugen an dem umgebogenen Rohr
und sofortiges Verschließen des Hahnes läßt sich in dem Raum zwischen Glasglocke
und Lungenpräparat eine Luftverdünnung herstellen, welche zur Aufblähung der
») A. a. 0. u. Lehrb.d. Physiol., 12. Aufl., 8. 130. — ?) A.a.0.— °)A.a.0.—
3... 9,
22 Pneumatometrie.
Lunge und Einziehung der Blase, welche das Zwerchfell nachahmt, nach oben
führt. Zieht man unten vermittelst des Handgriffs die Blase herab (= Zwerchfell-
kontraktion); so wird die Lunge passiv in höherem Maße erweitert, entsprechend
der Inspiration; läßt man mit dem Zuge nach, so wölbt sich die Blase wieder auf,
und die Lunge verkleinert sich wieder. Auch kann man einen Seitenast des An-
saugerohrs diesseits des Hahnes mit einem Manometer verbinden, welches die Ver-
dünnungsgrößen in der Glocke anzeigt (entsprechend dem Troicartversuch), sowie
auch das Trachealrohr außen endständig mit einem Manometer verbinden, welches
steigt, wenn man den Ansaugehahn öffnet (entsprechend dem Dondersschen Ver-
such). Mangelhaft ist das Modell freilich insofern, als ein wirklicher luftver-
dünnter Zwischenraum zwischen der Glocke und den Lungen vorhanden ist, statt
der capillaren Pleuraspalte, und insofern als erstere einen starrwandigen Körper
bildet, im Gegensatz zu dem elastischen Thorax mit variablem Binnenraum.
Die „Aspiration des Thorax“ und ihre Schwankungen durch
die Atembewegungen beeinflussen natürlich auch die übrigen
Brustorgane. Von den Messungen der Druckdifferenz vermittelst der
Ösophagussonde ist schon oben die Rede gewesen; Rosenthal!) hat durch
Verbindung derselben mit einer Mareyschen Schreibkapsel auch den zeit-
lichen Verlauf der intrathorakalen Druckschwankungen graphisch regi-
striert. }
Selbstverständlich müssen diese Schwankungen von großem Einfluß
auf die Blutbewegung sein, da ja das Herz und die Ursprünge der
großen Körpergefäße innerhalb des Thorax liegen. Bei der Lungenhälfte des
Kreislaufs (dem sog. kleinen Kreislauf) wird ja wesentlich nur die Strömung
des Blutes in den Lungencapillaren eine rhythmische Alteration erfahren, wo-
gegen bei der Körperhälfte (dem sog. großen Kreislauf) durch die Inspiration
die systolische Entleerung des linken Ventrikels erschwert, die Rückkehr des
venösen Blutes zum rechten Herzen durch die vermehrte Thoraxaspiration
dagegen erleichtert wird, und umgekehrt durch die Exspiration die systolische
Entleerung des linken Ventrikels erleichtert, die Rückkehr des venösen Blutes
zum rechten Herzen dagegen, weil mehr der vis a tergo allein überlassen,
erschwert wird. Hierauf beruht bekanntlich der sog. mechanische Faktor
der „respiratorischen Blutdruckschwankungen“, welcher bei vielen Tierarten
allein ausschlaggebend ist, während er bei anderen durch sog. nervöse Faktoren
beeinflußt, ja derart überkompensiert wird, daß statt der durch ihn erzeugten
inspiratorischen Senkung und exspiratorischen Steigerung des arteriellen
Blutdruckes geradezu das Gegenteil auftritt; diese Dinge sind in dem Ab-
schnitt über den Kreislauf und seine Innervation genügend erörtert. Wie
gesagt, höchst wichtig ist die inspiratorische Ansaugung für den Blutstrom
in den großen Körpervenen: rhythmische Druckschwankungen mit inspiratori-
schem Absinken sind besonders an den Venen der unteren Extremitäten bei
Tieren registriert worden durch Wertheimer?), und die venöse Stauung bei
mechanischer Atembehinderung zählt zu den Grundtatsachen der Pathologie.
Besonders befördert werden durch die Aspiration des Thorax muß endlich
auch der Lymphstrom, dessen Einmündung in den Blutstrom ja ohnehin
an einer Stelle stattfindet, wo die vis a tergo vom Herzen her so gut wie er-
schöpft ist, so daß ein Eindringen von Blut in die Lymphbahn verhindert ist.
?) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1880, Suppl.-Bd., 8. 34. — ?) Arch. de physiol.,
Ser. 5, 7, 107, 1895.
Atmungsdruckwerte. 93
Von der Messung der intrapleuralen Druckdifferenz und ihrer Verände-
rungen ist zu unterscheiden diejenige der Druckverhältnisse innerhalb
der Lungen und der Luftwege, welche man als „Pneumatometrie“
bezeichnet hat. Als Pneumatometer kann ein einfaches, aus einem U -för-
migen Glasrohr bestehendes Manometer dienen, welches mit Quecksilber oder
bei kleinen Druckdifferenzen zweckmäßiger mit (event. gefärbtem) Wasser
beschickt ist. Es muß nun streng unterschieden werden, ob dasselbe „end-
ständig“, d. h.: unter Abschluß der äußeren Luft mit Luftwegen und
aha areTee verbunden wird, oder ob es, in unten näher zu erörternder
Weise seitenständig angebracht, zur Untersuchung der respiratorischen
Schwankungen des Seitendruckes in den Luftwegen dienen soll. Zu Versuchen
der ersteren Art wird es beim Tierversuch, wo die intrapulmonalen Druck-
schwankungen während längerer Atmungsdauer gemessen, event. re-
gistriert werden sollen, unter Einschaltung einer „Vorlage“ mit
größerem Luftraum (wie beim Atemvolumschreiber, s. oben) mit der Schnauzen-
kappe oder Trachealkanüle zu verbinden sein; zur Untersuchung der, ins-
besondere maximalen, intrapulmonalen Druckschwankungen bei insbesondere
willkürlich möglichst vertiefter Inspiration und verstärkter Exspiration beim
Menschen, wird man die Versuchsperson (vermittelst dichten Mundstückes bei
zugehaltener Nase oder vermittelst Gesichtsmaske und Schlauch) direkt ins
Manometer „blasen“ oder aus demselben „saugen“ lassen. Die so erhaltenen
Werte sind recht verschieden. Valentin!) fand für gewöhnliche Atmung
Druckschwankungen von 4 bis 1O mm Quecksilber, bei angestrengter Atmung
bis zu 40 mm, die maximale inspiratorische Drucksenkung zu 144, die maxi-
male exspiratorische Drucksteigerung bis zu 256 mm Quecksilber, Mendel-
sohn?) letztere nur bis zu !/, Atm. gleich 108mm; Hutchinson gibt
— 50 und + 76mm Quecksilber an, für welche Atemtiefe ist nicht gesagt.
Die Schwankungen rühren wohl von dem größeren oder geringeren Grade der
Vollkommenheit des luftdichten Abschlusses her; besonders wichtig ist dieses auch
für die Angaben über Exspirationsdruck beim Spielen (der Blasinstru-
mente [Stone?°)]; bei Angabe hoher Töne auf der Trompete, wo die Lippen fast
ganz geschlossen sind, somit einen hohen Widerstand bieten, fand dieser Forscher
33 engl. Zoll Wassersäule = 60 mm Quecksilber.
Zur fortlaufenden Registrierung hat man, wie schon oben bei Gelegen-
heit der Atemvolumschreibung erwähnt, mit den Atemwegen eines Tieres
unter Einschaltung eines größeren Luftraumes — Bertsche*) oder He-
ringsche5) Flasche — eine Mareysche Schreibkapsel verbunden, welche,
wenn geräumig und mit sehr weicher und dünner Membran versehen, ja
allerdings von den Volumschwankungen beeinflußt wird, durch die Elastizität
der Membran aber doch wesentlich als registrierendes Manometer wirkt und
insbesondere dann, wenn man die „Vorlage“ nebenbei mit der freien Luft
kommunizieren läßt [Ewald#), Hermann’)], den „Seitendruck“ in dieser
») Lehrb. d. Physiol., 2. Aufl., 1847, 8. 529. — ?) „Der Mechanismus der
Respiration“ usw., Berlin 1845 (zit. naeh Rosenthal a. a. 0.). — *) Philosophical
Magazine 48, 113, 1874 (zit. nach Rosenthal a. a. O.). — *) Physiol. comparee
de la Respiration, Paris 1878, p. 204. — °) Siehe Knolls Beiträge zur Atem-
innervation. — °) Pflügers Arch. 19, 461, 1879. — 7?) Leitfaden f. d. physiol.
Praktikum, Leipzig 1898, S. 167.
24 Atemdruckkurven. — Seitendruck in der Trachea.
aufzeichnet. In allen Fällen ist zu beachten, daß die Größe der Druckschwan-
kungen „wesentlich abhängen wird von der Größe und Geschwindigkeit der
inspiratorischen bzw. exspiratorischen Volumänderungen des Thorax und von
den Widerständen, welche der inspiratorische resp. exspiratorische Luftstrom
— in den natürlichen Atemwegen (Trachea, Kehlkopf, Nase) wie auch event.
Verbindungsschläuchen usw. — erleidet, und zwar derart, daß mit dem Wachsen
dieser Faktoren auch der absolute Wert der Druckschwankungen zunimmt“
[Gad!)]. Druckschwankung bei der Exspiration und bei der Inspiration
werden deshalb untereinander an Größe (Ordinatenhöhe der Kurve von der
drucklosen Ruhestellung als Abszissenachse gerechnet) verschieden sein
können. In der Regel ist die Exspirationszacke die höhere, wegen größerer
Maximalgeschwindigkeit bei der Exspiration; die Zeitintegrale der In- und
Exspirationszacken müssen aber gleich groß sein (Gad). Besonders instruktiv
werden derartige Kurven, wenn sie durch Registrierung des Seitendruckes in
den Atemwegen selbst erhalten sind, was bei der Trachea z. B. sehr zweck-
mäßig durch die Gadsche Kanüle mit Dreiweghahn ?) erreicht werden kann;
wird derselbe so gestellt, daß er alle drei Wege miteinander verbindet, so
kann man die Mareysche Kapsel mittels des Seitenrohrs mit der Trachea
Fig. 9. verbinden, während das Tier normal
durch die Nase atmet, welche man
wieder unter Einschaltung einer Vor-
lage mit dem Volumschreiber verbinden
kann. Man erhält dann übereinander
die Lungenvolum- und Druck-
kurve, welche, wie auch aus Fig. 9
erkenntlich, sich zueinander ebenso
verhalten wie eine Druckpulskurve-(Tono- oder Sphygmogramm) und
die dazu gehörige Volumpulskurve (Plethysmogramm). Die Spitzen
(Maxima und Minima) der ersteren entsprechen den steilsten Stellen der
letzteren und die Durchgangsstellen durch die Ruhelage (Abszissenachse,
Nullinie) der ersteren den Maxima und Minima der letzteren. Über die
jeweilige Tätigkeit der verschiedenen Muskelgruppen kann in-
dessen die Druckkurve niemals den mindesten Aufschluß geben, .
während die Volumkurve wenigstens bei Tötung des Tieres den
Füllungsgrad der Lungen bei absoluter Muskelruhe („Kadaver-
stellung“) und damit eventuelles Überwiegen der In- oder Exspi-
ratoren in irgend einerAtemphase kenntlich macht (s. weiter unten);
es ist also völlig fehlerhaft, aus einer Druck- (oder überhaupt nicht reinen
Volum-) Kurve einen Schluß auf Stattfinden oder Nichtstattfinden aktiver
Exspiration zu ziehen, wie das leider auch von den besten Autoren oft genug
getan worden ist.
Als Größenwerte des Seitendruckes in der Trachea sind schon
vor langer Zeit für Hund und Pferd von Kramer?) angegeben worden 1 mm
Quecksilber Druckverminderung bei der Inspiration und 2 bis 3mm in
maximo Drucksteigerung bei der Exspiration.
!) Arch. f. (Anat.u.) Physiol. 1878, 8. 559. — ?) Ebenda, $. 563. — °) Häsers
Arch. 9, 341, 1847. ;
n-
ww
* Nasenätmung. 95
Die Mareysche Schreibkapsel ist zur Registrierung der Atembewegungen
auch in der Weise verwendet worden, daß man das Tier in einen dicht abge-
schlossenen Kasten brachte und durch ein dessen Wand durchsetzendes, mit der
Trachealkanüle verbundenes Rohr Außenluft atmen ließ, während die Schreibkapsel
mit dem Kasteninnern verbunden war (Hering); da sie aber, wie gesagt, weder
reiner Druck- noch Volumsehreiber ist, so ist sie bei dieser Methode besser durch
Brodies Balgenschreiber oder Gads Volumschreiber zu ersetzen, wie ja die
Gadsche Methode der Residualluftbestimmung (s. oben) die gleiche Versuchs-
anordnung, zu welcher nur das Saugen am Manometer kommt, auf den Menschen
appliziert hat.
Alle sehr empfindlicheh Registriermethoden lassen häufig an den Kurven außer
den Atemschwankungen noch feinere kleinere Zacken erkennen, welche die Herz-
tätigkeit anzeigen, resp. von deren Einfluß auf Lungenvolumen, intrapleuralen resp.
intrapulmonalen Druck, event. Leibesumfang herrühren; während willkürlich an-
gehaltenen Atems sind sie beim Menschen (von der Nase aus) für sich allein
registriert und als „cardiopneumatische Bewegung“ (Landois) bezeichnet
worden; sie bilden gewissermaßen ein Gegenstück zu den respiratorischen Blut-
druckschwankungen — wenigstens denjenigen von rein mechanischem Typus.
5. Die Luftwege.
Begleitende Atembewegungen und besondere Atemformen.
Die Trachea erhält ihren Abschluß nach oben durch ein besonderes, der
Stimmgebung oder „Phonation“ !) dienendes Organ, den Kehlkopf, innerhalb
dessen durch die membranöse Zungen einer Zungenpfeife darstellenden Stimm-
bänder („Stimmlippen“)einesehr verengte Stelle, die Stimmritze (Glottis)
gebildet wird; daran schließt sich der Pharynx (Rachen), die Kreuzung der
Respirationswege mit dem Digestionskanal (Mundhöhle, Isthmus Faucium,
Oesophagus); ferner der Nasopharyngealraum (Nasenrachenraum, „Schlund-
kopf“), daran durch den mittleren Engpaß der Choanen begrenzt die
beiden bilateral symmetrischen Nasenhöhlen mit dem vordersten letzten
oder vielmehr ersten (im Zuge der Inspirationsluft) Engpaß der Nasen-
löcher. Von dieser Bahn abweichende Bewegung der Atemluft durch die
Mundhöhle ist durchaus abnorm, beruht beim Menschen meist auf patho-
logischen Veränderungen — Verengungen — der Nasenrachenbahn, oft unter-
stützt durch üble Gewohnheit in den Kinderjahren, und ist für viele Tiere
geradezu unmöglich (Pferde, Schweine u. a. gehen bei Verschluß der Nasen-
löcher bald zugrunde); nur bei alleräußerster Atemanstrengung sieht man
die Tiere das Maul öffnen. Umgekehrt kommt es beim Menschen nur bei
äußerster Atemanstrengung zu einer inspiratorischen Erweiterung der Nasen-
flügel (ebenso bei Hunden und Katzen), wogegen bei anderen Tieren, so
den meisten Nagern und vor allem dem Kaninchen, die normalen Atem-
.bewegungen durch regelmäßige Bewegungen der Nasenflügel ein-
geleitet werden: jeder Zwerchfellkontraktion geht eine Hebung der Nasen-
flügel, welche die Nasenlöcher erweitert, jeder Exspiration eine Senkung
derselben voraus [Rosenthal2), Arnheim )]. Auf die Verteilung des Luft-
stromes in der Nasenhöhle und insbesondere deren Beziehungen zum Geruchs-
organ ist an dieser Stelle nicht näher einzugehen; der Zweck des Durchganges
!) Schreckliche „vox hybrida“ ! — ?) Regulierung der Atembewegungen, 8. 217.
— °) Arch. f. (Anat. u.) Physiologie 1894, 8. 1.
26 Kehlkopfatmung.
der Inspirationsluft durch die Nase ist außerdem hauptsächlich die Vor-
wärmung: Daß in der Tat schon bei einem einzigen Atemzuge der Durch-
gang durch die Nase die Luft auf über + 30° erwärmt und mit Wasserdampf
nahezu sättigt, ist nachgewiesen worden, indem man bei angehaltenem Atem
(wichtig!) mittels eines Aspirators Luft durch das eine Nasenloch ein- und
durch das andere austreten ließ und zwischen letzteres und den Aspirator
ein Thermometer und eine hygrometrische Einrichtung einschaltete; der
Einwand des doppelten Weges gegenüber dem normalen Atemzug ist unwesent-
lich [Asehenbrandt!!); Kayser?)]. .
Die Beteiligung eines Verschlußmechanismus der Öhoanen
muß für die unten gleich zu erwähnende besondere Atemform des Niesens
angenommen werden.
Was den Kehlkopf betrifft, so wird der Verminderung des Wider-
standes für den Atemluftstrom eine möglichst weite Öffnung der
Stimmritze dienlich sein, welche durch den normal überwiegenden
Tonus der Mm. crieoarytaenoidei postici, resp. der sie versorgenden
Äste der N. laryngei inferiores zustande kommt: Lähmung nur dieser letz-
teren, wie sie durch Tumoren mitunter vorkommt, insbesondere beiderseitige
solche „Posticuslähmung“ wird infolge des durch das Überwiegen der
laterales dann eintretenden Stimmritzenschlusses dann auch viel eher
Erstickungsgefahr hervorrufen als totale Lähmung der Kehlkopf-
muskulatur durch Kompression oder Durchsehneidung beider Nn.
laryngei inferiores s. rami recurrentes nervi vagi: Bei den alten
Autoren seit Galen und Rufus findet sich darum auch Stimmlosigkeit
als einzige Folge beiderseitiger Recurrensdurchschneidung an-
gegeben; Legallois°) hat zuerst erkannt, daß junge Tiere (insbesondere
Meerschweinchen und Kaninchen) nach dieser Operation sofort ersticken,
weil die die „Stimmlippen“ bildenden, schräg nach oben gerichteten Schleim-
hautfalten hier noch sehr zart und nachgiebig sind und daher von dem in-
spiratorischen Luftstrom abwärts mit ihren Rändern derart gegeneinander
gedrückt werden, daß die Glottis sich völlig schließt und der Inspirationsluft
den Eintritt verwehrt (wogegen die Exspirationsluft ungehindert entweichen
kann), und daß dies auch die Ursache des schnellen Erstickungs-
todes solcher jungen Tiere nach der beiderseitigen Vagusdurch-
schneidung ist. Bei älteren Tieren tritt in diesem Falle als weitere
Schädlichkeit noch die Schlucklähmung hinzu, welche meist durch Aspi-
ration von Mundschleim und „verschluckten“* Speiseteilen zu der tödlichen
„Yaguspneumonie“ führt.
Beim Hunde und vielen anderen Tieren, auch manchen (nach F. Semon
allerdings der Minderzahl der) Menschen erfolgt mit jeder Inspiration eine
rhythmische Erweiterung der Stimmritze; reizlose Ausschaltung der Nn.
recurrentes vermittelst Durchfrierens [Gad)] beseitigt dieselbe sofort und
bringt die Stimmritze in die schlaffe, halbgeöffnete „Kadaverstellung“.
Erwähnen wir endlich noch, daß, insbesondere bei angestrengter
!) Dissertation, Würzburg 1886. — ?) Pflüger’s Arch. 41, 127, 1887; 47, 543,
1890; s. auch Zeitschr. f. Ohrenheilkunde, 20, 96, 1889. — °) Experiences sur le-
principe de la vie, Paris 1812, p. 187 ff. — *) Vorlesungsversuch.
N U REENENUNE
2 Sein gast
Husten. — Niesen. — Atemgeräusche. 27
Atmung, bei jeder Inspiration der Kehlkopf als Ganzes durch Wirkung
der Mm. sternothyreoidei etwas herabgezogen, auch die Trachea durch
Kontraktion zwischen ihren Knorpeln gelegener Muskulatur (als deren
oberer Repräsentant auch der Cricothyreoideus betrachtet werden kann) ver-
kürzt, somit der Widerstand der Atemwege etwas verkleinert wird, so wäre
alles dasjenige erledigt, was zu den „begleitenden“ oder „concomitieren-
den“ Atembewegungen gerechnet zu werden pflegt; insofern die hier
beteiligten motorischen Nerven Cerebralnerven sind (Facialis für die Nasen-
und Vago-Accessorius für die Kehlkopfatmung), mag man sie wohl auch
Kopfatmung nennen zum Unterschiede von der Brust- (Costal-) und Bauch-
(Zwerchfell-) Atmung.
In eigentümlicher Weise miteinander kombiniert sind diese Faktoren bei
den „besonderen Atemformen“, welche sich sämtlich durch dabei er-
zeugte, jeder Form für sich eigentümliche Geräusche auszeichnen und meist
reflektorisch zustande kommen. Hierher gehört vor allem das Husten,
eine mit einem „Explosionslaut“ verbundene plötzliche Spren-
gung der zuvor geschlossenen Stimmritze durch die unter Druck
(aktive Expiration, Bauchmuskulatur!) gesetzte Lungenluft, wobei von
der Schleimhaut des Kehlkopfes Schleim und Fremdkörper weg-
gefegt werden, welche hier als sensible Reize wirkten und so den
Reflex auslösten; auch reizende Dämpfe wirken ebenso [Kohts!)]. Be-
sonders empfindlich ist die Schleimhaut an den Gießbeckenknorpeln, doch
lösen auch Reize in der Trachea, den Bronchien, an der Pleura, ja selbst der
Cornea diesen Reflex aus. Ganz analog ist auch das Niesen, bei
welchem es der Choanenverschluß durch die Constrietores pharyngis
superioris ist, welchen der Exspirationsluftstrom sprengt; hier ist
es die Nasenschleimhaut, welche rein gefegt wird, und auf welche
der reflexauslösende, meist gasförmige Reiz wirkt; ausnahmsweise
kann die Auslösung auch vom äußeren Gehörgang aus stattfinden.
Dem Husten und Niesen ähnliche, doch willkürlich eingeleitete Ex-
spirationsbewegungen sind das Räuspern und Schnäuzen. Eine
psychisch oder reflektorisch ausgelöste Inspiration, bei welcher die Stimm-
bänder in Schwingungen versetzt werden können, ist das Gähnen; stoßweise
Exspirationen mit Stimmgebung bilden einen Teil des komplizierten als Lachen
bezeichneten Bewegungskomplexes. Das Seufzen besteht aus einer tiefen
Inspiration mit darauffolgender Exspiration, wovon besonders die erste, weil
bei fast geschlossener Stimmritze erfolgend, von einem Reibegeräusch begleitet
ist; exspiratorische Reibegeräusche charakterisieren die willkürlichen
Akte des Hauchens und Blasens. Den Mechanismus der Stimme und
Sprache behandelt ein besonderer Abschnitt.
Hier wäre mit einigen Worten der in den Lungen und Luftwegen
entstehenden normalen Atemgeräusche zu gedenken. Man unter-
scheidet das inspiratorische, sog. vesikuläre Atemgeräusch,
und das rauhere bronchiale, welches normal nur bei der Exspi-
ration und zwar hauptsächlich über Trachea und Kehlkopf zu hören
ist: das erstere hat seinen Namen daher, daß der Erfinder der Aus-
!) Arch. f. patholog. Anatomie 60, 191, 1874.
238 Bronchialmuskeln.
kultation Laönneec, Skoda und andere Kliniker meinten, es entstehe durch
Reibung der Luftan der Wand der Alveolen bei deren inspiratorischer
Erweiterung. Indessen könnte diese Reibung wohl nur an der Übergangs-
stelle der Bronchioli in die „Infundibula* (vgl. oben) oder den „Scheide-
wänden“ der einzelnen Aötsolen erfolgen: in diesem Sinne sgirechi sich
Chauveau und Boudet!!), Wintrich’?), neuerdings Bullar®) und Dehio)
aus; dem steht eine andere Theorie gegenüber, wonach alle Atmungs-
Seren ausschließlich im Kehlkopf entstehen sollen, — Beau), Spittal),
Eichhorst”), und welche sich besonders auf Versuche von Baas°) stützt,
wonach in so kleinen Räumen wie den Alveolen die nötigen Wirbel nicht ent-
stehen können. Die Entscheidung scheint außerordentlich schwierig zu
sein, denn einerseits hört man auch bei Tracheotomierten, wo der Kehlkopf
ausgeschaltet ist, noch die Atmungsgeräusche; vielleicht entsteht das Vesi-
kulärgeräusch durch Schwingungen des angespannten Lungengewebes
(C. Gerhardt, Penzoldt); anderseits soll ein abwechselnd aus Luft und
fester Substanz gebildeter Körper, wie die Lunge, den Schall schlechter
leiten, als ein starrer Körper (Castex’°) u. a.); was gegen die Entstehung
auch nur des bronchialen exspiratorischen Geräusches in den Luftwegen
sprechen müßte, welche sonst, auch von Anhängern der an erster Stelle ge-
nannten Vorstellung allgemein zugegeben wird (Edlefsen !). Allerdings
wird das bronchiale Geräusch bei pathologischen Lungenverdichtungen deut-
licher und kann an die Stelle des vesikulären Inspirationsgeräusches treten;
im übrigen vergleiche man hinsichtlich der pathologischen Verän-
derungen, der Atemgeräusche, welche ja für die Klinik so wichtig sind,
ihrer Theorie, derjenigen der Auskultation und der Stethoskope usw. die
Lehrbücher der klinischen Diagnostik.
Eine für das Lungenvolum sicher wesentlich in Betracht kommende
Mitwirkung gebührt der Bronchialmuskulatur, deren motorische Inner-
vation dem Vagus angehört; auf peripherische Vagusreizung sahen direkt
die Kontraktion der Bronchiolen Longet!!!), Volkmann 2) u. a.; Schiff 13),
Leo Gerlach !#), P. Bert 1°) und MeGillavry !%) wiesen sie durch die intra-
pulmonale Drucksteigerung nach, letzterer sogar beim Hindurchstreichenlassen
von Luft durch die Lunge, womit alle Fehlerquellen ausgeschaltet sind, zu
denen nach Rugenberg!?) vor allem die Oesophaguskontraktion gehört. Auch
an Hingerichteten sind derartige Versuche angestellt worden [Regırard und
Loye!®)]l. NachRoy und Brown!) sollen die Vagi auchlungenerweiternde
(die Bronchialmuskeln erschlaffende) Fasern führen [von Sand-
\) Gazette hebdomadaire, Paris 1863. — ?) A. a. 0. — °) Proceedings Royal
Soc. 37, 411, 1884. — *) Verhandlungen des Kongr. f. inn. Medizin, Wiesbaden
1889. — °) Archives generales de Medecine, 1834. — °) Edinburgh medical and
surg. Journal, 1839. — ?) Lehrb. d. klin. Untersuchungsmeth., 4. Aufl., 1896, 8. 293. —
®) Zur Percussion u. Auskultation, Stuttgart 1877, 8. 161 ff. — °) Archives de phy-
siologie 1895, 8. 225; 1896, 8. 357. — !%) Verhandlungen des Kongresses für innere
Medizin, Wiesbaden 1891. — '') Arch. gener. de med. 15, 234, 1842. — !?) Wagners
Handwörterbuch der Physiol. 2, 586. — '?) Pflügers Arch. 4, 225, 1871. — '*) Pflügers
Arch. 13, 491, 1876. — '?) Lecons etc. p. 376. — !°) Neederlandsch Tijdschr. van
Geneesk. 1876; Arch. neerlandaises 1877, p. 445. — '’) Studien des physiol. Inst.
in Breslau, 2. Heft, S. 47, 1863. — '®) Compt. rend. 101, 269, 1885. — '°) Journ.
of physiol. 6, 4; Proc. ET Soc. 6, 21, 1885.
u .
a Een
Kraft der Atemmuskeln. — Motorische Atemnerven. 29
mann!) bestätigt, von anderen bestritten], und es soll centripetale Reizung
auf beide Fasergattungen reflektorisch einwirken; die erstere Art soll tonisch
innerviert sein, und Vagusdurchschneidung soll das Lungenvolumen (im
_ kollabierten Zustande natürlich) vergrößern. Die physiologische Be-
deutung der Bronchialmuskeln ist indessen noch unklar, ebenso wie
die damit zusammenhängende Pathologie des Bronchialasthma; siehe hierüber
besonders die große Arbeit von Einthoven 2), in welcher die Bronchial-
muskelwirkung nach einer verbesserten Methode untersucht und die früheren
Arbeiten ausführlich kritisiert sind.
Die absolute Kraft der Atemmuskulatur berechnet Dondere 3) zu
über 200kg, diejenige der Intercostales externi allein R. Fick?) zu 94 kg;
auf ähnliche Weise berechnet ergaben sich der Arbeitsaufwand bei normaler
Atmung zu etwa l5 mkg in der Minute, nach der Berechnung von Zuntz®)
aus Specks5) Angaben zu 13,7 Proz. des gesamten respiratorischen Umsatzes
in der Ruhe, entsprechend 26 kgm in der Minute — 37000 kgm in 24 Stunden.
Nach Loewys Zahlen wäre er: indessen wesentlich kleiner; R. du Bois-
Reymond?°) schätzt ihn zu höchstens 15000 kgm täglich in der Ruhe;
natürlich wird er durch Muskelarbeit, Aufenthalt unter‘ abnormen Druck-
verhältnissen und pathologische Zustände wesentlich gesteigert werden
können.
IV. Die Innervation der Atembewegungen.
1. Die motorischen Nerven der Atemmuskulatur.
Schon die anatomische Betrachtung zeigt, daß die Muskulatur der
Rippenatmung ihre motorische Innervation durch Vermittelung der Inter-
costalnerven und dasZwerchfell durch Vermittelung der Nervi phrenici
aus dem Rückenmark empfängt. Die der „Kopfatmung“ (s. oben)
dienenden Kehlkopf- und Gesichtsmuskeln dagegen werden durch Hirn-
nerven — Faeialis und Vago-Accessorius — versorgt. Reiz- und Durch-
schneidungsversuche an diesen peripherischen Nervenbahnen bestätigen diese
Tatsachen. Es sei hier nur kurz daran erinnert, daß die motorischen Fasern
für den M. ericothyreoides im r. laryngeus superior, diejenigen für alle übrigen
Kehlkopfmuskeln aber im r. laryngeus inferior s. recurrens vagi verlaufen;
von den Beziehungen des N. vagus zur Bronchialmuskulatur war schon oben
die Rede.
2. Die zentrale Innervation der Atembewegungen;
das Atemzentrum.
Es ist eine alte Erfahrung, daß Köpfung bei warmblütigen Tieren die Atem-
bewegungen stets sofort aufhebt (nicht immer aber die Herztätigkeit); diese
Erfahrung hatte bereits Galen dazu geführt, die Atembewegungen für lediglich
vom Gehirn abhängig, für willkürlich, aber durch Übung und Unentbehrlich-
Y) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1890, 8. 252. — ?) Pflügers Arch. 5l, 367,
1891. — °) Zit. nach du Bois-Reymond in Asher u. Spiros Ergebnissen der
Physiologie 1, 2. Hälfte, 402, 1902. — *) Ebenda. — °) Ebenda.
30 Lokalisation des Atemzentrums.
keit maschinenmäßig geworden anzusehen !). Er hatte bereits durch metho-
dische Versuche die Wirkung von Durchtrennungen verschiedener Teile. des
Rückenmarks zu bestimmen gesucht, Versuche, wie sie erst um die Wende
des 18. und 19. Jahrhunderts in exakter Weise wieder aufgenommen wurden
durch Lorry?2), LeGallois®) und Flourens®). Nach den Ergebnissen
dieser Forscher wird bei Durchschneidung des Dorsalmarks die Rippen-
atmung gelähmt, soweit sie durch die unterhalb der Durchschneidungsstelle
gelegenen Intercostalnerven vermittelt wird, während die Zwerchfellatmung
intakt bleibt; diese, und damit die natürliche Lungenventilation überhaupt,
wird aufgehoben, wenn der Schnitt durch das Halsmark geht, und zwar etwa
in der Höhe des vierten Halswirbels, indem der vierte bis siebente Cervicalnerv
Fasern zum N. phrenicus beitragen. Insbesondere Le Gallois’ ureigenstes
Verdienst ist die Beobachtung, daß nach hoher Halsmarkdurchschneidung
die Kopfatmung (Gähnbewegungen, baillements) erhalten bleibt und erst durch
Abtrennung des übrigen Gehirns von dem verlängerten Mark, und zwar in
der Höhe des Ursprungs der Nn. vagi aufgehoben wird; es ist also die
Medulla oblongata, an deren Integrität die Fortdauer der Atmung
geknüpft ist), entsprechend der uralten Erfahrung der tödlichen Wirkung
des „Genickbruches“.
Im Lichte der modernen Nervenphysiologie kann dies nicht anders ge-
deutet werden, als daß hier ein Apparat liegt, welcher diejenigen Teile
des „zentralen Höhlengraus“, aus welchem die Atemmuskelnerven entspringen,
und welche wir mit Gad®) als „Atemmuskelzentren“ bezeichnen wollen,
bei der normalen Atmung zur koordinierten, rhythmischen und
synchronischen Innervation der Atemmuskeln veranlaßt, und es
wird weiterhin unsere Aufgabe sein, die verschiedenen der Tätigkeit dieses
jetzt allgemein als „Atemzentrum“ angesprochenen Apparates zugrunde
liegenden Faktoren näher zu erörtern. Was zunächst noch die anatomische
Lokalisation des Atemzentrums betrifft, so beschränkte es bereits Le Gallois
auf einen „umschriebenen Teil des verlängerten Marks“ 7); Flourens hat
dann die Lokalisation möglichst weit zu treiben gesucht ®), bis.zu einer
stecknadelkopfgroßen Stelle an der Spitze des Calamus seriptorius oder
wenigstens noch mit dem Locheisen ausstanzbaren Partie in der Mitte der
Alae cinereae, welche er als „point central et vital“, als „Lebensknoten*
(noeud vital), welcher alle Teile des Nervensystems untereinander verknüpft,
bezeichnet. Dieser allzu engen Begrenzung gegenüber stellten Volkmann),
‘) Vergl. Kronecker, Altes und Neues über das Atemzentrum, Deutsche
med. Wochenschr. 1887, Heft 36 u. 37. — ?) M&moires etc. presentes ä& l’acad. des
sciences, T. III, p. 366, 367. — °) Exp6riences sur le principe de la vie, Paris 1812,
mit dem von Humboldt, Hall& u. Percy an das Institut de France erstatteten
Rapport; sowie Oeuvres completes, Paris 1824. — *) Recherches experimentales sur
les proprietes etc. du systeme nerveux, Paris 1824 und Nachtrag 1825; 2. Aufl.
ebenda 1842. — °) Zitat siehe weiter unten. — °) Arch. f. (Anat. u.) Physiol, 1886,
8. 388. — 7) „Ce n’est pas du cerveau tout entier que depend la respiration, mais
bien d’un endroit assez circonscrit de la mo&lle allongee, lequel est situ& & une
petite distance du trou oceipital et vers l’origine des nerfs de la huiti&me paire
(ou pneumo-gastriques)“; Exp. sur le prince. de la vie, p. 37, 38. — ®) Compt. rend. 33,
437, 1851; 47, 803, 1858; 48, 1136, 1859; 54, 314, 1862. — °) Wagners Hand-
wörterb. d. Physiol. 1, 591, 1847.
Sog. spinale Atemzentren. 3l
Longet!) und Schiff?) übereinstimmend fest, daß man die Oblongata durch
einen Medianschnitt spalten kann, ohne die Atembewegungen aufzuheben;
daß also das Atemzentrum eine paarige, symmetrische Anordnung besitzen
muß; und daß der plötzliche Tod nach Verletzung so isolierter
Stellen des Zentralorgans viel mehr eine Folge der hemmenden
Wirkung überstarker Reizung — sog. Choce — denn eine echte Aus-
fallserscheinung ist, das ist seit Brown-Sequards ersten dahingehen-
den Äußerungen 3) (in denen er freilich viel zu weitgehend die ganze Existenz
des Atmungszentrums überhaupt leugnete) immer mehr anerkannt worden,
und es hat sich immer mehr die strenge Lokalisation des Atemzentrums im
ursprünglich gedachten Sinne als unrichtig herausgestellt. Gierke*) bezog
seinerzeit auf Grund mikroskopischer Untersuchungen unter Heidenhains
Leitung die tödlich wirkenden Verletzungen der Medulla oblongata auf ein
nach außen vom Vagus- und Accessoriuskern längs verlaufendes Nervenfaser-
bündel, in welchem er später auch graue Substanz wollte nachweisen können,
wogegen Mislawsky) einen nahe dem Hypoglossuskern gelegenen isolierten
Ganglienzellenkomplex für das Atemzentrum ansah, und Holm) es wieder
dort suchte, wo nur Bahnen und keine Ganglienzellen zu finden sind. Gad’)
wies darauf hin, daß man am Boden der Rautengrube in der Gegend des
Flourensschen Noeud vital durch vorsichtige Ätzung ziemlich weitgehende
Substanzmengen vernichten kann, ohne daß die Atmung aufhört, und noch weiter
ging in dieser Richtung unter seiner Leitung Marinescu mit Anwendung
glühender kleiner Glasknöpfe als Cauterium ®). Die schichtweise Abtragung
bis zum völligen Stillstande der Atmung ergab, daß als das wirkliche,
doppelseitige koordinierende Atemzentrum die gesamte sog- For-
matio reticularis angesehen werden muß, in welcher so zahlreiche
spinale,und zentrale Nervenbahnen mit den in ihr verstreuten Ganglienzellen
und unter sich verbunden sind und in funktionelle Beziehung treten, nach
den Grundbegriffen, welche wir heutzutage jedem zentralen Koordinations-
vorgange unterzulegen pflegen; weiterhin dürfte nach Gad und Marinescu
das retikuläre Bündel des Seitenstranges, unmittelbar hinter dem Vorder-
resp. Seitenhirn des Höhlengraus gelegen, als direkte Fortsetzung der For-
matio reticularis im Rückenmark die efferente bulbospinale Bahn darstellen,
welche von dem übergeordneten Atemzentrum zu den spinalen Atemmuskel-
zentren weiterleitet. Diesen letzteren ist von vielen Forschern in doch wohl
zu weitgehendem Maße eine selbständige Tätigkeit vindiziert worden, seitdem,
wie schon oben erwähnt, zuerst Brown-Se&quard die Lebenswichtigkeit und
Bedeutung des Flourensschen Punktes leugnete; auf Grund der Beobachtung,
daß bei geköpften Vögeln und bei neugeborenen Säugetieren, denen das ver-
längerte Mark abgetragen, die Atembewegungen noch einige Zeit fortdauern,
verlegte bereits dieser Forscher die zentrale Innervation der Atem-
bewegungen in das gesamte Rückenmark; Ähnliches beobachteten auch
!) Arch. göner. de med. 13, 377, 1847. — ?) Lehrbuch d. Physiol., 1. Teil
(einzig ersch.), 1858/59, 8. 322;-Arch. f. Anat. u. Physiol. 1871, 8. 624. — °) Journ.
de la physiol. 1858, p. 217; Arch. de physiol. 1869, p. 299. — *) Arch. f. (Anat. u.)
Physiol. 1873, S. 583. — °) Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1885, S. 465. — °) Virchows
Arch. 131, 78, 1893. — 7) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1893, S. 75. — °) Später von
Arnheim durch Absaugen mit der Wasserluftpumpe ersetzt.
32 Sog. spinale Atemzentren.
andere Forscher (Richardson, Dowler, Lautenbach), insbesondere Roki-
tansky '), welcher zuerst die Erregbarkeit des Zentralnervensystems durch
Strychnin künstlich steigerte; auch wendete er sowohl wie Schroff ?) künst-
liche Atmung unmittelbar nach der hohen Rückenmarksdurchschneidung an;
nach dem Aussetzen derselben traten dann einige rhythmische Bewegungen
der Atemmuskulatur auf; noch ausgesprochener waren letztere in den zu-
sammen mit Nitschmann angestellten Versuchen von Langendorff),
welcher Forscher mit ganz besonderer Wärme für die „Existenz echter
spinaler Atemzentren eintrat, welche reflektorisch und automatisch tätig
werden können“; dem Apparate im verlängerten Mark, dessen Reizung
nach seinen Erfahrungen die Atembewegungen hemmt *), schrieb er bloße
„regulierende* Tätigkeit zu, ohne aber mit dieser Anschauung viel
Anklang zu finden, auch bei wiederholtem ‚Eintreten für dieselbe 5), nachdem
Wertheimer®) gefunden hatte, daß auch bei erwachsenen Säugetieren nach
hoher Rückenmarksdurchschneidung rhythmische Thoraxbewegungen auftreten
können, wenn die zuvor stundenlang unterhaltene künstliche Atmung unter-
brochen wird. Es ist demgegenüber betont worden’), daß es sich hier um
Bewegungen handle, welche denn doch die Koordination der normalen Atem-
bewegungen sehr vermissen lassen, ferner daß durch die langdauernde künst-
liche Atmung (Wertheimer) die Tiere „künstlich kaltblütig gemacht“ wurden,
in welchem Zustande die Zentralapparate des Rückenmarks, ähnlich wie beim
wirklichen Kaltblüter, eine größere Selbständigkeit besitzen, während sie um-
gekehrt in den Versuchen mit gleichzeitiger Warmhaltung (Schroff) und
Strychninvergiftung (Rokitansky) in einen abnormen Erregungszustand
versetzt wurden, in welchem sie auf gewisse allgemeine Nervenreize bereits
von so geringer Stärke reagierten, wie dies normalerweise nur dem Kopfmark
zukomme. .
Unzweifelhaft sichergestellt ist die bilateralsymmetrische Anord-
nung des bulbären Atemzentrums, derart, daß jede symmetrische Hälfte die
Atemmuskulatur der betreffenden Seite innerviert: Halbseitige Zerstörung
derselben oder halbseitige Durchschneidung des Halsmarkes sistiert nur die
Atembewegungen der betreffenden Seite, wie, gegenüber weitgehenden Be-
hauptungen von Flourens, Schiff*®) schon vor 1858 feststellte.
Bloße mediane Spaltung des verlängerten Markes hebt übrigens die
bilaterale Koordination der Atembewegungen nicht auf (Longet, Langen-
dorff°), so daß für diese also Commissurfasern nicht von Bedeutung zu sein
scheinen, — anders jedoch für die sog. Regulation der Atembewegungen;
darüber siehe weiter unten,
Fragen wir uns nun, wie überhaupt die beständige Erregung des
Zentralorgans zustande kommt, welche die das ganze Leben hin-
!) Wien. med. Jahrbücher 1874, 8. 30. — ?) Ebenda 1875, 8. 319. — °) Arch.
f. (Anat. u.) Physiol. 1880, 8. 518. — *) Ebenda 1881, 8. 519. — °) Ebenda 1887,
S.. 237; 1888, S. 283; 1891, 8. 486; 1893, 8. 397. — °) Journ. de l’anat. et de la’
physiol. 26, 488, 1886. — 7) Siehe Kroönecker, Deutsche med. Wochenschr. 1887,
Nr. 36 u. 37; Marckwald, Zeitschr. f. Biol. 33, 182, 1887; Starling in Schäfers
Text-book of Physiol. 2, 287, 1900. — ®) Näheres siehe in dessen „Gesammelten
Beiträgen zur Physiologie“ 1, 13 bis 16 und 101 bis 107, 1894. — °) Centralbl.
f. d. medizin. Wiss. 1879, Nr. 51; Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1881, $. 78.
E
Automatie des Atemzentrums. 33
durch dauernden rhythmischen Atembewegungen hervorbringt,
so lehrt die alltägliche Erfahrung an uns selbst, daß zwar Wille
(willkürliches Anhalten des Atems, s. weiter unten) und psychische Affekte,
sowie reflektorische Einwirkungen (fremde Gase, kalter- Guß auf die
Haut) die Atembewegungen temporär zu modifizieren vermögen,
daß aber ein gewisser „innerer Anreiz“ zur normalen rhythmi-
schen Bewegung (abgesehen von lebensgefährlichen Einflüssen) stets
wieder durchbricht. Um die Herkunft dieses „inneren Anreizes“ zu
prüfen, hat schon Flourens bei einem und demselben Tier das Gehirn von
der Oblongata abgetrennt und gleichzeitig die Nervi vagi, deren Einfluß auf
die Atembewegungen, wie wir weiter unten sehen werden, schon früh beob-
achtet worden war, durchschnitten, ohne daß die Atembewegungen völlig
zum Stillstand kamen; Volkmann!) entfernte außerdem noch die Lungen
mit Schonung der Phrenici, mit gleichem Erfolge; dagegen behauptete Rach?),
daß die Durchschneidung der hinteren Nervenwurzeln des Halsmarkes mit
oder ohne Vagotomie genüge, um die Atembewegungen sofort aufzuheben,
eine Angabe, welche von Rosenthal?) widerlegt wurde, indem dieser
Forscher das Rückenmark am siebenten Halswirbel, das Gehirn in der Gegend
der Vierhügel, alle hinteren Wurzeln der Halsnerven und beide Vagi durch-
schnitt und doch noch rhythmische Atembewegungen auftreten sah; dieselben
weichen freilich nach Marekwald) stets von den normalen ab (s. unten);
und vollständige Isolierung des Kopfmarkes von allen centripetalleitenden
(„afferenten“) Bahnen dürfte kaum ausführbar sein; indessen konnte Rosen-
thal5) noch die Tatsache, daß Verschluß der zum Gehirn gehenden Gefäße
auch bei andauernder künstlicher Einblasung (s. unten) Atembewegungen
hervorruft, mit Recht zur Stütze seiner Anschauung heranziehen, wonach das
Atemzentrum, „automatisch“ erregt, für sich allein rhythmische
Atembewegungen zu innervieren imstande sei, wobei der an Ort und
Stelle wirksame Reiz durch die Venosität desimZentralorgankreisen-
den Blutes gegeben ist — eine Auffassung, welche, wie es scheint, zuerst
Valentin.) ausgesprochen hat, nachdem frühere Untersucher entweder mehr
oder weniger abenteuerliche Steuerungstheorien der Atembewegungen auf-
gestellt hatten”) oder einfach die in der Lunge (nach La voisiers Vorstellung)
resp. in den Organen gebildete Kohlensäure durch Vermittelung der Nn. vagi —
MarshallHall®) — oder sämtlicher sensibler Körpernerven — Volkmann?)
und Vierordt!P) — die Atembewegungen hatten reflektorisch hervorrufen
lassen;schonRolando, Arnold und Joh. Müller hatten ähnliche Vorstellungen
geäußert. Ein Hauptargument für die automatische, oder nach Gads
Bezeichnung „autochthone“ Erregung des Atemzentrums durch den
„Blutreiz“ bildet, wie Rosenthal!!) besonders betont hat, der Mangel der
Atembewegungen beim Fötus (die echte — s. weiter unten — fötale
!) Arch. f. Anat. u. Physiol. 1841, 8. 337. — ?) Dissertation, Königsberg 1863.
— ?) Arch. £. Anat. u. Physiol. 1865, 8. 191. — *) A. a.0O., 8. 203. — °) A. a. 0. —
6) Lehrb. d. Physiol. 2, 2. Abteil., Braunschw. 1848. — 7) Siehe hierüber 8. 209 ff.
der großen Arbeit von Marckwald a. a. O., welche auch ein fast vollständiges
Literaturverzeichnis bis 1887 enthält. — °) Memoirs on the nervous system. London
1837. — °) A. a. O., Seite 342. — !°) Wagners Handwörterb. d. Physiol. 2, 912. —
') Die Atembewegungen usw., 8. 8 ff.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 3
34 Blutreiz.
„Apnoe“), solange sein Sauerstoffbedürfnis in genügender Weise durch den
Placentarkreislauf befriedigt wird, wie dies zuerst von Joh. Müller genauer
auseinandergesetzt worden ist!), und die durch die Beobachtungen von
Schwartz?) über Atembewegungen in Utero bei vorzeitiger Placentarlösung
bewiesene Tatsache, daß die durch die Unterbrechung des Placentarkreislaufs
‘bei der Geburt vermehrte Venosität des kindlichen Blutes die wahre primäre
Ursache des ersten Atemzuges ist; ob die hierfür unzweifelhaft nötige Er-
höhung der Erregbarkeit des kindlichen Atemzentrums lediglich durch eben
diese vermehrte Venosität bedingt (s. unten) oder auch sekundär durch Haut-
reize begünstigt wird, welche, wie früher die Abkühlung, hier immer wieder
mit herangezogen werden [Preyer?°) u. a.], darauf näher einzugehen, ist hier
nicht der Ort. Daß überhaupt die „Venosität des Blutes“ den „inneren An-
reiz* zu den Atembewegungen bildet, dafür spricht ferner die Erfahrung,
daß alle die Ventilation des Blutes hindernden Faktoren — ab-
norme Zusammensetzung der Umgebungsluft, mechanische Atemhindernisse,
starke Blutverluste — zu vertieften, angestrengten Atembewegungen
führen — „Dyspnoe“, Näheres siehe weiter unten. In. der Unbestimmtheit
des Begriffes der Venosität des Blutes liegt aber die weitere Frage, ob der
Sauerstoffmangel oder der Überschuß an produzierter Kohlensäure
‘den „autochthonen Blutreiz* für das Atemzentrum darstellt. Im
ersteren Sinne schien L. Traube, welcher übrigens damals auch noch
den Reiz für peripherisch, in der Lunge auf den Vagus einwirkend ansah, die
Tatsache zu sprechen, daß die bei Eröffnung der Brust auftretenden heftigen
(„dyspnoischen“) Atembewegungen beseitigt werden können, wenn man durch
die durchlöcherte Lunge (nach Hook) einen Strom von Luft oder Sauerstoff,
nicht aber von Wasserstoff oder Stickstoff hindurchtreibt *), im letzteren Sinne
ein Versuch, in welchem ein sehr sauerstoff-, aber auch kohlensäurereiches
Gasgemisch Dyspnoe erzeugte, reiner Wasserstoff dagegen nicht 5) [nach
Krauses, Thirys und Rosenthals Nachprüfung auf Versuchsfehlern be-
ruhend 6). Daß in der Tat das bloße Sinken des Sauerstoffpartiardruckes
Dyspnoe macht, wurde übereinstimmend durch Rosenthal’), Dohmen ®)
und Pflüger?) experimentell bewiesen, doch fanden die letzteren beiden
Forscher, daß Kohlensäureüberschuß auch bei normalem oder selbst ge-
steigertem Sauerstoffgehalt des Blutes die Atembewegungen verstärkte. Es
wären demnach sowohl Sauerstoffmangel als auch Kohlensäure-
überschuß an der autochthonen Erregung des Atemzentrums be-
teiligt, und auch die Behauptung von Bernstein"), daß der Sauerstofi-
mangel inspiratorische, der Kohlensäureüberschuß exspiratorische Bewegungen
errege, ist durch die sorgfältigeren Untersuchungen von Gad!!) als wider-
legt anzusehen, so verlockend ja der Gedanke auch gewesen wäre, indem die
‘) De respiratione foetus, Bonn 1823. — ?) Die vorzeitigen Atembewegungen,
Leipzig 1858. — °) Sitzungsber. der jenaischen Gesellsch. f. Med. u. Nat., 6. Febr.
1880. — *) Dissertation von Marcuse, Berlin 1858; zit. nach Rosenthal. —
°) Allg. med. Zentralzeitg. 1862, Nr. 38; 1863, Nr. 97. — °) Siehe Rosenthal in
Hermanns Handbuch 4, 2. Hälfte, 8. 266. — 7) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1864,
S. 456. — °) Unters. physiol. Labor. Bonn; Berlin 1865, $. 83. — °) Pflügers Arch. 1,
61, 1868. — '°) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1882, 8. 313. — "') Ebenda 1886, 8. 388;
s. auch M. Rosenthal, ebenda, Suppl.-Bd., S. 248.
,
TEE ne 5
ED u a du
Entstehung der Rhythmieität der Atembewegungen. 35
Inspiration vorwiegend der Aufnahme des Sauerstoffs, die Exspiration der
Fortschaffung der Kohlensäure dient!); übrigens würde diese Vorstellung
der Beantwortung der nächsten Frage, nämlich nach der Entstehung
der Rhythmieität der Atembewegungen, durchaus nicht besser haben
dienen können, als sie "auch bei Annahme nur des Sauerstoffmangels als einzigen
wirksamen Blutreizes möglich ist, — und zwar nach Art, wie die moderne
allgemeine Physiologie auch sonst die Entstehung der Rhythmik bei kon-
stanten Reizen resp. Ernährungsbedingungen zu erklären geneigt ist („Selbst-
steuerung des Stoffwechsels*, Hering, Verworn, Rhythmik des» Herzens,
Bottazzi u. a.). Man könnte sich z. B. denken, daß das durch den lokalen
Sauerstoffmangel erregte Atemzentrum eine Inspirationsbewegung innervierte,
welche zu ausgiebiger Ventilation des Blutes und damit zum Fortfall des
Sauerstoffmangels als lokalen Reizes führte; es würde dadurch die Innervation
der Inspirationsmuskulatur aufhören, damit aber das Blut wieder sauerstoff-
ärmer werden, der Reiz somit wieder eintreten und so fort; freilich kann
hiergegengehalten werden, daß auch am blutleeren sbgönäinmitteuen Kopfe,
sowie nach Unterbindung aller vier Kopfarterien rhythmische Bewegungen
der Nasenflügel und des Kehlkopfes, Mundöffnungen („Kopfatmung“) fort-
dauern können; es würde dann eben die Rhythmik mehr auf den allgemeinen
inneren „Ernährungsreiz“, als auf den sog. „Blutreiz“, wie man diese Dinge
mit nicht sehr klaren Ausdrücken genannt hat, zurückzuführen sein. Jeden-
falls entspräche die obige Darstellung dem Alternieren der aktiven Inspiration
und der passiven Exspiration, wie es beim Menschen und vielen Säugetieren
die Norm bildet, und enthöbe uns jeder Versuchung, die Rhythmik durch eine
Teilung des Atemzentrums in einen inspiratorisch und einen exspiratorisch wirk-
samen Anteil zu erklären. Daß ein besonderes Koordinationszentrum für
die aktiven Exspirationsbewegungen existiert und in den später noch zu
erörternden Fällen, wo solche stattfinden, sowohl automatisch, als auch
reflektorisch erregt sein kann, ist außer anderen Autoren neuerdings von
Lewandowsky) behauptet worden, nachdem Arnheim) für seine rein
reflektorische Natur eingetreten war; dieser letztere Forscher hatte auch die
von Grossmann?) behauptete Unterscheidung je eines bulbären Zentrums
für die Thorax-, Kehlkopf- und Nasenatmung nicht bestätigen können, viel-
‘mehr diese Teilbewegungen in strenger koordinatorischer Abhängigkeit von-
einander gefunden. Immerhin handelte es sich hierbei nur um Bestrebungen
‘der Trennung resp. Lokalisation der Funktionen innerhalb der Medulla
oblongata; außerdem ist aber von Christiani*) noch ein weiteres Atem-
zentrum mit inspiratorischer und exspiratorischer Wirksamkeit am Boden
des dritten Ventrikels in der Gegend der vorderen Vierhügel, sowie unter
Wegleugnung dieses letzteren von Lewandowsky°) ein inspirations-
hemmendes Zentrum in den hinteren Vierhügeln behauptet
worden, wovon unten ausführlich die Rede sein wird. Es versteht sich
von selbst, daß im Falle normaler Beteiligung dieser angeblichen Zentren die
Atembewegungen im Tierversuch nach bloßer Abtrennung der Medulla
!) Die neuere Literatur über die immer noch streitige Frage „Sauerstoffmangel
oder Kohlensäure ?* siehe weiter unten bei der Dyspnoe. — ?) Arch. f. (Anat. u.)
Physiol. 1896, $. 489. — ?) Ebenda 1894, 8. 1. — *) Ebenda 1880, 8. 295; Sitzungsber.
d. Berl. Akad. 1881 u. 1884. — °) A. a. O:
5*+
36 Regulierung der Atembewegungen.
oblongata von den höheren Hirnabschnitten sich wesentlich ändern müßten.
Es ist nun zunächst bei den oben erwähnten Bemühungen, das verlängerte
Mark vom übrigen Gehirn und allen afferenten Bahnen zu trennen, aber
durch Vermittelung der Nn. phrenici seine motorische Tätigkeit intakt zu
lassen, stets gefunden worden, daß die Atembewegungen zwar rhythmisch
bleiben, aber von den normalen sich in ihrem Charakter wesentlich unter-
scheiden; wenn sie auch nicht mit Marckwald!) als „Atemkrämpfe“ be-
zeichnet zu werden brauchen, insofern sie entschieden noch Koordination
zeigen, so ist ihr zeitlicher Verlauf immerhin ein so'-abnormer und für den
Zweck der Atembewegungen, die Lufterneuerung in den Lungen, gänzlich
ungeeigneter, daß man sie nicht besser charakterisieren kann als durch den
Ausdruck, daß ihnen die Regulation?) fehlt, welche ihnen sonst auf dem
Wege der nervösen Verbindungen des Atemzentrums zuteil wird. Das
Zustandekommen dieser „Regulierung der normalen Atmung“ ist nun
auch heute noch nichts weniger als völlig aufgeklärt, wenngleich wohl auf
wenigen (rebieten ein solcher unheimlicher Reichtum an einschlägiger Literatur
existiert wie hier, deren Angaben sich größtenteils widersprechen, indem
auch bei guter Übereinstimmung der beobachteten Tatsachen die Streitig-
keiten hinsichtlich der Deutung kein Ende nehmen wollen. Es erscheint mir
übrigens sicher, daß zur Klärung der hier schwebenden Fragen noch viele
experimentelle und besonders vergleichende Arbeit notwendig sein wird,
weshalb die folgenden Ausführungen keinerlei Anspruch auf Endgültigkeit
und Vollständigkeit erheben können.
3. Die Atemreflexe und die Regulierung der Atembewegungen.
a) Über die Bedeutung aller übrigen normalen Einflüsse auf das Atem-
zentrum außer den „autochthonen“ (Blut- oder Ernährungs-) Reizen müßten
nach der allgemeinen Methodik der Untersuchung des Nervensystems Auf-
schluß geben können die Beobachtung erstens von Reiz- und zweitens von
Ausfallserscheinungen; letztere sind von besonderer Wichtigkeit, in-
sofern sie erst die Notwendigkeit einer dauernden („tonischen*) Erregung
des betreffenden Apparates („Zentrum“ oder „Bahn“) für das normale Funktio-
nieren beweisen. Wie durch ihre Beobachtung bei schrittweisen Durch-,
trennungen des Zentralnervensystems man zur Lokalisierung des Atemzentrums
in der Medulla oblongata gelangt ist, hat oben eine ausführliche historische
Darlegung erhalten; auch wurde bereits erwähnt, daß Langendorff bei
direkter — mechanischer, chemischer, am chloralisierten Kaninchen auch
elektrischer — Reizung der bloßgelegten Medulla oblongata nur
Hemmung der Atembewegungen gesehen haben will. Andererseits will
Marckwald?) durch chemische (Kochsalz-) und thermische (Kälteapplikation)
Reizung des bloßgelegten Kopfmarkes starke Beschleunigung.der Inspirationen
erhalten haben, ähnlich wie sie durch Erwärmung des Blutes erhalten wird
und unten noch genauer zu besprechen ist. Solche Reizerfolge können nun
\) A. a. 0. — ?) Die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen der „Koordi-
nation“ und der „Regulation“ von Bewegungen ist neuerdings wieder betont worden
durch A. Bickel, Untersuchungen über den Mechanismus der nervösen Bewegungs-
regulation, Stuttgart 1903. — °?) A. a. O., S. 230 ff.
Beteiligung der oberen Bahnen. 37
im besten Fall eben nur darauf schließen lassen, daß ähnliche Wirkungen —
Hemmung und Beschleunigung der Atmung — auch durch von den
verschiedenen afferenten Bahnen dem Atemzentrum zugeführte
Reize erzeugt werden können, und zur Bestätigung der Richtigkeit
dieses Schlusses werden nunmehr die an diesen Bahnen beobachteten Reiz-
und Ausfallserscheinungen der Reihe nach zu besprechen sein.
b) Was zunächst die Wirksamkeit der „oberen“, d.h. durch
Vermittelung höher gelegener Hirnteile, zu der Medulla oblongata
führenden Bahnen betrifft, so ist die Vermittelung erregender wie
auch hemmender Impulse von der Großhirnrinde aus nach dem Atem-
zentrum im verlängerten Mark eine notwendige Folgerung aus der Erfahrung,
daß wir unsere Atembewegungen in weitgehendem Maße willkürlich zu
modifizieren, ja selbst (bis zum schließlichen Durchbrechen ’des stärkeren
autochthonen Reizes) auf längere Zeit zu unterbrechen vermögen,
und daß psychische Affekte auch ihren unwillkürlichen Einfluß auf den Atem-
rhythmus ausüben. In der Tat erhielt Spencer!) bei Reizung gewisser
Punkte der motorischen Rindenfelder beim Affen verstärkte inspiratorische
Bewegungen nach Art desSchnüffelns und bei Reizung der entsprechenden Stab-
kranzfaserung resp. der Pyramidenbahnen verstärkten Tonus der Inspiratoren.
Es war schon oben von der willkürlichen Unabhängigmachung der Rippen-
und Zwerchfellatmung beim Menschen die Rede. Mosso°) benutzt neuestens die
Tatsache, um die Bedeutung des bulbären Atemzentrums gegenüber den „cerebralen“
und „spinalen“ Atemzentren (vgl. oben) herabzusetzen; auch führt er hierfür die
große individuelle Verschiedenheit in bezug auf die Fähigkeit, den Atem willkürlich
anzuhalten, ins Feld. Die von ihm angeführte Beobachtung eines Individuums,
welches 1'/, Minuten lang den Atem anhalten konnte, dürfte aber kaum eine so
große Seltenheit, noch auch das mögliche Maximum darstellen. Auf die angebliche
Fähigkeit orientalischer Asketen, durch willkürliches Atemanhalten sich in einen
„künstlichen Scheintod“ zu versetzen, ist hier nicht der Ort, näher einzugehen.
Spencer erhielt auch Atemhemmung bei Reizungen an der Basis des
Tractus olfactorius, sowie Schnüffelbewegungen bei Reizung an der Grenze
von Bulbus und Tractus olfactorius und am Gyrus uncinatus; schon vorher
hatte Gourewitch?) bei Einwirkenlassen von Schwefelkohlenstoff auf die
Riechschleimhaut wie auch elektrischer Reizung derselben je nach Stärke
Beschleunigung oder Hemmung der Atembewegungen gesehen; genauer unter-
sucht hat diese Atemreflexe, mit besonderer Unterscheidung der einzelnen
adäquaten Reize (Geruchsarten), neuestens H. Beyer). Beschleunigung der
Atmung wollte Christiani°) auch durch Reizung der Nn. optiei und
acustici erhalten haben. Wichtiger als diese Atemreflexe von den höheren
Sinnessphären aus, bei denen von einer dauernden („tonischen“) Mitwirkung
bei der Regulation der normalen Atmung kaum die Rede sein dürfte, sind
schon diejenigen vom N. trigeminus aus; ein solcher ist das Niesen, dessen
Mechanismus, wie schon oben bemerkt wurde, noch einer genaueren Auf-
klärung harrt; Reizung der sensiblen Trigeminusenden mit Chloroform o. ä.
macht meist exspiratorischen Atemstillstand [Holmgren, Kratschmer’‘),
!) Philosoph. Transact. 182 B, 201, 1894; 185 B, 609, 1896. — *) Arch. ital.
de biol. 40, H. 1, 1903. — °®) Diss., Bern 1882. — *) Arch. f. (Anat. u.) Physiol.
1901, 8. 261. — °) A. a. 0. — °) Sitzungsber.. d. Wien. Akad., math.-phys. Kl,
2. Abteil., 62, 147, 1870.
38 Folgen der Ausschaltung der oberen Bahnen.
Knoll!)] — wichtig für die Technik der Narkose —, doch soll nach
Lewandowsky schwache Reizung auch inspiratorische Wirkungen haben
können; auch in früheren Reizversuchen am R. nasalis N. infraorbitalis hatte
P. Bert wechselnde Erfolge erhalten; Eintauchen von Versuchstieren mit
dem Maule in Wasser macht nach Frederieq, ebenso wie Eintauchen des
ganzen Körpers (s. unten), exspiratorischen Stillstand. Was nun aber etwaige
Ausfallserscheinungen betrifft, so habe ich nirgends eine Angabe ge-
funden, noch aus eigener Anschauung beobachtet, daß die selbst vollständige
intracranielle Trigeminusdurchschneidung etwa eine dauernde Veränderung
des Atemrhythmus machte. Wenn somit anscheinend den bisher betrachteten
centripetalen Hirnnervenbahnen kein dauernder Einfluß auf die Atemregulie-
rung zukommt, so würde der bei Reizung gewisser Stellen an den
Basalganglien — so in den schon zitierten Versuchen von Christiani
und schon vorher von Martin und Booker?) — erhaltene Reizerfolg
eben nur auf Reizung ihrer intracentralen Fortsetzungen, eventuell in sie
Fig. 10. eingeschalteter Ganglien zu
beziehen sein, ohne daß man
NN N darum hier „höhere Atem-
a
zentren“ anzunehmenhätte:
re er eng die sichere Entscheidung
verspricht aber nach den
a) normale Atm. (Insp. nach unten); b) nach Abtrennung der oberen Bahnen; c) nach dazukommender
Vagotomie (nach Lewandowsky).
oben betonten wohlbekannten Grundsätzen erst die Beobachtung etwaiger
Ausfallserscheinungen bei gleichzeitiger Durchtrennung
aller zum Atemzentrum in der Medulla oblongata führender
„oberer Bahnen“; hier haben wir nun Übereinstimmung in den Er-
fahrungen der Forscher dahingehend, daß die Abtrennung des Kopf-
markes vom übrigen Gehirn gewaltige Veränderungen des Atem-
rhythmus setzt, wenn gleichzeitig die Vagi durchschnitten sind,
während die Angaben verschieden lauten für den Fall, daß sie
intakt sind. Während nämlich nach Filehne°) schon die Exstirpation
des Großhirns wenigstens temporär, nach Christiani*) und Arnheim 5) die
Abtragung der Thalami optici dauernd eine Veränderung des Atemrhythmus
bewirken sollte, hoben im Gegenteil Marckwald 6), Loewy’) und Langen-
dorff) übereinstimmend hervor, daß die Abtrennung -der Medulla oblongata
von höheren Gehirnteilen bei erhaltenen Vagis gänzlich wirkungslos sei;
dem gegenüber hat Lewandowsky?°) beim Kaninchen festgestellt, daß,
sowie der Schnitt die hinteren Vierhügel vom Kopfmark trennt,
‘) Sitzungsber. d. Wien. Akad., math.-phys. Kl., 3. Abteil., 68, 245, 1873. —
?) Studies biol. labor. John Hopkins University, Baltimore 1879; zit. nach Marck-
wald. — °) Zeitschr. f. klin. Med. 2 (1880). — *) A. a. 0.—°) A. a. 0.— °) A.a. 0.
und Zeitschr. f. Biol. 26 (N. F. 8), 260. — 7) Pflüger’s Arch. 42, 249. — ®) Arch.
f. (Anat. u.) Physiol. 1888, S. 283. — °) A. a. O., 8. 493.
Bedeutung der Vagi für den Atemrhythmus. i 39
Erscheinungen auftreten, welche mit den gleich zu besprechenden
Folgen der beiderseitigen Vagusdurchschneidung völlig überein-
stimmen, indem jede Inspiration vertieft und tetanisch verlängert erscheint,
was auf Fortfall von Hemmung zurückgeführt wird (siehe Figur 10a und b);
die (hinteren) Vierhügel enthalten somit, wie schon oben vorläufig erwähnt,
ein tonisch erregtes, an der normalen Atemregulierung beteiligtes Hemmungs-
zentrum; Durchschneidung der Vagi (Fig. 10c) verstärkt eben die Wirkung
seines Ausfalls durch gleichsinnige Ausfallserscheinung (auf den Grad dieser
Verstärkung wird unten noch zurückzukommen sein), und es muß dieses
Hemmungszentrum autochthon erregt sein oder seine Erregung auf anderen
centripetalen Bahnen als den Vagi zugeführt erhalten; welches diese sind, ist eine
nöch offene, weiter unten zu erörternde Frage. Für die Erscheinungen nach
vorheriger Vagotomie hatte Marckwald angegeben, daß sie erst mit Ent-
fernung des Trigeminuskernes volle Stärke erreichten, was Lewandowsky
als ganz gleichgültig in Abrede stellt; Asher und Lüscher!), welche neuer-
dings die Ausschaltung der oberen Hirnteile unblutig durch die Kroneckersche
Methode der Paraffininjektion ausgeführt haben, bestätigen die Existenz
eines Hemmungszentrums in den Vierhügeln, geben aber wieder an,
daß es nach Ausfall durch den Trigeminuskern vertreten werde.
c) Von den am Kopfmark selbst ein- und austretenden Nerven führen
Glossopharyngeus und Vagoaccessorius centripetale Fasern, welche an der
Atemregulierung beteiligt sein können. Elektrische Reizung des zentralen
Stumpfes des N. glossopharyngeus soll nach Marckwald?) kurz (auf die
Zeit von 2 bis 3 Atemzügen) dauernde Atemhemmung machen, während
Schiff?) und Knoll) inspiratorische Wirkungen gesehen haben wollten.
Seit sehr langer Zeit hat die Bedeutung der Nn. vagi für den
Rhythmus der Atembewegungen das Interesse der Forscher erweckt,
und die Literatur darüber hat einen derartigen Umfang erreicht, daß sie
hier auch nicht zum kleinsten Teile vollständig berücksichtigt werden kann;
ausführlichere Zusammenstellungen sind u. a. von Rosenthal’), Marck-
wald 6) und von mir”) gegeben worden. Seitdem Krimer °) mit galvanischer
und später Traube?) mit magnetelektrischer Reizung die [schon von Älteren
Marshall Hall, Cruveilhier u. a.) bei mechanischer Reizung des Vagus
gesehene] inspiratorische Wirkung erhalten haben, sind von zahlreichen
Forschern, welche unter den allerverschiedensten Versuchsbedingungen teils den
unversehrten Vagus, teils den zentralen Vagusstumpf nach den verschiedensten
Methoden elektrisch, mechanisch oder chemisch gereizt haben, teils nur in-
spiratorische, teils nur exspiratorische, teils je nach Umständen, oft anscheinend
regellos beiderlei Reizerfolge erhalten worden, bei welchen offenbar zu viele
Faktoren mitwirken, als daß sie ohne weiteres für die Bedeutung der Nn. vagi
bei der Atemregulierung verwertet werden könnten.
Bei elektrischer (tetanisierender, magnetelektrischer oder Induktions-) Reizung
wollten nur inspiratorische Wirkungen — Stillstand des Zwerchfells in Inspirations-
») Zeitschr. f. Biol. 38 (N. F. 20), 499, 1899. — °) A. a. O0. 23, 239. —
®) Moleschotts Unters. 8, 225, 1862. — *) Sitzungsber. Wien. Akad. 3. Abteil.,
92, 306, 1885. — °) Atembewegungen, Berlin 1862. — °) A. a. O0. — 7’) Pflügers
Arch. 61, 189. — °) Untersuchungen üb. d. nächste Ursache des Hustens, Leipzig
1819. — °) Beitr. z. exp. Pathol., Heft 1 u. 2, 1846.
40 Effekte der zentralen Vagusreizung.
stellung nach Traubes Vorgang — ferner gesehen haben: Kölliker und
H. Müller'), Snellen‘), Lindner’), Löwinsohn®), Cl. Bernard’), Gil-
christ‘), Funke, Schiff; dagegen nur exspiratorische Wirkungen — Atmungs-
stillstand in Exspirationsstellung — Eckhard’), Budge®), Owsjannikow’).
Rosenthal") behauptete dann, daß die letzteren nur durch Stromschleifen —
eine Fehlerquelle, auf welche hingewiesen zu haben in der Tat sein großes Ver-
“ dienst ist — und zwar auf den R. laryngeus superior bedingt seien, dessen spezifisch
hemmende Wirksamkeit in der Folge allerdings auch im wesentlichen bestätigt
worden ist. Aber Pflüger und Burkart'') sahen auch bei Vermeidung dieser
Fehlerquelle wechselnde Erfolge der elektrischen Reizung des zentralen Vagus-
stumpfes, ebenso zahlreiche folgende Untersucher (unter ihnen Rosenthal selbst),
welche zum Teil die wunderlichsten Faktoren heranzogen zur Erklärung der Ver-
schiedenheit: so z. B. Meltzer'*) das Geschlecht der Tiere (Kaninchen), Kauders')
die „Stimmung (!) der Zentren“ usw. Erst sehr allmählich fing man an, die Punkte,
auf welche es wirklich ankommen muß, besser auseinanderzuhalten, nämlich einer-
seits: die Art und Stärke des Reizes. Nachdem schon früher v. Helmholtz '),
Aubert und v. Tschischwitz'’), Rosenthal") u. a..je nach der Stärke der In-
duktionsströme verschiedene Effekte gefunden hatten, legte neuerdings Lewan-
dowsky') fest, daß ganz schwache tetanisierende Induktionsreize reine Hemmung
der Atembewegungen (Stillstand in Ruhestellung), stärkere Beschleunigung der
Atmung in Mittelstellung und schließlich inspiratorischen Tetanus, stärkste mit
Stromschleifen, wie jede schmerzhafte Reizung sensibler Nerven, „Atemunruhe“
resp. aktive Exspirationsbewegungen hervorrufen. Für die mechanische Reizung,
hatten Traube'®) (Scherenschnitt) und Czermak (Kompression des Vagus am
Halse beim Menschen) inspiratorische, dagegen Grützner'”), Langendorff”)
und Gad®') (auch für thermische und chemische Reizung) ausschließlich exspira-
torische Effekte angegeben. Nachdem schon Grützner bei Durchleiten eines auf-
steigenden konstanten Stromes Hemmung gesehen hatte, gaben Langendorff und
Oldag”) an, daß konstante und unterbrochene Kettenströme, wenn absteigend
durch den zentralen Vagusstumpf geleitet, stets inspiratorische, wenn aufsteigend,
stets exspiratorische Wirkungen geben. Bei Nachprüfung dieser Angaben kam ich *)
zu der Anschauung, daß in bezug auf die Art des zentralen Vagusreizes, und zwar
in gleicher. Weise, ob derselbe elektrisch oder nichtelektrisch sei, ein wesentliches
den Reizeffekt bestimmendes Moment darin bestehe, ob derselbe kurzdauernd.
(„Momentanreiz“, wie eine elektrische Stromesschwankung, ein kurzer Hammer-
schlag) oder von längerer gleichmäßiger Konstanz (konstanter Strom, Ligatur) ist,
insofern ersteres inspirationsanregende, letzteres inspirationshemmende Wirkung auf
das Atemzentrum äußere; und ich muß hieran auch gegenüber mehreren darauf
gemachten Einwendungen ”*) auch heute noch festhalten. Freilich darf anderseits
die Bedeutung des Zustandes, in welchem sich das Atemzentrum zur Zeit der
Vagusreizung befindet, ebensowenig wie derjenige irgend eines Zentralorgans bei
‘) Würzburger Verhdlgn. 1854, 8. 233. — ?) Nederlandsche Lancet 1854/55:
Prager Vierteljahrsschr. 1855. — °) Diss., Berlin 1855. — *) Diss., Dorpat 1858. —
°) Legons sur la physiol. etc. du systeme nerveux 2, 382 ff., Paris 1858. — °) British
etc. review 1858, p. 495. — 7) Grundzüge der Physiol. d. Nervensystems, Gießen
1854. — °) Compt. rend. 39, 749, 1854; Promotionsrede, Bonn 1855; Virchows:
Arch. 16, 433, 1859; Zeitschr. f. rat. Med., 3. Abteil., 21 (1864). — °) Virchows
Arch. 18, 572, 1860. — !°) Die Atembewegungen und ihre Beziehungen zum Nervus
vagus, Berlin 1862. — '') Pflügers Arch. 1, 107, 1868. — !?) Zentralbl. £. d. med.
Wissensch. 1882, S. 497. — '*) Pflügers Arch. 57, 333, 1894. — \) Diss., Gießen
1856. — '°) Diss., Breslau 1857; Moleschotts Untersuchungen 3, 272, 1857. —
\%) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1880, Suppl.; 1881, 8. 39, 62. — ) Ebenda 1896,
8. 195. — '?) A. a.0. — '”) Pflügers Arch. 17, 250; 57, 98, 1894. — °°) Ebenda 59,
201; vergl. Unters. Königsb. Lab. S. 50. — *!) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1880,
8. 11. — *°) Pflügers Arch. 59, 201: — °®) A.a. 0. — *) Siehe Lewandowsky,
a. a. O. und Zentralbl. f. Physiol. 10, 601; 13, 775; Boruttau, Pflügers Arch. 65,
26, 1897; Zentralbl. f. Physiol. 10, 817, 1897. )
Selbststeuerungslehre von Hering und Breuer. 41
reflektorischer Erregung vernachlässigt werden. Nachdem schon früher Wedenski
unter Heidenhains Leitung gefunden hatte, daß „flüchtige“ Reizung des zentralen
Vagusstumpfes mit einzelnen Induktionsschlägen, wenn während der Inspiration er-
folgend, exspiratorische, und wenn während der Exspiration erfolgend, inspiratorische
Wirkung habe, zeigte Lewandowsky'), daß man bei der außerordentlich ver-
langsamten Atmung, welche nach Abtrennung der oberen Bahnen und der Vagi
statt hat (s. oben, $S. 38 und unten), das gleiche sehr deutlich auch mit tetanisieren-
den Reizen erhalten kann. Auch die von Frederieq’) zuerst betonte Erfahrung,
daß tiefe Narkose (Chloral) die hemmenden („exspiratorischen“) Effekte begünstigt,
gehört hierher. Trotzdem aber dünkt es mich zu einseitig, ohne Rücksicht auf
die Art des Reizes selbst den Effekt desselben lediglich als ein Produkt der (im
einzelnen Falle unübersehbaren) Interferenz seiner Wirkung mit dem inneren
jeweiligen Erregungszustande des Atemzentrums zu bezeichnen (Lewandowsky).
Aus obigen Gründen unternahmen es bereits 1868 Hering und Breuer’),
die Wirkungsweise der natürlichen Reize auf die sensiblen Vagus-
enden in der Lunge zu untersuchen, um dem Mechanismus auf den Grund
zu kommen, mit welchem diese Nerven an der Regulierung der normalen
Atmung beteiligt sind. Sie fanden, daß beim normalen Säugetier mit
intakten Nn. vagis jede künstliche Einblasung reflektorisch eine
Exspiration, jedes Nachlassen mit dem Drücke des Blasebalges
anscheinend reflektorisch eine Inspiration hervorruft, so daß bei
künstlicher Atmung das Tier gewissermaßen seine natürlichen Atembewegungen
dem Rhythmus der künstlichen anpaßt oder isochronisch macht. Diese Er-
scheinungen fallen fort, sobald beide Nn. vagi durchschnitten sind.
Hering und Breuer nahmen darum an, daß bei der normalen
Atmung jede Inspiration reflektorisch dureh Vermittelung der Vagi
unterbrochen wird, und daß während jeder so darauffolgenden
Exspiration wieder durch Vermittelung der Vagireflektorisch eine
Inspiration hervorgerufen wird, und bezeichneten diesen Vorgang
als die „Selbststeuerung der Atembewegungen durch die Nn.vagi“.
Dabei nahmen sie zwei gesonderte Arten von centripetalen Vagus-
fasern an, deren eine durch die bei der Inspiration erfolgende
Lungendehnung gereizt werde und deren Erregung die inspira-
torische Tätigkeit des Atemzentrums hemme, während die andere
umgekehrt durch die exspiratorische Lungenverengung gereizt
werde und ihre Erregung das Atemzentrum zur Inspirations-
innervation anrege.
Für die Existenz zweier solcher Faserarten ist in der Folge dann auch
'Gad eingetreten, hinsichtlich ihrer normalen Beteiligung an der Regu-
lierung der Atembewegungen gelangte er indessen zu einem abweichenden
Ergebnis auf Grund sorgfältiger Beobachtung der bei beiderseitiger
Ausschaltung der Vagi auftretenden Ausfallserscheinungen. Es
ist eine sehr alte Beobachtung, daß nach beiderseitiger Vagusdurch-
schneidung am Halse (und zwar auch dann, wenn zur Ausschaltung
der Folgen des Recurrensausfalls eine Trachealkanüle angelegt wird, Legal-
lois) die Atemzüge, tiefer, angestrengter — von „dyspnoischem“
!) A.a. O., 8. 501 ff. — ?) Bulletin de l’Acad. royale de Belgique 47 und Arch.
f. (Anat. u.) Physiol. 1883, Supplementbd., S. 51. — °) Sitzungsber. der Wien.
Akad., math.-naturwiss. Klasse, 2. Abteil., 58, 909, 1868.
42 Atmung nach Vagotomie.
Charakter — („Vagusdyspnoe“) und dabei seltener werden, durch
längere Pausen voneinander getrennt; viele Forscher, so noch Longet,
suchten die hier nicht näher zu erörternde tödliche Lungenentzündung, welche
beim Säugetier meistens die Folge dieser Operation ist, mit diesem ver-
änderten Atemmodus in Zusammenhang zu bringen, bis Traube ihren wesent-
lichen Charakter als Schluck- oder Aspirationspneumonie aufklärte; erst
später hat man daran gedacht, zu prüfen, wieviel von diesem veränderten
Atemtypus nach der bilateralen Vagotomie als reine Ausfallserscheinung an-
zusehen, wieviel erst allmählich nach derselben sich herausbildet und wieviel
durch den etwa mit der Durchtrennung gesetzten Reiz [Goltz, Kohts und
Tiegel!)] verursacht ist; letzterer kann mechanisch sein und wird ins-
besondere, wenn Durchschnürung oder -quetschung angewandt wird, meist
zu exspiratorischen Erscheinungen führen (Langendorff, Gad); er kann
aber auch elektrisch sein, indem (nach der an sich nur einen kurzen mecha-
nischen Reiz setzenden Durchschneidung) der zentrale Stumpf in die Wunde
fällt und so der Demarkationsstrom zwischen Oberfläche und Querschnitt
durch das Wundsekret geschlossen wird [Knoll 2)]; aufsteigende konstante
Durchströmung wirkt nach den oben genauer erörterten Erfahrungen gleich-
falls atemhemmend („exspiratorisch*). Gad?®) hat darum an Stelle der
Durchschneidung die „reizlose Ausschaltung“ durch Abkühlung bis
zur Aufhebung der Erregungsleitung in den Vagi gesetzt [Durch-
frierung °); indessen braucht nach späteren Erfahrungen — Marckwald,
Boruttau u. a. — die Abkühlung nicht bis auf oder unter 0° zu gehen];
Fig. 11. dieselbe hat noch den Vor-
teil, daß bei Wiedererwär-
VVMN AN WVV men (resp. Wiederauftauen)
+ Restitution der Leitungs-
a fähigkeit der Nerven und
Wiedereintritt desnormalen
ve Atemtypus stattfindet. Die
so beobachteten „reinen
u a Ausfallserscheinungen“
sind nach Ausschaltung nur
des einen Vagus meist kaum nennenswert; nach Abkühlung des zweiten
(* in Fig. 11a) indessen tritt sofortige Vertiefung und Verlängerung der
nächsten Inspiration auf, während die exspiratorischen Phasen („Atempausen“)
zunächst unverändert oder gar verkürzt sind; erst später und allmählich .
nehmen sie an Dauer zu (Fig. 11b) und können schließlich so lange werden,
daß z. B. beim Hunde nur 3 bis 4 Atemzüge in der Minute erfolgen.
Bei dieser ausgebildeten „Vagusdyspnoe“ — Inspirationen tetanisch, Pausen ver-
längert — wird meist auch die Exspiration aktiv, besonders beim Hund, doch kann
beim Kaninchen auch nach länger dauernder Pause erst eine kurze aktive Exspiration,
dann unmittelbar darauf die vertiefte Inspiration folgen („saccadierte* Atmung,
Langendorff).
Benutzt man eine die Schwankungen des Lungenvolums registrierende
Vorrichtung (schreibendes Spirometer, Gads Volumschreiber, sehr nachgiebige
‘) Pflügers Arch. 13, 84, 1876. — ?) Sitzungsber. d. Wien. Akad., 3. Abteil.,
85, 282, 1892. — °) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1880, 8. 9f.
Tonus des Lungenvagus. 43
Mareysche Kapsel), so ist deutlich zu erkennen, daß unmittelbar nach der
reizlosen Vagusausschaltung die Mittellage des Thorax stark im exspiratori-
schen Sinne verschoben, der dauernde Tonus der Inspirationsmuskeln, auf
welchen sich die rhythmischen Kontraktionen aufsetzen, also sehr verstärkt
ist; dies vereint mit der tetanischen Verlängerung dieser letzteren macht die
Atemform nach beiderseitiger Vagusausschaltung zu einer äußerst
unzweckmäßigen, indem die Anstrengung der Atemmuskulatur
enorm vergrößert ist, bei der [nach Rosenthal!) gleichbleibenden, im
späteren Stadium verminderten] jedenfalls nicht erhöhten Atemgröße und somit
Ventilation der Lungen der Nutzeffekt der Atembewegungen außerordent-
lich verschlechtert ist. Als reine Ausfallserscheinung kann nun diese
unmittelbar nach der reizlosen Vagusausschaltung auftretende Atemform, wie
Gad mit Recht betont hat, nur dadurch erklärt werden, daß lediglich
hemmende Impulse, welche durch die centripetalen Vagusfasern
dem Atemzentrum zugeleitet und, bei der normalen Atem-
regulierung beteiligt, hier ausgefallen sind. Von einem Ausfall
inspirationsanregender Impulse, welche nach Rosenthal die einzige
und eigentliche Funktion des Lungenvagus bilden, nach Hering und Breuer
mit den hemmenden alternieren sollten, kann nach den beschriebenen
Ergebnissen nicht die Rede sein. Die allmählich auftretende Ver-
längerung der Pausen zwischen den Atemzügen und Wiedererreichung
einer der Cadaverstellung näheren Ruhelage des Thorax wäre nach Gad erst
als „Spätfolge“ der Vagusausschaltung dadurch zu erklären, daß durch
die infolge des Fortfalls der Hemmung so vermehrte inspira-
torische Anstrengung das Atemzentrum gewissermaßen ermüdet
und zwischen den Atemzügen immer längere Zeit braucht, damit der auto-
chthone oder Blutreiz wieder zur Wirksamkeit gelangt.
Diese sog. Spätfolgen können nun freilich, wie Kurven von Lindhagen°),
von mir und anderen zeigen, auch sehr bald, schon wenige Atemzüge nach der
reizlosen Ausschaltung auftreten; indessen dürfte die Ursache hiervon in nicht
genügend vermiedener Dyspnoe liegen, welche natürlich schon von vornherein eine
gewisse Ermüdung oder Erregbarkeitsherabsetzung des Atemzentrums mit sich bringt.
Daß lediglich durch den jeweiligen Ausdehnungszustand der Lunge im
Sinne von Hering und Breuer eine stetige Erregung der centripetalen
Vagusfasern stattfindet — „Tonus des Lungenvagus* —, und daß diese
Erregung eine Hemmung der inspirationsinnervierenden Tätigkeit des Atem-
zentrums darstelle, hat ferner Loewy?°) wahrscheinlich gemacht, indem er
fand, daß nach Durchschneidung des einen Vagus die Herstellung von Pneumo-
thorax auf der anderen Seite einen sofortigen Inspirationstetanus erzeugt
und weiterhin einen Atemtypus, genau als ob auf dieser Seite gleichfalls der
Vagus ausgeschaltet sei, statt des Lungencollapses. Von den, wie unten
näher berichtet, von Head) näher untersuchten beiden Hering-Breuer-
schen Grundphänomenen wäre demnach nur der exspiratorische Stillstand
bei Lungenaufblasung auf eine Vagusreizung zurückzuführen, die inspira-
torische Wirkung der Lungenaussaugung oder des Lungencollapses dagegen
eine reine Ausfallserscheinung, indem sie nicht auf Erregung von inspira-
!) Atembewegungen usw. — ?) Skandinav. Arch. f. Physiol. 4, 296. —
®) Pflügers Arch. 42, 273, 1888. — *) Journ. of physiol. 10, 1.
44 Art der tonischen Erregung.
torischen, sondern auf dem Fortfall der Erregung der inspirationshemmenden
Vagusfasern beruhe. Während nun Gad die Existenz inspirationsanregender
Vagusfasern neben den inspirationshemmenden (angesichts der Effekte künst-
licher Vagusreizung) zugibt, glaubte Lewandowsky annehmen zu müssen,
daß solche überhaupt nicht, vielmehr nur eine einzige Art von Vagusfasern,
und zwar bei der normalen Atemregulierung hemmend funktionierende, vor-
handen sei.
Ich habe gleichfalls eine Faserart für genügend erachtet, zumal nachdem
Trennungsversuche sowohl im Verlaufe des Halsvagus — Steiner!) — als auch
im Wurzelgebiet an der Hirnbasis — Beer und Kreidl?) — sich als vergeblich
erwiesen haben, muß jedoch dabei bestehen bleiben, daß je nach der Art des Reizes
- die Wirkung dieser einen Faserart inspirationshemmend oder -anregend sein kann.
Daß bei der normalen Regulierung bei den meisten Säugetieren — Kaninchen,
Hund, wahrscheinlich auch Mensch — in der Tat nur die Hemmungswirkung be-
teiligt ist, hat Lewandowsky°®) noch wahrscheinlicher gemacht durch den Nach-
weis, daß am peripherischen Vagusstumpfe bei Lungenaufblasung eine tetanische
negative Schwankung des Demarkationsstromes auftritt, bei dem Wiederzusammen-
sinken aber keinerlei elektrisches Aktionsphänomen zu erkennen ist, Tatsachen,
welche ich selbst habe bestätigen können ').
Indessen sprechen manche Tatsachen dafür, daß unter gewissen aus-
nahmsweisen Bedingungen eine inspirationsanregende Vaguswirkung hervor-
treten kann: so hat Head) durch rhythmisch wiederholte Aussaugung
(„negative Ventilation“) beim Kaninchen tonisch verstärkte Inspiration er-
halten, welche noch nach dem Aufhören derselben andauert (gleichsinnige -
Nachwirkung) — siehe Fig. 12 —, welche genau analog der Atemhemmung
Fig. 12.
a Y/NNTNN Passive Bewegung der Brustwand
— nn AAN Aussaugungen der Pumpe
Zwerchfellbewegung
Bo a a Fa ae DE En
Nach Head.
bei rhythmisch wiederholter Einblasung („positive Ventilation*) ist, die auch
eine gleichsinnige Nachwirkung besitzt — siehe Fig. 13 —; die erstgenannte
Erscheinung nur durch Hemmungsausfall zu erklären, dürfte in der Tat seine
Schwierigkeiten bieten; ferner hat neuestens Schenck®) angegeben, daß
reizlose Vagusausschaltung während dauernder kräftiger Aussaugung beider
Lungen exspiratorische und nicht wie sonst inspiratorische Ausfallserschei-
nungen mache.
!) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1878, 8. 577. — ?) Pflügers Arch. 62, 156,
1896. — °) Ebenda 73, 288 und Diss., Halle 1898. — *) Ebenda 84, 388, 1901. —
®) A. a. ©. — °) Pflügers Arch. 100, 337, 1903.
Weitere Atemreflexe. 45
Weniger gut verwertbar in dem erörterten Sinne dürften die entgegengesetzten
oder ungleichsinnigen Nachwirkungen sein, welche von Lewandowsky, Head u.a.
nach dem Aufhören sowohl „künstlicher“ wie natürlicher Reizung des Lungenvagus
beobachtet worden sind: inspiratorische Nachwirkung
hemmender elektrischer Reizung des zentralen Stumpfes
(auch nach bilateraler' Durchschneidung. noch erhält-
lich!); inspiratorische Nachwirkung der exspiratorisch
wirkenden Lungenaufblasung und exspiratorische Nach-
ö wirkung der inspiratorisch wirkenden Lungenaus-
{ saugung. Hier dürfte vielmehr das Durchbrechen der
N während der Hemmung im Atemzentrum angesam-
E melten Erregung, und umgekehrt die Ermüdung des-
E selben nach längerer inspirationsanregender Tätigkeit
alles Wesentliche erklären. Darum dürften auch Melt-
zers!) Argumentationen für die Beteiligung beider
Faserkategorien an der normalen Atemregulierung
ebenso hinfällig sein wie die von Treves?) gelegentlich
gemachte Annahme einer dritten „exspirationshemmen-
den“ Vaguswirkung. =
Daß bei anderen als den uns hier interessierenden
Tierarten die Regulierung der normalen Atmung und
die Beteiligung der Nn. vagi an ihr ganz anderer Art
sein kann, halte ich für sehr wahrscheinlich, doch
ist hier nicht der Ort, die wenigen bis jetzt darüber
existierenden Arbeiten näher zu besprechen?). Auch
auf die kürzlich‘) von Mosso gemachten Angaben,
nach welchen für den Menschen die Breuer-Hering-
schen Grundversuche nicht gültig sein sollten, kann 1
hier nicht näher eingegangen werden; doch scheinen
mir dieselben schwerwiegenden Einwänden ausgesetzt Pr
zu sein. be
I
|
Passive Bewegung der Brustwand
&n
5,
©
B
©
R-
=
&
R=]
©
m
©
E
N
ı Sekunden
N
------ Einblasungen der Pumpe
Fig. 13.
Nach Head.
d) Die Rr. laryngei, besonders der La- Be
ryngeus superior, doch auch die Lungenästte ( ..-
des Vagus selbst führen sensible Fasern, _
deren spezifische Wirkung insbesondere bei \ =”
Reizung durch Gase und Dämpfe — Gad und. m
Zagari’); hierher auch der Bernssche) Atem- ns
reflex durch Kohlensäure — in Inspirations- je
.-
hemmung (Rosenthal), öfter verbunden mit en
aktiver Exspiration und Glottisschluß (Hustenreflex, en
siehe oben) besteht. era
e) Viel weniger konstant sind die durch Pr
die sensibeln Spinalnervenbahnen aus- =
gelösten Atemreflexe.. Als typisch wären
hier wesentlich die ‘sog. Eintauchreflexe zu er-
wähnen. Nachdem zuerst Rosenthal und Falk’) :
Y) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1892, $. 340. — ?) Arch. ital. de biol. 27,
169, 1897.. — °) Die Atmung der Reptilien behandelte Siefert in Pflügers
Archiv 64, 321, 1896; ‚diejenige sowie die Atmungsinnervation der Vögel M. Baer
in Zeitschr. f. wissenschaftl. Zool., 61, 420, 1896, und Grober in Pflügers Arch.
76, 427, 1899. — *) Arch. ital. de biologie 50 (1903). — °) Arch. f. (Anat. u.)
Physiol. 1891, 8. 37. — °) Diss., Leiden 1869. — 7) Arch. f. (Anat. u.) Physiol.
1884, 8. 455.
46 Beteiligung der Sensibilität an der Atemregulierung.
auf dieselben aufmerksam gemacht hatten, setzten Holmgren!) und
Fredericq?) auseinander, daß Eintauchen eines Kaninchens mit dem
caudalen Körperende in kaltes Wasser Inspirationstetanus erzeugt, während
Eintauchen mit dem Kopfe durch die Trigeminusreizung (siebe oben)
atemhemmend wirkt; analog scheinen nach meinen Erfahrungen auch die
Wirkungen kalter Güsse beim Menschen zu sein. Charakteristisch atem-
hemmend wirkt nach Budge?°) und J. C. Graham) Splanchnicusreizung;
alle übrigen sensiblen Spinalnerven sollen nach Lewandowsky°) bei
schwächster Reizung inspiratorisch wirken, während starke Reizung zugleich
mit Schmerzäußerungen „Atemunruhe und aktive Exspirationen“ hervorrufen
soll, die aber wahrscheinlich eine echte Hemmung verdecken; diese letztere
soll nach Schiff®) bei ganz tiefer Narkose rein hervortreten.
Es ergibt sich nun schließlich die Frage, wie weit die unteren.
sensibeln Nerven, sowie afferente Bahnen überhaupt ausschließ-
lich der Vagi an der normalen Atemregulierung beteiligt sind.
Während ältere Forscher geneigt waren, etwas derartiges zu bejahen — so
Budge, welcher nach Abziehen der Haut analoge Veränderung der Atem-
rhythmik beobachtet haben wollte wienach Vagusdurchschneidung, und Schiff,
welcher nicht nur annahm, daß die anderen afferenten Bahnen für die Vagi
vikariierend eintreten können, sondern noch 1894 überhaupt die Ursache der
Atembewegungen für reflektorisch und nicht automatisch hielt —, so besteht
bei neueren Forschern, insbesondere Marckwald und Lewandowsky, die
sehr bestimmte Überzeugung, daß die Nerven der allgemeinen Sensibilität an
der normalen Atemregulierung gar nicht beteiligt seien. Demgegenüber
glaube ich darauf hinweisen zu müssen, daß für die Koordination und
Regulation jeder Bewegung, sei sie nun willkürlich, reflektorisch oder
automatisch, rhythmisch oder nicht, nach dem jetzigen Stande unserer Kennt-
nisse die Mitwirkung der Muskelsensibilität, wie auch der durch
die sensibeln Nerven der Sehnen, Gelenke, Knochen und Haut
vermittelten Lage- und Bewegungsempfindung durchaus nicht
entbehrt werden kann. Während zwar Lewandowsky direkte Reizung
der Intercostalnerven schwach inspiratorisch wirken sah, gibt Spina’”) an,
daß jede sensible Nervenreizung nach bilateraler Vagotomie stark exspira-
torisch wirkt; derselbe Forscher und Mislawsky®°) haben gezeigt, daß
Reizung der schon durch v. Anrep und Cybulski°’) nachgewiesenen
centripetalen Phrenicusfasern im wesentlichen die Tätigkeit des Zwerch-
fells hemmt; und Baglioni!P) sah neuestens direkte Reizung des Zwerchfells
selbst (bei durchschnittenen Vagis) eine Exspirationsbewegung der Nasenflügel
des Kaninchens auslösen. Es erscheint mir am wahrscheinlichsten, daß alle
cerebralen (oberen) und spinalen (unteren) Bahnen der allge-
meinen Sensibilität, insbesondere aber diejenigen der Atemwege
und Atemmuskeln, in direkter Verbindung mit dem nach Lewan-
‘) Upsala Läkareförenings Förhandlingar, 18, 203, 1883. — ?) Arch. f. (Anat. u.)
Physiol. 1883, Suppl., S. 51. — °®) A. a. O0. — *) Pflügers Arch. 25, 379, 1881. —
5) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1896, 8. 241. — °) Gesammelte Beiträge z. Physiol. 1,
42, 75, 94 usw., 1894. — 7) Wiener medizin. Blätter 1896, Nr. 10 bis 13. — *) Zen-
tralblatt f. Physiol. 15, 481, 1901. — °) Pflügers Arch. 33, 243, 1884. — !®) Zentral-
blatt f. Physiol. 16, 649, 1903.
Symmetrie der Atemregulierung. 47
dowsky und Asher und Lüscher (sieheoben) in der Vierhügelgegend
anzunehmenden Atemhemmungszentrum stehen. Auf diese Weise
können sie den Ausfall der direkt mit dem bulbären Atemzentrum verbundenen,
von der Lungensensibilität aus hemmenden Vagi zum Teil ersetzen, ebenso
wie diese, solange sie erhalten sind, bewirken, daß die Atmung nach Ab-
trennung des Kopfmarkes vom übrigen Gehirn nicht stärker verändert erscheint
als nach bloßer Vagotomie auch. Erst nach Ausschaltung beider, der
Vagi undder Verbindung mit der Vierhügelgegend (nach Marckwald
sowie Asher und Lüscher auch noch des Trigeminuskerns), nehmen die
Atembewegungen die Gestalt an, wie sie dem von allen regulie-
renden Einflüssen abgeschnittenen medullären Atemzentrum
zukommt.
Kroneceker und Marckwald haben diesen Typus als Atemkrämpfe
bezeichnet, gingen aber wohl zu weit darin, ihm auch die Koordination gänzlich
abzusprechen, für welche ja die Einrichtung des Zentrums auch ohne Regulier-
vorrichtung zum Teil genügen kann; sicher zu Unrecht sprechen sie ihm die
Rhythmizität ab und sehen die Rolle der Vagi darin, die kontinuierliche Erregung
rhythmisch abfließen zu lassen; sie bezeichnen sie darum als Entlader, indem sie
sie mit der Laneschen Maßflasche vergleichen, welche eine rhythmische Entladung
der großen Leidener Flasche bewirkt.
Daß die Veränderung des Rhythmus (tetanische Zn ationen und verlängerte
Pausen) nach Durchtrennung der Vagi und der oberen Bahnen mehrfach so stark
ist, wie nach jedem dieser Eingriffe allein, darf uns sicher nicht wundernehmen,
nachdem ja jede Regulationsstörung nach zwei aufeinander folgenden Exstirpationen
am Nervensystem, deren jeder einzelnen Folge durch den anderen Regulierapparat
ausgeglichen werden konnte, dauernd und irreparabel sich zeigt [Bickel')].
Für die Regulierung der Atembewegungen scheinen, wie schon oben an-
gedeutet, die Commissurfasern des Atemzentrums von Bedeutung zu sein: Langen-
dorff?) fand, daß, wenn nach medianer Spaltung des Kopfmarkes, welche zunächst
ohne Folgen bleibt, nunmehr auf der einen Seite der Vagus durchschvitten wird,
alsbald Störung der bilateralsymmetrischen Koordination auftritt: Die Atmung wird
nur auf der vagotomierten Seite verlangsamt und zentrale Reizung eines Vagus
bringt nur diese Seite zum Stillstand; werden beide Vagi durchschnitten, so ist die
unabhängige und oft alternierende Bewegung beider Brusthälften höchst auffallend.
4. Besondere Zustände der Ateminnervation: Apnoe,
Dyspnoe und Asphyxie.
Wenn man bei einem Tiere vermittelst Blasebalgs und Trachealkanüle ?)
wiederholte Lufteinblasungen in die Lunge macht, so findet man, daß wäh-
rend derselben das Tier zu atmen aufhört und nach Beendigung derselben
eine noch längere Zeit der Ruhe vergeht, ehe das Tier wieder beginnt, eigene
Atembewegungen zu machen. Diesen Zustand hat Rosenthal als „Apnoe“
bezeichnet und angenommen, daß die Atembewegungen ausblieben
wegen mangelnden Atembedürfnisses, sobald durch die Ein-
blasungen das zuvor nicht völlig mit Sauerstoff gesättigte
Arterienblut in den Zustand völliger Sauerstoffsättigung ge-
lange; demgegenüber zeigte Gad*), daß bei reizloser Vagusausschaltung
1) A. a. 0. — ?) Arch. £. (Anat. u.) Physiol. 1881, 8. 78. — °) Auf die Ge-
schichte und Technik der künstlichen Atmung näher einzugehen, verbieten leider
Zweckbestimmung und Umfang dieses Werkes. — *) Arch. f. (Anat. u.) Physiol,
1880, 8. 28.
48 Apnoe.
während solcher Apnoe sofort tiefe Inspirationen wieder einsetzen; und
nachdem auch Knoll!) gefunden hatte, daß bei durchschnittenen Vagis sich
viel schwieriger durch künstliche Einblasungen Atemstillstand erzeugen läßt,
auch auf die relativ dunklere Farbe und das immer Dunklerwerden des
arteriellen Blutes noch während der Apnoe wiederholt aufmerksam gemacht
worden war, stellte im Jahre 1885 Miescher-Rüsch?) die Unterscheidung
auf zwischen echter Apnoe — Apnoea vera —, welche auf die von
Rosenthal vorgestellte Art und Weise zustande komme, und
falscher Apnoe — Apnoea spuria s. Apnoea vagi —, welche auf
der durch die Einblasungen gesetzten zentralen Vagusreizung
beruhe; wir haben schon gesehen, daß in der Tat Head’), je nachdem er
bloße rhythmische Einblasungen oder bloße Aussaugungen anwendete, rein
exspiratorischen oder rein inspiratorischen Atemstillstand hervorrufen konnte:
Bei alternierenden Einblasungen und Aussaugungen erfolgt nach seinen,
seitdem öfters bestätigten Erfahrungen der „apnoische* Stillstand in einer
Mittelstellung mit erhaltenem Tonus der Inspiratoren.
Offenbar eine echte Apnoe ist die schon oben besprochene fötale
Apnoe, bei welcher übrigens bei der beständig erfolgenden, für das intra-
uterine Leben genügenden Sauerstoffversorgung eine geringere Erregbar-
keit des Atemzentrums besteht als später nach der Geburt: Das
Dunklerwerden des arteriellen Blutes (resp. Geringerwerden des Farben-
unterschiedes zwischen beiden Blutarten) bei der Apnoe nach Einblasung
weist darauf hin, daß auch hier ein Sinken der Erregbarkeit statt-
finden muß.
Auch am Menschen sind Apnoeversuche angestellt, welche jedoch wegen der
dabei angewandten willkürlichen tiefen Atemzüge nicht einwandfrei sind, so von
Neander*) und neuestens von Mosso°); letzterer nimmt an, daß die oben angedeutete
Erregbarkeitsherabsetzung durch Mangel an produzierter Kohlensäure zustande komme
— sog. „Akapnie“ —; er sieht den eigentlichen Atemreiz nicht im Sauerstoff-
mangel, sondern in der produzierten Kohlensäure, und führt auch die Erscheinungen
am Atem- und Kreislaufsapparat beim Aufenthalt im Hochgebirge auf solchen
Kohlensäuremangel oder „Akapnie“ zurück — Dinge, welche im vorigen Abschnitt
behandelt sind.
Hoppe-Seyler‘) wollte die Apnoe durch Ermüdung des Atemzentrums resp.
der Atemmuskulatur erklären, eine Vorstellung, welche in dieser Form wenig An-
klang gefunden hat, mir indessen nach seiner Darstellung mit der Annahme der
Beteiligung einer Erregbarkeitsherabsetzung identisch zu sein scheint.
Den Zustand bei gewöhnlicher Atmung mit normaler Tiefe und nor-
malem Rhythmus hatRosenthal alsEupnoe bezeichnet, zum Gegensatz des
seit altersher bei den Ärzten gebräuchlichen Wortes Dyspnoe für die
augenscheinlich erschwerte, daher über die Norm angestrengte
Atmung.
‚Ursache der Dyspnoe kann sein:
1. Verminderung des Sauerstoffpartiardruckes in der um-
gebenden Luft, insbesondere durch Verdünnung derselben; jedoch muß diese
eine recht beträchtliche sein, um nennenswerte Veränderungen der Atem-
') Sitzungsber. der Wiener Akad., 3. Abteil., 85, 101, 1882. — °) Ebenda 1885,
S. 365. — °) A. a. 0. — *) Skand. Arch. £. Physiol. 12, 298. — °) Arch. ital. de biol. 40,
Heft 1 (1903). — °) Zeitschr. f. physiol. Chemie 3, 105, 1879.
Dyspnoe. 49
mechanik zu setzen, wofern nicht ihre Wirkung durch andere Faktoren
(besondere Reize der Hochgebirgsluft usw., vermehrte Muskeltätigkeit) kom-
pliziert. wird; alle diese Dinge werden in der Chemie der Atmung näher
erörtert.
2. Verstärkung der inneren Atmung, insbesondere bei sehr ge-
'steigerter Muskelanstrengung: Dyspnoe beim Laufen, Berg- und Treppen-
steigen, Radfahren usw.
3. Mechanische Atemhindernisse, wie Verlegung oder Verengerung
der Luftwege (Larynx-, Tracheal- oder Bronchostenose), im Tierversuch Ver-
bindung derselben mit dem Atemluftraum durch ein langes und enges Rohr
(„Rohrdyspnoe“, Gad), ferner Pneumothorax (s. oben), Atelektase von
Lungenabschnitten, Anfüllungen derselben mit festen Exsudaten oder Infiltra-
tionen (Hepatisation) oder mit seröser Flüssigkeit (Lungenödem).
4. Störung der respiratorischen Funktion des Blutes auf
chemischem Wege, z. B. durch Fixation des Hämoglobins an BDIeNaEgl,
oder durch größeren Blutverlust, siehe weiter unten.
Welche dieser Ursachen nun auch vorliegen mag, eherlich ist
jedenfalls die Erscheinungsweise, deren Wesen in Vertiefung der
einzelnen Atemzüge besteht, indem die Kontraktion der Inspiratoren ver-
stärkt und verlängert ist und die inspiratorischen Hilfsmuskeln (siehe oben)
sich daran beteiligen; man hat ihr höchstes Stadium beim Menschen, bei
welchem Aufstützen auf die Arme stattfindet, Pectorales, Serratus anticus
und Sternocleidomastoidei wirksam werden, als „Orthopnoe“ bezeichnet.
Dabei kann anfangs auch die Frequenz der Atemzüge gesteigert sein, dem
später sekundäre Frequenzverminderung als Ermüdungssymptom entgegen-
steht; der zunächst stets erreichte Zweck ist die Erhöhung der Atem-
größe und dadurch Verbesserung der Ventilation der Lungen und
des Blutes, bessere Sauerstoffzufuhr zu und Kohlensäureausfuhr von den
Geweben.
Nur zu Unrecht als Dyspnoe („Vagusdyspnoe*) bezeichnet ist darum
auch die Atemform nach beiderseitiger Vagusdurchschneidung, von der ja
oben auseinändergesetzt wurde, daß sie bei vermehrter Anstrengung einen
wesentlich verschlechterten Nutzeffekt bedeutet.
Ebenfalls keine echte Dyspnoe ist die gleichzeitige Beschleunigung
und Verflachung der Atemzüge, welcher man vielfach an Warmblütern bei
hoher Umgebungstemperatur begegnet, besonders solchen mit un-
entwickelter Schweißsekretion (Hunde in der Sonne), und welche besser als
„Wärmetachypnoe“ bezeichnet wird [von Richet!) weniger glücklich
als Polypn&e thermique bezeichnet]. Sie kann künstlich durch direktes Er-
wärmen des Körpers [Fick und Goldstein2)] oder des strömenden Blutes
[Einlegen der Carotiden in Heizröhren, Gad und Mertschinsky°)] erzeugt
werden und ist offenbar nur ein Hilfsmittel der physikalischen Wärme-
regulierung, indem durch die Beschleunigung der Atemzüge die Wärme-
abgabe durch Verdunstung von der Lungenoberfläche erhöht wird, bei der
gleichzeitigen Abflachung der Atemzüge die Atemgröße aber unverändert
%) Compt. rend. 99, 279, 1884. — ?) Pflügers Arch. 5, 38, 1872; Verhandl.
d. math.-physik. Ges. Würzburg 2, 156. — ®) Ebenda, N. Folge, 16, 115.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 4
50 Zustandekommen der Dyspnoe.
bleibt. Beim Hunde mit Tachypnoe wird ja gewöhnlich die Verdunstung
noch durch die zum Maule heraushängende Zunge unterstützt.
Auch bei durchschnittenen Vagis kann nach meiner Erfahrung am Hunde
Tachypnoe auftreten; dieselbe kommt auch ohne Überwärmung nicht selten vor,
anscheinend bei Furcht oder sonstigen psychischen Affekten, und weicht dann erst
tieferer Narkose.
Untersuchungen über die Dyspnoe lieferten, wie wir gesehen haben, die
Grundlage zu der Vorstellung von der automatischen (autochthonen) Er-
regung des bulbären Atemzentrums durch den Reiz des venösen Blutes, indem
man ja eben sagen kann, daß die vermehrte Venosität des Blutes (oder beim
MENT
ru
Blutverlust durch den Mangel an Sauerstoffzufuhr durch das Blut und die
mangelnde Abfuhr, somit Anhäufung der Atmungsprodukte an Ort und
Stelle) im Zentralnervensystem die Dyspnoe macht, und zwar wird diese,
wie wir sahen, durch Sauerstoffmangel allein, wie bei genügendem Sauerstoff-
partiardruck durch reichlich vorhandene Kohlensäure in gleicher Weise er-
zeugt [Rosenthal, Pflüger und Dohmen!?)]; über das Verhältnis dieser
beiden Reize zueinander und den Grad der Bedeutung eines jeden wird
freilich noch sehr gestritten; den Sauerstoffmangel hat Benedicenti?)
für den alleinigen Atemreiz erklärt, für die Kohlensäure sind neuerlich
Zuntz und Loewy?°), Rulot und Cuvelier, vor allem aber Mosso
(s. oben) eingetreten.
Für die Bedeutung der Kohlensäure als hauptsächlichen allgemeinen Nerven-
reiz ist vor allem Waller*) auf Grund elektrophysiologischer, jetzt freilich in
weniger einfachem Lichte erscheinender Versuche eingetreten; anderseits lehrt die
vergleichende Physiologie die Kohlensäure vor allem als ein lähmendes Gift kennen,
und Winterstein°) konnte auf das Zentralnervensystem der Kaltblüter auch nur
eine lähmende Wirkung erhalten; beim Warmblüter fand derselbe Forscher freilich
auch eine erregende Wirkung‘).
Man kann allerdings mit Kohlensäure, auch der selbstproduzierten, selbst beim
Warmblüter eine regelrechte Narkose einleiten [P. Bert, Frederieg’)]; doch er-
scheint dieselbe mir die sekundäre und die erregende Wirkung die primäre, nicht,
wie Winterstein mutmaßt, umgekehrt.
Man hat den Sauerstoffmangel auch als eine nur indirekte Ursache des nor-
malen Atemreizes, wie auch der Dyspnoe angesprochen auf Grund der Vor-
stellung, daß bei Sauerstoffmangel giftige, das Zentralnervensystem erregende Pro-
dukte unvollkommener Oxydation in den Geweben entstehen [Alex. Schmidt),
Pflüger’), Durdufi'®)].
Allerdings gibt es zahllose Gifte, ja es sind die meisten chemischen Ver-
bindungen, welche auf die Nervensubstanz, speziell des Atemzentrums, direkt teils
erregend, teils lähmend!'), sowie auch reflektorisch in der verschiedensten Weise
einwirken; doch gehört die Besprechung aller dieser höchst interessanten Tatsachen
nicht mehr in ein Handbuch der Physiologie; neuestens hat sich Magnus der
Mühe unterzogen, die neuere Literatur über die „Pharmakologie der Atem-
') A. a. 0. — °) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1896, $. 408; neuerdings läßt
er (zusammen mit Treves) die Kohlensäure im unten erörterten allgemeinen
Sinne als primär erregendes Gift zu (Arch. ital. de biol. 1900, p. 372). —
®) Ebenda 1897, 8. 379. — *) Lectures on physiology, Animal electrieity, London
1897. — °) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1900, Suppl.-Bd., 8. 177. — °) Zeitschr. f.
allg.: Physiol. 3, 359, 1903. — 7) Siehe dessen Manipulations de physiologie,
Paris 1892, p. 123. — °) Ber. d. sächs. Ges. d. Wiss, math.-physik. Kl., 9. Nov.
1867. — °) Pflügers Arch. 1, 61, 1868. — !°) Arch. f. exp. Pathol. 43, 115; dieser
Autor hält das Nebennierenextrakt für diesen Stoff. — "') Vgl. Baglioni, Zeitschr.
f. allg. Physiol. 3, 313, 1903.
Asphyxie. 51
mechanik“, wie sie in physiologischen , toxiko-pharmakologischen und klinischen
Arbeiten weit verstreut ist, zu sammeln; es soll auf diesen anerkennenswerten
Bericht!) hier hingewiesen sein.
Daß das Zustandekommen und die Art der Atemreflexe von
afferenten Nerven her von dem Zustande des Atemzentrums —
Apnoe, Eupnoe oder Dyspnoe — abhängig ist, ist schon oben bei Besprechung
der zentralen Vaguswirkung und der Apnoe angedeutet worden; aus seinen
neueren Versuchen glaubt Schenck?) schließen zu dürfen, daß die reflek-
torische Atemhemmung, auch wohl Erzeugung aktiver Exspirationen deut-
licher ausgesprochen ist in der Apnoe und Eupnoe, als in der Dyspnoe, daß
dagegen bei letzterer inspiratorische Reflexe wirksamer seien. Doch gilt
letzteres sicher nicht für die künstliche zentrale Vagusreizung und überhaupt
nicht für dasjenige Stadium der Dyspnoe, in welchem überhaupt die Erregbar-
keit des Atemzentrums herabgesetzt ist.
Diese „Lähmung“ ist die notwendige Folge dauernder fruchtloser An-
strengung und gehört zu den Grunderscheinungen der an die
Dyspnoe sich anschließenden Erstickung oder Asphyxie.
Nach Högyes?°) sollte der Übergang von der Dyspnoe zur Asphyxie
durch aktive Exspirationen charakterisiert sein, welche mit dem Beginn der
allgemeinen „asphyktischen*“ Muskelkrämpfe zusammenfallen und einer
„präterminalen Atempause“ Platz machen, welche weiterhin durch die einzelnen,
durch große Pausen getrennten, oft recht tiefen, schon von Sigm. Mayer
als „terminal“ bezeichneten Atemzüge unterbrochen wird [agonal nennt sie
Richet®)]; indessen scheint diese „exspiratorische Dyspnoe“ durchaus nicht
die Regel zu sein; vielmehr ist das Wesentliche des Übergangs zur Asphyxie
gerade die Erregbarkeitsverminderung des Atemzentrums, welche sich im
Flacherwerden der Inspirationen äußert. Genauer dargelegt wurde dies in einer
den besonderen Erstickungsfall in Gestalt der Verblutung behandelnden
Untersuchung über „hämorrhagische Dyspnoe* von Gad und
Holovtschiner’), in welcher Gad zur Unterscheidung gelangte erstens
des „pneumatorektischen“ („Lufthunger“, von 00n&ı5) Stadiums mit vertieften,
manchmal beschleunigten Inspirationen, zweitens des „hypokinetischen“, mit
starker Abflachung der Atmung, eben als Zeichen der beginnenden Lähmung
des Atemzentrums, welche nunmehr immer ausgesprochener wird in dem dritten
oder „terminalen“ Stadium. Gelegentlich treten ganz zum Schluß noch einige
Atemzüge völlig normaler Rhythmik auf, wie denn auch ein scheinbar schon
ersticktes, ertrunkenes oder verblutetes Tier durch künstliche Atmung (und
eventuell Transfusion) bekanntlich wieder zu normalen Atembewegungen ge-
bracht werden kann, wenn das Herz noch in Tätigkeit geblieben war (ja selbst
dieses letztere kann ja nach den letzten Erfahrungen „wiederbelebt“ werden).
Die Bezeichnung „terminal“ ist darum eigentlich nicht ganz zutreffend.
Hiermit hat nichts Näheres zu tun die von Gad und Holovtschiner an-
geführte, von mir und Feis®) u. a. bestätigte Erfahrung, daß bei Hämor-
!) Ergebnisse d. Physiologie von Asher u. Spiro, Bd. 2 des 1. Jahrg., Wies-
baden 1902. — ?) Pflügers Arch. 79, 319, 1900. — °) Arch. f. exper. Pathol. u.
Pharmakol. 6, 86, 1875. — *) Archives de physiologie, Jahrg. 1894, 8. 653. — °) Arch.
£. (Anat. u.) Physiol., Jahrg. 1886, S. 451; siehe auch Suppl.-Bd., 8. 232. — °) Arch.
f. pathol. Anat. 138, 75, 1875.
52 Periodische Atmung. ’
rhagien bloße Kochsalzinfusionme ist keine dauernde lebensrettende Wirkung hat,
wenn die Atmung schon ins hypokinetische Stadium übergetreten war.
Auch auf die Wirkungen der Erstickung auf den Kreislauf — dyspnoische
und asphyktische Blutdrucksteigerung und Vagusreizung usw. — kann hier nicht
näher eingegangen werden, muß vielmehr auf den betreffenden Abschnitt dieses
Handbuchs verwiesen werden; nur so viel sei betont, daß im allgemeinen Reizung
und Lähmung einerseits des Atemzentrums, anderseits des Gefäßzentrums, welche
ja beide schon anatomisch und darum sicher funktionell in nahen Beziehungen
stehen, stets Hand in Hand gehen — sowohl bei der Asphyxie, wie bei Gift-
wirkungen usw., während das Verhalten des Herzens ganz davon abgesondert er-
scheint; selbst das bulbäre Herzvaguszentrum erscheint selbständiger.
In einer neueren Arbeit hat noch Mares!) darauf hingewiesen, daß die Er-
scheinungen des Todes durch Kohlensäure sehr von denjenigen der reinen Sauerstofl-
mangelasphyxie abweichen, welche letztere nach seiner Beschreibung ganz der
Gad-Holovtschinerschen Darstellung der Verblutungsasphyxie entspricht.
Im „hypokinetischen“ (beginnenden Lähmungs-) Stadium der Verblutungs-
dyspnoe nach Gad, und auch nach anderen Beobachtern im Verlaufe der
Asphyxie, nach Marckwald beim Kaninchen nach Abtrennung der oberen
Bahnen, erhaltenen Vagis zeigen sich öfter Andeutungen periodischen
An- und Abschwellens der Atemtiefe. Es ist dies ein Erscheinungs-
gebiet, welches sich anknüpft an das sog. Cheyne-Stokessche Phänomen ?),
wie es von vielen Klinikern bei vielen Krankheitszuständen, insbesondere des
Gehirns, beschrieben und Gegenstand einer bedeutenden Literatur geworden
ist, auf welche hier nicht eingegangen werden kann. Es zeigt dasselbe zahl-
reiche Übergangsformen zwischen kaum merklichem An- und Abschwellen bei
normalem Rhythmus, bis zum Remittieren in der Frequenz und eigentlichen
Intermittieren mit längeren oder kürzeren Pausen, wobei die einzelnen Gruppen
von Atemzügen wieder gleich tief oder häufiger an- und abschwellend sein
können.
Das Zustandekommen solcher „periodischer Atmung“ ist
Objekt lebhaften Streites gewesen und noch heute umstritten. Traube)
erkannte bereits die Analogie zu den von ihm selbst beschriebenen
Schwankungen des Blutdrucks und sah als Ursache herabgesetzte
Erregbarkeit des Atemzentrums, gerade so wie des Gefäßzentrums (siehe oben)
für jene. In der Tat ist periodische Atmung häufig schon beim normalen
Schlafe des Menschen, besonders bei Greisen — Mosso#) —, ferner in der
Chloral- und Morphinnarkose — Heidenhain, Filehne. — Indessen suchte
Filehne’) zu beweisen, daß erst Gefäßkontraktion und Anämie des Kopf-
marks dazu kommen müsse, um die Atmung anzuregen; die durch die ver-
tiefte Atmung bedingte Depression vermindert die Anämie und erzeugt so die
Atmungsremission, durch welche wieder Vasokonstriktion eintritt usw. Hier-
gegen sind indessen lebhafte Einwendungen gemacht worden, und es hat ins-
besondere Moss0°) auf Grund eigener Versuche und der Erfahrungen von
Murri u. a. versichert, daß von einer solchen Gefäßwirkung nicht die
Rede sein könne, vielmehr nachweisbar mit den Re- oder Intermissionen der
!) Pflügers Arch. 91, 529, 1901. — *) Cheyne, Dublin Hosp. Reports 2, 21,
1816; Stokes, Diseases of the heart, London 1854, p. 324. — ?) Berl. klin. Wochenschr.
1869, Nr. 27. — *) Arch. f. (Anat. u.) Pysiol. 1878, 8. 441; 1886, Suppl, 8. 37. —
°) Berl. klin. Wochenschr. 1874, Nr. 13; über das Cheyne-Stokessche Atmungs-
phänomen, Erlangen 1874. — s) RE Ö.
een
Mechanismus der periodischen Atmung. 53
Atembewegungen Perioden tieferen Schlafs zusammenfielen, welche auf ein
Schwanken des Erregbarkeitszustandes im ganzen Gehirn hinwiesen. Es schiene
geradezu, als ob das Individuum zu atmen vergesse; die einfachste Erklärung
bleibe die, „daß die Pausen des Atmens durch die Neigung des Zentrums zur
Ruhe hervorgebracht seien“.
Demgegenüber glaube ich darauf hinweisen zu dürfen, daß zum Zu-
standekommen einer Periodik, d.h. zur Aufsetzung eines Rhythmus auf einen
anderen schon vorhandenen, ein gewissermaßen steuernder Faktor unbedingt
notwendig ist; vgl. die interessanten Ausführungen von Langendorff!),
gelegentlich der Ursache der Gruppenbildung und normalen Rhythmik des
Herzens.
Mosso weist auch gerade bei der periodischen Atmung auf die stärkere Re-
mission, ja das gänzliche Aufhören der Kopfatmung (und eventuell Rippenatmung)
gegenüber der Zwerchfell- (Bauch)atmung und sieht hierin einen Beweis für die Un-
abhängigkeit der zentralen Innervation dieser Abschnitte voneinander (siehe oben);
im Sinne der Erhaltung des „segmentalen“ Charakters der Atmenzentren hat sich
auf Grund vergleichender Betrachtungen neustens auch Loeb?) ausgesprochen;
siehe hierüber das Original.
2) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1884, Suppl.-Bd., 8. 123. — ?) Pflügers Arch.
96, 536, 1903.
Blutgase und respiratorischer Gaswechsel
von
Christian Bohr.
Die Lehre von der Respiration, wie sie sich während der letzteren Hälfte
des 18. Jahrhunderts entfaltete, bildet die Grundlage, aus welcher sich die
gesamte Lehre von dem tierischen Stoffwechsel entwickelt hat, und durch das
Verständnis des Respirationsprozesses gewann man das Verständnis der
Grundzüge des Energieumsatzes im tierischen Organismus. Die weitere
Entwickelung hat bekanntlich jedoch dargetan, daß der Respirationsprozeß
nur eine einzelne Seite des Stoffwechsels bildet und mit denjenigen Stoff-
wechselprozessen, deren Produkte nicht gasförmig sind, im Zusammenhang
betrachtet werden muß. Die Größe des Sauerstoffverbrauchs und der Kohlen-
säureproduktion und das Variieren dieser Werte unter verschiedenen Um-
ständen werden deshalb wie auch die zu solchen Bestimmungen angewandten
Methoden in anderen Abteilungen dieses Lehrbuches zur Besprechung kommen,
wo der Stoffwechselprozeß in seiner Gesamtheit behandelt wird.
Hier ist unsere Aufgabe wesentlich die Beschreibung derjenigen Mittel
die dazu dienen, den Austausch der Gasarten unter dem Organismus und
der umgebenden Atmosphäre zu bewerkstelligen, indem in der Hauptsache
aus der Atmosphäre Sauerstoff aufgenommen und im Organismus gebildete.
Kohlensäure abgegeben wird. Es sind mithin die den Atmungsorganen
als solchen eigentümlichen Funktionen, die wir im folgenden zu be-
handeln haben werden. Hiermit haben wir selbstverständlich aber nur die
Hauptlinien unserer Aufgabe gezogen; wo Verhältnisse des Organismus zur
Behandlung kommen, lassen sich keine scharfen Begrenzungen des Stoffes
aufstellen, und an mehreren Punkten wird es notwendig sein, nicht nur den
Gasaustausch, sondern zugleich auch den Stoffumsatz, speziell die
Kohlensäurebildung, zu untersuchen, weil der Umsatz für den Austausch
Bedeutung erhält, unter anderem wo er in größerem Umfang eben in den
Atmungsorganen selbst stattfindet.
Der direkte Gasaustausch geschieht durch die atmende Oberfläche, die mit
der umgebenden Atmosphäre in Berührung steht; dies ist aber, was die höheren
Tiere betrifft, nur ein erstes Stadium des ganzen Austauschprozesses; der
Sauerstoff wird nach seiner Aufnahme durch die atmende Oberfläche hindurch
im Blute aufgelöst und auf diese Weise den verschiedenen Geweben zugeführt,
die ihn verbrauchen; ebenso wird die durch Energieumsätze in den Geweben
gebildete Kohlensäure in gelöstem Zustande mit dem Blute den genannten
Einleitung. 55
‘ Oberflächen zugeführt. Den Gasaustausch unter dem Blute und dem Ge-
webe nennt man gewöhnlich die innere Atmung im Gegensatz zur
äußeren Atmung, mittels deren die Gasarten direkt aus der Atmosphäre
aufgenommen oder an diese ausgeschieden werden. Diese Bezeichnungen
sind auch im folgenden benutzt; die beiden genannten Prozesse sind jedoch
nur einzelne Seiten einer gesamten Funktion, in welcher die Zellen des eigent-
lichen Atmungsorganes (der Lunge) mit den (ewebszellen des ganzen
Kapillarsystems im Verein wirken und das Blut den Vermittler zwischen
diesen verschiedenen Zellen bildet.
Ebenso wie es mit anderen Sekretionsvorgängen im weitesten Sinne
dieses Wortes der Fall ist, haben wir auch in betreff des Gasaustausches
den Vorgang so zu beschreiben, wie er normal verläuft, und seine Abänderung
bei Abänderungen der äußeren Verhältnisse zu verfolgen, dabei aber, und
nicht zum wenigsten, zu untersuchen, durch welche Mittel der Organismus
bestrebt und innerhalb weiter Grenzen auch völlig vermögend ist, den
ungestörten Gang der Funktion zu sichern trotz der ununterbrochenen
Variation der Bedingungen, indem teils die äußeren Verhältnisse sich ändern,
- teils die Größe der an den Stoffumsatz gestellten Forderungen zu verschiedenen
Zeiten verschieden ist. Nach Kräften die Regulationsmittel zu unter-
suchen, deren sich der Organismus in diesem Kampfe mit den Umgebungen
bedient, ist deshalb einer unserer Zwecke, zugleich aber ein bedeutungsvolles
Mittel, um womöglich tiefer in die Einzelheiten der Natur der Zellenarbeit
einzudringen, von der wir uns hier ebenso wie hinsichtlich anderer Funktionen
wohl kaum einer wirklichen Kenntnis rüähmen dürfen.
Regulationsmittel analog den erwähnten sind zweifelsohne allen Lebens-
prozessen verliehen, von der Funktion der Atmungsorgane läßt sich aber
behaupten, daß sie sich zu deren Untersuchung in vorzüglichem Maße eignet,
weil wir hier eine besonders scharfe und detaillierte Kenntnis der für die
Absonderungsprodukte, in diesem Falle ja Gasarten, gültigen physischen
Gesetze besitzen, wie denn auch die quantitativen Bestimmungen der Gase
sich mit ungemein großer Genauigkeit ausführen lassen; man bedenke nur,
ein wie wenig eingreifender Prozeß das Auspumpen von Grasarten ist im
Vergleich mit denjenigen Reindarstellungsmethoden, die durchgehend er-
forderlich sind, wenn es sich um andere als gasförmige Stoffwechselprodukte
handelt, und wie leicht die Bestimmung von z. B. !/,ccm (0°, 760 mm)
Sauerstoff in 100 cem Blut auszuführen ist im Vergleich mit den Schwierig-
keiten, welche die Bestimmung eines ebenso großen Gewichtsteils (etwa 0,4 mg)
fester Stoffe in demselben Quantum Blut darbieten würde.
Aus den folgenden Abschnitten wird hervorgehen, wie es gerade des-
wegen gelungen ist, bei dem Atmungsprozesse eine Reihe sehr wesentlicher
Regulationsmittel nachzuweisen und verhältnismäßig genau zu analysieren,
welche den Organismus befähigen, die Verhältnisse des Blutes in weitem
Umfang so zu accommodieren, daß die Endothelzellen der Gefäße trotz
bedeutender Änderungen, diese mögen nun die Intensität des Umsatzes oder
die Zusammensetzung der den gesamten Organismus umgebenden Atmosphäre
betreffen, in stand gesetzt werden, fortwährend unter annähernd denselben
Bedingungen mit Bezug auf den Gaswechsel zu arbeiten; dies ist zum Teil
die Folge einer Selbstregulierung, durch die eben der gesteigerte Umsatz
N ig
w wer
BER
56 } Einleitung.
mittels des gebildeten Produktes die Verhältnisse des Blutes abändert, so -
daß eine Erleichterung der Austauscharbeit eintritt. Die völlige Aufklärung
dieser Verhältnisse ist gewiß noch nicht gelungen, es ist aber wohl keine gar
zu gewagte Behauptung, daß man rücksichtlich des detaillierten Verständnisses
der Mittel, durch welche Regulationen wie die eben genannten in Tätigkeit
gesetzt werden, einen Weg eingeschlagen hat, der uns dem Ziele nähert.
Wegen der großen Rolle, welche die physischen und chemischen Verhält-
nisse der im Blute aufgenommenen Gasarten spielen, wird es notwendig, die-
selben vor der Darstellung des eigentlichen Atmungsprozesses in einem eigenen
Abschnitte besonders eingehend zu behandeln. Es wird indes das Bestreben
sein, von diesen Verhältnissen nur mitzunehmen, was zur Erklärung der
eigentlichen respiratorischen Prozesse Anwendung findet.
In der folgenden Darstellung werden dem ganzen Plan zufolge geschicht-
liche Gesichtspunkte nur berücksichtigt werden, insofern sie für das Ver-
ständnis des gegenwärtigen Standpunktes wirklich notwendig sind. Um so
mehr ist es in dieser Einleitung am Platze, sowohl der Forscher, und zwar
besonders Lavoisiers zu gedenken, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts
den Grund der ganzen Respirationslehre legten, auf dem man seitdem weiter -
gebaut hat, als auch diejenigen Forscher zu erwähnen, die später, um die
Mitte des vorigen Jahrhunderts, den Fragen, mit denen wir uns im folgenden
besonders beschäftigen werden, eine präzise Abfassung gaben durch die
ersten eingehenden Untersuchungen über die Gasarten des Blutes und über
deren Bedeutung für den eigentlichen Luftwechselprozeß: es seien nur
H. Magnus, C. Ludwig, Cl. Bernard und E. Pflüger als die hervor-
ragendsten Männer auf diesem Gebiete genannt. Ihre Methoden sind zum
Teil durch schärfere und bessere ersetzt worden, die Fragen haben auf man-
cherlei Weise Vertiefung und Erweiterung erfahren; durchgehend hat man
aber auf der von ihnen gegebenen Grundlage weitergebaut. Dies ist hervor-
zuheben, weil der Darsteller des gegenwärtigen Standpunktes unseres Wissens
bei mancher Gelegenheit diejenigen Untersucher, welche die am meisten aus-
gearbeitete Lösung der Fragen gegeben oder die schärfste Methode an-
gewandt haben, häufiger wird zitieren müssen als diejenigen, welche der
Untersuchung die breitere Basis schufen.
a a en 2"
Die Gase des Blutes sowie der Lymphe und der Sekrete.
Erster Abschnitt.
Allgemeine Aussicht über die Absorption
der Gasarten in Flüssigkeiten unter besonderer Berücksichtigung
der Verhältnisse im Blute').
Das Plasma des Blutes ist eine wässerige, etwa 9 Proz. fester Bestand-
teile enthaltende Lösung; die im Plasma suspendierten Blutkörperchen be-
stehen zu etwa 60 Proz. aus Wasser. Davon abgesehen, daß das Blut Stoffe
enthält, die Sauerstoff und Kohlensäure chemisch binden, lösen derartige
wässerige Lösungen oder wasserhaltige Substanzen zugleich Gasarten den-
selben Gesetzen gemäß wie destilliertes Wasser, jedoch in einem anderen
quantitativen Verhältnisse. Wir wollen hier deshalb vorerst die Absorption
von Gasen in Wasser untersuchen und darauf betrachten, wie die quanti-
tativen Verhältnisse des einfach gelösten Gases sich ändern, wenn das Wasser
andere Substanzen in Lösung enthält. Dann erst wollen wir die Theorie von
der im Blute stattfindenden chemischen Bindung von Gasen behandeln.
1. Kapitel. Lösung von Gasen in Wasser.
Befindet Wasser von einer gegebenen Temperatur und Oberfläche sich
in Berührung mit einem Gase, dessen Druck konstant erhalten wird, so dringt
während einer Zeiteinheit stets dieselbe Menge Gas in das Wasser ein; diese
Menge ist von der Natur des Gases abhängig und dessen Drucke und der
Berührungsfläche proportional, ist aber unabhängig von der schon vorher im
Wasser enthaltenen Menge Gases?2). Diejenige Menge eines Gases, die bei
gegebener Temperatur während einer Minute durch 1 qcm Oberfläche in die
Flüssigkeit eindringt, wenn der Druck des Gases 760 mm beträgt, nennt man
den Invasionskoeffizienten und bezeichnet sie durch y. Ist der Druck
— »p und die Berührungsfläche —= s, so hat man also für die während einer
Minute in die Flüssigkeit eindringende Anzahl Cubikcentimeter Gas
se,
9 760
“Sobald die Flüssigkeit Gas in Lösung enthält, tritt gleichzeitig stets Gas’
aus derselben aus, und zwar speziell eine Menge, die bei gegebener Tem-
!) Hier wie überall im folgenden, wo nichts anderes ausdrücklich bemerkt
wird, ist das Gas in Cubikcentimetern bei 0° und 760mm Druck angegeben. —
*) Mit Bezug auf Details und Entwickelung der Formeln siehe Bohr, Definition
und Methode zur Bestimmung des In- und Evasionskoeffizienten. Ann. d. Physik
(3), 68, 500, 1899.
58 Lösung von Gasen in Wasser.
peratur und Oberfläche derjenigen Menge Gas proportional ist, die sich in der
Flüssigkeit befindet, welche wir uns fortwährend als in allen ihren Teilen
gleichmäßig gemischt denken; zugleich ist die austretende Menge natürlich
der Berührungsfläche proportional. Diejenige Menge Gas, die während einer
Minute durch 1 gem Oberfläche austritt, wenn lccm Flüssigkeit lcem Gas
in Lösung enthält, heißt der Evasionskoeffizient und wird durch ß be-
zeichnet. Ist die Oberfläche —= s und enthält 1 cem Flüssigkeit & com Gas,
so ist die pro Minute aus der Flüssigkeit austretende Gasmenge (b) bestimmt
durch
b=s.ß.}.
Hat nun die Berührung des Gases mit der Flüssigkeit hinlänglich lange
gedauert, so tritt, praktisch genommen, ein Gleichgewichtszustand ein, indem
während jeder Zeiteinheit ebensoviel Gas in die Flüssigkeit eindringt, als aus
dieser austritt; g ist dann gleich b, und man hat
2...
sy Tr
wo £ nun diejenige Menge Gas bezeichnet, die lIccm Flüssigkeit nach dem
Eintreten des Gleichgewichts enthält; man sagt dann, daß das Wasser bei
dem betreffenden Drucke (p) mit Gas gesättigt ist, und die in demselben
enthaltene Menge Gas (£) erweist sich aus der Formel als dem
Drucke proportional. Ist letzterer speziell = 760 mm, so nennt man die
in lccm gesättigten Wassers enthaltene Menge Gases den Absorptions-
koeffizienten, den man durch & bezeichnet. Man hat also, wenn in obiger
Gleichung p —= 760 und mithin & = % gesetzt werden,
5 4ß,
als die für die drei Koeffizienten gültige Relation.
Untersucht man die Verhältnisse bei verschiedenen Temperaturen, so
erweist es sich, daß Y für das Intervall O0 bis 50°C mit Bezug auf die
meisten Gasarten unverändert bleibt, während ß bei steigender Temperatur
anwächst. Da mithin die während der Zeiteinheit in die Flüssigkeit ein-
dringende Gasmenge sich unverändert erhält, die austretende dagegen anwächst,
so muß folglich der Absorptionskoeffizient (&%) abnehmen, wenn die Temperatur
steigt.
Wie oben genannt ist es bei dem hier Entwickelten die’fortwährende
Voraussetzung, daß die einzelnen Teile der Flüssigkeit stets gleichmäßig
gemischt gehalten werden. Beim ruhigen Stehen der Flüssigkeit werden
allerdings ganz dieselben Betrachtungen über die In- und Evasion geltend
gemacht werden können, es sind dann aber nur die oberflächlichsten
Schichten, die zuerst gesättigt werden. Aus diesen diffundiert das Gas
langsam in die tieferen Schichten hinab, und die Sättigung der ganzen ö
Flüssigkeit wird, wenn die Schicht einigermaßen tief ist, sehr lange Zeit be-
anspruchen können !).
Hat man die Bestimmung des Absorptionskoeffizienten zu unternehmen,
wobei natürlich die schnelle Sättigung der ganzen Flüssigkeit mit Gas erstrebt
wird, so muß man Sorge tragen, daß die Flüssigkeit fortwährend gemischt
!) Exner, Ann. d. Phys. 1875; Hüfner, ebenda 1897.
en
Lösung von Gasen in Wasser. — Absorptionskoeffizient. 59
wird. Es läßt sich dann berechnen, welchen Einfluß die größere oder kleinere
Berührungsfläche (s) des Gases mit der Flüssigkeit und das Volum (v) der
letzteren auf die zur Sättigung der Flüssigkeit erforderliche Zeit
haben. Je größer das Verhältnis = ist, um so schneller findet die Sätti-.
. gung statt; wie dies aber näher zu berechnen ist, und welchen Einfluß die
Temperatur wegen der Abänderung des Evasionskoeffizienten auf diese Ver-
hältnisse erhält, darüber müssen wir auf die originalen Abhandlungen ver-
weisen !). !
Überall, wo der Druck der Gase bei Betrachtungen dieser Art angewandt
wird, ist unter demselben ihr Partialdruck zu verstehen; ist das Gas in
reinem Zustande vorhanden, so trifft der Partialdruck mit dem vom Gase
ausgeübten Totaldruck zusammen. Wird hingegen eine Mischung von Gasen
mit dem Totaldruck P angewandt, so läßt der Partialdruck (p) sich bekanntlich
aus dem prozentigen Volum berechnen, in welchem das betreffende Gas sich
in der Mischung befindet; sind « Prozent eines Gases vorhanden, so ist der
Partialdruck
a
Pi 100°+
Die Feststellung der prozentigen Menge (a) des Gases geschieht ohne
Rücksicht auf den von gleichzeitig gegenwärtigen Wasserdämpfen ein-
genommenen Raum; der Totaldruck (P) ist denn auch zu bestimmen als der
Druck, den die Gasmischung nach Abzug der Tension der Wasserdämpfe
ausübt. In den Fällen, die am häufigsten zur Behandlung kommen, ist der
Raum bei der betreffenden Temperatur mit Wasserdämpfen völlig gesättigt;
die Spannung läßt sich dann, wenn die Temperatur bekannt ist, aus Tabellen
über die Tension der gesättigten Dämpfe berechnen. Ist der Raum nicht
völlig. mit Dampf gesättigt, so muß man diese prozentige Sättigung hygro-
metrisch feststellen. Hieraus läßt sich darauf die Spannung berechnen; ist
z. B. der Druck einer Atmosphäre 758 mm, die Temperatur 20,6° C und der
Feuchtigkeitsgrad 50 Proz., so ergibt sich die Wasserdampfspannung als
50 Proz. der Tension der gesättigten Wasserdämpfe, die den Tabellen zufolge
gleich 18mm ist; die Wasserdampfspannung beträgt also 9mm und der zur
Berechnung des partialen Druckes einzelner Gase zu benutzende Totaldruck
758 — 9 = 749.
Näheres über die Werte der verschiedenen Koeffizienten bei der Lösung von
Gasen in Wasser.
Der Absorptionskoeffizient. Wie oben entwickelt, bezeichnet der
Absorptionskoeffizient (%) diejenige Anzahl Cubikcentimeter Gas, die 1 cem
Flüssigkeit in sich aufnimmt, wenn diese bei einem Drucke von 760 mm mit
der betreffenden Gasart gesättigt wird. Da die in einer Flüssigkeit auf-
genommene’Menge Gases (g) dem Partialdruck (p) und dem Volum (h) der
Flüssigkeit proportional ist, hat man
' %.h.p
760
!) Bohr, ebenda (3), 68, 500, 1899; ebenda (4), 1, 244, 1900.
60 Absorptionskoeffizient. — In- und Evasionskoeffizient.
Der Absorptionskoeffizient der verschiedenen Gase bei verschiedenen
Temperaturen muß empirisch bestimmt werden. Unten stehende Tabelle gibt
den Absorptionskoeffizienten einiger der in physiologischer Beziehung wich-
tigeren Gase in Wasser zwischen 0° und 40° C an. Für den Sauerstoff und
das Kohlenoxyd sind die Werte nach Winkler!), für den atmosphärischen
Stickstoff (Stickstoff + Argon) nach Bohr und Bock!), für die Kohlensäure
nach Bohr?) angeführt.
Temperatur | Sauerstoff Kohlensäure | Kohlenoxyd Stickstoff .
| ) )
0 | 0,0489 | 1,713 0,0354 0,0239
10 | 0,0380 | 1,194 0,0282 0,0196
20 | 0,0310 | 0,878 0,0232 0,0164
30 0,0262 0,665 0,0200 0,0138
40 0,0231 | 0,530 0,0178 0,0118
I
| |
Folgendes Beispiel mag die Anwendung der Tabelle erläutern. 100cem Wasser
werden bei 30° C bis zur Sättigung mit atmosphärischer Luft geschüttelt, die eine
prozentige Zusammensetzung von 79 Vol. Stickstoff und Argon, 20,96 Vol. Sauer-
stoff und 0,04 Vol. Kohlensäure hat. Der Totaldruck ist 760 mm, und man wünscht
die gesamte Menge der vom Wasser aufgenommenen Luft zu berechnen. Da die
Wasserdampftension bei 30° 31,5 mm beträgt, ist der Gesamtdruck der Gase 728,5 mm.
Die Absorption muß für jedes Gas für sich ausgerechnet werden, indem man erst
auf die oben angegebene, Weise die Partialdrucke (p) findet und darauf die ab-
a@.,h.p
760
Tabelle für 30° entnommen wird. Man findet
sorbierte Gasmenge als g = berechnet, wo A = 100 ist und « aus obiger,
p g
Bauerstoll SH an EISEN ER 152,7 0,526
Stickstoff 2) „es eirs re 1,045
Kohlensäure „un 0,3 0,025
Summa 1,596
Die In- und Evasionskoeffizienfen. Diese Koeffizienten, die über
die Geschwindigkeit Auskunft geben, mit welcher die Gase in eine Flüssigkeit
eindringen und aus derselben austreten, sind namentlich für die Behandlung
des Gaswechsels des Organismus von Bedeutung, wie der Abschnitt von der
Lungenrespiration näher nachweisen wird. Eine Aufgabe, die wir dort zu be-
handeln haben werden, läßt sich in ihrer Allgemeinheit folgendermaßen auf-
stellen: Über einer Wasseroberfläche von s gem Größe befindet sich ein Gas
mit dem Partialdrucke p; die In- und Evasionskoeffizienten für die gegebene
Temperatur sind 9 bzw. ß; die Beobachtung mag ergeben, daß fortwährend
ein konstanter Strom des Gases von M ccm pro Minute den Luftraum
verläßt, indem er durch die Wasseroberfläche eindringt. Die Frage ist nun
nach der Konzentration (Cubikcentimeter Gas bei 0% und 760mm in
lccm Flüssigkeit) des Gases, die sich unter solchen Umständen in der Öber-
flächenschicht der Flüssigkeit finden muß. Nennt man diese Konzentration,
so findet man dem früher Entwickelten zufolge M als die Differenz zwischen
!) Landolt und Börnstein, Physik.-chem. Tabellen 1894, 8. 257. — ?) Anm:
d. Phys. 68, 500, 1899. Ag,
Absorption von Gasen in wässerigen Lösungen fester Stoffe. 61
den gleichzeitig ein--und austretenden Gasmengen, und zur Bestimmung
von & hat man die Gleichung
SR an
RE TB Ener
Bei biologischen Betrachtungen ist es der Übersicht wegen häufig von Nutzen,
die Konzentration (x) dadurch auszudrücken, was man die Spannung des
Gases in der Flüssigkeit genannt hat. Hierunter versteht man den-
jenigen Partialdruck des Gases, welcher über der Flüssigkeit stattfinden
müßte, wenn derselbe sich mit dem Gase in der Flüssigkeit im Gleichgewicht
befinden sollte; heißt dieser Partialdruck p,, so hat man, wenn man den
Absorptionskoeffizienten («) des Gases in der Flüssigkeit kennt,
& 2452 60 %& pı
ee woraus De —,
% Pı — 760
indem die absorbierte Menge ja den Drucken proportional ist. Durch Ein-
setzen dieses Wertes des x in obenstehende Gleichung erhält man, da &ß
— y ist ($. 58) ash
yYSs
Diese Differenz, der Unterschied zwischen der Spannung des Gases oberhalb
der Flüssigkeit und der Spannung. des Gases in der Oberflächenschicht der
Flüssigkeit, wenn während einer Minute M ccm in die Flüssigkeit eindringen,
wird im folgenden der Differenzdruck genannt und findet wichtige Anwendung
in der Theorie der Lungenrespiration. Hierbei werden wir von den nume-
rischen Werten der Invasionskoeffizienten des Sauerstoffs und des Kohlen-
oxyds Gebrauch machen; diese Werte sind, später anderswo zu veröffent-
lichenden Versuchen zufolge, bei 38° für Sauerstoff y —= 0,0124, für
Kohlenoxyd y = 0,010.
p —- 9 =
2. Kapitel. Lösung von Gasen in Wasser, das gelöste feste
Stoffe enthält !).
Wenn Wasser feste Stoffe in Lösung enthält, wird der Absorptions-
koeffizient herabgesetzt, um so ınehr, je konzentrierter die Lösung ist, und
zwar in verschiedenem Grade nach der Natur der gelösten Stoffe; es gilt hier
die Regel, daß organische Stoffe mit hoher Molekularzahl in den untersuchten
Fällen den Absorptionskoeffizienten weniger herabsetzen als Salze derselben
Konzentration... So beträgt die prozentige Herabsetzung des Absorptions-
koeffizienten des Wassers für Sauerstoff bei 19° und einer 10 proz. Lösung
hinsichtlich des Chlornatriums 12,0 Proz., des Rohrzuckers 8,5 Proz. und der
Albumosen 5,2 Proz.
- Für unsere Untersuchungen ist es besonders von Bedeutung, um wieviel
die Löslichkeit des Sauerstoffs, der Kohlensäure und des Stickstoffs im Blute
und im Blutplasma oder Serum herabgesetzt wird. Was das Blutplasma
betrifft, ist die Herabsetzung des & rücksichtlich des Sauerstoffs und
!) Vgl. Bohr, Absorptionskoeffizienten des Blutes und des Blutplasmas für
Gase. Skand. Arch. 1905, welcher Abhandlung die folgenden Bestimmungen ent-
nommen sind.
62 Absorptionskoeffizienten für Blut und Plasma.
des Stickstoffs direkt bestimmt und als 2,5 Proz. des Wertes befunden
worden, welche Herabsetzung sehr wohl mit den oben für organische Stoffe
angegebenen Herabsetzungen übereinstimmt, wenn man bedenkt, daß die
Albuminstoffe des Plasmas eine höhere Molekularzahl haben als die Albumosen.
Der Absorptionskoeffizient für Sauerstoff und Kohlensäure
im ganzen Blute und für Kohlensäure im Plasma läßt sich nicht
direkt bestimmen, da diese Flüssigkeiten Stoffe enthalten, welche die ge-
nannten Gase in von dem Druck abhangenden Mengen chemisch binden,
wie unten im Kapitel III näher auseinandergesetzt werden wird. Indes
lassen sich diese wichtigen Konstanten mit völlig genügender Genauigkeit
berechnen, wenn der Absorptionskoeffizient für irgend ein gegen die gas-
bindenden Stoffe indifferentes Gas bekannt ist, was in betreff des Plasmas
mit dem Sauerstoff und dem Stickstoff und in betreff des Blutes mit dem
Wasserstoff der Fall ist. Innerhalb derjenigen Konzentrationen der Lösungen
und innerhalb derjenigen Temperaturen, mit denen wir zu schaffen haben,
läßt es sich nämlich nachweisen, daß die prozentige Herabsetzung des Ab-
sorptionskoeffizienten für die verschiedenen Gase annähernd gleich groß ist!).
Wenn z. B. die Herabsetzung des Absorptionskoeffizienten für die Lösung
des Sauerstoffs und des Stickstoffs im Plasma, wie oben angegeben, als
2,5 Proz. befunden wurde, der Absorptionskoeffizient selbst sich mithin als
97,5 Proz. von dem des Wassers erwies, so gilt dies auch hinsichtlich der
Kohlensäure. Versuche über die Lösung des Wasserstoffs im Blute ergeben,
daß dessen Absorptionskoeffizient 92 Proz. von dem des Wassers beträgt.
Man hat gemeint?), die Blutkörperchen als suspendierte feste Körper
müßten mittels Adsorption Gas binden; findet dies statt, so muß es jedenfalls
nur in sehr geringem Grade sein, da Milch, die ja fast ebenso zahlreiche
kleine Körperchen in Suspension enthält wie das Blut, darum doch nicht
merkbar mehr Gas absorbiert; in der Tat sind die Blutkörperchen auch viel
weniger zahlreich und größer als die Pulverpartikelchen, bei denen die Ad-
sorption in höherem Maße zur Geltung kommt. Von der Adsorption ab-
gesehen, läßt der Absorptionskoeffizient für Blutkörperchen sich aus den
gegebenen Data berechnen. Da der Absorptionskoeffizient, wie oben an-
geführt, für das Plasma 97,5 Proz. und für das Blut 92 Proz. von dem des
Wassers ist, und da das Plasma, was Hundeblut betrifft, auf etwa ?/, des ge-
samten Blutes, die Blutkörperchen somit auf !/, angesetzt werden können,
hat man nämlich, wenn man den Absorptionskoeffizienten der letzteren
x nennt,
1x + 2/3.97,5 = 92 oder
x —= 81 Proz.
Daß die Blutkörperchen Gas lösen, ist sicher, da sie Wasser enthalten, und
in Betracht ihres verhältnismäßig geringen Wasserinhalts (etwa 60 Proz.) ist
der berechnete Wert des Absorptionskoeffizienten ein sehr wahrscheinlicher.
Eine mit Hilfe der angeführten prozentigen Herabsetzungen der Ab-
sorptionskoeffizienten berechnete Tabelle über diese Konstanten für Blut-
plasma, Blut und Blutkörperchen bei 15° und 38° folgt hier.
) Bohr, l.c. — ?) Jolyet und Sigalas, Compt. rend. Acad. Paris 114, 3
686, 1892.
u ee
Gasabsorption in Lösungen dissoziabler Gasverbindungen. 63
| l
Sauerstoff Stickstoff | Kohlensäure
15° 38° 15 | 3 | re
| | |
Blutplasma .... 0,033 0,023 | 0,017 0,012 | 0,99 | 0,541
re N 0,031 0,022 0,016 0,011 | 0,937 | 0,511
Blutkörperchen. . . 0,025 0,019 0,014 0,010 | 0,825 0,450
Auch für Lösungen des Hämoglobins, das eine vom Sauerstoffdrucke ab-
hängige Bindung mit Sauerstoff bildet, muß der Absorptionskoeffizient für
Sauerstoff auf analoge Weise ermittelt werden; aus Versuchen über die Ab-
sorption des Wasserstoffs in Hämoglobinlösungen berechnet man den Koeffi-
zienten einer etwa llproz. Lösung auf 94 Proz. vom Absorptionskoeffi-
zienten des, Wassers.
3. Kapitel. Absorption von Gasen in einer Flüssigkeit,- die wie
das Blut dissoziable gasbindende Stoffe enthält.
$1. Hauptzüge der empirischen Resultate und deren
allgemeine Bedeutung für die Respirationsphysiologie.
Das Blut enthält mehrere Stoffe, die teils mit Sauerstoff, teils mit Kohlen-
säure Verbindungen schließen, so daß die Gase mittels Auspumpens wieder
aus den Verbindungen zu gewinnen sind. Dergleichen Verbindungen, die
auf chemische Prozesse verschiedener Art zurückzuführen sind, werden
gewöhnlich insgesamt als dissoziable bezeichnet. Auf welche Weise die ein-
zelnen Prozesse sich von der chemischen Kinetik aus erklären lassen, werden
wir am Schlusse dieses Abschnittes ($ 2) entwickeln. Hier ist es vorläufig
unsere Aufgabe, im allgemeinen ein Bild der gemeinschaftlichen Züge zu
geben, die man rein empirisch gefunden hat, wo die Absorption der Gase in
Flüssigkeiten, welche dissoziable gasbindende Stoffe enthielten, untersucht
wurde; indem wir einstweilen bei den Hauptzügen der empirisch ge-
wonnenen Resultate stehen bleiben, wird es hoffentlich leichter gelingen,
nachzuweisen, was bei diesen Untersuchungen für die biologische Forschung
das Zentrale ist. j |
Wenn Gase von einer Flüssigkeit absorbiert werden, in welcher sich
gelöste Stoffe befinden, mit denen sie im Vakuum zersetzbare Verbindungen
schließen, wird erstens bei einem gegebenen Partialdruck des oberhalb stehen-
den Gases eine größere Menge Gas in die Flüssigkeit aufgenommen, als
sich mittels des Absorptionskoeffizienten als einfach gelöst berechnen läßt;
zugleich ist bei variierendem Drucke aber auch das Verhältnis des
Druckes zur absorbierten Gasmenge ein anderes als das, wie wir
oben sahen, für die einfache Lösung gültige. Dort war die aufgenommene
Gasmenge dem Absorptionsdrucke proportional; enthält die Flüssigkeit da-
gegen Stoffe, die wie die des Blutes dissoziable Verbindungen mit den Gasen
schließen, so steigt die absorbierte Menge der Gase bei anwachsendem Drucke
verhältnismäßig geschwinder an, solange die Drucke ziemlich kleinen abso-
luten Wert haben. Der Übersicht wegen kann man das Verhalten des Druckes
zum absorbierten Gasvolum graphisch darstellen, indem man die Spannungen
64 Lösungen dissoziabler Gasverbindungen. — Bedeutung der Spannungskurven.
als Abszissen und die entsprechenden, in die Flüssigkeit aufgenommenen
Gasmengen als Ordinaten absetzt. Solche Kurven, die in der Respirations-
lehre ausgedehnte Anwendung finden, nennen wir im folgenden der Kürze
wegen Spannungskurven. Diese sind verschieden für die Absorption der
Fig. 14. verschiedenen Gase im Blute und
Y bei verschiedenen Temperaturen; ge-
meinsam ist ihnen jedoch, daß sie
y hauptsächlich Kurven bilden, die
ihre Konkavität der Abszissenachse
| zukehren, und die allerdings bei wach-
sender Spannung fortwährend an-
steigen, bei niedrigerem Druck aber
| | weit geschwinder als bei höherem.
| Nebenstehende Figur kann
deshalb als allgemeines Paradigma
solcher Kurven dienen, ohne daß sie übrigens der genaue Ausdruck für die
Spannungskurve irgend einer bestimmten Gasart sein soll. Die wirklichen
Spannungskurven der Gase, deren Absorption für uns Interesse hat, nämlich die
des Sauerstoffs und der Kohlensäure, werden wir später geben (8. 85 und
S. 105); hier wollen wir vorläufig nur die allgemeine Bedeutung erörtern, welche
die Kenntnis solcher Spannungskurven für respirations-physiologische Unter-
suchungen hat, und welche aus folgenden Betrachtungen hervorgehen wird.
Die bei gegebener Spannung im Blute absorbierte Gasmenge besteht,
wie aus dem bereits Entwickelten ersichtlich, aus zwei Teilen; ein Teil
derselben ist chemisch gebunden, der andere Teil in einer der Spannung
proportionalen Menge in der Flüssigkeit einfach gelöst. Die Größe des
letzteren Teiles zu kennen ist für uns von besonderer Wichtigkeit, denn die
Konzentration dieses einfach gelösten Gases einzig und allein ist
maßgebend sowohl für die Evasion des Gases aus der Flüssigkeit als über-
haupt auch für die Intensität der in der Flüssigkeit verlaufenden chemischen
Vorgänge, deren das betreffende Gas ein Glied ist. Deshalb ist es die
Konzentration des einfach gelösten Gases, die, indem sie das Maß für die
Dichte des Gases um die mit dem Blute in Berührung stehenden Zellen
abgibt, für die Arbeitsbedingungen dieser Zellen maßgebend wird. In jedem
gegebenen Augenblicke eine Teilung der totalen absorbierten Gasmenge in
einfach gelöstes und chemisch gebundenes Gas unternehmen zu können, ist
in physiologischer Beziehung denn auch die Hauptsache bei der Untersuchung
der Gase des Blutes. Eben weil die Spannungskurve bei bekannter Total-
menge des Gases zur Bestimmung der Konzentration des einfach gelösten
Teils desselben als Mittel dient, hat sie eine wesentliche Bedeutung.
Als ein Beispiel dieser Anwendung wollen wir sehen, wie die Berechnung
des Einflusses anzustellen ist, den ein gewisser Verbrauch von Sauerstoff im
Blute auf den den Zellen im Augenblicke wirklich nutzbaren Teil des ge-
nannten Gases hat. Es sei z. B. gefunden worden, daß das Arterienblut
y Vol.-Proz., das Venenblut y, Vol.-Proz. Sauerstoff enthält; der Verbrauch
während des Kapillarkreislaufes war mithin y — y,. Unmittelbar vermögen
wir hieraus keine Schlüsse über veränderte Arbeitsbedingungen der Zellen
am Anfang und am Ende des Kapillarsystems zu ziehen; die mehr oder
Xj x
Wr
Bedeutung der Spannungskurven. — Dissoziable Gasverbindungen im Blute. 65
weniger ausgiebige Versorgung der Zellen mit Sauerstoff richtet sich nämlich,
wie oben entwickelt, nicht nach der totalen, in der Volumeinheit be-
findlichen Menge Sauerstoff, sondern ausschließlich nach der
Konzentration des freien, der Spannung proportional gelösten
Sauerstoffs, zu dessen Bestimmung die Spannungskurve angewandt werden
muß. Die oben stehende Kurvenfigur möge die Spannungskurve des Sauer-
stoffs im Blute vorstellen, so daß die Ordinaten die Anzahl Cubikcentimeter
Sauerstoff in 100 ccm Blut angeben; wir brauchen dann nur die dem % bzw.
Y, entsprechenden Abszissen x und x, an der Kurve zu finden; die Konzen-
tration des freien Sauerstoffs im Blute verhält sich also vor und nach dem
Verbrauche wie — - Die totalen Sauerstoffmengen y und y, sind allerdings
1
wichtige Faktoren, weil sie uns über den Vorrat von Sauerstoff belehren,
den das Blut besitzt; die aus der Spannungskurve hergeleiteten Konzen-
trationen des einfach gelösten Sauerstoffs sind für unsere Betrachtung aber
ebenso unentbehrlich, weil sie uns zeigen, wieviel dieses Sauerstoffs den
Zellen im Augenblick zur Verfügung steht!), Ein Blick auf die
Form der Kurve zeigt, daß die Wirkung, die der Verbrauch einer gewissen
gegebenen Menge Sauerstoff auf die Konzentration des freien Sauerstoffs
üben wird, je nach dem zu dieser Bestimmung in Anwendung gebrachten
Teile der Kurve, mithin nach der Größe des y oder der ursprünglichen
Totalmenge des Sauerstoffs, eine höchst verschiedene sein kann. Zugleich
ist leicht zu ersehen, daß eine Änderung der Form der Kurve für die
hier besprochenen Verhältnisse die größte Bedeutung erhalten kann. Der-
gleichen Änderungen der Kurve können durch Modifikationen der gas-
bindenden Stoffe entstehen, und im Abschnitte von der inneren Respiration
werden wir sehen, daß Änderungen dieser Art in großer Ausdehnung als
Regulationsmittel für die Konzentration des Sauerstoffs im Blute zur An-
wendung kommen.
Ganz analoge Betrachtungen lassen sich in betreff der Kohlensäure an-
stellen, nur handelt es sich hier nicht um den Verbrauch eines Vorrats,
sondern um ein Aufspeichern behufs späterer Ausscheidung.
Die Bedeutung der Spannungskurve liegt also wesentlich darin,
daß es nur mittels derselben möglich ist, das Verständnis einer der in respi-
ratorischer Beziehung wichtigsten Regulationen zu gewinnen, nämlich der
Regulation der Konzentration des freien Sauerstofis, die zum Teil von
der Größe der totalen Sauerstoffmenge unabhängig ist. Eine allgemeine Dar-
stellung dieses Verhaltens war deshalb schon hier am Orte, während die spe-
zielleren Anwendungen später zur Behandlung kommen werden.
Die Spannungskurven, die in den speziellen konkreten Verhältnissen
Anwendung finden sollen, müssen natürlich solche sein, welche versuchsmäßig
als Ausdrücke für die Verhältnisse im Blute unter den eben im Organismus
herrschenden Bedingungen gefunden werden. Sie entsprechen nicht immer den
Kurven, die man aus den einzelnen isolierten gasbindenden Stoffen ab-
leitet, selbst wenn diese bei Körpertemperatur untersucht werden, denn
teils können die Stoffe bei der Reindarstellung Änderungen erleiden, wie es
!) Vgl. Bohr, Skand. Arch. 3, 136, 1891.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 5
66 Dissoziable Gasverbindungen im Blute. — Dissoziationsgrenze.
mit dem sauerstoffbindenden Stoffe der Fall ist; teils wirken, wie bei der‘
Bindung der Kohlensäure im Blute, mehrere gasbindende Stoffe gleichzeitig,
und das hieraus entstehende Resultat wird sich nicht immer aus den Bindungs-
verhältnissen der einzelnen, isoliert untersuchten Stoffe unmittelbar ableiten
lassen. Dies muß man stets vor Augen haben, wenn man sich nicht wesent-
lichen Fehlschlüssen aussetzen will. Nichtsdestoweniger ist das Studium der
Bindungsverhältnisse der einzelnen isolierten Stoffe aber von großer Wichtig-
keit; die hierdurch gewinnbare Einsicht in die Natur der verschiedenen
chemischen Vorgänge, um die es sich handelt, führt an mehreren
Punkten zu einer mehr präzisen Formulierung der Fragen, alses durch alleinige
Untersuchung der Spannungskurven für das gesamte Blut möglich wäre,
$ 2. Theoretische Behandlung der Gasbindung der einzelnen
im Blute enthaltenen Stoffe.
Die chemischen Vorgänge, mittels deren die hier zu besprechenden
Substanzen, von dem Partialdrucke der über denselben befindlichen Atmosphäre
abhängig, Gase binden, gehören zu den sogenannten reversibeln Vorgängen;
das Verdienst, auf diesen Umstand aufmerksam gemacht zu haben, gebührt
Donders!). Bekanntlich haben spätere Untersuchungen die Richtigkeit
dieses Gesichtspunktes bestätigt; das konkrete Beispiel, das Donders als
Analogon der gasbindenden Vorgänge im Blute aufstellte, nämlich die Disso-
ziation des festen kohlensauren Kalks beim Erhitzen, hat sich dagegen
nur insofern als zutreffend erwiesen, als beide Vorgänge reversible sind; im
einzelnen weichen sie aber erheblich voneinander ab. Wird der kohlen-
saure Kalk erhitzt, so zerfällt er nach Erzeugung einer hinreichend hohen
Temperatur in Kohlensäure und Kalk, und zwar in einem Maße, das außer
von der Temperatur auch von dem momentanen Kohlensäuredrucke abhängig
ist. Bei einer gegebenen Temperatur finden wir nur einen einzelnen be-
stimmten Kohlensäuredruck, bei dem ein Zustand des Gleichgewichts besteht;
dieser Druck heißt die Dissoziationsgrenze. Wird der Druck fort-
während niedriger erhalten, wenn auch um noch so wenig, so wird ununter-
brochen Kohlensäure frei, bis sämtlicher kohlensaure Kalk gespalten ist, und
erhält man den Druck konstant höher als die Dissoziationsgrenze, so findet
allmählich eine vollständige Vereinigung der Kohlensäure mit dem Kalk zu
kohlensaurem Kalk statt 2).
Ganz anders verhalten sich die dissoziabeln gasbindenden
StoffedesBlutes. Erstens sind hier die Verbindungen, selbst bei den niedrig-
sten untersuchten Temperaturen (0°), nicht stabil, wie der kohlensaure Kalk
unterhalb einer gewissen Temperatur. Es sind freilich Ansichten aufgestellt
worden, denen zufolge die Sauerstoffverbindung des Blutes sich bei niedriger
Temperatur nicht sollte auspumpen lassen 3); dies ist aber irrig und beruht
auf Anwendung einer mangelhaften Technik (siehe S, 222). Ebensowenig
findet sich an den dissoziabeln Stoffen des Blutes etwas der oben beschriebe-
nen Dissoziationsgrenze des kohlensauren Kalks Entsprechendes. Im Gegen-
!) Pflügers Arch. 1872, 8. 20. — ?) Vgl. z. B. Nernst, Theoretische Chemie
1900, 8. 396 u. ££ — °) P. Bert, Pression barometrique. Paris 1878, p. 694.
Dissoziable Gasverbindungen im Blute. 67
teil haben wir sowohl hinsichtlich des Blutes!) als der Hämoglobinlösungen ?)
für jede Temperatur eine ganze kontinuierliche Reihe von Gleichgewichts-
zuständen, so daß jeder Absorptionsdruck einer bestimmten gebundenen Gas-
menge entspricht, was in den Spannungskurven zum Ausdruck kommt, von
denen die vorstehende Kurvenfigur (S. 64) ein Paradigma gibt.
Die bei Gasbindungen im Blute stattfindenden chemischen Vorgänge sind
also anderer Art als diejenigen, von denen der kohlensaure Kalk ein Beispiel
abgeben kann. Sie sind Umsätze, bei denen das Gleichgewicht durch
die Konzentration der in der Flüssigkeit gelösten Stoffe bedingt
wird, also durch die Konzentration teils des freien, einfach gelösten Sauerstoffs
(bzw. Kohlensäure), teils der gasbindenden Substanz, welche letztere wieder zu
anderen Stoffen Affinität haben kann, die dann ebenfalls eine Rolle bei dem Vor-
gange spielen werden. Dieser ist übrigens verschiedener Art; so gibt es
teils Dissoziationsvorgänge in engerem Sinne, wie die Dissoziation des doppelt-
kohlensauren Natrons in Kohlensäure und kohlensaures Natron,-teils Teilung
einer Base unter zwei Säuren, wie die Bindung der Kohlensäure an die
Albuminalkalien; dieser Art ist auch die Aufnahme der Kohlensäure im
. Hämoglobin; teils gibt es endlich, wie bei der Bindung des Sauerstoffs an
Hämoglobin, kompliziertere Dissoziationen sowohl des Moleküls des Hämo-
globins als des gasbindenden Stoffes.
Die Theorie dieser Ums ätze wollen wir im folgenden rücksichtlich
jedes einzelnen erörtern. Wie aus dem Vorstehenden hervorgeht, handelt es
sich wesentlich um die Feststellung der Form der Spannungskurve oder mit
anderen Worten um die Gleichgewichtszustände, die den ver-
schiedenen Spannungswerten in dem über der Flüssigkeit befind-
lichen Gase entsprechen. Die einzelnen Gasspannungen werden hierbei
bis zum Eintreten des denselben entsprechenden Gleichgewichtszustandes
konstant erhalten; hieraus folgt aber, daß auch das in der Flüssigkeit einfach
gelöste Gas während des Umsatzes konstant verbleibt, was die Gleichgewichts-
‘ bedingungen etwas vereinfacht.
Bevor wir zur Behandlung der Spannungskurven in den einzelnen Fällen
schreiten, wird folgende Erwägung von Nutzen sein. Das Aufstellen von
Gleichgewichtsformeln auf Basis der chemischen Kinetik erfordert Kenntnis
nicht nur der Komponenten der Verbindungen, sondern auch der Anzahl der
Moleküle, mit denen jede einzelne Komponente in die Verbindung eintritt.
Wo solche völlige Einsicht in die Natur der Verbindung vorliegt, läßt die
Formel sich mit Sicherheit aufstellen, wenngleich — aus Rücksicht auf mög-
licherweise übersehene Nebenwirkungen — die experimentelle Prüfung in
dem einzelnen Falle nicht unterbleiben darf. Unter den im folgenden be-
handelten Stoffen kann das Natriumbikarbonat als Beispiel einer solchen
völlig aufgeklärten Verbindung dienen. Anders verhält es sich aber, wo man
die chemische Natur der Verbindung nur ungenügend kennt, wie es mit dem
Hämoglobin und dessen Gasverbindungen der Fall ist; hier ist die Art der
Komponenten nicht immer absolut sicher, und die relative Anzahl ihrer Mole-
küle in der Verbindung ist unbekannt. Unter solchen Umständen muß die
!) P. Bert, 1. c. p. 683. — °) Bohr, Sauerstoffaufnahme des Blutfarbstoffs.
Kopenhagen 1885, 8. 40.
5*
68 Dissoziation des Natriumbikarbonats.
Formel unter mehr oder weniger willkürlichen Annahmen aufgestellt werden;
die Möglichkeit der Realität dieser Annahmen ist dann durch Untersuchung
der Übereinstimmung zwischen experimentell gefundenen und theoretisch
berechneten Werten zu prüfen; man muß aber stets eingedenk sein, daß eine
Übereinstimmung dieser Werte nicht die absolute Richtigkeit der ange-
nommenen Voraussetzungen, sondern nur deren Möglichkeit beweist. Werden
andere Annahmen gemacht, z. B. mit Bezug auf die relative Anzahl von
Molekülen der einzelnen Komponenten der Verbindung, so kann die Formel
ein ganz anderes Aussehen erhalten, das sich vielleicht ebenfalls innerhalb
der Grenzen, welche die Ausführung der Experimente zieht, mit letzteren in
Einklang bringen läßt. Unter solchen Verhältnissen findet die Aufstellung
einer Formel ihre Bedeutung darin, daß sie das beste Mittel ist, eine Ansicht
von der Natur der betreffenden Verbindung scharf zu präzisieren, und zwar
in einer Form, die für weitere Prüfung mittels fortgesetzter experimenteller
Untersuchungen eben die beste Grundlage abgibt. Als heuristisches
Mittel, als Anleitung zur scharfen Formulierung der Fragen be-
hufs weiterer Untersuchung hat die Anwendung der kinetischen
Theorie auf Verbindungen, die so wenig aufgeklärt sind wie das
Hämoglobin, ihren großen Wert; bis man den chemischen Charakter
des Hämoglobins bedeutend besser kennt, als dies jetzt der Fall ist, muß man
aber darauf vorbereitet sein, daß die aufgestellten Formeln während der vor-
wärtsschreitenden Untersuchung nicht unerhebliche Änderungen erleiden
werden.
Dissoziation des Natriumbikarbonats ').
Die Dissoziaton des gelösten Natriumbikarbonats geschieht nach dem
Schema
2NaHCO, ZZ N3,C0, + H,CO;.
Setzt man den als Bikarbonat vorhandenen Teil des Natriums = z, so kann
man, da die hydrolytische Dissoziation des Monokarbonats eine äußerst ge-
ringe ist, den als Karbonat vorhandenen Teil des Natriums —= 1 — 2 setzen.
Die Konzentration (Gewichtsmenge in der Raumeinheit) des gesamten Natriums
sei ©, der Partialdruck der Kohlensäure in a über der Flüssigkeit stehen-
den Gase x und der Absorptionskoeffizient &; _ - - ° ist dann der Konzentration
der freien Kohlensäure proportional. Man hat dann, wenn man statt der
Menge der reagierenden Stoffe hierzu proportionale Größen einsetzt, folgende
Gleichgewichtsbedingungen für oben stehende Relation — die linke Seite der
Gleichung wird quadriert, da das Bikarbonat mit 2 Molekülen am Prozesse
teilnimmt —
u
A060. 2): —;
‚setzt man K,.760 — K, so bekommt man
C
22 — RR
K ee ent,
!) Vgl. Bohr, Skand. Arch. 3, 66, 1891. MeCoy, Amer. chem. Journ. 29,
437, 1908.
eh De Lin
TEE RE NETROEUPASENTA
Dissoziation des Natriumbikarbonats. 69
Setzt man die Anzahl Cubikcentimeter CO,, die für 1g kohlensaures Natron
bei verschiedenen Drucken gebunden wird, — y und die Anzahl Cubik-
centimeter CO,, die in maximo von 1g kohlensauren Natrons gebunden
werden kann, — B, so hat man z — z; wird dies in die Gleichung ein-
geführt, so bekommt man
©
.—— . 2 — PER
K zB’ x(B--y)
als die Relation, die zwischen der Spannung der Kohlensäure (x) und der an
das kohlensaure Natron gebundenen Menge Kohlensäure (y) stattfindet.
Die Übereinstimmung der Theorie mit der Erfahrung geht aus unten
stehender Tabelle hervor, in welcher einige früher von mir beobachtete Werte
mit denen verglichen werden, die sich aus der Formel berechnen lassen.
Zum Versuche!) wurden 33,992 g einer 0,1552 proz. Na,C0,-Lösung angewandt;
Temperatur 37°. Die angewandte Menge Na,C0, vermochte nach der Äquivalent-
bereehnung in maximo 11,14ccm CO, zu binden; in guter Übereinstimmung hiermit
erwies sich die Konstante B = 10,95; K = 0,022284. Für die letzte Versuchs-
nummer wurde kein Wert berechnet, da in die Bestimmung augenscheinlich ein
übrigens geringer Fehler eingelaufen war.
CO,-Spannung CO, chemisch gebunden
FIRE beobachtet berechnet
0,17 6,091 6,091
12,53 10,749 10,749
18,74 | 10,803 10,815
28,88 | 10,822 10,863
45,08 | 10,830 10,895
71,84 - | 10,784 E
Mittels der Formel und der gefundenen Konstanten wurde die unten
stehende Tabelle über die prozentige Sättigung (völlige Sättigung
— 100) des kohlensauren Natrons in einer 0,15 proz. Lösung bei
verschiedenen Spannungen berechnet. Temperatur 37°.
CO,-Spannung | Proz. CO,-Sättigung | CO,-Spannung | Proz. CO,-Sättigung
mm mm
0,1 46,7 1,0 83,1
0,17 55,6 5,0 95,5
0,3 65,6 12,53 98,1
0,5 73,6
Änderung der Temperatur ändert den Verlauf der Spannungskurve;
Änderung der Konzentration gleichfalls, denn in der Formel wächst
an, wenn (© abnimmt.
!) Bohr, Skand. Arch. 3, 68, 1891.
70 Gasbindungen des Hämoglobins.
Die Gasbindungen des Hämoglobins.
Indem wir im übrigen hinsichtlich der Zusammensetzung und des chemi-
schen Charakters des Hämoglobins auf einen anderen Abschnitt dieses Hand-
buches verweisen, in welchem die ausführlichere Behandlung gegeben wird,
wollen wir hier in Kürze einige Punkte berühren, die für die Entwickelung
der Theorien von den Gasbindungen des Stoffes notwendig sind.
Bekanntlich spaltet das Hämoglobin sich leicht in Globin und Hämo-
chromogen, welcher letztere eisenhaltige Teil in Berührung mit atmo-
sphärischer Luft genau dasselbe Volum Sauerstoff aufnimmt wie das
Hämoglobin, von dem es herstammt; das Hämoglobin und das Hämo-
chromogen binden also für jedes Gramm Eisen, das sie enthalten, dasselbe
Volum Sauerstoff. Selbst wenn nun das abgespaltene Hämochromogen mit
dem eisenhaltigen Teile des ungespaltenen Hämoglobins nicht völlig
identisch ist, so ist doch aus oben Stehendem zu schließen, daß der Sauer-
stoff ausschließlich an den eisenhaltigen Teil, nicht aber an
das Globin gebunden wird. Indes ist die Menge des an das abge-
spaltene Hämochromogen gebundenen Sauerstoffs nicht merkbar von
der Sauerstoffspannung abhängig, wie dies mit dem an das Hämoglobin
gebundenen Sauerstoffe der Fall ist, und ersterer läßt sich deshalb nicht
auspumpen wie letzterer. Die Annahme liegt daher nahe, daß eben der
Umstand, daß der eisenhaltige Teil sich mit dem Globin in Ver-
bindung befindet, die Abhängigkeit der aufgenommenen Sauerstoffmenge
von der Spannung bewirkt, welche Abhängigkeit ihren Ausdruck in der
Spannungskurve erhält.
Was das Kohlenoxyd betrifft, so bindet das Hämoglobin in einer
reinen ÜO-Atmosphäre ein genau ebenso großes Volumen Gas, wie es in
einer Sauerstoffatmosphäre Sauerstoff bindet; dasselbe ist nach Hoppe-
Seylers!) Untersuchungen mit dem Hämochromogen der Fall. Nun teilt
ferner ein Gemisch von Sauerstoff und Kohlenoxyd, wenn die Spannungen
hinlänglich groß sind, um die Menge des reduzierten Hämoglobins ver-
schwindend klein zu machen, das Hämoglobin auf die Weise, daß die Summe
der gebundenen Mengen der beiden Gase durchaus dieselbe ist, die das Hämo-
globin von jedem derselben in einer reinen Atmosphäre des einen bzw. des
anderen dieser Gase bindet; es ist deshalb als sicher anzunehmen, daß die
Bindung des Kohlenoxyds an denselben Teil des Moleküls geschieht, der
den Sauerstoff bindet, und es müssen völlig analoge Gleichgewichtsbedin-
gungen vorwalten, nur zeigt die Verschiedenheit der Spannungskurven für
die beiden Gase (S. 89 u. S. 123), daß die Konstanten in den Gleichungen,
die den Vorgang ausdrücken, verschieden sind.
Die Kohlensäure wird unabhängig von der gleichzeitigen Bindung
des Sauerstoffs an das Hämoglobin gebunden. Dies geht mit großer
Deutlichkeit aus hierüber angestellten Versuchen hervor, welche zeigen, daß
das Vorhandensein von Sauerstoff die bei gegebener Spannung aufgenommene
Menge Kohlensäure nicht merkbar ändert 2). Ganz dasselbe ist rücksichtlich
t) Zeitschr. f. physiol. Chemie 13, 477, 1889. — °) Bohr, Zentralbl. £. Physiol.
4, 253, 1890 u. Skand. Arch. 3, 64, 1891.
u eu > u ie >) © 0
6
—.
‚. Verbindung des Hämoglobins mit Kohlensäure. 71
des Kohlenoxyds der Fall; auch dieses hat keinen Einfluß auf die Kohlen-
säurebindung !). Nicht einmal die Umbildung des Hämoglobins in Met-
hämoglobin ändert die Bindungsverhältnisse der Kohlensäure 2). Diese
Indifferenz der Kohlensäurebindung gegen die gleichzeitige Sauerstoffbindung
zeigt an, daß der Angriffsort der beiden Vorgänge an verschiedenen Stellen
des Moleküls zu suchen ist. Es ist daher anzunehmen, daß die Kohlensäure
im Gegensatz zum Sauerstoff nicht an den eisenhaltigen Teil, sondern an das
Globin gebunden wird, in Analogie mit den Bindungen der Kohlensäure
an Albuminstoffe, die Setschenow anführt?).
Wie gesagt ändert die’gleichzeitige Aufnahme von Sauerstoff praktisch
genommen nicht die Bindung der Kohlensäure an das Hämoglobin. Dagegen
beeinflußt die Kohlensäureaufnahme die Sauerstoffbindung in der
Weise, daß die Sauerstoffspannungskurve eine andere Form annimmt.. Aller
Wahrscheinlichkeit nach beruht dies darauf, daß die Bindung zwischen Globin
und Hämochromogen, die, wie oben erwähnt, für' die O,-Spannungskurve be-
stimmend ist, sich durch die Verbindung des Globins mit Kohlensäure ändert
(8. 91).
Im folgenden wird die Theorie der einzelnen Verbindungen des Hämo-
globins mit Gasen behandelt.
Die Verbindung des Hämoglobins mit Kohlensäure.
Es liegt am nächsten, die von der Spannung abhängige Bindung der
Kohlensäure so zu erklären, daß sie durch Teilung einer Base unter die
Kohlensäure und eine andere schwache Säure entstehe. Da die Kohlensäure
an den Globinteil ‘des Hämoglobins gebunden wird, und da der Prozeß in
völlig alkalifreien Lösungen vorgeht, kann man sich hierbei von folgender
Betrachtung leiten lassen *).
Das Albumin (A) zeigt bekanntlich sowohl saure als basische Affınitäten
und läßt sich daher als aus einem sauren (As) und einem basischen Teil (A,)
zusammengesetzt denken. Die Kohlensäure bildet dann zum Teil mit dem
basischen Teile eine Verbindung ([C0,;Az]), wodurch ein entsprechender
Teil von Az frei wird. Der Vorgang kann also ausgedrückt werden als
00, +A — [C0,Az] + As.
Wir setzen denjenigen Teil von Az, der sich mit der Kohlensäure verbunden
hat, gleich z, wodurch der hiermit proportionale frei gewordene Teil des As
mit 2 proportional wird, und das ungeteilte Albumin proportional 1 — z;
die hydrolytische Dissoziation des Albuminmoleküls ist als gar zu gering-
fügig außer Betracht gelassen. Ferner nennen wir den Partialdruck der
Kohlensäure oberhalb der Flüssigkeit x und den Absorptionskoeffizienten «;
die in 1ccm absorbierte Menge CO, ist dann Ze die Konzentration (Ge-
wicht in l1ccm) von A sei ©. Die Gleichgewichtsbedingung ist dann, wenn
für die Mengen der reagierenden Substanzen damit proportionale Größen
!) Bock, Die Kohlenoxydintoxikation. 8. 55. Kopenhagen 1895. — *) Bohr,
“ Skand. Arch. 8, 363, 1898. — °) M&m. d. l’Acad. d. St. P6tersbourg 26 (1879). —
*) Bohr, Zentralbl. f. Physiol. 17, 713, 1904.
72 Verbindung des Hämoglobins mit Kohlensäure.
gesetzt werden, und unter der Annahme, daß die Kohlensäure und das Globin
mit gleicher Anzahl der Moleküle am Prozesse partizipieren:
C(1—?2)- = Kı.0.e0s=K, 0.2?
oder 760.0
xl )=K: S gs,
In den Versuchen, mit deren Resultaten diese Relation verglichen werden
soll, ist bei verschiedenen Spannungen die von 1g Hämoglobin gebundene
Anzahl Cubikcentimeter Kohlensäure bestimmt. Diese Größe (y) muß in
obenstehenden Ausdruck eingeführt werden; wir nennen daher die von 1g
Hämoglobin in maximo gebundene Kohlensäuremenge B und haben also
5 — z. Durch Einsetzung von en in die Gleichung finden wir, indem
K = K,.760 gesetzt wird,
C
ıB+- ar un
was also die Relation zwischen den Spannungen (x) und den aufgenommenen
Mengen (y) ist. Die Konstante K variiert mit der Temperatur. Die
Konzentration, in der sich das Hämoglobin befindet, hat Einfluß auf die
Form der Spannungskurve, denn wenn C anwächst, nimmt y ab.
Die Richtigkeit der aufgestellten Auffassung bestätigt ein Vergleich der
nach der Formel berechneten mit den experimentell gefundenen Werten !).
Es können hier ferner noch einige Reihen angeführt werden, die von früher
veröffentlichten Versuchen herrühren.
Der Versuch ?) wurde mit einer 1,76 proz. Lösung von Hämoglobin bei einer
Temperatur von 18,5° angestellt; C war also = 0,0176, « = 0,915. Aus dem Ver-
suche wurde K —= 1133,9, B = 4,00 berechnet. Unten findet sich eine Zusammen-
stellung der beobachteten und berechneten Werte.
— |
C0,-Spannung
CO,-Aufnahme ccm pro Gramm
mm | beobachtet berechnet
'
1,75 | 1,33 0,98
15,16 | 2,27 2,22
20,60 | 2,44 2,43
28,44 | 2,63 2,65
39,92 | 2,82 2,87
56,98 | 3,01 3,08
82,32 | 3,29 3,28
121,94 | 3,51 3,46
Die Übereinstimmung der beobachteten mit den berechneten Werten ist
eine besonders gute; nur die erste Bestimmung, wo die Genauigkeit wegen
des niedrigen Druckes geringer sein muß, zeigt erhebliche Abweichung.
!) Bohr, l.c. — ?) Beitr. z. Physiol, Ludwig gewidmet, 1887; Bohr, 8.170,
Tabelle 3.
N
Verbindung des Hämoglobins mit Sauerstoff. 73
Die vom Hämoglobin gebundene Kohlensäuremenge erweist sich in ge-
wissen Fällen (der ö-Verbindung!) bedeutend größer als gewöhnlich (in
der „-Verbindung); auch die ö-Verbindung unterliegt, wie unten-
stehende Berechnung zeigt, derselben Gleichgewichtsbedingung.
In einer Reihe von Versuchen ?) war die Konzentration 0,01884, die Tempe-
ratur 18°,6, « mithin = 0,912. Man findet K = 1226,9, B= 8,14. Ein Vergleich
der beobachteten Werte mit den berechneten gibt folgendes Resultat.
CO,-Spannung CO,-Aufnahme ccm pro Gramm
mm beobachtet | berechnet
11,4 4,08 3,93
20,6 4,82 4,74
27,7 5,28 5,16
61,1 5,91 6,19
69,4 6,22 6,34
103,6 6,74 6,77
Vergleicht man die Konstanten in den beiden angeführten Fällen, so sieht
man, daß B oder die in maximo gebundene Kohlensäure für die Ö-Verbindung
fast genau doppelt so groß ist wie für die Y-Verbindung (8,1 bzw. 4,0),
während K keinen bedeutenden Unterschied zeigt (1227 bzw. 1134). Die
größere Bindung entsteht also dadurch, daß jede Gewichtseinheit Hämo-
globin sich mit doppelt so viel Kohlensäure verbindet, während das
Verhalten der Reaktionsgeschwindigkeiten sich nicht wesentlich ändert.
Die Verbindungen des Hämoglobins mit Sauerstoff.
Aus den oben angeführten Bemerkungen (siehe S. 70) geht hervor,
daß es der eisenhaltige Teil des Hämoglobins ist, mit dem der Sauerstoff
eine Verbindung schließt. Um den rationellen Ausdruck für den hier
besprochenen Prozeß zu bilden, haben wir nun nur die wohl unzweifelhafte
Annahme zu machen, daß eine hydrolytische Dissoziation des Hämoglobins
in Globin und eisenhaltigen Teil stattfindet, und daß die Sauerstoffverbindung
des letzteren Teiles ebenfalls dissoziabel ist.
Wir haben dann teils eine Dissoziation des Hämoglobins (H) in eisen-
haltigen Teil (F) und Globin (@)
HE IP TIERE EN. (1)
teils eine Dissoziation der Sauerstoffverbindung (F,) des eisenhaltigen Teiles
in Sauerstoff und F'; die Frage ist nun, ob ein oder zwei Moleküle Sauerstoff
für jedes Molekül F'in den Prozeß eintreten®). Um Übereinstimmung der
Versuchsergebnisse mit der Formel zu erzielen, erwiesen sich zwei Moleküle
als notwendig. Die Relation lautet dann
KERN Iren. 2... @)
Y) Bohr, Skand. Arch. 3, 55, 1891. — *) Bohr, 1. c. 8. 53. Versuche Nr. 5,
7, 8. — °) Zentralbl. f. Physiol. 17, 683, 1904.
74 Verbindung des Hämoglobins mit Sauerstoff.
Wir setzen denjenigen Teil von F, der mit Sauerstoff in Verbindung ist,
gleich z und denjenigen Teil, der nicht mit Sauerstoff verbunden ist, gleich u;
das abgespaltene Globin ist dann proportional mit « + 2, das ungespaltene
Hämoglobin proportional mit 1 —- (u + 2). Die Konzentration (Gewichts-
menge in der Raumeinheit) sei C, der Sauerstoffdruck oberhalb der Flüssig-.
keit x und der Absorptionskoeffizient & Man hat nun, wenn für die Mengen
reagierender Substanzen damit proportionale Größen gesetzt werden, für die
beiden obigen Relationen:
a a a a
oder a a nei 5
KK(1—-2-W=(.u.(w+t 2) )
und
a\?
B.0r= C.u(7%) 3: N ee (2)
Letztere Gleichung läßt sich als k.z —= uz? schreiben, woraus u — -_
Nach Einsetzung dieser Größe in (1) hat man
k
k.C.e?2 (1 - =) =K [# (1 —.) —z.Kk]
Nennt man die Anzahl Cubikcentimeter Sauerstoff, die in unseren Versuchen
bei verschiedenen Spannungen (x) pro Gramm Hämoglobin gebunden wird,
y, und bezeichnet man die Anzahl Cubikcentimeter Sauerstoff, die 1g Hämo-
globin in maximo zu binden vermag, durch B, so hat man 5 = 2; wird
diese Größe in die Formel eingeführt und zugleich die konstante Größe
KB —= K gesetzt, so heißt die Gleichung
K.C.y? (1 nn =) = x2(B-—y) — yk,
welche somit die Relation zwischen Sauerstoffaufnahme (y) und Spannung (x)
ausdrückt.
Die absorbierten Mengen ändern sich, wenn die Temperatur und
die Konzentration variieren; wächst (C an, so wird y abnehmen. Die
Übereinstimmung der nach den Formeln berechneten Werte mit den experi-
mentell gefundenen geht aus folgender Tabelle hervor.
|
O,-Spannung O,-Aufnahme ccm pro Gramm
mm beobachtet | berechnet
ns: 0,63 0,64
14,82 1,00 0,98
25,70 1,18 1.16
37,61 1,23 1,22
BER 1,25 1,26
87,80 1,27 1,28
ee Ze
Verbindung des Hämoglobins mit Kohlenoxyd. 75
Beim Versuche!) war die Konzentration des Hämoglobins 6 Proz., die Tempe-
ratur 21,7°. Die Konstanten wurden berechnet als K — 40,73, k = 26, B = 1,29.
Werden die experimentellen Werte graphisch angegeben, so wird man bemerken,
daß die Kurve bei niedrigen Drucken einen Wendepunkt hat, so daß sie ihre
Konvexität hier der Abszissenachse zukehrt. Dieses bei höheren Temperaturen ent-
schiedener ausgesprochene Verhalten (siehe die Abbildung 8. 90) ist in der oben an-
geführten theoretischen Formel wiederzufinden. Bildet man nämlich den Differential-
d F ?
quotienten Ze so findet man diesen als 0 für x = 0. Im Anfangspunkte ist also
die Tangente der Kurve horizontal, und bei niedrigen Drucken gibt es mithin einen
Wendepunkt.
Wo es sich kontrollieren ließ, erwiesen die theoretisch aufgestellten
Gleichgewichtsbedingungen also Übereinstimmung mit den experimentellen
Resultaten. Es ist daher einstweilen eine wohlbegründete Annahme, daß
nieht nur die allgemein zugrunde gelegten Prinzipien den wirklichen Verhält-
nissen entsprechen, was sich wohl kaum bezweifeln ließ, sondern daß auch
die speziellen. Annahmen (die relative Anzahl der Moleküle) mit Bezug auf
die wässerigen Hämoglobinlösungen richtig sind. Dies führt jedoch keines-
wegs mit sich, daß dieselben Gleichgewichtsbedingungen sich in allen ihren
Details auf die Sauerstoffbindung im Blute übertragen ließen.
Der Farbstoff des Blutes erleidet nämlich Änderungen durch die Darstellung
des Hämoglobins.
Eine auf physikalisch-chemische Prinzipien gegründete Gleichung für
die Gleichgewichtsbedingungen bei der Verbindung des Sauerstoffs mit dem
Hämoglobin wurde zuerst von Hüfner?) aufgestellt, der den Vorgang als
eine einfache Dissoziation auffaßt. Es gelingt indes nicht, auf diesem Wege
die Übereinstimmung der Theorie mit den experimentellen Bestimmungen
herbeizuführen 3). ,
Die Verbindung des Hämoglobins mit Kohlenoxyd.
Dem früher Entwickelten zufolge sind die Gleichgewichtsbedingungen
für die Verbindung des Kohlenoxyds mit dem Hämoglobin denen für die
Sauerstoffverbindungen dieses Stoffes ganz analog, und die Form der Gleichung
muß mithin dieselbe sein wie die oben für den Sauerstoff angegebene. Da
die Spannungskurven der beiden Gase aber verschieden sind, müssen auch
die Konstanten der Gleichung verschieden sein. Die experimentellen Data
über die Bindung des Kohlenoxyds an das Hämoglobin finden sich im Ab-
schnitte von den speziellen Absorptionsverhältnissen dieses Gases im Blute
besprochen ($. 123). Es ist aus denselben zu ersehen, daß die Spannungs-
kurve bei niedrigen Drucken sehr geschwind ansteigt. Geringe Fehler der
für die Berechnung der Konstanten entscheidenden Spannungswerte werden
deshalb so großen Einfluß erhalten, daß eine solche Berechnung auf Grund-
lage der bisher vorliegenden Versuche keine Bedeutung erlangen wird.
Die Verbindung des Hämoglobins mit Sauerstoff und Kohlenoxyd.
Wie oben bei der Besprechung der Verbindung des Hämoglobins mit
Sauerstoff entwickelt, haben wir folgende Relationen teils für die hydrolytische
!) Zentralbl. £. Physiol. 17, 687, 1904. — ?) Arch. f. (Anat.) u. Physiol. 1890,
8. 1; 1901, 8. 188. — °) Bohr, Zentralbl. f. Physiol. 17, 682, 1904.
76 Verbindung des Hämoglobins mit Sauerstoff und Kohlenoxyd.
Dissoziation des Hämoglobins (H) in eisenhaltigen Teil (F) und Globin (@),
teils für die Dissoziation der Sauerstoffverbindung des eisenhaltigen Teils (F,):
HI rFLE TE Te
nz2ri3. 00.00
Hierzu kommt ferner, wenn zugleich Kohlenoxyd vorhanden ist, die Disso-
ziation der Kohlenoxydverbindung des eisenhaltigen Teils (Fo)
Fo Ze F E300 A
Nennt man den mit Sauerstoff in Verbindung befindlichen Teil von F 2,
den mit Kohlenoxyd verbundenen Teil 2. und den freien, weder mit Gasen
noch mit Globin verbundenen Teil 4, so ist der als Hämoglobin vorhandene
Tell —=1-+(% + 2. + u) Die Konzentration des Hämoglobins sei C, die
Partialdrucke des Sauerstoffs und des Kohlenoxyds über der Flüssigkeit 9,
bzw. p., die Absorptionskoeffizienten des Sauerstoffs und des Kohlenoxyds &
bzw. &. Man hat dann, indem man statt der Mengen der reagierenden
Substanzen damit proportionale Größen setzt, für die oben stehenden Rela-
tionen die drei folgenden Gleichungen:
K,cC.1ı1- + 2+ wW]= (C.u.C.&, + 2. + u) oder
Kl1—- a.+2.+WwW=(ue. +2 +%W. . ...0
3.0... 0.% (2) ‘oder
KH EU a ee Een a ae a ee a
Pe %ı
RB: U. OR 2) oder
he EP re ee ae SR A
Aus den Gleichungen (2) und (3) bekommt man mittels Division:
a — (2). k,
ke Pe
welches das gegenseitige Verhältnis der gleichzeitigen Gasver-
bindungen bei den gegebenen Partialdrucken angibt. Befände sich alles
Hämoglobin in Verbindung mit Sauerstoff oder Kohlenoxyd, so daß kein
Teil des Stoffes als reduziertes Hämoglobin vorhanden wäre, dann
würde nicht allein das Verhältnis zwischen dem Sauerstoff- und dem Kohlen-
oxydhämoglobin, sondern auch die Mengen dieser Verbindungen in der
Raumeinheit gegeben sein. In der Tat ist aber ja stets außer den
beiden Gasverbindungen zugleich auch reduziertes Hämoglobin in der
Flüssigkeit zugegen, die Menge desselben wird aber, wenn die Sauerstoff- und
die Kohlenoxydspannungen hinlänglich hoch sind, nur eine verschwindend
kleine sein. Alsdann kann man sich der oben stehenden Relation bedienen,
um nicht nur das Verhältnis der Gasverbindungen, sondern auch die Kon-
zentration jeder einzelnen zu berechnen. Bei Drucken, die so niedrig sind,
daß die Menge des reduzierten Hämoglobins von Belang wird, muß man
die Berechnung der Konzentration der Gasverbindungen so ausführen, daß
man aus sämtlichen drei Gleichungen einen Ausdruck bildet. Dies kann
EVEN
He 0. 5
Kohlensäureverbindung der Albuminalkalien. ii
z. B. dadurch geschehen, daß man aus den Gleichungen (2) und (3) den
Ausdruck
& + 2
um ———
2 pi
bildet und diesen in Gleichung (1) einsetzt. Da wir im folgenden aber für
“ den auf diesem Wege gewonnenen Ausdruck keine Anwendung haben, wird
die Rechnung hier nicht ausgeführt.
Aus Versuchen über gleichzeitige Absorption des Sauerstoffs und des
Kohlenoxyds in wässerigen Lösungen rein dargestellten Hämoglobins
liegen unseres Wissens keine Bestimmungen vor, aus denen sich das Ver-
hältnis = experimentell feststellen ließe. Solche Untersuchungen würden
[4
von Wichtigkeit sein, weil dadurch die Richtigkeit der speziellen Annahme
von der relativen Anzahl der Sauerstofif- (und der Kohlenoxyd-)moleküle
kontrolliert werden könnte. Daß das Verhältnis theoretisch gleich dem
Quadrate des Verhältnisses der Drucke befunden wird, rührt nämlich von
der Einführung von zwei Molekülen Sauerstoff für je ein Molekül Hämoglobin
in die Gleichung her; wollte man annehmen, daß die Reaktion mit je einem
Molekül der beiden Stoffe stattfände, so würde a sich einfach wie die Drucke
c
verhalten. Über die gleichzeitige Absorption von Sauerstoff und Kohlenoxyd
in mit Wasser oder kohlensaurer Natronlösung verdünntem Blute liegen
dagegen Versuche vor; diese werden unten näher besprochen werden.
Im vorhergehenden entwickelten wir auf Basis der allgemeinen Grund-
sätze der chemischen Statik die Gleichgewichtsbedingungen für die Gasdisso-
ziation der einzelnen aus dem Blute dargestellten Substanzen. Nur die
Kohlensäureverbindung der Albuminalkalien wurde nicht speziell
behandelt; es handelt sich hier um die Teilung einer Base (des Alkalis) unter
zwei Säuren (das Albumin und die Kohlensäure), und,der Vorgang ist daher
der Bindung der Kohlensäure an das Hämoglobin analog, nur ist die Base in
dem hier besprochenen Falle kein konstituierender Bestandteil des Albumin-
moleküls selbst, wie es beim Kohlensäurehämoglobin der Fall ist. Spezielle
Gleichgewichtsbedingungen für die Kohlensäureverbindung der Albuminalkalien
lassen sich jedoch nicht aufstellen, da keine hierzu brauchbaren Versuche
vorliegen (S. 112).
Es erübrigt noch, zu untersuchen, in welchem Umfang die oben
für die einzelnen Stoffe entwickelten Gleichungen sich einfach
auf die gasbindenden Vorgänge im Blute selbst übertragen lassen.
Wie bereits berührt, ist eine solche Anwendung der gefundenen Formeln
speziell für die Sauerstoff- und die Kohlenoxydverbindungen nicht zulässig.
Direkte Versuche zeigen nämlich, daß die Spannungskurven mit Bezug auf
beide diese Gasarten wesentlich verschieden sind, je nachdem sie im
Blute oder in Hämoglobinlösungen bestimmt werden (S. 90). Die
Verschiedenheiten, die nicht die in maximo gebundene Menge Gas, sondern
78 Gasbindungen im Blute und in Hämoglobinlösungen.
die Form der Kurven betreffen, sind dadurch zu erklären, daß der Blut-
farbstoff bei seiner Überführung in Hämoglobin Änderungen erleidet ($. 88).
An und für sich brauchte dies wohl nicht zu bewirken, daß die oben
für das Hämoglobin gefundene spezielle Form der Gleichgewichtsbedingung
nicht auch für den genuinen Blutfarbstoff passen sollte; es wäre denkbar,
daß die Verschiedenheiten lediglich auf einer Änderung der Konstanten der
Gleichung (des Verhältnisses der Reaktionsgeschwindigkeit) beruhen könnten. ,
Die über gleichzeitige Bindung des Sauerstoffs und des Kohlen-
oxyds im Blute vorliegenden Versuche zeigen indes, daß auch die Form der
Gleichungen für Blut und Hämoglobinlösungen verschieden sein muß. Im
Blute verhielten, Haldanes und Smiths!) Versuchen zufolge, die aufge-
nommene Kohlenoxyd- und Sauerstoffmenge sich ganz einfach wie die ent-
sprechenden Partialdrucke zueinander, in Hämoglobinlösungen, über die, wie
bereits erwähnt, keine Versuche vorliegen, wurden wir, um Übereinstimmung
mit den theoretisch aufgestellten Gleichgewichtsbedingungen zu erzielen,
jedenfalls vorläufig zu der Annahme ‘bewogen, daß die aufgenommenen
Mengen der beiden Gase sich wie die Quadrate der Partialdrucke verhielten;
es ist somit wahrscheinlich, daß die relative Anzahl der in den Vorgang ein-
getretenen Sauerstoffmoleküle oder der durch die hydrolytische Dissoziation
des Hämoglobins abgespaltenen Moleküle in den beiden Fällen verschieden
ist. Eine Analyse der Kurve für die Sauerstoffspannung des Blutes mit der
Aufklärung dieser Fragen vor Augen zu unternehmen, ist vorläufig nicht
tunlich, dazu sind die Verhältnisse im Blute gar zu kompliziert. Unter
anderem bereitet es einer solchen Untersuchung bedeutende Schwierigkeit,
daß die Kohlensäure sich wohl schwerlich ohne Abänderung des Blutfarb-
stoffes völlig aus dem Blute entfernen läßt, während ihre Gegenwart ander-
seits die Absorptionsverhältnisse des Sauerstoffs beeinflußt ($. 91),
Die hier besprochenen Verhältnisse geben uns ein gutes Beispiel, daß
bei der Anwendung der speziellen Resultate der theoretischen Behandlung
mit großer Reservation zu verfahren ist, solange die chemische Struktur
und die molekularen Verhältnisse der betreffenden Stoffe nicht völlig
bekannt sind, was mit Bezug auf das Hämoglobin ja noch in ferner Aus-
sicht steht. Freilich hat man dann und wann diesem Umstande nicht das
erforderliche Gewicht beigelegt und ist dadurch zu unrichtigen Resultaten
gekommen; :darum darf man aber doch keineswegs die Bedeutung der
Einsicht in die für die einzelnen Vorgänge gültigen allgemeinen Gleich-
gewichtsbedingungen unterschätzen; im Gegenteil, derartige Untersuchungen
sind durchaus unentbehrlich, wenn die vorliegenden, den Fortschritt auf
diesem ganzen Gebiete wesentlich bedingenden, Aufgaben näher präzisiert
werden sollen. Nur muß man eingedenk sein, daß Aufschlüsse über faktische
Verhältnisse, die zur Erklärung der physiologischen Vorgänge dienen
sollen, einstweilen durch direkte Bestimmungen im Blute selbst unter Be-
dingungen, die den im Organismus herrschenden entsprechen, kontrolliert
werden müssen. Die Resultate derartiger Bestimmungen liegen im Abschnitte
über die näheren Verhältnisse bei der Absorption der einzelnen Gase im
Blute vor. f
») Journ. of Physiol. 22, 251, 1897.
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LE
Gase im arteriellen und venösen Blute. 79
Zweiter Abschnitt.
Die Gase des Blutes.
1. Kapitel. Die Gase im arteriellen und im venösen Blute.
Die Gasarten, die aus dem Blute entweichen, wenn ihr Partialdruck
über demselben gleich Null wird, und die sich also mittels Auspumpens daraus
gewinnen lassen, sind Sauerstoff, Kohlensäure, Stickstoff und Argon
und wenigstens zuweilen Wasserstoff, Kohlenwasserstoff und Kohlen-
oxyd.
Die vier letztgenannten Gase finden sich nur in sehr geringer Menge.
Von Argon), dessen Quelle die atmosphärische Luft ist, enthält das Blut
etwa 0,04 Vol.-Proz. Wasserstoff und Kohlenwasserstoff 2), die haupt-
sächlich aus dem Darmkanal stammen, finden sich in einer Menge von je
etwa 0,05 Vol.-Proz.; die Menge des Kohlenoxyds beträgt etwa 0,08 Vol.-
Proz. 3); letzteres Gas wird vielleicht aus der Atmosphäre aufgenommen, die
in großen Städten eine geringe Menge Kohlenoxyd enthält.
Die Mengenverhältnisse der übrigen Gase lassen sich am zweck-
mäßigsten behandeln, wenn wir das arterielle und das venöse Blut getrennt
betrachten.
Gase im arteriellen Blute.
Die Durchschnittszahlen für die Mengen des Sauerstoffs, der Kohlen-
säure und des Stickstoffs sind trotz der keineswegs unbedeutenden indivi-
duellen Schwankungen doch ziemlich dieselben für die verschiedenen unter-
suchten Gattungen der Säugetiere. Wir können uns deshalb hier damit
begnügen, die Volumprozente der Gase im Hundeblute anzugeben, welches
Blut am häufigsten untersucht worden ist und dem Tiere angehört, an dem
einige der wichtigsten respirations-physiologischen Versuche angestellt wurden.
Die sehr zahlreichen, über den Gasgehalt des arteriellen Hundeblutes vor-
liegenden Bestimmungen geben im wesentlichen, von einzelnen älteren, nach un-
vollkommeneren Methoden angestellten Analysen abgesehen, übereinstimmende
Resultate. - Daß auch die Durchschnittszahlen einige Schwankungen auf-
zeigen, kann nicht überraschen, da die untersuchten Tiere, wenn sie auch
alle für normal gehalten werden konnten, doch an Alter und Körperzustand
höchst verschieden gewesen sein müssen. Für die Übersicht über die Durch-
schnittszahlen und die Größe der individuellen Variation möchten die beiden
folgenden Versuchsreihen völlig genügen. Die angeführten Zahlen sind
Durchschnittszahlen; die maximalen und die minimalen Werte, welche die
einzelnen Blutproben ergaben, sind in Klammer beigefügt.
Die Sauerstoffmenge des arteriellen Blutes ist nicht um viel geringer
als diejenige, die man nach Schütteln mit atmosphärischer Luft vom Blute
aufgenommen findet. Nennt man das mit atmosphärischer Luft geschüttelte
Blut „mit Sauerstoff gesättigt“, so ist das Arterienblut also in der Regel fast
‘) Reynard und Schloessing fils, Compt. rend. 124, 302, 1897. —
®) Grehaut, Arch. de Physiol. (5), 1894, p. 620; de Saint-Martin, Compt.
rend. 119, 83, 1894. — °®) de Saint-Martin, Compt. rend. 126, 1036, 1898;
Nicloux, Arch. de Physiol. 10, (5), 434, 1898.
so Gase im arteriellen und venösen Blute.
| Sauerstoff Kohlensäure Stickstoff
|
R 25,4 y 42,6 y3,8
1), at g I” ir
Pflüger!). 12 Versuche | 2 18,74 34,3 123,9 1,8 112
. | S2HO\ 539,8
P. Bert’). 80 Versuche . . . | 19,4 114,4) 40,4 33,0
\
gesättigt; die Abweichungen von der völligen Sättigung sind in den ein-
zelnen Fällen jedoch ziemlich variabel (vgl. S. 195).
Mit Bezug auf die Zahlen für Stickstoff (Stickstoff + Argon) ist zu
bemerken, daß die nicht. selten angetroffenen verhältnismäßig hohen Werte
in der Regel auf Fehlern beruhen. Die Menge des Stickstoffs im Blute
kann ausnahmsweise vielleicht etwa 2 Vol.-Proz. erreichen, höhere Werte
rühren wohl aber stets von dem Eindringen äußerer atmosphärischer Luft
während der Entleerung des Blutes her. Bei Anwendung einer vollkommen
dichten Pumpe wird man, wenn Luftbläschen in der Blutprobe vermieden
werden, gewöhnlich etwa 1,2 Vol.-Proz. finden. — So findet man in einer
Versuchsreihe von Bohr und Henriques?®), wo die nötigen Vorsichts-
maßregeln gegen Eindringen der atmosphärischen Luft getroffen waren, in
allen mit natürlicher Atmung angestellten Versuchen den Stickstoff des
arteriellen Blutes im Mittel von 16 Bestimmungen
Er Mai == 1,50
— 1,20 Vol.-Proz. u — 0,9.
Gase im venösen Blute.
Das Venenblut enthält stets mehr Kohlensäure und weniger Sauerstoff
als das entsprechende Arterienblut, übrigens läßt sich im Gegensatz zum
arteriellen Blute für das Venenblut keine in numerischer Beziehung auch nur
einigermaßen konstante Zusammensetzung der Gase angeben. Die Menge
derselben ist nämlich höchst verschieden *) je nach dem Organ, aus welchem
das Blut stammt, und wohl noch mehr nach der größeren oder geringeren
Intensität des Stoffwechsels im Organe und der Geschwindigkeit des Blutstromes
in letzterem. Die hierdurch entstehenden Verschiedenheiten der Zusammen-
setzung des Blutes bieten bedeutendes Interesse dar und werden im Ab-
schnitte von der inneren Atmung besprochen werden; sie machen natürlich
aber die Aufstellung eines allgemeinen Typus des Venenblutes zur Unmög-
lickeit.
Ein wenig anders stellt sich die Sache, wenn wir uns darauf beschränken,
das Blut aus dem rechten Herzen zu untersuchen, wo die Verschiedenheiten
durch die Mischung des Venenblutes ausgeglichen werden. Hier können wir
unter normalen Verhältnissen eine mehr gleichmäßige Zusammensetzung der
Gase zu finden erwarten, obschon dieselbe natürlich zu verschiedenen Zeiten
den eben im Augenblicke an den Organismus gestellten Forderungen gemäß
variieren wird, und zwar in weit höherem Grade als es beim Arterienblut
!) Zentralbl. f. d. med. Wissensch. 1867, S. 724.—?) La pression barometrique
1876, p. 1029 ff. — °) Arch. de Physiol. 1897, p. 822 ff. — *) Vgl. Hill und
Nabaro, Journ. of Physiol. 18 (1895).
Gase im arteriellen und venösen Blute. 81
der Fall ist, dessen Sättigung mit Sauerstoff, wie oben gesagt, in der Regel
eine fast vollständige ist.
| Die ersten Untersuchungen von Blut, das dem rechten Ventrikel und
um des Vergleiches wegen zugleich einer Arterie entnommen wurde, stellte
Schöffer!) in Ludwigs?) Laboratorium an. Aus fünf Versuchen findet er
unten stehende Durchschnittszahlen für die Volumprozente. Die ein-
geklammerten Zahlen sind die maximalen und die minimalen Werte.
Sauerstoff Kohlensäure Stickstoff
| f 23,3 \ 43,1 \ g5H01
Brlörie 0.0023. 15 19,2 \15,0J 38,8 ss J a 11,62)
16,6 \ JAT5\ PLN
Buehtee Hr... ..00. 04080 11,9 { 5,5/ 44,3 138,8 J ara 482
Das Blut aus dem rechten Herzen enthielt in diesen Versuchen durch-
schnittlich 7,3cem weniger Sauerstoff und 5,5ccm mehr Kohlensäure
als das Arterienblut. Der respiratorische Quotient (T) ist dann
2
gleich 0,75. Die Stickstoffzahlen sind durchweg hoch, was auf ein Ein-
dringen atmosphärischer Luft während des Auspumpens hindeutet; der hier-
durch auch hinsichtlich des Sauerstoffs untergelaufene Fehler wird für die
angegebenen Werte keine besondere Bedeutung haben, da die individuellen
Variationen ohnehin sehr beträchtlich sind.
Eine größere Versuchsreihe über die Zusammensetzung der Gase in Blut,
das zu gleicher Zeit dem rechten Ventrikel und einer Arterie entnommen
war, stellten Zuntz und Hagemann?) an Pferden an. Auch hier sind
die Stickstoffzahlen zu hoch (durchschnittlich für Arterienblut 4,5 Proz.,
für Venenblut 2,9 Proz... Da dies zweifelsohne vom Eindringen atmosphä-
rischer Luft herrührte, korrigierten die Verfasser die direkt gefundene
Sauerstoffmenge unter der Annahme, das Blut nehme ebensoviel Stickstoff
auf wie unter denselben Bedingungen das Wasser. In der Tat nimmt das
Blut nun etwas mehr Stickstoff auf (S. 117), jedoch nicht so viel, daß dies
auf die von Zuntz und Hagemann korrigierten Werte einen nennens-
werten Einfluß ausüben könnte.
Unten führen wir auf gewöhnliche Weise den durchschnittlichen, maxi-
malen und minimalen Wert in den 10 Versuchen an, bei denen die benutzten
Pferde in Ruhe gehalten wurden. Die verhältnismäßig niedrigen Zahlen für
den Sauerstoffgehalt des Arterienblutes sind wohl individuellen Verschieden-
heiten zuzuschreiben; wenigstens findet man bei Pferden nicht selten ebenso
hohe Zahlen für den Sauerstoff wie bei Hunden.
Bemerkung. Der Wert des respiratorischen Quotienten wird selbstverständlich
ein verschiedener, je nachdem man erst, wie oben geschehen, die Durchschnitts-
zahl für den Gehalt des Blutes an Kohlensäure und Sauerstoff berechnet und hier-
!) Sitzungsber. d. Wiener Akad. 41, 613, 1860. — ?) C. Ludwig, Zusammen-
stellung der Untersuchungen über Blutgase. Med. Jahrb. Wien 1865. — °) Stoff-
wechsel des Pferdes. Berlin 1898. Ergänzungsband III z. d. Landwirtsch. Jahrb.
27 (1898).
Nagel, Physiologie des Menschen. I 6
82 Gase im arteriellen und venösen Blute.
aus den Quotienten bildet, oder man den Quotienten für jeden einzelnen Versuch
berechnet und hieraus die Durchschnittszahl findet. Da wir hier speziell einen
Wert für Blut von durchschnittlicher Zusammensetzung suchen, wurde ersteres
Verfahren gewählt; als Durchschnitt der einzelnen Quotienten berechnet erwies.
co,
®
sich als 0,970).
| Sauerstoff | Kohlensäure
|
|
|
Y
j | 16,6 koye:
07 FE 14,0 49,4
= | { . los I00,_ 68
| 94 61,6 [0] er
a RL 07 2.055 5 { ! } 5 r
Rechtes Herz | eure 55,9 48,5
Endlich führen wir noch eine Versuchsreihe von Bohr und Hen-
riques?) an, wo auch die Stickstoffmengen genau sind, indem während des
Auspumpens keine atmosphärische Luft in die angewandten Pumpen ein-
drang. Die Versuche (I bis III) wurden an Hunden unter möglichst normalen
Verhältnissen angestellt, und die Probenahme des Blutes aus dem rechten
Herzen und der Arterie geschah gleichzeitig und langsam, so daß die Ver-
suche den Durchschnitt für eine Dauer von 6 bis 13 Minuten repräsentieren.
Die Koagulation war mittels Blutegelinfuses aufgehoben.
| Sauerstoff | Kohlensäure Stickstoff
I |
| Arterie | r. Herz Arterie r. Herz Arterie r. Herz
RN | 256 | 178 44,0 51,5 1,23 1,31
ET RREN | 913 1 28 42,6 48,5 1,19 1,06
11 | 20,3 | 14,4 45,9 50,3 1,18 1,40
Il h A
Mittel | 22,4 | 14,5 44,2 50,1 1,20 1,26
co 5,9
——- 0", 76.
0: ER
Der Stickstoff hat hier für Arterienblut und Venenblut denselben
Wert. Dasselbe Resultat bekommt man, wenn man nicht allein die unter
normalen Verhältnissen, sondern alle in der zitierten Abhandlung angeführten,
bei natürlicher Atmung angestellten Versuche benutzt; als Durchschnitt von
16 Versuchen findet man dann
Stickstoff im Arterienblute . ». » 2." co. ou sus 1,20
Stickstoff im Blute des rechten Herzens . .. . » ee 908
Einer Differenz von 0,06 Vol.-Proz. kann man keine Bedeutung beilegen.
Ein konstanter Unterschied zwischen dem Stickstoffgehalt des Arterien-
blutes und dem des Venenblutes, wie er von Jolyet, Bergoni& und
Sigalas°) angegeben wird, kann somit nicht angenommen werden.
Im folgenden werden wir an mehreren Orten Anlaß haben, einen un-
gefähren Durchschnittswert der Menge der Gase im Arterien- und im Venen-
') Zuntz und Hagemann, |. c. 8. 403. — *) Arch. de Physiol. 1897, p. 23. —
®) Compt. rend. 105, 675, 1887.
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band an Anl I tn ae
2 a We a
1
Absorption und Bindungsweise des Sauerstoffs im Blute. 83
blute zu benutzen; hierbei wird es zugleich um der Berechnung willen am
zweckmäßigsten sein, daß die Zahlen, namentlich die der Sauerstoffmenge,
leicht zu behandeln sind. Dem Angeführten zufolge werden folgende un-
gefähre Zahlen brauchbar sein:
| Sauerstoff Kohlensäure Stickstoff
Arterie .... 20 43,6 1,2 Co, 6,4
Vane:: -119:.3 12 50,0 1,2 N 280. Kara
Im folgenden Kapitel wird die Art und Weise, wie die Gase sich im
Blute absorbiert finden, näher besprochen werden.
2. Kapitel. Absorption und Bindungsweise der einzelnen Gase
im Blute.
I. Der Sauerstoff.
Diejenige Menge Sauerstoff, die sich aus dem normalen Blute auspumpen
läßt, nachdem dieses bei gewöhnlicher Temperatur (15°) mit atmosphärischer
Luft geschüttelt und mithin bei dieser Temperatur mit Sauerstoff von etwa
150mm Spannung gesättigt wurde, ist erheblich größer als diejenige, die
von dem gleichen Volumen Wasser aufgenommen sein würde; 100 cem Wasser
nehmen nämlich unter den angegebenen Bedingungen etwa 0,7 ccm Sauer-
stoff auf (enthalten mithin 0,7 Vol.-Proz.), während es sich erwies!), daß
normales Hundeblut in 22 Fällen durchschnittlich 24,1 Vol.-Proz. absorbierte
(Max. — 28,7, Min. — 19,1). Für Menschenblut findet Haldane?) etwas
kleinere Zahlen; so in 12 Fällen bei Männern durchschnittlich 18,5 Vol.-Proz.
(Max. — 20,4, Min. — 17,0). Eine genauere Feststellung der Durchschnitts-
zahl wird bei so großen individuellen Schwankungen natürlich ohne besondere
Bedeutung sein.
Die Verteilung des Sauerstoffs unter Plasma und Blutkörperchen.
Scheidet man mittels der Zentrifuge das Blut in Plasma und einen Teil,
der außer ein wenig Plasma wesentlich Blutkörperchen enthält, so findet
man bei Bestimmung der während des Schüttelns mit atmosphärischer Luft
in jedem dieser Teile aufgenommenen Sauerstoffmenge, daß das Plasma nur
eine geringe Sauerstoffmenge, nämlich 0,65 Vol.-Proz., absorbiert, während
der größte Teil des Sauerstoffs, den das gesamte Blut dem obigen Befunde
zufolge enthält, durch die Blutkörperchen aufgenommen ist. Zugleich zeigen
das Plasma und die Blutkörperchen einen wichtigen Unterschied in betreff
des Einflusses der Sauerstoffspannung auf die aufgenommenen Sauerstoff-
mengen. Das Plasma nimmt nämlich dem Sauerstoffdrucke des Gases, womit
es gesättigt wird, proportional den Sauerstoff auf, unterliegt also ebenso wie
Wasser dem Henryschen Gesetze. Anders verhält es sich dagegen mit den
!) Bohr, Skand. Arch. f. Physiol. 3, 111 ff£., 1891. — *) Haldane, Journ. of
Physiol. 26, 502, 1901.
6*
54 Verteilung des Sauerstoffs unter Plasma und Blutkörperchen.
Blutkörperchen; untersucht man hier die bei verschiedenen Sauerstofi- _
spannungen aufgenommenen Sauerstoffmengen, so findet man, solange die
Spannungen niedrig sind, einen verhältnismäßig großen Zuwachs der auf-
genommenen Sauerstoffmenge beim Zunehmen der Spannung; bei höheren
Spannungen wird der Zuwachs der Sauerstoffmenge für dieselbe Zunahme
der Spannung hingegen geringer, und schon bevor die Sauerstoffspannung
der atmosphärischen Luft (etwa 150 mm) erreicht wird, hat ein Zuwachs der
Spannung nur sehr geringe Einwirkung auf die aufgenommene Sauerstoff-
menge; bei Sättigung wit reinem Sauerstoff unter dem Druck von 760 mm
nehmen die Blutkörperchen nur verhältnismäßig unbedeutend mehr Sauer-
stoff auf als bei Sättigung mit atmosphärischer Luft. Es wird sich im
folgenden erweisen, daß der Sauerstoff der Blutkörperchen, der mithin auf.
eigentümliche Weise von der Sauerstoffspannung abhängt, von dem Blut-
farbstoff aufgenommen ist, weshalb er der Kürze wegen „chemisch gebunden“
genannt wird.
Das Verhältnis der Spannung des Sauerstoffs zu dessen Menge im Blute.
Bedeutung einer näheren Untersuchung der Gesetze der Sauerstoff-
absorption im Blute. Betrachten wir nun wieder das gesamte sowohl aus
‚Plasma als aus Blutkörperchen bestehende Blut, so finden wir hierin also
teils eine geringe Menge Sauerstoff der Spannung des Blutes direkt propor-
tional im Plasma aufgenommen, teils eine weit größere Sauerstofimenge an
die Blutkörperchen gebunden, zwar ebenfalls in Abhängigkeit von der Span-
nung, aber einem komplizierteren Gesetze gemäß. Wie gering die Menge
des Sauerstoffs im Plasma nun verhältnismäßig auch sein mag, so ist die
genauere Untersuchung ihres Variierens dennoch von allergrößter Wichtigkeit
für das Verständnis einer Reihe respirations-physiologischer Fragen, und zwar
aus folgendem Grunde. Während der Strömung des Blutes in den Gefäßen
stehen die Zellen unablässig in direkter Berührung mit dem Plasma, nicht
aber mit den Blutkörperchen, die durch eine Plasmaschicht von denselben
getrennt sind. Die den Zellen in jedem Augenblicke verfügbare Menge
Sauerstoff ist deswegen von der Konzentration des Sauerstoffs im Plasma ab-
hängig; die Sauerstoffmenge der Blutkörperchen hat in dieser Beziehung
nur indirekte Bedeutung, insofern diese den Behälter bilden, aus welchem
der Sauerstoff sich während des allmählichen Verbrauches der im Plasma
enthaltenen geringen Menge in letzterem verbreitet. Kennt man nur die
Gesamtmenge des Sauerstoffs im Blute, so erbält man daher keinen Auf-
schluß über den Gehalt in der die Zellen unmittelbar umgebenden Flüssig-
keit; hierzu ist notwendigerweise die Bestimmung der Spannung im ge-
gebenen Augenblicke erforderlich; diese, die der Sauerstoffmenge des Plasmas
proportional ist, gibt uns ein Maß für die Konzentration des Sauerstoffs in
dem Medium, in welchem die Zellen leben (vgl. S. 64). Im Abschnitt
von der inneren Atmung werden diese Verhältnisse, deren Bearbeitung zur
Aufklärung wesentlicher respiratorischer Regulationsvorgänge geführt hat,
näher entwickelt und durch Beispiele erläutert werden; es wird aber schon
aus dem hier in Kürze Geschilderten hervorgehen, weshalb bei der Unter-
suchung des Sauerstoffs des Blutes gerade die Spannungskurve, die uns
das Verhältnis der Menge zur Spannung gibt und die verschiedenen, dieselbe
3
k
7
Spannungskurve des Sauerstoffs im Blute. 85
beeinflussenden Umstände eine besonders genaue und umfassende Unter-
suchung erheischen.
Spannungskurve des Sauerstoffs im Blute. Bestimmungen des Ein-
flusses der Spannung auf die Sauerstoffmenge des Blutes wurden in Ludwigs
Laboratorium zuerst von Holmgren !) und später ebendaselbst von Worm-
Müller ?2) ausgeführt, der eine Untersuchung darüber anstellte, bei welcher
Spannung der Sauerstoff in größerem Maße vom Blute frei zu werden an-
fängt.
Worm-Müller untersuchte teils I. die Sauerstoffaufnahme des venösen
Blutes bei Steigerung der Sauerstoffspannung, teils II. das Entweichen des Sauer-
stoffs aus arteriellem Blute bei Herabsetzung der Sauerstoffspannung. Die beiden
Verfahrungsarten führten zu verschiedenen Resultaten hinsichtlich des Verhaltens
der Sauerstoffmenge zur Sauerstoffspannung, speziell wurde der Sauerstoffgehalt des
Blutes bei einer gegebenen Sauerstoffspannung durch das Verfahren II größer be-
funden als durch I. Dies hat unter anderen Donders°) durch die Annahme zu
erklären versucht, es sei in Müllers Versuchen kein völliges Gleiehgewicht er-
reicht worden. Die wirkliche Ursache der verschiedenen Resultate liegt aber in der
Anwendung verschiedenartigen Blutes (venösen und arteriellen Blutes), denn wie
wir später in diesem Abschnitte nachweisen werden, bewirkt eben der verschiedene
Kohlensäuregehalt der beiden Blutarten ein Resultat wie das von Müller gefundene.
Ausführlichere Aufschlüsse über die Menge Sauerstoff, die im Blute auf-
genommen ist, wenn dieses bei verschiedenen Spannungen mit dem genannten
Gase gesättigt wurde, gab P. Bert). Seine Versuche zeigen deutlich den
großen Einfluß, den verschiedene Temperatur auf diese Verhältnisse übt.
Bei höheren Sauerstoffspannungen ist freilich keine entschiedene Wirkung
der Temperatur zu gewahren; bei niedrigeren Sauerstoffspannungen
nimmt das Blut jedoch bei Zimmertemperatur weit mehr Sauerstoff auf als
bei Körpertemperatur. P. Berts Werte stehen den Hauptzügen nach mit
den von späteren Untersuchern gefundenen in Übereinstimmung; eine genaue
Feststellung der Einzelheiten gestattet die angewandte Methode jedoch nicht.
Loewys?) nach einer genaueren Methode (an Menschenblut) ausgeführten
Versuche geben eine im ganzen richtige Vorstellung von dem Einfluß der
Spannungen auf die absorbierten Sauerstoffmengen, indes zeigen auch bei
ihm die einzelnen Versuche nicht geringe Abweichungen (zwischen 22 und
23mm Spannung finden sich Sättigungsgrade von 49 bis 65 Proz.). In
einer späteren Abhandlung findet Loewy‘) ähnliche Durchschnittswerte,
zugleich aber erhebliche Verschiedenheiten für das Blut verschiedener mensch-
licher Individuen. Da die gleichzeitig vorhandene Kohlensäurespannung,
wie wir unten sehen werden, bedeutenden Einfluß auf die Sauerstoffaufnahme
haben kann, und da die Kohlensäurespannung in Loewys Versuchen nicht
konstant erhalten wurde, lag es nahe zu vermuten, daß die gefundenen indi-
viduellen Variationen sich auf diesen letzteren Umstand zurückführen ließen;
dies scheint jedoch nicht der Fall zu sein’), Die Existenz individueller
Variationen in der Spannungskurve des Sauerstoffs kann übrigens nach den
!) Wiener Sitzungsber. 48, 646, 1863. — ?) Ber. d. sächs. Gesellsch. d. Wissensch.
22 (1870). — ?) Pflügers Arch. 5 (1872). — *) Pression baromötrique. Paris 1878,
p- 687 ff.—°) Zentralbl. f. Physiol. 13, 449, 1899.— °) Arch. f. Physiol. 1904, 8. 231.
— 7) Loewy, Arch. f. Physiol. 1904. Verhandl. d. physiol. Gegellsch. z. Berlin.
Sitzung 11. März 1904.
AT |
86 Spannungskurve des Sauerstoffs im Blute.
Aufschlüssen, welche wir über die Veränderlichkeit des Hämoglobins
besitzen, nicht überraschen; beim Hund und Pferd habe ich sie indessen bis
jetzt nicht nachweisen können.
Vor kurzem hat Krogh!) eine Reihe mit seinem Tonometer aus-
geführter Versuche mitgeteilt, bei denen die Kohlensäurespannung kon-
stant gehalten wurde, und die besonders genaue Werte geben, indem
die Übereinstimmung der mit verschiedenem Blute unternommenen Be-
stimmungen eine fast vollständige ist. Die Versuche wurden bei einer Tem-
peratur von 38° an Pferdeblut angestellt; die Resultate finden sich in
untenstehender Tabelle zusammengestellt, deren 1. Kolonne die Sauerstoff-
spannung in Millimetern angibt; in der 2. Kolonne ist die Menge Sauerstoff
angeführt, die bei der betrefienden Spannung vom Blute absorbiert wurde,
mit Abzug des dem Drucke proportionalen einfach gelösten Sauerstoffs, der
mittels des früher (S. 63) angegebenen Absorptionskoeffizienten des Blutes
berechnet wurde; die Kolonne bezeichnet also den Sauerstoff, den wir oben
den chemisch gebundenen nannten; in der 3. Kolonne ist angegeben, wieviel
Sauerstoff bei den betreffenden Spannungen in dem 100ccem Blut ent-
sprechenden Plasma aufgenommen ist. Da das Plasma, wie oben. gesagt,
Sauerstoff proportional zur Spannung aufnimmt, läßt diese Menge sich aus
dem für Plasma bekannten Absorptionskoeffizienten berechnen unter der
Voraussetzung, daß das Plasma ?/, des Gesamtvolumens des Blutes beträgt.
Der Übersichtlichkeit wegen sind zwei Kolonnen hinzugefügt, deren eine
(die 4.) den bei verschiedenen Spannungen chemisch gebundenen Sauer-
stoff im Blute anzeigt, indem die Menge bei 150 mm Spannung —= 100 ge-
setzt ist; sie ist also aus Kolonne 2 durch Multiplikation mit fünf berechnet;
die andere (5.) Kolonne gibt die in 100 ccm Plasma gelöste Menge Sauerstoff
Tabelle über die bei verschiedenen Spannungen aufgenommenen
Sauerstoffmengen.
| Pferdeblut 38°,
| In 100 cem Blut | Sauerstoff aufgenommen
Spannung ee ee Ian |
| ehemisch | im Plasma Prozent . in 100 ccm
| gebundener gelöster | chemisch Plasma
mm Sauerstoff | Sauerstoff l gebunden gelöst
}
10 ! 6,0 0,020 30,0 0,030
20 | 12,9 0,041 | 64,7 0,061
I: 16,3 0,061 | 81,6 0,091
40 18,1 | 0,081 | 90,4 0,121 ”
50 19,1 0,101 | 95,4 0,152
60 19,5 | 0,121 | 97,6 0,182
70 19,8 | 0,141 | 98,8 0,212
80 19,9 | 0,162 99,5 0,243
90 19,95 | 0,182 | 99,8 0,273
150 | 20,0 | 0,303 100 0,455
”
!) Skand. Arch. f. Physiol. 16, 340, 1904.
EEE TERN
N
el an
un Bee. dB ae De
Spannungskurve des Sauerstoffs. — Hämochrom und Hämoglobin. 87
an, um auf diese Weise einen bequemen Ausdruck für die Konzentration des
Sauerstoffs im Plasma zu erhalten.
Die Fig. 15 gibt eine graphische Darstellung der Abhängigkeit der
Sauerstoffmenge von den Spannungen nach den Werten der obigen Tabelle.
Die Spannungen sind als Abszissen, die Mengen als Ordinaten aufgeführt; die
völlig ausgezo- Fig. 15.
gene Kurve ent- =
spricht dem chemisch { | u
gebundenen Sauer- !® IR an re
stoff (Kol.2 der Tab.), 16—: / ;
die punktierte , /
Linie dem im Plas- a / “
ma gelösten Sauer- /
stoff (Kol. 3 der Tab.). 1 ]
Diese Kurve 8
über die Sauerstofi- , [ “
aufnahme des Pferde-
blutes kann als Para- * / |
digma derartiger ? an
Kurven dienen, die 301030 50 70 8000 106 110 120 130 140 150
wir im folgenden der
Kürze wegen Sauer-
stoffspannungskurven nennen. Jedoch ist die Sauerstoffspannungs-
kurve nicht völlig konstant, indem das Verhalten der Spannung zur Sauer-
stoffmenge des Blutes außer von der Temperatur auch durch verschiedene
andere äußere Umstände beeinflußt wird, die im folgenden zur Besprechung
gelangen. Bevor wir hierzu schreiten, müssen wir aber vorerst näher
untersuchen, an welehen Stoff in den Blutkörperchen der Sauerstoff ge-
bunden ist.
Der Farbstoff des Blutes und das kristallinische Hämoglobin. Der in
den Blutkörperchen chemisch gebundene Sauerstoff ist, wie oben genannt,
vom Farbstoff aufgenommen worden. Hierfür spricht nicht nur, daß das
kristallinisch dargestellte Hämoglobin den Sauerstoff. abhängig von der
Spannung bindet, ganz der Weise analog, wie die im Blute stattfindende
Bindung geschieht — in beiden Fällen bildet die Spannungskurve eine nach
der Abszissenachse hin konkave Linie, die bei höheren Spannungen fast hori-
zontal verläuft — sondern auch die quantitativen Bindungsverhältnisse
zeigen uns den Farbstoff als den sauerstoffbindenden Stoff des Blutes. 1g
Hämoglobin nimmt nämlich in maximo eine Sauerstoffmenge auf, die freilich
schwankend ist (siehe unten: Spezifische Sauerstoffkapazität), durchschnittlich
indes auf etwa 1,3ccm anzusetzen ist. Das Blut vermag etwa 20 Vol.-Proz.
Sauerstoff aufzunehmen; ist dies dem Hämoglobin zu verdanken, so muß das
Blut ein wenig mehr als 15 Proz. Hämoglobin enthalten, was durch den Be-
fund denn auch bestätigt wird. Eine solche Berechnung kann wegen der
schwankenden Sauerstoffbindung des Hämoglobins indes nur annähernd
richtig sein. Schärfer läßt das Verhalten sich folgendermaßen nachweisen:
Das im Blute enthaltene Eisen findet sich innerhalb der Fehlergrenze der
Bestimmungen normal nur im Farbstoffe. Bestimmt man nun an einer ge-
Sauerstoffspannungskurve bei 38%. Pferdeblut.
88 Sauerstoffbindung des Hämochroms und des Hämoglobins.
gebenen Blutprobe, wieviel Sauerstoff in maximo pro Gramm Eisen gebunden
wird, und führt man darauf die analoge Bestimmung an dem aus der Blutprobe
dargestellten Hämoglobin aus, so bekommt man identische Zahlen. Eine Reihe
Beispiele hiervon — sowohl für Hunde- als Ochsenblut — finden sich im Ab-
schnitt von der spezifischen Sauerstofikapazität, auf den wir verweisen (S. 95).
Weil der in den Blutkörperchen enthaltene Farbstoff, den ich im
folgenden das Hämochrom nenne, und das daraus dargestellte Hämo-
globin in maximo dieselbe Menge Sauerstoff binden, brauchen sie doch
keineswegs identisch zu sein !), und die nähere Untersuchung der Sauerstofi-
spannungskurven für die beiden Stoffe zeigt in der Tat denn auch, wie aus
dem folgenden hervorgehen wird, daß dies nicht der Fall ist, ein Umstand, auf
den schon früher Hoppe-Seyler 2) und darauf Loewy °) die Aufmerksamkeit
lenkten.. Nach dem, was wir über die Zusammensetzung des Hämoglobin-
moleküls wissen, kann es nun auch kein Erstaunen erregen, daß die maxi-
male Sauerstoffbindung und der Grad des Entweichens des Sauerstoffs bei
abnehmendem Drucke (Form der Spannungskurve) nicht unzertrennlich an-
einander geknüpft sind. Das Hämoglobin spaltet sich bekanntlich leicht
in Globin und Hämochromogen, welch letzterer Stoff in Berührung mit
atmosphärischer Luft Sauerstoff bindet und, wohl zu merken, in derselben
Menge wie dieser vom Hämoglobin gebunden wird, aus dem das. Hämochro-
mogen dargestellt ist (Hoppe-Seyler*). Die Sauerstoffverbindung des
Hämochromogens, das Hämatin, unterscheidet sich aber von der Sauerstoff-
verbindung des Hämoglobins, dem Oxyhämoglobin, unter anderem dadurch,
daß sie im Vakuum ihren Sauerstoff nicht abgibt; dieser kann ihr nur durch
reduzierende Stoffe entzogen werden. Es ist also die Verbindung des Hämo-
chromogens mit Globin, die die Bedingung dafür enthält, daß der aufge-
nommene Sauerstoff bei abnehmendem Sauerstoffdruck entweicht, ein Umstand,
dessen wahrscheinliche Erklärung S. 73 gegeben wurde. Wenn die Bindung
des Hämochromogens an das Globin variiert, entweder indem verschiedene
Mengen Globin sich mit demselben Gewicht Hämochromogen verbinden oder
auch nur wegen verschiedener Intensität der Bindung, so wird die Kurve der
Sauerstoffspannung sich ändern können, ohne daß die in maximo gebundene
Sauerstoffmenge, die durch das Gewicht des Hämochromogens bestimmt ist,
sich änderte. Daß nun wirklich das Verhältnis der Globinmenge zur
Hämochromogenmenge im Hämoglobin variiert, ist aus dem wechselnden
prozentigen Eisengehalt (siehe S. 97) des Hämoglobins zu ersehen, der von
dem Schwanken des prozentigen Gewichtes des Globins der Verbindung
herrühren muß; denn der Eisengehalt des Hämochromogens ist im Gegensatz
zu dem des Hämoglobins stets konstant (Nencki und Sieber’). Es ist
deshalb verständlich, daß die Form der Sauerstoffspannungskurve eine ver-
schiedene sein kann, selbst wenn die maximale Menge gebundenen Sauer-
stoffs dieselbe ist.
Indes kann natürlich nur das Experiment in dieser Sache entscheiden,
und dieses zeigt nun unzweifelhaft, daß der Farbstoff des Blutes, das
. 4) Bohr, Zentralbl. f. Physiol. 17, 688, 1904. — Vgl. Loewy und Zuntz,
Arch. f. Physiol. 1904, 8. 166. — ?) Zeitschr. f. physiol. Chem. 13, 478, 1889,
— ®) Zentralbl. f. Physiol. 13, 449, 1899. — *) Zeitschr. f. physiol. Chem. 13, 492,
1889. — ®) Arch. f. experim. Pathol. 18, 421, 1884.
er tan an ie:
Sauerstoffaufnahme im Blute und in Hämoglobinlösungen. 89
Hämochrom, von dem daraus dargestellten Hämoglobin ver-
schieden ist!). Bevor wir die näheren diesbezüglichen Einzelheiten an-
führen, müssen wir daran erinnern, daß die Konzentration des Blutfarbstoffes
(Anzahl Gramm in 100 ccm) auf die Form der Kurve für die Sauerstoffspannung
Einfluß übt, so daß eine größere Konzentration den flacheren Verlauf der Kurve
bewirkt, daß mit anderen Worten verhältnismäßig weniger Sauerstoff pro Gramm
des Farbstoffes aufgenommen wird, wenn die Konzentration eine große ist
(S. 74). Im Blute ist nun die Konzentration des Farbstoffes eine beträcht-
liche; die Menge des Hämoglobins in 100ccm Blut ist auf etwa l15g an-
zusetzen; diese 15 g sind aber ausschließlich in den Blutkörperchen enthalten,
die von !/, bis !/; des Volumens des Blutes betragen. Die Konzentration,
in der sich der Farbstoff in den Blutkörperchen findet, und die selbstredend
die Konzentration ist, mit welcher wir hier zu rechnen haben, beträgt somit
30 bis 45 Proz., je nachdem das Volumen der Blutkörperchen auf die Hälfte
oder auf ein Drittel des Volumens des Blutes angesetzt wird; dies ist be-
sonders hervorzuheben, weil die Aufmerksamkeit sich gewöhnlich nicht
hierauf gerichtet zu haben scheint. Da so starke Konzentrationen kristalli-
sierten Hämoglobins sich nicht darstellen lassen, werden wir den Farbstoff
des Blutes immer mit weit schwächeren Lösungen kristallisierten Hämoglobins
vergleichen müssen; sind das Hämochrom und des Hämoglobin identisch,
so müssen wir daher erwarten, daß die Sauerstoffispannungskurve des Blutes
einen flacheren Verlauf nimmt als die des Hämoglobins. Wie aus dem Unten-
stehenden hervorgeht, ist dies jedoch so wenig der Fall, daß im Gegenteil
eine Hämoglobinlösung von etwa 6 Proz. eine flachere Spannungskurve hat
als das Blut. Dies ist aus beigefügter Tabelle zu ersehen, die die bei 38° und
verschiedenen Sauerstoffspannungen teils von Blut, teils von etwa 6 Proz.
Hämoglobinlösung aufgenommenen Sauerstoffimengen angibt; der bei 150 mm
Spannung absorbierte Sauerstoff ist für beide Flüssigkeiten auf 100 angesetzt.
Die Zahlen für das Blut sind die oben angeführten Bestimmungen für Pferde-
blut; es wird sich indes im folgenden erweisen, daß Hundeblut fast ganz
dieselbe Kurve hat. Das Hämoglobin ist absorptiometrisch bestimmtes
Tabelle über die Sauerstoffabsorption in Blut und in Hämo-
globinlösung (6 Proz.) bei 38°.
Sauerstoff absorbiert
Spannung
mm Blut Hämoglobinlösung
|
10 ° | 30 24,0
20 | 65 47,5
30 | 82 62,0
40 | 90 72,5
50 | 95 80,0
60 | 98 85,5
150 | 100 100
}
») Vgl. Bohr, Zentralbl. f. Physiol. 17, 688, 1904.
90 Sauerstoffbindung des Hämochroms und des Hämoglobins.
Hundehämoglobin. Der Grund, weshalb die von Hüfner!) angegebenen
Zahlen für die Sauerstoffbindung des Hämoglobins. bei verschiedenen Span-
nungen hier nicht verwertet werden konnten, ist an anderem Orte ausführlich
von mir entwickelt worden 2.
Die Ergebnisse der Tabelle sind in Fig. 16 graphisch dargestellt, wo
B die Spannungskurve des Blutes, H die des Hämoglobins ist.
Fig. 16.
100 T En
B n} —
| | |H
Sr Le
un OB BEN U. EI. 5
60H — m war
I
DE 87 2 ce nn =
PB BER BE
30 ——t i t
| | |
10H a -7- T " a 2 N ka
| URRE
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120 130 140 150 '
Sauerstoffspannungskurven von Blut (B) und Hämoglobinlösung (H). 380 C.
Aus dem oben Angeführten geht hervor, daß das Hämochrom und das
Hämoglobin hinsichtlich des Grades der Sauerstoffbindung bei niederen
Spannungen nicht identisch sind. Die Verschiedenheit der beiden Stoffe
wurde früher übrigens aus anderen Gründen (unter anderem wegen der Lös-
lichkeitsverhältnisse) mit Entschiedenheit von Hoppe-Seyler ?) behauptet. Er
faßt das Hämochrom als eine Leeithinverbindung des Hämoglobins auf. Diese
Auffassung steht mit den oben angeführten Erwägungen insofern in guter
Übereinstimmung, als wir in diesen zu der Annahme einer Verschiedenheit
der Bindungsintensität des Globins zum eisenhaltigen Kern, im Hämochrom
einerseits und im Hämoglobin andererseits, geführt werden; eine solche An-
nahme würde an Berechtigung nur gewinnen, wenn dem Hämoglobin eine
chemische Komponente (Lecithin) abginge, die im Hämochrom vorkäme.
Wie dem nun aber auch sein möge, so zeigen die oben angeführten
Experimente doch unzweifelhaft, daß man, um zur Kenntnis der sehr wich-
tigen Beziehung zwischen der Sauerstoffmenge und der Sauerstoffspannung
des Blutes zu gelangen, die durch Versuche mit Lösungen kristalli-
siertenHämoglobinsgewonnenen Bestimmungennicht auf das Blut
übertragen darf, als ob sie auch für dieses numerisch gültig wären.
Das Studium des Verhaltens des Hämoglobins hat sehr wesentliche Bedeutung
gehabt als Anleitung zum Verständnisse der Art der chemischen Vorgänge,
um die es sich hier handelt; Resultate, die für das Blut gültig sein sollen,
lassen sich aber nur durch direkte Versuche an dem Blute selbst erzielen.
!) Hüfner, Arch. f. Physiol. 1890, S. 1 und 1901, Suppl., 8. 187. — ?) Bohr,
Zentralbl. f. Physiol. 17, 682, 1904. — °) Zeitschr. f. physiol. Chem. 13, 479, 1889.
Einfluß der Kohlensäurespannung auf die Sauerstoffaufnahme. 91
Der Einfluß der Kohlensäurespannung auf die Sauerstoffaufnahme des
Blutes. Die schwankende Kohlensäurespannung des Blutes kann in sehr
beträchtlichem Grade die Menge des Sauerstoffs ändern, der bei einem
gegebenen Sauerstoffdruck absorbiert wird, oder, was dasselbe ist, die
Kohlensäurespannüng vermag die Spannung zu ändern, die eine gegebene,
im Blute absorbierte Sauerstoffmenge ausübt!). Daß diese an und für sich
leicht nachweisbare Tatsache so lange übersehen worden ist, rührt wohl be-
sonders von dem Umstande her, daß der Einfluß der Kohlensäurespannung
erst dann deutlich hervortritt, wenn der Sauerstoffdruck kein gar zu hoher
ist. Die Einwirkung der Kohlensäure auf die Sauerstoffaufnahme wird nicht
durch eine andauernde Änderung des Blutfarbstoffes verursacht; dies ist
schon daraus zu schließen, daß die Wirkung momentan eintritt, und zwar bei
Kohlensäurespannungen, welche die in dem Blute normal’beobachteten nicht
übersteigen; überdies läßt es sich dadurch direkt beweisen, daß das Blut,
nachdem seine Sauerstoffabsorption für eine gegebene Sauerstoffspannung
durch Kohlensäure herabgesetzt gewesen ist, sein voriges Absorptions-
vermögen vollständig wiedererlangt, sobald die Kohlensäure entfernt wird.
Das Verfahren, um die Einwirkung der Kohlensäure auf die Sauerstoff-
aufnahme nachzuweisen, ist ein sehr einfaches und in den Hauptzügen
folgendes. Man unternimmt eine Reihe Bestimmungen des im Blute auf-
genommenen Sauerstoffs, indem die Sauerstoffspaunung bei sämtlichen
Bestimmungen konstant erhalten wird, während man die Kohlensäure-
spannung von Versuch zu Versuch variiert. Nach den gefundenen Zahlen
bildet man eine für die untersuchte Sauerstoffspannung gültige Kurve, wo
die Abszissen die Kohlensäurespannungen, die Ordinaten die aufgenommene
Sauerstoffmenge bezeichnen. Für andere Sauerstoffspannungen bestimmt
man durch neue Reihen von Versuchen analoge Kurven; nach Zusammen-
stellung einer Anzahl solcher Kurven, deren jede einzelne den Einfluß der
Kohlensäure bei gegebener Sauerstoffspannung auf die Sauerstoffaufnahme
anzeigt, hat man die Data, die erforderlich sind, um Kurven zu konstruieren,
welche für eine einzelne bestimmte Kohlensäurespannung auf ge-
- wöhnliche Weise das Verhältnis des aufgenommenen Sauerstoffs
(der Ordinaten) zu den Sauerstoffspannungen (den Abszissen) angeben.
Eine solehe Gruppe von fünf Kurven ist in der Fig. 17 a. f. S. wieder-
gegeben; gefunden wurden sie durch Versuche mit Hundeblut bei einer
Temperatur von 38°, und sie entsprechen Kohlensäurespannungen von be-
züglich 5, 10, 20, 40 und 80mm. Die numerischen Werte sind-in der
Tabelle 2) a. S. 92 angeführt, deren erste Kolonne die Sauerstoffspannungen,
die anderen Kolonnen die korrespondierenden, bei verschiedener Kohlen-
säurespannung aufgenommenen Sauerstoffmengen angeben.
Die Sauerstoffaufnahme bei 150 mm Sauerstoffspannung und 5mm CO,
ist gleich 100 gesetzt.
Daß die Kurven bei sehr niedrigen Spannungen der Abszissenachse ihre Kon-
vexität zukehren, stimmt mit dem überein, was wir früher mit Bezug auf die
Sauerstoffspannungskurve des Hämoglobins fanden (vgl. 8. 75).
!) Bohr, Hasselbaleh und Krogh, Zentralbl. f. Physiol. 17, 661, 1904
u. Skand. Arch. 16, 602, 1904: — ?) Skand. Arch. 16, 411, 1904.
92 Einfluß der Kohlensäurespannung auf die Sauerstoffaufnahme.
Die oben (8. 87) gegebene Sauerstoffspannungskurve für Pferdeblut,
die bei etwa 6 mm Kohlensäuredruck galt, ist, wie man sieht, von der ent-
sprechenden Kurve für Hundeblut nur wenig abweichend.
a Fig. 17.
100 7 |
5 — in
80 DZ E
” Yıırır
/
/
1) / 9%
ARE
// |
II 6 er
m.
INNN
0 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120 130 140 150
Sauerstofispannungskurve bei verschiedenen Kohlensä Hundeblut. 380,
Tabelle über den Einfluß der Kohlensäurespannung auf die
Sauerstoffaufnahme in Hundeblut bei 38°,
Sauerstofl- | Aufgenommener Sauerstoff
spannung |—— —
inm 5mm CO, | 10mm CO, | 20mm CO, | 40mm 00, | 80mm 00,
5 11 7,5 5 3 1,5
10 28,5 20,5 14 9.0, 4
15 51 36 27 18,5 8
20 | 67,5 54 41 29,5 14
25 | 76 67 54 40 22
30 | 82 74,5 63,5 50 31
35 86 79,5 71 58 40
40 89 84 77 66,5 49
45 91 87,5 82 73 56
50 92,5 90 86 78,5 62,5
60 95 93,5 90,5 86 73
70 97 95,5 94 91 80,5
80 98 97 96 94,5 87
90 98,5 98 97 96 91,5
100 99 98,5 98 97 95
150 100 100 4 100 99,8 99,5
Da die Kohlensäure sich mit einem anderen Teile des Hämoglobinmoleküls
verbindet als der Sauerstoff, und da die größere oder geringere Spannung des
Sauerstoffs, wie wir im Abschnitt von der Kohlensäure (S. 106) sehen werden,
keinen nennenswerten Einfluß auf die Bindung der Kohlensäure übt, kann die
Erklärung der oben besprochenen Erscheinungen nicht darin gesucht
werden, daß die beiden Gasarten, die Kohlensäure und der Sauerstoff, im-
Spezifische Sauerstoffkapazität des Blutes. 93
stande sein sollten, sich gegenseitig aus der Verbindung mit dem Blutfarb-
‚stoff auszutreiben, eine Vermutung, die von Werigo!) aufgestellt wurde.
Dagegen läßt sich das Verhalten gemäß dem, was früher über die Bindung
des Sauerstoffs an den Farbstoff entwickelt wurde, auf folgende Weise auf-
fassen. Die Kohlensäure geht mit dem eisenfreien Teile des Hämochroms
eine Verbindung ein; hierdurch verändert sich die Affinität des letzteren zum
eisenhaltigen Teile; es wird nun fortwährend dieselbe Menge Sauerstoff
in maximo aufgenommen werden wie vorher, bei niederen Sauerstoff-
spannungen wird aber. verhältnismäßig weniger Sauerstoff aufgenommen,
ganz in Analogie mit dem oben Entwickelten, wo von einem Vergleich des
Hämochroms mit dem Hämoglobin die Rede war (S. 88). Diese Annahme
‘gibt die zwanglose Erklärung sowohl des geänderten Bindungsverhaltens des
Sauerstoffs bei Einwirkung der Kohlensäure als auch der relativen Unab-
hängigkeit der Kohlensäureaufnahme von dem Sauerstoffdruck.
Die oben beschriebenen Versuche wurden, wie erwähnt, an Blut unter-
nommen; eine wässerige Lösung des Blutes zeigt analoges Verhalten, während
Lösungen kristallinischen Hämoglobins, die früher ?2) in dieser Beziehung
untersucht wurden, zwar zuweilen, jedoch nicht immer bei Einwirkung der
Kohlensäure eine geringere Sauerstoffaufnahme zeigten. Vielleicht wird sich
auch an diesem Punkte eine Verschiedenheit des Hämochroms vom Hämo-
globin erweisen; jedenfalls müssen aber Versuche, die auf die Verhältnisse
im Organismus zur Anwendung kommen sollen, notwendigerweise, wie die
oben genannten, mit dem Blute selbst angestellt werden.
Hoppe-Seyler°) meinte, es fänden sich im Arterien- und im Venen-
blute verschiedene Blutfarbstoffe, Arterin, bzw. Phlebin, und das Phlebin
gebe seinen Sauerstoff leichter ab als das Arterin. Seitdem die Wirkung der
Kohlensäure auf die Sauerstoffspannung ihre Erklärung gefunden hat, liegt
kein Grund mehr vor, die Existenz von zwei besonderen Farbstoffen an-
zunehmen. Hoppe-Seylers Arterin und Phlebin sind derselbe Farbstoff,
das Hämochrom, in Verbindung mit mehr, bzw. weniger Kohlensäure.
Die biologische Bedeutung des hier über das gegenseitige Verhalten der
Kohlensäure und des Sauerstoffs Bemerkten möchte einleuchtend sein; Pro-
duktion von Kohlensäure wird die Sauerstoffspannung im Blute steigern, be-
sonders wenn dies am meisten vonnöten ist, nämlich wenn die Menge des
Sauerstoffs schon vorher eine geringe ist: Die nähere Behandlung dieser
Frage, die mehrere Punkte von Interesse darbietet, kann aber erst im Ab-
schnitt von der“iineren Atmung stattfinden.
Die spezifische Sauerstoffkapazität des Blutes.
Im vorhergehenden schilderten wir das Verhältnis der Sauerstoffmenge
zur Sauerstoffspannung im Blute; wieviel Sauerstoff aber in maximo von
einem Gewichtsteil Blutfarbstoff gebunden werden kann, wurde nur flüchtig
berührt. Letztere Frage, die sich für gewisse Regulationen des respira-
torischen Prozesses von Wichtigkeit erweisen wird, wollen wir im folgenden
‚behandeln, und zwar vor allen Dingen untersuchen, ob der Blutfarbstoff von
!) Arch. de Physiol. (5), 10, 610, 1898. — ?) Bohr, Skand. Arch. f. Physiol.
3, 64, 1891. — °) Zeitschr. f. physiol. Chem. 13, 478, 1889.
94 Spezifische Sauerstoffkapazität im Blute und in Hämoglobinlösungen.
verschiedenen Tierarten und von verschiedenen Individuen derselben Art bei
derselben Temperatur und bei so hohen Sauerstoffdrucken, daß die maximale
Sauerstoffbindung fast völlig erreicht wird, stets die gleiche Menge Sauerstoff
pro Gewichtseinheit bindet; dies müßte natürlich der Fall sein, wenn der
Blutfarbstoff stets dieselbe Zusammensetzung darböte; es müßte dann die
maximale Menge des vom Blutfarbstoff gebundenen Sauerstoffs sowohl im
Verhältnis zum Gewicht des Blutfarbstoffes als auch zum darin enthaltenen
Eisen und zur Lichtabsorption konstant sein. Aus dem folgenden wird in-
des hervorgehen, daß dies nicht der Fall ist. Der Farbstoff aus dem Blute
verschiedener Individuen bindet nicht immer dieselbe Menge Sauerstoff pro
Gramm, obschon die Abweichungen der aufgenommenen Sauerstoffmenge
selbstverständlich immer um eine Durchschnittszahl herum schwanken müssen.
Später werden wir gewahren, wie die Ursache der Schwankungen aller Wahr-
scheinlichkeit nach darin zu suchen ist, daß der Blutfarbstoff kein einzelnes che-
misches Individuum ist, sondern eine in verschiedenem Blute oft verschieden
zusammengesetzte Mischung nahe verwandter Farbstoffe mit verschieden großer
Sauerstoffbindung. Hervorzuheben ist indes, daß von anderen Seiten be-
hauptet worden ist, die gefundenen Schwankungen rührten von Versuchs-
fehlern her, und der Blutfarbstoff sei in der Tat konstanter Zusammensetzung.
Es wird deshalb am richtigsten sein, als Einleitung eine Übersicht über das
vorliegende experimentelle Material zu geben; darauf erst können wir mit
Erfolg zur theoretischen Deutung der gefundenen Data schreiten.
Definition der spezifischen Sauerstoffkapazitä. Der größte Teil der
Untersuchungen, die über die schwankende Sauerstoffbindung des Blut-
farbstoffes Aufschluß geben können, umfaßt die Bestimmungen der spezifischen
Sauerstoffkapazität, im folgenden durch Sp. O bezeichnet, worunter wir das
Verhältnis der maximalen Sauerstoffbindung zur Eisenmenge des Blutes oder
der Hämoglobinlösung verstehen. Mit Bezug auf die näheren Einzelheiten
der Bestimmung derselben verweisen wir auf die Spezialabhandlung !), in
welcher dieser Begriff zuerst aufgestellt wurde; hier mag nur folgendes be-
merkt werden. Die Sauerstoffaufnahme wird durch Auspumpen der be-
treffenden Flüssigkeit bestimmt, nachdem diese bei Zimmertemperatur und
dem Sauerstoffdruck der Atmosphäre (etwa 150 mm) gesättigt ist; bei solcher
Sättigung ist die maximale Sauerstoffbindung nahezu erreicht, indem die ge-
bundene Sauerstoffmenge dann höchstens etwa 3 Proz. niedriger ist als die
maximale; die Sp. O wäre daher eigentlich um diese 3 Proz. zu erhöhen.
Anderseits findet sich in der Flüssigkeit außer dem vom Blutfarbstoff auf-
genommenen Sauerstoff zugleich etwas einfach gelöster; letzterer ist in
den unten angeführten Beispielen, wo anderes nicht ausdrücklich angegeben
wird, nicht in Abzug gebracht; er beträgt unter den speziellen Versuchs-
bedingungen etwa 4 Proz. der Gesamtmenge ausgepumpten Sauerstoffs; um
diese Größe sollte nun die Sp. O vermindert werden. Der Fehler bei der
nicht maximalen Sättigung des Blutfarbstoffes (etwa —- 3 Proz.) und der
Fehler beim Mitrechnen des einfach gelösten Sauerstoffs (etwa + 4 Proz.)
heben sich also fast gegenseitig, indem sie nur bewirken, daß die Zahlen für
!) Bohr, Skand. Arch. f. Physiol. 3, 101, 1891.
Spezifische Sauerstoffkapazität im Blute und in Hämoglobinlösungen. 95
die Sp. O um etwa 1 Proz.!des Wertes zu hoch werden; diese]Größe liegt
aber innerhalb der Versuchsfehler.
Spezifische Sauerstoffkapazität des Blutes und des hieraus dargestellten
Hämoglobins. Von Bestimmungen der Sp. O findet sich ein großes Material
in Abhandlungen von Bohr), Abrahamsen?), Tobiesen ?) und mehreren
anderen. Sämtliche Versuchsreihen zeigen bedeutendes Schwanken der ge-
nannten Größe. Erst betrachten wir eine besonders wichtige Gruppe der
Versuche, diejenige nämlich, wo Sp. O sowohl in einer Blutprobe als auch in
dem aus der Probe dargestellten Hämoglobin bestimmt wurde. Bei diesen
Versuchen ist Sorge zu tragen, daß der Farbstoff des Blutes so gut wie
sämtlich in dem daraus dargestellten Hämoglobin wiedergefunden wird, und
nicht, wie es leicht beim Kristallisieren, namentlich beim Umkristallisieren
geschehen kann, nur ein kleinerer Teil desselben. Mit Hundeblut läßt dies
sich erzielen, wenn auf früher angegebene Weise *) Äther angewandt wird;
es wird dann fast aller Blutfarbstoff kristallinisch ausgeschieden. “ Auch auf
Ochsenblut ist die Ätherbehandlung anwendbar; es gelingt hier, fast sämtliche
Stromasubstanz auszuscheiden, man erhält aber keine Kristallisierung des
Hämoglobins; nach Verdampfung des Äthers ist die Lösung brauchbar.
Selbstverständlich wird in allen Versuchen die Menge des absorbierten Sauer-
stoffs und die des Eisens für jede Blutprobe und für das Hämoglobin be-
sonders bestimmt.
Mit’ Bezug auf Hundeblut verschiedener Individuen liegen die sieben
folgenden Versuche 5) vor, wo Sp. O sowohl für eine Blutprobe als für das
aus derselben dargestellte Hämoglobin bestimmt wurde.
Nummer 1 2 ’& 4 5 6 7 Durchschnitt
Sp. O { Blut 331 342 | 358 361 380 386 407 366
P- Hämoglobin | 339 | 355 | 367 | 356 | 359: | 372 | 393 363
Differenz Proz. + 2,3) +3,8|+2,5|—1,4|—5,8 | — 3,8 | —- 3,6 —-0,8
i
Wie man sieht, stimmt die Sp. O dss Blutes sehr wohl mit der des dar-
aus dargestellten Hämoglobins überein, indem die größte Abweichung
5,8 Proz. des Wertes beträgt. Dasselbe ist der Fall mit den acht unten-
stehenden Versuchen an Ochsenblut 6) verschiedener Individuen und der daraus
dargestellten Hämoglobinlösung.
Durch-
| |
Nummer }: 5 | 3 | 4 5 6 2 8 EER
80. 0 Blut 323 | 337 | 350 | 354 | 8357 | 8362 | 373 | 387 355
p Hämoglobin| 312 | 333 | 352 | 344 | 384 | 366 | 372 | 367 354
Differenz Proz. |=-35/—-12 4086| -30/+701+11/+03|—+5,2| — 0,3
\
!) Skand. Arch. f. Physiol. 3, 101, 1891. — °?) Über den Sauerstoff des Blutes.
Kopenhagen 1893. — °) Skand. Arch. f. Physiol. 6, 273, 1895. — *) Bohr, Skand.
Arch. f. Physiol. 3, 91, 1891. — °) Ebenda, $. 133. — °) Abrahamsen, Über den
Sauerstoff des Blutes. Kopenhagen 1893. 8. 47.
%
96 Spezifische Sauerstoffkapazität im Blute und in Hämoglobinlösungen.
In beiden Versuchsreihen fällt die große Schwankung der Sp. O auf. Der
höchste Wert ist sowohl für Hunde- als für Ochsenblut fast 20 Proz. größer
als der kleinste; daß dies von zufälligen Fehlern herrühren sollte, bleibt aus-
geschlossen, wenn man die Übereinstimmung der Blutproben mit den Hämo-
globinlösungen berücksichtigt.
Bestände ein einfaches Verhältnis zwischen dem gebundenen Sauerstoff
und der Menge des Eisens, so daß z. B. für jedes Atom Eisen zwei Atome
Sauerstoff gebunden würden (was keineswegs gleichbedeutend damit wäre,
daß von einem Molekül Hämoglobin ein Molekül Sauerstoff gebunden werde }),
so würde Sp. OÖ — 400 (399,8) sein. Diese Zahl kann nun auch erscheinen
(siehe z. B. Hundeblut Nr. 7), in der Regel verhält es sich aber anders, und
die Durchschnittszahl ist in den angeführten Versuchen für Hundeblut 366,
für Ochsenblut 355. Diese Zahlen ergeben kein einfaches molekulares Ver-
hältnis des Sauerstoffs zum Eisen; dieser Umstand, im Verein mit der be-
deutenden individuellen Schwankung der Sp. O, spricht dafür, daß wir mit
einem Gemisch von Blutfarbstoffen mit verschiedener Sauerstoffbindung
zu schaffen haben, eine Ansicht, die, wie wir später sehen werden, an anderen
Beobachtungen ihre Stütze findet.
Die spezifische Sauerstoffkapazität ist also dieselbe für das Blut wie für
das aus diesem dargestellte Hämoglobin, wenn man zur Darstellung des
Hämoglobins die oben genannte Äthermethode ohne Zusatz von Alkohol an-
wendet, mittels der fast das gesamte Hämochrom als Hämoglobin auskristal-
lisiert wird. Bei der Anwendung anderer Methoden zur Darstellung des.
Hämoglobins findet man häufig Änderungen des spezifischen Sauerstoffgehalts.
So zeigte in drei unter vier untersuchten Fällen der spezifische Sauerstoff-
gehalt des Blutes beträchtliche Abweichung von dem in einer Lösung von
Hämoglobinkristallen gefundenen, wenn diese auf gewöhnliche Weise mittels
Zusatzes von Alkohol dargestellt wurden. Untenstehende Tabelle illustriert
dieses Verhalten. .
Nummer 1?) 2?) 3°) 4°)
50,0.) One EN ER 361 346 376 363
PT Hämoglobinlösung . . .. . . 278 289 356 312
Differenz Proz. — 30,0 — 19,7 — 5,6 —- 16,0
Ganz dieselbe Verschiedenheit der spezifischen Kapazität bei Anwendung
der erwähnten verschiedenen Darstellungsmethoden des Hämoglobins fand
Bock hinsichtlich des Kohlenoxydhämoglobins (S. 125).
Die zur Darstellung der Hämoglobinkristalle benutzte Me-
thode kann mithin auf den spezifischen Sauerstoffgehalt Ein-
fluß üben.
Bekannt ist übrigens, daß auch andere Eigenschaften des Hämoglobins
sich mit dem Darstellungsverfahren ändern können. So wiesen Lapieque
und Gilardoni*) durch Versuche nach, daß Hämoglobin desselben Blutes
!) Zentralbl. f. Physiol. 17, 683, 1904. — °?) Abrahamsen, Über den Sauer-
stoff des Blutes. Kopenhagen 1893, S. 48. — ®) Bohr, Bisher nicht veröffentlichte
Versuche. — *) Compt. rend. 130, 1333, 1900.
Sauerstoffaufnahme und Lichtabsorption. 97
verschiedenen prozentigen Eisengehalt haben kann, wenn es auf verschie-
dene Art dargestellt wird; durch diesen Umstand sind gewiß, wie schon
Nencki und Sieber!) vermuteten, die sehr schwankenden Zahlen (0,29 2)
bis 0,46 Proz.) zu erklären, die verschiedene Untersucher auch während der
jüngsten Jahre für den prozentigen Eisengehalt gefunden haben. Hier-
mit steht es natürlich nicht in Widerspruch, daß man mittels gleichartigen
Verfahrens und vielleicht besonders mittels häufigen Umkristallisierens ein
konstantes Produkt darstellen kann, das dann selbstverständlich auch kon-
stanten Eisengehalt hat. — Ferner hat man nachgewiesen, daß die Licht-
absorption einer bestimmten Spektralregion sich durch das Darstellungs-
verfahren ändern läßt; so findet Krüger‘) konstant eine Steigerung des
Lichtabsorptionsverhaltens sowohl des Hunde- als des Pferdehämoglobins
nach wiederholtem Umkristallisieren mit Alkohol.
Es ist deshalb zweifelsohne das Richtige, wenn man über die wirklich
im Organismus stattfindenden Verhältnisse des Sauerstoffs, des Eisengehalts
und der Lichtabsorption Aufklärung zu erhalten wünscht, dann auch die
Untersuchung an dem Blute selbst anzustellen. Bei Anwendung der
Hämoglobinlösungen, deren Untersuchung sonst an vielen Punkten großes
Interesse darbietet, wird man keine sicheren Schlüsse über die normalen
Verhältnisse ziehen können.
Die Sauerstoffaufnahme und die Lichtabsorption. Wegen der
bedeutenden Schwankungen des spezifischen Sauerstoffgehalts, den das Blut
verschiedener Individuen zeigt, wird es wahrscheinlich, daß auch das Ver-
halten der Sauerstoffmenge zur Lichtabsorption Verschiedenheiten darbietet.
Solche sind nun auch nachgewiesen worden, sowohl in meiner oben zitierten
Abhandlung als auch von anderen Untersuchern. In der Regel stellte man
die Versuche so an, daß die Hämoglobinkonzentration der Flüssigkeit
spektrophotometrisch und die maximale Sauerstoffbindung nach Sättigung bei
atmosphärischem Sauerstoffdruck durch Auspumpen oder durch Verdrängung
mittels Kohlenoxyds bestimmt wurden. In mehreren Fällen wurde zur
Sättigung des Blutes statt des Sauerstoffs Kohlenoxyd benutzt, wovon ein
ebenso großes Volumen gebunden wird. Ist das Verhältnis der Lichtabsorp-
tion zur Sauerstoff- oder Kohlenoxydaufnahme kein konstantes, so gibt das
sich durch das Schwanken der Zahlen kund, welche die pro 100 g Hämoglobin
gebundene Sauerstoff- oder Kohlenoxydmenge ausdrücken; diese Menge wird
im folgenden überall in Cubikcentimeter bei 0° und 760 mm angegeben; wo
die Autoren ein anderes Maß gebraucht haben, wurde dieses reduziert.
Für das genannte Verhältnis findet nun Hüfner), was Hundeblut be-
trifft, Zahlen, die zwischen 131 und 157 schwanken, und Bücheler®) später
in demselben Laboratorium Schwankungen des Pferdeblutes zwischen 167
und 237. Auch in den Untersuchungen, die stattfanden, nachdem ich auf
die Schwankungen des spezifischen Sauerstoffgehalts aufmerksam gemacht
hatte, als die Aufmerksamkeit sich deshalb auf die Frage nach der vermeint-
lichen Inkonstanz des Blutfarbstoffes richtete, fand man durchweg bedeutende
Y) Arch. f. experim. Pathol. 18, 421, 1884. — *) Lapicque und Gilardoni,
1. c. — °) Lawron, Zeitschr. f. physiol. Chem. 26, 343, 1899. — *) Zeitschr. £.
Biologie 6, 47, 1888. — °) Zeitschr. f. physiol. Chem. 1, 329, 1877. — °) Ebenda 8,
359, 1884.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 7
98 Kritik des Begriffes der spezifischen Sauerstoffkapazität.
Schwankungen. So gibt de Saint-Martin!) für Menschenblut 118 bis 134
und für Hundeblut 122 bis 135 an, und Kraus, Koßler und Scholz?)
finden für Menschenblut in 22 Fällen ein. Minimum von 91, ein Maximum
von 197. Wenn diese Autoren aus ihrem bedeutenden experimentellen Material
den Schluß ziehen, sie hätten keine Tatsache gefunden, die der Gleichartigkeit
des Hämoglobins widerstreite, so ist diese Behauptung nicht haltbar; als
Beweis hierfür können wir auf die Tabelle III der genannten Autoren (l. c.
S. 337) in ihrer Gesamtheit verweisen. Hier führen wir aus der Tabelle nur
ein einzelnes, besonders prägnantes Beispiel an, nämlich Nr. 17 und 18 der
zitierten Tabelle, wo bei zwei gesunden Individuen die spektroskopisch be-
stimmte. Hämoglobinmenge die gleiche, d. h. 13,98 Proz. und 14,03 Proz.,
die in maximo aufgenommene Sauerstoffmenge hingegen 22,69 bzw. 12,87 Vol.-
Proz. ist; es finden sich also pro 100g Hämoglobin 162 und 91cem
Sauerstoff. Ein solches Resultat kann unmöglich von methodischen Ver-
suchsfehlern herrühren, und dergleichen Beispiele ließen sich mehrere an-
führen.
Dagegen hat Hüfner?) auf Grundlage einer Reihe von Versuchen, die
er später nach den oben angeführten unternahm, bestimmt behauptet, die
Sauerstoffbindung des Hämoglobins sei stets konstant, und von mehreren
Seiten ist diesen Versuchen großes Gewicht beigelegt worden. Die Bestim-
mungen, acht an Zahl, wurden an Ochsenblut unternommen (es gelang nicht,
die an Hämoglobinlösungen angestellten Versuche durchzuführen, 1. c. S. 155).
Hüfner findet als Minimum 129, als Maximum: 135,8 für die Kohlenoxyd-
bindung in 100 g Hämoglobin. Diese verhältnismäßig gute Übereinstimmung
in acht Versuchen würde selbstverständlich keinesfalls das aus den zahl-
reichen, oben angeführten Versuchen hervorgehende entgegengesetzte Resultat
entkräften können; hierzu kommt aber der von Haldane #) gelieferte Nach-
weis, daß sich aus Hüfners Versuchen Resultate herleiten lassen, die nicht
damit in Übereinstimmung stehen, was andere Versuche mit Sicherheit über
die Dissoziation des Kohlenoxydhämoglobins ergeben. Es finden sich näm-
lich unter den erwähnten Versuchen Bestimmungen der Größe der Kohlen-
oxydbindung sowohl für etwa 500 als für etwa 700 mm Spannung, und diese
Bestimmungen zeigen, wenn man das eigene Berechnungsverfahren des Autors
benutzt, daß bei etwa 500 mm nur die 93 Proz. des Hämoglobins mit Kohlen-
oxyd gesättigt sind, während dasselbe bei etwa 700 mm mit dem genannten
Gase völlig gesättigt sein sollte. Dieses Ergebnis widerstreitet aber sowohl
Versuchen, die Hüfner’) selbst über die Dissoziation des Kohlenoxydhämo-
globins angestellt hat, und denen zufolge schon bei 100mm Spannung
99,93 Proz. des Hämoglobins gesättigt werden, als auch den von Bock)
und Haldane und Smith’) gewonnenen Resultaten. Zwischen 700 mm und
500 mm Spannung ist die Dissoziation des Kohlenoxydhämoglobins in der Tat
unmerklich, und es müssen sich deshalb in Hüfners Versuche Fehler ein-
geschlichen haben, welche dieselben, wenigstens solange die Art der Fehler
nicht aufgeklärt ist, für unseren Zweck unbrauchbar machen.
!) Journ. de Physiol. 2, 733, 1900. — ?) Arch. £. experiment. Pathol. 42, 323,
1899. — °) Arch. f. Physiol. 1894, $. 130. — *) Journ. of Physiol. 1900, p. 295. —
®) Arch. f. Physiol. 1895, 8. 222. — °) Zentralbl. f. Physiol. 8, 385, 1894. —
7) Journ. of Physiol. 22, 253, 1898.
u " B u au =
a a ET" a Fr
Sauerstoffaufnahme und Färbungsvermögen des Blutes. 99
Bei den bisher besprochenen Vergleichungen der vom Hämoglobin ge-
bundenen Sauerstoffimenge mit der Lichtabsorption desselben wurde letztere
Größe stets in einem bestimmten Spektralgebiete spektrophotometrisch ge-
messen. Es liegen indes außerdem eine Reihe Untersuchungen von Hal-
dane und Smith!) und von Haldane?) vor, wo das totale Färbungs-
vermögen des Hämoglobins, mittels einer verbesserten Gowerschen Methode
gemessen, mit der direkt bestimmten Sauerstoffabsorption verglichen wurde.
Hierbei fand man in 20 Versuchen völlige Übereinstimmung der beiden
Größen, indem die Abweichung des Maximums nur etwa 2 Proz. beträgt und .
die weit überwiegende Anzahl der Bestimmungen nur eine Differenz von
weniger als 1 Proz. des Wertes gibt. Wie die Autoren bemerken, sprechen
diese Versuche nicht für Schwankungen der Zusammensetzung des Blutfarb-
stoffes, und jedermann wird zugeben, daß sie, an und für sich betrachtet,
der entgegengesetzten, die Konstanz des Hämoglobins behauptenden Ansicht
eine gewichtige Stütze gewähren. Vergleicht man sie indes mit den zahl-
reichen Versuchen, wo die im Verhältnis zum Eisen oder zur spektroskopisch
gemessenen Lichtabsorption bestimmte Sauerstoffkapazität bedeutende Schwan-
kungen darbietet, so sehe ich nicht ein, wie sie imstande sein sollten, die
letztgenannten Versuche zu entkräften. Will man nicht ganz willkürlich
große Reihen von Versuchen aussondern, so muß das Resultat sämtlicher
vorliegenden Versuche dahin formuliert werden, daß das Verhältnis zwischen
dem Eisengehalt des Hämoglobins und dessen Lichtabsorption im begrenzten
Spektralgebiet einerseits und anderseits die Sauerstoffbindung im Blute
variieren können, während den bisher vorliegenden Versuchen zufolge ein
konstantes Verhältnis der Sauerstoffkapazität zum totalen Färbungsvermögen
des Hämoglobins besteht; daß das Verhältnis dieser beiden Eigenschaften,
der Sauerstoffkapazität und des totalen Färbungsvermögens, trotz Schwan-
kungen der oft genannten Art im Hämoglobin ein konstantes bleiben konnte,
läßt sich auf Basis unseres gegenwärtigen Wissens auf diesem Gebiete keines-
wegs ohne weiteres bestreiten. Eine Untersuchung, bei der sowohl die spektro-
photometrische als die Gowersche Methode zur Anwendung käme, würde
deshalb großes Interesse darbieten. Zu bemerken ist übrigens, daß das nach
Fleischls Methode bestimmte totale Färbungsvermögen und der Eisengehalt
des Blutes nach Rosin und Jellineks3) Versuchen nicht in konstantem Ver-
hältnis zueinander stehen — was von diesen beiden Untersuchern zum Teil
Variationen des Eisengehalts des Hämoglobins zugeschrieben wird (l. c. S. 133).
Versuche, im Blute Komponenten mit verschiedener spezifischer Sauer-
stoffkapazität voneinander zu sondern. Dem oben Dargestellten zufolge möchte
es wohl als konstatiert zu betrachten sein, daß der spezifische Sauerstoffgehalt
häufig verschiedener Größe ist. Innerhalb einer oberen und einer unteren
Grenze trifft man im Blute eine ganze Reihe glatt ineinander übergehender
verschiedener Werte an, und gleich von Anfang an mußte sich bei der Unter-
suchung dieser Funktion *) der Gedanke aufdrängen, daß diese vielen ver-
schiedenen Werte in der Tat nur von wenigen einzelnen Komponenten her-
») Journ. of Physiol. 25, 331, 1900. — *) Ebenda 26, 497, 1901. — °) Zeit-
schrift f. klin. Mediz. 39, 109, 1900. — *) Bohr, Skand. Arch. f. Physiol. 3, 105
u. 141, 1891.
7%
100 Komponenten verschiedener spezifischer Sauerstoffkapazität im Blute.
rührten, deren Vorhandensein in abwechselnden Mischverhältnissen der
spezifischen Sauerstoffkapazität ihre bunte Mannigfaltigkeit gebe. Die
einzelnen Komponenten müßten dann Blutfarbstoffe sein, die sich übrigens
ihrem chemischen Charakter nach sehr nahe ständen, die aber eine ver-
schiedene Menge Sauerstoff bänden, so daß hinsichtlich jedes einzelnen Farb-
stoffes ein einfaches molekulares Verhältnis zwischen dem Gewicht des Farb-
stoffes und der gebundenen Sauerstoffimenge stattfände. Es wäre z.B. denkbar,
daß einer dieser Farbstoffe Sp. O — 400, ein anderer Sp. O = 200 hätte.
Bei solcher Ansicht würde es nahe liegen, sich zu denken, daß jedes
einzelne Blutkörperchen einen gleichmäßigen Farbstoff einschlösse, dessen
spezieller Charakter schon während der Bildung des Blutkörperchens oder
auch durch spätere Einwirkungen bedingt worden wäre; auf diese Weise
würde die je im Augenblicke vorhandene Mischung der Farbstoffe eine Resul-
tante der verschiedenen Einwirkungen sein, welche die einzelnen Blutkörper-
chen erlitten hätten.
Die experimentelle Prüfung dieser Ansichten bietet indes, wie leicht zu
ersehen, große Schwierigkeiten dar; es gilt hierbei nämlich, die Scheidung
von Stoffen zu erstreben, die den meisten chemischen Charakteren nach als
sich sehr nahe stehend zu betrachten sind, und die zur Anwendung kommen-
den Mittel müssen zugleich aus Rücksicht auf die geringe Haltbarkeit des
Farbstoffes sehr wenig eingreifend sein. Man hat nun versucht, das aus
dem Blute auskristallisierte Hämoglobin dadurch zu trennen, daß man sich
eines möglichen Unterschieds der Löslichkeit von dessen einzelnen Kompo-
nenten bediente, teils indem die zuerst ausgeschiedenen Kristalle für sich
untersucht wurden, teils indem die gesamte Kristallmasse durch successive
Behandlung mit kleinen Portionen Wasser geteilt wurde. Das negative Er-
gebnis eines solchen Versuches könnte die Gleichmäßigkeit des Farbstoffes
natürlich nicht beweisen; denn an und für sich haben wir keinen Grund, zu
erwarten, daß Verschiedenheiten der Sauerstoffbindung an Verschiedenheiten
der Löslichkeitsverhältnisse geknüpft sein sollten; ein positiver Erfolg würde
hingegen von Bedeutung sein, eben weil die Trennung gemäß der Löslich-
keit ein nur wenig eingreifender Vorgang ist, von dem nicht wohl anzu-
nehmen ist, er erzeuge Verschiedenheiten, wo solche nicht schon vorher exi-
stieren. Die wenigen Untersuchungen !), die nach dieser Methode angestellt
worden sind, haben hier und da’allerdings Verschiedenheiten der mehr und
der weniger schwer löslichen Kristalle gezeigt, im ganzen haben sie aber nur
dürftige Aufschlüsse gegeben.
Besser gelang eine andere Methode, wo man ein möglicherweise ver-
schiedenes spezifisches Gewicht der einzelnen roten Blutkörperchen zu ver-
werten suchte, um dieselben mittels Zentrifugierens in Gruppen zu sondern,
die dann auf ihren spezifischen Sauerstoffgehalt untersucht wurden; wenn
der Unterschied des spezifischen Gewichtes der einzelnen Körperchen ein sehr
geringer ist, wie hier, wird das Zentrifugieren natürlich nur eine höchst un-
vollständige Trennung in Gruppen bewirken; jedenfalls gewährt diese Methode
aber den Vorteil, die völlige Sicherheit zu bieten, daß keine Änderung des
Blutfarbstoffes durch eben den Scheidungsvorgang stattfindet; die ange-
) Bohr, Skand. Arch. f. Physiol. 3, 97, 1891.
ng = . u
% EIN B-TaP . aa Et ns pn
0 a Sa ee a a Glen te ia 2 ann
un) "ie, at a an Fe
al u a: u.
e
Komponenten verschiedener spezifischer Sauerstoffkapazität im Blute. 101
troffenen Verschiedenheiten müssen im Blute präexistierend sein. Daß ein
direkter Zusammenhang des spezifischen Gewichtes der Blutkörperchen
mit deren Gehalt an verschiedenem Farbstoff existieren sollte, ist selbst-
verständlich nicht anzunehmen ; dagegen ist es sehr wohl möglich, daß zwischen
dem spezifischen Gewicht und anderen Eigenschaften, z. B. dem Alter der
‘ Blutkörperchen, ein Zusammenhang besteht, und dies könnte nun bewirken,
daß man auf indirektem Wege, sozusagen mehr zufällig, Blutkörperchen
mit verschiedenem spezifischen Sauerstoffgehalt zum Teil nach dieser Me-
thode gesondert bekommen könnte. Eben weil die direkte Abhängigkeit des
spezifischen Gewichts von dem spezifischen Sauerstoffgehalt nicht anzu-
nehmen ist, müssen wir aber auf große Unregelmäßigkeiten der Resultate
gefaßt sein und können nicht erwarten, in derselben Schicht der zentri-
fugierten Körperchen konstant Blutkörperchen von demselben spezifischen
Sauerstoffgehalt zu finden. Versuche der hier besprochenen Art wurden von
Haldane und Smith!) angestellt, die in mehreren Fällen, in denen sowohl
Hunde- als Ochsenblut angewandt wurde, ein positives Resultat erzielten;
als Beispiel können wir anführen, daß in einer Probe des letzteren Blutes
die obere, die mittlere und die untere Schicht der zentrifugierten Blut- .
körperchen einen spezifischen Sauerstoffgehalt von 330 bzw. 353 und 365
erwiesen; bei anderen Versuchen erreichte der Unterschied der Sp. O in
den verschiedenen Schichten mehr als 20 Proz. des Wertes. Auch an Pferde-
blut gelang es mir, nach bisher nicht veröffentlichten Versuchen in einigen
Fällen ein ähnliches Verhalten nachzuweisen.
Wie unvollständig die vorliegenden Aufschlüsse auch sind, und wie
viele Fragen, besonders nach der Natur der einzelnen Farbstoffkomponenten,
auch unbeantwortet bleiben, so muß man doch behaupten, daß sie für
die prinzipielle Seite der hier behandelten Sache von großer Wichtigkeit
sind; ich. wenigstens kann in denselben nur den sicheren Nachweis er-
blicken, daß in der Regel, auch unter normalen Verhältnissen, im Blute ein
Gemisch von Farbstoffen von verschiedenem spezifischen Sauerstofigehalt an-
getroffen wird.
Diese Auffassung findet nun auch eine Stütze in einigen anderen Um-
ständen, die hier in Kürze genannt werden. Erstens findet man, selbst wenn
man den Durchschnitt einer großen Anzahl Bestimmungen an normalem
Blute nimmt, Werte des spezifischen Sauerstoffgehalts (etwa 360), die nicht
damit in Übereinstimmung stehen, daß es ein einfaches molekulares Ver-
hältnis der Sauerstoffbindung zum Eisen des Farbstoffes gibt; dieser Umstand
wurde bereits berührt und scheint entschieden dafür zu sprechen, daß wir im
Hämochrom nicht mit einem einzelnen chemischen Individuum, sondern mit
einem Gemisch zu schaffen haben. — Ferner stützt sich die Ansicht von dem
Vorhandensein verschiedener Farbstoffe im Blute auf Beobachtungen ?), denen
zufolge das Hämoglobin außerhalb des Organismus in Verbindungen anderen
spezifischen Sauerstoffgehalts übergehen kann. Freilich sind diese verschie-
denen Oxyhämoglobine, nachdem die Verschiedenheit des genuinen Blutfarb-
stoffes (des Hämochroms) von dem daraus dargestellten Hämoglobin kon-
») Journ. of Physiol. 16, 468, 1894. — °) Bohr, Skand. Arch. f. Physiol. 3,
76, 1891.
\
102 Zahlenwerte der spezifischen Bauerstoffkapazität im Blute.
statiert worden ist, nicht als mit den Komponenten des Farbstoften‘ im Blute
identisch zu betrachten; ihr Vorkommen macht es aber doch wahrscheinlich,
daß auch der eigentliche Blutfarbstoff leicht in Modifikationen ‘mit verschie-
dener Sp. O übergehen kann.
In der jüngsten Zeit hat auch Hüfner!) beobachtet, daß sogar das
Kohlenoxydhämoglobin sich schon bei mehrstündigem Stehen bei 8% so ver-
ändern kann, daß es weniger CO pro Gramm bindet. Hüfner will seine
Beobachtung durch die Vermutung erklären, ein Teil des Hämoglobins habe
sich hierdurch so geändert, daß dasselbe entweder gar kein CO mehr oder auch
dieses Gas fest binde; die Erklärung kann indes ebensowohl darin liegen,
daß sich zum Teil Kohlenoxydhämoglobin mit geringerem spezifischen Sauer-
stoffgehalt gebildet hätte, so wie es mit den oben erwähnten Abänderungen
des Oxyhämoglobins der Fall ist.
Zahlenwerte der spezifischen Sauerstoff kapazität des normalen Blutes. Im
. folgenden werden die für normales Blut (Arterien- und Venenblut) gefundenen
durchschnittlichen Werte des spezifischen Sauerstoffgehalts nebst den Maxima
und Minima dieser Funktion angeführt.
Für Hundeblut finde ich?) bei 22 Individuen die durchschnittliche
Sp. 0 = 375 Me 2) Mi Tobiesen?), bei dessen Versuchen Morphin
angewandt und ein Herz-Katheter eingeführt wurde, beobachtet bei 17 Indi-
\ e dere SR Maximum — 429
viduen die durchschnittliche Sp. OÖ —= 388 ee a — 378° Abra-
hamsen*) gibt für Ochsenblut die durchschnittliche Sp. O0 —= 351
rien L. a an, wozu jedoch zu bemerken ist, daß 31 der im ganzen
ausgeführten 32 Bestimmungen Zahlen zwischen 301 und 391 ergeben, so
daß das Maximum 450 einem exzeptionell hohen Werte zu verdanken ist.
Für Schweineblut findet derselbe Autor in 5 Fällen die mittlere Sp. O
==. 341 Kr Er En Durch im ganzen 9 Bestimmungen finde ich ')
{Maximum — 426 Wie
\Minimum — 379
man sieht, sind die individuellen Schwankungen innerhalb derselben Gattung
gar zu groß, um dem Umstande, daß die gefundenen Durchschnittswerte
für die Gattungen etwas. verschieden sind, weitere Bedeutung beizulegen.
Nur ist vielleicht der spezifische Sauerstoffgehalt bei Pferden wirklich in der
Regel größer als bei den anderen untersuchten Gattungen. Für einige Tier-
gattungen liegen einzelne Bestimmungen vor, die für Kaninchen 389, für einen
Zahnwal (Delphinus comm.) 413 6) ergaben. Von Vögeln kamen 16 Individuen
von Schwimmvögeln (Uria troile und Mormon fratercula) zur Untersuchung,
die in 5 Gruppen geteilt wurden, um hinlängliches Blut zur Analyse zu
; A As. Maximum — 356
erhalten. Man’) fand im De Sp. O0 = 348 en Bye
für Pferdeblut die durchschnittliche Sp. O — 411
!) Arch. f. Physiol. 1903, 8. 217. — ?) Skand. Arch. f. Physiol. 3, 119, 1891. —
®) Ebenda 6, 287, 1895. — *) Über den Sauerstoff des Blutes. Kopenhagen 1893,
8. 45 u. 46. — °) Noch nicht veröffentlichte Versuche. — °) Bohr, Übersichten der
Königl. Dänischen Akad. d. Wissensch. 1897, 8. 214. — ’) Bohr, l. c. 8. 214.
Kohlensäure im Blute. 103
es wurden hier also so gut wie keine individuellen Schwankungen angetroffen,
die vielleicht doch durch die Gruppeneinteilung verdeckt waren.
Der spezifische Sauerstoffgehalt, über dessen Größe im normalen Blute
wir hier eine Übersicht gegeben haben, kann durch verschiedene Eingriffe
(z. B. Anämie) Änderungen erleiden, ja nicht selten ist bei demselben Indi-
viduum sogar ein Unterschied des Arterienblutes vom Venenblute in betreff
der Sp. O zu finden. Dies wird im Abschnitt von der inneren Atmung
näher besprochen werden, wo überhaupt die Bedeutung der Schwankungen
des spezifischen Sauerstoffgehalts für die Regulation der Zufuhr von Sauer-
stoff zu den Geweben zur Behandlung kommen wird.
I. Die Kohlensäure
Die Kohlensäureabsorption des Blutes ist von der Spannung der Kohlen-
säure in dem Gase abhängig, mit dem dasselbe im Gleichgewicht steht, ist
dieser Spannung aber nicht einfach proportional. Schon hieraus geht hervor,
daß die Absorption nicht allein von einfacher Lösung des Gases in der Flüssig- _
keit herrührt, und die bei gegebenem Drucke in einem Volumen Blut gelöste
Menge ist denn auch bedeutend größer als die, welche sich aus dem Absorp-
tionskoeffizienten (S. 63) als physikalisch gelöst berechnen läßt. Das Blut
enthält also dissoziable kohlensäurebindende Stoffe, und insofern verhalten
sich die Absorption der Kohlensäure und die Absorption des Sauerstoffs auf
analoge Weise im Blute; während aber derjenige Teil des absorbierten Sauer-
stoffs, der nicht einfach physikalisch in der Flüssigkeit gelöst ist, in seiner
Totalität an einen einzelnen Stoff in den Blutkörperchen — an das Hämo-
chrom — gebunden wird, so daß die Absorption im Plasma das Henrysche
Gesetz genau befolgt, haben wir dagegen in betreff der Kohlensäure mit mehr
verwickelten Verhältnissen zu schaffen, indem die chemische Bindung an
eine ganze Reihe von Stoffen geschieht, die sowohl im Plasma als in
den Blutkörperchen gefunden werden. Die Einsicht in die hierbei verlaufen-
den chemischen Vorgänge wird ferner dadurch erschwert, daß die gegen-
seitige Wechselwirkung zwischen diesen zum Teil nur unvollständig bekannten
kohlensäurebindenden Stoffen mit der Größe der Kohlensäurespannung etwas
variiert.
Obschon seit den fundamentalen Untersuchungen der Gase des Blutes
um die Mitte des vorigen Jahrhunderts eine sehr bedeutende Arbeit auf die
Erklärung der Bindung der Kohlensäure im Blute angewandt worden ist,
sind darum diese Verhältnisse bei weitem noch nicht völlig ins reine gebracht.
Was ältere Arbeiten betrifft, können wir auf Zuntz’!) Monographie ver-
weisen; im folgenden werden wir uns wesentlich nur bestreben, einen Über-
blick über den gegenwärtigen Standpunkt der Frage zu geben.
Das Verhältnis der absorbierten Kohlensäuremenge zur Spannung.
Bestimmungen dieser Funktion werden gewöhnlich so ausgeführt, daß
man das Blut mit einer Atmosphäre von bekanntem Kohlensäurepartialdruck
in Absorptionsgleichgewicht bringt, worauf man ein Volumen desselben aus-
pumpt und die frei gewordene Kohlensäure mißt; man wiederholt darauf den
!) Hermanns Handb. d. Physiol. 4 (2), 64.
\
104 Spannungskurve der Kohlensäure im Blute.
Versuch mit einer frischen Probe des Blutes bei einer anderen Kohlensäure-
spannung. Das solchergestalt aus dem Blute gewonnene Gas umfaßt nun aber
nicht nur die Kohlensäure, die schon allein bei Herabsetzung des Partialdruckes
auf den Nullwert entweichen würde (die dissoziable Kohlensäure); denn bei
der allmählich in der Pumpe stattfindenden Destruierung der Blutkörperchen
treten aus diesen saure Bestandteile, besonders wohl Hämoglobin, in die
Flüssigkeit aus, und zwar in solcher Menge, daß auch die als Monokarbonat
an die Alkalien gebundene Kohlensäure frei gemacht und ausgepumpt wird;
bei weiterer Zusetzung einer Säure nach beendigtem Auspumpen wird deshalb
keine Kohlensäure mehr frei (Pflüger!). Wird hingegen das Plasma oder
das Serum allein, ohne Blutkörperchen, ausgepumpt, so bleibt, wie unten
näher nachgewiesen wird, etwas Monokarbonat zurück, aus dem die Kohlen-
säure nur durch Zusatz einer Säure frei gemacht werden kann. Mit Bezug
auf das Blut findet man daher auf diese Weise, daß die einer gegebenen
Spannung entsprechende, durch Auspumpen gefundene Kohlensäuremenge den
wirklichen Wert der dissoziablen Mengen übersteigt; der Überschuß ist
aber bei den verschiedenen Spannungen gleich groß und verrückt darum
wohl den absoluten Ordinatenwert, aber nicht den Verlauf der Spannungs-
kurve, unter der wir, wie früher, die Kurve verstehen, deren Abszissen die
Spannungen, deren Ordinaten die chemisch gebundenen Gasmengen sind.
Verschiedenes Blut bietet oft bei derselben Spannung ziemlich be-
deutende Variationen der Kohlensäureabsorption dar, namentlich wegen wech-
selnden Gehalts an kohlensauren Salzen. Dieses Verhalten, das wir im
folgenden durch eine spezielle Reihe von Versuchen erhellt finden werden, geht
schon aus Gaules?) Beobachtungen über Erstickungsblut hervor, wo z.B. in
zwei verschiedenen Blutproben der Gehalt an Kohlensäure derselbe (nämlich
34 Vol.-Proz.) war, die Spannungen sich hingegen als sehr verschieden (36
bzw. 48mm) erwiesen. Wenn es sich daher um die auch nur einigermaßen
genaue Feststellung der Spannungskurve handelt, muß deshalb als Regel
dasselbe Blut gebraucht werden. Übrigens können, auch bei Benutzung
desselben Blutes, äußere Umstände dennoch leicht eine Verschiedenheit der
einzelnen Proben bewirken; so hat schon die Defibrinierung einen wenn
auch nur geringen Einfluß auf die Alkalinität und ‚mithin auf die Kohlen-
säurebindung (Loewy und Zuntz?°); weit bedeutenderen Einfluß übt aber
das Stehen namentlich in der Wärme [Zuntz ®) und Loewy und Zuntz’)],
indem sich, besonders anfangs, hierbei Säure bildet. Da die Temperatur be-
deutende Einwirkung auf den Verlauf der Kohlensäurespannungskurve hat,
ist man genötigt, die Versuche, die auf die Verhältnisse im Organismus
Anwendung finden sollen, bei Körpertemperatur zu unternehmen; das Ver-
bleiben der einzelnen Probe in dieser Temperatur muß deshalb, um die so-
eben genannte Säurebildung zu vermeiden, möglichst verkürzt werden. Es
ist also überhaupt nicht leicht, eine Bestimmung der CO,-Spannungskurve
im Blute zu erhalten, die mit Fug als die normale zu betrachten wäre und
sich auf die gewöhnlichen Verhältnisse im Organismus anwenden ließe.
!) Kohlensäure des Blutes, $. 5. Bonn 1864. — ?) Arch. f. (Anat. u.) Physiol.
1878, 8. 469. — °) Pflügers Arch. 58, 507, 1894. — *) Beitr. z. Physiol. d. Blutes.
S. 25. Bonn 1868. — °) 1. c.
" ie
ualaa" 2 5. Cu U au nn na u Ze
burn Are
Spannungskurve der Kohlensäure im Blute. “ 105
Zuntz!) hat bei Körpertemperatur Bestimmungen der Kohlensäure-
absorption in Hundeblut bei verschiedenen Spannungen ausgeführt, die ein-
zelnen Blutproben rührten jedoch in der Regel von verschiedenen Individuen
her, und der niedrigste Partialdruck war nur 34mm. In Setschenows?)
Versuchen über dieselbe Frage war die Temperatur nur etwa 15° und die
niedrigste CO,-Spannung 290 mm. In beiden Versuchsreihen fehlen Bestim-
mungen bei hinlänglich niedrigem Spannungswerte; es geht aus ihnen indes
unzweifelhaft hervor, daß die im Blute gebundene Kohlensäuremenge von der
Spannung abhängig ist, so daß die Spannungskurve eine zur Abszissenachse
konkave Linie bildet. Dasselbe Resultat geben P. Berts?°) Versuche mit
Einatmung von mehr oder weniger kohlensäurehaltiger Luft und mit Be-
stimmung der Menge der Kohlensäure im zirkulierenden Blute (Hunde); mehr
als die allgemeinsten Hauptzüge dieser Versuche lassen sich aber für unseren
Zweck nicht verwerten, da die Kohlensäurespannung bei denselben nicht im
Blute selbst bestimmt wurde, wo die Spannung sehr wohl von der gleich-
zeitig in der Exspirationsluft gefundenen verschieden sein kann. Fine
einigermaßen normale Spannungskurve läßt sich hingegen aus
Jaquets*) Versuchen herleiten, in denen die in physiologischer Beziehung
wichtigen niederen Werte der Kohlensäurespannung besonders berücksichtigt
wurden und eine Temperatur von 37,5° zur Anwendung kam. Es wurde
defibriniertes Ochsenblut benutzt, dasselbe Blut freilich nicht zu den ver-
schiedenen Proben, das Material ist aber doch insofern gleichartig, als Blut
von fast derselben, mittels Titrierens bestimmten Alkaleszenz gebraucht
‘wurde. Die untenstehende Tabelle gibt Werte für die bei verschiedenen
Spannungen in 100 ccm Blut chemisch gebundenen Kohlensäuremengen an;
dieselben wurden durch Abzug der physikalisch gelösten Kohlensäure aus
Jaquets Zahlen berechnet.
Außerdem folgt hier eine Tabelle über eine bisher nicht veröffent-
lichte Versuchsreihe, in der ich für eine Temperatur von 38° mittels des
60,-Absorption im Blute. 38°.
Nach Jaquet Nach Bohr
Spannung | in 100 cem Blut Spannung | in 100cem Blut
mm | ccm CO, mm ccm 00,
| -
19,4 34,7 Ban. 7,1
35,0 45,7 2,3 ° 13,7
48,2 49,2 5,1 19,5
57,7 50,4 8,2 24,7
72,1 52,1 10,6 | 27,0
125,1 57,7 28,3 | 38,1
54,3 46,7
82,0 | 55,7
1) Zentralbl. f. d. med. Wissensch. 1867, 8. 530. — *) M&m. de l’acad. de St.
Petersbourg 26, 44, 1879. — °) La pression baromötrique. 1878, p. 985 ff. —
*) Arch. f. experim. Pathol. 30, 329, 1892.
106 Gleichzeitige Absorption von Kohlensäure und Sauerstoff.
Kroghschen Absorptiometers die bei Spannungen von 0,6mm bis 82mm
chemisch gebundene Kohlensäure bestimmte. Hierzu benutzte ich zwei
Fig. 18. Proben von Blut desselben
60 T —— Hundes.
55h > m - u 2 Die bei etwa 20 mm Span-
50 abe nung absorbierte Menge ist
Pr ji eg in den beiden Tabellen fast
RR die gleiche; der Verlauf der
m R= Spannungskurven ist aber
35 / ein wenig verschieden. Übri-
50 / gens stammt das Blut ja
o: 7 auch aus verschiedenen
7 Tiergattungen her. Da
20 ! meine Zahlen sämtlich vom
15 Blute desselben Tieres her-
10 i rühren und auch, wie neben-
{ stehende Figur zeigt, die
; regelmäßigste Kurve geben,
o 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 110 120 ıgo werden wir sie im folgen-
C 0O,-Spannungskurve im Blute: 38°. Qnach Jaquet,Xnach Bohr. den vorzugsweise benutzen.
Gleichzeitige Absorption der Kohlensäure und des Sauerstoffs.
Es ist natürlich für die Anwendung der auf diese Weise gefundenen
Kurve in der Respirationslehre eine Frage von der größten Wichtigkeit, ob
gleichzeitig vorhandener Sauerstoff auf die Kohlensäureabsorption einwirkt
und mithin die Form der Kurve ändert. Daß dies nicht in erheblichem
Maße der Fall ist, hat Ludwig!) nachgewiesen. Indes hat man später
mehrere Umstände angeführt, die dafür sprechen sollten, daß der Sauerstoff
dennoch imstande wäre, die Kohlensäure aus ihrer Bindung im Blute zum
Teil auszutreiben. So nimmt Setschenow?) an, ohne übrigens Versuche
hierüber angestellt zu haben, die Kohlensäurebindung, die tatsächlich teilweise
an das Hämoglobin selbst geschieht, müsse notwendigerweise unter dem Ein-
flusse der Spannung des Sauerstoffs stehen, indem letzteres Gas bekanntlich
ebenfalls an das Hämoglobin gebunden wird. Es sind aber, wie ich nachwies,
nicht dieselben Teile des Hämoglobinmoleküls, welche die Kohlensäure und
welche den Sauerstoff binden, und durch Versuche läßt sich leicht darlegen, daß
die Kohlensäurebindung von der gleichzeitigen Sauerstoffbindung praktisch ge-
nommen nicht beeinflußt wird ?). Außer Setschenow nahm auch Werigo #)
die Austreibung der Kohlensäure aus dem Blute durch Sauerstoff an; er stützte
sich auf Respirationsversuche, in denen die Kohlensäurespannung der Lungen-
luft sich größer erwies, wenn Sauerstoff vorhanden war, .als wenn die Luft
sauerstofffrei war (S. 208). Seitdem man die aktive Rolle der Lunge im Atmungs-
prozesse nachgewiesen hat, können dergleichen Versuche, ihrer sonstigen
Bedeutung unbeschadet, selbstverständlich nicht zur Lösung der Frage nach
») Wiener med. Jahrbücher 1865, 8. 15. — *) Mem. de l’acad. de St. Pöters-
bourg 26, 60, 1879. — °) Skand. Arch. f. Physiol. 3, 61, 1891 u. 8, 366, 1898. —
*) Pflügers Arch. 51, 321, 1892.
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Einfach gelöste Kohlensäure im Blute. 107
dem Einflusse des Sauerstoffs auf die Kohlensäurebindung im Blute benutzt
werden. Dazu sind nur direkte Versuche in vitro ohne Dazwischentreten
spezifisch tätiger Organe brauchbar. Einige derartige direkte Versuche sind
unten angeführt, indem mehrere der Bestimmungen, die über den Einfluß der
Kohlensäure auf die Sauerstoffaufnahme im Blute angestellt wurden, sich
auch auf die hier besprochene umgekehrte Frage anwenden lassen. In
einigen Fällen waren nämlich je zwei der Kohlensäurespannungen dieselben,
die Sauerstoffspannungen aber verschieden; hier müßte also ein etwaiger Ein-
fluß des Sauerstoffs auf die Kohlensäurebindung hervortreten. Die Versuche
sind folgende:
Ab . CO
Nr. C O,-Spannung RE TEN O,-Spannung
cem |
: ER ETR NNET 8,0 29,2 U2-1851 \
. > t
| 7,8 28,5 46,7 j Pferdeblu
2 EC DENE | 2,3 15,2 7,2 N
| t
3,0 152 55.6 Hundeblu
BEE DER I 4,6 18,2 25,9 ET
| 7 20,5: 12,2 ii
Eu he a 8,7 20,1 25,4 \
H t
8,9 18,4 151,1 ee
In I ist die Steigerung der Sauerstoffspannung ohne Einfluß auf die
aufgenommenen Kohlensäuremengen, ebenfalls in III. In II und IV sieht
man eine verhältnismäßig geringe Abnahme der absorbierten CO,-Menge bei
den höheren Sauerstoffspannungen. Es muß jedoch bemerkt werden, daß die
Versuche bei hoher Sauerstoffspannung in diesen Fällen zuletzt angestellt
wurden; schon das längere Stehen wird eine geringere Abnahme der Kohlen-
säurebindung bewirken können. Überhaupt zeigen die Versuche zweifels-
ohne, daß die Wirkung des Sauerstoffs auf die Kohlensäureabsorption, wenn
es überall eine solche gibt, jedenfalls eine verhältnismäßig geringe ist.
Näheres über die Bindungsweise der Kohlensäure im Plasma und in den
Blutkörperchen.
Einfache Lösung. Ein Teil der Kohlensäure des Gesamtblutes findet
sich einfach gelöst sowohl im Plasma als in den Blutkörperchen der herr-
schenden CO,-Spannung proportional und im Verhältnis zu den (S. 63) an-
geführten Absorptionskoeffizienten. Bei einem Drucke von 30 mm CO,, der
als der wenn auch nur sehr ungefähre durchschnittliche Druck der Kohlen-
säure im Organismus zu betrachten ist, beträgt die in 100 cem Blut physi-
kalisch gelöste Kohlensäure 2,01 ccm; werden die Blutkörperchen auf !/, des
Volumens des Blutes angesetzt, so enthalten sie 0,59 ccm hiervon, während
der Rest, 1,42 ccm, im Plasma enthalten ist. Wie wir oben sahen, nimmt das
Blut bei 30 mm Spannung an chemisch gebundener Kohlensäure etwa 39 Vol.-
Proz. auf; es ist somit nur ein verhältnismäßig geringer Teil (etwa 5 Proz.)
der totalen Kohlensäure, der bei gewöhnlichem Druck dem Henryschen Ge-
setze gemäß einfach gelöst ist.
108 Verteilung der Kohlensäure unter Plasma und Körperchen.
Die Verteilung der totalen Menge aufgenommener Kohlensäure unter das
Plasma und die Blutkörperchen variiert etwas in verschiedenen Blutproben,
was wohl zu erwarten stand, wenn man die mannigfachen Bindungsarten der
Kohlensäure bedenkt. Obendrein ist die Verteilung, wie unten näher be-
sprochen wird, zum Teil von der Ö0,-Spannung abhängig, und es lassen sich
deshalb keine genauen, für diese Größe gültigen Zahlen geben. Indes ist es
von Bedeutung, ein annäherndes Bild dieses Verhaltens zu haben, bevor
wir zur näheren Behandlung der Bindungen im Plasma und in den Blut-
körperchen je für sich schreiten.
Setschenow!) berechnet aus seinen Versuchen über Hundeblut, daß
etwa 2/, der Kohlensäure des Blutes im Plasma, !/,; in den Blutkörperchen
angetroffen wird, deren Volumen er auf 30 Proz. von dem des Blutes ansetzt.
Was das Ochsenblut betrifft, findet Kraus?), der in jedem einzelnen Falle
das Volumen der Blutkörperchen nach Bleibtreu bestimmt, durchschnittlich
dieselben Zahlen wie Setscehenow; wie nicht anders zu erwarten, erweisen
die Variationen der Verteilung sich aber im ganzen als bedeutend. Frede-
ricque?) findet als Durchschnittszahl mehrerer Bestimmungen im Pferde-
blut 47 Vol.-Proz. Kohlensäure und in dem hieraus dargestellten Serum
. 55 Vol.-Proz. Wird das Volumen der Blutkörperchen auf !/; angesetzt, so gibt
die Berechnung pro 100 ccm Blut für das Plasma 37 com (etwa °/,), für die
Blutkörperchen 10ccm (etwa !/,) der absorbierten Kohlensäure; wird das
Volumen der Blutkörperchen aber etwas höher angeschlagen, so nähert das
Verhältnis sich dem oben angegebenen, von Setschenow und Kraus ge-
fundenen. Wir wollen deshalb im folgenden den bei 30mm Spannung für
100 ccm Blut oben gefundenen Gehalt an absorbierter Kohlensäure (41 ccm)
so verteilt annehmen, daß 27 ccm im Plasma, 14ccm in den Blutkörperchen
enthalten sind.
Die Bindung der Kohlensäure im Plasma.
Wie im Gesamtblute wird auch im Plasma die Kohlensäure von der
Spannung abhängig aufgenommen, so daß die Spannungskurve eine zur.
Abszissenachse konkave Linie bildet; die speziellere Form der Kurve ist hier
aber eine andere als die hinsichtlich des Gesamtblutes gefundene. Dies
geht schon aus Setschenows#) Versuchen hervor, wo die Werte bei Körper-
temperatur und bei niederen Spannungen, die gerade von besonderem In-
teresse sind, freilich nur sehr unvollständig behandelt wurden. Eben diese
Werte sind aber mit Bezug auf Ochsenblut von Jaquet?°) in einem Ver-
suche bestimmt worden, den wir unten anführen; die chemisch gebundenen
Mengen berechnete ich unter Anwendung des Absorptionskoeffizienten des
‚Plasmas für Kohlensäure: auf übliche Weise aus Jaquets Zahlen. Die Tempe-
ratur ist 37,5%.
Die absoluten Werte der Kohlensäureabsorption sind, wie schon öfters
bemerkt, in hohem Grade variabel, besonders infolge Schwankungen des
Alkaleszenzgrades des Serums. Es sind deshalb nicht diese Werte, die bei
diesem Versuche unser Interesse vorzüglich beanspruchen, sondern der Ver-
!) M&m. de l’acad. de St. Petersbourg 26, 59, 1879. — ?) Festschrift. Graz 1898,
S. 19; Zentralbl. f. Physiol. 12, 265. — °) Compt. rend. 84, 661, 1877 und Plasma
sanguin. 1878, p. 48. — )1.c.8.9 ff. — °) 1. c. 8. 335.
Spannungskurve der Kohlensäure im Plasma. 109
lauf der Spannungskurve, der physiologisch wichtiger ist und mehr
allgemeine Gültigkeit hat; der Verlauf der Kurve ändert sich nämlich nicht
merklich bei Spannungen zwischen 20 und 40mm, selbst wenn die Alkales-
zenz des Serums sich innerhalb weiter Grenzen ändert (Jaquet !). Die Kurve
zeigt, wie aus der Tabelle hervorgeht, bei niederen Drucken starkes Steigen
der gebundenen Mengen, die z. B. von 15 bis 17mm um etwa 13 Vol.-Proz.
anwachsen; von 20mm Spannung an ist der Verlauf ein viel flacherer, Bei
einer Spannungsänderung von 20 bis 40mm werden . 3,9 Vol.- Proz. auf-
genommen; rechnen wir das Serum als ?/, des Volumens des Blutes, so wird
das 100ccm Blut entsprechende Serum bei der letztgenannten Spannungs-
variation mithin etwa 2,6ccm CO, aufnehmen.
Kohlensäureabsorption im Serum (Jaquet).
C0O,-Spannung CO, chemisch gebunden
mm in 100 ccm
14,8 45,8
16,5 57,4
17,0 58,5
26,6 61,7
42,7 63,7
Freilich ist es gelungen, die allgemeine Natur der chemischen Vor-
gänge, mittels deren die Kohlensäure im Serum gebunden wird,
durch die zahlreichen zu diesem Zwecke unternommenen Versuche im wesent-
lichen aufzuklären; an vielen wichtigen Punkten ist unsere Kenntnis aber
doch noch höchst unvollständig, und eine wirklich eingehende Darstellung,
in der auch die numerischen Werte der Konstanten bei den chemischen
Umsetzungen festgestellt würden, läßt sich noch nicht geben. Aufschlüsse
über die Stoffe, die bei der Kohlensäurebindung überhaupt eine Rolle spielen,
und über den allgemeinen Charakter dieses Vorgangs werden selbstverständ-
lich aber schon nicht geringes Interesse darbieten.
Es liegt nahe, die Bindung der Koblensäure im Serum mit den in dem-
selben enthaltenen Alkalisalzen in Beziehung zu bringen. Eine Zeitlang
glaubte man, am Binatriumphosphat den wesentlichen Faktor der beson-
deren Bindungsart der Kohlensäure im Serum, wie diese sich durch die so-
eben erwähnte CO,-Spannungskurve kundgibt, gefunden zu haben (Fernet?),
und in der Tat wird eine passende Lösung des genannten Salzes auch die
Kohlensäure auf analoge Weise binden (L. Meyer, Heidenhain). Als man
aber ins reine gebracht hatte, daß die in der Serumasche vorgefundene Phos-
phorsäure fast ausschließlich vom Verbrennen organischer, phosphorhaltiger
Substanz herrührte und nur in verschwindender Menge von präformiertem,
phosphorsaurem Salze stammte, mußte man den Gedanken, das Binatrium-
phosphat sei ein wichtiger kohlensäurebindender Stoff des Serums, natürlich
verlassen; derselbe hat indes für die Entwickelung der ganzen Frage eine
nicht geringe Bedeutung gehabt, indem er die Aufmerksamkeit darauf lenkte,
) 1. ec. 8. 337. — ?) Du röle des prineip. el&ments du sang dans l’absorption
ou le degagement des gaz de la respiration. These. Paris 1858.
\
110 Bindung der Kohlensäure an Alkalien und Albuminalkalien im Plasma.
daß die Art der CO,-Bindung sich durch die Konkurrenz zweier Säuren um
dieselbe Base erklären lassen konnte.
Das Binatriumphosphat kann, wie ausgeführt, wegen der geringen Menge,
in der es angetroffen wird, für die CO,-Bindung im Serum keine weitere
Bedeutung haben. Es finden sich aber andere Alkalisalze, nämlich Kar-
bonate, in verhältnismäßig beträchtlicher Menge im Serum gelöst. Bekannt-
lich vermag das Monokarbonat unter Umbildung in Bikarbonat Kohlensäure
aufzunehmen, und diese Absorption ist von der Kohlensäurespannung ab-
hängig; es könnte daher die Möglichkeit geben, daß das Serum auf die-
selbe Weise wie eine Lösung des Alkalikarbonats Kohlensäure aufnähme
(Gaule!). Untersucht man aber die Dissoziation des Bikarbonats bei
37° in Lösungen derselben Konzentration wie der des Serums (0,1 bis
0,2 Proz.), so findet man, daß dasselbe, praktisch genommen, erst dann meß-
bare Mengen Kohlensäure abgibt, wenn die CO,-Spannung bis unter wenige
Millimeter sinkt (S. 68); bei einer Spannung von nur 0,2mm werden noch
etwa 3/, der gesamten dissoziablen Kohlensäuremenge gebunden (Bohr).
Ganz anders verhält sich das Serum, wie wir aus Jaquets oben angeführten
Versuchen erfahren; noch bei 15mm C0,-Spannung ist die völlige Sättigung
hier bei weitem nicht erreicht. Das Bindungsverhalten der Kohlensäure im
Serum findet also keine hinreichende Erklärung allein in der Dissoziation des
Bikarbonats. Sobald die CO,-Spannung mehr als 5mm beträgt, was fast
ohne Ausnahme im Organismus der Fall ist, wird, praktisch genommen,
die totale Menge kohlensauren Alkalis als Bikarbonat vorhanden sein; das
fernere Anwachsen der 00,-Spannung bleibt dann ohne weitere Bedeutung
für die CO,-Bindung an die Alkalikarbonate.
Sertoli?) suchte nun die besonderen Bindungsverhältnisse im Serum
durch die Annahme zu erklären, daß die Natronbase sich unter zwei
Säuren teile, deren eine die Kohlensäure sei, die andere aber die
Albuminstoffe des Serums, namentlich die Globuline, deren saure Eigen-
schaft er nachwies; diese Ansicht wurde später von Zuntz), Torup°) und
Jaquet‘) und mit einiger Modifikation von Setschenow’) gestützt. Nach
den vorliegenden Versuchen ist es als sicher nachgewiesen zu betrachten,
daß die Albuminstoffe sich im Serum als Alkaliverbindungen finden, und daß
das Alkali ihnen zum Teil entzogen wird, wenn Kohlensäure vorhanden ist.
Dies geht hervor teils aus Setschenows Versuchen über die Bindung der
Kohlensäure an Paraglobulinalkali, auf die wir später zurückkommen, teils
aus den Diffusionsversuchen von Loewy und Zuntz°), denen zufolge die
Menge diffusiblen Alkalis im Serum bei Durchleitung von Kohlensäure zu-
nimmt, was von der Bildung kohlensaurer Salze auf Kosten der indiffusiblen
Albuminalkaliverbindung herrühren muß. Zu demselben Resultat gelangte
auch Gürber’?).
Wir haben hier daher zweifelsohne einen reziproken Prozeß zwischen
einer Base und zwei Säuren, und zwar desselben Typus wie der früher (8.71)
!) Arch. f. Physiol. 1878, 8. 490. — ?*) Skand. Arch. 3, 66, 1891. — ®) Hoppe-
Seyler, Med.-chem. Unters., Berlin 1868, S. 350. — *) Hermanns Handb. 4, 64,
1882. — ®; Die Kohlensäurebindung des Blutes, Kopenhagen 1887, 8. 36. — ®)l.c. —
7) 1. ce. — °) Pflügers Arch. 58, 516, 1894. — °) Sitzungsber. 1895 und Verhandl. d.
phys.-med. Ges. zu Würzburg 28.
AT
Bindung der Kohlensäure an die Albuminalkalien im Plasma. 311
hinsichtlich des CO,-Hämoglobins näher analysierte, nur daß in letzterem Falle
die Base kein Alkali, sondern ein basischer Teil des Globinmoleküls ist, was in
prinzipieller Beziehung ja unwesentlich ist. Hieraus folgt, daß sich im Serum
bei anwachsender CO,-Spannung Alkalikarbonat bilden muß, und zwar bei
den im Organismus vorkommenden Spannungen speziell Bikarbonat, auf
Kosten eines Teiles der Albuminalkaliverbindung. Hiermit haben wir aber
noch keine Lösung der uns besonders interessierenden Frage erreicht, ob
nämlich die solchergestalt stattfindende Kohlensäurebindung bei steigender
Kohlensäurespannung in quantitativer Beziehung dem entspricht, was wir
durch direkte Versuche am Serum oben fanden; mit anderen Worten, wir
wissen nicht, ob die Spannungskurve, die bei Einwirkung der Kohlensäure
auf die Alkaliverbindungen des Albumins bei den hier besonders in Frage
stehenden Drucken erscheinen würde, der CO,-Spannungskurve entspricht,
die wir für das Serum fanden.
Zu dieser für unsere Aufgabe wichtigen Frage kehren wir später zurück;
so viel ist jedenfalls festgestellt, daß das Alkali des Serums sich in Verbin-
dung teils mit Albuminstoff, teils mit Kohlensäure findet. Hieraus erhebt
sich nun die Frage, ob die Alkalimenge des Serums größer ist als
die in maximo vom Albumin gebundene, wenn letzteres, indem man
den Partialdruck der Kohlensäure —= 0 macht, mit Alkali gesättigt wird.
In bejahendem Falle werden dann nach vollständigem Auspumpen des Serums
noch kohlensaure Salze, selbstverständlich als Monokarbonate, zurückbleiben,
denen die Kohlensäure erst mittels eines Zusatzes von Säure entzogen werden
kann. Daß dies sich so verhält, hat Pflüger!) nachgewiesen; so findet
er in einem Versuche 4,9 Vol.-Proz., in einem anderen 9,3 Vol.-Proz. als die
Menge Kohlensäure, die sich noch nach völligem Auspumpen durch Säure-
zusatz aus dem Serum gewinnen läßt. Die dieser Kohlensäure entsprechenden
Monokarbonate werden als Bikarbonate die doppelte Menge Kohlensäure ent-
halten und mithin 9,8, bzw. 18,6 Vol.-Proz. oder im Durchschnitt etwa
14 Vol.-Proz. CO,, 0,033g Na,C O, entsprechend, binden können. Auch
auf anderem Wege gelangt man zu einem ähnlichen Resultat. Bringt man
nämlich das Serum in Gleichgewicht mit einer Atmosphäre, die eine
konstante niedrige Kohlensäurespännung hat, so wird dieselbe sich
so anpassen lassen, daß die Albuminalkalien beinahe gar nicht dekomponiert
werden und mithin fast gar keine Kohlensäure binden, während anderseits
die Bikarbonate auch nicht merklich dissoziiert werden und folglich ihre
Kohlensäure fast unverändert behalten. Eine solche passende Atmosphäre
hat man, wenn man Stubenluft anwendet, die eine Spannung von etwa 0,6 mm
CO, besitzt. Beim Schütteln der Flüssigkeit mit dieser Luft bei gewöhn-
licher Temperatur wird das Bikarbonat fast nicht gespalten 2), und die
anderen kohlensäurebindenden Stoffe können nur eine sehr geringe Menge
Kohlensäure aufnehmen. Es liegt eine solche, zwar nicht mit Serum, sondern
mit Blut angestellte Versuchsreihe vor, indem ich?) an 22 Proben normalen
Hundeblutes nach Schütteln bei gewöhnlicher Temperatur mit atmosphäri-
scher Luft den Kohlensäuregehalt bestimmte. Ich fand durchschnittlich 18
!) Die Kohlensäure des Blutes, $S. 11, Bonn 1864. — ?) Bohr, 1. c. — °) Skand.
Arch. 3, 111 u. £., 1891.
112 Bindung der Kohlensäure an die Albuminalkalien im Plasma.
(Maximum 27, Minimum 6) Vol.-Proz. CO,. Die Schwankungen sind, wie
es nach den vorliegenden Alkaleszenzbestimmungen zu erwarten war, bedeu-
tend, die niederen Zahlen sind indes verhältnismäßig selten, indem die Menge
der Kohlensäure nur in 8 der 22 Versuche unter 16 Vol.-Proz. sinkt. In
4 Proben von Pferdeblut fand ich durchschnittlich 15 Vol.- Proz. CO,. Die
hier für das Gesamtblut bestimmte Bikarbonatkohlensäure stammt außer aus
dem Serum zugleich auch aus den Blutkörperchen; wie wir später sehen
werden, ist die aus letzteren unter den gegebenen Spannungsverhältnissen her-
rührende Kohlensäure auf höchstens etwa 5 ccm anzuschlagen (S. 115). In dem
100 ccm Blut entsprechenden Serum finden wir auf diesem Wege als Bikar-
bonat somit etwa 13cem Kohlensäure (in 100ccm Serum etwa 19cem C0,).
Betrachten wir nun ein Durchschnittsserum bei 30 mm CO,-Spannung,
so wird dasselbe also erstens natürlich 13 Vol.-Proz. Kohlensäure als Bi-
karbonate enthalten, ferner außerdem die der Spannung entsprechende
physikalisch gelöste Kohlensäure, die etwa 1,5ccm beträgt (S. 107),
zusammen mithin etwa l5cem. Da wir fanden, daß das 100 ccm Blut ent-
sprechende Serum durchschnittlich etwa 27 ccm CO, enthält (S. 108), wird also
noch für etwa 12 ccm Rechenschaft abzulegen sein. Einige derselben sind nun
sicherlich, wie oben erwähnt, dadurch zu suchen, daß die Kohlensäure den
Albuminalkalien einen Teil ihres Alkalis entzogen und damit Bikarbonat
gebildet hat, dessen Menge folglich größer geworden ist als die bei 0,6 mm
. Spannung gefundene. Die oben berührte und hier näher zu untersuchende
Frage ist aber die, ob diese Dekomposition der Albuminalkalien bei 30 mm
CO,-Spannung eine so bedeutende ist, daß hierdurch die genannten etwa
12ccm Kohlensäure wesentlich gedeckt werden, oder ob’ wir zur Annahme
der Existenz noch anderer Kohlensäurebindungsarten als der bereits beschrie-
benen gezwungen werden. Zu bemerken ist nun sogleich, daß die bisher
vorliegenden Versuche weder an Genauigkeit noch Umfang genügen, um auf
diesem Gebiete zu einer sicher begründeten Anschauung zu gelangen. Es
gebricht uns an hinlänglich variierten Versuchen, namentlich über den Ein-
fluß der niederen CO,-Spannungen auf die Bindung sowohl rücksichtlich der
Albuminalkalien als der reinen Albuminstoffe.
Will man indessen einem Versuche von Setschenow!) entscheidende Be-
deutung beilegen, so spalten die Albuminalkalien sich erst bei verhältnis-
mäßig hohen CO, -Spannungen in beträchtlicherer Ausdehnung. Er fand für die
Aufnahme der Kohlensäure in einer Lösung von Paraglobulinalkali, die nach
Titrieren so viel Natriumkarbonat enthielt, daß dieses 2,3ccm ©0, als
Bikarbonat zu binden vermochte, bei verschiedenen Spannungen folgende Werte:
Spannung | Aufgen. 00,
mm ccm
102 | 0,4
497 | 2,4
642 | 2,6
Die Spannungskurve verläuft hier fast geradlinig bis zur Spannung von
500mm. Der Berechnung nach sind daher bei 30 mm CO,-Spannung etwa
10.8. 21.
Zusammenfassung der Bindungsverhältnisse der Kohlensäure im Plasma. 113
0,14ccm aufgenommen; der Sättigungsgrad bei diesem Drucke war mithin nur
etwa l/js. Es ist deswegen, wenn dieser Versuch richtig ist, durchaus nicht
anzunehmen, daß die Aufnahme der Kohlensäure in dem Serum und deren
Ausscheidung aus demselben bei Schwankungen der Spannung wie den normal
' im Organismus vorkommenden (20 bis 50 mm) in nennenswertem Grade von
der Einwirkung des Gases auf die Albuminalkalien herrühren sollten. Man
muß also annehmen, daß esim Serum anderekohlensäurebindende Stoffe
gibt, und hier richtet sich der Gedanke ganz natürlich auf die Albumin-
stoffe; denn von einem Albuminstoffe,. jedenfalls dem Globin des Hämo-
globins, wissen wir, daß er Kohlensäure dissoziabel bindet. Außerdem hat
Setschenow Versuche über die Bindung der Kohlensäure sowohl an Para-
globulin!) als an Serumalbumin 2) angestellt, die hierfür sprechen. So findet
er für das Serumalbumin in 100ccm Serum eine Kohlensäureabsorption von
9,6 ccm bei 54 mm CO,-Spannung. Die Resultate sind aber nicht entscheidend,
da nicht bei verschiedenen CO,-Spannungen untersucht wurde, und man des-
halb nicht weiß, ob die Verbindungen dissoziabel sind.
Die Anschauungen, zu denen wir mit Bezug auf die Bindung der
Kohlensäure im Serum gelangten, sind in den Hauptzügen also folgende.
Ein Teil der Kohlensäure ist auch bei niedrigen Spannungen (etwa 0,6 mm)
als Bikarbonate an Alkali gebunden. Wächst die CO,-Spannung an, so wird
die Menge der Bikarbonate zunehmen, indem sich in steigendem Grade Alkali
aus den Albuminalkalien abspaltet. Ist Setschenows oben angeführter
Versuch mit Paraglobulinalkali aber maßgebend, so wird diese Abspaltung
des Alkalis nur eine geringe sein, solange die Spannungen nicht überschreiten,
was unter normalen Verhältnissen gewöhnlich im Organismus gefunden wird.
Innerhalb solcher Drucke wird die Menge der Bikarbonate sich also wesent-
lich unverändert halten, und ihre biologische Bedeutung wird hauptsächlich
darin bestehen, daß sie als Verbindung einer starken Base mit einer schwachen
Säure freie Säuren (z. B. Milchsäure) neutralisieren, die sich während des Stoff-
wechselprozesses bilden können. Erst bei höheren CO,-Spannungen ist dem
Obigen zufolge von den Albuminalkalien anzunehmen, daß sie in bedeutendem
Grade gespalten werden, und diese Verbindungen bilden dann eine Regulation
der zu starken Zunahme der Kohlensäurespannung, deren Steigen über die
normale Grenze hinaus hierdurch gehemmt wird. Die wechselnde Menge der
Kohlensäure im Serum bei Schwankungen der Spannung innerhalb
der im normalen Organismus gewöhnlich vorkommenden Grenzen
(etwa 20 bis 50mm) rührt natürlich zum Teil von den den Spannungsände-
rungen proportionalen Änderungen der einfach gelösten Kohlensäure her;
der Hauptanteil an der Veränderung ist aber anderen Verhältnissen zu-
zuschreiben * wobei man besonders, in Analogie zur Kohlensäurebindung
des Globins, an die Bildung dissoziabler Kohlensäure - Albuminverbindungen
zu denken hat. Hervorzuheben ist jedoch, daß hierüber noch keine maß-
gebenden Versuche vorliegen.
Die Bindung der Kohlensäure in den Blutkörperchen.
Nach dem oben (S. 108) Entwickelten kann die Menge der Kohlensäure
in den 100ccm Blut entsprechenden Blutkörperchen bei 30 mm Spannung
1.08.21. —®)L ce. 8. 31, Vers. 65.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 8
114 Bindung der Kohlensäure in den Blutkörperchen.
auf durchschnittlich etwa l4ccm angesetzt werden. Diese Kohlensäure wird
wohl, wie aus Setschenows!) Versuchen über die Kohlensäureabsorption
des Cruors hervorgeht, abhängig von der CO,-Spannung gebunden, nicht
aber dieser einfach proportional. Die Spannungskurve bildet auch in diesem
Falle eine mit ihrer Konkavität der Abszissenachse zugekehrte krumme
Linie; ein auch nur einigermaßen genauer Aufschluß über die Form der
Kurve bei Körpertemperatur und niederen Kohlensäuredrucken läßt sich aber
aus Setschenows Versuchen nicht herleiten. Ein Vergleich der früher
teils für das Gesamtblut, teils für das Serum angeführten Werte zeigt uns
indes, daß die Blutkörperchen, denen der Unterschied dieser Werte zuzu-
schreiben ist, bei den im Organismus normal vorkommenden Spannungs-
variationen bedeutende Mengen Kohlensäure abzugeben oder aufzunehmen
vermögen.
Ein Teil der Kohlensäure ist in den Blutkörperchen einfach gelöst und
läßt sich für einen gegebenen Druck berechnen, da der Absorptionskoeffizient
bekannt ist. Für die 100cem Blut entsprechenden Blutkörperchen ist die
physikalisch gelöste enk> bei 30 mm Spannung (38°) etwa 0,6 cem
(S. 107).
Die chemische Bindung der Kohlensäure ist im wesentlichen vom
Blutfarbstoff abhängig, und zwar auf zweifache Weise. Teils kon-
kurriert der Farbstoff um das saure Alkali mit der Kohlensäure, teils bindet
auch der Farbstoff selbst, ohne daß Alkali vorhanden wäre ,.die Kohlensäure
dissoziabel. Wir nu jedes dieser ee Verhältnisse für sich näher be-
trachten.
In den Blutkörperchen findet sich ein wenig Alkali an das Hämoglobin
gebunden, das eine Säure ist, welche im Vakuum Kohlensäure aus dem
Karbonat auszutreiben vermag (Preyer?). In Berührung mit Kohlensäure
wird das Hämoglobinalkali etwas Alkali an die Kohlensäure abgeben;
wir haben hier, ganz wie oben, wo von den Albuminalkalien im Serum die
Rede war, eine Teilung der Base unter zwei Säuren, den Massenwirkungs-
gesetzen gemäß; dies haben Loewy und Zuntz?) nachgewiesen. Was die
quantitativen Verhältnisse bei dieser Teilung betrifft, so müssen wir nach Ver-
suchen von Zuntz*) annehmen, daß Verbindungen des Hämoglobins mit
Alkali sich erst in erheblicherem Grade spalten, wenn die Kohlensäurespan-
nung etwa 70mm übersteigt, und dies wird durch Lehmanns’) Versuche
bestärkt. Es läßt sich also hier mit Sicherheit sagen, daß die Verhältnisse
so sind, wie Setschenows Versuche uns mit Bezug auf die Albuminalkalien
des Serums vermuten ließen. Bei den gewöhnlichen im Organismus. an-
getroffenen Kohlensäuredrucken wird die an Alkali gebundene Menge der
Kohlensäure in den Blutkörperchen eine verhältnismäßig geringe sein. Bei
höheren Drucken können dagegen bedeutende Mengen auf diese Weise ge-
bunden sein.
-Wie erwähnt, hat der Blutfarbstoff aber auch auf andere Weise Bedeu-
tung für die Bindung der Kohlensäure; diese wird nämlich auch dissoziabel
an das alkalifreie Hämoglobin gebunden, und zwar speziell. an den
) 1. c. 8.43 bis 44. — °?) Die Blutkristalle. Jena 1871. — ?) Pflügers Arch. 58,
522, 1894. — *) Zentralbl. f. d. med. Wissensch. 1867, 8. 530. — ?). Pflügers
Arch. 58, 448, 1894.
4 a ee Ta a ma 1 Eu Zn ii nn
SE VE CIE DEE
Bindung der Kohlensäure in den Blutkörperchen. 115
Globin-Teil des Moleküls (s. S. 71). Die Abhängigkeit der Kohlensäure-
absorption von der Spannung ist bei dieser Bindungsweise gerade bei den,
physiologisch betrachtet, wichtigen niederen Kohlensäurespannungen beson-
ders hervortretend, im Gegensatz zu dem im oben besprochenen Vorgange
Gefundenen. Unten geben wir eine Tabelle über die bei verschiedenen
Spannungen pro Gramm Hämoglobin chemisch gebundenen Mengen Kohlen-
säure; die Konzentration der Lösung ist 2,69 Proz., die Temperatur 38°.
Diese Werte lassen sich indes nicht ohne weiteres auf die Blutkörperchen
anwenden. Das Hämochrom findet sich in diesen nämlich in einer Konzen-
tration von etwa 40 Proz. (S. 89), und die Aufnahme der Kohlensäure im
Hämoglobin ist von der Konzentration abhängig. Nun kennen wir aber die
Gesetze für den Einfluß dieses Faktors (S. 71), und es ist mithin möglich,
zu berechnen, wieviel das bei einer Konzentration von 2,69 Proz: unter-
suchte Hämoglobin in einer 40 proz. Konzentration aufnehmen würde. Daß
das Hämochrom und das Hämoglobin sich mit Bezug auf die Kohlensäure-
absorption als verschieden erweisen sollten, ist nicht wahrscheinlich, da die
Kohlensäure sich allein an das Globin bindet und die gleichzeitige Bindung
von Sauerstoff keinen Einfluß übt.
Kohlensäureaufnahme des Hämoglobins. 38°.
Spannung CO,-Aufnahme pro Gramm
mm 2,69 Proz. 40 Proz.
10 1,260 0,322
20 1,647 0,448
30 1,902 0,541
40 2,091 0,618
50 2,240 0,684
60 2,363 0,742
100 2,701 0,929
. 200 3,113 1,243
300 3,312 1,460
o : 3,990 3,990
Bei einer Hämoglobinmenge von 15 Proz. im Blute werden also in den
100 cem Blut entsprechenden Blutkörperchen bei 30 mm Spannung etwa 8,1ccm
(15 x 0,541) CO, vom Hämoglobin gebunden werden; die bei derselben Span-
nung physikalisch gelöste Kohlensäure fanden wir oben gleich 0,6ccm. Zu-
sammen sind somit etwa 9 (8,7)cem aufgenommen, während wir die totale
Kohlensäureabsorption der Blutkörperchen bei 30 mm Spannung als durch-
schnittlich 14cem angaben. Die 5 cem, welche die Differenz der beiden Zahlen
bilden, müssen daher an andere Stoffe als das Hämoglobin gebunden sein, zum
Teil wohl an das Lecithin, meistens aber als Bikarbonate an Alkali. Variiert die
Spannung von 20 bis 40mm, so wird das 100 ccm Blut entsprechende Hämo-
globin (15 Proz.) nach der Tabelle 0,17 x 15 = 2,6ccm CO, aufnehmen,
eine ähnliche Menge also wie die bei derselben Spannungsdifferenz hinsicht-
lich des Serums gefundene ($. 109). Bei solchen Spannungsunterschieden,
die denen entsprechen, welche am häufigsten zwischen dem Arterien- und
8*+
116 Wechselwirkung der Kohlensäureverbindungen in Plasma und Körperchen.
dem Venenblute angetroffen werden, wird daher etwa die Hälfte der Kohlen-
säurevermehrung dem Serum, die andere Hälfte den Blutkörperchen zufallen.
Einfluß der Wechselwirkung zwischen den Blutkörperchen und
dem Serum auf die Bindung der Kohlensäure im Blute.
Wenn bei gegebener CO,-Spannung im Austausch dissoziabler Stoffe
zwischen dem Plasma (Serum) und den Blutkörperchen Diffusionsgleichgewicht
eingetreten ist, so bleibt, wie Zuntz!) nachgewiesen hat, dieses Gleich-
gewicht nicht unverändert bestehen bei einer Änderung der CO,-Spannung;
bei zunehmender Spannung wird das Serum mehr alkalisch (Zuntz), und zu-
gleich nimmt sein Chlorgehalt ab (Hamburger?). Da die Alkaleszenz sich
wie gesagt ändert, folgt hieraus, daß man aus den, jede für sich, bestimmten
CO,-Spannungskurven des Serums und des Cruors nicht ohne weiteres auf
die genaue Form der Spannungskurve für das Gesamtblut schließen kann.
Bei kleineren Änderungen der Spannung, wie. diese gewöhnlich im Organis-
mus vorkommen, ist der Einfluß der wechselnden Kohlensäurespannung auf
den Diffusionsaustausch unter den Blutkörperchen und dem Serum allerdings
nachweisbar, jedoch schwach (Hamburger?°), Petry); bei Anwendung
höherer Kohlensäurespannungen wird die Wirkung aber eine bedeutende.
Zuntz fand, wie erwähnt, daß die Alkaleszenz des Serums zunahm, wenn
das gesamte Blut mit Kohlensäure gesättigt wurde, und daß das Serum, das
sich aus dem Blute nach dessen Sättigung mit Kohlensäure ausschied, mehr
Kohlensäure enthielt als der Cruor, während der Cruor dagegen mehr
Kohlensäure als das Serum enthielt, wenn jedes für sich mit Kohlensäure
gesättigt wurde. Er erklärte die vermehrte Alkaleszenz des Serums als die
Folge einer Wanderung kohlensaurer Alkalisalze aus den Blutkörperchen ins
Serum; unter der Einwirkung der Kohlensäure sollte sich nämlich in den
Blutkörperchen auf Kosten des Hämoglobinalkalis zum Teil doppeltkohlen-
saures Alkalı bilden, das ins Serum hineindiffundierend die Alkaleszenz ver-
mehrtee Zuntz’ Versuche sind von allen späteren Untersuchern bestätigt
worden; seine Erklärung mußte aber Modifikationen erleiden, als Gürber‘)
durch quantitative Alkalibestimmungen am Serum und an den Blutkörperchen
nachwies, daß das Kali unter der Einwirkung der Kohlensäure nicht aus
den Blutkörperchen austritt. Die Verteilung der Alkalien im Blute bleibt
im Gegenteil bei der Sättigung mit Kohlensäure unverändert. — Der Zuwachs
von Alkali im Serum muß daher anders erklärt werden. Gürber nimmt an,
daß der Vorgang in einer Umsetzung unter Kohlensäure und C1Na bestehe,
bei der die durch Massenwirkung gebildete Salzsäure fortwährend in die
Blutkörperchen einwandere und hier gebunden werde, während das gebildete
kohlensaure Salz im Serum verbleibe; diese Ansicht wird von Petry) unter-
stützt. Nach Köppes Auffassung beruht der Vorgang auf einer Wanderung
freier Kohlensäureionen aus den Blutkörperchen, wo sich unter der Einwir-
kung der Kohlensäure zum Teil dissoziiertes kohlensaures Alkali gebildet
!) Beiträge zur Physiologie des Blutes, Inaug.-Dissert., Bonn 1868, und Her-
manns Handb. 4, 64, 1882. — ?) Zeitschr. f. Biol. 1891, 8. 405. — ?) Osmotischer
Druck 1, 266, 1902. — *) Hofmeister, Beiträge 3, 260, 1902. — °) Sitzungsber. d.
phys.-med. Ges. zu Würzburg 1895, 8. 28. — °) 1. c. 8, 25.
FRE BEN NEN
Absorption von Stickstoff. im Blute. 217
habe, in das Serum während gleichzeifigen Eindringens äquivalenter Mengen
von Chlorionen aus dem Serum in die Blutkörperchen. Die alkalische
Reaktion im Serum entstehe nun dadurch, daß das dissoziierte Wasserstoff-
ion sich mit dem Kohlensäureion verbinde und die Menge der freien Hydroxyl-
ionen hierdurch vermehrt werde. Diese Fragen, die in allgemein biologischer
Beziehung mit bedeutendem Interesse verknüpft sind, konnten wir hier nur
in Kürze berühren und müssen im übrigen auf die eingehende Behandlung
verweisen, die ihnen in Hamburgers!) Handbuche zuteil wird. Es geht
aus denselben aufs neue hervor, wie wichtig es ist, die durch das Studium
isolierter Stoffe errungenen Erfahrungen fortwährend durch Versuche am
Gesamtblute zu kontrollieren, wo die gleichzeitige Wechselwirkung mehrerer
Vorgänge gar leicht die Resultate jedes einzelnen Umsatzes modifiziert, eine
Wahrnehmung, zu der unter anderem das Studium der Sauerstoffbindung
im Blute reichliche Gelegenheit darbot.
III. Stickstoff und Argon.
Stickstoff.
Der größere Teil des Stickstoffs, derin dem im Organismus zirkulierenden
Blute oder in Blut, welches in vitro mit atmosphärischer Luft gesättigt wird,
enthalten ist, findet sich einfach gelöst und das Henrysche Gesetz be-
folgend; die Stickstoffmenge des Blutes ist aber doch stets deutlich größer
als diejenige, die ein ebenso großes Volumen Wasser unter den-
selben äußeren Verhältnissen in sich aufnimmt. Dieses Verhalten,
das uns zeigt, daß ein Teil der Stickstoffabsorption nicht von einfacher phy-
sikalischer Lösung herrührt, beobachtet man stets, auch bei Anwendung der
neueren Modifikationen der Quecksilberpumpe, wo die Dichtigkeit inner-
halb der hier in Betracht kommenden Zeiträume eine vollständige ist, wes-
halb dasselbe nicht von dem Eindringen der äußeren atmosphärischen Luft
während des Auspumpens herrühren kann, wenngleich diese Fehlerquelle für
die älteren Analysen, wo die Zahlen für den Stickstoffgehalt oft höher sind,
als wir-sie bei der Anwendung guter Methoden finden, gewiß eine große Rolle
gespielt hat.
Betrachten wir erst die Verhältnisse im zirkulierenden Blute; hier
fanden wir im Durchschnitt von 16 Versuchen (S. 82) die Stickstoffmenge
des Arterienblutes und die des Venenblutes gleich 1,20, bzw. 1,26 Vol.-Proz.
Da der Stickstoff 79 Proz. der atmosphärischen Luft beträgt, ist sein Partial-
druck in der Alveolenluft 79 Proz. des Totaldruckes, der nach Abzug der
Wasserdampftension auf etwa 710mm anzusetzen ist. Bei einem solchen
Partialdrucke und einer Temperatur von 38° würden 100cem Wasser,
dessen Absorptionskoeffizient für Stickstoff bei dieser Temperatur 0,0122 ist,
0,90 ccm N, aufnehmen, also um nicht unbedeutend weniger als die tatsäch-
. lich im Blute enthaltene Menge; der Unterschied ist in Wirklichkeit übrigens
noch größer als der hier erscheinende, denn der Absorptionskoeffizient des
Blutes beträgt nur 92 Proz. von dem des Wassers (S. 62, und das Blut
würde unter den genannten physikalischen Verhältnissen daher nur 0,83 Vol.-
!) Osmotischer Druck und Ionenlehre 1 (1902).
118 Absorption von Stickstoff im Blute.
Proz. als einfach gelösten Stickstoff aufnehmen. Die Differenz zwischen
1,23 und 0,83 oder 0,4 ccm ist also auf andere Weise aufgenommen.
Das Vorhandensein dieses Überschusses an Stickstoff im zirkulierenden
Blute ist keiner besonderen biologischen Tätigkeit zu verdanken, denn das
außerhalb des Organismus mit atmosphärischer Luft gesättigte
Blut zeigt ganz dasselbe Verhalten. Im folgenden werden wir die Absorp-
tion im Blute überall mit derjenigen vergleichen, die unter denselbenäußeren
Verhältnissen in Wasser stattfinden würde; die Differenz wird dann frei-
lich ein wenig kleiner, als wenn wir, wie oben, die physikalische Absorption
im Blute mittels des speziellen Absorptionskoeffizienten dieser Flüssigkeit
berechnen, dafür werden wir aber nur mit lauter experimentellen Tatsachen
zu tun haben. — Bestimmungen des Stickstoffgehaltes des Blutes nach
Sättigung mit atmosphärischer Luft wurden angestellt von Jolyet u. Sigalas!)
mit dem Ergebnis, daß das Blut etwa 0,7 Vol.-Proz. Stickstoff mehr aufnimmt
als das Wasser. Unter zahlreichen Versuchen, die ich über dieses Thema
auszuführen die Gelegenheit hatte, und die ohne Ausnahme in derselben
Richtung gehende Resulate ergaben, führe ich als Beispiele?) an:
Vol.-Proz. Stickstoff nach Sättigung mit atmosphärischer
Luft. Zimmertemperatur:
In Wasser Differenz
In :Behsenblut.., sr 2-2 00. Be EN 1,76 1,93 0,43
InHandeblut za we Re 1,98 1,32 0,66
In Hagdebliut2..I27. 2 2,2 1ER RR TUR HIT 1,65 1,33 0,32
In demselben Blute, das nach Auspumpen aufs
neue mit Luft gesättigt wurde... .. 1,64 1,33 0,51
Wie man sieht, kann die Differenz nicht so gar wenig schwanken; durch-
schnittlich nahm das Blut in diesen Versuchen im NERBUIRRR mit Wasser etwa
0,5 Vol.-Proz. mehr Stickstoff auf.
Teilt man das Blut in Plasma und Blutkörperchen, so erweist es
sich, daß die besprochene Stickstoffabsorption des Blutes von den Blut-
körperchen, nicht aber vom Plasma herrührt; letzteres nimmt Stickstoff
zunächst wie das Wasser auf, während die in physiologischer Chlornatrium-
lösung suspendierten Blutkörperchen ganz dasselbe Verhalten zeigen wie
das Gesamtblut. Man möchte deshalb geneigt sein, wie Jolyet und Sigalas}?),
anzunehmen, die Zunahme der Stickstoffabsorption beruhe auf Adsorption
des Gases an die Blutkörperchen, in Ähnlichkeit damit, was überhaupt statt-
findet, wenn pulverförmige Partikelchen in einer Flüssigkeit suspendiert sind.
Ich*) habe indes nachgewiesen, daß der Grund ein anderer ist, indem die Be-
dingung für die Entwickelung der Erscheinung nicht die Integrität der Blut-
körperchen ist, sondern das Vorhandensein des Blutfarbstoffes; zugleich muß
das Gasgemisch außer Stickstoff auch Sauerstoff enthalten. Dies geht aus
folgenden Beobachtungen hervor, die wir der Übersicht wegen in zwei Ab-
teilungen gruppieren.
%) Compt. rend. 114, 686, 1892. — ?) Bohr, ebenda 124, 414, 1897. —
)L.e.— le. '
bi u a =
FE ee En
“
a
Absorption von Stickstoff im Blute. 119
1. Gelöste Blutkörperchen oder eine Lösung kristallinischen Hämo-
globins nimmt bei Sättigung mit atmosphärischer Luft einen ganz
ähnlichen Überschuß von Stickstoff auf wie das Blut selbst. Beispiel:
Vol.-Proz. Stickstoff nach Sättigung mit atmosphärischer Luft.
Zimmertemperatur.
In Wasser ı Differenz
|
In 12,4 proz. Hämoglobinlösung. . ». ..... | 1,87 1,33 0,55
In 10,0 proz. Hämoglobinlösung. . . ..... 1,78 1,34 0,44
|
Es findet also in Hämoglobinlösungen von fast demselben Gehalte wie
das Blut eine Aufnahme von etwa 0,5 ccm mehr Stickstoff statt, als Wasser
aufnehmen würde.
2. Außer dem Vorhandensein von Blutfarbstoff ist es für die Entstehung
der besprochenen Zunahme der Absorption von Stickstoff erforderlich, daß die
Gasmischung, mit der gesättigt wird, außer Stickstoff auch Sauerstoff ent-
hält. Stickstoff allein, er möge nun chemisch rein oder als argonhaltiger
atmosphärischer Stickstoff zur Anwendung kommen, wird sowohl vom Blute
als von Hämoglobinlösungen in fast genau. derselben Menge aufgenommen
wie vom Wasser. Beispiel:
Vol.-Proz. Stickstoff. Proben desselben Ochsenblutes.
Zimmertemperatur.
1} .| |
| Blut Wasser | Differenz
Sättigung mit sauerstoffhalt. atm. Luft . | 1,76 1,33 | 0,43
* „ themisch reinem Stickstoff | 1,65 1,63 | 0,02
r „ atm. (argonhalt.) % | 1,63 1,60 | 0,03
|
Auf besonders prägnante Weise läßt sich dasselbe Verhalten absorptio-
metrisch nachweisen, indem man erst die Absorption reinen Stickstoffs in
einer Hämoglobinlösung bestimmt, darauf Sauerstoff zusetzt und die Stick-
stoffabsorption aufs neue untersucht; hierüber müssen wir aber auf die
originale Abhandlung verweisen !).
Es ist also das gleichzeitige Vorhandensein des Hämoglobins
und des Sauerstoffs, das die gesteigerte Stickstoffabsorption im
zirkulierenden oder in dem außerhalb des Organismus mit atmo-
sphärischer Luft gesättigten Blute bedingt.
Da ein Teil des Stickstoffs nicht einfach gelöst ist, wird es auch nicht
wahrscheinlich, daß die Absorption von Stickstoff im Blute das Henrysche
Gesetz genau befolge. Dies geht denn auch aus folgenden, bisher nicht
veröffentlichten Versuchen hervor. In einer 13,3 proz. Hämoglobinlösung findet
man bei 38° und einem Drucke von 560mm N, und 140mm 0, 1,12 Vol.-
Proz. N, absorbiert; die berechnete physikalisch gelöste Menge beträgt
0,82 Vol.-Proz., der Überschuß mithin 0,30. Dieselbe Lösung absorbiert bei
") Bohr, L. e. 8. 416.
120 Absorption von Stickstoff, Argon und Kohlenoxyd im Blute.
einem Drucke von 70mm N, und 17,5 mm 0, 0,29 Vol.-Proz. -N,; die be-
rechnete physikalisch gelöste Menge ist 0,13 Vol.-Proz., der Überschuß also
0,16; der Überschuß sinkt somit nicht einmal bis auf die Hälfte, wenn der
Absorptionsdruck bis auf !/, vermindert wird. Die überschüssige Menge
Stickstoff ist daher zwar von dem Drucke abhängig, wie wir vorher wissen
konnten, da sie sich ja auspumpen läßt; sie ist demselben aber bei weitem nicht
proportional, indem bei niederen Drucken relativ mehr Stickstoff aufgenommen
wird.
Unter welcher Form dieser Überschuß an Stickstoff sich im Blute auf-
genommen findet, weiß man nicht; vielleicht ist derselbe, da Sauerstoff ja
notwendig ist, damit der Vorgang eintreten kann, als leicht spaltbare Stick-
stoffoxyde vorhanden, die dann schon während des Auspumpens dissoziiert
würden; es gelang mir nämlich nicht, in dem ausgepumpten Gase Stickstoff-
oxyd nachzuweisen.
Argon
Regnard und Schloessing!) bestimmten die Menge des Argons im
zirkulierenden Venenblute (des Pferdes) als 0,042 Vol.-Proz., und ich fand
im Venenblute eines Hundes, das direkt in die Pumpe gebracht wurde, in
einem bisher nicht veröffentlichten Versuche eine ähnliche Zahl, nämlich
0,053 Vol.-Proz. Da die Menge des Argons in der Atmosphäre 0,94 Proz.
und sein Absorptionskoeffizient?) bei 380 — 0,0294 ist, steht zu erwarten,
daß im Blute nur 0,026 Vol.-Proz. absorbiert werden, wenn der Totaldruck
in der Lunge auf 710 mm angesetzt wird. Das Blut enthält also mehr Argon,
als es bei Sättigung mit einer Atmosphäre vom Druck und von der Zu-
sammensetzung der Alveolenluft physikalisch lösen würde. Anders verhielt
es sich, wenn das Blut außerhalb des Organismus untersucht wurde; dann
ist gerade ebensoviel Argon aufgenommen, als der Berechnung nach unter
den betreffenden Bedingungen einfach gelöst sein sollte; so in Regnard
und Schloessings Versuchen über die Sättigung des Blutes mit reinem
Argon bei 38°. Für Blutkörperchen, die in physiologischer Cl Na-Lösung
suspendiert waren, fand ich, daß bei Sättigung mit atmosphärischer Luft in
Zimmertemperatur ebenfalls so viel Argon aufgenommen wurde, als einer
einfachen Lösung entspricht. Regnard und Schloessing äußerten die -
Vermutung, der größere Argongehalt des zirkulierenden Blutes sei vielleicht
der Alveolarmembran zu verdanken; Sicheres über die Ursache der gefundenen
Erscheinungen schließen zu wollen, wäre nach den vorliegenden Versuchen
einstweilen zu gewagt.
IV. Das Kohlenoxyd.
Die Bedeutung, die das Studium der Kohlenoxydintoxikation für mehrere
wichtige Seiten der Respirationslehre hat, macht es zur Notwendigkeit, die
Bindungsverhältnisse des Kohlenoxyds im Blute hier näher zu betrachten.
Claude Bernard?) wies. nach, daß das Kohlenoxyd ein Blutgift ist, und
erklärte in den Hauptzügen dessen Wirkungen, indem er feststellte, daß es
eine Verbindung mit den roten Blutkörperchen eingeht und hierdurch deren
!) Compt. rend. 124, 302, 1897. — ?) Estreicher, Zeitschr. f. physik. Chem. 21,
84, 1899. — °?) Lecons sur les effets des substances toxiques. 1857.
N 1 gelun - Ae E B a
a ir I sul
3 Se De a u Bi he ec ee
Absorption von Kohlenoxyd im Blute. 121
Funktion als Sauerstoffträger hemmt. Aus seinen Untersuchungen im Verein
mit Hoppe-Seylers!) und Lothar Meyers?) Arbeiten über die Bindung
des Kohlenoxyds im Blute geht hervor, daß dieses Gas imstande ist, den
Sauerstoff aus seiner Verbindung mit dem Blutfarbstoffe auszutreiben, und
daß diese Austreibung dadurch geschieht, daß das Kohlenoxyd selbst eine
Verbindung mit dem Farbstoffe schließt, indem 1 Vol. Kohlenoxyd 1 Vol.
Sauerstoff ersetzt. Die Verbindung des Farbstoffes mit Kohlenoxyd be-
trachtete man anfangs als eine feste, die mithin anderer Natur sei als die
leicht spaltbare Sauerstoffverbindung. Als darauf aber Eulenburg’) und
später Donders) gezeigt hatten, daß das Kohlenoxyd sich schon durch
Hindurchleiten von Sauerstoff oder sogar durch Hindurchleiten eines indiffe-
renten Gases dem Blute entziehen läßt, stellte Donders (l. c.) die Ansicht
auf, die Verbindung des Blutfarbstoffes mit Kohlenoxyd sei der Sauerstoff-
verbindung ganz analog, und rücksichtlich beider Verbindungen sei die
Stabilität von dem hinlänglichen Partialdruck des betreffenden Gases in der
umgebenden Atmosphäre abhängig. Die Kohlenoxydverbindung spalte sich
aber weniger leicht als die Sauerstoffverbindung, so daß mit Bezug auf das
Kohlenoxydhämoglobin die Herstellung weit niederer Spannungen notwendig
sei, um das Gas in beträchtlicherem Maße frei zu machen, als dies mit den
Sauerstoffverbindungen der Fall sei. Von dieser ganzen Betrachtungsweise aus
sei nun zu schließen, daß das Kohlenoxydhämoglobin sich im Vakuum voll-
ständig spalten lasse — was Zuntz ?) auch kurz darauf nachwies. Donders ist
also der erste, der die Farbstoffverbindungen des Kohlenoxyds und des Sauer-
stoffs richtig als dissoziable auffaßte und die Vorgänge bei deren Spaltung
auf die allgemeinen Gesetze für reversible chemische Massenwirkungen zurück-
führte. Hieraus folgt natürlich, daß unter Umständen sowohl das Kohlenoxyd
den Sauerstoff als auch letzteres Gas das Kohlenoxyd aus der Verbindung aus-
treiben kann, je nachdem die Partialdrucke sich zueinander verhalten, eine
Frage, die später mehr detailliert von Hüfner‘) behandelt wurde. Die
Kenntnis der numerischen Werte für die Teilung des Blutfarbstoffes unter
‘ die beiden Gase, wenn.diese in Mischung vorkommen, ist von großer Wichtig-
keit für das Verständnis des Verhaltens des Blutes während der Kohlenoxyd-
intoxikation und wird deshalb später näher behandelt werden, nachdem wir
zuvor einen Überblick über die Absorption des Kohlenoxyds im Blute gegeben
haben, wenn außer diesem Gase nur indifferente Gase vorhanden sind.
Es sind zahlreiche Versuche angestellt worden, wo die Zusammen-
setzung des zirkulierenden Blutes nach Einatmung kohlenoxydhaltiger Gas-
mischungen in der hier besprochenen Beziehung untersucht wurde; so außer
von Cl. Bernard besonders von Grehant, de Saint-Martin, Haldane
und Lorrain-Smith. In späteren Abschnitten werden wir einige dieser
Versuche, die für .die allgemeine Respirationslehre von Bedeutung sind, näher
diskutieren; hier haben wir vorläufig nur mit der direkten Einwirkung des
Kohlenoxyds auf das Blut ohne Dazwischenkunft des Organismus zu tun, so
wie dieselbe sich unter geeigneten Bedingungen in vitro erweist.
!) Virchows Archiv 2 (1857); 29 (1863). — ?) Zeitschr. £. rationelle Med. 5,
83, 1859. — °) Lehre von den schädlichen u. giftigen Gasen 1865, 8. 53. —
*) Pflügers Arch. 5, 20, 1872. — °) Ebenda 5, 584, 1872. — °) Journ. f. prakt.
Chem. 28, 256, 1883; 30, 68, 1884.
122 Absorption von Kohlenoxyd im Blute.
Absorption von reinem oder mit indifferenten @asen gemischtem Kohlenoxyd.
Der Blutfarbstoff bindet in maximo ebensoviel Kohlenoxyd, als er Sauer-
stoff aufzunehmen vermag, wenn er mit diesem Gase allein gesättigt wird.
Dies wies Lothar Meyer (l. c.) nach; hier werden als Beispiel einige Ver-
suche von J. Bock!) angeführt, bei denen die Absorption nach einer exakten
Methode (Bohrs Absorptiometer) sowohl für reines Kohlenoxyd als für Sauer-
stoff in vollständig evakuierten Hämoglobinlösungen untersucht wurde. Es
kamen so hohe Drucke zur Anwendung, daß die Sättigung mit Kohlenoxyd,
praktisch genommen, eine völlige war; hinsichtlich des Sauerstoffs wurde der
Sauerstoffdruck der Atmosphäre RER bei dem die Sättigung des Hämo-
globins zwar ungefähr, aber nicht völlig die maximale ist. Die aufgenommene
Gasmenge ist deshalb, was den Sauerstoff betrifft, ein wenig geringer (um
etwa 3 Proz. des Wertes). Das Hämoglobin war aus Ochsenblut und stammte
von zwei verschiedenen Darstellungen her.
I 1:
Spannung Absorb. Spannung | Absorb.
prog pro g
Kohlenoxyd . 115 1,24 Kohlenoxyd . 119 1,22
Sauerstoff . . 150 1,20 Sauerstoff . . 150 1,19
Das Kohlenoxyd und der Sauerstoff werden, wie genannt, beide an das
Hämoglobin gebunden. Schon dem bisher Angeführten zufolge ist es höchst
wahrscheinlich, daß die Bindung auch in demselben Teile des Moleküls
stattfindet. Direkt nachgewiesen wurde dies von Hoppe-Seyler?), der
beobachtete, daß auch das Kohlenoxyd an den eisenhaltigen Teil des Moleküls
gebunden wird, indem das vom Hämoglobin abgespaltene Hämochromogen
in einer CO-Atmosphäre dasselbe Volum CO aufnimmt, das es in Berührung
mit atmosphärischer Luft von Sauerstoff absorbiert, welches Volum ja wieder
mit dem vom undekomponierten Hämoglobin in maximo gebundenen identisch
ist. Wir finden deshalb auch, mit Ausnahme der numerischen Werte für
das Verhältnis zwischen den aufgenommenen Mengen und den Spannungen,
daß die Bindung des Kohlenoxyds im Blute der Bindung des Sauerstoffs im
ganzen völlig analog stattfindet. So absorbiert das Plasma Kohlenoxyd
einfach physikalisch, also der Spannung proportional, und in ein wenig
geringerer Menge, als unter identischen Bedingungen dasselbe Volum Wasser
absorbieren würde; hat das Blut Kohlenoxyd absorbiert, so ist daher allgemein
der weit überwiegende Teil an die Blutkörperchen gebunden, und zwar
von der Spannung abhängig, nicht aber derselben proportional. Ferner ist
die Spannungskurve des Kohlenoxyds (wo die Abszissen die CO-Spannungen,
die Ordinaten die absorbierten CO-Mengen sind) verschieden für Hämoglobin-
lösungen verschiedener Konzentration, so wie es auch rücksichtlich des Sauer-
stoffs der Fall war. Endlich sind auch die pro Gewichtseinheit Blutfarbstoff
!) Die Kohlenoxydintoxikation.
f. physiol. Chem. 13, 493, 1889.
Kopenhagen 1895, 8. 38 bis 39. — °) Zeitschr.
|
2
hi
F
h
E
4
m
. Spannungskurve des Kohlenoxyds in Hämoglobinlösung. 123
in maximo aufgenommenen Kohlenoxydmengen nicht konstant, sondern
können individuell variieren, so daß wir den Begriff der „spezifischen Kohlen-
oxydkapazität“ der spezifischen Sauerstoffkapazität (S. 93) analog aufstellen
müssen.
Das Verhältnis zwischen der Spannung und den aufgenommenen (0 O-
Mengen. Während zahlreiche Versuche vorliegen, welche dartun, daß die
Verbindung des Kohlenoxyds mit dem Farbstoff sich erst in bedeutenderem
Grade spaltet, wenn die Spannung sehr gering wird, gibt es nur wenige Ver-
suchsreihen, wo das Verhältnis der aufgenommenen Mengen zur Spannung
in weiterem Umfange genau untersucht wurde. Die meisten der vorliegenden
Versuche sind obendrein mit Hämoglobinlösungen unternommen worden; in
betreff des Blutes-.sind die Aufschlüsse noch spärlicher. Die Spannungskurve
läßt sich deshalb vorläufig nur für das Hämoglobin feststellen; mit dieser
werden wir später einige einzelne mit Bezug auf das Blut selbst vorliegende
Bestimmungen vergleichen.
Mit Hämoglobinlösungen hat Bock!) Versuche angestellt nach der
absorptiometrischen Methode, die in genauer Ausführung eben zur Bestimmung
der Absorption bei so niedrigen Drucken wie den hier in Frage stehenden vor-
züglich ist. Untenstehende Tabelle (I) über Ochsenhämoglobin (Konzentration
etwa 9 Proz.) bei 20° ist mittels graphischer Interpolation aus zwei Ver-
suchsreihen hergeleitet; die.in maximo aufgenommene Menge Kohlenoxyd
(1,23 cem pro Gramm) ist gleich 100 gesetzt.
} I.
:Ochsenhämoglobin, 20° Hundehämoglobin, 37°
Spannung Proz. Sättigung Spannung | Proz. Sättigung
mm mit CO mm | mit CO
0,25 44 0,22 22
0,5 84 0,57 62
1,0 94 10,78 97
1,5 97 92,17 100
2,0 97,5
5 98,5
20. 99
100 100
Bocks Versuche bei Körpertemperatur wurden an Hundehämoglobin
(Konzentration etwa 8 Proz.) angestellt; sie sind in obiger Tabelle (II) an-
geführt. Ein Vergleich mit den Zahlen für Ochsenhämoglobin bei 20° zeigt,
daß in maximo freilich bei beiden Temperaturen dieselbe Menge CO auf-
genommen wird (bei 37,6° wurden pro Gramm 1,22ccm aufgenommen), daß
bei niedrigen Drucken jedoch verhältnismäßig bedeutend weniger gebunden
wird, wenn die Temperatur höher ist, in Analogie mit den Verhältnissen bei
der Sauerstoffbindung.
Hüfners?) Versuch über die Dissoziation des Kohlenoxydhämoglobins
wurde mit einer etwa 11 proz. Lösung und bei 32,7% ausgeführt, in der Weise,
') Zentralbl. f. Physiol. 8, 385, 1894 u. Über Kohlenoxydintoxikation. 1895,
S. 30. — ?) Arch. f. Physiol. 1895, $. 213.
124 Spannungskurve des Kohlenoxyds in Hämoglobinlösungen und im Blute,
daß die Werte unter angenommener Gültigkeit einer aufgestellten Dissoziations-
formel, deren Konstanten man übrigens experimentell (spektrophotometrisch)
zu bestimmen suchte, berechnet sind. Die gefundenen Resultate weichen etwas
von Bocks oben angeführten ab, indem Hüfner bei etwa 33° für das Ver-
hältnis der Spannung zur gebundenen Menge zunächst dieselben Werte findet
wie Bock bei einer Temperatur von etwa 20°.
Haldane!) und später Haldane und Smith?) haben mittels der kolori-
metrischen Methode die prozentige Kohlenoxydsättigung von Blutlösungen
untersucht, die mit Mischungen von Wasserstoff und Kohlenoxyd, in welchen
die Menge des letzteren Gases variierte, geschüttelt wurden. In der letzten
Versuchsreihe wurde bei 37° und 0,0044 Proz. CO in der Gasmischung (etwa
0,031 mm CO-Spannung) eine Sättigung von 80 Proz., bei 15° und
0,0047 Proz. CO, (etwa 0,035 mm Spannung) eine solche von 98 Proz. gefunden.
Die derselben CO-Spannung entsprechenden Sättigungsprozente wurden also
in diesen Versuchen viel höher befunden als in den oben angeführten Bestim-
mungen von Bock. Von unvollständiger Sättigung kann bei Bocks Ver-
suchen, wo das Eintreten des Gleichgewichtszustandes durch die stetige
genaue Ablesung des Druckes während des Versuches kontrolliert wurde,
keine Rede sein, und Haldane und Smith bezeichnen ihre Resultate aus-
drücklich als eher zu niedrig. Der scheinbare Widerstreit zwischen den
Resultaten der beiden Versuchsreihen muß daher in den sehr verschiedenen
Konzentrationen des Blutfarbstoffes, welche in ihnen zur Anwendung kamen,
gesucht werden; bei den Versuchen von Bock war die Konzentration etwa
8 Proz., bei denjenigen von Haldane und Smith etwa 0,15 Proz., indem
eine 1 proz. Blutlösung benutzt wurde. Daß die Spannungskurve in den
letztgenannten Versuchen, wo die Verdünnung etwa 50 mal größer ist, be-
deutend höher liegt, ist nur, was erwartet werden konnte nach den Resultaten,
welche oben betreffs des Einflusses der Konzentration auf die analogen Sauer-
stoffverbindungen (Oxyhämoglobin) gefunden wurden. (Es mag vielleicht
am Platze sein, schon hier ausdrücklich hervorzuheben, daß die Konzentration
der Lösung keinen nachweislichen Einfluß auf die Verteilung des Farb-
stoffes unter Sauerstoff und Kohlenoxyd hat, wenn diese beiden Gase gleich-
zeitig einwirken; dieses, was von Haldane und Smith experimentell nach-
gewiesen wurde, ist in Übereinstimmung damit, daß die Konzentration in
solcher Weise in die analogen Gleichungen für die Sauerstoff- und Kohlenoxyd-
verbindungen eingeht, daß sie aus der Gleichung für das Verhältnis zwischen
den gleichzeitig gebundenen Mengen der zwei Gase eliminiert werden kann).
Spezifische Kohlenoxydkapazität. Da der Blutfarbstoff bei völliger Sätti-
gung mit Kohlenoxyd dasselbe Quantum Gas aufnimmt wie bei Sättigung mit
Sauerstoff, muß die spezifische Kohlenoxydkapazität (Sp. CO) oder die für
1g Eisen aufgenommene Anzahl Cubikcentimeter CO denselben numerischen
Wert haben wie die spezifische Sauerstoffkapazität (S. 102), und ähnliche
Schwankungen, wie wir sie an letzterer fanden, müssen sich auch mit Bezug
auf Sp. CO nachweisen lassen. Dies geht denn auch aus Bocks Ver-
suchen) hervor, von denen wir hier folgenden anführen. Aus Ochsenblut
!) Journ. of Physiol. 18, 452, 1895. — °) Ebenda 22, 253, 1898. — ®) Die
Kohlenoxydintoxikation. Kopenhagen 1895, 8. 39.
EU Tv
Spezifische Kohlenoxydkapazität. 125
wurde unkristallisiertes und kristallisiertes Hämoglobin dargestellt (s. S. 95),
und man bestimmte sowohl Sp. O als Sp. CO; man fand:
Unkrist. Hämoglobin | Krist. Hämoglobin | Differenz
U VOR 352 317 35
TER RTL | 340 308 32
Hieraus ergibt sich sowohl die Übereinstimmung der Sp. O mit der
Sp. CO in derselben Probe als auch die Schwankungen der Sp. CO (und der
Sp. O) nach der verschiedenen Darstellungsweise des Hämoglobins. — Unten-
stehende Versuche!) zeigen das Schwanken der Sp. CO im Blute desselben
Individuums während verschiedener Zustände. Einem Hunde wurden. mit
Zwischenraum von drei Tagen zwei Blutproben entnommen; darauf ein Ader-
laß und Infusion einer CINa-Lösung und hiernach eine dritte Blutprobe. Aus
allen drei Proben wurde das Hämoglobin dargestellt, und in Lösungen des-
selben bestimmte man den spezifischen Kohlenoxydgehalt. Das Resultat war:
Hämoglobin Nr. 1 ergab Sp. CO — 389, Nr. 2 Sp. CO = 381, Nr. 3 Sp. CO
— 347. Der Blutverlust hatte also die spezifische Kohlenoxydkapazität ab-
geändert.
Auch wenn die aufgenommene Menge Kohlenoxyd im Verhältnis zum
Trockengewichte des Hämoglobins anstatt des Eisens berechnet wird,
erhält man Schwankungen bei verschiedenen Individuen. Wir führen
diesbezüglich eine Versuchsreihe von Bock (l. c. S. 27) an, die absorptio-
metrisch ausgeführt wurde; in sieben Versuchen fand man hier pro Gramm
Hämoglobin CO-Mengen, die zwischen 1,18 und 1,37 schwankten. Zu ähn-
lichen Resultaten ist später nach einer anderen Methode auch Hüfner?) ge-
kommen.
Diese Resultäte waren natürlich nach den über den spezifischen Sauer-
stoffgehalt vorliegenden Aufschlüssen sämtlich zu erwarten und enthalten die
Bestätigung derselben; selbstverständlich sind sie mit Bezug auf Sp. CO
ebenso zu erklären wie mit Bezug auf Sp. O (s. S. 100).
Absorption einer Mischung von Kohlenoxyd und Sauerstoff.
In einer Mischung der beiden Gase wird der Farbstofi, wie bereits
erwähnt, teils mit dem Sauerstoff und teils mit dem Kohlenoxyd Verbindungen
eingehen; diese Verbindungen werden sich in Mengen bilden, deren gegen-
seitiges Verhältnis außer von dem numerischen Wert ihrer Dissoziations-
konstanten von den Partialdrucken des Sauerstoffs und des Kohlenoxyds in
der angewandten Mischung bedingt ist. Zugleich wird indes stets, da es
sich hier um Dissoziationsvorgänge handelt, reduziertes Hämoglobin in der
Lösung vorhanden sein. Die Menge des reduzierten Hämoglobins wird nur un-
bedeutend sein, wenn entweder die Kohlenoxyd- oder die Sauerstofispannung
oder beide Spannungen verhältnismäßig hoch sind, und in solchen Fällen
verläuft der Prozeß wesentlich so, als ob nur Oxyhämoglobin und Kohlen-
oxydhämoglobin vorhanden wären; die ganze Menge des Hämoglobins teilt
!) Bock, l. c. 8. 40. — ?) Arch. f. Physiol. 1903, S. 222.
126 Absorption einer Mischung von Kohlenoxyd und Sauerstoff im Blute.
sich dann unter Sauerstoff und Kohlenoxyd den Partialdrucken dieser Gase
proportional. Sind die Spannungen dagegen hinlänglich niedrig, so wird die
Menge des reduzierten Hämoglobins beträchtlich sein können, und in solchen
Fällen müssen wir bei der Berechnung der prozentigen Menge des Oxyhämo-
globins oder des Kohlenoxydhämoglobins notwendigerweise die Menge des
gleichzeitig reduzierten Hämoglobins berücksichtigen (s. S. 76).
Im ganzen wird die Feststellung der Verteilung des Farbstoffes unter
Sauerstoff und Kohlenoxyd bei gegebenen Spannungen zweifelsohne mit
größerer Sicherheit durch direkte Versuche geschehen können als durch
Berechnung mittels einer Massenwirkungsformel, wo mögliche Fehler der
Konstanten und besonders die Möglichkeit nicht in Betracht gezogener
Nebenprozesse Unsicherheit bewirken. Eine solche Versuchsreihe, wo jeder
einzelne Wert direkt bestimmt wurde, führten Haldane und Smith!)
folgendermaßen aus. Eine 1 proz. Blutlösung wurde mit einer Mischung atmo-
sphärischer Luft und variierend prozentiger Kohlenoxydmenge geschüttelt,
worauf die prozentige Menge des Kohlenoxydhämoglobins mittels der von
den Verfassern angegebenen kolorimetrischen Methode?) bestimmt wurde. Die
angewandte Temperatur war gewöhnlich die Zimmertemperatur, indem spezielle
Versuche gezeigt hatten, daß das Verhältnis sich nicht änderte, wenn Körper-
temperatur angewandt wurde. Ein der graphischen Darstellung in der
zitierten Abhandlung (l. c. S. 233) entnommener Auszug der Resultate wird
unten tabellarisch angeführt. Die Spannung des Kohlenoxyds ist angegeben
als die in der Gasmischung enthaltenen prozentigen Kohlenoxydmengen, wenn
der Totaldruck 760 mm beträgt. Der Druck des Sauerstoffs ist überall nahezu
derselbe (etwa 155 mm). Die des Vergleichs wegen angeführte Tabelle über
Hüfners Resultate wird unten näher zur Besprechung kommen.
Mischung von atmosphärischer Luft und Kohlenoxyd.
Haldane und Smith N Hüfner
r% ı Proz. Sättigung Proz. Sättigung
Proz. CO | mit CO Proz. CO mit CO
0,025 27 0,05 27,0
0,05 42 0,10 42,4
0,10 59 0,20 59,5
0,20 74 0,40 74,7
0,30 81 0,60 81,6
0,40 85 0,80 85,5
0,50 88 1,00 88,1
Die Tabelle gibt, wie gesagt, den Einfluß der Kohlenoxydspannung auf
die Sättigung des Farbstofis an, wenn der gleichzeitige Sauerstoffdruck wie
der der atmosphärischen Luft ist; ist der Sauerstoffdruck höher, so wird bei
derselben Kohlenoxydspannung natürlich weniger Kohlenoxyd gebunden und
umgekehrt.
Haldane und Smith untersuchten, ob das Vorhandensein von Kohlen-
säure auf die partielle Sättigung mit Kohlenoxyd unter sonst gleichen Um-
!) Journ. of Physiol. 22, 231, 1898. — ?) Ebenda 20, 502, 1896.
" R
P 3
EEE TEURENT
Absorption einer Mischung von Kohlenoxyd und Sauerstoff im Blute. 127
ständen Einfluß übe!); sie fanden, daß das innerhalb der von ihnen unter-
suchten Grenzen nicht der Fall war. Dies stand nun auch nicht zu erwarten
nach dem, was wir oben (S. 91) über den Einfluß der Kohlensäure auf das
Verhältnis der Sauerstoffspannung zur absorbierten Sauerstoffmenge bemerkten.
Ist die Sauerstoffspannung wie in Haldane und Smiths hierher gehörendem
Versuche eine hohe (etwa 16 Proz.), so wird die Kohlensäure nämlich keinen
nachweisbaren Einfluß auf die Bindung des Sauerstoffs haben. Anders mag
sich das Verhältnis möglicherweise bei niederer Sauerstoffspannung stellen,
wo die Kohlensäure entschiedenen Einfluß auf die Dissoziation des Oxyhämo-
globins übt; ob hier die Verteilung des Farbstoffs unter den Sauerstoff und
das Kohlenoxyd unverändert bleibt, wird davon abhängen, ob die Kohlen-
säure die Dissoziationskonstante der Kohlenoxydverbindung proportional ‚mit
der der Sauerstoffverbindung ändert; dies ist übrigens recht wahrscheinlich,
. da anzunehmen ist (s. S. 70), daß die Wirkung der Kohlensäure auf einer
Änderung der Bindung zwischen dem eisenhaltigen und dem eisenfreien Teile
des Hämoglobinmoleküls beruht. Eine solche Bindungsänderung könnte
* wahrscheinlich die Dissoziation des Sauerstoffs und des Kohlenoxyds gleich
viel verändern, Bestimmtes können wir hierüber aber nicht wissen, bevor
direkte Versuche über die Frage vorliegen.
- Hüfners?) Untersuchungen über die gleichzeitige Sauerstoff- und
Kohlenoxydbindung des Hämoglobins wurden so ausgeführt, daß eine ver-
dünnte, etwa 1 Proz. Blut enthaltende Blutlösung mit einer Gasmischung aus
etwa 96 Proz. Sauerstoff und variierenden Mengen Kohlenoxyd geschüttelt
wurde. Die relativen Mengen der Farbstoffverbindungen des Kohlenoxyds
und des Sauerstoffs bestimmt man spektrophotometrisch und berechnet hier-
aus die Konstante der benutzten Massenwirkungsformel. Diese Konstante
ist nun zur Berechnung der prozentigen Sättigung des Farbstoffs mit
Kohlenoxyd anzuwenden, wenn dieses sich in verschiedenen Mengen der
atmosphärischen Luft beigemischt findet. Obschon die. direkte Bestimmung
der einzelnen Werte, wie oben gesagt, gewöhnlich den Vorzug vor einer
derartigen Berechnung verdient, sollte man doch in diesem Falle, wo
die spektrophotometrische Methode vorzüglich gute Bedingungen findet, die
einigermaßen gute Übereinstimmung der auf den zwei verschiedenen Wegen
gewonnenen Resultate erwarten. Vergleicht man aber Hüfners Resultate mit
Haldane und Smiths oben angegebenen Werten, so ist die Abweichung
eine sehr bedeutende. Betrachtet man die oben angeführte Tabelle über die
Resultate, so wird man indes leicht gewahren, daß eine merkwürdige Relation
zwischen Haldane und Smiths und Hüfners Resultaten besteht, indem
die letzteren überall den von Haldane und Smith für die halb so große
Spannung des Kohlenoxyds gefundenen genau entsprechen; dies will mit
anderen Worten heißen, daß das Verhältnis zwischen der Dissoziationskon-
stante der Kohlenoxydverbindungen und der des Oxyhämoglobins in Hüf-
ners Versuchen genau doppelt so groß befunden wurde als in Haldane und
Smiths Untersuchungen. Was die Ursache hiervon sein kann, ist nicht
leicht zu sagen; Versuchsfehler können wohl schwerlich zur Erklärung so
umfangreicher und höchst gleichmäßiger Abweichungen in Betracht kommen.
») Journ. of Physiol. 20, 513, 1896. — ?) Arch. f. exp. Pathol. 1902, S. 87.
128 Zeitlicher Verlauf der Kohlenoxydabsorption.
Man könnte an eine Änderung des Blutfarbstoffs in der starken Verdünnung
denken, wodurch die Dissoziationskonstanten vielleicht geändert würden, in
Analogie mit dem, was rücksichtlich der Sauerstoffverbindungen bei der Um-
bildung des Hämochroms in Hämoglobin geschieht ($. 88); beide besprochene
Versuchsreihen wurden aber bei fast derselben Konzentration angestellt, und
Haldane und Smith haben gezeigt!), daß die Verdünnung an und für sich
keine Änderung bewirkt. Einige Verschiedenheit bietet jedoch das Verfahren
bei den beiden abweichenden Versuchsreihen dar. Haldane und Smith
sättigten bei dem Sauerstoffdruck der Atmosphäre und sehr niedrigen CO-
Spannungen; Hüfner sättigte mit fast reinem Sauerstoff und bei entsprechend
hohen CO-Spannungen; ferner benutzte Hüfner kohlensaures Natron zur
Verdünnung. Ob dieser Unterschied der wegen der hochgradigen Ver-
dünnung leicht veränderlichen Lösung die Verschiedenheit zu bewirken ver-
‚mochte, muß dahingestellt bleiben. Wo im folgenden die gleichzeitige Bindung
des Sauerstoffs und Kohlenoxyds an den Farbstoff in Betracht kommt,
benutzen wir Haldane und Smiths Resultate als die auf direkterem Wege,
gefundenen.
Versuche über die gleichzeitige Aufnahme von Sauerstoff und Kohlen-
stoff in dem unverdünnten Blute finden sich bei de Saint-Martin?).
Diese geben in den Hauptzügen dieselben Resultate wie die früher be-
sprochenen, indem man auch hier gewahrt, daß die Teilung des Farbstoffs
von. dem Partialdruck der Gase abhängig ist; die einer gegebenen Spannung
entsprechenden absorbierten CO-Mengen sind aber unter sonst gleichen Um-
ständen bedeutend geringer. Möglicherweise ist die Sättigung mit Kohlen-
oxyd trotz energischen Schüttelns des Blutes mit der Gasmischung eine weniger
vollständige; es wurden nämlich 50cem Blut angewandt, deren Sättigung
unter gewöhnlichen Verhältnissen lange Zeit beansprucht, wie folgende
Entwickelung zeigt.
Sowohl Bock (l. c. 8. 61) als Haldane und Smith (l. ec. 8. 512) bemerken,
wie schwer es ist, ein vollständiges Gleichgewicht zu erzielen, wenn man Blut mit
Kohlenoxyd von niedriger Spannung zu sättigen sucht. Man kann durch Einfüh-
rung ‘ der Invasionskonstante für Kohlenoxyd (8. 61) das Minimum der zur
Sättigung erforderlichen Zeit berechnen, wenn die Oberfläche der Flüssigkeit ge-
geben ist. Ein Beispiel wird am besten zeigen, wie lange Zeit gewöhnlich ver-
streichen muß, bis volle Sättigung eintritt. ‘Wir bringen 5cem Blut, die in maximo
etwa 1 ccm Kohlenoxyd aufzunehmen vermögen, in eine Flasche von5cm im Durch-
messer und 10cm Höhe (die mithin etwa 200cem faßt und eine zylindrische Ober-
fläche von etwa 150 qem hat) und verbreiten das Blut über die ganze zylindrische
Oberfläche, indem das Blut durch Rotieren der Flasche fortwährend gemischt wird;
darauf leiten wir atmosphärische Luft durch die Flasche, indem wir 0,1 Proz. CO
zusetzen; um völliges Gleichgewicht zu erreichen, muß das Blut 0,6ccm CO auf-
nehmen, da bei dem gegebenen Drucke 60 Proz. des Hämoglobins mit CO gesättigt
werden. Das Minimum der Zeit, die zur Sättigung beansprucht wird, ist aus der
Invasionskonstante für CO = 0,01 zu berechnen, worunter diejenige Menge CO
zu verstehen ist, die im Laufe einer Minute bei dem Drucke von 760mm durch
1gem der Oberfläche in eine Flüssigkeit eindringt; zur Sättigung muß nämlich
wenigstens so viel Zeit (x) nötig sein, als 0,6ccm CO gebrauchen, um durch
die gegebene Oberfläche in die Flüssigkeit einzudringen; die in der Tat zur Sätti-
gung gebrauchte Zeit wird natürlich größer sein, da zugleich fortwährend etwas
Kohlenoxyd aus der Flüssigkeit austritt. Die Zeit x, welche die Invasion von
!) Journ. of Physiol. 20, 512, 1896. — ?) La Respiration, Paris 1893, p. 284.
Gase der Lymphe und der Sekrete. 129
0,6ccm Kohlensäure durch 150 gem Oberfläche bei dem Drucke 760 erfordert,
finden wir aus der Gleichung (S. 57)
_ $sYPx
760
150..0,01.0,1.x
...100 ’
woraus © — 400 Minuten oder etwa 6'/, Stunden. Dies ist das gesuchte Minimum.
Daß das Blut im Verhältnis z. B. zum Wasser so langsam gesättigt wird, liegt
natürlich daran, daß es bei den sehr niedrigen Drucken verhältnismäßig bedeutende
Mengen Kohlenoxyd aufnimmt; 5 cem Wasser würden, um bei der Spannung
SL x 760 mit Kohlenoxyd gesättigt zu werden, nur 0,00009 ccm CO aufnehmen,
oder 0,6 =
"100
während dagegen 5ccem Blut 0,6 ccm oder etwa 6500 mal so viel absorbieren.
Dritter Abschnitt.
Die Gase der Lymphe und der Sekrete.
1. Kapitel. Die Lymphe.
Die Menge der Gase in der Lymphe wurde von Hammarsten!)
bestimmt. Sauerstoff ist hiernach nur in geringer Menge in der Lymphe
enthalten; läßt man die Versuche unberücksichtigt, wo Beimischung von Blut
_ vorkam, so erhält man als Durchschnitt von fünf Bestimmungen (I. e. 8. 123,
Nr. 4 bis 8) nur 0,05 Vol.-Proz. Besonderes Gewicht darf man der Ziffer
der zweiten Dezimale nicht beilegen, da der Fehler auf 0,03 Vol.-Proz. anzu-
schlagen ist (l. c. S. 127); es wird deshalb auch nicht berechtigt sein, eine
Berechnung der O,-Spannung zu versuchen, die ja sonst, da der Absorptions-
koeffizient bekannt ist, möglich wäre. Da der Stickstoff bei denselben Ver-
suchen durchschnittlich 1,47 Vol.-Proz. beträgt, mithin die Menge übersteigt,
die bei Körpertemperatur und Spannung der Atmosphäre (etwa 1 Vol.-Proz.)
von der Flüssigkeit aufgenommen werden würde, muß man wahrscheinlich
wegen Eindringens atmosphärischer Luft eine kleine Korrektion anbringen,
wodurch die Sauerstoffmenge noch ferner vermindert würde. In der Er-
stickungslymphe ist der Sauerstoffgehalt, wie zu erwarten, noch geringer
(Tschiriew2).._ Die Menge der Kohlensäure beträgt in Hammarstens
oben zitierten fünf Bestimmungen durchschnittlich 41,6 Vol.-Proz. (Maximum
— 47,1, Minimum = 37,5). Es ist anzunehmen, daß ihre Bindung auf ana-
loge Weise wie im Serum stattfindet; so findet man auch, daß die Lymphe
einige Kohlensäure enthält, die sich nur durch Zusatz von Säure gewinnen
läßt. Die Menge der Kohlensäure ist in der Lymphe geringer als im venösen
Blute (in Erstickungslymphe geringer als in Erstickungsblut). Über die
Verhältnisse der Spannungen geben die Mengebestimmungen natürlich keinen
unmittelbaren Aufschluß, da dieselben ja nicht allein von der Menge, son-
dern auch von der Bindungsweise abhängig sind, und obschon letztere in
Lymphe und Serum analog ist, kann die relative Menge der verschieden-
artigen kohlensäurebindenden Stoffe (Alkalien, Albuminstoffe) dennoch sehr
wohl verschieden sein, was einen Unterschied der Spannungen für dieselben
!) Arb. a. d. physiol. Anstalt zu Leipzig 6, 121, 1871. — °) Ebenda 9,
38, 1874.
Nagel, Physiologie des Menschen. 1. 9
130 Gase normaler und pathologischer Sekrete.
Mengen bewirken wird. Indes findet Straßburg!) durch direkte Spannungs-
messungen, daß die OO,-Spannung in der Lymphe in der Tat geringer ist als
im venösen Blute.
2. Kapitel. Normale und pathologische Sekrete.
Die Menge der Kohlensäure in den Sekreten ist wesentlich.davon ab-
hängig, ob dieselben Bikarbonate enthalten und somit auf Lackmus alkalisch
reagieren oder auch nicht; die alkalischen Sekrete enthalten eine Menge, die
oft größer ist (zuweilen bis etwa 80 Vol.-Proz.) als die gewöhnlich im Blute
gefundene; in sauren Sekreten ist die Menge bedeutend geringer (etwa 10 Vol.-
Proz.), beide Arten von Sekreten zeigen aber erhebliche Schwankungen.
Wegen der näheren Verhältnisse können wir bezüglich der normalen Sekrete
auf Pflügers?), bezüglich der pathologischen auf Ewalds:) Unter-
suchungen verweisen.
Bedeutendes Interesse knüpft sich an die Menge des Sauerstoffs in
den Sekreten, insofern wir in den Fällen, wo der Sauerstoff in der Flüssigkeit
einfach gelöst ist, aus seiner Menge auf seine Spannung zu schließen im-
stande sind, was, wie oben gesagt, mit der Kohlensäure, deren Bindung eine mehr
komplizierte ist, nicht möglich ist. Soll die berechnete Spannung aber der
wirklichen entsprechen, so darf natürlich während der für die Bestimmung
des Gases notwendigen Manipulationen kein Verbrauch von Sauerstoff statt-
finden. Dies geschieht z. B. mit der Galle und der Milch (Pflüger); hin-
sichtlich der letzteren Flüssigkeit fand. ich durch eigene Versuche, däß der
darin gelöste Sauerstoff beim Stehen sehr schnell schwindet, und zwar um
so geschwinder, je reicher an Fettkügelchen die Milch ist; der Sauerstoff-
verbrauch rührt also von Oxydation des Fettes her.
Als ein zu derartigen Bestimmungen besonders geeignetes Sekret erwies
sich dagegen der Speichel, was wohl damit im Zusammenhange steht, daß
sein Gehalt an festen Bestandteilen ein sehr geringer ist (etwa 0,5 Proz.). Sein
Absorptionskoeffizient kann deshalb von dem des Wassers auch nur sehr
wenig verschieden sein. Versuche über den Sauerstoffgehalt dieses Sekretes
wurden zuerst von Pflüger) angestellt; der benutzte Speichel wurde aus
der submaxillaren Drüse eines Hundes unter Reizung des Drüsennervs secer-
niert, und, wie aus untenstehenden Zahlen hervorgeht, ist die wesentlichste
Fehlerquelle bei solehen Versuchen, das Eindringen atmosphärischer Luft
von außen her, in diesen Bestimmungen vermieden, indem der Stickstoffgehalt
an Größe fast völlig der unter den betreffenden Umständen in der Flüssigkeit
einfach gelösten Menge entspricht. Die Durchschnittszahlen der beiden von
Pflüger gefundenen, nahe übereinstimmenden Werte sind
Sauerstoff —= 0,66 Vol.-Proz.; Stickstoff —= 0,99 Vol.-Proz.
Da 100 ccm Wasser bei 38° und der Stickstoffspannung der Atmosphäre
0,90 Vol.-Proz. aufnehmen, können bei den Speichelversuchen wohl höchstens
0,09 Vol.-Proz. Stickstoff, mithin !/, desselben oder 0,02 Vol.-Proz. Sauerstoff
von außen her eingedrungen sein. Nach Einführung dieser übrigens bedeu-
tungslosen Korrektion erhält man das Volumprozent des Sauerstoffs — 0,64;
!) Pflügers Arch. 6, 94, 1872. — ?) Ebenda 2, 178, 1869. — ®) Arch. f. Anat.
u. Physiol. 1873, 8. 677. — ®) l. ce. 8. 177. — °) Pflügers Arch. 1, 686, 1868.
WE er ne
Lungengaswechsel. 131.
aus dem Absorptionskoeffizienten des Wassers bei 38° (0,0237) läßt sich die
diesem Sauerstoffgehalte entsprechende Spannung berechnen, die sich als
etwa 200 mm oder 26,5 Proz. Sauerstoff bei 760 mm Totaldruck erweist.
Später hat R. Külz!)' die Gase des Speichels untersucht. In seinen .
Versuchen ist der Stickstoffgehalt größer als in Pflügers Versuchen, was
durch Eindringen atmosphärischer Luft zu erklären ist. Die 11 Versuche
ergeben durchschnittlich 1,54 Vol.-Proz. Sauerstoff und 3,79 Vol.-Proz. Stick-
stoff. Nimmt man an, daß der Speichel ebensoviel Stickstoff enthielt wie
in Pflügers Bestimmungen, nämlich 0,99 Vol.-Proz., so werden 3,79 — 0,99
— 2,80 Stickstoff, mithin !/;, davon oder 0,70 Vol.- Proz. Sauerstoff in Abzug
zu bringen sein. Der tatsächliche Sauerstoffgehalt würde unter diesen Um-
ständen 0,8 Vol.-Proz. betragen, was mit der air von Pflüger gefundenen
Zahl so ziemlich übereinstimmt.
Von pathologischen Exsudaten (Pleuritis und Hydrothorax) untersuchte
Ewald?) eine größere Reihe. Nimmt man den Durchschnitt seiner Versuche,
so erweist sich der Gehalt an Gasen als Sauerstoff = 0,55 Vol.-Proz. und
Stickstoff 1,87 Vol.-Proz. Rechnet man wie oben den tatsächlichen Stickstoff-
gehalt als 0,99 Vol.-Proz., so erhält man als Korrektion für von außen ein-
gedrungenen Sauerstoff 0,22 Vol.-Proz., und der wirkliche Sauerstoffgehalt
‘ wird 0,33 Vol.-Proz.; das entspricht einer Spannung von 109 mm oder
14,3 Proz. Sauerstoff, wenn der Absorptionskoeffizient dieser Flüssigkeiten
gleich dem des Serums gesetzt wird (0,0231 bei 38%). Im Maximum fand
Ewald einen Sauerstoffgehalt, der auf die soeben angeführte Weise korrigiert
0,60 Vol.-Proz. betrug (l.c.S.672,Nr. HI); die Spannung hiervon ist 197 mm
oder 26 Proz. Sauerstoff bei 760mm Totaldruck; in diesem Falle enthielt die
Flüssigkeit nur sehr wenige Ilymphoide Körperchen, die dagegen in bedeu-
tender Menge in der Flüssigkeit angetroffen wurden, deren Sauerstoffgehalt
der niedrigste war (]. c. S. 672, Nr. IV), nämlich 0,12 Vol.-Proz., einer Span-
nung von 39 mm oder 5,2 Proz. Sauerstoff entsprechend.
Respiratorischer Gaswechsel.
Erster Abschnitt.
Der Gaswechsel dureh die Lungen.
1. Kapitel. Größe des Lungengaswechsels und Zusammensetzung
der Exspirationsluft.
Der Austausch von Gasen zwischen dem Organismus und der umgebenden
Atmosphäre geschieht beim Menschen und bei den übrigen höheren Wirbel-
tieren fast ausschließlich mittels der Lungen, wenngleich auch andere Ober-
flächen (Haut und Darm) in geringer Menge an demselben teilnehmen. Es
handelt sich hierbei in erster Linie um die Aufnahme von Sauerstoff aus
der eingeatmeten atmosphärischen Luft und um die Abgabe von Kohlen- .
!) Zeitschr. £. Biol. 1887, 8. 321. — ?) Arch. f. Anat. u. Physiol. 1873, 8. 663.
9*
132 Größe des Lungengaswechsels.
säure; die Exspirationsluft wird mithin ärmer an Sauerstoff und reicher _
an Kohlensäure als die eingeatmete Luft. Die Änderungen, welche die Luft
sonst noch in dem Respirationsorgane erleidet, bestehen, außer in wechselnder
Beimischung sehr geringer wohl hauptsächlich aus dem Darme resorbierter
Mengen Wasserstoffs und Kohlenwasserstoffs, in Erwärmung bis zur Körper-
temperatur und in Sättigung mit Wasserdampf bei dieser Temperatur;
Erwärmung und Sättigung finden hauptsächlich schon in den zuleitenden
Luftwegen statt, wodurch die Alveolarmembran der Lunge selber vor größerer
Temperaturveränderung und Wasserverdampfung geschützt wird. Da die
eingeatmete Luft gewöhnlich die: Zimmertemperatur hat und bei dieser
Temperatur nur unvollständig mit Wasserdampf gesättigt ist, wird also mit
der Exspirationsluft eine Wasserausscheidung vorgehen. .Die Größe dieser
Ausscheidung, die selbstverständlich mit der Temperatur und dem Sättigungs-
grade der Einatmungsluft variiert, kann unter gewöhnlichen Verhältnissen
für den Menschen auf etwa 450g in 24 Stunden angeschlagen werden.
Die Menge des Stickstoffs in der eingeatmeten atmosphärischen Luft
ändert sich nicht bei der Respiration; dies geht, was längere. Zeiträume
betrifft, aus Versuchen über die gesamte Stickstoffbilanz hervor; es läßt
sich aber auch durch direkte Messungen der Menge und Zusammensetzung
der ein- und. der ausgeatmeten Luft konstatieren, wenn die Untersuchung, -
die gerade in betreff dieser Gase nicht ohne Schwierigkeiten ist, mit hin-
länglicher Sorgfalt angestellt wird, so daß man eine Beimischung von Gas
aus dem Darm und der Haarschicht vermeidet. Auch die Menge des Argons
bleibt bei der Respiration unverändert.
Die Gröbße der Sauerstoffaufnahme und der Kohlensäureabgabe unter ver-
schiedenen Verhältnissen, z.B. bei verschiedener Ernährung, Temperatur und
Arbeit, kommt in einer anderen Abteilung dieses Handbuches zur Behand-
lung, wo auch die zu solchen Bestimmungen angewandten Methoden ihre
Beschreibung finden. Indes sind hier doch einige Angaben über die durch-
schnittliche Größe des Stoffwechsels beim Menschen anzuführen !), die bei
der Behandlung der speziellen Funktionen der Atmungsorgane zur Anwendung
kommen. Die Kohlensäureabgabe erwachsener Menschen, die, ohne sich in
absoluter Ruhe zu befinden, keine eigentliche körperliche Arbeit verrichten,
ist im Durchschnitt für Tag und Nacht auf 0,5g (etwa 250 ccm) pro Kilo-
gramm und Stunde anzusetzen. Für ein Körpergewicht von 70kg beträgt
die Abgabe in 24 Stunden also im ganzen 428 Liter. Während vollständiger
- Ruhe (im Schlafe) ist die Abgabe geringer und etwa auf 0,32 g (etwa 160ccm)
pro Kilogramm und Stunde anzuschlagen; für kürzere Zeiträume sind wäh-
rend des Schlafes noch kleinere Werte (0,27 g) observiert worden. Als
Maximum der Kohlensäureabgabe hat man bei harter Arbeit während kürzerer
Zeit (fast eine Stunde) bis 2,35 g pro Kilogramm und Stunde beobachtet,
mithin 4,7 mal so viel als während relativer Ruhe.
Die gleichzeitig aufgenommene Sauerstoffmenge ist von der Art der
Stoffwechselumsätze abhängig, von denen die Kohlensäureabgabe herrührt.
Unter gewöhnlichen Verhältnissen kann man rechnen, daß für je 85 ccm pro-
!) Tigerstedt, Der Stoffwechsel (s. dieses Handbuch).
Respiratorischer Quotient. — Zusammensetzung der Ausatmungsluft. 133
duzierter Kohlensäure 100 cem Sauerstoff aufgenommen werden; die Zusammen-
setzung der umgesetzten Nahrung wird dann als 120g Albumin, 100g Fett
und 300 g Kohlenhydrat gerechnet. Der respiratorische Quotient
u — das Verhältnis des Volumens abgegebener Kohlensäure zu dem des
2
aufgenommenen Sauerstoffs — ist also 0,85, und die in 24 Stunden von
einem Menschen von 70kg während relativer Ruhe aufgenommene Sauer-
stoffmenge beträgt 504 Liter. Ändert sich die Art des Umsatzes, z.B. wegen
anderer Zusammensetzung der Nahrung oder wegen harter Arbeit, so ändert
sich auch die Größe des Quotienten. Für kürzere Perioden kann aber
auch’auf andere Weise eine Änderung des Quotienten entstehen. Da die
Aufnahme von Sauerstoff und die Abgabe von Kohlensäure durch das Atmungs-
organ wesentlich voneinander unabhängige Prozesse sind, können veränderte
Bedingungen des Gaswechsels, z. B. Abänderung der Atemgröße, eine Zeit-
lang das gegenseitige Verhältnis verschieben. Ebenfalls kann die Bildung
einer Säure, die die Kohlensäure aus den kohlensauren Alkalien des Blutes
auszutreiben vermag, auf kurze Zeit die Kohlensäureabgabe erhöhen, so daß
der Quotient steigt. Es darf auch nicht außer acht gelassen werden, daß die
Verbrennung der organischen Stoffe unter Bildung intermediärer Produkte
vorgeht; unter Umständen wird deshalb das Verhältnis der Kohlensäure-
produktion zum Sauerstoffverbrauch eine Zeitlang ein anderes als das dem
totalen Prozeß entsprechende werden können, wie es z. B. bei den Tauch-
vögeln beobachtet ist. Alle dergleichen Änderungen des Quotienten werden
der Natur der Sache zufolge jedoch wieder ausgeglichen, und für eine nicht
gar zu kurze Periode werden deshalb die Art und die relative Menge der
umgesetzten Stoffe für den Wert des respiratorischen Quotienten allein maß-
gebend sein. \ 3
Die prozentige Zusammensetzung der ausgeatmeten Luft. Die ein-
geatmete atmosphärische Luft enthält durchschnittlich 20,96 Proz. Sauerstoff,
78 Proz. Stickstoff, 1 Proz. Argon und 0,04 Proz. Kohlensäure. Ihre Zu-
sammensetzung ist nahezu konstant, und die Zusammensetzung der Aus-
atmungsluft ist daher abhängig teils von der Größe des Stoffwechsels, teils
von der Menge der gleichzeitig die Lunge durchströmenden Luft. Beide diese
Momente sind variabel, und die Ausatmungsluft kann deshalb zuweilen ziemlich
verschiedene prozentige Zusammensetzung zeigen. Unter normalen Ver-
hältnissen paßt die Atemgröße sich indes der Intensität des Stoffwechsels so
an, daß die Zusammensetzung der Exspirationsluft keine bedeutenden Schwan-
kungen darbietet (s. S. 168).
Ein Wert für den durchschnittlichen Gehalt der Ausatmungsluft an
Kohlensäure und Sauerstoff läßt sich auf folgende Weise berechnen. Wäh-
rend relativer Ruhe und in wachem Zustande ist die Atemgröße auf 8500 ccm
pro Minute (17 Atemzüge & 500 ccm) anzuschlagen; die Kohlensäureabgabe
beträgt durchschnittlich für 24 Stunden 250ccm pro Kilogramm und Stunde;
setzt man die Abgabe während achtstündigen Schlafes auf 160 ccm pro Kilo-
gramm und Stunde an (s. oben), so erhält man für die übrigbleibenden
16 Stunden die Abgabe von 295 ccm CO, pro Kilogramm und Stunde Da
der respiratorische Quotient — 0,85 ist, wird die gleichzeitige Sauerstoff-
134 Art der Prozesse bei dem Lungengaswechsel.
aufnahme 347 ccm. Hieraus berechnet sich bei obengenannter Atemgröße
und unter Berücksichtigung, daß die absolute Menge des Stickstoffs sich bei
der Respiration nicht ändert, die Zusammensetzung der Exspirationsluft als
4,05 Proz. CO, und 16,39 Proz. O,.
Diese durchschnittlich berechneten Werte stehen in guter Übereinstim-
mung mit den selbstverständlich stets etwas schwankenden einzelnen Bestim-
mungen von Speck!) und Loewy?).
Die Kohlensäureausscheidung und die Sauerstoffaufnahme sind das Pro-
dukt der durch die Alveolarmembran hindurch vorgehenden Wechselwirkung
des Blutes und der Lungenluft. Im folgenden untersuchen wir erst die
Natur der hieran betätigten Kräfte und darauf den Einfluß, den die Ände-
rung der Atemgröße und der Blutströmung durch die Lunge auf den Prozeß
hat, wie auch, auf welche Weise das Nervensystem Einwirkung übt. Ein
späterer Abschnitt wird dann die respiratorische Wechselwirkung zwischen
dem Blute und dem Gewebe (die innere Atmung) behandeln. Nachdem wir
darauf den Einfluß auseinandergesetzt haben, den eine Änderung der Zu-
sammensetzung und des Druckes der Atmosphäre auf den respiratorischen
Stoffwechsel hat, werden wir schließlich die Haut- und die Darmrespiration
und die fötale Respiration beschreiben.
2. Kapitel. Untersuchungen über die Art der Prozesse, welche den
Lungengaswechsel vermitteln.
In den Lungen findet ein Gasaustausch statt, mittels dessen der Sauer-
stoff der in den Lungenalveolen enthaltenen Luft zum Teil vom Blute auf-
genommen wird, während Kohlensäure aus dem Blute in die Alveolenluft
entweicht. Es liegt nahe, eine solche Wanderung von Gasen aus dem Blute
und in dasselbe durch die Alveolenwände hindurch als eine einfache Diffusion
durch die wasserhaltige Membran, die das Blut und die Lungenluft vonein-
ander trennt, aufzufassen. Die Membran, welche die Gase passieren, besteht
indes aus lebenden Zellen, und die Sache könnte sich deshalb auch anders
verhalten; möglicherweise könnten die Zellen, wie es tatsächlich mit dem
Epithel anderer Drüsen der Fall ist, an der stattfindenden Aufnahme und
Ausscheidung aktiv teilnehmen, so daß das Ergebnis ein anderes würde,
als wenn ein Diffusionsprozeß der bestimmende Faktor wäre. Selbstverständ-
lich vermag nur die Erfahrung zu entscheiden, welche unter diesen Möglich-
keiten das Rechte trifft. Der einzuschlagende Weg muß der sein, daß wir
durch Bestimmungen der physikalischen Verhältnisse, speziell der Gas-
spannungen im Blute und in der Alveolenluft, untersuchen, inwiefern anzu-
nehmen ist, daß die in den einzelnen Fällen tatsächlich ausgeschiedenen und
aufgenommenen Gasmengen unter den eben beobachteten Spannungsverhält-
nissen die Membran mittels Diffusion passiert haben. Die allererste Forde-
rung, die gestellt werden muß, damit die Diffusion als der Hauptfaktor des
Gaswechsels in Betracht kommen kann, ist natürlich die, daß die Gase sich
in der Richtung auf die niedere Spannung zu bewegt haben. Hinsichtlich
!) Physiologie des menschlichen Atmens 1892, 8. 11. — ?) Pflügers Arch. 43,
523, 1888.
‚Größe der Lungenoberfläche. 135
des Sauerstoffs darf daher in solchem Falle die Gasspannung des die Lunge
verlassenden Blutes (des Arterienblutes) niemals von höherem Werte befunden
werden, als die gleichzeitige Spannung dieses Gases in der Alveolenluft, aus
der dasselbe faktisch stammt; umgekehrt hinsichtlich der Kohlensäure.
Nun zeigen Versuche, die wir unten näher analysieren werden, wie diese
Forderung so wenig befriedigt wird, daß wir nicht nur in einzelnen Bestim-
mungen, sondern in der weit überwiegenden Anzahl derselben für die Gas-
spannungen Werte finden, welche die völlige Erklärung des Gaswechsels in
den Lungen durch Annahme einer Diffusion zur Unmöglichkeit machen.
Diese Gase haben sich im Gegenteil von Orten mit niederem nach Orten mit
höherem Partialdruck bewegt; dies muß einer spezifischen Tätigkeit der Zellen
der Membran zu verdanken sein, und wir finden also in der Lunge einen
besonderen Prozeß, die Gassekretion, anderen Drüsensekretionen analog.
Der Organismus ist mithin imstande, auch was die Lunge betrifft, inner-
halb gewisser Grenzen von den äußeren Umständen unabhängig, die Inten-
sität der Funktion den Ansprüchen anzupassen, die der augenblickliche
“ Stoffwechsel an dieselbe stellt; eine ganze Reihe neuer Gesichtspunkte betreffend
die Funktion der Lunge bietet sich hier zur Untersuchung dar. Den Nach-
weis der aktiven Zellentätigkeit dieses Organes gewann man durch ein-
gehendes und detailliertes Studium der physikalischen Verhältnisse, unter
denen der Gaswechsel vorgeht; eben durch die weitere Entwickelung unserer
Kenntnis dieser Verhältnisse geht auch der Weg zur Lösung der spezielleren
Aufgaben, die eine natürliche Folge des Nachweises der spezifischen Lungen-
sekretion sind. In dieser Beziehung wird sich im folgenden die Theorie von
der In- und Evasion der Gasarten durch die Oberfläche der Flüssigkeit
(S. 60) als wichtig erweisen.
$ 1. Größe der respiratorischen Oberfläche und Zusammen-
setzung der Gase in den Hohlräumen der Lunge.
Der Nachweis der aktiven Tätigkeit der Zellen und das nähere Studium
derselben stützen sich, wie oben erwähnt, auf Untersuchungen der Gas-
spannungen des Arterienblutes und der Alveolenluft; zugleich ist hierbei die
Kenntnis der Beschaffenheit der Lungenmembran, besonders der Größe ihrer
Oberfläche, von Bedeutung. Die Beschaffenheit der Alveolenmembran und
die Zusammensetzung und den Druck der Luft in den Alveolen erörtern
wir im folgenden, bevor wir zur Darstellung der über die Gasspannungen
gewonnenen Resultate schreiten.
Die respiratorische Oberfläche der Lungen.
Um ins Blut einzudringen, müssen die Gase erst das Epithel der Lunge
passieren, das aus zwei Arten von Zellen ‚besteht: teils aus großen Plättchen,
teils, in geringerer Anzahl, aus kleineren Zellen ; darauf müssen sie die Endothel-
zellen der Kapillargefäße durchdringen. Es wäre denkbar, daß sämtliche
diese Arten von Zellen der Sitz spezifischer Tätigkeit bei der Gassekretion
wären; die Endothelzellen der Gefäße können hier um so weniger außer acht
gelassen werden, als das Stattfinden einer Gassekretion in der Lunge ganz
natürlich den Gedanken auf die Möglichkeit einer solchen auch in den Ge-
136 Größe der Lungenoberfläche.
weben lenkt, wo sie indes bisher noch nicht experimentell nachgewiesen
wurde. Unter den anatomischen Verhältnissen mag hier übrigens nur folgen-
der Punkt berührt werden. Bichat!) wies nach, daß die Oberfläche der
lebenden Lunge bei Drucken, wie angestrengte Atembewegungen sie bei
geschlossener Trachea auf die gefüllten Lungen zu üben vermögen, für kleine
Luftbläschen passabel ist, die von da ins Blut eindringen. Füllt man z.B.
einem Hunde die Lungen mit Wasserstoff und verhindert man die Ausatmung,
so wird das aus einer in der A. femoralis angebrachten Kanüle ausströmende
Blut zahlreiche feine Gasbläschen enthalten, die, wie ihre Brennbarkeit zeigt,
aus Wasserstoff bestehen. Die Frage wurde von Ewald und Kobert?)
näher untersucht, die fanden, daß ein Druck von etwa 35mm genügt, um
das Eindringen von Gas durch die Oberfläche der Lunge hervorzurufen, und
daß die Lunge, nachdem sie des Druckes entlastet wurde, normal zu fungieren
vermochte, ohne daß sich ein Zerreißen des Gewebes konstatieren ließ. Diese
Versuche gestatten wohl kaum eine andere Erklärung als die, daß die Luft
in der stark angefüllten erweiterten Lunge mittels des Druckes durch die
Zwischenräume zwischen den Zellen ins Innere hineingetrieben wird. Dies
ist insofern für die funktionellen Verhältnisse von Interesse, als dann anzu-
nehmen ist, daß von der spezifischen Tätigkeit der Zellen unabhängig eine
Diffusion durch diese Zwischenräume stattfindet; bedenkt man aber die ver-
hältnismäßig geringe Oberfläche, die denselben beizulegen ist, so wird die
Diffusion wohl nur einen geringeren Umfang haben können, besonders in
betreff des schwerer löslichen Sauerstoffs.
Die Größe der respiratorischen Oberfläche der Lungen wurde
beim Menschen durch Messung der Größe und der Anzahl der Alveolen be-
stimmt. Untersuchungen dieser Art stellte Aeby?°) an; er fand, daß die
Oberfläche der Lunge eines erwachsenen Mannes bei ruhiger Atmung 80 qm
beträgt. Zuntzt) berechnet aus dem Alveolendiameter (0,2 mm) und dem
Luftvolumen der Lunge (3000 ccm) die Oberfläche auf 90 qm. Dergleichen
Bestimmungen können übrigens nur annähernd sein und werden natürlich
auch überall im folgenden als annähernd betrachtet, wenn wir etwas aus ihnen
folgern wollen. Von diesem Gesichtspunkte aus ist die Übereinstimmung
zwischen den von Aeby und den von Zuntz ausgeführten Berechnungen be-
friedigend zu nennen. Die Differenz derselben entsteht übrigens im wesent-
lichen dadurch, daß Aeby für die Alveolen der zusammengefallenen Lunge
einen Durchmesser von 0,2mm findet, während Zuntz diesen Durchmesser
für die mäßig gefüllte Lunge gelten läßt. Im folgenden wollen wir, da, wie
Zuntz bemerkt, die Oberfläche wegen Hineinragens der Kapillarschlingen in das
Lumen der Alveolen eher zu niedrig angeschlagen wird, 90 qm als die an-
nähernde Größe der Oberfläche bei einem erwachsenen Manne (70. kg) rechnen.
Soll die Bestimmung auf Individuen geringeren Gewichts angewandt werden,
so möchte es wohl kaum zweifelhaft sein, daß die Lungenoberfläche bei der
Berechnung nicht dem Gewichte, sondern der Körperoberfläche proportional an-
zusetzen ist, da die Intensität des Stoffwechsels ja hauptsächlich von letzterer
!) Sur la vie et la mort. Paris 1856, p. 221. — ?) Pflügers Arch. 31, 160, 1883. —
®) Bronchialbaum der Säugetiere und des Menschen. Leipzig 1880, 8. 90.— *)Hermann,
Handbuch d. Physiol. 4, 90.
ie ri > 429 > 2, 4
Bestimmung der Lungenoberfläche durch Invasion von Kohlenoxyd. 137
abhängt. Da die Körperoberfläche sich als dritte Wurzel des Quadrats des
Gewichts verhält, wird mithin die Oberfläche der Lunge für"das Körpergewicht
a ie
von nkg gleich 90. (+) Is qm.
Eine neue, von den bisher angewandten dem Prinzipe nach verschiedene
Methode zur Bestimmung der Lungenoberfläche ist folgende, die sich auf die
Theorie von der Invasion der Gase in die Oberfläche von Flüssigkeiten
gründet. ‘Unter Grehants!) Versuchen über die Absorption des Kohlenoxyds,
wenn dieses in verschieden prozentigen Mengen von Hunden eingeatmet
wird, finden sich einige Bestimmungen, wo die Kohlenoxydprozente der Ein-
atmungsluft so niedrig sind, daß die Absorption nicht nur der Zeitdauer,
sondern auch dem Partialdruck des Kohlenoxyds völlig proportional ist.
Dieses Verhalten tritt ein, wie untenstehende Tabelle zeigt, wenn der Partial-
druck 1/30000 oder darunter ist.
Mischung von CO absorbiert von 100 ccm Blut
Luft und CO in einer Stunde | in zwei Stunden
"1000 8,0 10P
Yıs 000 0,59 iS
7/20 000 0,44 nen
"/s0.000 0,22 i Ye
Bei hinlänglich niedrigem Partialdruck des Kohlenoxyds wird die Ab-
sorption durch die Lungen während gegebener Zeit also der Spannung des
Gases genau proportional. Aus dieser Proportionalität folgt, daß die durch
die Lungen absorbierte Kohlenoxydmenge mit derjenigen Menge identisch
ist, welche durch Invasion, die ja ebenfalls der Spannung proportional ge-
- schieht, in die feuchte oberflächliche Schicht der Lunge eindringt. Die Pro-
portionalität der absorbierten Menge zur Spannung zeigt uns also, daß die
Evasion aus der Flüssigkeit in die Luft unter diesen Verhältnissen unmeßbar
geworden ist; die in die Flüssigkeit eingedrungene Menge Kohlenoxyd wird
‘also so geschwind entfernt, daß dessen Spannung in der oberflächlichen
Schicht praktisch genommen gleich Null wird, was unter Verhältnissen wie
den hier vorliegenden natürlich: stets stattfinden muß, wenn man nur die ein-
dringende Menge hinlänglich klein macht. Wird die eindringende Menge
größer, so muß selbstverständlich auch die Evasion eine Rolle spielen, und
die durch die Lunge absorbierte Menge kann dann nicht mehr der Spannung
proportional sein. Aus der Tabelle ist ersichtlich, daß ein solcher Zustand
bereits eintritt, bevor der Partialdruck des Kohlenoxyds !/;000 Atmosphäre
erreicht.
Bei den niedrigsten Partialdrucken ist also die absorbierte Kohlenoxyd-
menge gleich der Menge, die der Berechnung zufolge unter den vorhandenen
physikalischen Verhältnissen durch Invasion in die oberflächlichsten feuchten
Schichten der Lunge eindringt. Dies setzt uns in den Stand, die Größe der
1) Compt. rend. de l’acad. des sciences 125, 736, 1897. L’oxyde de carbone.
Paris 1903, p. 68.
138 Zusammensetzung der Alveolenluft.
respiratorischen Oberfläche der Lunge (s) zu berechnen. Ist M die in einer
Minute aufgenommene Gasmenge, p der Partialdruck und Y der Invasions-
koeffizient (0,010), so haben wir für die Invasion in die Feet (S. 57)
folgenden Ausdruck:
Y-5:D.
760
In Grehants letztem Versuche in der Tabelle werden in einer Stunde
von 100 cem Blut 0,22cem Kohlenoxyd aufgenommen; rechnen wir die Blut-
menge als !/,; des Körpergewichts, so werden also pro Kilogramm Tier und pro
Minute 0,0028ccm CO aufgenommen (M). Da der Totaldruck in der Lunge
1
60 000
— 0,0118 mm, und die 1 kg Körpergewicht entsprechende Oberfläche (s) der
nach Abzug der Wasserdampftension 710 beträgt, wird p = 710-
Lunge ergibt sich dann aus der Formel als 1,80 qm. Hierbei ist die CO-Spannung
der Lungenluft gleich der der Einatmungsluft gesetzt; in der Tat wird sie
ein wenig geringer sein, da ein Teil des Kohlenoxyds fortwährend absorbiert
wird. Nach Grehant!) ist die absorbierte Menge auf in maximo Y, der
eingeatmeten Menge anzuschlagen. Ziehen wir dies in Betracht, so wird die
Oberfläche 5/, des gefundenen Wertes oder 2,25qm pro Kilogramm. Wie
leicht zu ersehen, ist dies ein Maximum und der oben gefundene Wert ein
Minimum der Oberfläche, die-mithin durchschnittlich auf 2,0qm pro Kilo-
gramm angesetzt werden kann.
Die Lungenoberfläche pro Kilogramm Tier ist, wie früher gesagt, bei
Individuen verschiedenen Körpergewichts etwas verschieden; rücksicht-
lich des von Grehant benutzten Hundes ist das Gewicht nicht angegeben.
Nimmt man an, daß derselbe das durchschnittliche Gewicht (10kg) der von
demselben Aakr zu analogen Versuchen angewandten Tiere hatte, und geht
man, wo die Lungenoberfläche bei Hunden verschiedenen Körpergewichtes be-
rechnet werden soll, von diesem Gewichte aus, so wird der Fehler jedenfalls
keine größere Bedeutung erreichen.
Zum Vergleich mit der mittels der Invasionsmethode für Hunde ge-
fundenen Zahl, 2qm pro Kilogramm, bemerken wir, daß durch Messung und
Berechnung (s. oben) die Lungenoberfläche des Menschen als 1,28qm pro
Kilogramm für ein Körpergewicht von 70kg gefunden wird; hieraus berechnet
sich nach der oben angegebenen Formel für Individuen von 20 und 10kg
die Lungenoberfläche auf 1,95 bzw. 2,46 qm. Die Größe der Oberfläche pro
Kilogramm ist also bei Menschen und Hunden im Verhältnis zur Körperober-
fläche jedenfalls nicht sehr verschieden.
Die Zusammensetzung der Luft in den Hohlräumen und die Sauerstoff-
spannung in der Oberfläche der Lunge°).
Die Alveolenluft. Wie wir oben sahen ($:. 134), können wir den durch-
schnittlichen Gehalt der Exspirationsluft an Sauerstoff auf 16,4 Proz. und
deren Gehalt an Kohlensäure auf 4,1 Proz. ansetzen, wenn atmosphärische
Luft eingeatmet wird. Die Luft, die die Hohlräume der Alveolen verläßt,
)l. ce. 8 65. — °) Vgl. Grehant, Journ. de l’anat. et de la physiol. 1,
523, 1864; Bohr, Skand. Arch. 2, 248, 1890; Loewy, Pflügers Arch. 58, 416, 1894.
Zusammensetzung der Alveolenluft. 139
wo sie durch die Lungenmembran mit dem Blut in Wechselwirkung tritt,
hat indes eine etwas andere Zusammensetzung, ist ärmer an Sauerstoff und
reicher an Kohlensäure als die schließlich ausgeatmete Luft. Die eingeatmete
Luft dringt nämlich nur zum Teil in die Alveolen selber hinein; ein Teil
derselben bleibt in den zuleitenden Luftwegen stehen, wo kein respiratori-
scher Stoffwechsel von Belang stattfindet, und aus denen sie deshalb ihrer
Zusammensetzung nach wesentlich unverändert ausgeatmet wird. Die Ex-
spirationsluft besteht daher aus einer Mischung der aus den Alveolen aus-
geatmeten abgeänderten Luft mit der in dem „schädlichen Raume“* (den
oberen Luftwegen, der Trachea, den Bronchien) stehenden Inspirationsluft.
Kennt man das Volumen eines einzelnen Atemzuges (A) und die Größe des
schädlichen Raumes (a), so läßt der Sauerstoff- und der Kohlensäuregehalt
der Alveolenluft sich leicht berechnen. Nennt man die prozentige Menge
eines dieser Gase in der Inspirationsluft J, in der Exspirationsluft E und in
der Alveolenluft x, so hat man!), da die Menge des betreffenden Gases in
der Exspirationsluft gleich der Summe seiner Mengen in der Luft aus den
Alveolen und im schädlichen Raume ist:
AE=(A—ax-+ aJ,
oder:
AE-aJ
Ve
Die Größe des schädlichen Raumes, die sich übrigens nur annähernd
bestimmen läßt, ist etwa 140 ccm (Loewy?). Bei ruhiger Respiration, wo
die Tiefe des Atemzuges 500 cem ist und die Exspirationsluft die oben an-
gegebene durchschnittliche Zusammensetzung hat, findet man mit Hilfe oben-
stehender Gleichung in der Luft aus den Alveolen 14,6 Proz. Sauerstoff und
5,6 Proz. Kohlensäure. Die Partialspannungen sind dann 104 bzw. 40 mm,
indem der Totaldruck in der zur Körpertemperatur erwärmten Lungenluft
nach Abzug der Wasserdampftension (etwa 50 mm) auf 710mm anzusetzen
ist. Die Zusammensetzung der -Alveolenluft weicht jedoch oft von einem
solchen Durchschnittswert nicht unbedeutend ab; nicht nur ist die Exspira-
tionsluft in ihrer Zusammensetzung beim ruhigen Atmen häufig von dem
angegebenen Durchschnitt etwas verschieden, sondern auch ist besonders
die Tiefe des Atemzuges Schwankungen unterworfen, was natürlich selbst
bei unveränderter Zusammensetzung der Exspirationsluft von Bedeutung
ist. Je kleiner das Volumen des einzelnen Atemzuges wird, um so
größeren Einfluß erhält natürlich der schädliche Raum, und um so geringer
wird, unter sonst gleichen Verhältnissen, der Sauerstoffgehalt der Alveolen-
luft; bei sehr oberflächlichen Atemzügen, wo die Tiefe sich dem Volumen
des schädlichen Raumes nähert, kann die Respiration ungenügend werden,
selbst wenn die totale Atemgröße wegen zunehmender Anzahl der Atemzüge
wie die normale wird.
Wir berechneten oben die Zusammensetzung der Alveolenluft in dem
Augenblick, da sie die Alveolen verläßt und ausgeatmet wird. Während der
Inspirationsphase erhält sie selbstverständlich eine etwas andere, sich der In-
spirationsluft mehr nähernde Zusammensetzung. In’ welchem Umfange dies
') Bohr, .e. — ®)l. ce.
140 Ventilationskoeffizient. — Bifurkaturluft.
stattfindet, hängt davon ab, wieviel Luft nach der Exspiration in den Lungen
zurückbleibt, und wie groß die inspirierte Luftmenge im Verhältnis zu der-
selben ist; tatsächlich sind die Verhältnisse so, daß die von den Respirations-
phasen hervorgerufene Änderung in der Zusammensetzung der Alveolenluft
nicht bedeutend ist. In den Lungen bleiben nämlich nach einer gewöhnlichen
Exspiration noch 2800 cem (1200 Residualluft und 1600 Reserveluft) zurück,
somit eine im Verhältnis zum einzelnen Atemzuge beträchtliche Menge. Die
Atemgröße ist 500 ccm, von denen jedoch, wie oben entwickelt, nur 360 cem
in die Alveolen gelangen und sich mit den nach der Exspiration zurück-
gebliebenen 2800 ccm vermischen. Der Ventilationskoeffizient oder das
Verhältnis der Menge frisch eintretender atmosphärischer Luft zu der nach
der Inspiration verhandenen gesamten Alveolenluft ist mithin nur etwa !/,.
Unter der gewiß annähernd richtigen Voraussetzung, daß die in die Alveolen
eintretende Luft sich momentan mit der bereits dort vorhandenen Luft
mischt, läßt sich die Zusammensetzung der Alveolenluft unmittelbar nach
der Inspiration berechnen; dieselbe enthält kaum 1/, Proz. mehr Sauerstoff
und weniger Kohlensäure als unmittelbar vorher. Die Zusammensetzung
der Alveolenluft schwankt also verhältnismäßig nur wenig mit
den Respirationsphasen. Wird die Tiefe des Atemzuges aber größer
als 500cem, so werden natürlich auch die Schwankungen der Alveolenluft
entsprechend mehr ausgeprägt.
Zu bemerken ist noch, daß der maximale Sauerstoffgehalt (und mini-
male Kohlensäuregehalt) der Alveolenluft, wie entwickelt, unmittelbar nach
der Inspiration eintritt. Die aus der Exspirationsluft berechnete Zu-
sammensetzung der Alveolenluft gibt dagegen nicht den minimalen Sauer-
stoffgehalt der letzteren, der erst nach beendigter Exspiration während der
Pause zwischen der Aus- und der Einatmung eintrifft. Die aus der Exspi-
rationsluft berechnete, oben angegebene Zusammensetzung der Alveolenluft
bezeichnet deshalb zunächst den mittleren Wert der Alveolenluft.
Die Bifurkaturluft!). Wo es, wie in den folgenden Versuchen über die
Gassekretion der Lunge, notwendig ist, in jedem einzelnen Falle die Zu-
sammensetzung der Alveolenluft möglichst annähernd zu bestimmen, kann
man mit Nutzen die Zusammensetzung der Exspirationsluft in dem Augen-
blick berechnen, da sie die Bifurkatur der Trachea passiert. Die Berechnung
geschieht nach der oben angeführten Formel, indem man die Atemgröße be-
stimmt und den schädlichen Raum, der hier aus der Trachea und der ein-
geführten Kanüle bis an die Ventilklappen besteht, in jedem einzelnen Falle
nach dem Tode des Tieres ausmißt. Die Bifurkaturluft enthält, da die
Bronchien nicht zum schädlichen Raum mitgerechnet sind, weniger Kohlen-
säure und mehr Sauerstoff als die Alveolenluft und steht mithin der Zu-
sammensetzung nach zwischen dieser und der Exspirationsluft. Sie gibt
indes, was von Wichtigkeit ist, einen für jeden einzelnen Versuch genau
bestimmbaren Grenzwert der Alveolenluft, der besonders in den nicht
seltenen Fällen unentbehrlich ist, wo die Oberflächlichkeit der Atmung die Zu-
sammensetzung der Exspirationsluft stark von der der Alveolenluft entfernt.
!) Vgl. Bohr, 1. ce.
Spannung der Gase in der Lungenoberfläche. 141
Die Spannung der Respirationsgase in der Lungenoberfläche. Ein physi-
kalischer Faktor von eingreifender Bedeutung für die Untersuchung der
Funktion der Lunge ist die Größe der Spannung, welche die Gase in der
unmittelbar an die Alveolenluft stoßenden Schicht der feuchten Lungenober-
fläche üben. Diese Größe läßt sich mittels der Lehre von der Invasion der
Gase in Flüssigkeiten berechnen auf Grundlage ähnlicher Betrachtungen wie
die, welche uns im vorhergehenden gestatteten, die Größe der Lungenober-
fläche mittels der Absorption des Kohlenoxyds zu berechnen. Was den
Sauerstoff betrifft, den wir zuerst behandeln, läßt die Aufgabe sich so
formulieren: Durch eine gegebene Oberfläche, die mit einer wenn auch noch
so dünnen flüssigen Schicht bekleidet ist, dringt ununterbrochen eine während
der Zeiteinheit konstante Sauerstoffmenge (M) ein. Eine wie große Differenz
(d) zwischen der Spannung des Sauerstoffs in der darüber stehenden Luft (p)
und in der Oberflächenschieht der Flüssigkeit (p,) ist hierzu erforderlich ?
Es ist für eine solche Anwendung der Invasionslehre natürlich ganz einerlei,
welche Theorie von der Passage der Gase durch die Lungenmembran an-
genommen wird; der Sauerstoff möge nun durch die Wand diffundieren oder
durch aktive Tätigkeit der Zellen ins Blut befördert werden, so muß der
Sauerstoff doch jedenfalls zuvor in die oberflächlichste Schicht eindringen.
Wo wir in der allgemeinen Einleitung die Invasionslehre behandelten,
fanden wir den Ausdruck für d eben mit Hinblick auf die hier gestellte
Aufgabe (S. 60). Man hat:
d=o— ==
» Pı ys
wo M die in einer Minute aufgenommene Menge Sauerstoff ist, s die Lungen-
oberfläche und Y die Invasionskonstante des Sauerstoffs. Für Wasser und
Plasma ist y 0,012; wir sahen oben, daß die bei relativer Ruhe aufgenommene
'Sauerstoffmenge auf etwa 350 ccm pro Kilogramm und Stunde anzusetzen ist;
die Lungenoberfläche ist (siehe oben) 1,25 qm pro Kilogramm. Hieraus be-
rechnen wir unter diesen Verhältnissen d (den Differenzdruck) als 29 mm.
Wir sind dann imstande, die Sauerstoffspannung in der Lungenoberfläche (p,)
zu berechnen, die gleich der Differenz zwischen der Spannung in der Alveolen-
luft (p) und dem Differenzdruck (d) ist; da p gleich 104mm, findet sich also
p, gleich 75mm. Während der Ruhe haben die Sauerstoffspannungen somit
folgende durchschnittliche Werte:
In der Inspirationsluft .. . ... . 158mm (21 Proz.)
a FERSEETRWORBREER U are 116 FOREN
» :»n Alveolenluft () ...... 104... 1605, )
» » Lungenoberfläche (p,): - -» » 75 „
Wächst die Sauerstoffaufnahme, so steigt der Differenzdruck derselben
proportional; denn in der obenstehenden Gleichung ist d mit M proportional.
Damit Sauerstoff in gegebener Menge in die Flüssigkeitsschicht der
Lungenoberfläche eindringe, muß der Sauerstoff in der Alveolenluft not-
wendigerweise eine solche Spannung haben, daß diese die Spannung in der
Lungenoberfläche um den Differenzdruck übersteigt. Es leuchtet nun ein,
daß das Leben nicht längere Zeit hindurch fortbestehenkann, wenn nicht’ die
Sauerstoffspannung der Alveolen einen absoluten Spannungswert hat, der
wenigstens ebenso groß als der Differenzdruck ist (etwa 30 mm bei Ruhe)
1423 Gassekretion in der Lunge.
Denn genügt der Druck nicht, um Sauerstoff in erforderlicher Menge in die
feuchte Lungenoberfläche zu befördern, so vermag selbstverständlich keine
noch so kräftige aktive Zellentätigkeit in der Membran Hilfe zu schaffen;
dies wird im Abschnitt von der Atmung bei niederen Sauerstoffdrucken aus-
führlicher erörtert werden. Hier hat es sich einstweilen nur darum gehandelt,
auf welche Weise die Spannung in der Oberfläche sich berechnen läßt, weil
eine solche Berechnung in den gleich unten zu besprechenden Versuchen über
die Gassekretion zur Anwendung kommt; wir werden dort sehen, daß diese
Betrachtungsweise uns mit Bezug auf die Lösung der Frage, in welchem
Umfange eine Gassekretion in der Lunge stattfindet, einen bedeutenden Schritt
vorwärts bringt.
Ganz analoge Berechnungen wie hinsichtlich des Sauerstoffs lassen sich
natürlich auch hinsichtlich der Ausscheidung der Kohlensäure aus der
Lungenoberfläche durchführen. Hier handelt es sich um die Größe der C0O;-
Spannung, die zur Evasion der entwickelten Menge Kohlensäure erforder-
lich ist. Die Berechnung ergibt, daß die Differenz zwischen der CO,-Spannung
in der Flüssigkeitsschicht und der CO,-Spannung in der Alveolenluft nur
wenige Millimeter beträgt; ihre Bestimmung in den einzelnen Fällen hat des-
halb kein Interesse.
$ 2. Nachweis und Beschreibung der Gassekretion
in der Lunge.
Eine Lösung der Frage, ob in der Lunge eine spezifische Gassekretion
stattfindet, muß sich, wie früher erwähnt, auf einen Vergleich der Spannung
der Gase im Blute mit deren Spannung in der Lungenluft stützen. Da die
Größe dieser Spannungen von mehreren Faktoren abhängt, die, wie die In-
tensität des Stoffwechsels, die Zusammensetzung der Blutgase, die Atemgröße,
auch unter normalen Verhältnissen variabel sind, müssen die Bestimmungen
teils der Gasspannungen des Blutes, teils der Zusammensetzung der Exspi-
rationsluft, aus der die Zusammensetzung der Lungenluft berechnet wird,
gleichzeitig an demselben Individuum unternommen werden, wenn die Ver-
suche maßgebend sein sollen. Zugleich sind bei dem einzelnen Versuchs-
individuum der „schädliche Raum“ und die Tiefe der Atmung zu bestimmen,
um die Bifurkaturluft berechnen zu können. Höchst wünschenswert ist end-
lich eine gleichzeitig mit den Spannungsversuchen ausgeführte Bestimmung
des Körpergewichts und der Intensität des respiratorischen Stoffwechsels;
hierdurch wird es möglich, die Sauerstoffspannung in der Oberflächenschicht
der Lunge zu finden.
Versuche betreffend die beim Lungengaswechsel wirksamen Kräfte.
Im folgenden teilen wir die Versuchsreihen in die älteren und die neueren
ein, je nachdem sie vor oder nach dem Nachweise der aktiven Sauerstoff-
aufnahme in der Lunge!) angestellt wurden; erst diese Untersuchungen
gaben nämlich den Anlaß zur Auffassung des Gaswechsels als einer eigent-
lichen Drüsensekretion.
!) Bohr, Skand. Arch. f. Physiol. 2, 236, 1890.
FE RETen.
2 ei nt u
Gassekretion in der Lunge. — Versuche von Wolffberg und von Straßburg. 143
Ältere Versuche.
Diejenigen Versuche, die teils in Ludwigs Laboratorium (Holmgren,
J. J. Müller, Worm-Müller), teils in Pflügers Laboratorium (Wolff-
berg, Straßburg, Nußbaum) über die Spannung im Blute und die Zu-
sammensetzung der Alveolenluft angestellt wurden, haben ihre große Bedeu-
tung für die Entwickelung der hier behandelten Fragen, geben jedoch keine
definitive Lösung der Frage nach der Gassekretion der Lunge. Da indes
auch in der neueren Zeit häufig die Ansicht,angetroffen wird, die von Wolff-
berg, Straßburg und Nußbaum gegebenen Versuchsreihen sollten die
Anschauung befürworten oder wohl gar beweisen, daß der Gaswechsel in der
Lunge sich vollständig durch Diffusion zwischen Blut und Alveolenluft er-
klären lasse, wird es notwendig, hier in Kürze zu untersuchen, worauf man
sich in dieser Beziehung stützt. Vorerst ist nun zu bemerken, daß die in
dieser Relation besonders wichtigen Bestimmungen der Sauerstoffspannung in
den soeben genannten Versuchsreihen nicht gelangen. Straßburg!) findet
die Sauerstoffspannung des Arterienblutes als im Mittel 3,9 Proz. einer Atmo-
sphäre, während alle späteren Untersucher [Herter2), Bohr), Fredericq *)]
teils unter Anwendung desselben Verfahrens, das Straßburg benutzte, teils
durch modifizierte Methoden Zahlen über 10 Proz. finden. Eine auch nur
annähernd richtige Bestimmung der Sauerstoffspannung des Blutes fand in
Straßburgs Versuchen also nicht statt, und es ist ausschließlich die Be-
trachtung der Kohlensäurepannungen, die man in diesen Versuchen
berücksichtigen darf und auch im wesentlichen berücksichtigt hat. Be-
sonders in zwei Beziehungen werden die Resultate als Beweis für die
Hinlänglichkeit der Diffusionshypothese angeführt. Erstens sollte mittels der-
selben nachgewiesen sein, daß die Kohlensäurespannung des Arterienblutes
genau mit der der Exspirationsluft übereinstimme, und zweitens sollte eine
ähnliche genaue Übereinstimmung der Kohlensäurespannung des Venenblutes
mit derjenigen der in einem Lungenläppchen abgesperrten Alveolenluft
stattfinden. |
- Was die genannte Übereinstimmung des Arterienblutes mit der Exspi-
rationsluft betrifft, durch die der vollständige Diffusionsausgleich zwischen
dem die Lunge verlassenden Blute und der Alveolenluft erwiesen sein sollte,
so ist meines Wissens dieses Argument für die Diffusionshypothese nicht von
Wolffberg oder Straßburg aufgestellt, von denen die betreffenden Bestim-
mungen herrühren, sondern von späteren Autoren). Der Sachverhalt ist
aber folgender. Straßburg ®) stellte mittels eines Pflügerschen Tonometers
eine Reihe von Versuchen über die Kohlensäurespannung des Arterienblutes
an, die er im Mittel als 2,8 Proz. einer Atmosphäre befand, zwischen 2,2 und
3,8 schwankend. Wolffberg’) gibt die durchschnittliche Zusammensetzung
der Exspirationsluft bei Hunden als 2,8 Proz. CO, und 16 Proz. O, an; seine
Zahlen sind jedoch nicht die Durchschnittszahlen für die Exspirationsluft
normaler Hunde, was sich schon aus dem respiratorischen Quotienten ersehen
‘) Pflügers Archiv 6, 96, 1872. — ?) Zeitschr. f. physiol. Chem. 3, 98, 1879. —
®) Skand. Arch. 2, 263, 1890. — *) Zentralbl. f. Physiol. 7, 33, 1893. — °) Frede-
ricgq, Arch. de Biol. 14, 107, 1896. — °) Pflügers Archiv 6, 77, 1872. —
7) Ebenda 4, 487, 1871.
144 Gassekretion in der Lunge. — Versuche von Wolffberg und von Nußbaum.
läßt, der eine Größe (0,58) hat, die allerdings während kurzer Dauer vor-
kommen kann, jedoch nicht normal ist, was zugleich aber auch aus der
detaillierten Beschreibung des Versuchs hervorgeht!). Die Zahl ist das
Mittel von vier successiven einzelnen Bestimmungen an demselben Tiere, das
höchst unregelmäßig atmete, weshalb die in Zwischenräumen genommenen
Proben auch von 2,0 bis 2,9 schwankende Kohlensäureprozente geben. Ein
Vergleich der Wolffbergschen Bestimmung der Exspirationsluft eines ein-
zelnen, unregelmäßig atmenden Hundes mit Straßburgs Durchschnitts-
zahl für die Kohlensäurespannyung des Arterienblutes ist natürlich nicht
berechtigt. Wäre der Vergleich zulässig, so würde damit bewiesen sein, daß
Diffusion nicht der tätige Faktor bei der Kohlensäureausscheidung sein
kann. Das Kohlensäureprozent der Exspirationsluft ist in Wolffbergs?)
Versuchen nämlich zwar hinsichtlich des schädlichen Raumes der Atmungs-
kanüle, nicht aber hinsichtlich des Volumens der Trachea korrigiert. Da der
Hund groß war und die Tiefe der Atmung 100 ccm betrug, muß die Kor-
rektion hinsichtlich des schädlichen Raumes der Trachea eine sehr bedeutende
Steigerung des Kohlensäureprozents in der Alveolenluft ergeben, die also eine
weit höhere Kohlensäurespannung erhielt als die von Straßburg für das
Arterienblut gefundene.
Der zweite Punkt der hier besprochenen Versuchsreihen, der allgemein
als eine Stütze der Diffusionshypothese betrachtet wird, sind Wolffbergs’)
und Nußbaums*) Untersuchungen über die Kohlensäurespannung in Blut
aus dem rechten Herzen und in der mittels eines Lungenkatheters ab-
gesperrten Alveolenluft. Der Zweck dieser Versuche war, zu prüfen, inwie-
fern zwischen der in einem Lungenlappen abgesperrten Alveolenluft und dem
die Lunge durchströmenden Blut aus dem rechten Herzen völliges Gleich-
gewicht stattfand; war dies der Fall, so nahm man an, daß ein aktiver Prozeß
im Lungengewebe seine Widerlegung gefunden habe. Zur Entscheidung der
Frage nach der Gassekretion ist dieses Verfahren indes nur wenig brauchbar;
denn verhält die Lunge sich als eine Drüse, so wird die Untersuchung des
Sekretes in einem abgesperrten Teile hier ebensowenig als bei anderen Drüsen
eine Folgerung auf die normalen Sekretionsverhältnisse gestatten; man be-
denke in diesem Zusammenhange nur, wie kurze Zeit’), nur wenige Stunden,
erforderlich ist, um eine abgesperrte Lunge völlig atelektatisch zu machen.
Selbst aber, wenn man hiervon absehen wollte, was nicht berechtigt sein
würde, gewähren Wolffbergs und Nußbaums Untersuchungen der Diffusions-
hypothese keine Stütze. Unten führe ich die von ihnen gefundenen Werte
an; man wird sehen, daß das Verhältnis der Kohlensäurespannung des Blutes
zu SR der abgesperrten Alveolenluft ein schwankendes ist; zuweilen findet °
man die Spannung der Alveolenluft höher, was andere tätige Faktoren als
einen einfachen Diffusionsprozeß voraussetzt. Des Vergleichs wegen sind hier
natürlich stets gleichzeitig ausgeführte Bestimmungen der Spannung des
Blutes und der Lungenluft zu benutzen. Die von Nußbaum gefundenen
Werte sind deshalb seinen einzelnen Versuchen entnommen, so daß diese Be-
dingung befriedigt wurde, was mit der von Nußbaum selbst gegebenen
)1 ec. 8.478. — ?)1. ce. 8. 477£. — °) Pflügers Archiv 4, 465, 1871 u. 6,
23, 1872. — *) Ebenda 7, 296, 1873. — °) Loewy, Pflügers Arch. 42, 275, 1888.
Gassekretion in der Lunge. — Versuche von Bohr.
145
resümierenden Tabelle nicht der Fall ist, weshalb diese sich hier nicht ge-
brauchen läßt.
Nach Wolffberg!) Nach Nußbaum’?)
Kohlensäureprozent Versuchs- Kohlensäureprozent
Lungengas | Blutgas RER IEER: Lungengas | | Blutgas
2,5 | 4,1 Y, 2 4,2 4,1
3,6 | 2,4 y,,u 4,8 3,9
4,6 | 4,9 “u 2,8 3,3
| », u 4,4 4,3
Neuere Versuche.
Versuche von Bohr).
In dieser Reihe von Versuchen wurden gleich-
zeitig die Zusammensetzung der Exspirationsluft und die Spannung der Gase
im arteriellen Blute bestimmt.
Zu den Versuchen wurden große Hunde ge-
braucht, die durch leicht bewegliche Ventile atmeten; eine Probe der Aus-
atmungsluft, proportional zur Menge der ausgeatmeten, in einer Gasuhr ge-
messenen Luft, wurde behufs der Analyse angesammelt. Zugleich wurde die
Tiefe der einzelnen Atmung und nach dem
Tode des Versuchsindividuums das Volumen
der Trachea und das der Trachealkanüle
bestimmt; man hat dann die zur Be-
rechnung der Zusammensetzung der Bifur-
katurluft (Alveolenluft) erforderlichen Data
und kann die Spannung des Sauerstoffs
und der Kohlensäure in derselben berech-
nen. Aus der Menge und der Zusammen-
setzung der Exspirationsluft erfahren wir
zugleich die Größe des respiratorischen
Stoffwechsels; es läßt sich dann, da die
Größe der Lungenoberfläche für Hunde
verschiedenen Körpergewichts bekannt ist,
der Differenzdruck (d) des Sauerstoffs und
hieraus dessen Spannung in der Ober-
flächenschicht der Lunge berechnen ($.141).
Diese Werte sind in folgender Tabelle,
welche sonst der Originalabhandlung ent-
nommen ist, aufgeführt; sie zeigen sich
für die Verwertung der Versuche von großer
Bedeutung, konnten natürlich aber erst
nach Einführung der Invasionstheorie be-
stimmt werden. Wegen der Details der
Fig. 19. -
I
EEE ET in), er
ES SL ET EEE FE
771
IITT
angewandten Methoden verweisen wir auf die zitierte Abhandlung. Hier sei
nur bemerkt, daß das Blut aus der Arterie in das Hämatareometer (Fig. 19)
strömte, wo der Spannungsausgleich mit der in demselben enthaltenen Luft
!) Pflügers Arch. 6,42, 1872.— *) Ebenda 7, 296, 1873. — °®) Skand. Arch. 2,236,1890.
Nagel, Physiologie des Menschen. I.
10
146 Gassekretion in der Lunge. — Versuche von Bohr.
Sc stattfand, worauf das Blut durch das
Be SS periphere Ende der Arterie oder, was
= 3°" "&& natürlich leicht eine weniger normale
2 2 = Zusammensetzung des Blutes gibt, durch
= 3 = das zentrale Ende einer Vene wieder
5 a, S S ' zum Organismus zurückkehrt. Es ist
:- x ns im Vergleich mit früheren Methoden ein
A 8 2,0 wesentlicher Fortschritt, daß das Blut, das
Bi; n = durch Blutegelinfus oder Pepton flüssig
a “= erhalten wird, auf diese Weise stets
"a E anno wieder ins Tier zurückfließt; dies ermög-
g : 55735 licht die längere Fortsetzung des Ver-
Eu: B ® + [+ suches unter einigermaßen normalen
S, FE — Verhältnissen. Jeder Bestimmung der
o E38 Er Spannung der Gase im Blute entsprach
8 < ra m1m,maao . . .ı°
2 stets eine genaue, gleichzeitig angestellte
8 8» Untersuchung der Exspirationsluft.
fen 28 BR ETRNE ;
© 55 Be Wenn die Sauerstoffspannung
- 5 . . *
A + im Arterienblute oder mit anderen Worten
Er in dem die Lunge verlassenden Blute
.dhE| 725% & größer ist als die der Bifurkaturluft,
| 2 E s| r+++++ mithin in noch höherem Grade größer
| z als die der Alveolenluft, genügt ein
Br: Docoao, Diffusionsprozeß selbstverständlich nicht
| 5 ri -.-a, Hmm pP
BE: E a Erklärung der Sauerstoffaufnahme im
fa ars Blute; es müssen dann die Zellen der
ge EERERBFEN TS Lungenmembran eine spezifische Tätigkeit
nl EA zur Beförderung des Sauerstoffs aus der
= = des Blutes größer ist als die Span-
< ad nung in der Lungenoberfläche,
-) 8 g ;
RT —— ein Diffusionsprozeß nicht hin-
FRE 4223%93% reichend ist, um die Aufnahme des
8 5 a 7 Sauerstoffs im Blute zu erklären;
= der Sauerstoff hat sich dann nämlich von
Eh 3 & e H"PEHMHBH Orten mit niederen nach Orten mit höheren.
Ara : Ru Sauerstoffpartialspannungen hin bewegt.
u
Gassekretion in der Lunge. — Versuche von Bohr. 147
Der Vergleich zwischen den Spannungen des Blutes und denen der Lungen-
oberfläche gibt ein weit besseres Kriterium ab als der früher allein ange-
wandte Vergleich zwischen der Alveolenluft und dem Blute, wo nur die
gröberen Verschiedenheiten zum Vorschein kommen konnten.
Fredericq!) äußerte die Vermutung, es sei bei den hier besprochenen Ver-
suchen im Hämatareometer kein Ausgleich der Spannungen erzielt worden, spe-
ziell nicht in betreff des Sauerstoffs. Daß in mehreren Fällen während der zu den
Versuchen angewandten Zeit ein vollkommener Ausgleich erzielt wurde, zeigen
jedoch mehrere der von Bohr?) angeführten Beispiele mit Entschiedenheit; es
liegt indes ja die Möglichkeit vor, daß der Ausgleich in den verschiedenen
Fällen verschiedenen Zeitraum beanspruchen könnte, was denkbar wäre, insofern
der Ausgleich des Sauerstoffs unter den Blutkörperchen und dem Plasma
dadurch beeinflußt werden könnte, daß das Blut im Tonometer unter andere
äußere Verhältnisse geriete als in den Gefäßen. Ein langsamerer Ausgleich
zwischen Blutkörperchen und Plasma würde, da letzteres nur sehr geringe
Mengen Sauerstoff enthält, das Eintreten des Gleichgewichts im Tonometer
verzögern können, und zwar auf variable Weise. Obschon keine Tatsache
vorliegt, die für eine derartige Erscheinung spräche, ist deren Möglichkeit
doch nicht entschieden auszuschließen; um mit Bezug auf die aus den Ver-
suchen gezogenen Schlüsse ganz sicher zu gehen, sind in der untenstehenden
Tabelle deshalb nur diejenigen Versuche Bohrs angeführt, wo entweder die
Vollständigkeit des Ausgleichs dadurch bewiesen wurde, daß die Einstellung
im Tonometer sowohl von niederen als von höheren Spannungen aus geschah
(Nr. XII und XIII des Originals), oder wo die Schlußwerte höher liegen als
die Anfangswerte (Nr. I, IV, VI, X), wo der Wert mithin sicher ein Minimum
der Sauerstoffspannung des Blutes ist. Jeglicher Einwurf gegen die Berech-
tigung der Verwertung dieser Versuche wird auch von dem von Fredericeq
angeführten Standpunkte aus wegfallen müssen.
Wo in der Tabelle die Differenzen der Spannungen des Blutes und der-
jenigen der Bifurkaturluft mit Bezug auf den Sauerstoff positiv, mit Bezug
auf die Kohlensäure negativ sind, ist eine aktive Zellentätigkeit erwiesen.
Aus der Tabelle geht mit größter Deutlichkeit hervor, daß die Sauer-
stoffaufnahme sich in keinem der Versuche als die Folge eines
Diffusionsprozesses erklären läßt; Diffusion kann in der weit über-
wiegenden Anzahl der Fälle auch mit Bezug auf die Kohlensäureausscheidung
nicht als hinlänglicher Erklärungsgrund in Betracht kommen. Auch von den
übrigen, in dieser Tabelle nicht angeführten Versuchen gilt dasselbe sowohl
hinsichtlich des Sauerstoffs als hinsichtlich der Kohlensäure. Speziell war
auch in den hier nicht angeführten Versuchen die Sauerstoffspannung im
Blute überall höher als in der Lungenoberfläche, ja in 12 der 14 Versuche
sogar höher als in der Bifurkaturluft. Die Mittelzahlen sämtlicher Ver-
suche geben natürlich ebenfalls Ausschläge in der Richtung der aktiven
Zellentätigkeit.e Durch diese Versuche hat die Gassekretion der
Lunge also mit völliger Sicherheit ihren Erweis gefunden.
In einigen Fällen kam Einatmung kohlensäurehaltiger Luft zur
Anwendung; hier scheint die aktive Zellentätigkeit sich in betreff der Kohlen-
!) Zentralbl. f. Physiol. 7, 33, 1893 u. Arch. d. Biol. 14, 109, 1896. — ?) 1. e. 8. 251.
Ä 10*
148 Gassekretion in der Lunge. — Versuche von Fredericg.
säureausscheidung durchweg stärker als gewöhnlich geltend gemacht zu
haben !). In gewissen Fällen kam eine Kohlensäureretention vor), indem
die Kohlensäurespannung während der Dauer des Versuches im Blute stieg
und zu gleicher Zeit in der Exspirationsluft sank.
Versuche von F’redericg°). Die Bestimmung der Gasspannungen im
Arterienblute geschah mittels eines von Fredericq konstruierten Tonometers
(Fig. 20), das im Prinzip dasselbe wie das von Pflüger angegebene ist; es
Fig. 20. wurde aber Sorge getragen, daß dem in Bohrs obigen
Versuchen angegebenen Prinzip gemäß das aus der Arterie
kommende Blut nach Durchströmung des Tonometers wieder
in den Organismus zurückkehrte, und zwar immer durch
eine Vene. Peptoninjektion erhielt das Blut flüssig. Die
Bedingungen eines geschwinden Ausgleichs sind an und
für sich etwas geringer als im Hämatareometer*); der
Apparat ist aber leicht handlich und gestattet die Aus-
dehnung der Versuche auf lange Dauer, wodurch die
geringeren Ausgleichsbedingungen aufgewogen werden
können.
Die Versuche umfassen Bestimmungen der Gas-
spannungen des Arterienblutes bei Einatmung teils atmo-
sphärischer Luft, teils einer sauerstoffreichen Gasmischung
(etwa 85 Proz. 0,). Im ersteren Falle fand man in zwei
Versuchen, wo der Spannungsausgleich vollständig erreicht
wurde, eine Sauerstoffspannung von 12,8 Proz., bzw. 14 Proz.
und eine Kohlensäurespannung von 2,7 Proz., bzw. 2,4 Proz.;
war der Totaldruck im Apparat, was am wahrscheinlichsten
ist, etwa 710 mm, so gibt das eine Sauerstoffspannung von
91 bis 99mm und eine Kohlensäurespannung von 17
bis 19mm. Da keine gleichzeitig ausgeführten Analysen
der Ausatmungsluft angegeben sind, lassen die Versuche
sich nicht zur Aufklärung über die beim Gasaustausch tätigen Kräfte
benutzen. Dies gilt ebenfalls von den Versuchen, wo die Einatmungs-
luft stark sauerstoffhaltig war; auch hier finden sich keine Analysen der
Ausatmungsluft, die besonders rücksichtlich der Kohlensäure von Interesse
sein würden, indem die Spannung dieses Gases im Blute in diesen Versuchen
sehr schwankend ist, von 2,3 bis 5,1 Proz. Die Sauerstoffspannung der Aus-
atmungsluft wird auf einen Wert von 80 Proz. angeschlagen, im Blute wird
sie gleichzeitig als von 60 bis 70 Proz. befunden. Daß hier die Sauerstoff-
spannung im Blute niedriger ist als in der Ausatmungsluft, beweist selbst-
verständlich nichts gegen eine aktive Zellentätigkeit, von welcher natürlich
nicht anzunehmen ist, daß sie die Spannung des Blutes immer bis über die
der Alveolenluft steigert, auch in Fällen, wo es, wie hier, dem Organismus
zum mindesten keinen Nutzen bringen würde. Die Versuche ergeben indes
die wichtige Tatsache, daß die Sauerstoffspannung des Blutes höhere Werte
!) Bohr, 1. c. 8. 267. — *) Ebenda. — °) Zentralbl. f. Physiol. 7, 33, 1893 u.
8, 34, 1894. — *) Vgl. Bohr, Zur Theorie der Bluttonometrie. Skand. Arch. f.
Physiol. 1905.
Gassekretion in der Lunge. — Versuche von Weißgerber. 149
hat, wenn die Einatmungsluft stark sauerstoffhaltig ist, als wenn dieselbe aus
gewöhnlicher atmosphärischer Luft besteht ; hierauf kommen wir später zurück.
Versuche von Weibgerber!). In diesen Versuchen, bei denen besonders
das Prozent der Kohlensäure in der Einatmungsluft variiert wird, und die
der Autor als der Sekretionstheorie widerstreitend auffaßt, werden die Be-
stimmungen der Gasspannungen des Arterienblutes wie bei den unmittelbar
vorher beschriebenen Versuchen mittels Fredericqs Tonometer ausgeführt.
Die Anordnung der Respirationsversuche ist folgende. In der Trachea ist
eine mit Ventilen versehene T-förmige Kanüle angebracht, deren Seitenröhre
mit Hilfe von Kautschukschläuchen mit je einem Ende eines Kautschuksackes
von 50 Liter Volumen in Verbindung stehen, durch den die Atmung während
des Versuches also stattfindet. Die Luft im Sacke hat in den einzelnen Ver-
suchen eine verschiedene Zusammensetzung, doch ist das Prozent der Kohlen-
säure und-des Sauerstoffs stets etwas größer als in atmosphärischer Luft;
_ das Tonometer wird zu Anfang des Versuchs mit einer dem Sackinhalt identi-
schen Gasmischung beschickt, und die Gasmischung im Sacke wird am Anfang
und am Schlusse jedes Versuches analysiert. Diese Anordnung bietet für
unsere Zwecke die nicht geringe Mißlichkeit dar, daß die Zusammensetzung
der Gasmischung im Sacke während des Versuches fortwährend variiert, in-
dem die Kohlensäuremenge zunimmt und die Sauerstoffmenge abnimmt. Hier-
durch wird selbstredend, wie der Autor selbst bemerkt, der Vergleich mit der
gleichzeitig bestimmten Gasspannung des Blutes ein unsicherer. Ferner
wurde keine Untersuchung der Exspirationsluft, geschweige der Alveolen-
luft, angestellt; die Luft im Sacke repräsentiert zu jeder Zeit in der Tat nur
die Inspirationsluft. Zu den vom Autor gegebenen Zahlen habe ich in
untenstehender Tabelle die Größe der Kohlensäureausscheidung pro Kilogramm
und Stunde hinzugefügt, wie diese sich aus dem Volumen des Sackes und
aus den Änderungen der darin enthaltenen Gasmischung berechnen läßt;
die Zahlen bezeichnen Cubikcentimeter ohne Reduktion auf 0° und 760 mm.
Die Tabelle betrifft ausschließlich die Kohlensäurespannungen;; den Sauerstoff-
Kohlensäureprozent.
Versuchs- | Pauer des | Gas im Sacke Gas im | Gas im CO, pro
Versuchs | und Tonometer Sacke | Tonometer | Kilogramm
nummer || in Minuten anfänglich schließlich | schließlich | und Stunde
I 60 51,06 51,50 | 94,25 | 42
IH 60 46,67 720 | 1988 | 53
IV 60 5,89 | 9,83 | 9,58 | 660
Va 60 0,65 Kar wee |, 60 | 802
Vb 60 5,80 Be SruBh || 283
vI 90 4,21 | 192° | | 172
vo 60 15,04 DET N a er We Be 1)
VI 49 12,98 | 20,92 | 1756 | 405
IX 50° ° 9,10 14,53 12,78 | 362
X 120 6,05 | 13,64 | 13,42 | 271
!) Arch. de Biol. 14, 441, 1896.
150 Gassekretion in der Lunge. — Versuche von Weißgerber.
spannungen legt der Autor selbst kein besonderes Gewicht bei, weshalb sie
hier nicht näher behandelt werden.
Aus der Tabelle ist zu ersehen, daß in den beiden ersten Versuchen die’
Kohlensäureausscheidung bei dem hohen Prozente (etwa 50 Proz.) der
Kohlensäure in der Einatmungsluft fast aufgehört hat. Es ist hier nicht zu
erwarten, daß die Kohlensäurespannung in dem Blute niedriger sein sollte
als in der Inspirationsluft. Ein solcher Ausschlag der Zellentätigkeit würde
natürlich kräftige Arbeit des Respirationsorganes voraussetzen; hier war
aber, da der Organismus ja nicht mehr imstande war Kohlensäure in nennens-
wertem Grade auszuscheiden, die Grenze der Leistungsfähigkeit jedenfalls
überschritten, und von diesen beiden Versuchen müssen wir deshalb in
dieser Relation absehen. In den anderen Versuchen hat die Kohlensäure-
ausscheidung dagegen zuweilen sogar beträchtliche Werte pro Kilogramm
und Stunde gehabt. Indes ist, wie aus der Tabelle ersichtlich, der Unter-
schied zwischen der anfänglichen und der schließlichen Luft im Sacke in den
meisten Versuchen ein so großer, daß, wie bemerkt, von einem Vergleich mit
dem Resultate der Spannungsbestimmungen im Blute nicht wohl die Rede
sein kann. Will man diese Werte jedoch hierzu benutzen und z. B. das
Mittel der anfänglichen und schließlichen Zusammensetzung sowohl der Ein-
atmungsluft als der Tonometerluft zum Vergleich gebrauchen, so werden
mehrere der Versuche für eine aktive Zellentätigkeit sprechen (höhere C0,-
Spannung in der Einatmungsluft als im Blute). Will man aus Rücksicht
auf den verzögerten Ausgleich im Tonometer so weit gehen, daß man das
Mittel der anfänglichen und der schließlichen Zusammensetzung der Inspi-
rationsluft mit der schließlichen Zusammensetzung der Tonometerluft
vergleicht, so werden auch dann einige der Versuche für die Sekretion
sprechen, wenn man bedenkt, daß man hier genötigt ist, die Inspirations-
luft, nicht aber die Exspirationsluft, geschweige die Alveolenluft, auf welche
es doch eigentlich ankommt, mit den Gasen des Blutes zu vergleichen. Über-
haupt sind denn diese Versuche, wo die Zusammensetzung der Ausatmungs-
luft nicht bestimmt ist, nur wenig geeignet, um zu entscheiden, ob bei
denselben eine Gassekretion stattgefunden hat oder auch nicht. Dagegen
zeigen sie, daß auch hinsichtlich der Kohlensäure die Spannung des Blutes
eine hohe wird, wenn das Prozent in der Einatmungsluft beträchtlich
anwächst.
Versuche von J. Haldane und Lorrain Smith 1). Diese Untersuchungen
betreffen allein das Verhalten der Sauerstoffspannungen im Blute;
um deren Werte zu bestimmen, wurde nicht wie bei früheren Versuchen das
Tonometer in irgend einer Form angewandt, sondern eine neue, sehr sinn-
reiche Methode benutzt, die unter anderem auch die Ausführung der Bestim-
mungen an Menschen gestattet. Das Versuchsindividuum atmet eine kon-
stante, genau dosierte Mischung von atmosphärischer Luft und Kohlenoxyd
ein.: Von Zeit zu Zeit mißt man die prozentische Sättigung des Blutfarb-
stoffs mit Kohlenoxyd, die sich nach Verlauf einiger Zeit als konstant bleibend
erweist. Nach Eintritt dieses Gleichgewichtszustandes ist die Kohlenoxyd-
spannung des die Lunge verlassenden Blutes als gleich der Spannung dieses
!) Journ. of Physiol. 20, 497, 1896 u. 22, 231, 1897.
Gassekretion in der Lunge. — Versuche von Haldane und Smith. 151
Gases in der Einatmungsluft zu betrachten; man kennt mithin dieSpannung
des Kohlenoxyds im Blute. Die gleichzeitig bestimmte prozentische Sätti-
gung des Farbstoffs mit Kohlenoxyd ist, wo sich wie hier außer Kohlenoxyd auch
Sauerstoff findet, von dem Verhältnis zwischen den Spannungen der beiden
Gase abhängig. Die Spannung des Sauerstoffs im Blute läßt sich also
aus der Spannung des Kohlenoxyds und dem Sättigungsgrade des Farbstoffs
berechnen, indem die erforderlichen Konstanten durch Schütteln des Farb-
stoffs außerhalb des Organismus mit einer bekannten Mischung von Sauer-
stoff und Kohlenoxyd festgestellt werden, wie an anderem Orte entwickelt
wurde (S. 125).
Von Einzelheiten führen wir nur an, daß die relative Sättigung des
Blutfarbstoffs mit Kohlenoxyd mittels einer von den Autoren angegebenen
kolorimetrischen Methode bestimmt wird, deren Ausführung nur eine’ sehr
kleine Menge Blutes erfordert. Die Genauigkeit des ganzen angewandten
Verfahrens zur Bestimmung der Sauerstoffspannung wurde durch eine Reihe.
von Versuchen in vitro erwiesen, wo Blut mit Gasmischungen von wechseln-
dem Kohlenoxyd- und Sauerstoffprozent geschüttelt wurde und man den
Sättigungsgrad des Farbstoffs bestimmte).
Was die denkbaren möglichen Fehlerquellen betrifft, die von den beson-
deren Verhältnissen im Organismus herrühren könnten, so wurden auch sie
mit ‚großer Sorgfalt untersucht. So zeigt es sich, daß das Vorhandensein
von Kohlensäure, wenigstens unter den normal im Organismus vorkommenden
Spannungen, das Resultat nicht beeinflußt ?), und daß das Kohlenoxyd sich
nicht im Organismus oxydiert, was ja die Bestimmungen fehlerhaft machen
könnte). Hinzufügen können wir noch, daß die Bildung einer geringen
Menge Kohlenoxyd im Organismus, wie sie von Nicloux®) angenommen
wird, auf die gefundenen Resultate keine Einwirkung hat.
Die angewandte Methode ‚wurde so sorgfältiger Prüfung unterworfen,
daß ihre Zuverlässigkeit keinen Zweifel erleiden kann. Mit Bezug auf die
Verwertung der gefundenen Resultate wäre es wohl nur von folgendem, dem
Versuche nicht direkt zugänglichem Umstande denkbar, daß er Schwierigkeiten
bereitete. Wird das Kohlenoxyd mittels spezifischer Zellentätigkeit in der Lunge
aufgenommen, wie es mit dem Sauerstoff der Fall ist, so kann man, worauf
Haldane und Smith aufmerksam machen, nicht. davon ausgehen,. daß im
Blute stets dieselbe CO-Spannung anzutreffen sei wie in der Lungenluft, und
hierdurch würde die Berechnung der Sauerstoffspannung, welche die Kenntnis
der Größe der Kohlenoxydspannung voraussetzt, mithin unsicher werden.
Eine solche Annahme würde natürlich die spezifische Tätigkeit der Lungen-
zellen als bewiesen voraussetzen; von der Annahme einer einfachen Diffusion
durch die Lungenmembran aus läßt dieser Einwurf sich ja nicht erheben.
Die’ vorwiegende Wahrscheinlichkeit ist nun aber dafür, daß das Kohlenoxyd
die Lungenmembran mittels Diffusion passiert. Hierfür spricht namentlich
die Art und Weise, wie. das Kohlenoxyd vom Organismus absorbiert wird,
indem. die Absorption nach Verlauf einer gewissen Zeit plötzlich aufhört,
und.daß dies immer bei einem Sättigungsgrade des Blutfarbstoffs geschieht,
!) Journ. of Physiol. 20, 507. — ?) 1. c. 20, 513. — °®) 1.c. p. 514 u. Haldane,
Journ. of Physiol. 25, 225, 1900. — *) Arch. de physiol. (5) 10, 434, 1898.
152 _ Gassekretion in der Lunge. — Versuche von Haldane und Smith.
der vom Partialdruck der Einatmungsluft abhängig ist, gestattet wohl keine
andere Deutung als die, daß das Kohlenoxyd durch Diffusion ins Blut ein-
dringt !).
Mittels dieser Methode untersuchten Haldane und Smith die Sauerstoff-
spannung des Blutes an einer Reihe verschiedener Tiere; die Durchschnitts-
zahlen dieser Bestimmungen sind in untenstehender Tabelle angeführt.
Gleichzeitige Bestimmungen der Exspirationsluft wurden in diesen Versuchen
nicht unternommen; die Inspirationsluft war atmosphärische Luft, deren
Sauerstoffspannung, wenn die Luft zur Körpertemperatur erwärmt und mit
Wasserdampf gesättigt ist, etwa 149 mm beträgt. Die Sauerstoffspannung
der Alveolenluft war dann gewiß niedriger als dieser Wert, wahrscheinlich
nur etwa 100mm. Aus der Tabelle ist zu ersehen, daß das Mittel der
Sauerstoffspannung des Blutes bei sämtlichen untersuchten Warmblütern
in der Regel sogar bedeutend höher ist als die Sauerstoffspannung der
‚Inspirationsluft, und dasselbe ist der Fall mit fast allen Einzelbestim-
mungen, aus denen das Mittel berechnet wurde.
Anzahl Proz. CO in| Proz. Sätti- | O,-Spannung des Blutes
Tiergattung der Bestim- der Inspi- gung des NER
mungen | rationsluft ‚| Hgb. mitCO | ı Atmosph. mm
Ma 20 0,072 45,9 22,6 17%
Mensch 9 0,052 26,9 38,9 293
Hundsars. ne, 2 0,064 46,2 21,0 160
Katze si... ac 1 0,064 37,7 35,3 268
Kaninchen .. 4 0,070 42,4 27,6 210
VOS6ol yes.» 4 0,072 30,4 44,6 339
PILOSCH, a 13 0,082 57,0 18,4 140
In anderen Versuchsreihen wurde der prozentige Sauerstoffgehalt der
Einatmungsluft variiert. Bei der Einatmung von Gasmischungen
mit hohem Sauerstoffprozent steigt die Sauerstoffspannung des Blutes
(vgl. Fredericqs Versuche $. 148), indem sie sich fortwährend höher hält
als die Sauerstoffspannung der Inspirationsluft. Die Differenz zwischen der
Sauerstoffspannung des Blutes und der der Einatmungsluft zeigte sich sogar
bedeutend größer als beim Einatmen atmosphärischer Luft. So findet man
z. B. bei Mäusen während Einatmung einer Luft mit 618 mm (87 Proz.)
Sauerstoffspannung den Wert der letzteren im Blute als 958 mm; bei- einer
Sauerstoffspannung in der Inspirationsluft von 343 mm (47,6 Proz.) ergab
dieselbe sich im Blute als 460mm. Bei Einatmung sauerstoffarmer
Luft ist die Sauerstoffspannung im Blute im Vergleich mit normaler Span-
nung herabgesetzt, hat aber immer so hohen Wert, daß eine spezifische
Zellentätigkeit zu dessen Erklärung nötig ist. So findet man als Mittel von
sieben Versuchen an Mäusen ?), wo die Einatmungsluft weniger als 10 Proz.
Sauerstoff enthielt und durchschnittlich eine Spannung von 53mm (7,4 Proz.)
hatte, die Sauerstoffspannung des Blutes gleich 71mm (9,3 Proz.); in allen
einzelnen Bestimmungen, aus denen dieses Mittel gebildet wurde, war die
Spannung höher im Blute als in der Alveolenluft und in sechs der sieben
Y) 1. c. 20, 516. — ?) Journ. of Physiol. 22, 242, 1897.
Gassekretion in der Lunge. — Versuche von Haldane und Smith. 153
Versuche sogar höher als in der Inspirationsluft. Analoge Resultate erhält
man, wie vorauszusehen war, bei Einatmung atmosphärischer Luft
bei niedrigen Drucken. Von den hierher gehörenden Resultaten führen
wir nur an, daß drei an kleinen Vögeln angestellte Versuche als Mittel der
Sauerstoffspannung in der Inspirationsluft und im Blute 7,1, bzw. 17,1 Proz.
einer Atmosphäre ergaben.
Die Unzulänglichkeit der Diffusionshypothese geht mit größter Deutlich-
keit aus Haldane und Smiths Versuchen hervor. In fast allen Fällen zeigt
die Sauerstoffspannung des Blutes bedeutend höhere Werte nicht nur als die
Alveolenluft, sondern auch als die das Versuchsindividuum umgebende
Atmosphäre. |
Es haben wahrscheinlich zwei Umstände zur Förderung der intensiven
Zellentätigkeit beigetragen, die bei diesen Versuchen in besonderem Grade
stattgefunden zu haben scheint, und die sich durch die Häufigkeit kundgibt,
womit sehr hohe Sauerstoffspannungen gefunden werden. Teils hat gewiß
die Versuchsmethode selber zu intensiver Zellentätigkeit angeregt, teils
befand sich hier das Versuchsindividuum im Gegensatz zu den gewöhnlichen
Verhältnissen bei tonometrischen Versuchen unter normalen, günstigen
Bedingungen, damit sich intensive Lebensprozesse überhaupt entwickeln
können. Was letzteren Umstand betrifft, so müssen wir daran erinnern,
daß bei Haldane und Smiths Methode das Aufbinden des Tieres und
operative Eingriffe vermieden werden, wie denn auch, was sehr wesentlich
ist, Injektionen von Flüssigkeiten, die geeignet sind, das Blut flüssig zu
erhalten, unnötig sind. Die Injektion solcher Substanzen, namentlich des
Peptons, ist keineswegs als indifferent zu betrachten, wenn man berücksich-
tigt, wie hierdurch das Allgemeinbefinden beeinflußt und die Zusammen-
setzung der Blutgase verändert wird (Grandis!). Auch die Überleitung
arteriellen Blutes in eine Vene, wie sie in einigen meiner Versuche und in
allen Versuchen Fredericqs stattfand, ist ein Eingriff, der die normalen
Verhältnisse stört. Wie leicht nun Eingriffe verschiedener Art und Störungen
der normalen Verhältnisse überhaupt die Intensität der Zellentätigkeit affı-
zieren können, davon bieten die neueren drüsenphysiologischen Untersuchungen
Beispiele zur Genüge dar, und Haldane und Smith haben auch durch
später zu besprechende Versuche gezeigt, in wie bedeutendem Grade das
Allgemeinbefinden des Tieres auf die Größe der Sauerstoffspannung im
Blute einwirkt. Im Gegensatz zu früheren Versuchen gewähren die von Hal-
dane und Smith also günstige Bedingungen für die freie Entfaltung der Hilfs-
mittel, über die der Organismus beim Gaswechsel in den Lungen verfügt.
Ferner muß angenommen werden, daß die Methode die Anwendung dieser
Hilfsmittel stimuliert. Beider Einatmung kohlenoxydhaltiger Luft sättigt sich
ja während des Versuches ein Teil des Hämoglobins mit Kohlenoxyd (beim Men-
schen etwa ein Drittel, bei Tieren etwa zwei Drittel), der hierdurch für den
Transport von Sauerstoff unbrauchbar wird. Funktionell betrachtet verhält das
Blut sich also, als ob es eine bedeutend kleinere Menge Hämoglobin ent-
hielte, was die äußeren Bedingungen der Gewebsatmung verringert (s. über
die innere Atmung S. 201); die Annahme hat dann die Wahrscheinlichkeit
!) Arch. f. Physiol. 1891, $. 499.
154 Gassekretion in der Lunge. — Versuche von Haldane und Smith.
für sich, daß der Organismus dieser Wirkung entgegenarbeitet, und gerade
die Steigerung der Sauerstoffspannung im Arterienblute ist eines der zu diesem
Zwecke dienenden Mittel. Daß nun in der Tat die Sauerstofispannung des
Blutes bei der größeren relativen CO-Sättigung des Blutes steigt, scheint
auch aus Haldane und Smiths Versuchen hervorzugehen !). Stellt man
nämlich nach dem verschiedenen Sättigungsgrade des Blutfarbstoffs mit
Kohlenoxyd (30 bis 40 Proz., 40 bis 50 Proz. usw.) die Versuche an zahmen
Mäusen zu sechs Gruppen zusammen, so erhält man für die einzelnen Gruppen
folgende Durchschnittszahlen der Sauerstoffspannung im Blute:
Proz. CO-Sättigung des Blutes
O,-Spannung
Anzahl der | i Proz. von 1 Atmosph.
Manuchb Grenzen Mittel
b) 30—40 36,2 25,9
10 40-50 45,1 23,0
3 50—60 54,5 I:
7 60—70 64,8 30,1
6 70—80 75,3 32,6
3 80—90 84,1 26,2
Übersteigt die CO-Sättigung des Blutes’ 60 Proz., so sieht man eine
deutliche Zunahme der Sauerstoffspannung, die bei einer Sättigung von etwa
75 Proz. ihr Maximum erreicht. Bei.noch höheren Sättigungsgraden wird
die Spannung wieder niedriger, was wohl davon herrührt, daß man sich
hier in der Nähe der Grenze befindet, die den Mäusen überhaupt die Fort- _
setzung des Lebens verwehrt. Bei Vögeln wurden die höchsten Werte der
Ö,-Spannung des Blutes gefunden, was vielleicht von einer besonders stark
incitierenden Einwirkung der Verringerung. des Blutsauerstoffs bei diesen
Tieren herrührt; jedenfalls besitzen Vögel in dieser Beziehung größere
Empfindlichkeit als Mäuse, und sterben schon, wenn 60 Proz. ihres Blutes
mit Kohlenoxyd gesättigt sind. Natürlich können hier jedoch auch Gattungs-
verschiedenheiten anderer Art entscheidend sein.
Da dem oben Entwickelten zufolge die partielle Sättigung des Blutes
mit Kohlenoxyd aller Wahrscheinlichkeit nach ein Moment ist, das die Tätig-
keit der Lungenzellen anregt,: so werden die von Haldane und Smith für
die Sauerstoffspannung des Blutes gefundenen Zahlen zunächst wohl beson-
ders hohe Werte repräsentieren, deren Beobachtung nicht zu erwarten ist,.
wenn es keinen Anlaß zu besonders gesteigerter Zellentätigkeit gibt; der
Organismus paßt wohl auch an diesem Punkte die Intensität der Arbeit den
augenblicklich gestellten Forderungen an.
Diese Betrachtungsweise wird. auch die Schwierigkeiten beseitigen, die
sonst damit verbunden sind, die oben. erwähnten hohen Sauerstoffspannungen
des Blutes mit vorliegenden Versuchen über den Sauerstofisättigungsgrad des
normalen arteriellen Blutes in Übereinstimmung zu bringen. Häufig findet
man nämlich, wenigstens.bei Hunden und Pferden, daß das Arterienblut bei
!) Journ. of Physiol. 22, 234 u. 239, 1897.
WE Wen EEE
Sekretion und Diffusion in der Lunge. 155
der Sauerstoffspannung der Atmosphäre nicht völlig mit Sauerstoff gesättigt
ist, obschon man zuweilen findet, daß es übersättigt ist (S. 196). In der
Regel müßte man demnach die O,-Spannung des arteriellen Blutes für
geringer als 21 Proz. einer Atmosphäre halten.
Haldane und Smith sind geneigt, die Erklärung dieses Mangels an Über-
einstimmung zwischen dem gewöhnlichen Sättigungsgrade des Blutes und
den von ihnen gefundenen hohen Sauerstoffspannungen darin zu suchen, daß
der Sauerstoffgehalt des Arterienblutes, wie Pflüger meint, nach der Ent-
leerung geschwind abnehme, so daß das Auspumpen nicht die wirklichen
Werte gebe. Wie wir bei der Behandlung der Frage nach dem Sauerstoff-
sättigungsgrade des Blutes entwickeln werden (S. 196), liegt indes nichts
vor, das für einen solchen Verbrauch spräche. Die Erklärung der Nicht-
übereinstimmung ist gewiß mit größerem Recht darin zu suchen, daß
in Haldane und Smiths Versuchen das Blut wegen der partiellen Sättigung
des Hämoglobins mit Kohlenoxyd relativ stärker mit Sauerstoff gesättigt war
als unter gewöhnlichen Verhältnissen, und wahrscheinlich würde man dieses
auch durch Auspumpen des Blutes gefunden haben, wenn ein solches sich
hätte unternehmen lassen. Auch das Mißverhältnis zwischen den mittels
der CO-Methode bei niedrigen Drucken gefundenen Spannungen und den
von P. Bert unter entsprechenden äußeren Umständen angetroffenen prozen-
tigen Sauerstoffmengen des Blutes möchte seine Erklärung durch die
intensivere Zellentätigkeit finden, wenn ein Teil des Hämoglobins vom Kohlen-
oxyd in Anspruch genommen wird. Übrigens ist zu bemerken, daß einige
der Schwierigkeiten, die Haldane und Smith bei der Auseinandersetzung
der Verhältnisse bei niedrigen Drucken erblickten !), darin zu suchen sind,
daß sie darauf angewiesen waren, eine von Hüfner angegebene Disso-
ziationskurve zu benutzen, die, wie spätere Untersuchungen gezeigt haben,
von den wirklichen Verhältnissen bedeutend abweicht.
Näheres über die spezifische Tätigkeit der Lunge beim Gaswechsel.
Durch die oben beschriebenen, von mehreren Untersuchern ausgeführter
Versuche ist eine spezifische Zellentätigkeit beim Gaswechsel in den Lungen
unzweifelhaft konstatiert worden. Mit Bezug auf die Sauerstoffaufnahme
tritt nicht nur in sämtlichen Versuchen von Haldane und Smith, in denen
die Zellentätigkeit, wie oben entwickelt, wohl als besonders incitiert zu be-
trachten ist, die Unzulänglichkeit der Diffusionshypothese klar hervor — auch
in sämtlichen von Bohr angestellten Versuchen, wo’an die Intensität der
Zellentätigkeit kein besonderer Anspruch gemacht wurde, wo die Verhältnisse
im Gegenteil in dieser Beziehung als ziemlich ungünstig zu betrachten waren,
erweist es sich, daß dasselbe der Fall ist, seitdem die Einsicht in die phy-
sikalischen Bedingungen durch die Theorie von der In- und Evasion der Gase
in Flüssigkeiten sich vertieft hat. Die Gassekretion ist daher als eine
essentielle Seite der Lungenfunktion zu betrachten und läßt sich nicht als
‚eine accidentelle Erscheinung auffassen, die bald eintreten, bald unterbleiben
könnte. Diese für ein eingehenderes Studium der Funktion der Lunge fun-
damentale Tatsache haben wir deshalb in den folgenden Abschnitten bei der
!) Journ. of Physiol. 32, 242, 1897.
156 Sekretion und Diffusion in der Lunge. — Versuche von Magnus.
Behandlung der verschiedenen respiratorischen Funktionen stets ins Auge
zu fassen. Selbstverständlich liegt hierin aber nicht, daß die Spannungen
im Blute und in der Alveolenluft immer bedeutende Abweichungen in einer
Richtung zeigen sollten, die nicht durch Diffusion erklärt werden könnten.
Die Gassekretion paßt sich wie alle anderen Sekretionen den augenblicklichen
Forderungen des Organismus an, und ihre Intensität ist deshalb bedeutenden
Schwankungen unterworfen.
Weil die Gassekretion einen konstanten Faktor der Lungenatmung bildet,
ist darum eine gleichzeitige Diffusion durch die Lungenmembran hindurch
doch nicht ausgeschlossen. Nach dem Bau der Membran liegt im Gegenteil
die Annahme nahe, daß eine solche, wenn auch nur in verhältnismäßig ge-
ringerem Umfange stattfindet. Wie die oben (S. 136) angeführten Versuche
von Bichat und von Ewald und Kobert zeigen, muß es in der Lunge
Spaltenräume geben, die bei Druck für Gasbläschen permeabel sind; durch
jene hindurch muß die Diffusion wahrscheinlich stattfinden, in verhältnis-
mäßig höherem Grade hinsichtlich der Kohlensäure als des schwerer lös-
lichen Sauerstoffs. Wie die oben behandelten Spannungsversuche dartun,
ist die Diffusion aber im Verhältnis zu der von den Zellen entwickelten
Tätigkeit ein untergeordneter Faktor; die Fläche der Spaltenräume ist ja
auch relativ klein, und durch die secernierenden Zellen selbst wird wohl
schwerlich eine Diffusion stattfinden.
Eine einfache Diffusion durch die Lunge müssen leicht diffusible Gase
mit großem Absorptionskoeffizienten am leichtesten bewerkstelligen können,
und diese wurde denn auch rücksichtlich des Schwefelwasserstoffs nach
Injektion schwefelwasserstoffhaltigen Wassers beim Kaninchen von Magnus!)
nachgewiesen. Die von demselben Autor angenommene Undurchlässig-
keit des Ammoniaks durch die Lunge würde dagegen die Möglichkeit
jeglicher Diffusion durch dieses Organ ausschließen. Kann nämlich ein so
leicht diffusibles Gas die Lungenmembran nicht passieren, so kann es überhaupt
für eine einfache Diffusion keinen Weg geben; auch die oben erwähnte
Ausscheidung von Schwefelwasserstoff durch dieLunge müßte dann von einer
Sekretion herrühren, was nur wenig Wahrscheinlichkeit hat. Indes gestatten
Magnus’ interessante Versuche auch andere Erklärungen als die vom Autor
aufgestellte. Wenn z. B. bei Kaninchen trotz Einatmung einer Luft, die
eine 7 proz. Ammoniaklösung durchströmt hat (mithin höchstens 0,1g Am-
moniak pro Liter enthält), Vergiftungssymptome ausbleiben, so braucht die
Lunge darum doch nicht für Ammoniak undurchgängig zu sein. Dieses
Gas wird nämlich, wo es in der Lungenmembran die ausgeschiedene Kohlen-
säure antrifft, notwendigerweise in kohlensaures Ammoniak umgebildet, das
während des kurzdauernden Versuches keine Vergiftungssymptome hervor-
zurufen braucht, selbst wenn aus demselben einiges Ammoniak aufgenommen
wird. In anderen Versuchen von Magnus, wo die Ausatmungsluft sich trotz
Injektion von Ammoniak ins Blut ammoniakfrei erhielt, kann eine analoge
Erklärung zur Anwendung kommen, indem das Ammoniak während der
Passage durch die Lungenmembran an Kohlensäure gebunden wird, und daß
!) Arch. f. exp. Pathol. 48, 103, 1902.
1
Tätigkeit der Lungenzellen. 157-
dasselbe nach dem Tode in die Lungenluft hinausdringt, kann auf dem beim
Stocken der Blutzirkulation eintretenden Aufhören der Kohlensäureproduktion
beruhen. Das spezielle Verhalten des Ammoniaks in der Lunge im Gegensatz
z. B. zum Schwefelwasserstoff würde demnach seine Erklärung darin finden, daß
dasselbe im Verein mit der Kohlensäure ein Salz bildete. Durch diese Auffassung
der Sache, die mir überhaupt die wahrscheinlichste dünkt, würde man die
sonst notwendige Annahme vermeiden, daß auch Schwefelwasserstoff, Stick-
stoff, Kohlenoxyd, Wasserstoff usw. die Lunge nicht mittels einfacher Dif-
fusion passierten, was doch die überwiegende Wahrscheinlichkeit für sich hat.
Die Tätigkeit der secernierenden Zellen. Vergleicht man die Sauerstoff-
spannungen des Blutes bei verschiedenen Sauerstoffspannungen der Ein-
atmungsluft (Fredericq, Haldane und Smith), so sieht man, daß sie sich.
im allgemeinen auf Werte derselben Größenordnung wie die in der ein-
geatmeten Luft einstellen. Durch die Gassekretion wird also nicht eine
gleichmäßige Spannung im Blute, unabhängig von der Spannung der Alveolen-
luft, erhalten, sondern letztere Größe bildet die Basis, um welche die durch
die Zellentätigkeit bestimmte Sauerstoffspannung des Blutes schwankt. Da
dem oben Entwickelten zufolge anzunehmen ist, daß außer dem Sekretions-
vorgange auch in einer gewissen Ausdehnung Gasdiffusion durch die Lunge
stattfindet, läßt sich auch nichts anderes erwarten; wenn die Sauerstoff-
spannung des Blutes längere Zeit hindurch in hohem Maße von der Alveolen-
spannung abwiche, würde wegen der Rückdiffusion ein fortwährender Verlust
an-Arbeit stattfinden. |
Bei einem Gehalt von 80 Proz., bzw. 40 Proz. und 13 Proz. Sauerstoff
der Alveolenluft war in Haldane und Smiths Versuchen das Verhältnis
(nicht die Differenz) zwischen der Sauerstoffspannung des Blutes und der
der Alveolenluft fast gleich groß, indem die O,-Spannung des Blutes stets
1,6 mal größer war; bei sehr niedrigen Sauerstoffspannungen der Alveolenluft
war das Verhältnis größer und hatte einen Wert von 2. Das niedrige
Sauerstoffprozent der Alveolenluft hat unter diesen Verhältnissen mithin als
Stimulus auf die Sekretion gewirkt!). Um die Intensität der Zellenarbeit
aber völlig beurteilen zu können, sollte man eigentlich nicht die Sauerstoff-
spannung der Alveolenluft, sondern die Spannung in der oberflächlichsten
feuchten Schicht der Lunge mit der Sauerstoffspannung des Blutes vergleichen,
denn die Konzentration des Sauerstoffs in der Lungenoberfläche ist derjenige
Faktor, der den größeren oder kleineren Zutritt der Lungenzellen zum Sauer-
stoff direkt bedingt. Nun weiß man, daß der Sauerstoffverbrauch des Orga-
nismus bei hohen und bei niedrigen Sauerstoffdrucken der umgebenden
Atmosphäre fast gleich groß ist, folglich ist auch der Differenzdruck gleich
groß (S. 141), und um in diesen Fällen die Sauerstoffspannung der Lungen-
oberfläche zu finden, muß man also eine konstante Größe von der Spannung der
Alveolenluft abziehen. Das Verhältnis zwischen der Sauerstoffspannung des
Blutes und der der Lungenoberfläche wird deshalb bei niedrigen Sauerstoff-
prozenten der Alveolenluft in noch höherem Grade als das oben angeführte
Verhältnis der Sauerstoffspannung des Blutes zu der der Alveolenluft an-
!) Journ. of Physiol. 22, 254, 1897.
158 Tätigkeit der Zellen bei der Gassekretion.
wachsen, und die Steigerung wird in dieser Weise auch schon dann deutlich
hervortreten, wenn die Einatmung gewöhnlicher atmosphärischer Luft mit der
Einatmung einer Luft mit hohen Sauerstoffprozenten verglichen wird.
Mit Bezug auf die Kohlensäuresekretion gelten analoge Verhältnisse;
die Spannung der Kohlensäure steigt im Blute, wenn der prozentige Gehalt
der Alveolenluft an diesem Gase wesentlich vermehrt wird (Weißgerber).
Die Intensität der Sekretion wächst aber bei solcher Vermehrung an und
kohlensäurehaltige Luft wirkt somit als Incitament auf die Kohlensäuresekretion
(Bohr!). Nachdem Krogh das Vorhandensein einer Kohlensäureretention
bei der Lungenatmung der Kaltblüter unbestreitbar dargetan hat (S. 162),
gewinnen die Versuche am Hunde, bei denen eine solche zu vermuten war
(Bohr?), an Interesse.
Die Zellenarbeit, deren Abhängigkeit von nervösen Einwirkungen
später (S. 177) zu diskutieren sein wird, ist periodisch (Henriques), in-
dem sowohl die Kohlensäureausscheidung als die Sauerstoffaufnahme Schwan-
kungen von etwa 4 Proz. des Wertes und von der Dauer !/, bis 1 Minute
zeigt; die beiden Arten der Schwankungen geschehen gewöhnlich mit der-
selben, zuweilen mit verschiedener Phase (S. 180). Hier wie öfters im Orga-
nismus bedingen. solche Schwankungen wohl die Regulation um den mitt-
leren Wert.
Eingriffe, welche die Vitalität des gesamten Organismus herabsetzen,
schädigen, wie zu erwarten, die Tätigkeit der Zellen; so finden Haldane
und Smith, daß das Verhältnis der Sauerstoffspannung des Blutes zu der
der Alveolenluft bedeutend herabgesetzt wird durch excessive Abkühlung
oder Erwärmung der Tiere, durch Fieber und durch den lokalen Irritations-
zustand der Lunge, der durch hohe Sauerstoffdrucke verursacht wird
(Lorrain Smith); auf die Wirkung des letzteren Eingriffes werden wir
später anderswo zurückkommen.
Die Energie, mit der die ngerüeen den einmalin die feuchte Ober-
flächenschicht der Lunge eingedrungenen Sauerstoff zu entfernen vermögen, ist
unter Umständen eine sehr bedeutende. Erreicht die Sauerstoffaufnahme ein
Maximum, wie während angestrengter körperlicher Arbeit (S. 170) oder wie bei
Fröschen während der Paarungszeit (8. 163), so bemächtigen die Zellen sich
des Sauerstoffs mit solcher Geschwindigkeit, daß die Sauerstoffspannung der
Lungenoberfläche, praktisch. gesprochen, gleich Null und der Differenzdruck
somit gleich der Sauerstoffspannung der Alveolen wird, wodurch selbst-
verständlich dem weiteren Anwachsen der Sauerstoffaufnahme eine Grenze
gesetzt ist. Dasselbe ist der Fall bei Atmung unter den niedrigsten Sauer-
stoffdrucken, bei denen das Leben sich noch erhalten läßt. Die Grenze der
Leistungsfähigkeit des Organismus wird unter solchen Verhältnissen also nicht
durch das Versagen der Arbeit der Lungenzellen bestimmt, sondern durch
einen meßbaren physikalischen Faktor, nämlich durch diejenige Beschränkung
des Eindringens von Sauerstoff in die Oberflächenschicht der Lunge, die
durch die Größe der Oberfläche und des Differenzdruckes gegeben ist.
Was die Natur der Zellenarbeit betrifft, so muß angenommen
werden, daß eine solche von den Spannungen unabhängige Beförderung
!) Skand. Arch. f. Physiol. 2, 264, 1890. — ?) 1. c. 8. 267.
A a As
Tätigkeit der Zellen bei der Gassekretion. 159
von Gasen deren vorübergehende chemische Bindung in den Zellen
involviert. Mit Bezug auf den Sauerstoff wird diese Ansicht in hohem Grade
durch Ehrlichs!) interessante Versuche gestützt, welche erweisen, daß die
Lunge eines der Organe ist, die den Sitz der stärksten Reduktionsprozesse
bilden. Bekanntlich prüft Ehrlich das Reduktionsvermögen der Gewebe
durch Injektion von Alizarın am lebenden Tiere. Die dissoziable Sauerstoff-
verbindung dieses Farbstoffs ist blau, der reduzierte Farbstoff dagegen weiß.
Hat der in einem Organ abgelagerte Farbstoff daher letztere Farbe, während
die Schnittfläche nach Behandlung mit oxydierenden Mitteln blau wird, so
ist das Organ der Sitz von Reduktionsprozessen gewesen. Was die Lunge
betrifft, so findet Ehrlich?) „die höchst überraschende Tatsache, daß das
Lungengewebe ein außerordentlich hohes, ja vielleicht das höchste Reduktiens-
vermögen unter allen Parenchymen besitzt. So hat bei der Taube nur die
Lunge die Fähigkeit gezeigt, Alizarinblau zu reduzieren, während diese fast
allen anderen Geweben abging.*“ Ehrlich lenkt die Aufmerksamkeit auf
das Unerwartete dieses Resultates und fährt fort: „Dennoch war die Tatsache,
die ich Hunderte von Malen konstatierte, nicht wegzuleugnen.“ Die Ab-
lagerung des Farbstoffs geschieht in Zellen, und Ehrlich meint, hier müsse
die Ablagerung in den Stromazellen stattfinden, „indem die dünnen, fast
plasmafreien und stets von Sauerstoff durchströmten Alveolarepithelien
nicht gut einen Reduktionsvorgang vermitteln können“. Nachdem es sich
indes erwiesen hat, daß die Zellen des Lungengewebes der Sitz eines Gas-
sekretionsvorganges sind, ist Ehrlichs Betrachtung über den Ort der Farb-
stoffablagerung nicht mehr zwingend, und es scheint natürlicher, die Reduk-
tionsvorgänge in die Sekretionszellen zu verlegen, um so mehr, da das echte
Bindegewebe der Lunge primär blaufarbig, mithin während des Lebens
sauerstoffhaltig ist. Interessant ist Ehrlichs Bemerkung, beim Öffnen
des Thorax am lebenden Tiere sehe man, daß die Lunge normal gefärbt sei,
„doch scheint es manchmal, als ob ein leichter Hauch von Blau die Ober-
fläche rasch überfliege und ebenso rasch wieder verschwinde“ Die Beob-
achtungen über die Gassekretion in der Schwimmblase der Fische ($. 163),
in der zuweilen äußerst hohe Sauerstoffdrucke (über 100 Atmosphären) erzeugt
werden, spricht ebenfalls entschieden für das Vorhandensein eingreifender
chemischer Vorgänge bei der Sauerstoffsekretion.
Wie viele andere Gewebe’) sind auch die Lungen gegen totalen Sauer-
stoffmangel sehr empfindlich, was nach dem Nachweise der in diesen Or-
ganen stattfindenden Zellenarbeit verständlich wird. Das Vorhandensein einer
wenn auch nur geringen Sauerstoffspannung ist notwendig, um das Funktions-
vermögen zu erhalten, was namentlich die Verhältnisse bei den Tauchervögeln
bezeugen®). Diese Tiere sind imstande, sich einige Zeit hindurch mit nur
wenig Sauerstoff zu begnügen und dennoch während einer verhältnismäßig
bedeutenden Kohlensäureproduktion das Leben fortzusetzen. Bei Einatmung
einer Gasmischung mit 5 Proz. Sauerstoff kann z.B. die Kohlensäureausschei-
dung den völligen, normalen Wert behalten, während die Sauerstoffaufnahme
‘) Sauerstoffbedürfnis des Organismus. Berlin 1885. — °) l. c. 8. 143. —
®) Vgl. Verworn, Allgem. Physiol. Jena 1903, 8. 301. — *) Bohr, Oversigt over
d. Kgl. danske Vidensk. Selskabs Forhandlinger. 1897, S. 229 u. f.
160 Sauerstoffbedürfnis der Lungenzellen.
sehr bedeutend sinkt (5 => 2,5), Ganz andere Verhältnisse stellen
9 |
sich aber ein, wenn die Einatmungsluft nur etwa 1 Proz. Sauerstoff enthält.
Dann stockt die Atmung nach Verlauf von etwa 1!/, Minuten, und die
Vögel werden reflexlos; wird schnell eine künstliche Respiration mit atmo-
sphärischer Luft angewandt, so können die Vögel wieder ins Leben gerufen
werden, es tritt dann aber ein mehr oder weniger ausgeprägter tetanischer
Zustand ein, der unter anderen Verhältnissen nie bei diesen Tieren beobachtet
wird, nicht einmal, wenn die Trachea so lange versperrt wurde, bis die
Atmungsbewegungen und die Reflexe aufhörten, wodurch das Sauerstofi-
prozent in den abgesperrten Lungen freilich auch nicht tiefer sinkt als bis
ein wenig unter 2Proz. Da es sich also erweist, daß eine sehr sauerstoff-
arme Luft schnell tötet — so schnell, daß der Sauerstoffgehalt des Blutes
während der hierzu erforderlichen Zeit bei weitem nicht verzehrt wird —
und das Eintreten besonderer nervöser Nachwirkungen veranlaßt, ist ihre
Wirkung im Verhältnis zu einer nur wenig sauerstoffreicheren Luft wahr-
scheinlich durch eine Einwirkung auf die Lunge selbst zu erklären. Auch
die Resultate der Versuche über Kohlenoxydeinatmung, gegen die die Taucher-
vögel sehr widerstandsfähig sind, sprechen für einen solchen Schluß; wegen
dieses Punktes müssen wir jedoch auf die zitierte Originalabhandlung ver-
weisen.
$ 3. Die Gassekretion in der Froschlunge und.in der
Schwimmblase der Fische.
Wegen ihrer Bedeutung für die allgemeine Theorie der Respiration
werden wir im folgenden die Resultate einiger an Kaltblütern angestellten
Untersuchungen behandeln. Es handelt sich hierbei teils um die Respira-
tion der Frösche, teils um die Gasausscheidung in der Schwimmblase
der Fische. Der Gaswechsel des Frosches findet bekanntlich teils durch
die Haut, teils durch die Lungen statt; das Studium der besonderen Funk-
tionen dieser beiden respiratorischen Organe zeigt uns, daß dieselben qualitative
Unterschiede darbieten, die wohl geeignet sind, uns darüber aufzuklären, was
der eigentlichen Gassekretion (in der Lunge) im Gegensatz zu einer einfachen
Diffusion (durch die Haut) eigentümlich ist. Die Sauerstoffproduktion in
der Schwimmblase der Fische gibt uns ein prägnantes Bild von dem Vermögen
der Sekretion, unter Umständen sehr hohe Sauerstoffspannungen zu erzeugen,
und von deren entschiedener Abhängigkeit von nervösen Einflüssen.
Die Haut- und Lungenrespiration der Frösche.
Bestimmt man den respiratorischen Stoffwechsel der Frösche sowohl
bevor als nachdem die Teilnahme der Lungen an demselben durch Ver-
sperrung der Luftwege oder durch Exstirpation der Lungen ausgeschlossen
wurde, so findet man, daß der genannte Eingriff bald ein sehr starkes Sinken
des Stoffwechsels hervorbringt, bald fast ohne Wirkung auf diesen bleibt.
Dies steht mit einer Eigentümlichkeit im Zusammenhange, die man bei der
Anwendung dieser Tiere zu Bestimmungen des Stoffwechsels gut ins Auge
fassen muß, mit den bedeutenden Schwankungen nämlich, denen dieIlntensität-
ihres Stoffwechsels unterworfen ist. Teils nimmt diese bekanntlich bei
Haut- und Lungenatmung der Frösche. 161
steigender Temperatur zu, teils, und das ist besonders zu beachten, schwankt _
sie auch bei derselben Temperatur (Zimmertemperatur) nach den Jahreszeiten,
so daß sie während der Paarungszeit ihr Maximum (etwa 400cem O0, pro
Kilogramm und Stunde) erreicht, in den Wintermonaten dagegen weit ge-
ringer ist (etwa 70 ccm pro Kilogramm und Stunde) und unter Umständen
sogar nur etwa 40 cem 0, pro Kilogramm und Stunde beträgt. Die Wirkung
der Ausschließung der Lungenrespiration erweist sich nun als von der Größe
des Stoffwechsels vor dem Eingriff abhängig. Ist der Stoffwechsel
ursprünglich ein hoher, so sinkt er bedeutend; ist er ursprünglich niedrig,
so hält er sich fast unverändert (Bohr!). Der anscheinende Mangel an
Übereinstimmung der von früheren Untersuchern [Regnault und Reiset?),
Berg:)], gefundenen Resultate beruht auf dem Übersehen dieses Umstandes.
Der Anteil der Haut an der gesamten Atmung ist ziemlich konstant; ist der
totale Stoffwechsel groß, so beträgt derselbe nur einen verhältnismäßig ge-
ringen Teil davon; umgekehrt, wenn der Stoffwechsel im ganzen ein geringer
ist. Die starken Schwankungen des totalen Stoffwechsels sind also der Be-
teiligung der Lungen an demselben zu verdanken, und hierdurch erklärt
sich die verschiedene Wirkung, welche die Ausschließung dieser Beteiligung
haben kann.
Die Haut und die Lunge der Frösche unterscheiden sich aber als Atmungs-
organe nicht allein dadurch, daß die Lungen unter Umständen einen bedeutend
größeren Stoffwechsel zu unterhalten vermögen, sondern die genannten Organe
bieten auch in ihrer Funktion wesentliche qualitative Verschiedenheiten
dar. So steigt bei der Ausschließung der Lungenatmung der respiratorische
Quotient . ; die Kohlensäure wird also in verhältnismäßig größerer Menge
0, g8 8
durch die Haut ausgeschieden (Bohr). Diese Verhältnisse wurden nun näher
untersucht vonKrogh‘’), dessen Untersuchungen den bedeutenden Fortschritt
darbieten, daß sowohl der Anteil der Lunge als der der Haut am Atmungs-
vorgange gleichzeitig an demselben Tiere bestimmt wurde. Die Resultate,
zu denen er gelangt, sind in den Hauptzügen folgende. Die Sauerstoffauf-
nahme durch die Haut ist, von der totalen Größe des Stoffwechsels unab-
hängig, nahezu konstant; die größten Schwankungen betragen nur von 43
bis 60cem pro Kilogramm und Stunde. Die Kohlensäureausscheidung durch
dasselbe Organ ist im ganzen beträchtlicher als die Sauerstoffaufnahme und
schwankt auch mehr (von 92 bis 179ccm pro Kilogramm und Stunde);
durchschnittlich ist sie indes während des größten Teiles des Jahres ziemlich
gleichmäßig, während der Paarungszeit erreicht sie aber die höheren Werte.
Ein ganz anderes Bild gibt die gleichzeitig bestimmte Lungenatmung.
Nicht nur ist hier im Gegensatz zur Hautatmung die Sauerstoffaufnahme im
ganzen bedeutender als die Kohlensäureabgabe, sondern auch sind die
Schwankungen der Intensität weit größer. So findet man die Sauerstoffauf-
‘“ nahme der Lungen von 51 bis 390 ccm pro Kilogramm und Stunde, und die
Kohlensäureausscheidung, die während der Paarungszeit eine bedeutende
!) Skand. Arch. 10, 88, 1900. — ?) Ann. de chim. et de phys. (3) 26, 299. —
®) Unters. über die Hautatmung der Frösche. Diss. Dorpat 1868. — ‘) 1. c. 8.88,
— °) Skand. Arch. 15, 328, 1904.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 11
m
er]
DD
Sauerstoffspannung in der
Oberfläche
Lunge
Differenzdruck d
|
Sauerstoffaufnahme
pro Stunde
Lungen-
oberfläche
gem
94
98
Aktive
Hautoberfläche
gem
129
145
Durehschnittl.
Gewicht
eines Frosches
37,5
39,7
Haut- und Lungenatmung der Frösche.
Größe (bis 90 ccm pro Kilogramm und Stunde) erreicht,
kann im Winter bis auf ungefähr Null sinken,
während zugleich übrigens eine reichliche Sauerstoff-
aufnahme stattfinden kann.
Die qualitative Verschiedenheit der Haut- von der
Lungenatmung ist also augenscheinlich bedeutend, und
die erheblichen Schwankungen der Intensität des Stoff-
wechsels in der Lunge machen es höchst wahrscheinlich,
daß dieses Organ der besondere Sitz spezifischer Zellen-
tätigkeit ist. Diese Anschauung findet ihre Bestätigung
durch eine Reihe anderer Erfahrungen. So beobachtet
Krogh!), daß eineKohlensäurespannung von wenigen
Prozenten in der die Haut umgebenden Atmosphäre
ein bedeutendes Steigen der Sauerstoffaufnahme in
der Lunge allein bewirkt, das sich um so weniger
durch einen Diffusionsprozeß erklären läßt, da die Sauer-
stoffaufnahme der Haut gleichzeitig sinken kann !). Diese
‚ Wirkung auf die Lunge unterbleibt, sobald die cutanen
Äste des N. vagus durchschnitten werden; überhaupt
scheint die Lungenatmung vom Nervensystem stark
beeinflußt zu werden, während eine nervöse Einwirkung
auf die Hautatmung durchaus vermißt wird. Diese Ver-
hältnisse — die Konstanz der Hautatmung und ihre
Indifferenz gegen das Nervensystem im Gegensatz zur
Lungenatmung — bewegen zu dem Schlusse (Krogh),
daß der Gaswechsel durch die Haut von einer
Diffusion, der Gaswechsel: durch die Lunge
aber wesentlich von einer Sekretion herrührt.
In der Lunge der Frösche findet normal eine
Kohlensäureretention statt, welche die Kohlensäure-
spannung des Blutes in einer gewissen Höhe erhält
(Krogh). In diesem Zusammenhange gewinnen die
wenigen Versuche an Warmblütern, wo ebenfalls eine
Kohlensäureretention der Lunge stattzufinden schien, an
Wichtigkeit (S. 148).
Die von Krogh aufgestellte Auffassung der Natur
der Haut- und der Lungenatmung beim Frosche findet
in hohem Grade ihre Bestätigung durch Berechnung
der Sauerstoffspannung teils in der Haut, teils in der
Oberflächenschicht der Lungenmembran. Wie eine solche
Berechnung anzustellen ist, wurde oben (S. 141) be-
schrieben; hier erinnern wir nur daran, daß der Diffe-
renzdruck (d) mittels des Invasionskoeffizienten, der -
Größe der Sauerstoffaufnahme und des Areals der Lunge,
bzw. der Haut gefunden wird. Krogh unternahm sorg-
fältige Ausmessungen dieser Areale; dieselben sind als
!) Krogh, 1. c. 8. 382.
Haut- und Lungenatmung der Frösche. 163
Grundlage für die Berechnung der beiden untenstehenden typischen Fälle
benutzt, deren einer (Nr. 1) den Durchschnitt der Sauerstoffaufnahme der
Rana fusca!), der andere (Nr. 2) das Maximum der bei Fröschen beob-.
achteten Sauerstoffaufnahme ?) gibt. Die Temperatur ist in beiden Fällen 20°,
die Sauerstoffspannung‘ der Luft über der Haut und der Lungenoberfläche
158mm; die Differenz zwischen dieser Größe und dem Differenzdrucke zeigt
also die Sauerstoffspannung in der Oberflächenschicht an.
Während der größten beobachteten Aufnahme von Sauerstoff in der
Froschlunge war die Sauerstoffspannung in der Lungenoberfläche, wie man
sieht, fast Null. Hier wurde also in der Tat sogleich aller Sauerstoff weg-
genommen, der unter den gegebenen physikalischen Bedingungen überhaupt
in die oberflächlichste feuchte Schicht der Lunge eingedrungen war; die Zellen
müssen mithin imstande gewesen sein, den Sauerstoff ebenso schnell zu ent-
fernen, wie er aus der Lungenluft in die Oberfläche der Lungenmembran
eindrang, und ihn ins Blut hinein zu befördern, wo die Sauerstoffspannung in
diesem Falle sicherlich bedeutend höher als in der Lungenoberfläche gewesen
seinmuß. Die spezifische Tätigkeit der Lungenzellen ist mithin auch hier außer
Zweifel gestellt. Was den numerischen Wert der Sauerstoffspannung im Blute
des Frosches betrifft so liegt ein einzelner Versuch hierüber von Haldane und
Smith vor, in welchem derselbe gleich etwa 137 mm befunden wird, was
jedoch als ein maximaler Wert zu betrachten ist (S.154). Da in den beiden
Nummern der obigen Tabelle die Spannung in der Hautoberfläche gleich 142
bzw. 135 mm befunden wird, steht nichts der Annahme entgegen, daß die
Sauerstoffaufnahme durch die Haut von einer Diffusion herrührt, für welche
Ansicht so viele andere, oben angeführte Erfahrungen sprechen.
Die Atmung der Frösche bietet somit ein interessantes Beispiel eines Gas-
wechsels dar, der gleichzeitig mittels Diffusion (durch die Haut) und mittels
Sekretion (durch die Lunge) stattfindet, und ein Vergleich der Hautatmung
dieser Tiere mit deren Lungenatmung gibt ein gutes Bild von den Ver-
schiedenheiten dieser beiden Vorgänge.
Die Sauerstoffsekretion der Schwimmblase.
Wichtige Aufschlüsse über die Gassekretion hat man durch Unter-
suchungen über die in der Schwimmblase der Fische stattfindende Gas-
produktion errungen. Es würde den Rahmen dieser Darstellung überschreiten,
wollten wir die einschlägige, ziemlich umfangreiche Literatur mustern; wir
beschränken uns deshalb auf, die Betrachtung der Hauptzüge, die für die
Lehre von der Sekretion besonders wichtig sind.
Biot 3) beobachtete, daß Fische, die in beträchtlichen Tiefen gefangen
wurden, in der Schwimmblase ein Gas enthielten, das oft zu mehr als 80 Proz.
aus Sauerstoff bestand. In einer Tiefe von z. B. 1500m werden solche
Fische in der Schwimmblase, deren Wände nachgiebig sind, einen Sauerstoff-
partialdruck haben, der die ungeheure Größe von etwa 90 Atm. erreicht,
während die Sauerstoffispannung in dem die Fische umgebenden Wasser in
solchen Tiefen wie auch an der Oberfläche nahezu !/, Atm. beträgt. Daß
!) Krogh, 1. e. 8. 357. — ?) Bohr, 1. ce. 8.87. Versuch XI, 1, 2.— °) M&moires
de la soci6t& d’Arcueil 1807.
Ra Sn
164 Sauerstoffsekretion der Schwimmblase.
der Sauerstoffgehalt der Schwimmblase unter diesen Bedingungen unmöglich
durch Diffusion aus den Umgebungen erzeugt sein kann, springt sofort in
die Augen, und seit Biots Beobachtung nimmt man denn auch zur Erklärung
dieser Erscheinung eine spezifische („dynamische“) Tätigkeit des Organs an.
Fische, die sich in den mehr oberflächlichen Schichten des Wassers aufhalten,
haben dagegen ein weit weniger sauerstoffhaltiges Gas in der Schwimmblase,
gewöhnlich ist das Sauerstoffprozent geringer als das der Atmosphäre. Die
Ursache dieser Verschiedenheit bei Fischen derselben Gattung, wenn sie aus
der Tiefe und wenn sie aus der Oberfläche geholt werden, wies Moreau!)
nach. Befindet sich ein Fisch, der sich in der oberflächlichen Schicht des
Wassers aufhält, im Gleichgewicht mit dieser, so muß das Gleichgewicht
gestört werden, wenn er tieferes Wasser aufsucht und somit größerem Druck
unterworfen wird; wegen der Kompression der mit Gas angefüllten Schwimm-
blase wird das Tier nämlich ein geringeres Volumen und folglich ein größeres
spezifisches Gewicht bekommen. Um wieder das vorige Volumen einzu-
nehmen und hierdurch mit dem Wasser in Gleichgewicht zu kommen, muß
die Schwimmblase mit Gas gefüllt werden, bis sie unter dem vermehrten
Drucke das ursprüngliche Volumen einnimmt, und dies geschieht mittels der
Sekretion fast reinen Sauerstoffs; umgekehrt geht es, wenn der Fisch nach
einem Aufenthalt in der Tiefe an die Oberfläche emporsteigt. Durch An-
bringung desselben Fisches bald in der Oberfläche, bald in verschiedenen
Tiefen konnte Moreau das Sauerstoffprozent in dessen Schwimmblase will-
kürlich abändern. Entleert man das Gas der Schwimmblase durch Punktur
mit einem Troicart, so wird auch auf diese Weise das Gleichgewicht mit den
Umgebungen gestört, indem das Tier sein Volumen vermindert, obschon es
unter demselben Drucke bleibt, z. B. in der oberflächlichen Schicht des
Wassers; die Schwimmblase wird sich dann nach Verlauf einiger Zeit wieder
mit Gas gefüllt haben , und dieses besteht zum größten Teil aus Sauerstoff.
Durch Punktierung kann man also hohe Sauerstoffprozente in der Schwimm-
blase der Fische erzeugen, ohne daß man nötig hat, sie durch Hinabsenken
in größere Tiefen einem vermehrten Drucke auszusetzen (Moreau).
Diese Gassekretion, die wir also willkürlich hervorzurufen vermögen,
steht unter der Herrschaft des Nervensystems. Wird der Vagus
intestinalis durchschnitten, was sich am Dorsche ohne Schwierigkeit be-
werkstelligen läßt, so hört in demselben Augenblicke die Sauerstoffsekretion
der Schwimmblase auf; das in der Blase enthaltene Gas ändert seine Zu-
sammensetzung dann nicht, wenn die Blase zum Teil entleert wird; nach völliger
Entleerung bleibt sie fortwährend leer (Bohr?). Die Integrität des R. in-
testinalis N. vagi ist also die notwendige Voraussetzung für das Her-
vorbringen der Gassekretion. Durchschneidung der anderen Vagusäste
(R. cardiac., R. bronchial.) bleibt dagegen durchaus ohne Einfluß auf den
Vorgang. Mit Bezug auf den N. sympathicus gibt Moreau an, daß dessen
Durchschneidung eine Zunahme des Sauerstoffprozentes in der Blase be-
wirke; diese Versuche von Moreau sind aber insofern weniger sicher, da die
Untersuchung der Gase in der Blase vor und nach der Durchschneidung der
Nerven an verschiedenen Individuen angestellt wurde, was stets Un-
!) M&moires de Physiologie, Paris 1877. — ?) Journ. of Physiology 15, 494, 1893.
BR
2
x
h
E
Sauerstoffsekretion der Schwimmblase. 165
sicherheit zur Folge hat. Übrigens würde eine solche Funktion des N. sym-
pathicus mit der vom N. vagus nachgewiesenen Funktion in gutem Einklang
stehen; da Durchschneidung des N. sympathicus eine Zunahme der Sauerstoff-
sekretion bewirkt, muß seine Reizung nämlich die Abnahme des Sauerstoffs
hervorbringen, während der N. vagus der eigentliche, die Sauerstoff-
entwickelung hervorrufende Sekretionsnerv ist.
Besondere, stark vaskularisierte Bildungen, die roten Körperchen, be-
sorgen, wenigstens hauptsächlich, die Sauerstoffsekretion in der Schwimmblase
(Moreau!); als Austrittsort des Sauerstoffs betrachtet man das sog. Oval
(A. Jaeger 2). Das Epithel der Schwimmblase ist für Sauerstoff undurch-
lässig; dies geht hervor aus Schultzes®) Beobachtung und aus Versuchen
mit der herausgenommenen Schwimmblase von Hechten, wo trotz eines Über-
drucks von 600 mm Sauerstoff im Laufe von drei Stunden kein Sauerstoff in
die Blase eindrang, wenn das Epithel intakt war (Bohr). Die Undurch-
lässigkeit des Epithels für Sauerstoff ist auch an der lebenden Schwimm-
blase daraus zu ersehen, daß das darin enthaltene Gas ein vorher erzeugtes
hohes Sauerstoffprozent durchaus unverändert beibehält, nachdem alle Pro-
duktion von Sauerstoff nach Durchschneidung des N. vagus aufgehört hat
(Bohr).
Das secernierte Gas besteht, wie wiederholte RR und Neu-
bildungen desselben erweisen, zu fast 85 Proz. aus Sauerstoff; der Rest ist
wesentlich Stickstoff, indem Kohlensäure sich nur in sehr ER Menge
vorfindet (Moreau, Bohr). Über die Arbeitsmethode der secernierenden
Zellen geben die Versuche keinen anderen Aufschluß, als den, daß wohl
eine zeitweilige chemische Bindung des Sauerstoffs vorauszusetzen ist (S. 159).
Sich auf den Fund destruierter Blutkörperchen in mikroskopischen Präpa-
raten der Kapillaren der roten Körperchen stützend hat Jaeger‘) die Ver-
mutung aufgestellt, diese Destruktion sollte ein Freiwerden des an die
Blutkörperchen gebundenen Sauerstoffs bewirken, das die Sauerstoffproduk-
tion der Schwimmblase begünstigen könnte. Hierbei müßte natürlich
vorausgesetzt werden, daß bei der Destruktion der Blutkörperchen zugleich
auch das Hämoglobin dekomponiert würde, was Jaeger indes nicht unter-
suchte. Diese Auffassung, die sich, wie gesagt, lediglich auf die Beobachtung
destruierter Blutkörperchen in mikroskopischen Präparaten stützt, hat jedoch
keine Wahrscheinlichkeit für sich. Damit ein solcher Prozeß Bedeutung
haben sollte, müßte der Sauerstoff in der Schwimmblase selbstverständlich
wesentlich vom dekomponierten Hämoglobin herrühren. Dies würde wieder
die Annahme notwendig machen, daß Destruktion und Neubildung von Blut-
körperchen und Hämoglobin in bisher nicht gekanntem Umfange stattfänden.
So kann man einen Dorsch vom Gewicht von etwa 1kg leicht dahin bringen,
im Laufe von sechs Stunden 10 ccm Sauerstoff zu secernieren; während dieser
Zeit müßten nun alle Blutkörperchen und die gesamte Be lehinmenge
destruiert und neugebildet worden sein, und da die Sauerstoffproduktion
sich einmal über das andere unmittelbar nacheinander hervorrufen läßt,
’) 1. ec. 8. 14. — ?) Pflügers Archiv 94, 65, 1903. — ®) Ebenda 5, 51, 1872. —
*) Compt. rend. de l’acad. des sciences 114, 1560, 1892. — °) Journ. of Physiology
15, 498, 1893. — °) Pflügers Archiv 94, 95, 1903.
166 Relative Unabhängigkeit der Gassekretion in beiden Lungen.
müßten auf diese Weise auch die Destruktion und die Neubildung aller Blut-
körperchen mehrmals im Laufe von 24 Stunden stattfinden können.
Die in diesem Abschnitt beschriebenen Erscheinungen zeigen, daß die
Sauerstoffsekretion und deren Abhängigkeit vom Nervensystem sich an der
Schwimmblase besonders leicht demonstrieren lassen. Dies hängt wohl damit
zusammen, daß die Bedeutung dieses Organs für den totalen Stoffwechsel des
Tieres eine verhältnismäßig geringe ist; die durch die Experimente verur-
sachten funktionellen Störungen rufen deshalb keine merkliche Wirkung auf
die Ernährung der übrigen Gewebe hervor. In den Lungen erzeugt der
experimentelle Eingriff dagegen leicht weitreichende Störungen im ganzen
Organismus und dadurch Änderungen der Funktion anderer Organe, die
das Resultat leicht verhüllen können.
$ 4. Die relative Unabhängigkeit der Gassekretion in jeder
der beiden Lungen.
Die gleichzeitige Bestimmung des Stoffwechsels in jeder Lunge für sich
wird sich im folgenden als unentbehrliches Hilfsmittel beim Studium der
Lungenfunktion erweisen. Wie oben berührt, ist die Lunge darum ein
schwieriges Versuchsobjekt, weil die experimentellen Eingriffe wegen der
fundamentalen Wichtigkeit der Lungen für den Stoffwechsel besonders weit-
reichende Wirkungen auf den ganzen Organismus erhalten; das zur Lunge
strömende Blut bekommt dann leicht eine geänderte Zusammensetzung, wo-
durch die Lunge unter neue Bedingungen gerät, und die spezielle Wirkung
des Eingriffes auf dieses Organ undeutlich wird. Diesem Übelstande wird
zum Teil abgeholfen, wenn man jede Lunge für sich zur Bestimmung des
respiratorischen Stoffwechsels benutzt; läßt man die Einwirkung (z. B.
Variation der Atemgröße, der das Organ durchströmenden Blutmenge usw.)
in der einen Lunge allein stattfinden, so kann die andere Lunge zur Kon-
trolle dienen, indem die Zusammensetzung des Blutes in beiden Lungen
zu jeder Zeit durchaus dieselbe ist.
Schon die ohne weitere Eingriffe vorgenommene einfache Bestimmung des
respiratorischen Stoffwechsels in jeder Lunge für sich, während die äußeren
Umstände für beide möglichst gleich gehalten werden, erweist sich als für
die Untersuchung über die Gassekretion in diesem Organe nicht ohne Be-
deutung. In der Tat findet man oft den respiratorischen Quotienten für
die beiden gleichzeitig untersuchten Lungen um nicht so wenig verschieden,
ja der respiratorische Quotient ändert sich bisweilen in der einen Lunge
allein trotz. unverändert bleibender Versuchsbedingungen; dies gibt eine
gute Bestätigung des Vorhandenseins der spezifischen Zellentätigkeit in der
Lunge, die wir bereits auf anderem Wege gefunden haben. Als Beispiele
können untenstehende Versuche von Maar!) dienen. Wegen der Methode
verweisen wir auf die zitierte Abhandlung ?); hier soll nur bemerkt werden,
daß das Einbinden von Kanülen in den beiden Hauptbronchien, das bei
Schildkröten sehr leicht ist, sich nach einiger Übung auch bei Kaninchen aus-
führen läßt, ohne die Pleurae zu beschädigen. Die untenstehenden Versuche
!) Skand. Arch. f. Physiologie 13, 269, 1902 (vgl. ebenda 16, 369, 1904). —
1.0.8273 UL.
EEE LEERE DEE,
Relative Unabhängigkeit der Gassekretion in beiden Lungen. 167
an Kaninchen wurden teils mit natürlicher Atmung während einer Morphin-
Narkose (I)!), teils mit künstlicher Atmung nach Nackenstich (II)?) unter-
nommen. Die Dauer der einzelnen an war zehn Minuten; die
Zahlen geben Cubikcentimeter an.
I. Kaninchen. Natürliche Atmung.
Lange Exspirationsluft O0, CO, Co,
in 10 Minuten , aufgenommen produziert 0,
| .rechte 1630 124 86 0,69
linke 1285 81 64 0,79
rechte 1718 122 88 0,72
linke 1311 79 64 0,81
3 | rechte 1742 » 127 90 0,71
linke 1330 9 63 0,80
I. Kaninchen. Künstliche Atmung.
Lunge Exspirationsluft 0, c 0, 0%
aufgenommen produziert 0,
J rechte 1543 31 42 1,36
| linke 1561 51 58 1,13
| rechte 1604 25 36 1,42
linke 1633 42 49 8%;
| rechte 1616 26 36 1,38
linke 1657 39 47 1,20
II. - Schildkröte. Natürliche Atmung).
Lunge Exspirationsluft 0, 6 ”s 0
aufgenommen produziert 0,
rechte 590 11,4 127 1,11
linke 621 10,8 13,8 1,28
| rechte 400 11,9 11,4 0,96
linke | 543 | 11,9 14,0 1,18
Der verschiedene Quotient der beiden Lungen, die sich unter gleichen
äußeren Verhältnissen befinden, muß der spezifischen Tätigkeit der Organe
zugeschrieben werden.
83. Kapitel. Einfluß von Änderungen der eingeatmeten Luftmenge
auf den Gaswechsel der Lungen.
Zwei verschiedene Seiten dieser Frage sind bei der Untersuchung in
Betracht zu ziehen, teils die Bedeutung der Accommodation der Atemgröße,
die stets sekundär eine Zunahme des Stoffwechsels des Organismus begleitet,
!) 1. e. S. 329, Nr. 30. — ?) 1. e..8. 330, Nr. 32..— °®) l.c. 8. 308, Nr. 1.
168 Änderung der Atemgröße.
teils die Wirkung, die eine primäre Änderung der Atemgröße auf den Gas-
wechsel hervorbringt, wo dieselbe, wie z. B. bei willkürlicher Vermehrung der
Einatmungsluft, eintritt, ohne von gesteigerten Ansprüchen von seiten des‘
Organismus hervorgerufen zu sein. Diese beiden Seiten der Frage sind am
zweckmäßigsten jede für sich zu behandeln.
$ 1. Accommodation der Atemgröße an die Größe des Stoff-
wechsels.
Steigt der Stoffwechsel wegen der Ausführung einer Arbeit (Muskel-
bewegung), so wird die während einer gegebenen Zeit die Lunge passierende
Luftmenge reflektorisch vermehrt. Umfassende Untersuchungen hierüber
wurden von E. Smith angestellt, der zur Messung der eingeatmeten Luft-
menge eine vom Versuchsindividuum getragene trockene Gasuhr anwandte.
Smith!) findet unter anderem folgende Zahlen für das Verhältnis der Atem-
größe zu verschiedenen mehr oder. minder anstrengenden Bewegungen; die
in liegender, ruhender Stellung eingeatmete Menge ist als Einheit genommen.
Stehende: Stellung zn. va a a
Gang, 1 engl. Meile pro Stunde. . ... 2... 1,90
Reiten im: Trab 2°, Fe ee 4,05
Gang, 4 engl. Meilen pro Stunde ... ....... 4,00
TRUE 5 ä RT Ne 7,00
Die Vermehrung der Atemgröße geschieht in der Regel durch Ver-
tiefung des einzelnen Atemzuges, wobei die Frequenz der Atemzüge, solange
die Arbeit keine gar zu große ist, ziemlich unverändert bleibt; bei sehr an-
strengender Arbeit dagegen nimmt auch die Frequenz zu. Wenn die Natur
der Arbeit die Erweiterung des Thorax erschwert, so nimmt vorzüglich die
Frequenz zu (Loewy 2).
Die Änderung der Lungenventilation ändert gewöhnlich an und für sich
nicht wesentlich die Größe der respiratorischen Oberfläche. Da nämlich
die Zunahme der Atemgröße nach beiden Seiten der mittleren vitalen Stellung
geschieht, wird die Vergrößerung der Lungenoberfläche während der In-
spirationsdauer so ziemlich deren Verminderung während der Exspirations-
dauer kompensieren. |
Der Zuwachs der Atemgröße erhält dagegen natürlich große Bedeutung
als der größeren prozentischen Ausnutzung der Luft entgegenwirkend, welche
der vermehrte Stoffwechsel sonst herbeiführen müßte. Für die Accom-
modation der Ventilation gilt hier die Hauptregel, daß die Atemgröße in
"solchem Verhältnisse zunimmt, daß die prozentige Zusammensetzung der Aus-
atmungsluft trotz des gesteigerten Stoffwechsels ziemlich unverändert bleibt.
Doch ist beim Menschen bei nicht gar zu harter Arbeit die Ventilations-
kompensation meist keine. vollständige; hat der Stoffwechsel z. B. bis etwa
zum Vierfachen zugenommen, so kann die Atemgröße bis stark über das
Dreifache vermehrt 'sein?). Die Ausatmungsluft wird unter solchen Um-
ständen also etwas ärmer an Sauerstoff und reicher an Kohlensäure als
!) Edinb. med. Journ. 1859, p. 619. — ?) Pflügers Archiv 49, 406, 1891. —
®) Vgl. Speck, Physiologie des menschlichen Atmens 1892, S. 62, und Katzen-
stein, Pflügers Archiv 49, 369, 1891.
E Bu ee TA
Accommodation der Atemgröße an den Stoffwechsel. 169
normal. Bei sehr angestrengter Arbeit ist das Ver- Age
hältnis oft das entgegengesetzte; die Ventilation wird = Eie Sg
hier überkompensiert, so daß die Ausatmungsluft BAES sl. +
reicher an Sauerstoff wird als während der Ruhe 25°
und 17 bis 18 Proz. Sauerstoff enthalten kann, wie Pr
es aus einigen von Specks Versuchen hervorgeht }). S S
Dieses Verhalten trifft man allgemein bei Kaninchen 2 “Ela s8
und Hunden an, auch bei geringerer Zunahme des S 5 A -
Stoffwechsels (Geppert und Zuntz?). :
Die volle Bedeutung der Ventilationskompen- ode Ruta,
sation bei steigendem Stoffwechsel wird erst dann HABE
klar, wenn man in den einzelnen Fällen zugleich y; E E: 23%%
den Differenzdruck berechnet; hierunter ver- O E S 3
steht man, wie öfters bemerkt, die Sauerstoff-
spannung, die erforderlich ist, damit die während &0
der Zeiteinheit tatsächlich durch die Lunge auf- „seleae
| : 204817535
genommene Sauerstoffmenge aus der Alveolenluft in = S,
die oberflächliche feuchte Schicht der Lungenmembran E a
eindringen kann. Der Differenzdruck (d) ist dann IE
die Differenz zwischen der Sauerstoffspannung in der 3 t
N
Alveolenluft (p) und der Spannung in der feuchten ° & S = =
Schicht der Lungenoberfläche (p,); kennt man d und
p, so läßt p, sich leicht berechnen, indem d=p-—-pı Pre
wo M die Sauerstoffaufnahme pro Kilogramm und |
Minute, 7 der Invasionskoeffizient (0,012)-und s die
Lungenoberfläche pro Kilogramm ist. Als Beispiel
ist.. Den Differenzdruck findet man aus der Gleichung e en
S. 141) al ; EEE Er
Be __.M.760 WET
3%.:5, =
®
3
Be
von dem Verhältnis der Atemgröße zum Stoffwechsel ap
und speziell von der Wichtigkeit der gleichzeitigen | 5 3 = Ss
Bestimmung der Sauerstoffspannung in der Lungen- | 5” er
oberfläche kann die bedeutende Reihe von Versuchen
benutzt werden, die Katzenstein °) über den Stoff- = @ RR
wechsel bei teils ruhenden, teils mit verschieden 257 = BE 58
starker Arbeit beschäftigten Menschen anstellte; die 8 9 a
Arbeit bestand teils in horizontalem Gehen, teils m nasse
in Steigen auf der von Zuntz konstruierten Tret- | =
bahn. Unten geben wir tabellarisch die Mittel dr | 8352| *==
Versuche mit einem 52,5 kg wiegenden Manne, dessen | a
Lungenoberfläche sich also ($. 137) auf 142qm |
pro Kilogramm berechnen läßt. Aus den angegebenen
.Werten der Größe des Stoffwechsels *) und der Atem-
größe °) berechnete ich unter der Voraussetzung,
!) Speck, l.e. 8. 70. — ?) Pflügers Archiv 42,
198, 1888. — ®) Ebenda 49, 330, 1891. — ®) 1. c. 8. 363. —
®) ]. ce. 8. 370.
Horizontaler Gang
Ruhe
Steigen
170 Accommodation der Atemgröße an den Stoffwechsel.
daß die Luft bei den Versuchen eine durchschnittliche Temperatur von 18,5
hatte, das mittlere Prozent des Sauerstoffs und der Kohlensäure in der aus-
geatmeten Luft. Die Alveolenluft berechnete ich aus der Zusammensetzung
der Exspirationsluft und der Größe eines Atemzuges, die ich wieder unter
der Voraussetzung berechnete, daß die Frequenz der Atmung während der
verschiedenen Arbeit wesentlich dieselbe war; eine Ungenauigkeit dieser
letzteren Annahme wird übrigens fast gar keine Bedeutung erhalten, da
der schädliche Raum (Trachea usw.), der in Betracht des geringen Körper-
gewichts hier auf 120 ccm angesetzt ist, bei so großer Atmung nur geringen
Einfluß bekommt.
Die Sauerstoffspannung in der Lungenoberfläche nimmt also
während des vermehrten Stoffwechsels ab trotz der gesteigerten
Ventilation (siehe Tabelle S. 169). Bei mittelstarker Arbeit ist die
Spannung in obigen Versuchen kaum halb so groß wie in Ruhe, bei starker
Arbeit ist sie Null, indem der Differenzdruck hier gleich der vollen Sauerstoff-
spannung der Alveolenluft ist; daß letztere Zahlen genau gleich groß sind,
ist natürlich als Zufall zu betrachten; sicherlich war die Sauerstoffspannung
in der Lungenoberfläche unter diesen Verhältnissen aber höchstens nur
wenige Millimeter.
Die Unentbehrlichkeit einer Zunahme der Ventilation geht mit aller
Deutlichkeit hieraus hervor; aus rein physikalischen Gründen hätte die
Sauerstoffaufnahme nicht in dem beobachteten Umfange stattfinden können,
wäre, der vergrößerten Aufnahme ungeachtet, die Alveolarspannung nicht
wegen der Zunahme der Ventilation auf etwa 15 Proz. Sauerstoff stehen
geblieben, und solange die Alveolarspannung diesen Wert beibehält, ist eine
größere Sauerstoffaufnahme als die gefundene unmöglich; natürlich könnte
aber bei noch größerer Zunahme der Ventilation die Sauerstoffspannung der
Alveolenluft steigen und damit die physikalischen Bedingungen für die
Möglichkeit einer größeren Sauerstoffaufnahme zuwege gebracht werden.
Dadurch, daß wir die Schwankungen der Sauerstoffspannung in der
Lungenoberfläche mit in unsere Betrachtung hineinzogen, gelang es uns
also, festzustellen, daß die Lungenzellen imstande sind, den Sauerstoff behufs
Weiterbeförderung so intensiv zu binden, daß die Sauerstoffspannung der
Lungenoberfläche, wenn es wegen der Vermehrung des Stoffwechsels not-
wendig wird, bei ganz niedrigen Werten gehalten werden kann, so daß die
volle Sauerstoffspannung der Alveolenluft als Differenzdruck wirken wird.
Dies steht ganz damit in Übereinstimmung, was wir oben ($. 163) hinsicht-
lich der Frösche während des maximalen Lungenstoffwechsels in der Paarungs-
zeit nachwiesen, und in einem folgenden Abschnitt (S. 212) werden wir sehen,
daß ganz analoge Verhältnisse sich hinsichtlich des Wertes der niedrigsten
Sauerstoffspannung in der Eimatmungsluft, bei welcher das Leben noch mög-
lich ist, geltend machen. Überhaupt finden wir überall, wo sich eine Gelegen-
heit zur Prüfung der aus der Invasionstheorie abgeleiteten Schlüsse darbot,
deren Bestätigung; so auch in folgender Betrachtung über den Zusammen-
hang zwischen maximaler Lungenventilation und maximaler
Sauerstoffaufnahme. |
Die Luftmenge, welche während maximaler Arbeit (auf der Tretbahn
oder beim Laufen) die Lunge passiert, findet Smith, wie oben angegeben,
3
u a En ln no
Berechnung der maximalen Sauerstoffaufnahme aus der maximalen Atemgröße. 171
5,26 mal größer als in relativer Ruhe (in stehender Stellung). Da für einen
Mann (70kg) die Atemgröße pro Minute während des letzteren Zustandes
als 8500cem anzusehen ist, wird die maximale Ventilation mithin 44 710 ccm
pro Minute oder 644ccm pro Kilogramm und Minute. In der oben ange-
führten Invasionsgleichung
M.760
ys
ist, wie wir soeben sahen, die Spannung in der Lungenoberfläche (p,) praktisch
gesehen gleich Null, wenn die Sauerstoffaufnahme maximal ist; da die Lungen-
oberfläche (s) pro Kilogramm gleich 12800 gem und 7 — 0,012 ist, haben wir
ER M.760 re
RR RE ee
wo p die Sauerstoffspannung der Alveolenluft und M die maximale Sauerstoff-
aufnahme pro Kilogramm und Minute ist. Unter der Voraussetzung, daß
der respiratorische Quotient 1 ist (wäre er 0,85, so würde das in dem
Hauptresultat einen Fehler von nur etwa 1 Proz. ergeben), wird die
während einer Minute pro Kilogramm ausgeatmete Sauerstoffmenge die
Differenz zwischen der pro Kilogramm eingeatmeten und aufgenommenen
Sauerstoffmenge oder, da die Einatmungsluft 21 Proz. Sauerstoff enthält,
21
pm =
644 x 700 —- M; in lccm ausgeatmeter Alveolenluft beträgt die Sauer-
644 x a —#,
stoffmenge dann 644 ‚ und durch Multiplikation mit dem
Totaldrucke in den Alveolen (710mm) erhält man als die Sauerstoff-
spannung der Alveolen
ze 644 N ERORERIEN S)
Zur Bestimmung von M hat man nun durch Kombination der Gleichungen (1)
und (2)
21
ur re Re Fl =
644 0,012 x 12800
woraus M — 24,6; die maximale Sauerstoffaufnahme pro Kilogramm und
Stunde ist also 60 mal so groß oder 1476ccm. Setzt man den gefundenen
Wert von M in Gleichung (2) ein, so. findet man, daß die Sauerstoff-
spannung der Alveolenluft unter diesen Verhältnissen 122 mm und deren Sauer-
stoffprozent mithin 17,2 Proz. beträgt. Die Ausatmungsluft wird nahezu die-
selbe Zusammensetzung haben wie die Alveolenluft, indem man bei so starker
Lüftung die Größe des schädlichen Raumes, wie oben geschah, als ver-
schwindend betrachten kann.
Bei der experimentellen Bestimmung des Stoffwechsels findet man,
daß die Sauerstoffaufnahme!) während der größten Arbeit, die sich einige
!) Vgl. Tigerstedt, dieses Handbuch, Lehre von dem Stoffwechsel, und
Smith, Philosophical Transactions 1859, p. 713.
172 Primäre Zunahme der Atemgröße.
Zeit hindurch leisten läßt, etwa viermal so groß ist wie in relativer Ruhe
(etwa 350 ccm), also etwa 1400 ccm pro Kilogramm und Stunde. Die Über-
einstimmung mit dem berechneten Werte ist eine vorzügliche, was noch
ferner die Richtigkeit .der gemachten Voraussetzungen bestätigt. (Das Ver-
hältnis wurde hier rücksichtlich eines Mannes von 70kg Körpergewicht
behandelt; ist das Körpergewicht geringer, so ist der Stoffwechsel bekanntlich
intensiver, folglich auch die maximale Sauerstoffaufnahme pro Kilogramm
größer; die Lungenoberfläche pro Kilogramm ist dann aber auch entsprechend
größer.)
Die Übereinstimmung dieser Berechnung mit den experimentellen Ergeb-
nissen beweist die Richtigkeit der oben in betreff der Zellenarbeit gemachten
Annahme. -Es ist hiernach notwendig anzunehmen, daß die Zellen im-
stande sind, die Sauerstoffspannung in der Lungenoberfläche auf einer ver-
schwindend kleinen Größe zu halten, wodurch die volle Sauerstoffspannung
der Alveolenluft sich als Differenzdruck geltend macht; sonst wäre aus rein
physikalischem Grunde die tatsächlich beobachtete maximale Sauerstoff-
aufnahme nicht möglich. Ob aber die Zellen imstande sind eine noch größere
Arbeit zu leisten und die Spannung in der Oberfläche auf Null zu halten,
auch wenn die Sauerstoffspannung der Alveolenluft, z. B. beim Einatmen
reinen Sauerstoffs, größer als die oben angegebene ist, hierüber können diese
Versuche uns keinen Aufschluß geben. Es ist aber, wenn man die genaue
Anpassung der Prozesse im Organismus in Betracht zieht, wohl am wahr-
scheinlichsten, daß die Grenze der Zellenarbeit mit den größten Forderungen,
welche unter natürlichen Verhältnissen überhaupt an sie gestellt werden
können, zusammenfällt; da nun die Sauerstoffspannung in der Alveolenluft in
der Natur niemals die Spannung in der Atmosphäre überschreiten kann, ist
es am wahrscheinlichsten, daß die Zellarbeit auch eingestellt ist, eben die
Menge Sauerstoff in maximo zu bewältigen, die hierbei überhaupt in maximo
in die Oberfläche einzudringen vermag.
82. Einfluß einer primären Änderung der Atemgröße auf
den Gaswechsel.
Durch willkürliche Zunahme der Atemgröße kann der Gaswechsel der
Lunge sich auf kürzere Zeit bis zu einem gewissen Grade ändern lassen,
indem die während der Zeiteinheit stattfindende Kohlensäureausscheidung
und Sauerstoffaufnahme etwas anwachsen, letztere jedoch in geringerem
Grade, so daß der respiratorische Quotient steigt!). Der Zuwachs der aus-
geschiedenen Kohlensäure ist verhältnismäßig geringer als der Zuwachs der
Atemgröße; das Kohlensäureprozent der Ausatmungsluft wird deshalb. kleiner,
während zugleich die absolute Größe der Kohlensäureausscheidung wächst.
Diese Zunahme des Gaswechsels ist indes eine vorübergehende; da die
Kohlensäurebildung, von einem kleineren Zuwachs wegen der größeren
Arbeit der Atemmuskeln abgesehen, durch den Eingriff kein Steigen erleidet,
!) Vgl. Vierordt, Physiol. des Atmens 1845, 8. 120; Lossen, Zeitschr. f.
Biologie 2, 244, 1866; Berg, Deutsches Arch. f. klin. Medizin 1869, 8. 291;
Pflüger, Pflügers Arch. 14, 1, 1867; Finkler u. Oertmann, Pflügers Arch. 14,
38, 1867; Speck, Physiol. des menschl. Atmens 1892, 8. 13.
Er Zu Be Zus ee: Ki a Zah Ka
Minimale Atemgröße. 175
wird die vermehrte Kohlensäureausscheidung, die anfangs dadurch unter-
halten wird, daß das Blut an Kohlensäure einbüßt, sich bald verlieren. Die
Folge der willkürlich vermehrten Atemgröße ist also vorübergehend, und da
die Gase des zur Lunge strömenden Blutes sich hierbei fortwährend ändern,
lassen sich aus solchen Versuchen keine völlig sicheren Schlüsse über den
Einfluß auf die Lungenfunktion ziehen, der der geänderten Atemgröße an
und für sich beizulegen ist. Aufschlüsse über diese Frage erzielt man weit
besser durch gleichzeitige, getrennte Untersuchung des Stoffwechsels der
beiden Lungen, wie unten näher beschrieben wird.
Maximum und Minimum der willkürlich geänderten Atemgröhe. Durch
Vermehrung der Atemgröße in möglichst weitem Umfang wird selbst-
verständlich an und für sich dem Gaswechsel der Lungen keine Schwierigkeit
bereitet; die forcierte willkürliche Atmung läßt sich nichtsdestoweniger,
wahrscheinlich wegen der dadurch herbeigeführten Änderungen des Blutes,
nicht längere Zeit hindurch unterhalten, indem dann Eingenommenheit des
Kopfes und Schwindel!) eintreten. Anderseits ist es die Unmöglichkeit, den
Stoffwechsel in seinem normalem Umfange unterhalten zu können, die der
willkürlichen Verminderung der Atemgröße die Grenze setzt. Was das
Minimum betrifft, auf welches dieselbe sich willkürlich reduzieren läßt, so muß
es selbstverständlich, je nachdem vorzüglich die Frequenz oder die Tiefe der
Atemzüge herabgesetzt wird, ein verschiedenes werden; im extremen Falle,
wenn das Volum des einzelnen Atemzuges unter die Größe des schädlichen
Raumes (Trachea usw.) sinkt, muß z. B. das Atmen wesentlich ineffektiv
bleiben. Die Versuche zeigen, daß eine Herabsetzung der Atemgröße auf
etwa 50-Proz. des Normalen kürzere Zeit hindurch zu ertragen ist, welche
Zeit ein wenig schwankt, je nachdem man die Frequenz herabsetzt oder
unter Beibehaltung der normalen Frequenz die Atemgröße verringert; im
ersteren Falle läßt sich die geänderte Atmungsweise 10 bis 25 Minuten
(Mosso?), im letzteren nur etwa fünf Minuten (Lossen’?) ertragen. Der
normale Stoffwechsel kann bei einer Herabsetzung bis auf 50 Proz. also nicht
regelmäßig unterhalten werden; jedoch liegt das erträgliche Minimum augen-
scheinlich nicht viel höher. Dies erträgliche Minimum, dessen Berechnung
die Anwendung der Invasionstheorie ermöglicht, findet man, unter Voraus-
setzung der unveränderten Frequenz, alseetwa 56 Proz. der normalen Atemgröße.
Bedenkt man, daß die Sauerstoffspannung der Lungenoberfläche, wo die Ver-
hältnisse es erheischen (Arbeit, verminderter Sauerstoffpartialdruck), somit auch
hier bei möglichster Beschränkung der Atemgröße, um Null herum stehen bleibt,
so wird man einsehen, daß Gleichung (3) (8. 171) zur Berechnung benutzt werden
kann. Nennt man das Minimum der Atemgröße pro Kilogramm und Minute z,
und setzt man die Sauerstoffaufnahme pro Kilogramm und Minute auf 5,8 ccm
(350 cem pro Kilogramm und Stunde) an, so lautet die genannte Gleichung
21
RE TR ke RE
x 0,012 X 12800’
woraus © —= 34,2ccm. (Der respiratorische Quotient ist der Bequemlichkeit wegen
gleich 1 gesetzt; ist er 0,8, so wird & nur um 3 Proz. des Wertes größer.) Die-
)Speck,l. c. 8. 25. — ?) Arch. italienn. de Biologie 7, 59, 1886. — °) Zeitschr.
f. Biologie 2, 263, 1886.
174 Einfluß einer verschiedenen Atemgröße der beiden Lungen.
jenige Menge Luft, die pro Kilogramm und Minute die Alveolen verläßt, beträgt
also 34,2ccm und enthält, wie leicht zu ersehen, wenn man eingedenk ist, daß die
eine Seite der Gleichung die Spannung bezeichnet, 4,04 Proz. Sauerstoff. Für das
ganze Versuchsindividuum (70kg) wird die Menge der Luft, die pro Minute die
Alveolen verläßt, also 2394ccm, was bei 17 Atemzügen pro Minute 140 ccm pro
Atemzug gibt. Da mithin bei jedem Atemzuge 140cem atmosphärischer Luft
auch in die Alveolen eindringen müssen, findet man die Atemgröße, indem man
die Größe des schädlichen Raumes (140 ccm) hierzu addiert, wodurch man 280 ccm
oder 56 Proz. des Normalen erhält. Das Sauerstoffprozent der Alveolenluft ist
4 Proz.; berücksichtigt man den Einfluß des schädlichen Raumes (8. 139), so
wird die Ausatmungsluft unter diesen Verhältnissen daher etwa 12,5 Proz. Sauer-
stoff enthalten.
Experiment und Berechnung stimmen mithin auch in diesem Punkte
bestens miteinander überein.
Verschiedene Atemgröbe jeder Lunge für sich. Der Einfluß einer pri-
mären Änderung der Atemgröße auf den Gaswechsel der Lunge läßt sich,
wie gesagt, am besten mittels der bereits erwähnten Methode bestimmen,
nach welcher man gleichzeitig für jede der beiden Lungen für sich Respi-
rationsbestimmungen unternimmt, indem deren relative Atemgröße in den
verschiedenen Versuchen variiert wird. Die Zusammensetzung des zur
Lunge strömenden Blutes ist hier zu jeder Zeit genau dieselbe, und eine
mögliche Änderung der Verteilung des Stoffwechsels unter die beiden Lungen
ist also allein von der Änderung der Ventilation abhängig. Von solchen
Versuchen, wo an Kaninchen unter Schonung der Pleura in jeden Bronchus
für sich eine Kanüle eingelegt wurde, hat Halberstadt eine bisher nicht
veröffentlichte größere Reihe ausgeführt, alle mit gleichdeutigem Resultat.
Untenstehender Versuch, wo die Respiration natürlich war und die Änderung
Kaninchen, Gewicht 2150g. Gewicht der rechten Lunge = 5,0,
der linken Lunge = 3,6 g. Dauer jedes Versuches: 15 Minuten.
Exspirationsluft | u 35. In ee
xspiration 8| 9, g
5, % ER: 23% 00, | (rechte und der rechten
a < = 2432| 0, |linke Lunge) Lunge
Menge | P P a2| 83%
ge | Proz. ToZ. Ba 89
ccm O0, CO, 2: OÖ, 008, | © Co,
rechte
linke
rechte | 1740 12,71 6,06 158 105 | 0,66
linke 2350 15,30 5,58 137 130 | 0,95
| 2900 | 14,51 | 5,65 | 197 | 163 | 0,83
a re 1375 12,10 5,99 136 82 0,60
} 1413 14,09 5,82 104 82 | 0,78
301 | 244 65 67
294 | 235 53 45
=”
285 | 228 48 36
linke 2763 | 15,72 5,35 149 147 | 0,98
rechte | 1133 | 11,49 | 5,98 121 67 N
E: 274 | 207 44 32
linke || 2587 | 15,30 | 5,47 |: 153 | 140 | 0,92
rechte | 3371 | 15,71 | 5,20 | 182 | 174 | 0,96
linke | 1802 | 14,23 | 5,77 | 129 | 108 | 0,80
| rechte | 3561 | 15,65 | 5,06 | 197 | 179 | 0,91
| linke | 1592 | 13,51 | 5,84 | 129 92 | 0,72
[rechte | 3939 | 15,72 5,07 | 213 | 198 | 0,93
| linke | 1168 | 128,61 | 5,80 | 105 67 | 0,64
5 311 | 277 59 | 63
326 | 271 60 66
318 | 265 67 75
it lan
Einfluß der Blutströmung in der Lunge auf den Gaswechsel. 175
der Atemgröße durch Verengerung des zur Bronchienkanüle einer der beiden
Lungen führenden Kautschukschlauches hervorgebracht wurde, kann als
Beispiel dienen.
Es geht mit großer Deutlichkeit sowohl aus dem Werte der respiratorischen
Quotienten als aus den angeführten Zahlen für den prozentigen Anteil der
rechten Lunge am totalen Stoffwechsel hervor, daß eine Vermehrung der
Ventilation, wenn der Einfluß dieses Faktors auf die Lungenfunktion wie
hier isoliert untersucht wird, ohne daß die Zusammensetzung des Blutes
variiert, eine Zunahme des Gaswechsels bewirkt; indes ist der Zuwachs
der Kohlensäureausscheidung weitaus überwiegend, weshalb auch der respi-
ratorische Quotient für diejenige Lunge steigt, die relativ die größere Menge
Luft erhält; ja in analogen Versuchen mit künstlicher Atmung wird man
sogar finden können, daß nur die Kohlensäureäusscheidung bei vermehrter
Ventilation steigt, während die Sauerstoffaufnahme sich durchaus nicht ändert.
Nach dem, was wir früher über die spezifische Tätigkeit der Lungenzellen
erfuhren, sind diese Änderungen des Gaswechsels wohl zunächst einer inci-
tierenden Wirkung der Vermehrung der Atemgröße auf die Zellenarbeit
zuzuschreiben; einigen Einfluß üben vielleicht aber auch die geänderten Be-
dingungen der Diffusion, besonders hinsichtlich der Kohlensäure.
4. Kapitel. Einfluß der die Lungen passierenden Blutmenge auf
deren Gaswechsel.
Wenn dierespiratorischen Umsätze anwachsen, wie es z. B. bei der Muskel-
arbeit der Fall ist, so nimmt gewöhnlich sekundär auch die Blutmenge zu,
die während der Zeiteinheit die Lungen passiert. Obschon die Lungenzellen
nämlich, wie wir oben fanden, durch ihre Tätigkeit die Sauerstoffspannung
im Blute höher als in der Alveolenluft zu steigern vermögen, wird dennoch
zugleich die Passage einer vermehrten Blutmenge unter solchen Umständen
erforderlich sein. Wie aus der Form der Sauerstoffspannungskurve des
Blutes (S. 87) hervorgeht, bewirkt nämlich eine Vermehrung der Sauer-
stoffspannung über die gewöhnlich im Arterienblute vorgefundene
(etwa 120 mm) hinaus nur eine verhältnismäßig geringe Vermehrung der
Sauerstoffmenge; fast der ganze Zuwachs rührt unter diesen Umständen
von dem der Spannung proportional zunehmenden einfach gelösten Sauer-
stoff her und kann daher keinen bedeutenden Wert erreichen, es sei denn,
daß eine unverhältnismäßige, im Organismus nicht realisierte Zunahme
der Spannung stattfände. Damit die Sauerstofizufuhr zu den Geweben
des Körpers in einigermaßen beträchtlichem Grade zunehmen kann, ist eine
Vermehrung des Blutstromes durch die Lungen deshalb eine Notwendigkeit.
Bei vermehrtem Stoffumsatz wird denn auch eine Zunahme der Tätigkeit des
Herzens (der Pulsfrequenz) beobachtet, die unter der wahrscheinlichen Vor-
aussetzung, daß die Lungengefäße sich wegen vasomotorischen Reflexes zu-
gleich erweitern, eine bedeutende Steigerung der Strömungsgeschwindigkeit
hervorzubringen fähig sein muß. line genauere Feststellung der Zunahme
der Blutströmung in Zahlen läßt sich jedoch nicht geben; eine direkte Be-
stimmung derselben konnte bisher nicht ausgeführt werden, und eine Berech-
nung, die man allerdings mittels der Menge Sauerstoff, welche das Blut bei den
176 Einfluß der Blutströmung in der Lunge auf den Gaswechsel.
gegebenen Spannungen zu absorbieren vermag, zusammengehalten mit der
Menge des wirklich in der Lunge aufgenommenen Sauerstoffs, versucht hat, ruht
auf einer durchaus unsicheren Basis. Es ist nämlich keineswegs der Fall, was
bei dieser Berechnungsmethode vorausgesetzt werden müßte, daß die totale
durch die Lungen aufgenommene Menge Sauerstoff.stets aus der Lunge mit
dem Blute weitergeführt wird; eine wechselnde Menge desselben wird, wie
im Abschnitt über die innere Atmung zur Darstellung kommt, in den Lungen
selbst verzehrt, ein Umstand, der die Berechnung in unbestimmbarem Um-
fange unsicher macht.
Was wir bisher besprachen, ist die sekundäre Vermehrung des Blut-
stromes, die eine Steigerung des Stoffwechsels begleitet. Eine andere Frage,
die für die Analyse der einzelnen Faktoren der Lungenfunktion eine be-
sondere Bedeutung hat, ist es, welchen Einfluß unter sonst gleichen Um-
ständen eine primäre Vermehrung des Blutstromes auf den Gaswechsel der
Fig. 21. . Lungen hat. Um dies fest-
90 zustellen, kann man die
En As A DER RR 7 gleichzeitige, | getrennte
EU a / Untersuchung des respira-
Tr Rs x "RL \ 7 torischen Stoffwechsels jeder
60 PN ll 12 Lunge für sich benutzen,
' I YA während die Blutver-
2 T teilung unter die beiden.
40 1 Lungen mittels passender
56 \ Verengerung des einen Pul-
N monalastes geändert wird.
2 is Solche Bestimmungen wur-
10 \ den von Maar sowohl an
K K K K 1 Schildkröten !) als anKanin-
0102345 6 7 8 9 10 11 12 chen?) unternommen. Um
Kaninchen. Gleichzeitiger Stoffwechsel in jeder Lunge für sich. die Versuche an letzterem
K Kompression. L Ligatur der Art. pulm. sin. R « R
Tiere durchzuführen, ist es
notwendig, sich eines Verfahrens zu bedienen, das nicht nur sicher, sondern
zugleich auch möglichst schonend ist; hierüber wie auch wegen anderer
Details verweisen wir aber auf die zitierten Abhandlungen. Nebenstehend
findet sich eine graphische Darstellung eines typischen Versuches dieser Art).
Die Linien bezeichnen: —-—- Sauerstoffaufnahme der rechten Lunge;
Kohlensäureausscheidung der rechten Lunge; — — — Sauerstoffaufnahme
der. linken Lunge; ...... Kohlensäureausscheidung der linken Lunge. Die Dauer
jeder Bestimmung 10 Minuten. Bei Nr. 2, 5, 7 kam eine Kompression zur An-
wendung, von der es sich später erwies, daß sie die Strömung durch den heraus-
geschnittenen Pulmonalast auf ‘, verminderte; bei Nr. 9 eine solche, die auf '/,
verminderte. Vor Nr. 4 wurden die Nn. vagi durchschnitten; vor Nr. 6 und
Nr. 9 wurde Atropin gegeben. i
Bemerkenswert ist bei diesen Versuchen erstens die verhältnismäßig
geringe Wirkung einer bedeutenden Verengerung des Pulmonalastes. Ferner
geht es aber aus der obenstehenden Kurve und überhaupt aus Maars Ver-
!) Skand. Arch. f. Physiol. 15, 1, 1908. — ?) Ebenda 16, 358, 1904. —
®) Maar, Skand. Arch. 16, 368, 1904, Tab. II.
|
{
}
,
j
3
Be
‘
;
3
Einfluß des Nervensystems auf die Gassekretion. 177
suchen hervor, daß die Sauerstoffaufnahme konstant in derjenigen Lunge, die
weniger Blut erhält, kleiner wird; auch die Kohlensäureausscheidung nimmt
ab, jedoch in bedeutend geringerem Maße. In der anderen Lunge, wo der
Blutstrom anwächst, nimmt auch der Gaswechsel zu; mit Ausnahme der Fälle,
wo der Pulmonalast gänzlich gesperrt wird, nimmt die Sauerstoffaufnahme
aber weit mehr zu als die Kohlensäureausscheidung, so daß der respira-
torische Quotient sinkt. Da dieses Verhalten in der weit überwiegenden
Anzahl der Fälle und speziell überall, wo man der Einwirkung des Nerven-
systems mittels Atropins entgegenarbeitete, vorgefunden wird, so ist an-
zunehmen, daß es unmittelbar von der Änderung des Blutstromes herrührt.
Daß die Kohlensäureausscheidung bei Vermehrung des Blutstromes weit weniger
steigt als die Sauerstoffaufnahme, würde schwer zu verstehen sein, wenn die
Diffusion als der wesentlichste Vorgang beim Gaswechsel zu betrachten wäre;
erst der Nachweis der spezifischen Tätigkeit der Lungenzellen macht solche
Vorgänge verständlich.
Analoge Verhältnisse fand Maar bei Schildkröten; hier zeigt in allen
Fällen diejenige Lunge, deren Blutstrom vermehrt wird, eine Zunahme der
Sauerstoffaufnahme, während die Kohlensäureausscheidung entweder in ge-
ringerem Maße zunimmt oder auch, wie in allen Fällen, wo Atropin gegeben
wurde, sogar unverändert bleibt. Diese Verhältnisse sind aus der Kurven-
tafel, die der zitierten Abhandlung beigegeben ist, deutlich zu ersehen.
Die unmittelbare Folge einer Zunahme des Blutstromes durch die
Lunge ist also ein regelmäßiges, aber verhältnismäßig geringes Steigen des
Gaswechsels, das die Sauerstoffaufnahme weit erheblicher berührt als die
Kohlensäureausscheidung, so daß der respiratorische Quotient sinkt.
Diese Erfahrung wird für die Deutung des Einflusses des Nervensystems auf
die Lungenfunktion Bedeutung erhalten.
5. Kapitel. Der Einfluß des Nervensystems auf die Gassekretion.
Der Einfluß des Nervensystems auf die Drüsensekretionen ist überall um so
leichter nachweisbar, je geringer der Einfluß ist, den eine vorübergehende
Sekretionsänderung in der betreffenden Drüse auf den Stoffwechsel des gesamten
Organismus übt; wird nämlich der Stoffwechsel wesentlich beeinflußt, so
treten zahlreiche kompensatorische Tätigkeiten in Funktion, und das Resultat
der nervösen Einwirkung auf die Drüse wird dann leicht verschleiert. Hier-
mit steht es in Zusammenhang, daß die Abhängigkeit der temporär secernie-
renden Drüsen vom Nervensystem dem Nachweis weniger Schwierigkeiten
darbietet als die Abhängigkeit der permanent secernierenden, deren Einfluß
auf den gesamten Stoffwechsel der Natur der Sache zufolge durchweg weit
bedeutender ist. Dieser Vorteil fällt mit Bezug auf die mit temporären
Drüsen angestellten Versuche natürlich weg, wenn die anatomischen Verhält-
nisse solchergestalt sind, daß es sich nicht vermeiden läßt, gleichzeitig mit
dem Drüsennerv auch Nerven zu Organen zu reizen, deren Funktion für die
allgemeinen Umsetzungen des Organismus von eingreifender Bedeutung ist;
illustrierend ist in dieser Beziehung der Gegensatz zwischen der Leichtigkeit,
mit der sich die Abhängigkeit der Speichelsekretion vom Nervensystem nach-
weisen läßt, und den Schwierigkeiten, die in Pawlows Versuchen über die
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 12
8 Einfluß des Nervensystems auf die Gassekretion.
Pankreasinnervation wegen der gleichzeitig mit der Reizung des Vagus ein-
tretenden Einwirkung auf die Zirkulationsverhältnisse zu überwinden waren.
Diese Betrachtungen finden im ganzen selbstverständlich auch auf die
besonderen Verhältnisse der Gassekretion Anwendung; auch hier ist der
Nachweis nervöser Einwirkungen verhältnismäßig leicht, wo die Sekretion,
wie in der Schwimmblase, in einem Organ stattfindet, das nur temporär in
Tätigkeit tritt, dessen augenblickliche Bedeutung für das Leben des Organis-
mus nur gering ist, und wo zugleich der das Organ innervierende Zweig des
N. vagus sich durchschneiden läßt, ohne auch die Herz- und Kiemenäste zu
verletzen. Mit großer Einfachheit und Sicherheit läßt sich hier die Rolle
des N. vagus als Sekretionsnerv nachweisen, indem die Sauerstoffausscheidung
in der Blase aufhört, sowie der zum Organ führende Ast durchschnitten wird
(S. 164). Wo die Gassekretion der Lunge zur Untersuchung kommt, stellen
sich die Verhältnisse weit schwieriger; nicht nur bestrebt sich der Organismus,
durch alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel stärkere Eingriffe in die
Funktion dieses für das Leben fundamentalen Organs zu kompensieren, son-
dern auch die Reizung des wichtigsten Nervs des Organs (des N. vagus) zieht
fast unvermeidlich das Herz mit in die Änderung hinein. Indes gibt es
auch hier wieder einen bedeutenden Unterschied der Verhältnisse bei Kalt-
blütern und bei Warmblütern. Bei letzteren ist die unablässige kräftige
Tätigkeit der Lunge eine notwendige Lebensbedingung. Bei ersteren können
gewöhnlich, ohne ernstere Störungen des Stoffwechsels hervorzurufen, Pausen
von nicht unbedeutender Dauer eintreten; auffallend ist dies bei der Schild-
kröte, wo oft die geringste Einwirkung, z. B. schon die Erschütterung des
Fußbodens, wenn jemand durch das Versuchszimmer geht, die natürliche
Respiration nicht wenige Minuten lang stocken macht, worauf dieselbe wieder
im vorigen Rhythmus beginnt, als ob gar keine Pause stattgefunden hätte;
mit der weniger intensiven Funktion steht wohl auch die größere gegen-
seitige Unabhängigkeit in Zusammenhang, welche die beiden ‚Lungen der
Schildkröten bei nervösen Einwirkungen zeigen. Bietet der Nachweis des
Einflusses des Nervensystems nun aber auch besonders bei Warmblütern
bedeutende Schwierigkeiten dar, so ist es nn auch an diesen gelungen,
das Vorhandensein eines solchen Einflusses unzweifelhaft zu konstatieren. .
Bei Schildkröten läßt sich der Einfluß der Nerven auf prägnante Weise
mittels der Methode mit der getrennten gleichzeitigen Untersuchung beider
Lungen erweisen, die hier um so leichter angewandt werden kann, da die
Trachea der Testudo graeca sich hoch oben am Halse teilt; die Einlegung von
Kanülen in die Bronchien kann deshalb geschehen, ohne daß man Gefahr läuft,
wichtige Nerven zu beschädigen. Die Verteilung des Gaswechsels unter
die beiden Lungen erweist sich bei diesen Tieren als auf einem
Tonus der Nn. vagi beruhend. Durchschneidet man den einen Vagus,
so steigt die Sauerstoffaufnahme in der korrespondierenden Lunge und sinkt
um ebensoviel in der anderen; die Kohlensäureausscheidung wird in derselben
Richtung beeinflußt, jedoch schwächer. Durchschneidet man darauf den
anderen Vagus, so wird der Gaswechsel wieder wie ursprünglich unter die
beiden Lungen verteilt. Folgendes Beispiel!) zeigt den bedeutenden Aus-
!) Maar, Skand. Arch. 13, 309, 1902, Vers. II.
la ne an
N N U GEL RR V
>
Einfluß des Nervensystems auf die Gassekretion. 179
schlag, den die Sauerstoffaufnahme hierbei in vier aufeinander folgenden
Atmungsversuchen an demselben Tier erleidet.
Schildkröte. Natürliche Atmung.
|
Sauerstoffaufnahme in der
Versuchsnummer EEE!
rechten Lunge | linken Lunge | Summa
1 15,4 17,1 | 32,5
Durchschneidung des rechten Vagus#®—
2 30,0 5,3 35,3
3 29,1 | 5,2 34,3
Durchschneidung des linken Vagus »—
4 Ka En a IR
Reizung des einen Vagus hat eine der Durchschneidung entgegen-
gesetzte Wirkung. Die Resultate sind völlig konstant und zeigen unzweifel-
haft den Einfluß des Nervensystems auf die Lungenfunktion dieser Tiere.
Es entsteht nun aber die Frage, ob diese Wirkung nicht als die Folge
vasomotorischer Änderungen in den beiden Lungen zu erklären sein möchte;
in der Tat gibt eine totale Sperrung des einen Pulmonalastes analoge Aus-
schläge, auch mit Bezug darauf, daß die Sauerstoffaufnahme verhältnismäßig
stärkere Änderung erleidet als die Kohlensäureausscheidung. Eine solche
Erklärung ist indes jedenfalls ungenügend; denn unter anderem wird nach
Unterbindung eines Pulmonalastes die betreffende Lunge schnell blaß, wäh-
rend die Durchschneidung eines Vagus keine derartige Veränderung der
Farbe zur Folge hat, obschon die absolute Änderung des Stoffwechsels nach
letzterem Eingriffe eine weit beträchtlichere ist!). Wegen weiterer Details
mit Bezug auf nervöse Einwirkungen auf die Lungenfunktion der Schildkröten
müssen wir auf die zitierte Abhandlung von Maar verweisen ?); interessant
sind hier die Folgen einer Durchschneidung des N. vagus nach vorhergehender
Durchschneidung des Halssympathicus (Maars Kurventafel, Figg. 8 und 9);
hier wird allein der Sauerstoff und nur in der dem durchschnittenen Nerv
korrespondierenden Lunge vermehrt, während von seiten der anderen Lunge
keine Kompensation stattfindet.
Was die Warmblüter betrifft, so hat die Methode mit getrennter Unter-
suchung jeder Lunge für sich allerdings häufig deutliche Ausschläge der
nervösen Einwirkungen gegeben); wahrscheinlich wegen der durch. den
Ganglienplexus vermittelten äußerst engen nervösen Verbindung unter den
beiden Lungen sind die Resultate hier jedoch durchweg inkonstant. Hier
hat sich dagegen ein anderes Verfahren, nämlich Reizung des Nervs
während sehr kurzer Zeiträume (10 bis 20 Sekunden) und eine Reihe
unmittelbar aufeinander folgender, ebenso kurz dauernder Bestimmungen der
Zusammensetzung der Exspirationsluft als erfolgreich erwiesen; durch diese
kurzdauernden Versuche wird man am leichtesten .einen Ausdruck für die
Einwirkung der Nervenreizung auf die eigentliche Lungenfunktion erhalten,
!) Maar, Skand. Arch. 15, 15, 1903. — °) Ebenda 13, 269, 1902. — °) Ebenda
13 (1902), Kurventafel, Figg. 27 bis 37.
12*
180 Einfluß des N. vagus auf die Gassekretion.
ohne daß die kompensatorischen Änderungen des Stoffwechsels der Gewebe
und der Zusammensetzung des Blutes eine Rolle spielen werden (Henri-
ques!).
Unter Anwendung dieser Methode beobachtete nun Henriques zuerst
den interessanten Umstand, daß sowohl die Sauerstoffaufnahme als die Kohlen-
säureausscheidung normal Schwankungen um einen Mittelwert herum aus-
führt; die Periode der Schwankungen beträgt gewöhnlich !/, bis 1 Minute
und ihr Ausschlag etwa 4 Proz. des Wertes, sowohl die Periode als auch der
Ausschlag ist aber etwas variabel. In der Regel finden die Schwankungen der
Kohlensäureausscheidung und die der Sauerstoffaufnahme zu gleicher Zeit in
derselben, zuweilen aber auch in entgegengesetzter Richtung statt, weshalb
sie nicht von vasomotorischen Änderungen allein abhängig sein können. Der
Stoffwechsel der Lungen erhält sich also, wie es wohl überhaupt mit orga-
nischen Prozessen der Fall ist, im Gleichgewicht durch Schwankungen um
eine mittlere Lage herum.
Die Folgen einer Reizung des N. vagus erweisen sich insofern‘ als
verschieden, als der respiratorische Stoffwechsel steigt, wenn durch kräftige
Reizung des Vagus die Herzfrequenz nicht bis unter 50 Schläge in der Minute
herabgesetzt wird; wenn die Frequenz aber bis zu wenigen Schlägen in der
Minute herabgesetzt wird, sinkt der Stoffwechsel beträchtlich. Ein Typus
jedes der beiden genannten Fälle findet sich in nebenstehender Figur 22
angegeben ?2). In beiden Fällen gibt es aber doch eine gemeinsame Wirkung,
indem der respiratorische Quotient bei Reizung des Vagus sich stets
dem Werte 1 nähert und bei kräftiger Reizung denselben voll-
ständig erreicht; in den Kurvenfiguren äußert sich dies dadurch, daß die-
jenigen Punkte, welche die Kohlensäureausscheidung angeben, bei der Reizung
des Vagus mit denen zusammenfallen, welche die Sauerstoffaufnahme bezeichnen,
während letztere vorher bedeutend höher lagen. Diese Änderung des Quo-
tienten kann nicht von vasomotorischen Änderungen herrühren, denn dann
könnte sie ja nicht sowohl beim Sinken als beim Steigen des Stoffwechsels
eintreten; überdies wurde im vorigen Kapitel nachgewiesen, daß eine Zunahme
des Blutstromes, die man ja annehmen müßte, wenn das Steigen des Stoffwechsels
vasomotorisch erklärt werden sollte, an und für sich eine entgegengesetzte,
herabsetzende Wirkung auf den Quotienten hat. Wir haben hier also einen
mit Sicherheit nachgewiesenen spezifischen Einfluß des N. vagus auf den
Gaswechsel,durch den die Kohlensäureausscheidung und dieSauer-
stoffaufnahme die gleiche Größe erhalten. Zugleich ist anzunehmen,
daß die Reizung des Vagus unmittelbar die Zunahme sowohl der Sauerstoff-
aufnahme als der Kohlensäureausscheidung bewirkt; im entgegen-
gesetzten Falle wäre das Steigen des Gaswechsels während der Reizung einer
— notwendigerweise sehr bedeutenden — Vermehrung des Blutstromes zu-
zuschreiben, die sich nicht wohl als mit der beobachteten Herabsetzung der
Herzfrequenz (auf etwa die Hälfte) zusammenfallend denken läßt; ob der
respiratorische Stoffwechsel bei Reizung des N. vagus steigt oder sinkt, ist
daher wahrscheinlich davon abhängig, ob die Herabsetzung der Herzfrequenz
!) Skand. Arch. 4, 194, 1892. — ?) Henriques, 1. c., Vers. Ia und III,
8. 216 u. 217.
N e E
Einfluß des N. vagus auf die Gassekretion. — Innere Atmung. 181
eine so bedeutende ist, daß sie die den Gaswechsel direkt vermehrende
Wirkung der Nervenreizung überkompensiert.
Auch Maar!) findet, daß der respiratorische Quotient sich bei Reizung
des Vagus dem Werte 1 nähert.
Fig. 22.
F, : In
4,75 14,75
4,50
4,50
4,25 4,25
4,00 4,00
3,75
3,75
3,50 3,50
RE EN a ER RE BR
78 91011 121314.
3,25 3,25
Einfluß der Reizung des Vagus auf den respiratorischen Stoffwechsel nach Henriques,.
Die Punkte repräsentieren eine Reihe unmittelbar aufeinander folgender kurz-
dauernder (etwa 10 Sekunden) Atmungsversuche. Die punktierte Linie gibt die
Kohlensäureausscheidung, die ausgezogene die Sauerstoffaufnahme an. Bei* werden
die N. vagi 10” lang gereizt; die Herzfrequenz wird hierdurch in I bis unter 6,
in II bis auf 50 Schläge in der Minute herabgesetzt.
Zweiter Abschnitt.
Die innere Atmung.
1. Kapitel. Allgemeine Übersicht der Prozesse.
Obschon der Verlauf der Oxydationsprozesse im tierischen Organismus
trotz der gar nicht wenigen im Laufe der Zeit über denselben aufgestellten
Ansichten in seinen näheren Einzelheiten nicht völlig aufgeklärt ist, so ist
!) Skand. Arch. 13, 306, 1902. Vgl. die Kurventafel Figg. 34 u. 35.
182 Innere Atmung. — Umsetzungen in den Geweben.
es doch als sicher zu betrachten, daß der Prozeß unter Bildung intermediärer
Stoffwechselprodukte gradweise vorgeht und daß er an die geformten Ele-
mente des Organismus geknüpft ist!). Weil die Umsetzungen durch die
Zellentätigkeit bestimmt werden, brauchen sie darum aber doch natür-
lich nicht notwendigerweise in ihrer Gesamtheit innerhalb der Zellen
selbst zu verlaufen; daß der Prozeß in Zellen eingeleitet wird, seine völlige
Beendigung aber erst außerhalb derselben, speziell im Blute findet, ist
eine Möglichkeit2), die vielfach diskutiert worden ist, und deren Realität
unten näher untersucht werden wird. Selbst wenn man aber annimmt, die
Umsetzungen wären in ihrem gesamten Umfange der Vermittelung der Zellen
zu ihrem Verlaufe bedürftig, ist noch eine Seite der Sache in Betracht zu
ziehen. Der Prozeß kann nämlich in seinen verschiedenen Stadien an die
Zellen verschiedener Organe geknüpft sein ?); diese Ansicht kann man um
so weniger von vornherein abweisen, da ein Zusammenwirken verschiedener
Organe in betreff anderer tierischen Umsetzungen wohlbekannt ist.
Diejenigen Umsetzungen, die uns hier besonders interessieren, und
die unter Bildung von Kohlensäure bei Oxydation der organischen Stoffe ab-
laufen, verhalten sich in der Tat so, daß einige der Prozesse in dem-
selben Gewebe zum Abschluß kommen, in welchem sie eingeleitet
werden, während andere, von stark wechselndem Umfang, zwar
rings herumin den verschiedenen Geweben des Körpers eingeleitet
werden, ihren Abschluß aber erst unter Kohlensäurebildung
und Sauerstoffverbrauch in den Lungen finden. Demnach lassen
sich die Prozesse der inneren Atmung in zwei Gruppen teilen.
1. Was die erstere Gruppe der Prozesse der inneren Atmung betrifft, die
in denselben Körpergeweben sowohl eingeleitet als abgeschlossen werden, so ent-
hält bei diesen das das Organ verlassende Venenblut bereits die als End-
produkt gebildete Kohlensäure, die der Lunge zugeführt wird, deren
Rolle hierbei nur darin besteht, das fertige Produkt auszuscheiden. Bei
dieser Form der Atmung ‘der Gewebe hat man die Rolle des Kapillarblutes,
wie oben angedeutet, auf verschiedene Weise aufgefaßt. Man hat gemeint,
daß das Blut hierbei nur als Transportmittel für die Gase wirkte, so daß der
Sauerstoff, der mit dem Arterienblute den Geweben zugeführt wird, in diese
eindringe, wo dann die Bildung von Kohlensäure stattfinde, die also von
hier aus ins Blut wandere. Man hat sich aber auch gedacht, daß der
Prozeß wenigstens zum Teil etwas anders verlaufe, so daß die Kohlensäure
im Blute selbst gebildet werde, indem sauerstoffgierige, durch Spaltungs-
prozesse in den Geweben gebildete Substanzen ins Blut austreten und hier
mit dem Sauerstoff in Verbindung gehen sollten.
Letztere Frage wurde speziell von A. Schmidt untersucht), der sich
hierbei folgenden Verfahrens bediente. Eine Probe von Erstickungsblut, in
welchem die eventuellen reduzierenden Stoffe aller Wahrscheinlichkeit nach
ın besonderer Menge vorhanden sein müßten, wird ausgepumpt; eine andere
Probe desselben Blutes erhält einen Zusatz von einer abgemessenen Menge
!) Vgl. Pflüger, Pflügers Arch. 10, 251, 1875. — ?) Vgl. Bohr u. Henri-
ques, Arch. de physiol. 1897, p. 590. — °) Vgl. Alex. Schmidt, Arb. a. d.
physiol. Anst. zu Leipzig 2, 99, 1867.
Innere Atmung. — Umsetzungen im Blute. 183
Sauerstoff, der vom Erstickungsblut absorbiert wird, worauf auch die Gase
dieser Probe mittels Auspumpens bestimmt werden. Es erweist sich nun,
daß einige Volumprozente des zugesetzten Sauerstoffs verzehrt worden sind,
und daß sich eine im Verhältnis hierzu ziemlich schwankende Menge Kohlen-
säure gebildet hat. Dasselbe geht aus analogen, von Pflüger!) angestellten
Versuchen hervor?). Die gefundenen Resultate sind gewiß, da die Versuche
nicht aseptisch angestellt wurden, in variierendem Maße zu groß ausgefallen,
obschon der bakterielle Stoffwechsel hier, wo das Stehen des Blutes nur von
verhältnismäßig kurzer Dauer war, wohl keinen so stark störenden Einfluß
erhält, wie derselbe leider bei manchen der älteren in vitro unternommenen
Versuchen hatte. Auch das Schütteln des sauerstoffhaltigen Blutes mit Queck-
silber, wie es in mehreren der Versuche ausgeführt wurde, hat zweifelsohne
zur Vermehrung des Sauerstoffverbrauchs beigetragen®). Am sichersten ist
es deshalb, bei den kleineren der beobachteten Werten des Sauerstoffver-
brauchs (etwa 1 Vol.-Proz.) stehen zu bleiben. Nach einer der von Schmidt
angewandten analogen Methode untersuchten Afonassiew®) und Tschi-
riew°) das Erstickungsserum bzw. die Erstickungslymphe. Diese für
unsere Frage sehr wesentlichen Versuche zeigen, daß die genannten Flüssig-
keiten durchaus von sauerstoffverbrauchenden und kohlensäurebildenden
Stoffen frei sind. Die Bildung reduzierender Stoffe in den Geweben, die
durch bloße Berührung mit dem Sauerstoff des Blutes in Kohlensäure um-
gesetzt würden, läßt sich demnach nicht aufrecht erhalten. Der von Schmidt
gefundene verhältnismäßig geringe Stoffwechsel des mit Sauerstoff versetzten
Erstickungsblutes ist daher den geformten Elementen desselben zuzuschreiben
(Afonassiew®) und rührt aller Wahrscheinlichkeit nach von den darin ent-
haltenen weißen Blutkörperchen her.
Es ist deshalb anzunehmen, daß der Sauerstoffverbrauch und die Kohlen-
säurebildung in den Geweben in allem Wesentlichen in den Zellen selbst
und nicht im Blute stattfinden.
In Übereinstimmung mit der Rolle als Transportmittel für die Gase, die mit-
hin bei diesem Prozesse die wesentlichste des Blutes ist, steht es, daß die Um-
setzungen stattfinden können, selbst wenn die roten Blutkörperchen fehlen,
sofern nur die Sauerstoffzufuhr zu den Geweben hierdurch nicht gar zu gering
wird. Bei Fröschen ist es deshalb möglich, während der Perioden, wo ihr Stoff-
wechsel gering ist (S. 160), das Blut durch isotonische Chlornatriumlösung zu
ersetzen (Oertmann’); der in der Salzlösung einfach 'gelöste Sauerstoff genügt
hierbei zur Ernährung der Gewebe. An Warmblütern läßt sich ein analoger Ver-
such anstellen durch Einatmung einer Luft mit so hohen Kohlenoxydprozenten,
daß die roten Blutkörperchen, praktisch gesprochen, mit Kohlenoxyd gesättigt sind
und keinen Sauerstoff mehr binden; alsdann muß aber, um das Leben zu erhalten,
die Sauerstoffspannung, dem bedeutend intensiveren Stoffwechsel der Warmblüter
entsprechend, 2 Atmosphären betragen, der einfach gelöste Sauerstoff also etwa
10mal so groß sein wie der in gewöhnlicher atmosphärischer Luft enthaltene
!) Pflügers Arch. 1, 98, 1868. — ?) Die von Stroganow (Pflügers Arch. 12,
18, 1876) gefundenen Zahlen für die Sauerstoffzehrung des Blutes lassen sich nicht
verwerten, weil die von ihm benutzte Methode auf Voraussetzungen ruht (so z. B.
bezüglich der von 1g Hämoglobin gebundenen Sauerstoffmenge, 1. c. 8. 44), die
sich als irrig erwiesen haben. — °) Vgl. Pflüger, l. c. 8. 98. — *) Arb. a.d.
physiol. Anstalt zu Leipzig 7, 71, 1872. — °) Ebenda 9, 38, 1874. — °) 1. c. 8. 80. —
?) Pflügers Arch. 15, 381, 1877.
184 Innere Atmung. — Wanderung der Gase.
(Haldane'). Auch durch Durchleitung gasförmigen Sauerstoffs kann z. B. die
Herzmuskulatur am Leben erhalten werden (Magnus?). Für den eigentlichen
Oxydationsprozeß sind die roten Blutkörperchen mithin entbehrlich; in allen diesen
Fällen sind die Verhältnisse in betreff der Sauerstoffzufuhr jedoch bei weitem nicht
normal, weil die wesentlichen Mittel, um die Sauerstoff- und die Kohlensäure-
konzentration im Plasma das Blutes zu regulieren, hier weggefallen sind (vgl.
8. 196).
Was die Natur der Kräfte betrifft, die bei der Wanderung des Sauer-
stoffs aus dem Blute in die Gewebe und bei der Wanderung der
Kohlensäure in umgekehrter Richtung tätig sind, so genügen die vor-
liegenden Versuche nicht zur völligen Aufklärung der Frage, indem es an
gleichzeitigen genauen Bestimmungen der Gasspannungen im Blute und in
den Geweben gebricht. Mit Bezug auf den Sauerstoff erscheint die An-
nahme, daß seine Bewegung mittels Diffusion geschieht, insoweit wahrschein-
lich, als seine Spannung in der Gewebsflüssigkeit in Betracht der verhältnis-
mäßig kleinen Menge Sauerstoffis, die man beim Auspumpen gewöhnlich in
der Lymphe gefunden hat (Hammarsten?®), und in Betracht der in den
Geweben beobachteten kräftigen Reduktionen (Ehrlich) oft eine sehr ge-
ringe sein muß; anderseits stehen die Resultate, die sich aus zwei von
Straßburg 5) über die Sauerstoffspannung der Lymphe angestellten Ver-
suchen herleiten lassen, nicht in Einklang hiermit, indem die übrigens nicht
von Straßburg selbst berechnete Sauerstoffspannung der Lymphe hier höher
(wenigstens 153 bzw. 162mm) gefunden wird als die der Atmosphäre.
In Straßburgs Versuch XXVI°) gab die völlig wasserklare Lymphe (30 ccm)
an die im Tonometer enthaltene Luft (20 cem) so viel Sauerstoff ab, daß das
Sauerstoffprozent der letzteren von 2,70 auf 3,70 stieg. Hieraus läßt sich unter
gebührender Berücksichtigung des Druckes und der Temperatur berechnen, daß
100 ccm Lymphe 0,549 ccm Sauerstoff abgeben würden, die sie also mindestens
enthalten haben müssen ; die Sauerstoffspannung der Lymphe war dann wenigstens
153mm, wenn der Absorptionskoeffizient derselben für Sauerstoff gleich dem des
Wassers gesetzt wird; in Wirklichkeit ist der Absorptionskoeffizient ein wenig
niedriger, weshalb die gefundene Spannungszahl noch etwas weiter erhöht werden
muß. Im zweiten Versuche (XX VIII?) findet man auf ähnliche Weise eine Sauer-
stoffspannung von wenigstens 162mm. Die Versuche mit Chylus geben niedrigere
Zahlen der Sauerstoffspannung.
Nach der bisher allgemein üblichen Ansicht über die Sauerstoffspannung
des Blutes, wonach diese immer niedriger .als die Sauerstoffspannung der
Atmosphäre sein sollte, müßte man nun annehmen, daß Straßburgs Ver-
suche geradezu bewiesen, daß ein Diffusionsprozeß zur Beförderung des Sauer-
stoffs aus dem Blute in das Gewebe nicht zureichend sei; indes kann eine
Sauerstoffspannung, die höher ist als die der Atmosphäre, in der Tat sehr gut
im Arterienblute vorkommen, so daß die bis jetzt vorliegenden Versuche
keine bestimmte Ansicht von den bei der Wanderung des Sauerstoffs tätigen
Kräften gestatten.
Ganz dasselbe gilt von der Wanderung der Kohlensäure aus dem
Gewebe ins Blut; man findet in den Geweben allerdings häufig so hohe
Kohlensäurespannungen, daß eine Diffusion zu genügen scheint, um die Be-
!) Journ. of Physiol. 21 (1897). — ?*) Arch. f. exp. Pathol. 47. — °) Arb. a. d.
physiol. Anst. zu Leipzig 6, 121, 1871. — *) Das Sauerstoffbedürfnis des Organismus.
Berlin 1885. — °) Pflügers Arch. 6, 85, 1872. — °) 1. c. 8. 87. — ”)l. e. 8. 89.
Sad u
R ER
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dena) 5 5
Innere Atmung. — Zusammenwirken der Gewebe und der Lunge. 185
wegung der Gase zu erklären; indes ist anderseits die Kohlensäurespannung
der Lymphe niedriger als die des Blutes (S. 130), was gegen die Diffusions-
hypothese spricht. Obgleich letzterer Umstand vielleicht seine Erklärung
finden kann !), ohne daß wir eine spezifische Zellentätigkeit anzunehmen
brauchten, so gestatten die unvollständigen Aufschlüsse gewiß doch nicht,
einen bestimmten Standpunkt in dieser Sache zu nehmen.
2. Bisher betrachteten wir nur, was mit den Umsetzungen in Beziehung
steht, die in demselben Körpergewebe sowohl eingeleitet als zu Ende geführt
werden. Wir schreiten nun zur Betrachtung derjenigen Gruppe der inneren
Atmungsprozesse, bei der ein Zusammenwirken der verschiedenen Gewebe des
Körpers mit der Lunge erforderlich ist. Es bilden sich hierbei in den Ge-
weben intermediäre Stoffwechselprodukte, die nicht durch das bloße’ Vor-
handensein von Sauerstoff im Blute ferner umgesetzt werden, sondern mit
letzterem in die Lunge gelangen, wo die schließliche Umbildung stattfindet,
indem sich während eines größeren oder geringeren Sauerstoffverbrauchs
‚Kohlensäure bildet. Es ist ein sehr schwankender Teil des gesamten Stoff-
wechsels, den dieser in den Lungen stattfindende Prozeß beträgt, wie auch
die aus den Geweben zugeführten intermediären Produkte von wechselnder
Art sein können, da der respiratorische Quotient (=) bei ihrer weiteren .
2
Umbildung verschieden sein kann; zuweilen beobachtet man sogar Kohlensäure-
abspaltung ohne gleichzeitigen Sauerstoffverbrauch, Verhältnisse, die sämtlich
im folgenden Kapitel (S. 187) ihre nähere Beschreibung finden werden.
Sind wir auch nur selten imstande, in den einzelnen Fällen den direkten
Nachweis zu führen, so ist dennoch anzunehmen, daß diese Schwankungen
der Intensität der Funktion regulatorisch sind und dazu dienen, trotz wech-
selnder Bedingungen einen regelmäßigen Verlauf des gesamten Stoffwechsels
zu unterhalten. Eine wesentlich regulatorische Bedeutung müssen die hier
besprochenen Stoffumsetzungen z. B. erhalten können, wenn die Sauerstoff-
zufuhr zu den Geweben des Körpers erheblich herabgesetzt wird, während
der Sauerstoff dennoch reichlichen Zutritt zur Lunge hat, wie es der Fall ist,
wenn die Blutströmung durch die Gewebe hindurch in beträchtlichem Maße
verlangsamt wird. Unter solchen Umständen wurde denn auch ursprünglich
die Aufmerksamkeit auf die Rolle der Lunge bei der inneren Atmung über-
haupt hingelenkt (Bohr und Henriques?), wie aus folgenden Versuchen
hervorgeht.
Versperrt man den Aortenbogen vollständig mittels einer mit Flüssigkeit
gefüllten Kautschukblase, so wird die direkte Blutströmung nach dem weit
überwiegenden Teile der Gewebe des Körpers abgeschnitten. Die Blutver-
sorgung der letzteren wird hierdurch jedoch nicht völlig gehemmt; mit Hilfe
der Kollateralen, die sich finden, selbst wenn man zur Sperrung der Aorta
noch Unterbindung mehrerer der vom Bogen ausgehenden größeren Arterien
hinzufügt, tritt ein wenn auch sehr langsames Durchsickern von Blut durch
die abgesperrten Organe ein; durchschneidet man nach Sperrung der Aorta
die A. femoralis, so wird man-deshalb ein sehr geringes, jedoch fortwährendes,
Ausfließen dunkeln Blutes aus den durchschnittenen Enden gewahren. Unter
‘) Straßburg, 1. ce. 8. 89. — ?) Arch. de physiol. 1897, p. 459.
186 Innere Atmung. — Gaswechsel nach der Sperrung des Aortenbogens.
diesen Umständen ist die Zufuhr von Sauerstoff zu der Hauptmasse der
Muskeln des Körpers, zur Leber und zu den übrigen Bauchviscera minimal.
Geschähe die Kohlensäurebildung ausschließlich in den Geweben des Körpers
auf Kosten des demselben zugeführten Sauerstoffs, so müßte der respiratorische
Stoffwechsel notwendigerweise bis auf einen verhältnismäßig geringen Bruch-
teil seiner Größe vor der Sperrung der Aorta sinken. Das ist jedoch nicht
der Fall. Die Größe des Stoffwechsels nach der Sperrung der Aorta ist
etwa zwei Drittel, zuweilen sogar bedeutend mehr, des Normalen. Unter-
suchungen, über deren Einzelheiten wir auf die zitierte Abhandlung ver-
weisen, ergeben, daß der verhältnismäßig so bedeutende Stoffwechsel nach
der Sperrung der Aorta lediglich auf der Unterhaltung des langsam durch
die Gewebe sickernden Blutstromes beruht; wird dieser völlig gehemmt,
wozu außer der Sperrung der Aorta auch die Sperrung der Vena cava erfor-
derlich ist, so sinkt der Stoffwechsel auf einen sehr geringen Wert. Die
Erklärung der Erscheinung muß dann die sein, daß mit dem langsamen
Blutstrome durch dieabgesperrten Gewebeaus diesen Stoffwechsel-
produkte geführt werden, welche in der Lunge unter Sauerstoff-
verbrauch in Kohlensäure umgesetzt werden, bei welchem Prozesse
das Verhältnis — übrigens stets größer ist als normal.
2
Diese Versuche über den Stoffwechsel nach Versperrung des Aortenbogens
wurden später von Rulot und Cuvelier') wiederholt, die ebenfalls ein Steigen
. des respiratorischen Quotienten finden, die aber nicht beobachtet zu haben meinen,
daß das Sinken des Stoffwechsels nur von verhältnismäßig geringer Größe ist.
Indes geben diejenigen Versuche von Rulot und Cuvelier, wo die Aorta ohne
anderweitigen vorhergehenden Eingriff im Bogen versperrt war, untenstehende
Resultate. Die Versuchsnummern sind die der originalen Abhandlung; die Zahlen
geben in Prozenten der unmittelbar vor der Versperrung beobachteten Sauerstoff-
aufnahme den Teil an, der sich nach der Sperrung erhielt:
Nummer: des Verkuchs =... 12 vol ni Bone re ee I II 2.104 IV
Proz. der ursprünglichen Sauerstoffaufnahme ...... 5 62 58 70 .66
Man findet also, daß sich nach der Sperrung im Mittel fast zwei Drittel
(62 Proz.) der normalen Sauerstoffaufnahme erhalten haben; da der respiratorische
Quotient gestiegen ist, werden die Verhältnisse rücksichtlich der Kohlensäure noch
günstiger. Rulot und Cuveliers Versuche stimmen somit in der Hauptsache
ganz mit Bohr nnd Henriques’ Beobachtungen überein. (Wo Rulot und Cuve-
lier die Sperrung der Aorta an deren terminalem Teile unternahmen, steht der
Stoffwechsel nach der Sperrung selbstverständlich dem normalen noch näher.)
Lehrreich ist ein Vergleich der Bedingungen, unter denen diese Ver-
suche und unter denen A. Schmidts oben besprochene Versuche ausgeführt
wurden. In beiden Fällen kommt Erstickungsblut zur Anwendung, welches
intermediäre Stoffwechselprodukte enthält, die teils durch Versperrung der
Trachea (Schmidt), teils durch außerordentliche Verlangsamung der Blut-
strömung durch einen bedeutenden Teil des Organismus (Bohr und Hen-
riques) zuwegegebracht wurden. Bei ersteren Versuchen, wo dem Erstickungs-
blute in vitro Sauerstoff zugesetzt wird, sind der Sauerstoffverbrauch und die
Kohlensäurebildung nur gering; wo die Oxydation dagegen wie in Bohr
und Henriques’ Versuchen im Organismus unter Vermittelung der Lunge
!) Arch. de Biolog. 15, 629, 1897.
A he ee zen Me
Innere Atmung. — Anteil der Lunge. 187
ausgeführt wird, ist der Umsatz bedeutend; das Lungengewebe muß hierbei
folglich eine wichtige Rolle spielen.
In guter Übereinstimmung mit den Anschauungen, zu denen wir ge-
langten, stehen die Resultate der von v. Frey!) nach einer sehr genauen
Methode über den Stoffwechsel im isolierten, auf künstliche Weise von Blut
durchströmten Muskel angestellten Versuche. Aus diesen Versuchen geht
das wichtige Resultat hervor, daß die Desassimilation im isolierten Muskel
zum Teil nicht bis auf die letzten Oxydationsprodukte durchgeführt wird;
hierzu ist die Mitwirkung anderer Organe erforderlich. So gibt der Ein-
fluß der Arbeit auf den Stoffwechselprozeß verschiedenen Ausschlag, je
nachdem die Bestimmung am ganzen Organismus oder am isolierten Muskel
unternommen wird; im letzteren Falle erzeugt die Arbeit eine Herabsetzung
des respiratorischen Quotienten. Daß diese Verschiedenheiten von der Bilduuig
- intermediärer Stoffwechselprodukte herrühren, die im isolierten Muskel
nicht weiter umgesetzt werden (es wurde Milchsäure im Durchleitungsblute
nachgewiesen), läßt sich kaum bezweifeln, und die Wahrscheinlichkeit ist
dann dafür, daß eben der Umstand eine wesentliche Rolle gespielt hat, daß
in diesen Versuchen die Mitwirkung der Lunge bei der Umsetzung der
intermediären Produkte weggefallen war.
2. Kapitel. Über den Anteil der Lunge an der inneren Atmung.
Aus dem konstant gefundenen Unterschiede des Arterienblutes vom
Venenblute, welches letztere reicher an Kohlensäure und ärmer an Sauerstoff
ist, geht hervor, daß in sämtlichen Geweben des Körpers stets eine Kohlen-
säurebildung und ein’Sauerstoffverbrauch stattfinden; aus dem Unterschiede
zwischen den beiden Arten von Blut allein erfahren wir indes natürlich nichts
darüber, ob die gesamte Kohlensäurebildung, um bei diesem Faktor zu
bleiben, in den Geweben geschieht, ob mit anderen Worten die totale Menge
Kohlensäure, die durch die Lungen ausgeschieden wird, in fertig gebil-
detem Zustande mit dem Blute in diese Organe gelangt. Wenn man es
nichtsdestoweniger lange Zeit hindurch als entschiedene Sache betrachtet hat,
daß die Lungen selbst nicht der Sitz besonderer Prozesse der hier besprochenen
Art seien, so rührt das in der Tat nur von einem unberechtigterweise aus
dem Unterschiede des Arterienblutes vom Venenblute gezogenen Schlusse her,
der seine Erklärung indes durch eine Betrachtung der geschichtlichen Ent-
wickelung der Frage findet 2).
Lavoisier war zu der Ansicht geneigt, daß die Kohlensäurebildung
sowohl in der Lunge selbst als rings in den Geweben des Körpers herum
stattfinde, behauptete übrigens aber, eine definitive Lösung dieser Frage sei
aufzuschieben, bis fernere Untersuchungen speziell über den Gasgehalt des
Blutes vorlägen. Eine ganze Reihe nachfolgender Untersucher (Davy,
Gmelin und andere) kamen wegen unvollkommener Methodik zu dem be-
kanntlich unrichtigen Resultate, daß das Blut überhaupt keine nachweisbare
Menge Gases enthalte, was natürlich zu dem Schlusse zwang, daß die Kohlen-
säurebildung nicht in den Geweben des Körpers stattfinde und mithin aus-
Y) Arch. f. Physiol. 1885 8.532. — ?) Bohr und Henriques, Arch. de phy-
siol. 1897, p. 710.
188 Innere Atmung. — Anteil der Lunge.
schließlich in die Lungen selbst zu verlegen sei. Als es später trotz aller
Schwierigkeiten Magnus gelang, Sauerstoff. und Kohlensäure im Blute und
speziell mehr Kohlensäure und weniger Sauerstoff im Venenblute nachzuweisen,
ging man so weit, daß man den ganzen Prozeß in die Gewebe des Körpers
verlegte und die Rolle der Lunge in dieser Beziehung durchaus bestritt, ver-
mutlich, weil man sich während des langen um die Frage geführten Streites
mit Unrecht daran gewöhnt hatte, die Rolle der Gewebe und die der Lunge
als sich in dieser Hinsicht gegenseitig ausschließende Alternative zu betrachten.
Eine Stütze der Ansicht, daß die Lunge keinen besonderen Anteil’an der
Kohlensäurebildung habe, glaubte man nun auch an dem Resultate von
Temperaturmessungen des Blutes des rechten und des linken Herzens zu
finden. Für diese Frage sind diese Temperaturmessungen jedoch durchaus
ohne Belang, indem sie wesentlichst durch die Temperatur umliegender Organe
(der Leber) beeinflußt werden, wie Heidenhain und Körner!) schlagend
nachgewiesen haben.
Um die hier behandelte Frage zu lösen, genügt es nun selbstver-
ständlich nicht, den Kohlensäure- und den. Sauerstoffgehalt des
Blutes aus dem rechten und des Blutes aus dem linken Herzen zu
bestimmen. Erforderlich sind außerdem die gleichzeitige Bestimmung der
Blutmenge, die während der gegebenen Zeit die Lunge oder, was dasselbe -
ist, die eine Herzhälfte passiert, und die gleichzeitige Bestimmung. der Größe
Fig. 28. des respiratorischen Stoff-
wechsels. Aus der Zusammen-
setzung der Blutsorten und aus
der Menge, des die Lunge pas-
d sierenden Blutes läßt sich dann
berechnen, wieviel Kohlensäure
und Sauerstoff während der ge-
gebenen Zeit von dem Blute der
Lunge zugeführt und entzogen
worden ist. Ein Vergleich dieser
Mengen mit derjenigen Menge
der Gase, die, wie der aus-
geführte Atmungsversuch angibt,
wirklich gleichzeitig durch die.
Lungen ausgeschieden und auf-
genommen wurde, wird dann
zeigen, ob die Umsetzung in den
! ie Lungen durch die Abgabe aus
Schematische es: Se a und Henri- dem Blute und die Aufnahme in
demselben völlige Deckung findet,
oder ob ein Verbrauch von Sauerstoff und eine Bildung von Kohlensäure in
den Lungen selbst stattgefunden haben. Dergleichen Bestimmungen sind
erst in der jüngsten Zeit ausgeführt worden (Bohr und Henriques?). Die
Hauptzüge des Verfahrens werden wir hier in Kürze beschreiben; besondere
Schwierigkeit verursacht übrigens nur die Messung der während gewisser
[EITIEITIETIIIITIIETTITIN) LETTITT
name]
!) Pflügers Arch. 4, 558, 1871. — °?) Arch. d. physiol. 1897, p. 590.
Innere Atmung. — Anteil der Lunge. 189
Zeit das Herz passierenden Blutmenge. Um diese zu bestimmen‘, führt
man das Blut aus der Aorta, deren Stamm dicht unterhalb des Bogens mittels
einer Klemmschraube (Fig. 23,k) gesperrt wird, durch eine in den Truncus
anonymus eingelegte Kanüle (die anderen Äste des Bogens sind unter-
bunden) in eine Ludwigsche Stromuhr (d), wo die Messung geschieht; von
hier passiert das Blut durch eine Erwärmungsspirale (g) eine in der A. femo-
ralis (a) angebrachte Kanüle. Auf diese Weise tritt es nach der Messung
in die Aorta unterhalb der Klemmhakensperrung ein und verbreitet sich von
hier auf gewöhnliche Weise nach den Geweben des Körpers. Gemessen wird
mithin alles die Aorta passierende Blut mit Ausnahme desjenigen Teiles,
der seinen Weg durch die Coronararterien nimmt. Letztere Menge läßt sich
nicht direkt messen, ihre ungefähre Größe, die im Vergleich mit der totalen
Blutmenge nur gering ist, läßt sich indes nach speziell hierüber angestellten
_ Versuchen!) aus dem Gewichte des Herzens berechnen. Gleichzeitig mit der
Messung der Blutmenge nimmt man teils mittels eines in das rechte Herz
eingeführten elastischen Katheters, teils aus einer Arterie kontinuierlich und
gleichzeitig Blutproben zum Auspumpen in den mit Quecksilber gefüllten
Rezipienten b und b,. Für denselben Zeitraum bestimmt man ferner mittels
eines Respirationsversuches die totale Kohlensäureausscheidung und
Sauerstoffaufnahme.
Aus diesen Daten läßt sich’nun berechnen, welchen Anteil das Blut und
welchen die Lunge an den Prözessen hat; der Deutlichkeit wegen führen wir
beispielsweise eine solche Berechnung an.
Ein Hund von 17,4kg Gewicht gab während 21 Minuten 698ccm CO, ab
und nahm 680 ccm O, auf. Während dieser Zeit passierten 6650 ccem Blut die
Stromuhr; durch die Coronararterien flossen nach der Berechnung 840 cem. Die
- totale, während des Versuches die Lunge passierende Blutmenge betrug mithin
7490 ccm. Während des. ganzen Versuches wurden dem rechten Herzen und der
A.carotis gleichzeitig Blutproben entnommen. Diese enthielten an Gasen in 100 cem:
Vol.- Proz. © O0, OÖ, N,
Rechtes Herz ...... . | . 18,08 4,05 1,38
ee re eh 12,13 9,62 1,28
RR A | 5,95 5,57 0,10
Das Blut hatte also während der 21 Minuten bei der Passage durch die
Lunge an Kohlensäure er
5,97 X 7490
100
der gegebenen Zeit, wie gesagt, an CO, 698 und an O, 680 betrug, waren also
252ccm CO, ausgeschieden und 263cem O0, aufgenommen worden, für welche
die Blutuntersuchung keine Erklärung geben kann. Diese Mengen wurden somit
in der Lunge selbst umgesetzt, wo folglich in diesem Falle etwa ein Drittel der
Kohlensäurebildung und des Sauerstoffverbrauchs stattgefunden hat.
Eine Tabelle über die vorliegenden Versuche wird a. f. S. angeführt; die
an verschiedenen Individuen unternommenen Versuche sind durch größeren
Zwischenraum voneinander getrennt. Angegeben ist sowohl der totale respi-
.— 446 cem äbgegeben und an Sauerstoff
= 417 cem aufgenommen. Da der totale Stoffwechsel während
!) Bohr und Henriques, Skand. Arch. 5, 232, 1894.
190 Innere Atmung. — Anteil der Lunge.
ratorische Stoffwechsel pro Kilogramm und Stunde als auch der prozentige
Anteil an demselben, den die Prozesse in der Lunge selbst haben.
| Totale Respiration ö
Nr pro Kilogramm und Stunde Proz. Anteil der Lunge
00, 0, 00, O8,
1 252 | 343 4. 51.
3 201 231 55 51
3 317 338 . 62 65
4 123 87 15 6
5 231 2 | 60 56
6 158 142 | 20 5
7 | 140 124 | 38 28
|
8 185 193 54 54
9 117 121 | 62 60
10 163 175 | 28 28
11 145 144 Bert 14
12 145 | 150 Fe eg ie
13 91 | 91 | 19 22
14 115 | 112 36 39
ka:
15 182 209 2 2
16 128 123 66 0
17 137 | 198 12 42
18 120 115 29 30
19 110 110 25 32
20 91 111 33 53
l
Den besonderen Anteil der Lunge am Stoffwechsel findet man, wie zu
ersehen, sehr schwankend, von ganz unbedeutenden Werten an bis über
60 Proz.; im Mittel finden etwa 33 Proz. des Umsatzes in der Lunge statt.
Der respiratorische Quotient für die in den Lungen vorgegangene Umsetzung
ist sehr variabel; besonderes Interesse hat Nr. 16, wo in der Lunge eine
Kohlensäureproduktion ohne gleichzeitigen Sauerstoffverbrauch stattfand.
Zuntz und Hagemann!) äußerten in der Diskussion über eine von
ihnen angestellte Versuchsreihe, auf die wir unten zurückkommen werden,
die Vermutung, Resultate wie die in obiger Tabelle angeführten rührten
wahrscheinlich davon her, daß die Blutproben keine wahren Durchschnitts-
proben gewesen seien, indem sie namentlich meinen, die Mischung des ver-
schiedenen Venenblutes im rechten Herzen sei keine gleichmäßige gewesen.
Bei Bohr und Henriques’ Versuchen wurden indes einen längeren Zeitraum
hindurch die Proben langsam und allmählich und während der Zeiteinheit
stets in genau gleich großen Mengen entnommen. Die Schwankungen der
Zusammensetzung des Blutes innerhalb des Hohlraumes des rechten Herzens
!) Stoffwechsel des Pferdes. Berlin 1898. (Ergänzungsbd. 3 zu den Land-
wirtsch. Jahrb. 28, 1898.)
Innere Atmung. — Anteil der Lunge. 191
müssen sich deshalb, wenn sie überhaupt in größerem Umfange angetroffen
werden, wofür nichts spricht, notwendigerweise gegenseitig ausgleichen. Hin-
sichtlich einiger der Bestimmungen läßt sich nun ferner geradezu nach-
weisen, daß diese Erklärungsweise ausgeschlossen ist; in Nr. 8 der Tabelle
sind z. B. die respiratorischen Quotienten für die totale Respiration, für den
Anteil des Blutes und für den Anteil der Lunge fast gleich groß (0,96,
0,98, 0,94); dies läßt sich nicht mit einer ungleichen Mischung des Venen-
blutes im rechten Herzen in Einklang bringen, und doch beträgt der Anteil
der Lunge hier 54 Proz. des totalen Stoffwechsels. Es liegt daher gewiß
durchaus kein Anlaß zu der Annahme vor, daß die gefundenen Resultate
im ganzen nicht den wirklichen Verhältnissen entsprechen sollten, und wir
müssen daher annehmen, daß gewöhnlich in der Lunge selbst eine
Kohlensäureproduktion und ein Sauerstoffverbrauch stattfinden,
deren Größe, die durchschnittlich als etwa ein Drittel des totalen
Stoffwechsels befunden wurde, in den einzelnen Fällen sehr vari-
ierend ist und zwischen O und 66 Proz. schwanken kann.
Versuche wie die soeben beschriebenen sind zur prinzipiellen Lösung
der hier behandelten Frage notwendig. Wegen des bedeutenden Eingriffs,
den die Messung der Geschwindigkeit des Blutstromes erheischt, sind sie
indes nicht geeignet, den Einfluß verschiedener äußerer Umstände auf die
Funktion zu untersuchen, indem die Wirkung derselben gar zu leicht von
dem Haupteingriffe überschattet wird. Beschränken wir uns aber darauf,
aus der Zusammensetzung teils der Atemgase, teils der Blutgase den respi-
ratorischen Quotienten zu ermitteln, so brauchen wir während der Aus-
führung der Respirationsbestimmung nur noch gleichzeitige Blutproben aus
dem rechten Herzen und aus einer- Arterie zu nehmen, was ein verhältnis-
mäßig kleiner Eingriff ist, der die Beibehaltung der natürlichen Atmung
ermöglicht. In denjenigen Fällen, wo die Blutgase und die Atemgase den °
gleichen Quotienten ergeben, können wir dann freilich nichts darüber sagen,
ob die Lunge in der hier besprochenen Weise an dem Stoffwechsel teil-
genommen hat oder nicht; denn wir sahen oben, daß der besondere Anteil
der Lunge an der Umsetzung mit ganz demselben Quotienten verlaufen
" kann wie der totale Umsatz. Finden wir aber, daß die beiden gleichzeitig
bestimmten Quotienten verschieden sind, so wissen wir, daß ein Teil der Um-
setzung in der Lunge selbst stattgefunden hat, und können uns von dessen
Natur, wenn auch nicht von dessen Größe eine Vorstellung bilden. Ist der
Quotient für die Blutgase größer als der für die Atemgase, so muß der
Quotient für den Anteil der Lunge kleiner sein als der für die totale
Respiration; in der Lunge ist der Sauerstoffverbrauch dann relativ größer
gewesen als die Kohlensäurebildung. Ist umgekehrt der Quotient für das Blut
kleiner als der für die Respirationsluft, so muß der Quotient für den Anteil
der Lungen größer sein als der für die totale Respiration, und die Lunge
ist dann der Sitz eines Prozesses gewesen, bei dem im Verhältnis zur totalen
Respiration die Kohlensäurebildung größer war als der Sauerstoffverbrauch.
Die Resultate einer solchen von Bohr und Henriques!) ausgeführten
Versuchsreihe finden sich in untenstehender Tabelle. Die Bestimmungen an
!) Arch. de physiol. 1897, S. 819.
192 Innere Atmung. — Anteil der Lunge.
möglichst normalen Tieren zeigen, daß der respiratorische Quotient der
Blutgase kleiner war als der der Atemgase; in dem der Lunge zufallenden Anteil
an der Umsetzung war die Kohlensäurebildung im Vergleich mit dem Sauer-
stoffverbrauch mithin vorwiegend. Macht man durch einen Aderlaß das
Venenblut sehr arm an Sauerstoff, so kehrt das Verhältnis sich um, dann ist
im Anteil der Lunge der Sauerstoffverbrauch relativ vorwiegend gewesen,
was ja gut damit übereinstimmt, daß die Sauerstoffversorgung der Gewebe
in solchen Fällen abnorm niedrig ist. Im Gegensatz hierzu finden sich in
einer Abteilung der Tabelle Bestimmungen, wo das Venenblut dadurch
besonders arterialisiert wurde, daß man eine A. femoralis mit einer
V. femoralis in Verbindung setzte, so daß die Vena cava einiges arterielle
Blut erhält. Der Quotient für den Anteil der Lunge war hier ein solcher,
daß der Sauerstoffverbrauch im Vergleich mit der Kohlensäureproduktion
niedrig gewesen sein muß, wie es auch, wo das Venenblut teilweise arterialisiert
war, zu erwarten stand.
Der respiratorische Quotient gleichzeitig teils im Blutgase, teils
im Atemgase bestimmt (Bohr und Henriques).
et | Arterialisation von
Normal- Anämie Verenkiut
Blutgas Atemgas Blutgas Atemgas Blutgas Atemgas
0,91 0,96 ° 1,03 0,96 | 0,54 0,71
0,63 0,66 1,38 1,20 0,55 0,71
0,72 0,83 0,86 0,84 _ —
— ee 0,93 0,61 a _
er 0,79 0,69 Er ya
262 = 0,82 0,82 | == st
|
Mittel... 0,75 | 0,82 0,97 0,85 | 0,54 0,71
| |
Zuntz und Hagemann!) haben behufs anderer Zwecke analoge Ver-
. suche ausgeführt, deren Ergebnisse sich a. f. S. tabellarisch zusammengestellt
finden. Die Bestimmungen haben den Vorzug, daß sie an großen Tieren,
nämlich an Pferden, angestellt wurden, wo man das Aufbinden unterlassen
und die Tiere sowohl in Ruhe als auch bei der Arbeit untersuchen konnte;
einige der Pferde scheinen jedoch etwas anämisch gewesen zu sein.
Zuntz und Hagemann meinen nun freilich, daß die bedeutenden Ver-
schiedenheiten, die sich in ihren Versuchen betreffs der nach den beiden ver-
schiedenen Methoden bestimmten Quotienten finden, keine reale Bedeutung
hätten und von dem Umstande herrührten, daß die aufgefangenen Blutproben
keine wirklichen Durchschnittswerte repräsentiert hätten. Wir sahen oben,
daß diese Betrachtung für die von Bohr und Henriques ausgeführten Ver-
suche keine Gültigkeit besitzt. Bieten Zuntz und Hagemanns Versuche
nun auch mehr Unsicherheit dar, weil die Blutproben nicht im Laufe längerer
Zeit allmählich in kleinen Portionen, sondern im Laufe von 1!/, bis 2 Minuten
1) 1,0. p. 372. °_
|
2
4
|
|
}
Innere Atmung. — Anteil der Lunge. 193
Der respiratorische Quotient gleichzeitig im Blut- und im Atem-
gase bestimmt (Zuntz und Hagemann).
Ruhe Arbeit
Nr. |
Blutgas | Atemgas | Blutgas | Atemgas
1 0,65 0,87 | 0,67 | 0,73
2 1,00 0,85 | 1,93 | 0,90
3 0,31 | 0,87 | 0,58 | 0,87
4 1,68 0,95 | 0,89 | 0,82
5 1,35 0,95 | 0,75 0,78
“ 0,60 0,88 | 1,17 0,83 »
7 | 1,39 0,94 1,33 0,98
8 | 1,24 0,82 0,75 0,71
9 | 0,84 0,99 0,62 0,78
10 | 0,64 0,95 | 0,63 | 0,74
Mittel... . . 0,97 | 0,91 | 0,93 | 0,81
| Be
auf einmal genommen wurden, so scheint eine nähere Betrachtung der Bestim-
mungen dennoch entschieden dafür zu sprechen, daß die Schwankungen des
gegenseitigen Verhältnisses der Quotienten keine zufälligen sind, sondern viel-
mehr von individuellen Dispositionen der verschiedenen untersuchten Tiere ab-
hängen. Die in der Tabelle unter „Ruhe* und „Arbeit“ in derselben wage-
rechten Reihe stehenden Werte gelten für dasselbe Individuum. Schon bei
der Untersuchung der 5 Fälle unter den 10 Bestimmungen, wo der Blutgas-
quotient bei Ruhe größer ist als der Atemgasquotient (Nr. 2, 4, 5, 7, 8), findet
man, daß es vorwiegend dieselben Individuen sind, rücksichtlich deren die
Quotienten auch bei Arbeit das genannte Verhalten zeigen (Nr. 2, 4, 6, 7, 8).
Noch deutlicher tritt aber das Individuelle des Verhältnisses unter den Quo-
tienten hervor, wenn man einzelne derjenigen Fälle miteinander vergleicht,
in welchen man die Quotienten besonders abweichend findet, und welche des-
halb den meisten Anlaß geben könnten, geradezu an Fehler der Bestimmungen
zu glauben. So ist in Nr.3 bei Ruhe der Blutgasquotient im Verhältnis zum
Atemgasquotienten besonders klein (0,31, bzw. 0,87), und ganz analoges Ver-
halten findet man bei demselben Individuum bei Arbeit (die Quotienten 0,58,
bzw. 0,87). In Nr. .7, wo die Quotienten ebenfalls auffällig sind, haben sie
bei demselben Individuum nahezu den gleichen Wert bei Ruhe und bei Arbeit.
Daß dies von zufälligen Fehlern herrühren sollte, ist unwahrscheinlich, ob-
schon das schnelle Entnehmen der Blutproben und die Geneigtheit des Pferde-
blutes zur Sedimentierung in einigen Fällen: wahrscheinlich Ungenauigkeiten
erzeugt haben mögen. — Die Durchschnittszahlen der Bestimmungen’ ergeben
für die Versuche bei Arbeit weit größeren Unterschied der beiden Arten von
Quotienten als die Versuche bei Ruhe. Bei Arbeit war der Anteil der Lunge
am totalen Stoffwechsel mithin mehr ausgeprägt, und zwar im Mittel so, daß
der Sauerstoffverbrauch in der Lunge größer war als die Kohlensäurebildung.
Die vorliegenden Versuchsreihen, die einen Vergleich der respiratorischen
Quotienten der Blutgase mit denen der Atemgase gestatten, erweisen also, daß
in den Lungen normal eine Umsetzung stattfindet, mittels deren
Nagel,’ Physiologie des Menschen. I. 13
194 Gaswechsel zwischen Blut und Gewebe.
Kohlensäure gebildet und Sauerstoff verzehrt wird, und zwar so,
daß das Verhältnis dieser beiden Prozesse zueinander sich je
nach dem Zustande des Organismus und den verschiedenen an
diesen gestellten Forderungen ändert.
Wie oben (S. 185) erwähnt, sind die hier besprochenen Umsätze in der
Lunge durch ein Zusammenwirken der Lunge mit den Geweben des Körpers
bedingt, welche letzteren mittels ihres Stoffwechsels die für die Umsetzung
in der Lunge notwendigen Substanzen liefern, deren Natur übrigens einst-
weilen noch nicht aufgeklärt ist.
3. Kapitel. Gaswechsel zwischen Blut und Gewebe.
Die Intensität der respiratorischen Umsetzungen im Gewebe des Körpers
ist sehr bedeutenden Schwankungen unterworfen; bei Arbeit ist der Stoff-
wechsel mehrmal größer als bei Ruhe, wie dies hinsichtlich der Muskeln und
der Drüsen aus zahlreichen vorliegenden Versuchen hervorgeht, in denen die
Menge und die Zusammensetzung des durchströmenden Blutes unter ver-
schiedenen Umständen untersucht wurden.
Auch dem Gesamtzustande des Organismus gemäß scheint die Intensität der
Atmung in den einzelnen Geweben zu schwanken. Um dies nachzuweisen, hat
Vierordt!) eine besondere Methode angegeben, die, weil keinen operativen Ein-
griff erfordernd, auch auf Menschen anwendbar ist; nach derselben hemmt man
den Kreislauf im ersten Gliede eines Fingers durch dessen Umschnürung, worauf
man die Zeit bestimmt, welche verfließt, bis das abgesperrte Blut, dessen Absorp-
tionsspektrum in dem vom Finger reflektierten Lichte beobachtet wird, das Spek-
trum des reduzierten Hämoglobins darbietet, mithin keine nennenswerte Menge
von Sauerstoff mehr enthält. Es erhalten freilich noch andere Umstände als das
Sauerstoffbedürfnis der Gewebe Einfluß auf das Resultat”); die zur Verzehrung des
Sauerstoffs erforderliche Zeit wird selbstverständlich zugleich von der relativen
Blutfülle des abgesperrten Teiles, von dem Hämoglobingehalte des Blutes und von
dessen Sauerstoffsättigungsgrade abhängig sein; wird z. B. letztere Größe herab-
gesetzt durch vorhergehende willkürliche Beschränkung der Atmung (Vierordt)
oder durch den Aufenthalt in einer Luft mit niedrigem Partialdruck des Sauerstoffs
[Henoque®°), Tripet‘)], so wird die Zeit verkürzt; ebenfalls wird jede Änderung
der Bindung des Sauerstoffs, die bewirkt, daß die Sauerstoffspannungskurve eine
andere Form bekommt, auf das Resultat Einfluß erhalten. Indes sind die Schwan-
kungen, die nach Vierordts Methode unter sonst möglichst gleichen Verhältnissen
als Anderungen des Zustandes des Organismus (Tageszeit, Verdauung, Unwohl-
sein usw.) begleitend gefunden werden, doch so bedeutend und regelmäßig, daß es
wohl am wahrscheinlichsten ist, daß sie wirklich durch das wechselnde Sauerstoff-
bedürfnis der Gewebe bedingt werden.
Dem starken Schwanken der Intensität der Gewebsatmung entspricht,
wie sich im folgenden erweisen wird, eine Reihe von Regulationsmitteln,
durch die die Konzentration des Sauerstoffs im Plasma des Blutes geändert
werden kann und das Angebot von Sauerstoff sich mithin mit dem wech-
selnden Begehr von seiten der Gewebszellen in Übereinstimmung bringen
läßt. Bevor wir zur Behandlung dieser Frage schreiten, wird indes ein
Überblick über die mittleren Spannungen der Gase im Arterien- und im
Venenblute am Platze sein.
!) Zeitschr. £. Biol. 14, 422, 1878. — ?) Vierordt, 1. c. 8. 447; Filehne,
Sitzungsber. d. phys.-med. Sozietät zu Erlangen 1879, 8. 109. — ®) Compt. rend.
Soe. de Biolog. 53, 1003, 1901. — *) Compt. rend. del’acad. des sciences 136, 76, 1902.
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4
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3
Innere Atmung. — Gasspannungen im Arterien- und Venenblute. 195
Die Sauerstoff- und die Kohlensäurespannungen im Arterien- und im
Venenblute,
Als Durchschnitt sämtlicher von Bohr!) ausgeführten Bestimmungen
findet man die Sauerstoffspannung des Arterienblutes bei Hunden
gleich etwa 120mm. Da es die Arbeit der Lungenzellen ist, die innerhalb
gewisser, durch die physikalischen Bedingungen gegebener Grenzen die Größe
der Sauerstoffspannung des Blutes bestimmt, wird man indessen finden, daß
diese öfters von dem angeführten Mittel nicht unbedeutend abweicht, wie bei
der Besprechung sowohl der von Fredericq als der von Haldane und
Smith hierüber angestellten Versuche hervorgehoben wurde. Die Kohlen-
säurespannung des Arterienblutes, von der das nämliche gilt, beträgt
meinen Versuchen zufolge etwa 20 mm, was mit den von Fredericg gefun-
denen Resultaten übereinstimmt.
Im Venenblute ist dieSauerstoffspannung nach den von Falloise?)
mit Fredericqs Tonometer ausgeführten Versuchen durchschnittlich auf
etwa 26 mm (3,63 Proz. einer Atmosphäre), die Kohlensäurespannung
auf etwa 41mm (5,81 Proz.) anzusetzen; natürlich sind die Gasspannungen
im Venenblute gemäß der Intensität der Umsetzungen und anderen Verhält-
nissen aber sehr variabel, so daß in den einzelnen Fällen häufige Ab-
weichungen von diesen Mittelzahlen zu erwarten sind.
In guter Übereinstimmung mit dem, was wir oben von der Spannung
des Sauerstoffs im Arterienblute fanden, stehen die Resultate der Unter-
suchungen darüber, in welchem Grade das Arterienblut mit diesem
Gase gesättigt ist; bei solchen Untersuchungen vergleicht man die Sauer-
stoffmenge des dem Gefäße direkt entnommenen Arterienblutes mit derjenigen
Menge, die eine Probe desselben Blutes aufnimmt, wenn sie außerhalb des
Organismus mit atmosphärischer Luft (von etwa 150mm Sauerstoffspannung)
geschüttelt wird. Es erweist sich, daß das Arterienblut gewöhnlich beinahe,
jedoch nicht völlig mit Sauerstoff gesättigt ist (Pflüger?°); natürlich können
verschiedene Umstände (z. B. Hemmung des freien Atmens oder Änderung
der Geschwindigkeit der Blutströmung durch die Lungen) bewirken, daß
man in einigen Versuchen niedrigere Sättigungsgrade findet; ein Vergleich der
Mittelzahlen für den Sauerstoffgehalt teils im Arterienblute, teils in den mit
atmosphärischer Luft geschüttelten Proben zeigt indes, daß die Regel die oben
angeführte ist. Um richtige Werte zu erhalten, ist es notwendig, die Blut-
probe während des Schüttelns mit atmosphärischer Luft bei Körpertemperatur
zu erhalten, da widrigenfalls schon die von der Temperatur abhängige Än-
derung des Absorptionskoeffizienten für das einfach gelöste Gas zur Folge
hat, daß man den Sättigungsgrad des Arterienblutes etwas geringer findet,
als er wirklich ist; letzteres ist z. B. mit Pflügers oben zitierten Versuchen
der Fall, wo das Schütteln mit Luft bei 0° geschah. Bei den im folgenden
angeführten Versuchen wurde diese Fehlerquelle dagegen vermieden. Geppert
und Zuntz*) fanden im Kaninchen- und Hundeblut einen Sättigungsgrad,
der zwar -etwas schwankte, meistens jedoch zwischen 95 und 97 Proz. lag
(Sauerstoffgehalt beim Schütteln mit Luft = 100) und in einem Falle
!) Skand. Arch. 2, 263 u. f., 1890. — ?) Bull. de l’acad. de Belgique 1902,
p. 582. — °) Pflügers Arch. 1, 70, 1868. — *) Ebenda 42, 239 u. 242, 1888.
13*
196 Innere Atmung. — Sättigungsgrad des Sauerstoffs.
99 Proz. erreichte; aus dem Sättigungsgrad des Blutes läßt sich zwar die
Sauerstoffspannung nicht genau berechnen, weil die Kohlensäurespannungen
bei den beiden zu vergleichenden Proben (Arterienblute und mit Luft ge-
schütteltem Blute) nicht identisch sind; die angeführten Werte entsprechen
aber ungefähr (s. die Tabelle S. 92) einer Sauerstoffspannung im Arterien-
blute von 90 bis 130mm. Zuntz und Hagemann!) finden in neun
Bestimmungen an Pferdeblut zweimal eine größere Sauerstoffmenge im
Arterienblute als in der mit atmosphärischer Luft geschüttelten Probe, mithin
eine Sauerstoffspannung des Arterienblutes, die 150 mm übersteigt. Das
Resultat der Sättigungsversuche steht also im ganzen in Übereinstimmung
mit den oben angegebenen direkten Bestimmungen der Sauerstoffspannung
des Arterienblutes, wo auch öfters Werte gefunden wurden, die über der
Spannung dieses Gases in der Atmosphäre lagen.
Pflüger?) hat beobachtet, daß das Arterienblut, wenn es nach der Entleerung
unter Luftabschluß steht, im Laufe weniger Sekunden bedeutend dunkler wird,
sofern man es nicht sehr schnell abkühlt. Obschon Pflüger) selbst davor warnt,
eine Änderung der Farbe unbedingt als mit einem Sauerstoffverbrauch gleich-
bedeutend zu betrachten, wird dies Phänomen dennoch allgemein einer Oxydation
zugeschrieben, die sozusagen augenblicklich im Arterienblute nach dessen Ent-
leerung eintreten sollte, eine Anschauung, die in mehreren Beziehungen, unter
anderem auch hinsichtlich der Bestimmung des Sättigungsgrades, wichtige Konse-
quenzen herbeiführen würde; der Nachweis einer solchen Sauerstoffzehrung gelingt
aber nicht durch direkte Bestimmungen des Sauerstoffes in Blutproben *). Diese
Farbenänderungen entstehen deshalb nicht durch Oxydation, sondern wahrscheinlich
durch eine Änderung des Volumens der Blutkörperchen (schon eine starke Ab-
kühlung macht allein das entleerte Arterienblut heller’); da wir nun wissen,
daß die Kohlensäurespannung im nicht abgekühlten entleerten Blute sehr rasch
steigt (Zuntz), und daß dies wieder eine Zunahme des Volumens des einzelnen
Blutkörperchens bewirkt (v. Limbeck‘), so wird das Nachdunkeln des Blutes in
Pflügers Versuchen erklärlich, ohne daß es nötig wäre, eine Oxydation anzu-
nehmen. Andere Versuchsresultate Pflügers’), in welchen die Sauerstoffmenge
des Arterienblutes je nach der Dauer des Auspumpens verschieden gefunden wird,
und die in diesem Zusammenhange auch öfters angeführt werden, gehören eigent-
lich anderswohin, indem sie von dem Umstande herrühren, daß der bakterielle Stoff-
wechsel, gegen den man in den älteren Versuchen keine Vorsichtsmaßregeln treffen
konnte, beim langsameren Auspumpen größeren Einfluß erhält (s. Anhang, $. 221).
Regulation der Konzentration des Sauerstoffs im Plasma des Blutes °). i
Das Plasma, welches die Blutkörperchen umgibt und ein unumgängliches
Mittelglied für die Gasbeförderung zwischen diesen und den Endothelzellen |
der Gefäße ist, enthält selbst keine sauerstoffbindenden dissoziablen Stoffe.
Es absorbiert deshalb den Sauerstoff im wesentlichen auf dieselbe Weise, wie
es das Wasser tut, also der Spannung proportional und in geringer Menge.
Das Plasma hat also keinen nennenswerten Vorrat an Sauerstoff; in dem-
selben Maße, wie die Gewebszellen dem Plasma Sauerstoff entziehen, muß
dieser aus den in den Blutkörperchen enthaltenen Oxyhämochromen ersetzt
> u
Be ..
!) Stoffwechsel des Pferdes, Berlin 1898, 8. 402. — ?°) Zentralbl. f: d. med.
Wissensch. 1867, 8. 321. — °) 1. c. 8. 323. — *) Vgl. Bohr, Arch. de physiol. 1897,
p. 592. — °) Pflüger, 1. c. 8. 322. — °) Vgl. Hamburger, Osmotischer Druck,
Wiesbaden 1902, 8. 291. — 7) Zentralbl. £. d. med. Wissensch. 1867, 8. 722. —
®) Vgl. oben 8. 64 u. 84.
Innere Atmung. — Regulation der Sauerstoffkonzentration im Plasma. 197
werden. Der Ersatz geschieht so gut wie momentan wegen der günstigen
Diffusionsbedingungen zwischen dem Plasma und den Blutkörperchen, die
eine besonders’große Oberfläche darbieten. In jedem Augenblicke ist deshalb
die Sauerstoffspannung des Plasmas von der Sauerstoffspannung der Blut-
körperchen abhängig und die Sauerstoffkonzentration im Plasma also der zu jeder
Zeit im ganzen Blute herrschenden Sauerstoffspannung direkt proportional.
Die Sauerstoffmenge, die, im Plasma gelöst, in jedem Augenblicke den Zellen
zu Gebote steht, ist dann direkt und in einfachem Verhältnis von der
Sauerstoffspannung im Blute abhängig, dagegen, und dies ist wohl zu be-
herzigen, von der totalen Sauerstoffmenge des Blutes nur insofern, als die
Menge die Spannung beeinflußt, abhängig (Bohr !).
Die Untersuchung der Bedingungen für die Sauerstoffversorgung der
Zellen während des Kapillarkreislaufes fällt also mit der Untersuchung der
Änderung zusammen, welche die Sauerstoffspannung des Blutes bei dem
Übergang aus Arterienblut in Venenblut erleidet. Hier ist nun vor allen
Dingen zu untersuchen, welcher Regel gemäß die Sauerstoffspannung des
Blutes im Verhältnis zu dem von den Geweben verursachten Sauerstoff-
verbrauch desselben abnimmt, oder mit anderen Worten zu bestimmen, in
welchem Verhältnis die Sauerstoffspannung des Venenblutes zu derjenigen
Sauerstoffmenge steht, die nach dem in den Geweben stattfindenden Ver-
brauch noch im Blute übrigbleibt.
Keine von den in einem früheren Abschnitte (S. 84) angegebenen
Sauerstoffkurven, die das Verhältnis der Sauerstoffspannungen (Abszissen)
zu den entsprechenden absorbierten Sauerstoffmengen (Ordinaten) ausdrücken,
kann hier einfach benutzt werden. Man muß nämlich eingedenk sein, daß
die Form der Sauerstoffspannungskurven von der gleichzeitig vorhandenen
Kohlensäurespannung abhängig ist (S. 91), und da diese beim Übergange
des Arterienblutes in Venenblut wegen der stattfindenden Neubildung von
Kohlensäure fortwährend anwächst, ist keine der oben angegebenen Sauer-
stoffspannungskurven, die sämtlich bei konstanter Kohlensäurespannung be-
stimmt wurden, unmittelbar brauchbar. Es muß für den Übergang aus
Arterienblut in Venenblut eine besondere Sauerstoffspannungskurve
berechnet werden; wie dies geschieht, wird ein Beispiel am leichtesten zeigen.
Wie wir oben sahen, kann man rechnen, daß das Blut mit einer Sauer-
stoffspannung von durchschnittlich 120mm und einer Kohlensäurespannung
von durchschnittlich 20 mm in die Kapillaren eintritt; die unter diesen Ver-
hältnissen in 100 cem Blut enthaltene Menge Sauerstoff beträgt der S. 86
gegebenen Sauerstoffspannungskurve zufolge (nach Hinzurechnung des phy-
sikalisch gelösten Sauerstoffs, siehe die Anmerkung ?2) 20cem. Haben die
Gewebe hiervon 8ccm verzehrt, so werden sich im Durchschnitt 6,4 cem
') Skand. Arch. 3, 136 u. f., 1891. — ?) In.den im Abschnitte vom Blute
gegebenen Spannungskurven des Sauerstoffs und der Kohlensäure bezeichnen die
Ordinaten das chemisch gebundene Gas. Bei den hier erörterten Fragen handelt
es sich dagegen selbstverständlich um die totale Menge absorbierten Gases, und
die Kurven, die wir hier zu benutzen haben, müssen deshalb aus den früher
gegebenen gebildet werden, indem wir zu den Ordinaten die bei jeder gegebenen
Spannung physikalisch gelöste Gasmenge hinzuaddieren, die sich mittels der
S. 63 mitgeteilten Absorptionskoeffizienten leicht berechnen läßt,
198 Innere Atmung. — Sauerstoffspannungskurven für Arterien- und Venenblut.
00,
Kohlensäure gebildet haben 5: = 0,80), und die Kohlensäurespannung
0,
wird dann von 20 bis 30mm gestiegen sein, wie es aus der (nach der An-
merkung korrigierten) Kohlensäurespannungskurve des Blutes (S. 106) hervor-
geht; die den im Venenblute übrigbleibenden 12 ccm Sauerstoff entsprechende
Sauerstoffspannung ist daher in der Sauerstoffspannungskurve zu suchen, die
30 mm Kohlensäurespannung entspricht, und wird gleich 32,2 mm gefunden.
Durch Ausführung einer analogen Berechnung des für jeden einzelnen
Cubikcentimeter verbrauchten Sauerstofis erhält man die in untenstehender
Tabelle angeführten Werte der Sauerstoffmengen des Blutes, die beim Über-
gange aus Arterien- in Venenblut den verschiedenen Sauerstoffspannungen
entsprechen ; ist der respiratorische Quotient größer als 0,8, so wird dadurch
selbstverständlich die berechnete Spannungskurve etwas verändert, speziell
so, daß der Eiufluß der Neubildung von Kohlensäure noch größer wird. Die
nichtkorrigierten Werte, die man erhalten würde, wenn man ohne Berück-
sichtigung der neugebildeten Kohlensäure überall die im Arterienblute
vorgefundene Kohlensäurespannung (20 mm) benutzte, sind des Vergleiches
wegen hinzugefügt.
Sauerstoffspannungskurven beim Arterienblut und beim Über-
gange aus Arterien- in Venenblut.
Aufgenommener Sauerstoff Vol.-Proz.
Sauerstoff-
BR bei konstant beim Ubemgp ns
20 mm:00, | aus Art.- in
mm | Venenblut
5 1,0 | 0,5
10° RT 1,5
15 58; 3,3
20 8,1 5,8
25 10,9 8,4
30 | 12,7 10,9
40 15,3 14,7
60 18,1 17,9
80 Er 19,2
100 7 20,0
Ein Vergleich der beiden Kolonnen der Tabelle miteinander zeigt, wie dem
Sinken der Sauerstoffspannung und somit dem Sinken der Konzentration des
Sauerstoffs im Plasma während des Kapillarkreislaufes durch eine Art Selbstregu-
lierung von der stattfindenden Kohlensäurebildung entgegengearbeitet wird. So
würde, wenn die Kohlensäurespannung bei dem Werte im Arterienblute (20 mm)
stehen bliebe, ein Venenblut, das beim Verlassen der Kapillaren 10,9 Vol.-Proz.
Sauerstoff enthält, eine Sauerstoffspannung von 25mm haben; tatsächlich
bewirkt aber die steigende Kohlensäurespannung, daß die Sauerstoffspannung
bis auf 30mm gebracht wird; die Sauerstoffspannung ist mithin wegen der
Einwirkung der Kohlensäure um etwa 20 Proz. über den Wert gestiegen,
den sie ohne den Einfluß dieses Moments haben würde. Bei größerem
N
u re
Innere Atmung. — Sauerstoffspannungskurve für Venenblut. 199
Sauerstoffverbrauch der Gewebe wächst dieser Einfluß der Kohlensäure stark;
wenn z. B. im Venenblute nur 1,5 Vol.-Proz. Sauerstoff übrig sind, so ist die
Sauerstoffspannung im Blute wegen der entsprechenden Kohlensäurebildung
bis auf 10mm, und also um 54 Proz. des Wertes gestiegen, den sie haben
würde, wenn. die Kohlensäurespannung sich konstant erhalten hätte (6,5 mm).
In obiger Tabelle ist die Sauerstoffmenge des Blutes als Funktion der
Sauerstoffspannung angeführt; bei Untersuchungen über den Einfluß, den
der Sauerstoffverbrauch auf die Konzentration dieses Gases im Plasma hat,
ist es doch gewöhnlich zweckmäßiger, sich untenstehender Tabelle über die-
selben Werte zu bedienen, wo die Sauerstoffspannung und die Konzentration
im Plasma als Funktionen der totalen Sauerstoffimenge des Blutes betrachtet sind.
Verhältnis der totalen Sauerstoffmenge zur Sauerstoffkonzen-
tration im Plasma beim Übergange aus Arterien- in Venenblut.
Totaler Sauerstoff Sauerstoff in
des Blutes Bauerstoff- 100 cem Plasma
spannung
Vol.-Proz. ccm
1 7,8 0,024
2 11,7 0,035
3 14,2 0,043
4 : 16,5 0,050
5 18,5 0,056
6 20,4 0,062
8 24,2 0,073
12 32,2 0,098
16 46,0 0,139
18 62,0 _ 0,188
19 77,0 0,233
20 120,0 0,364
Nachdem wir oben den Einfluß betrachtet haben, den der Sauerstoff-
verbrauch in den Kapillaren auf die Sauerstoffkonzentration des Plasmas
übt, wenn man die gleichzeitig gebildete Kohlensäure berücksichtigt,
schreiten wir nun zur Untersuchung der Mittel, durch die der Orga-
nismus befähigt wird, zum Teil von der Größe des Sauerstoffverbrauches
unabhängig, die Sauerstoffkonzentration des Plasmas so zu regulieren, daß
die Versorgung der Gewebszellen mit Sauerstoff sich innerhalb gewisser
Grenzen den verschiedenen an ihre Arbeit gestellten Forderungen anpaßt.
Diese Regulationsmittel beschreiben wir im folgenden jedes für sich, und
wir suchen ihre Wirkungsart unter der Voraussetzung zu bestimmen, daß
die übrigen Umstände möglichst unverändert bleiben; in der Wirklich-
keit werden die verschiedenen Regulationsmittel, was wohl in Erinnerung zu
behalten ist, auf vielfachste Weise im Organismus kombiniert.
Die Regulationen können behufs der Beschreibung zweckmäßig in zwei
Hauptgruppen gesondert werden, in solche nämlich, bei denen der Ausschlag
dadurch entsteht, daß der Sauerstoffverbrauch auf eine größere oder kleinere
Menge Blutfarbstoff als vorher verteilt wird, während die Form der Sauer-
200 Innere Atmung. — Regulation der Sauerstoffkonzentration usw.
stoffspannungskurve sich nicht verändert (Änderung der Strömungsge-
schwindigkeit und der Konzentration des Hämochroms im Blute), und in
solche,,bei denen die Form der Sauerstoffspannungskurve sich durch ver-
schiedene Einwirkungen auf das Hämochrom verändert (Änderung der Kohlen-
säurespannung und des spezifischen Sauerstoffgehalts).
Änderung der Strömungsgeschwindigkeit des Blutes (d. i. der während der
Zeiteinheit durchströmenden Blutmenge). Nimmt die Strömungsgeschwindig-
keit durch ein Gewebe unter sonst ganz gleichen Umständen zu, so wird der
in der Zeiteinheit stattfindende Sauerstoffverbrauch auf eine größere Menge
Blut verteilt; hierdurch steigt die Sauerstoffkonzentration im Plasma. Ent-
hält z. B. das die Kapillaren verlassende Venenblut 12 Vol.-Proz. Sauerstoff,
und ist mithin die Konzentration des Sauerstoffs im Plasma nach obiger
Tabelle 0,098, so wird eine Zunahme der Strömungsgeschwindigkeit bis zur
doppelt so großen, während der Sauerstoffverbrauch unverändert bleibt, die
Wirkung haben, daß das Venenblut 16 Vol.-Proz. Sauerstoff enthält; die
Sauerstoffkonzentration beträgt dann 0,139 und ist somit um etwa 42 Proz.
gewachsen. Eine solche Zunahme der Geschwindigkeit der Strömung durch
ein Organ, dessen Sauerstoffverbrauch wesentlich unverändert bleibt, kann
unter Umständen stattfinden, wo die Blutzirkulation durch vermehrte Herz-
energie überhaupt zunimmt (z. B. beim Aufenthalt in sauerstoffarmer Luft).
Am häufigsten tritt die Zunahme des Blutstromes indes sekundär infolge
gesteigerter Arbeit im ‚Organe ein, wo denn auch zugleich der Sauerstoff-
verbrauch während der Zeiteinheit steigt. Die größere Strömungsge-
schwindigkeit wird selbstverständlich auch im letztgenannten Falle stets
dazu beitragen, die Sauerstoffkonzentration des Plasmas relativ zu steigern;
die absoluten Ausschläge des ganzen Prozesses können hierbei aber selbstver-
ständlich verschieden sein. Sokann der Zuwachs der Strömungsgeschwindig-
keit geringer sein als der des Sauerstoffverbrauchs, wodurch die Sauerstoff-
menge des Venenblutes bei Arbeit geringer wird als bei Ruhe, wie es mit
den Muskeln der Fall ist!); oder die gesteigerte Strömungsgeschwindigkeit
kann die Zunahme des Sauerstoffverbrauchs überkompensieren; dann ist
das Venenblut bei Arbeit sauerstoffreicher als bei Ruhe, wovon die Sub-
maxillardrüse ein Beispiel gibt?2). Mit Bezug auf diese Drüse liegen so-
wohl für Ruhe als für Arbeit genaue Bestimmungen des Sauerstoffverbrauchs,
der Zusammensetzung des Blutes und der Strömungsgeschwindigkeit vor
(Barcroft3). Diese zeigen, daß das der ruhenden Drüse entströmende
Blut im Mittel von neun Versuchen 52,8 Proz. der Sauerstoffmenge des Ar-
terienblutes enthält, was, die Spannung des Arterienblutes auf 120mm an-
gesetzt, eine Sauerstoffkonzentration im Plasma 0,089 ergibt (siehe die
Tabelle S. 199). Bei Arbeit der Drüse findet Bareroft den Sauerstoffver-
brauch etwa drei- bis viermal, die Strömungsgeschwindigkeit etwa sechsmal
so groß als bei Ruhe; demnach wird das Venenblut aus der arbeitenden
!) Vgl. Cl. Bernard, Tissus vivants, Paris 1866, p. 220; Sczelkow,
Sitzungsber. d. Wiener Akad., math.-naturw. Kl., 45, 1862; Chauveau u. Kauf-
mann, Compt. rend. de l’acad. des sciences 104, 1128, 1887. — *?) Cl. Bernard,
Liquides de l’organisme, Paris 1859, p. 440. — °) Journ. of Physiology 27, 31 u. £.
1901.
Innere Atmung. — Regulation der Sauerstoffkonzentration usw. 201
Drüse 73,3 Proz. des Sauerstoffs des Arterienblutes enthalten und die Sauer-
stoffkonzentration des Plasmas 0,132 betragen. Schon die Zunahme der
Strömungsgeschwindigkeit — es wirken zugleich noch andere Regulationen,
wie die gesteigerte Konzentration des Hämochroms (siehe unten) — hat dann
bewirkt, daß die Sauerstoffkonzentration des Plasmas in dem die arbeitende
Drüse verlassenden Blute im Vergleich mit den Verhältnissen bei Ruhe um
etwa 48 Proz. zugenommen hat. Diese bedeutende Zunahme des den Zellen
zu Gebote stehenden Sauerstoffs steht in gutem Einklange damit, daß das
Drüsensekret nach den vorliegenden Versuchen (S. 130) einen besonders
hohen Sauerstoffgehalt (einer Spannung von etwa 200 mm entsprechend) zu
haben scheint.
Änderung der prozentigen Menge des Blutfarbstoffe.. Eine prozentige
Zunahme des Blutfarbstoffes, diese möge nun von einem absoluten Zuwachs
der Menge dieses Stoffes herrühren oder auch durch Ausscheidung von
Flüssigkeit aus dem Blute entstanden sein, bewirkt ganz ebenso wie eine Zu-
nahme der Strömungsgeschwindigkeit, daß der während des Kapillarkreis-
laufes stattfindende Sauerstoffverbrauch des Gewebes’ auf eine größere Menge
des Hämochroms verteilt wird, weshalb die Sauerstoffspannung im Venen-
blute größer wird, als es unter übrigens gleichen Verhältnissen sonst der
Fall gewesen sein würde; die Folge hiervon wird wieder, was das wesent-
lichste ist, daß die Sauerstoffkonzentration des Plasmas relativ größer wird.
Solche prozentige Vermehrung des Hämochroms finden wir dann auch als
stationären Zustand bei besonders kräftigen Individuen, ebenso wie die
Menge des Hämochroms nach Geschlecht und Alter verschieden ist, am
größten bei 20 bis 30 jährigen Männern (etwa 1,4mal so groß als im
Kindesalter !. Aber auch als mehr vorübergehende Regulation finden wir
bei ermüdender Muskelarbeit eine Zunahme der prozentigen Menge des Hä-
mochroms ?), die von einer durch Ausscheidung von Flüssigkeit erzeugten
Konzentrationsänderung des Blutes herrührt; nach zehn Minuten dauernder
anstrengender Arbeit stieg z. B. die Anzahl der roten Blutkörperchen durch-
schnittlich um 12,3 Proz. des ursprünglichen Wertes; das Maximum der
Zunahme war 23,4 Proz. (v. Willebrand). Neben der Änderung der Strom-
geschwindigkeit schafft also bei der Muskelarbeit die Konzentrationsänderung
des Blutes günstigere Bedingungen für die Sauerstofflieferung an die Gewebs-
zellen. Dasselbe ist in noch höherem Maße bei den Flüssigkeit secernierenden
Drüsen der Fall.
Die Zunahme der Konzentration des Hämochroms im Blute, welche beim
Aufenthalt in verdünnter Luft beobachtet wird, spielt ebenfalls eine wichtige
Rolle als Mittel zur Steigerung der Sauerstoffkonzentration des Plasmas; die
prozentige Vermehrung des Farbstoffes kann hier in ausgesprochenen Fällen
etwa 50 Proz. des normalen Wertes erreichen (Viault).
Auf den Verlauf der Sauerstoffspannungskurve haben die hier besprochenen
Konzentrationsänderungen keinen Einfluß; die Konzentration des Hämochroms bleibt
nämlich hierbei in den Blutkörperchen selbst unverändert (S. 89).
‘) Vgl. Schwinge, Pflügers Archiv 73, 329, 1898. — °) Vgl. Zuntz u.
Schumburg, Studien zu einer Physiologie des Marsches, Berlin 1901; v. Wille-
brand, Skand. Arch. 14, 176, 1903. — ®) Compt. rend. de l’acad. des sciences
111, 917, 1890.
202 Innere Atmung. — Regulation der Sauerstoffkonzentration usw.
Änderung der Kohlensäurespannung des Blutes. Wegen der Änderung,
welche die Sauerstoffspannungskurve durch eine Änderung der Kohlensäure-
spannung erleidet, erhält letztere einen bedeutenden regulatorischen Einfluß
auf die Sauerstoffkonzentration des Plasmas. Auf welche Weise die Neu-
bildung von Kohlensäure während der Passage des Blutes durch das Gewebe
hierbei für die Bedingungen der Sauerstoffaufnahme Bedeutung erhält, ent-
wickelten wir oben; natürlich wird aber auch jede auf andere Weise ent-
standene Änderung der Kohlensäurespannung auf die Sauerstoffkonzentration
einwirken, und diese Wirkungen der Kohlensäure haben für die Versorgung
der Zellen mit Sauerstoff um so größere Bedeutung, da sie um so kräftiger
hervortreten, je geringer die Sauerstoffmenge des Blutes geworden ist. Än-
derungen der Kohlensäurespannung des Blutes können, von der Bildung.
der Kohlensäure in den Geweben unabhängig, auf verschiedene Weise entstehen.
So kann wegen der spezifischen Tätigkeit der Lungen die Kohlensäurespannung
des zu den Geweben strömenden Arterienblutes bald bedeutend niedriger, bald
(bei Retention) höher als die normale sein (S. 158). Die Kohlensäure-
spannung kann aber auch wegen Einwirkungen auf das Blut während der
Passage desselben durch die Kapillargefäße variieren; wie wir unten sehen
werden, spielen hierbei aller Wahrscheinlichkeit nach Änderungen des
„spezifischen Kohlensäuregehalts“ des Hämochroms eine wichtige Rolle; auch
wird die Bildung fixer Säuren, indem sie die an Alkali gebundene Kohlen-
säure partiell frei machen, die Kohlensäurespannung des Kapillarenblutes
steigern. Ein hübsches Beispiel einer auf letztgenanntem Wege stattfindenden
Regulation ist die Bildung von Milchsäure bei Sauerstoffmangel in den Ge-
weben (auch nach sehr anstrengender Muskelarbeit!); indem hierdurch die
Kohlensäurespannung des Blutes während dessen Passage durch die Kapil-
laren steigt, bewirkt mithin eben das durch den Mangel an Sauerstoff er-
zeugte Produkt ein dem Sauerstoffmangel entgegenarbeitendes Steigen der
Sauerstoffkonzentration des Plasmas.
Auch das Einatmen kohlensäurehaltiger Luft wird wegen des damit
verbundenen Steigens der Kohlensäurespannung des Blutes selbstverständlich
eine Zunahme der Sauerstoffkonzentration des Plasmas zur Folge haben. Da
wir später diesen Umstand in Betracht zu ziehen haben, um die Wirkung
der Kohlensäureinhalation beim Aufenthalt in verdünnter Atmosphäre zu er-
klären, führen wir hier gleich ein Zahlenbeispiel an. Setzt man die Sauer-
stoffspannung des Arterienblutes wie gewöhnlich auf 120 mm an und rechnet
man den Sauerstoffverlust des Blutes im Gewebe als 8 Vol.-Proz., so wird die
Sauerstoffspannung des Venenblutes unter gewöhnlichen Verhältnissen etwa
32mm betragen (siehe die Tabelle S. 199); wird aber die Kohlensäure-
spannung des Arterienblutes, während die Sauerstoffspannung unverändert
bleibt, auf 80mm erhöht (z. B. durch Einatmung einer angemessen zu-
sammengesetzten Gasmischung mit etwa 8 Proz. C0,), so wird, wenn derselbe
Sauerstoffverbrauch (8 Vol.-Proz.) im Blute vorausgesetzt wird, die Sauerstoff-
‚spannung des Venenblutes 48 mm (siehe S. 92). Die Sauerstoffkonzentration
des die Gewebe verlassenden Blutes ist dann wegen der Kohlensäureein-
atmung um 50 Proz. des Wertes gestiegen.
!) Vgl. Araki, Zeitschr. f. physiol. Chem. 19, 422, 1894, und Spiro, Zeitschr.
f. physiol. Chemie 1, 111.
Innere Atmung. — Regulation der Sauerstoffkonzentration usw. * 203
Eigentlieh ist die Zunahme der Konzentration des Sauerstoffs noch größer ;
bei der Berechnung für das Blut mit 80mm CO,-Spannung wurde nämlich das
fernere Steigen der Spannung nicht berücksichtigt, das wegen der Neubildung von
Kohlensäure während des Kapillarkreislaufes auch hier stattfinden wird.
Kohlensäureeinatmung kann also unter Umständen auf die Versorgung
der Gewebszellen mit Sauerstoff höchst günstig wirken.
Änderung der spezifischen Sauerstoffkapazität des Blutes‘). Hierdurch
wird das Hämochrom so modifiziert, daß die Größe der Sauerstoffmenge, die
bei einem gegebenen Sauerstoffdrucke gebunden wird, sich ändert, oder, was
ganz dasselbe ist, so, daß eine gegebene, im Blute absorbierte Sauerstofimenge
eine andere Spannung ausübt (S. 93). j
Im Organismus ändert sich den vorliegenden Untersuchungen zufolge
der spezifische Sauerstoffgehalt (Sp. O) unter verschiedenen Verhältnissen,
und zwar teils so, daß das Blut überhaupt einen anderen Sp. O bekommt
(z. B. bei Einatmung sauerstoffarmer Luft, bei Anämie usw.), teils so, daß
der Sp. O des Venenblutes von dem des Arterienblutes verschieden wird.
Auf die Bedeutung der ersteren Art einer Änderung in der Sauerstoffzufuhr
zu den Geweben werden wir später zurückkommen, wenn wir die durch
Einatmung sauerstoffarmer Luft hervorgerufenen Änderungen behandeln.
Hier haben wir speziell mit der beim Übergang von Arterien- in Venenblut
stattfindenden Modifikation des Hämochroms zu schaffen, durch welche die
Sauerstoffkonzentration des Plasmas Fir. 24.
während des Kapillarkreislaufes regu- 2
liert werden kann. In nebenstehender
schematischer graphischer Darstellung A
bezeichne A die Sauerstoffspannungs-
kurve des Arterienblutes, die Ordinate R dh
die prozentige Sauerstoffmenge, die im i
Venenblute enthalten ist, nachdem der '
Sauerstoffverbrauch in den Geweben 'R IR
stattgefunden hat; die Sauerstoff-
spannung des Venenblutes wird dann i
durch den Wert der Abszisse p ver- p pP
treten sein. Ändert sich aber der spezifische Sauerstoffgehalt, so daß er
während der Passage des Blutes durch die Kapillargefäße z. B. abnimmt, so
wird das Verhältnis ein anderes. Die Sauerstoffspannung des Venenblutes
findet dann ihren Ausdruck ın einer anderen Kurve, in welcher die Ordinaten-
werte für dieselben Abszissen kleiner sind, und welche sich mithin durch die
Kurve V darstellen läßt. Ist der Sauerstoffverbrauch derselbe und die im
Venenblut übriggebliebene Sauerstoffmenge (R) somit unverändert, so wird
die Spannung nicht mehr — p sein, sondern einen größeren Wert an-
genommen haben, der-dem Abszissenwerte für R in der Kurve V entspricht,
folglich —= Pist. Die Sauerstoffkonzentration des Plasmas wird also nach
Herabsetzung des spezifischen Sauerstoffgehalts größer und die Versorgung
der Zellen mit Sauerstoff leichter als vorher.
V
!) Vgl. Bohr, Skand. Arch. 3, 142, 1891 und Tobiesen ebenda 6, 273, 1895.
204 Inhere Atmung. — Regulation der Kohlensäurekonzentration im Plasma.
Eine derartige Änderung des spezifischen Sauerstoffgehalts läßt sich
öfters im Organismus konstatieren, wenn das gleichzeitig entnommene
Arterien- und Venenblut untersucht werden. So fand man in einem Ver-
suche, daß das Blut der Arterien einen spezifischen Sauerstoffgehalt von 468,
das der Vena femoralis einen solchen von 420 hatte, was einer Zunahme der
Sauerstoffkonzentration im Venenblute von etwa 12 Proz. des Wertes ent-
spricht, den dieselbe ohne diesen Faktor haben würde. Die Änderung des
spezifischen Sauerstoffgehalts beim Übergange des Arterienblutes in Venen-
blut wird, wie genannt, häufig angetroffen, ist aber nicht konstant. Dies
steht wohl zum Teil damit in Verbindung, daß dieselbe nur ein einzelnes
unter mehreren anderen Regulationsmitteln der Sauerstoffzufuhr ist; sicher-
lich spielt es aber auch eine Rolle, daß die Verhältnisse, unter denen die
Experimente bisher unternommen wurden, für die Entwickelung eines
kräftigen Stoffwechsels der Gewebe besonders ungünstig waren (Aufbinden
der Tiere, Herzkatheter); wahrscheinlich werden die Ausschläge unter
günstigeren Verhältnissen häufiger und größer sein.
Die hier angeführten verschiedenen Arten von Regulationsmitteln der Sauer-
stoffkonzentration des Plasmas wirken, wie schon genannt, in der Regel zu
gleicher Zeit, so daß bald das eine, bald das andere besonders stark hervortritt;
es wird somit eine zahlreiche Reihe von Kombinationen ermöglicht, durch
welche die Versorgung der Zellen mit Sauerstoff zum Teil von der Vermin-
derung des Sauerstoffs unabhängig, die das Blut während der Durchströmung
der Kapillaren erleidet, den Forderungen der Gewebe angepaßt wird.
Regulation der Konzentration der Kohlensäure im Plasma.
Die Konzentration der einfach gelösten Kohlensäure im Plasma
die der Kohlensäurespannung des Blutes proportional ist, wird für die innere
Atmung von Bedeutung, teils als die physikalischen Bedingungen bestimmend,
unter denen die Beförderung der Kohlensäure aus den Geweben ins Blut
während des Kapillarkreislaufes stattfindet, teils als die Sauerstoffspannung
beeinflussend, wie oben entwickelt wurde Eine Zunahme der Strömungs-
geschwindigkeit des Blutes wird unter sonst gleichen Verhältnissen
aus ähnlichen Gründen wie den in betreff des Sauerstoffs entwickelten dazu
beitragen, daß die Spannung verhältnismäßig geringer wird ; dieselbe Wirkung
wird eine Zunahme der Konzentration des Hämochroms üben, jedoch
nur hinsichtlich des an den Farbstoff gebundenen Teiles der Kohlensäure.
Da man Carbo-Hämoglobine verschiedenen spezifischen Kohlensäure-
gehalts nachgewiesen hat (S. 73), wird sich wahrscheinlich auch die
Kohlensäurespannung des Blutes innerhalb weiter Grenzen hierdurch regu-
lieren lassen, indem der Übergang aus einer Verbindung von geringerem
in eine Verbindung von größerem spezifischen Kohlensäuregehalt die Span-
nung herabsetzen wird, und umgekehrt, ganz derjenigen Auseinander-
setzung analog, die oben in betreff des Sauerstoffs angeführt wurde; eine
direkte Untersuchung dieses Verhaltens an gleichzeitig entnommenem Ar-
terien - und Venenblut ist bisher aber nicht ausgeführt worden. Die Kohlen-
säure des Blutes ist übrigens an so viele verschiedene Stoffe gebunden
(8. 103), die zum Teil aufeinander einwirken, daß die Annahme nahe liegt,
die Spannung könne sich auch auf mannigfache andere Weise für dieselbe im
Änderungen in der Zusammensetzung der Einatmungsluft. 205
Blute absorbierte Kohlensäuremenge ändern; Näheres wissen, wir hierüber
aber nicht. In Anbetracht des bedeutenden Einflusses, den die Kohlensäure-
spannung auf die Sauerstoffspannung des Blutes übt, verdient es schließlich
ausdrücklich hervorgehoben zu werden, daß eine umgekehrte Wirkung der
Sauerstoffspannung auf die Kohlensäurespannung, wenn es überhaupt eine
solche gibt, jedenfalls ohne erhebliche Bedeutung ist (S. 106).
Drittör Abschnitt.
Einfluß einer geänderten Zusammensetzung der Einatmungsluft
auf den Respirationsprozeß.
Es ist namentlich der Einfluß, welchen Änderungen der Sauerstoff-
und der Kohlensäurespannungen der umgebenden Atmosphäre auf den
Gaswechsel haben, der im folgenden zur Untersuchung kommt; Schwan-
kungen der Spannung des Stickstoffs, der sich ja bei dem Atmungs-
vorgange überhaupt indifferent zu verhalten scheint, sind ohne Bedeutung;
so läßt sich der Stickstoff durch andere indifferente Gase (Wasserstoff,
Methan) ersetzen, ohne daß Abweichungen vom normalen Gaswechsel,
wenigstens während der Dauer der Versuche, nachweisbar wären. Wo der
Stickstoff oder andere indifferente Gase unter dem Einflusse eines hohen
Druckes aber in bedeutenden Mengen vom Blute absorbiert worden sind,
können sie durch eine darauf folgende Entlastung des Druckes, wenn diese
nicht hinlänglich langsam vor sich geht, schädlich wirken; es bilden sich
nämlich hierdurch leicht Gasbläschen im Blute, die in den Blutgefäßen Em-
bolien verursachen können, wodurch namentlich das Nervensystem affiziert
wird }).
Der Einfluß, den die Änderung des Partialdruckes eines Gases auf
den Organismus übt, ist von der Entstehungsweise dieser Änderung unab-
hängig; die Wirkung ist also dieselbe, die Änderung des Partialdruckes möge
nun von einer Änderung der prozentigen Menge des betreffenden Gases
oder von einer Änderung der Größe des Totaldruckes oder von beiden im
Verein herrühren. Dies hat besonders P. Bert?) experimentell dargetan und
läßt sich überdies schon daraus schließen, daß die Konzentration des ein-
fach gelösten Gases in der die tierische Zelle umgebenden Flüssigkeit und
somit die maßgebende äußere Atmungsbedingung einzig und allein durch‘
den numerischen Wert des Partialdruckes ohne Rücksicht auf dessen Ent-
stehungsweise bestimmt werden.
Die Wirkung, die eine Änderung des Partialdruckes des Sauer-
stoffs und des der Kohlensäure in der umgebenden Atmosphäre auf
den respiratorischen Vorgang übt, ist komplizierterArt. Die Änderung des
Partialdruckes der Alveolengase und die hieraus folgende Änderung der Be-
dingungen für die Tätigkeit der Lungenzellen sind selbstverstündlich das
Primäre; sekundär verändert sich aber zugleich die Zusammensetzung der
Gase des Blutes und mithin auf mehrfache Weise die Bedingungen sowohl
für die Lungenatmung als für die Atmung der Gewebe; aus Versuchen über
'!) Vgl. Hoppe-Seyler, Müllers Arch. f. Physiologie 1857; P. Bert, La
pression barometrique. Paris 1878, p. 520 und 939. — ?) 1. c. 8. 1153 u. £.
TR NN
306 Änderung ‚des Sauerstoffdruckes in einer der beiden Lungen.
den Einfluß, den die Partialdruckvariation der genannten Gase auf den ge-
samten Organismus ausübt, läßt sich daher die spezielle Wirkung auf die
Lungenfunktion nicht unmittelbar ableiten.
Will man die Wirkung der Änderungen des Partialdruckes auf den
Lungengaswechsel für sich untersuchen, ohne daß die Änderungen der
Gase des Blutes das Resultat beeinflussen, so ist daher die früher öfters er-
wähnte Methode anzuwenden, nach welcher der respiratorische Stoffwechsel
jeder Lunge für sich zu gleicher Zeit bestimmt wird; indem man dann der
Einatmungsluft für jede der Lungen eine verschiedene Zusammensetzung
gibt, läßt sich, da das durchströmende Blut ja zu jeder Zeit in beiden Or-
ganen identisch ist, der Einfluß der Gasdruckänderung auf die Lungen-
funktion als solche bestimmen. Das Resultat derartiger Untersuchungen
werden wir im folgenden durchgehen, bevor wir zur Behandlung der Än-
derungen schreiten, die der respiratorische Stoffwechsel in seiner Totalität
durch den Aufenthalt des Individuums in verschiedenartig zusammengesetzter
Luft erleidet, und bevor wir die kompensatorische Tätigkeit betrachten, die’
der Organismus hierbei entwickelt.
1. Kapitel. Verteilung des respiratorischen Gaswechsels unter die
beiden Lungen bei verschiedener Zusammensetzung der Einatmungs-
luft für jede einzelne derselben.
Wie in früheren Abschnitten erwähnt, lassen sich nach einiger Übung
beim Kaninchen Kanülen in beide Bronchien ohne Verletzung der Pleura
einführen; es ist dann möglich, unter Beibehaltung der natürlichen Atmung
den Stoffwechsel jeder Lunge für sich zugleich zu untersuchen, indem rück-
sichtlich jeder derselben für sich ein vollständiger Atmungsversuch aus-
geführt wird. Bei den Untersuchungen, um die es sich hier handelt, macht
man nun die Einatmungsluft der beiden Lungen verschieden, indem eine
derselben atmosphärische Luft, die andere aber eine Gasmischung aus einem
großen, wohläquilibrierten Spirometer einatmet; zu dieser Gasmischung
benutzt man außer Sauerstoff und Kohlensäure überall nur reinen atmo-
sphärischen Stickstoff. Typische Beispiele derartiger Bestimmungen werden
unten angeführt; dieselben sind einer größeren, bisher nicht veröffentlichten
von Halberstadt ausgeführten Versuchsreihe entlehnt und betreffen die
Wirkung einer Änderung sowohl des Sauerstoff- als des Kohlensäurepartial-
druckes.
Einfluß des Partialdruckes des Sauerstoffs auf die Verteilung des @aswechsels
unter die beiden Lungen ').
Ein größerer Sauerstoffpartialdruck in der Einatmungsluft bewirkt eine
gesteigerte Sauerstoffaufnahme in der betreffenden Lunge und eine kompen-
sierende Verminderung derselben in der anderen, so daß die Summe der
Sauerstoffaufnahme der beiden Lungen in der Regel fast unverändert bleibt.
So beträgt bei den Versuchen nach Tabelle I der Unterschied der Sauerstoff-
aufnahme der rechten von der der linken Lunge, in Prozenten des Stoffwechsels
der rechten Lunge ausgedrückt, 16,5 Proz. (in Nr. 1 und 6 bzw. 16 und 17), wenn
!) Vgl. folgende Tabellen I und I.
Änderung des Sauerstoffdruckes in einer der beiden Lungen.
Tabelle I.
207
Kaninchen, 2000g; natürliche Atmung; Dauer jedes
Versuches 15 Min. Die Menge der Einatmungsluft beträgt überall
für jede Lunge etwa 2000ccm per 15 Min.
Totale Atmung
O0, Proz. Auf- Aus- (rechte + linke Lunge)
Lunge der Ein- |genommener| geschiedene Ausge-
atmungsluft| Sauerstoff | Kohlensäure genommener | schiedene
Sauerstoff | Kohlensäure
|
rechte 21,1 150 119 \ |
232
| linke 21,1 124 113 Et
| rechte 75,6 197 122
292 236
* | linke 21,1 14488 113
rechte 45,9 172 118
225
| linke 21,1 96 108 e-
rechte 91,8 183 115
218
| linke 21,1 83 103 er
rechte 59,5 171 113
21
| linke 21,1 84 101 298 4
rechte 21,1 134 110 \
s| linke 21,1 112 105 Ka ah
|
Tabelle II.
j Kaninchen, 2000g, natürliche Atmung; Dauer jedes
Versuches 15 Min. Zwischen den einzelnen Versuchen mit sauer-
stoffarmer Luft 15 Min. lang Einatmung atmosphärischer Luft.
Totale Atmung
r 0, Proz. Auf- Aus- (rechte + linke Lunge)
Lunge der Ein- |genommener| geschiedene Aut: | Ausge-
atmungsluft | Sauerstoff | Kohlensäure genommener I aahfedana
Sauerstoff | Kohlensäure
rechte 21,0 134 112
| linke 21,0 111 93 I” 298
rechte 21,0 171 118
linke 0,10 — 15 69 $ Eee
| rechte- 21,0 159 114
In 1,93 | 67 Er ide
ran 21,0 155 98
+
era 1,12 — 5 57 an u
re 21,0 149 94
5 ’ \ .
| linke 2,80 4 52 Ale >
rechte 21,0 134 85 \ |
. 5 13
| linke 3,84 11 50 Fe :
rechte 21,0 98 86 |
z 2 | B)
| linke 21,0 94 69 ai | ’
beide Lungen atmosphärische Luft atmen; dagegen 45, 51, 52 und 55 Proz.,
wenn die rechte Lunge ein ur mit beziehungsweise 46, 59, 76 und 92 Proz. Sauer-
stoff. atmet.
2308 Einfluß des Sauerstoffdruckes auf die Kohlensäureausscheidung.
Es: gilt, also durchweg die Regel, daß diejenige Lunge, deren Ein-
atmungsluft den größeren Sauerstoffpartialdruck zeigt, auch die
größere Sauerstoffaufnahme hat. Bei sehr niedrigen Sauerstoffpartial-
drucken (unter 1,9 Proz.) in der einen Lunge wird in dieser eine geringe
Menge Sauerstoff ausgeschieden!) (siehe Tabelle II); die andere, atmo-
sphärische Luft atmende Lunge zeigt zwar eine vermehrte Sauerstoffauf-
nahme, diese genügt aber nicht zur Kompensation, so daß die totale Sauer-
stoffaufnahme der beiden Lungen bedeutend sinkt. Die Ausscheidung von
Sauerstoff bei geringem Partialdruck dieses Gases rührt vielleicht von der
Diffusion her, die höchst wahrscheinlich neben dem weit bedeutenderen
Sekretionsvorgange in den Lungen stattfindet (S. 156).
Über den Einfluß, den die Änderung des Sauerstoffpartialdruckes
auf die Verteilung der Kohlensäureausscheidung unter die beiden
Lungen übt, liegen ältere Versuche von Werigo?) vor, die allerdings keine
eigentlichen Atmungsversuche sind, indem in ihnen nur die Spannung der
Kohlensäure in jeder Lunge für sich untersucht wurde, nachdem die eine Lunge
einige Zeit hindurch sauerstoffhaltiges Gas, die andere aber Wasserstoff ein-
geatmet hatte. Werigo findet hierbei ein höheres Kohlensäureprozent in der
Sauerstoff atmenden Lunge und glaubt, dies einer die Kohlensäure aus-
treibenden Wirkung des Sauerstoffs auf das Blut zuschreiben zu müssen.
Eine derartige Wirkung läßt sich nun nicht durch Untersuchung des Blutes
in vitro feststellen (S. 106), und nach den weiteren Aufschlüssen, welche die
unten angeführten Atmungsversuche geben, sind Werigos Resultate in der Tat
denn-auch ganz anders zu erklären. Betrachtet man nämlich in der Tabelle I
die ausgeschiedenen Kohlensäuremengen, so sieht man, daß diese die ganze
Versuchsreihe hindurch in der rechten Lunge fast konstant sind, es werde
nun atmosphärische Luft oder fast reiner Sauerstoff eingeatmet; eine Zu-
nahme des Sauerstoffpartialdruckes bis über den der Atmosphäre hat
mithin keinen Einfluß auf die Kohlensäureausscheidung. Dagegen
zeigt die Tabelle II, daß die Kohlensäureausscheidung derjenigen Lunge,
die sehr sauerstoffarme Luft einatmet, um 20 bis 30 Proz. ihres ur-
sprünglichen Wertes sinkt. Der von Werigo nachgewiesene Einfluß des
Sauerstoffs auf die Kohlensäureausscheidung ist deshalb nicht einer Zunahme
der Kohlensäureausscheidung in der die sauerstoffreiche Luft atmenden
Lunge, sondern einer Abnahme der Kohlensäureausscheidung in der die
sauerstofffreie Luft atmenden Lunge zuzuschreiben. Da wir in einem früheren
Abschnitte nachgewiesen haben (S. 190), daß in der Lunge wegen einer
hier vor sich gehenden Oxydation intermediärer Stoffwechselprodukte eine
Kohlensäurebildung stattfindet, und daß diese durchschnittlich einen ähn-
lichen prozentigen Teil des totalen Stoffwechsels (etwa 33 Proz.) beträgt
wie das hier gefundene Sinken der Koblensäureausscheidung, kann es wohl
keinem Zweifel unterliegen, daß letzteres durch den Wegfall der Beteiligung
der Lunge an der inneren Atmung zu erklären ist, der notwendigerweise
eintreten muß, wenn der Sauerstoff der Alveolenluft einen hinlänglich geringen
Wert annimmt.
!) Vgl. Werigo, Pflügers Archiv 51, 321, 1892. — °) 1. c.
Änderung des Kohlensäuredruckes in einer der beiden Lungen. 209
Einfluß des Kohlensäurepartialdruckes auf die Verteilung des Gaswechsels
unter die beiden Lungen ').
Durch Versuche über den gleichzeitigen respiratorischen Stoffwechsel
der beiden Lungen, bei denen die Einatmungsluft überall 21 Proz. Sauer-
stoff enthält, während der Partialdruck der Kohlensäure variiert, findet man,
daß die Sauerstoffaufnahme in der Hauptsache durch eine größere oder
geringere Kohlensäurespannung der Einatmungsluft keine Änderung erleidet,
während die Verteilung der Kohlensäureausscheidung unter die beiden
Lungen stets so geschieht, daß die Ausscheidung in derjenigen Lunge, deren
Kohlensäurespannung die höhere ist, herabgesetzt wird. Dies wird selbst bei
niedrigen Kohlensäuredrucken der Einatmungsluft (z.B. 1,5 Proz. CO,) beob-
achtet, und es läßt sich also keine stimulierende Wirkung der Kohlensäure
auf den Ausscheidungsprozeß gewahren, wenn der Einfluß des Blutes wie hier
eliminiert wird. Wird der Partialdruck der Kohlensäure in der Einatmungs-
luft hinlänglich groß, so wird durch die betreffende Lunge Kohlensäure auf-
genommen, was schon Cl. Bernard?) beobachtete. Die Grenze, an welcher
Kohlensäure weder ausgeschieden noch aufgenommen wird, liegt beim Ka-
ninchen so gut wie konstant bei einem Gehalt der Einatmungsluft von etwa
15,5 Proz. CO,, wenn eine Lunge atmosphärische Luft, die andere eine kohlen-
säurehaltige Gasmischung von demselben Sauerstoffgehalt einatmet.
2. Kapitel. Der respiratorische Prozeß bei verschiedenem Partial-
druck des Sauerstoffs und der Kohlensäure in der umgebenden
Atmosphäre.
Der respiratorische Stoffwechsel läßt sich innerhalb ziemlich bedeutender
Schwankungen der Spannungen des Sauerstoffs und der Kohlensäure in nor-
malem Umfang unterhalten. Hierdurch wird der Einfluß der Variation der
Gasspannungen auf mancherlei Weise kompensiert, teils durch Änderungen
der Arbeitsintensität des Respirationsorgans, teils durch Änderungen der Gas-
bindungen des Blutes und der Zirkulationsgeschwindigkeit desselben. Die
Regulationsmittel haben selbstverständlich aber ihre Grenzen; bei gar zu
starker Änderung der Sauerstoff- oder der Kohlensäurespannung der um-
gebenden Atmosphäre läßt sich der normale Stoffwechsel des Organismus
nicht aufrechterhalten, und der Tod tritt je nach den Umständen mehr oder
weniger rasch ein. Die Untersuchung derjenigen Mittel, durch welche der
Organismus trotz der Änderungen der umgebenden Atmosphäre den normalen
respiratorischen Stoffwechsel zu erhalten vermag, und die Bestimmung der-
jenigen Grenze, über die hinaus dies nicht möglich ist und das Leben. daher
nicht mehr fortgesetzt werden kann, werden wir uns im folgenden zur Auf-
gabe machen. Wie es sich erweisen wird, ist die Anwendung der Theorie
von der Invasion der Gase in Flüssigkeiten auf die Verhältnisse im Organis-
mus sehr förderlich, um Einsicht in diese Vorgänge zu erhalten.
!) Es bot sich mir hier die Gelegenheit dar, eine Reihe bisher nicht ver-
öffentlichter Versuche von Halberstadt benutzen zu können. — ?) Anesthösiques
et asphyxie. Paris 1875, p« 370.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. ' 14
210 Respiratorischer Gaswechsel bei verminderten Sauerstoffdrucken.
Änderungen des Partialdruckes des Sauerstoffs.
Verminderung des Partialdruckes. Über diese Frage sind seit Lavoisier,
dem wir auch auf diesem Felde grundlegende Versuche verdanken, bis in die
jüngste Zeit eine große Reihe Arbeiten erschienen; die hierdurch errungenen
Resultate im einzelnen auseinanderzusetzen, würde den Rahmen dieser Dar-
stellung weit überschreiten. Wir müssen uns hier auf den Versuch be-
schränken, die Hauptlinien der auf diesem Gebiete gewonnenen Kenntnis zu
ziehen und mit dem zusammenzuhalten, was die vorhergehenden Abschnitte
uns über die Arbeitsweise der Respirationsorgane gelehrt haben. Wegen
einer mehr detaillierten Darstellung der Versuchsresultate müssen wir auf
die vorliegenden Monographien von P. Bert!), Fraenkel und Geppert?),
Loewy°) und Durig) verweisen, wo auch die Spezialliteratur nachzusehen ist.
Wird der Partialdruck des Sauerstoffs in der umgebenden Atmosphäre
herabgesetzt, so sinkt er auch in der Alveolenluft der Lunge, jedoch in
verschiedenem Maße, je nach der Größe der Sauerstoffaufnahme und der Lungen-
ventilation. Bei derselben Verminderung des äußeren Druckes kann die
Zusammensetzung der Luft, die in den Alveolen die respiratorische Oberfläche
unmittelbar berührt, daher in nicht geringem Grade verschieden sein, ein
Umstand, den namentlich Loewy?°) eingehend behandelt hat. Die Berechnung
der Zusammensetzung der Alveolenluft erfordert, wie in früheren Abschnitten
nachgewiesen, die Kenntnis der Zusammensetzung der Exspirationsluft, der
Atemgröße und des „schädlichen Raumes“ (der Luftwege); um aus der Zu-
sammensetzung die Spannung der einzelnen Gase zu berechnen, muß man
natürlich zugleich den Totaldruck in den Alveolen kennen, der gleich dem
herrschenden atmosphärischen Drucke minus der Tension der Wasserdämpfe
(etwa 50 mm) bei Körpertemperatur ist.
Bei demselben äußeren atmosphärischen Drucke wird der Sauerstoff-
gehalt der Exspirationsluft, mithin auch die Sauerstoffspannung der Alveolenluft,
mit der Größe der Sauerstoffaufnahme und der Atmungsluft variieren; eine
unter allen Verhältnissen konstante Abhängigkeit der Sauerstoffspannung
der Alveolenluft von der der äußeren Atmosphäre gibt es alsonicht. Hält
man aber die Sauerstoffaufnahme und die Atmungsgröße (Volum und Anzahl)
konstant, während man den äußeren Druck variiert, so wird letzterer natürlich
der die Sauerstoffspannung der Alveolen bestimmende Faktor sein; eine ein-
fache Proportionalität der Sauerstoffspannung der Alveolenluft zu der der
Atmosphäre ist aber unter solchen Verhältnissen doch nicht vorhanden. Wenn
z. B. (S. 139) die Alveolenluft bei Atmung unter gewöhnlichem Drucke (760 mm)
14,6 Proz. Sauerstoff enthält, so ist ihre Sauerstoffspannung 104mm, da der
Totaldruck 760 — 50 = 710mm beträgt. Da die Atmosphäre 21 Proz. Sauer-
stoff enthält, werden (wenn der respiratorische Quotient, um die Berechnung zu
erleichtern, gleich 1 gesetzt wird) von der eingeatmeten Luft 21 — 14,6
— 6,4 Proz. Sauerstoff aufgenommen. Vermindert man nun den Druck der um-
gebenden Atmosphäre z. B. bis auf 500 mm, so wird der Totaldruck in den Alveolen
500 — 50 = 450 mm; da vorausgesetzt wird, daß der absolute Sauerstoff-
!) La pression barom6trique. Paris 1878. — *) Wirkungen der verdünnten
Luft. Berlin 1883. — °?) Respiration und Zirkulation bei Anderung des Sauerstoff-
gehalts der Luft. Berlin 1895. — *) Arch. f. Physiol. 1903, 8. 209. — ®)1. c.
Respiratorischer Gaswechsel bei verminderten Sauerstoffdrucken. 311
verbrauch und die Atemgröße (unter dem jeweilig herrschenden Drucke ge-
messen) unverändert bleiben, wird deshalb für jeden Atemzug die gleiche
Gewichtsmenge Sauerstoff verbraucht werden, die an Raum wegen der Druck-
verminderung 6,4 X — 10,1 Proz. der eingeatmeten Luft betragen wird,
450
und das Sauerstoffprozent der letzteren wird mithin 21 -—- 10,1 — 10,9 Proz,
einem Partialdrucke von 450 x nn
die Sauerstoffpartialdrucke in den umgebenden Atmosphären sich in den beiden
— 49 mm entsprechend. Während
Fällen wie Kan oder etwa 2/s verhalten, bilden sie ein ganz anderes Verhält-
760
nis in der Alveolenluft, nämlich an oder etwa !/,. Aus’dem Dargestellten
geht hervor, daß man bei Untersuchungen der Atmung in verdünnter Luft
keine gleichdeutigen Resultate zu erreichen erwarten darf, es sei denn, daß
die Spannungen der Alveolenluft und nicht die der umgebenden
Atmosphäre als Grundlage für die Deutung der Versuche benutzt werden.
Die untere Grenze der Sauerstoffspannung der Alveolenluft, die sich
nicht ohne Gefährdung des Lebens überschreiten läßt, weil dann die Sauer-
stoffaufnahme sogar in Ruhe nicht in normalem Umfange stattfinden kann,
ist für die einzelnen Individuen etwas verschieden, indem hierbei die mehr
oder weniger kräftige Entwickelung der Lungen eine Rolle spielt. Die Grenze,
die nach Versuchen von A. Loewy!) und A. Loewy, J. Loewy und Zuntz?)
ein wenig, jedoch nicht weit unter 35mm liegen muß, kann auf ein wenig
über 30 mm angesetzt werden, was einem Sauerstoffgehalt der Alveolenluft
von etwa 4,5 Proz. entspricht, wenn der Totaldruck wie gewöhnlich bei nor-
malem Atmosphärendruck gleich 710mm gesetzt wird. In welcher Höhe
über dem Meere (auf Bergen, im Ballon) das Individuum sich befinden muß,
damit die Sauerstoffspannung der Alveolenluft etwa 30 mm werde, läßt sich
dem oben Entwickelten zufolge nicht im allgemeinen angeben, da die Atem-
größe entscheidenden Einfluß hierauf erhält. Werden die Größe eines Atemzuges
(500 ccm) und die Frequenz wie unter gewöhnlichem Drucke beibehalten,
so wird eine Höhe von etwas über 5000 m der Sauerstoffspannung von 30 mm
in der Alveolenluft entsprechen; bei Vermehrung der Atemgröße wird die
Sauerstoffspannung der Alveolenluft selbstverständlich aber steigen, so daß
sich weit größere Höhen ertragen lassen.
Bei Verrichtüng einer Arbeit, die den Sauerstoffverbrauch steigert, ist
eine Sauerstoffspannung von etwas über 30 mm nicht mehr hinlänglich; dann
steigt die Sauerstoffspannung in verschiedenem Maße je nach der Größe der
Arbeit (des Sauerstoffverbrauchs), indem die Atemgröße zunimmt).
Die Ursache, weshalb die Sauerstoffspannung von etwas mehr als 30 mm
in der Alveolenluft eine ungefähre untere Grenze für die Möglichkeit hin-
länglicher Sauerstoffaufnahme bildet, hat man früher darin gesucht, daß die
Sauerstoffspannung des Blutes hierdurch so niedrig werden sollte, daß dessen
Sauerstoffgehalt wegen zu großer Dissoziatiin des Oxyhämoglobins zu
) 1. ce. 8. 54. — ?) Pflügers Arch. 66, 489, 1897. — °) Vgl. A. Loewy, l. c.,
Tabelle 8. 51 bis 52 und A. Loewy, J. Loewy u. Zuntz, 1. c. $. 489.
14*
3123 Respiratorischer Gaswechsel bei verminderten Sauerstoffdrucken.
gering würde. Die Erscheinung findet jedoch genügende und völlige Er-
klärung in dem Umstande, daß ein Differenzdruck von 29mm erforder-
lich ist, damit die 350cem Sauerstoff, die während der relativen
Ruhe proKilogramm und Stunde normal aufgenommen werden
müssen, überhaupt in die oberflächliche Flüssigkeitsschicht der
Lunge einzudringen vermögen (s. S. 141). Wenn die Lungenzellen
durch sofortige Weiterbeförderung des eindringenden Sauerstoffs die Sauer-
stoffspannung in der feuchten Oberfläche der Lunge um Null herum er-
halten (wozu sie imstande sind, wie wir aus den Untersuchungen über
die maximale Sauerstoffaufnahme, S. 163 u. 170 erfuhren), so wird die ge-
samte Sauerstoffspannung in der Alveolenluft als Differenzdruck wirken. Bei
einer Sauerstoffspannung von 30 mm wird die erforderliche Menge Sauerstoff
also eben in die Oberfläche der Lunge eindringen können; bei niedrigeren
Drucken wird dies nicht mehr möglich sein. Hierdurch wird die Lage der
unteren Grenze der Sauerstoffspannung in der Alveolenluft auf ein einfaches
physikalisches Phänomen zurückgeführt, ebenso wie die Notwendigkeit einer
höheren Sauerstoffspannung beim Arbeiten, wenn mehr Sauerstoff aufgenommen
wird und der Differenzdruck also größer sein muß, ihre Erklärung findet.
Bei Sauerstoffspannungen der Alveolenluft unterhalb der genannten
Grenzen kann die Sauerstoffaufnahme, wie angeführt, für den normalen
Stoffwechsel nicht hinlänglich groß werden; da die Kohlensäureausscheidung
weit weniger leidet, so findet man, daß der respiratorische Quotient unter
solchen Verhältnissen zunimmt. Wenn die Sauerstoffspannung sich aber bei
irgend einem Werte oberhalb der Grenze hält, kann die Sauerstoffauf-
nahme ganz denselben Wert behalten wie bei Atmung unter gewöhnlichem
atmosphärischen Drucke; die Sauerstoffaufnahme ist mithin in bedeutendem
Umfange von einer Verminderung des Partialdruckes des Sauerstoffs in der
umgebenden Atmosphäre unabhängig.
Indem bei verschiedenen alveolaren Sauerstoffspannungen die gleiche
Menge Sauerstoff aufgenommen wird, muß die Intensität der Arbeit der.
Lungenzellen aber sehr verschieden werden; denn die Konzentration des
Sauerstoffs in der oberflächlichen Schicht der Lunge, von wo die Zellen dieses
Gas in das Blut befördern, variiert unter sonst gleichen Umständen mit der
Sauerstoffspannung der Alveolenluft. Diese kann bei Atmung atmosphäri-
scher Luft unter normalem Drucke auf 104mm angeschlagen werden, und
da der Differenzdruck bei der Aufnahme von 350 ccm Sauerstoff pro Kilo-
gramm und Stunde 29 mm beträgt, so wird: die Sauerstoffspannung in der
Lungenoberfläche, die der Sauerstoffkonzentration daselbst natürlich propor-
tional ist, 104 — 27 — 75mm ($. 141). Ist die Sauerstoffspannung der
Alveolenluft dagegen, wie es bei Atmung in stark verdünnter Luft ge-
schehen kann, 30 mm, so wird die Spannung in der Lungenoberfläche für
dieselbe Sauerstoffaufnahme und folglich für denselben Differenzdruck gleich
30-—-29 = 1Imm. Die Atmung in verdünnter Luft bedingt also, um
dieselbe Sauerstoffaufnahme zu effektuieren, eine vermehrte
Arbeit der Lungenzellen.
Auch hinsichtlich der inneren Atmung wird die Zellenarbeit aber bei
herabgesetztem Drucke in der Alveolenluft, wenigstens wenn die Herabsetzung
einen ziemlich bedeutenden Grad erreicht, schwierigeren Verhältnissen unter-
%
Respiratorischer Gaswechsel bei verminderten Sauerstoffdrucken. 313
worfen, indem die Sauerstoffspannung des Blutes niedriger wird. Wie wir
oben (8.157) sahen, sind die Lungenzellen nämlich wohl imstande, die Sauer-
stoffspannung so zu vergrößern, daß dieselbe die der Alveolenluft übersteigt,
und dies kommt in ausgesprochenem Maße zur Anwendung, wenn letztere
Spannung, absolut betrachtet, einen geringen Wert hat; es gilt hierbei indes die
Regel, daß die Sauerstoffspannung des Blutes sich doch in der Nähe eines Wertes
bewegt, der von dem Werte der Spannung der Alveolenluft nicht gar zu fern
liegt, und infolgedessen wird also die Sauerstoffspannung des Blutes durch
Atmung in stark verdünnter Luft herabgesetzt werden. Indem die Spannung
des Blutes sinkt, nimmt auch die Menge des von diesem absorbierten Sauer-
‚stoffs ab. Wie aus den Tabellen S. 92 zu ersehen, ist die Verminderung
der absorbierten Sauerstoffmenge jedoch nur eine geringe, solange die Span-
nung nicht bedeutend unter das Normale sinkt. So wird Arterienblut (mit
20mm Kohlensäurespannung) noch bei 35 mm etwa 3/,, bei 25 mm Spannung
etwa 1/, derjenigen Menge enthalten, die es bei der normalen Sauerstoffspan-
nung von etwa 120 mm aufnimmt. Hiermit in Übereinstimmung finden
P. Bert und Fraenkel und Geppert, daß die vom Blute absorbierte Sauer-
stoffmenge erst dann bis zur Hälfte des Normalen abnimmt, wenn der Total-
druck der umgebenden atmosphärischen Luft in bedeutendem Grade sinkt,
in Fraenkel und Gepperts Versuchen !) bis unter 300 mm. Selbstver-
ständlich variieren die Resultate nicht unerheblich ?), da die Sauerstoffspannung
der Alveolenluft je nach dem Atmungsmodus bei demselben äußeren Drucke
sehr verschieden sein kann, und da die Sauerstoffspannung des Blutes durch
die Tätigkeit der Zellen bis mehr oder weniger hoch über die der Alveolen-
luft gesteigert werden kann. Enthält das Arterienblut aber eine bedeutend
geringere Menge Sauerstoff als normal, so bewirkt der Verbrauch von Sauer-
stoff während des Kapillarkreislaufes ein stark ausgesprochenes weiteres Sinken
der Spannung, mithin auch der Sauerstoffkonzentration im Plasma, welche
die wesentlichste physikalische Bedingung der inneren Atmung bildet.
Die Kompensation dieses Umstandes wird durch alle diejenigen Mittel
erstrebt, die wir in einem früheren Abschnitte (S. 196), auf den wir hier
verweisen, als die Sauerstoffkonzentration im Plasma regulierend angeführt
haben. Teils wird die Blutzirkulation durch gesteigerte Herzarbeit be-
schleunigt, teils nimmt die prozentige Menge des Blutfarbstoffes zu), und
endlich verändert sich der spezifische Sauerstoffgehalt®). Was die
Regulation der Sauerstoffkonzentration im Plasma betrifft, die, wie wir früher
nachgewiesen haben, bei der Zunahme der Kohlensäurespannung des Blutes
stattfindet (S. 202), so ist folgendes zu bemerken. Die Kohlensäurespannung
beim Aufenthalt in luftverdünntem Raume wurde bisher noch nicht bestimmt.
Dagegen nimmt die Kohlensäuremenge des Blutes unter solchen Verhält-
nissen ab, wie Versuche von P. Bert), Fraenkel und Geppert‘) und
Mosso und Marro’?) zeigen; dies ist indes (siehe den Abschnitt über die
Kohlensäure des Blutes) keineswegs gleichbedeutend damit, daß die Spannung
dieses Gases abnimmt, denn bei der komplizierten Bindung von Kohlensäure
)1.c. 8.47. — ®?)l.c. 8. 52. — °) Vgl. Abderhalden, Zeitschr. f. Biol.
43 (1902) und Jaquet, Arch. f. exper. Pathol. 45 (1900). — *) Vgl. Bohr, Skand.
Arch. f. Physiol. 3, 143, 1891. — °).l.e. — °)l.c. — 7) Arch. ital. de biol.
39, 402, 1903.
314 Respiratorischer Gaswechsel bei verminderten Sauerstoffdrucken.
im Blute und den vielen Variationen, denen dieselbe unterworfen ist, findet
keine einfache Abhängigkeit statt zwischen der Menge und der Spannung.
Die Verminderung der Kohlensäuremenge rührt in dem hier besprochenen
Falle wahrscheinlich von einer Abnahme der Menge des doppeltkohlensauren
Natrons her, wegen der Säurebildung, die eintritt, wo der Zutritt von Sauer-
stoff erschwert wird, und in solchem Falle läßt sich nichts über die Kohlen-
säurespannung schließen, die den Umständen gemäß zugleich sowohl ab-
nehmen als anwachsen kann.
Bei sehr beträchtlicher Verminderung des Druckes der umgebenden
Atmosphäre nimmt, wie gesagt, die Kohlensäuremenge des Blutes ab; bei
mäßigeren Druckverminderungen braucht dies nicht der Fall zu sein. Tissot
und Hallion!) fanden während einer Ballonfahrt bis zu einer Höhe von
3500 m, daß die Kohlensäureausscheidung des Organismus abnimmt, die
Sauerstoffaufnahme aber ganz unverändert bleibt und der respiratorische
Quotient sinkt; da dieselben Forscher?) durch Untersuchung des Blutes an
einem Hunde unter denselben Verhältnissen eine Zunahme der Kohlensäure-
menge im Blute finden, scheint das Sinken der Kohlensäureausscheidung als
eine Retention der Kohlensäure im Blute erklärt werden zu müssen (S. 158),
die wie oben entwickelt für eine bessere Ausnützung des Blutsauerstoffs von
Bedeutung sein würde. Dagegen gelangen Mosso und Marro?) durch
ihre Versuche in der pneumatischen Kammer zu dem- entgegengesetzten Re-
sultate; sie finden bei einer Druckverminderung, die einer Höhe von etwas
unter 3000 m über dem Meere entspricht, eine Zunahme der Kohlensäure-
abgabe. Es ließen sich mehrere andere Beobachtungen anführen, aus denen
hervorgeht, daß die Kohlensäureausscheidung unter den hier genannten Um-
ständen variabel ist), was übrigens nichts erstaunliches hat; die Regulations-
mittel des Organismus gegen die Einwirkung einer Druckverminderung in
der umgebenden Atmosphäre sind so zahlreich und werden so mannigfach
kombiniert, daß nicht zu erwarten steht, es werde immer nur ein einzelnes
Kompensationsmittel, hier die Kohlensäurespannung des Blutes, in Gebrauch
genommen, geschweige denn in vollem Umfange, solange der äußere Druck
nicht so stark herabgesetzt wird, daß man fast die äußerste, dem Organismus
erträgliche Grenze erreicht.
Wie Loewy‘’) beobachtete, läßt sich der Aufenthalt in stark verdünnter
Luft besser ertragen, wenn der Atmungsluft Kohlensäure beigemischt wird.
Die Erklärung dieses interessanten Versuches liegt nach dem Nachweis des
Einflusses der Kohlensäure auf die Sauerstoffspannung des Blutes klar zu-
tage; bei Einatmung von Kohlensäure steigt die Spannung dieses Gases im
Blute, mithin auch die Sauerstoffkonzentration im Plasma bei derselben Me
des im gesamten Blute absorbierten Sauerstoffs.
Beim Aufenthalt in stärker verdünnter Luft leidet das Allgemein-
befinden; das hierbei auftretende Unwohlsein nebst körperlicher und geistiger
Apathie (die Bergkrankheit) entwickelt sich um so leichter, je größere An-
sprüche an die Sauerstoffaufnahme gestellt werden, wie es z. B. bei gesteigerter
!) Compt. rend. de l’acad&mie des sciences 133, 949, 1901; vgl. ebenda 134,
1255, 1902. — *) Ebenda 133, 1036, .1901. — °) Arch. ital. de biol. 39, 387,
1903. — *) Vgl. A. Loewy, J. Loewy und Zuntz, 1. c. 8. 522. — °) Resp. und
Zirkul. b. Änderung des Sauerstoffdruckes. Berlin 1895, 8. 21.
Respiratorischer Gaswechsel bei verminderten Sauerstoffdrucken. — Akapnie. 915
Muskelarbeit der Fall ist. Die Symptome sind ziemlich wechselnd, und
die individuelle Disposition ist sehr verschieden; wegen der näheren Verhält-
nisse hierbei müssen wir aber auf die Spezialliteratur verweisen, besonders
auf die Arbeiten von P. Bert!) und Mosso?) über die Bergkrankheit. Diese
krankhaften Zustände sind, primär wenigstens, dem Mangel an Sauerstoff zu
verdanken, da sie bei jedem hinlänglichen Abnehmen des Partialdruckes
dieses Gases erscheinen. Mosso nimmt an, daß auch eine vermehrte Kohlen-
säureausscheidung (Akapnie), die eine Verarmung des Blutes an Kohlensäure
verursache, bei der Bergkrankheit wesentlich mitbeteiligt sei. Die Momente,
die als hierfür sprechend angeführt werden, nämlich die geringere Kohlen-
säuremenge des Blutes beim Aufenthalt in stark verdünnter Luft und die
oben genannte günstige Wirkung von Kohlensäureinhalationen unter solchen
Verhältnissen, sind jedoch nicht beweisend®). Die Kohlensäuremenge des
Blutes ist nämlich, wie oben besprochen, für die Kohlensäurespannung
nicht entscheidend, die doch den hier in Betracht kommenden Faktor bildet,
und Kohlensäureinhalationen wirken günstig, selbst wenn die Menge und die
Spannung der Kohlensäure im Blute den normalen Wert haben. Die Frage
nach der Bedeutung der Akapnie für die Bergkrankheit kann deshalb nicht
als entschieden betrachtet werden. Zu bemerken ist übrigens, daß eine Ver-
minderung der Kohlensäurespannung des Blutes den neueren Untersuchungen
zufolge (S. 91) eine Abnahme der Konzentration des Sauerstoffs im Plasma
bewirkt; die Folge der Mossoschen Akapnie würde deshalb Mangel an Sauer-
stoff um die Gewebszellen herum sein, und auch bei Akapnie würde das
wesentliche Moment Mangel an diesem Gase werden.
Auf welche Weise die obengenannten krankhaften Symptome durch
Mangel an Sauerstoff in der umgebenden Atmosphäre hervorgerufen werden,
ist Gegenstand lebhafter Debatte gewesen. Die nächste Ursache sind ohne
Zweifel in vielen Fällen Anomalien des Stoffwechsels, die direkt von einem
Mangel an der für den normalen Verlauf der Gewebsrespiration hinlänglichen
Konzentration des Sauerstoffs des Plasmas herrühren. Auch ein anderes, bisher
weniger beachtetes Moment ist aber ohne Zweifel von Bedeutung. Aus dem
oben Dargestellten geht hervor, daß der Aufenthalt in verdünnter Luft, selbst
wenn das Individuum in äußerer Ruhe bleibt, dennoch dem Organismus eine
in verschiedenem Grade vermehrte Arbeit verschafft, teils durch .die verstärkte
Herztätigkeit, teils, und wohl nicht zum wenigsten, durch die intensivere
Zellentätigkeit, welche die kompensatorischen Bestrebungen sowohl hinsicht-
lich der äußeren als der inneren Respiration hervorrufen. Wie die Unter-
suchungen über die Speichelsekretion ergeben haben ®), läßt sich rücksichtlich
der Drüsenzellen ein durch übermäßige Arbeit erzeugter Zustand der Ermüdung
konstatieren, so daß dieselbe Reizung nicht mehr imstande ist, eine so ent-
schiedene Wirkung hervorzubringen, und daß übermäßige Ermüdung der Zellen
Unwohlsein und Apathie zu erregen vermag, ist ja eine allgemeine Erfahrung
aus körperlicher und geistiger Überanstrengung. Die Annahme liegt nun
nahe, daß auch Überanstrengung derjenigen Zellen, die wie die Lungenzellen
während des Aufenthaltes im luftverdünnten Raume bei der Regulation des
!) Pression baromeötrique. - Paris 1878. — ?) Der Mensch auf den Hochalpen.
Leipzig 1899. — °?) Vgl. Loewy, Arch. f. Physiol. 1898, 8.409. — *) Vgl. Heiden-
hain, Hermanns Handt. d. Physiol. 5, 47.
216 Respiratorischer Gaswechsel bei erhöhten Sauerstoffdrucken.
respiratorischen Prozesses tätig sind, Störungen des Allgemeinbefindens her-
vorrufen könnten, ohne daß es hierbei immer so weit zu kommen brauchte,
daß die Gewebsrespiration wirklich Mangel an Sauerstoff litte.e Für das
Vorhandensein eines solchen Ermüdungsmomentes bei der Entstehung
der Bergkrankheit spricht es in hohem Grade, daß man zuweilen das
Auftreten der krankhaften Symptome erst bei der Rückkehr zu tiefer ge-
legenen Orten nach einem Aufenthalt in größeren Höhen gewahrt hat); auf
ähnliche Weise ließe sich vielleicht auch das plötzliche Eintreten des Leidens
während der nächtlichen Ruhe?) erklären.
Vermehrung des Partialdruckes des Sauerstoffs. Bei Einatmung sauer-
‚stoffreicher Gasmischungen oder reinen Sauerstoffs unter atmosphärischem
Drucke zeigen die Sauerstoffaufnahme und die Kohlensäureabgabe, wenigstens
bei nicht gar zu langer Dauer der Versuche, keine erheblichen Abweichungen
vom Normalen?). Dagegen wirkt Atmung reinen Sauerstoffs unter der
Spannung von 3 bis 4 Atmosphären oder die Atmung gewöhnlicher atmo-
sphärischer Luft unter der Spannung von 15 bis 20 Atmosphären, wie
P. Bert) beobachtet hat, schnell tötend, indem der Tod unter starker Ab-
nahme des respiratorischen Stoffwechsels, Sinken der Temperatur und Kon-
vulsionen eintritt. Diese giftige Wirkung des hochgespannten Sauerstoffs _
ist allen tierischen und pflanzlichen Organismen gemein; welche dem Leben
‚unentbehrlichen Vorgänge hierdurch betroffen werden, ist uns aber nicht
bekannt. Bei länger fortgesetzter Einwirkung kann Sauerstoff von
einer Spannung, die sogar etwas niedriger ist als die einer Atmosphäre, auf
organische Vorgänge nachteilig wirken, z. B. auf die Entwickelung von
Insekteneiern 5). Die sauerstoffbefördernde Funktion der Lungenzellen, die
ja der Wirkung des Sauerstoffs am unmittelbarsten ausgesetzt sind, wird,
wie Lorrain Smith) durch Versuche besonders an Mäusen gezeigt hat,
schon durch einige Stunden fortgesetzte Einwirkung des Sauerstoffs unter der
Spannung von etwa 2 Atmosphären geschädigt, so daß sie später, wenn das
Tier atmosphärische Luft atmet, nicht imstande ist, die Sauerstoffspannung
des Blutes bis auf den Wert zu erheben, der sonst bei Untersuchungen nach
der Kohlenoxydmethode beobachtet wird (S. 150); bei länger fortgesetzter
Einwirkung des Sauerstoffs entwickelte sich eine Pneumonie. Wie zu erwarten
stand, erwies sich die Widerstandsfähigkeit der Lungenzellen gegen die
giftige Wirkung als individuell verschieden.
Vermehrung des Partialdruckes der Kohlensäure’).
Bei Einatmung einer Luft mit verhältnismäßig geringer Vermehrung
des Kohlensäuregehalts (bis etwa 5 Proz.) läßt sich der Stoffwechsel, sowohl
die Kohlensäureabgabe als die Sauerstoffaufnahme, in normalem Umfange
erhalten, wobei die Menge der geatmeten Luft etwas vermehrt wird. Obschon
!) Times, Weekly Edit., London 1904, p. 232 (8. April). — ?) Vgl. Mosso,l. e.
8. 260. — °?) Vgl., ebenfalls was die Spezialliteratur betrifft, Durig, Arch. f. Phys.
1903, 8. 209. — *) Pression barom. Paris 1878, p. 764f. — °) Bert, 1. c. p. 841.
— *) Journ. of Physiol. 22, 307, 1898. — 7) Vgl. Speck, Menschl. Atm. Leipzig
1892, 8.128; Loewy, Pflügers Arch. 47, 601, 1890; Haldane und Smith, Journ.
of Path. and Bacter. 1 (1892).
“ 2 ce
Respiratorischer Gaswechsel bei Änderung des Kohlensäuredruckes. 217
solche kleineren Kohlensäureprozente in der Atmosphäre insofern eine Stimu-
lation der Lungenarbeit bewirken, als sie eine größere Spannungsdifferenz
zwischen Blut- und Alveolengas hervorrufen (S. 147), so bewirken sie doch,
wie aus den oben angeführten Versuchen mit besonderer Untersuchung
der Respiration jeder Lunge für sich (S. 209) zu ersehen ist, keine Ver-
mehrung der Kohlensäureausscheidung; wo man bei Kohlensäureeinatmungen
zuweilen eine Zunahme der Kohlensäureausscheidung gefunden hat, ist das
daher einer, wohl wesentlich durch die vermehrte Tätigkeit der Atmungs-
muskulatur bewirkten, gesteigerten Kohlensäureproduktion zuzuschreiben.
Bei fernerer Vermehrung des Partialdruckes der Kohlensäure wird in erster
Linie die Kohlensäureausscheidung, später auch die Sauerstoffaufnahme ab-
nehmen. Genaue Regeln für die Abnahme der Kohlensäureausscheidung bei
Vermehrung der Spannung in der: Einatmungsluft lassen sich individueller
Verschiedenheiten wegen nicht geben} durchweg wird aber schon bei einem
Gehalt von weniger als 10 Proz. Kohlensäure die normale Ausscheidung sich
nicht unterhalten lassen. Wo nur die eine Lunge kohlensäurehaltige, die
andere dagegen atmosphärische Luft atmet, tritt das Aufhören der Kohlen-
säureausscheidung bei einem Gehalt von etwa 15 Proz. CO, in der Einatmungs-
luft ein (S. 209).
Bringt man ein Tier in einem abgegrenzten, mit reinem Sauerstoff an-
gefüllten Raume unter, so wird selbstverständlich das Kohlensäureprozent all-
mählich steigen; zuletzt tritt der Tod nach vorhergehender Narkose durch
Kohlensäufevergiftung ein, während Sauerstoff noch in reichlicher Menge
vorhanden ist. Bei solchen Versuchen !), wo das Kohlensäureprozent der
umgebenden Atmosphäre fortwährend steigt, nimmt die Kohlensäureabgabe
allmählich ab, während die Menge und die Spannung der Kohlensäure im
Blute zunehmen. Unmittelbar vor Eintritt des Todes steigt jedoch wieder
die Kohlensäureabgabe konstant, während die Menge dieses Gases im Blute
abnimmt (P. Bert?). Ob diese Erscheinung durch eine Steigerung der spe-
zifischen Tätigkeit der Lungenzellen, wodurch während Abnahme der Spannung
im Blute Kohlensäure aus dem Blute hinausbefördert wird, oder durch eine
Säurebildung, wodurch die kohlensauren Salze dekomponiert werden und die
somit vermehrte Spannung die Ausscheidung einer größeren Menge Kohlen-
säure bewirkt, zu erklären ist, läßt sich durch die vorliegenden Versuche
nieht entscheiden. Bei Säugetieren tritt der Tod gewöhnlich bei etwas mehr
als 30 Proz. Kohlensäure in der umgebenden Atmosphäre ein; das Blut kann
bei Hunden dann etwa 120 Vol.-Proz. Kohlensäure enthalten (P. Bert).
Vierter Abschnitt.
Haut- und Darmatmung. Fötale Atmung.
Die Hautatmung. Durch .die Haut werden Wasserdämpfe und Kohlen-
säure ausgeschieden und Sauerstoff aufgenommen. Die Menge der aus-
geschiedenen Wasserdämpfe, deren direkte Bestimmung erst Lavoisier und
Seguin) gelang, ist den verschiedenen Verhältnissen gemäß sehr schwankend,
») P. Bert, 1. c. p. 982. — ?) 1. c. p. 1025. — ®) l. c. p.996. — *) Lavoisier,
Oeuvres 2, 704, Paris 1862.
918 Haut- und Darmatmung. °
wie in anderen Abschnitten dieses Handbuches näher behandelt wird; die
durchschnittliche Menge ist auf 1000 bis 2000g pro 24 Stunden anzu-
schlagen. Die Kohlensäureausscheidung durch die Haut des Menschen wurde
zuerst von Scharling!), später von mehreren anderen Untersuchern be-
stimmt; nach verbesserten Methoden findet Schierbeck?) ihre Menge als
etwa 9g pro 24 Stunden, mithin etwas weniger als 1 Proz. der gesamten
Kohlensäureausscheidung. Wenn bei höheren Temperaturen Schweißsekretion
eintritt, nimmt die Menge bis 30g pro 24 Stunden zu (Schierbeck). Das
Verhältnis zwischen den Volumina der durch die Haut ausgeschiedenen Kohlen-
säure und des ebenso aufgenommenen Sauerstoffs (T) findet man durch
Bestimmungen an begrenzten Teilen der Hautoberfläche als durchschnittlich
etwa 2,4 (Gerlach); diese Größe kann indes bedeutend schwanken, gewöhn-
lich ist die Sauerstoffaufnahme aber weit geringer als die Kohlensäureaus-
scheidung. Versuche von Zuntz, Lehmann und Hagemann) ergeben,
daß Pferde durch die Haut etwa 2,5 Proz. der totalen Kohlensäureproduktion
ausscheiden, verhältnismäßig also etwas mehr als der Mensch.
Bei den nackten Amphibien ist die Hautatmung intensiver Er
spielt eine größere Rolle für den ganzen Atmungsprozeß, wie es hinsicht-
lich der Frösche in einem früheren Abschnitte ausführlich besprochen wurde
(siehe 8. 160). Beim Aale wurde die Atmung durch die Haut als von ziem-
lich bedeutender Größe befunden (Krogh°), während sie sonst um Fischen
durchweg gering zu sein scheint.
Folgende Tabelle nach Krogh ®) gibt eine Übersicht über die Haut-
atmung pro Stunde und Quadratdecimeter Hautoberfläche bei verschiedenen
Tieren; die Gasmengen sind in Cubikcentimetern ausgedrückt.
0, 00, Berechnet
nach
Maxim. | Mittel Maxim. | Mittel | Versuchen von
Mensch... .. us — 0,50 e 1,18 Gerlach
MenKoh-- er _ — 3,1 0,94 Schierbeck
Wanbe.. 2 Ar 0,92 0,47 1,1 0,60 Krogh
Schildkröte, 047, 0,1 — 0,15 —_ „
Bana.fusea: .v. % Wuatz 1,8 1,51 5,3 3,0 5
Rana esculenta. .... 2,1 1,62 4,4 3,1 =
EEE it 1,05 0,74 un _ -
Nach Kroghs in einem früheren Abschnitte angeführten Untersuchungen
(S. 162) ist anzunehmen, daß die Hautatmung — im Gegensatz zur Lungen-
atmung — einem einfachen Diffusionsprozeß zwischen dem Blute und.
der umgebenden Atmosphäre zu verdanken ist.
Die Darmatmung. Bei Warmblütern hat die Darmatmung keine beson-
dere respiratorische Bedeutung; aus der mit dem Speichel verschluckten atmo-
!) Kgl. Danske Vid.-Selsk. Skrifter und Journ. f. prakt. Chem. 26, 454,
1845. — ?) Arch. f. Physiol. 1893, 8. 116. — °) Arch. f. Anat., Physiol. u. wissensch.
Med. 1851, 8. 431. — *) Arch. f. Physiol. 1894, 8. 351. — °) Skand. Arch. f.
Physiol. 16, 348, 1904. — °) Ebenda 8. 356.
Eee EEE ee ei
Darmatmung. — Fötale Atmung. 319
sphärischen Luft wird der Sauerstoff nach und nach durch die Wände des Ver-
dauungstraktes hindurch aufgenommen, ebenso wie einige Kohlensäure aus dem
Blute in den Darmkanal oder umgekehrt diffundieren kann, je nachdem der
prozentige Gehalt an Kohlensäure, die beim Verdauen in verschiedener Menge
gebildet wird, im Darmkanale mehr oder weniger reichlich ist. Wasserstoff
und Kohlenwasserstoff, die sich bei Umsetzungsprozessen im Darme
bilden, können von hier ins Blut diffundieren und in verhältnismäßig geringer
Menge durch die Lungen ausgeschieden werden. Übrigens verweisen wir mit
Bezug auf die Zusammensetzung der Gase des Darmkanals, die mit der Diät
variieren, auf den Abschnitt von der Verdauung.
Das Vorhandensein einer wirklichen Sekretion von Kohlensäure im
Ventrikel während der Verdauungsperiode wies Schierbeck!) nach. Die
hierbei auftretenden Kohlensäurespannungen im Ventrikel, die mit der In-
tensität der Ventrikelarbeit variieren, werden. durch Pilokarpin gesteigert,
durch Nikotin herabgesetzt und können eine Höhe von etwa 140 mm erreichen,
mithin den Wert der CO,-Spannungen im normalen Blute erheblich über-
steigen.
Bei gewissen Fiscken findet sich eine eigentliche Darmatmung, so beim
Cobitis fossilis, wo die verschluckte Luft kurz darauf per anum abgegeben
wird und dann bedeutend weniger Sauerstoff (etwa 12 Proz.) und mehr
Kohlensäure (etwa 0,8 Proz.) enthält (Baumert?). Bei diesem Fische scheint
der Mitteldarm durch sehr starke Entwickelung des Kapillarnetzes der Wände
und durch die Bildung eines eigentümlichen Epithels der respiratorischen
Funktion angepaßt zu sein).
Die fötale Atmung. Im Gegensatz zu der früher allgemein herrschenden
Ansicht haben die Untersuchungen der letzteren Jahre gezeigt, daß der Stoff-
wechsel des Embryos während des größten Teiles der Entwickelung fast von
derselben Intensität (Größe pro Kilogramm und Stunde) ist wie der des
Muttertieres und während der frühen Perioden sogar noch intensiver ®).
Der Stoffwechsel des Fötus besteht bei Vögeln wesentlich in einer Um-
setzung von Fett, bei Säugetieren in einer Umsetzung von Ponmarural
(Bohr).
Der Gasaustausch geschieht, was das Vogelei betrifft, durch die für
Diffusion leicht durchgängige Schale hindurch (Hüfner®); inwiefern beim
Eintreten in das Blut die Diffusion allein oder eine spezifische Zellentätig-
keit bestimmend ist, konnte bisher nicht untersucht werden. Für die Sicherung
einer Versorgung des Embryos mit Sauerstoff in der frühesten Entwickelungs-
periode ist wahrscheinlich die in allgemein biologischer Beziehung interessante,
von Hasselbalch’?) nachgewiesene Sauerstoffabspaltung im Ei gleich
beim Anfang der Bebrütung von Bedeutung.
) Skand. Arch.‘ f. Physiol. 3, 437, 1891 und 5, 1, 1895. — ?°) Chem.
Unters. d, Respir. des Schlammpeizgers. Breslau 1855. — *) Vgl. Lorent, Arch.
f. mikroskop. Anat. 15, 429, 1878 u. Paneth, Zentralbl. f. Physiol. 2, 485 u. 631,
1889. — *) Vgl. Bohr u. Hasselbalch, Skand. Arch. f. Physiol. 10, 149, 1900;
Hasselbalch, ebenda 8. 353; Bohr, ebenda 8. 413; Tangl, Pflügers Arch. 93,
327, 1903; Bohr u. Hasselbalch, Skand. Arch. 14, 398, 1903; Bohr, ebenda 15, 34,
1903. — °) Ebenda 11, 23, 1903. — °) Arch. f. Physiol. 1892, 8. 467. — 7) Skand.
Arch. f. Physiol. 13, 170, 1902.
220 Gewinnung der Blutgase durch Auspumpen.
Der respiratorische Stoffwechsel des Säugetierembryos geschieht durch
Austausch von Gasen mit dem Muttertiere mittels der Placenta. Die hier
stattfindende Aufnahme von Sauerstoff im Blute des Embryos bewirkt den
übrigens gewöhnlich nicht sehr bedeutenden Unterschied der Farbe zwischen
dem Blute der Arteria umbilicalis und dem der Vena umbilicalis, welches
letztere heller ist. Der im Vergleich mit der Arterie größere Sauerstoffgehalt
und geringere Kohlensäuregehalt der Vene geht ferner aus den von Cohn-
stein und Zuntz!) ausgeführten direkten Bestimmungen hervor. Während
der Asphyxie des Muttertieres dringt umgekehrt der Sauerstoff mittels der
Placenta aus dem Embryo in die Mutter, und das Blut der Umbilicalvene
wird dunkler als das der Arterie (Zuntz?). Da in diesem Falle die
Richtung, in welcher der Sauerstoff bei dem angeführten Versuche wandert,
von der Größe der Sauerstoffspannung abhängt, ist es anzunehmen, daß zwi-
schen den Gasen im Blute des Embryos und dem der Mutter in einer ge-
wissen Ausdehnung Diffusion stattfindet; ob dieser Diffusionsprozeß aber
der wichtigste Faktor für den Gaswechsel ist, oder ob zugleich in der
Placenta eine Gassekretion vorgeht wie in der Lunge, ist noch unaufgeklärt
und sehr fraglich. Ebensowenig sind die anderen Verhältnisse hinsichtlich
der respiratorischen Funktion der Placenta bisher näher untersucht worden.
Es wäre ja sehr wohl möglich, daß die respiratorischen Vorgänge zum Teil
nicht im Gewebe des Embryos beendigt würden und daß intermediäre Stoff-
wechselprodukte aus dem Embryo in die Placenta geführt würden, um ent-
weder hier umgesetzt zu werden, oder vielleicht um dem Blute der Mutter
zugeführt zu werden, wo sie dann erst die endliche Umbildung in Kohlen-
säure erlitten. Über diese für die Respiration des Embryos fundamentalen
Fragen liegen jedoch, wie bemerkt, noch keine Untersuchungen vor.
Anhang.
Einige Bemerkungen über die Gewinnung der Blutgase mittels Evakuierens
des Blutes.
Zum Auspumpen des Blutes ist eine Pumpe nacn Hagens System (siehe
Fig. 25) absolut vorzuziehen, da eine solche teils, was natürlich das Wichtigste ist,
ein weit besseres Vakuum gibt als die früher von den meisten Physiologen be-
nutzten Hahnenpumpen, teils Verunreinigung des Quecksilbers durch Hahnschmiere
ausschließt. Ein Volumen der Pumpenkugel von etwa 500cem ist gewöhnlich am
bequemsten zu handhaben; mittels eines solchen werden Flüssigkeiten wenigstens
ebenso schnell evakuiert als mittels des gewöhnlich angewandten Volumens von
1 Liter, da in ersterem Falle das Füllen der Kugel mit Quecksilber und deren Ent-
leerung um so rascher geschehen. Sehr zweckmäßig ist es, zur Bewegung des
Quecksilbers Wasserdruck (jedoch kein automatisches Pumpen, welches sich nicht
für Blutgasauspumpung eignet) zu benutzen, indem der Raum oberhalb des Queck-
silbers im Behälter d völlig mit Wasser angefüllt wird; der Hahn «a steht mit der
Wasserleitung in Verbindung, und durch Öffnen desselben wird das Quecksilber
in den Pumpenbehälter hinaufgedrückt; es sinkt, wenn man den Hahn b öffnet,
der nach einem hinlänglich weiten Abfluß führt; durch den Trichter ce, dessen
1) Pflügers Arch. 34, 206, 1884. — *) Ebenda 14, 612, 1877,
u
lich etwas bequemer und bewirkt keine
Blutgaspumpe. ; 2331
langer Kautschukschlauch in d hinabführt, kann nötigenfalls Quecksilber in den
Behälter nachgefüllt werden; Wasser schleicht sich aus d nicht in die Pumpenkugel
hinein, wenn die Pumpenröhre, wie aus der Figur (x) ersichtlich, im Inneren von d
eine kleine Strecke aufwärts geführt wird. Auf diese Weise kann das Pumpen
viel rascher geschehen, als wenn man, wie gewöhnlich, den Behälter d hebt und
senkt, zugleich aber auch mit großer’ Sicherheit, indem das Steigen des Queck-
silbers augenblicklich stockt, wenn man a schließt; ferner hält das Quecksilber
in der Pumpe sich hierdurch jahrelang Fi
g. 25.
rein, da es nicht mit dem sonst ge-
bräuchlichen langen Kautschukschlauch
in Berührung kommt, der es stets nach
Verlauf einiger Zeit verunreinigt.
Damit die Bestimmung der Menge
der Gase genau werde, muß die zu
evakuierende, im Rezipienten s ange-
brachte Flüssigkeit energisch geschüttelt
und auch erwärmt werden, zugleich
muß man Sorge tragen, daß der Stoff-
wechsel der in der Flüssigkeit ent-
haltenen Mikroben verhindert wird, am
besten durch Zusatz von Fluornatrium.
Wenn, wie in den älteren Versuchen,
der Stoffwechsel der Mikroben nicht
gehemmt wird, so wird während des
Auspumpens Sauerstoff in wechselnder
Menge verbraucht, und zwar unter sonst
gleichen Umständen um so mehr, je
länger das Auspumpen dauert; rasches
und langsames Auspumpen ergeben dann
also verschiedene Sauerstoffmenge des
Blutes (vgl. 8. 196).
Das Schütteln läßt sich so aus-
führen; daß man den Rezipienten nach
einer früher anderswo angegebenen
Methode mit der Pumpe verbindet, wo-
durch man ein gleichzeitiges Eindringen
atmosphärischer Luft von außen her
absolut verhindert!). Ein energisches
Hin- und Herschütteln läßt sich aber
auch durch Drehung des mit der Hand
am Schliffe n’ (siehe d. Fig.) erfaßten
Rezipienten erzielen, wie es bei ge-
wöhnlichen Auspumpungen empfohlen
werden kann; dieses Verfahren ist näm-
Undichtheit, wenn der Schliff und die
Schmiere gut sind. Längere Kautschuk-
schläuche, die von einzelnen Untersuchern zur Verbindung des Rezipienten mit der
Pumpe benutzt wurden, gewähren nicht die Sicherheit hinlänglicher Luftdichtigkeit.
Jedenfalls ist das Schütteln, besonders gegen Ende des Auspumpens, sehr energisch
und stetig auszuführen, sonst kann die Pumpe leer scheinen, während die Flüssigkeit
im Rezipienten noch Gas enthält.
Was die Erwärmung betrifft, so wirkt diese, wenn Blut oder Hämoglobin-
lösung ausgepumpt wird, zur Steigerung der Spannung der. dissoziablen Gase;
wesentlichere und allgemeinere Bedeutung hat sie aber für die Vermehrung der
Wasserdampftension im Rezipienten, wodurch ein ununterbrochener Strom von
!) Bohr u. Torup, Skand. Arch. f. Physiol. 3, 72, 1891.
222 Blutgaspumpe.
Dampf das Gas mit sich in die Kühlröhre (r) und von hier, wo die Tension zwar
herabgesetzt wird, jedoch stets viel höher als über dem Schwefelsäurebehälter (z)
ist, in die Pumpe selbst reißt, wenn man den Hahn (t) öffnet. Beim Arbeiten
mit Pumpen, die nicht mit einem Schwefelsäurebehälter versehen sind, hat die
Erwärmung selbstverständlich noch größere. Bedeutung; wird die Wasserdampf _
tension in der Pumpe nämlich höher als im Rezipienten, so geht ein Strom von
Wasserdampf aus ersterer in letzteren, und das sehr verdünnte Gas oberhalb der
Flüssigkeit im Rezipienten kann dann nur sehr langsam (mittels Diffusion) in die
Pumpe eindringen, so daß diese, praktisch betrachtet, leer wird, lange bevor die
Flüssigkeit ausgepumpt ist. Hierdurch erklärt es sich, weshalb P. Bert‘) mit seiner
Pumpe keinen Sauerstoff aus dem Blute auszupumpen vermochte, wenn er den
Rezipienten auf 0° abgekühlt hielt, was er mit Unrecht (siehe S. 66) daraus her-
leitete, daß das Blut bei dieser Temperatur keine Sauerstoffspannung haben sollte.
In der Tat läßt Blut, wie ich direkt versucht habe, bei der Temperatur von 0°
sich völlig auspumpen, wenn man nur die Pumpe durchaus trocken hält, was
nötigenfalls durch mehrmaliges Wechseln der Schwefelsäure während des Aus-
pumpens geschehen kann.
Ist die Schwefelsäure in der Pumpe nicht gar zu wasserhaltig, so braucht
die Erwärmung, um das Auspumpen in kurzer Zeit beendigen zu können, etwa
40° im Wasserbade um den Rezipienten nicht zu übersteigen; in diesem ist sie
wegen der lebhaften Verdampfung dann etwas niedriger (20 bis 30°). Hierdurch
erzielt man den Vorteil, daß selbst leicht dekomponierbare Stoffe wie das Hämo-
globin sich während des Auspumpens nicht verändern. .
Technisehe Fortschritte in der Verarbeitung von Hähnen und Schliffen haben
bewirkt, daß man die Pumpe bei sorgfältiger iBehandlung praktisch genommen
weit über die Dauer eines Versuches hinaus luftdicht halten kann; hierfür sollte
man immer Sorge tragen, um dadurch die sehr unsichere Korrektion wegen der
von außen eingedrungenen atmosphärischen Luft zu vermeiden.
!) Pression barome6trique. Paris 1878, p. 694.
Allgemeine Physiologie des Herzens
F. B. Hofmann.
Bezüglich der älteren Literatur ist im folgenden unter dem Schlagwort Tiger-
stedt vielfach auf Tigerstedts Lehrbuch der Physiologie des Kreislaufs, Leipzig
1892, verwiesen. — Sächs. Ber. = Ber. d. sächs. Ges. d. Wiss. (darin die Arb. a. d.
physiol. Anst. zu Leipzig 1866 bis 1875).
Automatie des Herzens und seiner Teile.
Das aus dem Körper heraüsgeschnittene Herz der Kaltblüter vermag,
wenn man es vor allzu großen Schädigungen (Austrocknen, extremen Tempe-
raturen) schützt, viele Stunden lang regelmäßig und mit normaler Schlagfolge
der einzelnen Herzabteilungen weiter zu schlagen. Auch das im Körper be-
lassene Herz schlägt nach dem Tode dieser Tiere (nach der Zerstörung des
Zentralnervensystems) noch lange Zeit fort. Ähnlich widerstandsfähig verhält
sich das embryonale Herz von Warmblütern. Das Herz der erwachsenen
Warmblüter schlägt nach dem Tode der Tiere sich selbst überlassen nur noch
kurze Zeit, doch kann man das schon tagelang stillstehende Herz von Warm-
blütern außerhalb des Körpers wieder zum Schlagen bringen, wenn man die
Koronararterien mit geeigneten Lösungen durchströmt!) (siehe unten S. 247,
Ernährung des Herzens). Das spontane Weiterschlagen ausgeschnittener
Herzen läßt sich nun nicht etwa auf eine durch die abnormen Bedingungen
gesetzte Reizung zurückführen, denn alte und neue Versuche haben gezeigt,
daß auch das unberührte, im Tier belassene Herz selbst dann noch ganz
regelmäßig weiter schlägt, wenn alle seine nervosen Verbindungen mit dem
Zentralnervensystem zerstört oder das letztere völlig abgetötet ist2). Das
Herz trägt also alle Bedingungen, die zum regelmäßigen, rhythmischen
‘) Kuljabko, Pflügers Arch. 90, 461 (hier Literatur); Zentralbl. f. Physiol. 16,
330, 1902. H. E. Hering, Pflüg. Arch. 99, 245, 1903. — ?) Eine ausführliche Zu-
sammenstellung der älteren unvollkommenen Versuche darüber bei A. v. Bezold,
Untersuchungen über die Innervation des Herzens, 1, 4 ff., 1863. Neuerdings haben
H. E. Hering (Pflügers Arch. 60, 478, 1895) Kaninchen nach Durchschneidung
der Vagi und Ausreißung der Accelerantes tagelang, H. Friedenthal (Engelmäanns
Arch. 1902, 8. 135) Kaninchen und einen Hund nach Durchschneidung aller Herz-
nerven monatelang am Leben erhalten. Isolierung des unberührten Herzens mit dem
Lungenkreislauf (wobei das Zentralnervensystem abstirbt, künstliche Atmung) von
N. Martin (Philos. Transaet. 174B, 666, 1883) und anderen, zuletzt H. E. Hering
(Pflügers Arch. 82, 163, 1898) und Bock (Arch. f. exp. Path. 41, 160, 1898).
224 Schlagfolge der einzelnen Herzabteilungen.
Schlagen und zu einer koordinierten Schlagfolge der einzelnen Herz-
abteilungen notwendig sind, in sich selbst, es besitzt die Fähigkeit der
Automatie, worunter hier bloß verstanden werden soll die Fähigkeit des
Herzens, ohne Zuführung besonderer äußerer Reize, speziell der sog. all-
gemeinen Nervmuskelreize, in Erregung zu geraten !).
Automatie in diesem Sinne kommt nicht allen Teilen des Herzens in
gleicher Weise zu. Die hierher gehörigen Tatsachen sind zunächst sehr
gründlich am Kaltblüterherzen (insbesondere dem des Frosches), erst später
auch am Säugetierherzen studiert worden. Da es somit bei der Erörterung
dieser Frage unvermeidlich ist, auf die prinzipiell wichtigen Experimente am
Kaltblüterherzen genauer einzugehen, sei daran erinnert, daß die Hohlvenen
bei den niederen Wirbeltieren (Fische bis Reptilien) in einen. besonderen
Hohlraum, den Venensinus, einmünden, welcher durch das Sinusvorhofostium
bei den Fischen in den ungeteilten Vorhof, bei den Amphibien und Reptilien
in den rechten Vorhof einmündet. Bei den letzteren mündet in den linken
Vorhof die Pulmonalvene. Bei der normalen Schlagfolge schlägt der Venen-
sinus zuerst, auf die Sinuskontraktion folgt nach einer kleinen Pause die
Systole des oder der Vorhöfe und wiederum nach einer kleinen Pause die
Systole des ungeteilten oder unvollkommen geteilten Ventrikels. Bei manchen
Tierklassen erfolgt ganz zuletzt noch die Kontraktion des Anfangsteiles der
Aorta, des Bulbus cordis. Bei den Vögeln und Säugetieren beginnt die
Kontraktion an der Einmündungsstelle der großen Venen ins Herz, breitet
sich von hier aus sehr rasch über beide Vorhöfe aus, die sich gleichzeitig
kontrahieren, worauf sich nach einer kleinen Pause beide Herzkammern gleich-
zeitig zusammenziehen. Daß die Reihenfolge der Kontraktionen in der be-
schriebenen Weise vor sich geht, kann man am besten sehen nach einem
künstlich, z. B. durch Vagusreizung erzeugten Stillstande, oder am abgekühlten,
selten schlagenden Herzen.
Die Stellen, an welchen die Kontraktion normalerweise beginnt, pulsieren am
absterbenden Herzen in der Regel am längsten (Sinus beim Froschherzen, letztes
Stück der Hohl- und Pulmonalvenen am Säugetierherzen®). Dies rührt zum. Teil
wohl daher, daß die Erregungsleitung beim Absterben stark leidet. Doch schlägt
auch der vom Sinus abgeschnittene Vorhofventrikel (nach Stannius; siehe das
Folgende!) nicht so lange fort wie der Sinus?).
Über den Grund, warum die normale koordinierte Schlagfolge des Herzens
vom venösen gegen das arterielle Ende hin fortschreitet, erhält man
Aufklärung, wenn man den physiologischen Zusammenhang des Sinus mit
den darunter liegenden Herzabschnitten aufhebt. Der Versuch ist zuerst von
Stannius#) in der Weise ausgeführt worden, daß er am Froschherzen eine
Fadenschlinge so um die Vorhöfe legte, daß der Sinus oberhalb der Schlinge
lag. Wird die Schlinge fest zugezogen, so schlägt der Sinus, wenn die un-
!) Vgl. dazu Langendorff, Du Bois’ Arch. 1884, Suppl. S. 44 und Ergebn.
d. Physiol. 1 (2), 322 ff., 1902, ferner Tigerstedt, 8. 171. — ?) Literatur über
letzteres bei Engelmann, Pflügers Arch. 65, 540, 1897. Vgl. auch H.E.Hering,
ebenda 82, 22 ff., 1900. — ®) Bidder, Du Bois’ Arch. 1866, 8. 20. — *) Müllers
Arch. 1852, 8. 85 ff. Vorher hatte Ähnliches Volkmann (ebenda 1844, 8..426),
gleichzeitig Bidder (ebenda 1852, 8. 167) beobachtet. Über diesen Versuch hat
sich eine ausgedehnte Literatur entwickelt (zusammengestellt bei Loewit, Pflügers
Arch. 23, 313 ff,, 1880), die vielfach nur noch historisches Interesse besitzt.
Jr;
du
EEE
Erste Stanniussche Ligatur. 225
mittelbare Folge des Quetschreizes (kurze Hemmungswirkung) abgeklungen
ist, im früheren Tempo weiter, die unterhalb des Fadens befindlichen Herz-
abschnitte stehen still. Ganz ähnlich wie diese sog. „erste Stanniussche
Ligatur“ wirkt eine quere Durchschneidung der Vorhöfe unterhalb der
Sinusgrenze.
Die Angabe von Stannius (l. c.), Heidenhain') und anderen, daß an der
Sinusvorhofgrenze der Schnitt weniger sicher wirke als die Ligatur, ist wohl darauf
zurückzuführen, daß die Ligatur eine breite Stelle quetscht, daher so wirkt, wie
ein Schnitt unterhalb der Sinusgrenze?),. Wird nämlich der Schnitt möglichst
genau in der äußerlich sichtbaren Grenzlinie zwischen Sinus und Vorhof geführt,
so erfolgt gar kein oder höchstens ein äußerst kurz dauernder Stillstand. Der lange
Stillstand tritt erst auf, wenn der Schnitt etwas von dieser Grenze weg im Vor-
hofsgebiet geführt wird ?).
Vorhof und Ventrikel des Kaltblüterherzens stehen nach der Abtrennung
vom Sinus in der Regel nicht dauernd still, sondern beginnen zumeist, wenn
sie vor Erstickung bewahrt bleiben, wieder spontan zu schlagen), aber in
viel langsamerem Tempo als der Sinus. Die Dauer des Stillstandes ist außer-
ordentlich verschieden, manchmal fehlt er ganz. Insbesondere variiert seine
Dauer je nach der Tierspezies. Beim Frosch ist er in der Regel sehr lang,
bei der Schildkröte dauert er gewöhnlich nur !/, bis !/; Stunde. Wird bei
diesem Tiere Blut durch die Koronararterien geleitet, oder träufelt man
Atropin auf die Atrioventrikulargrenze, so erfolgt nach der Abtrennung der
Kammer vom Sinus gar kein Stillstand (Gaskell, 1. ce. S. 59 u. 120).
Beim Säugetierherzen tritt nach Abquetschung des größten Teiles der
Vorhöfe von den Kammern nur ein ganz flüchtiger Stillstand der letzteren
auf, sodann schlagen die Ventrikel spontan weiter, nur in etwas langsamerem
Tempo als die Vorhöfe. Beim Säugetier stört also die Trennung der Vor-
höfe und Ventrikel in der Hauptsache bloß die koordinierte Schlagfolge
beider und setzt die Frequenz der Ventrikelkontraktionen herab’).
!) Müllers Arch. 1858, 8. 482, 502. — ?) Vgl. dazu Löwit, 1. c. S. 322ff.; ähnlich
schon Eckhard, Beiträge z. Anat. u. Physiol. 2, 128, 1860. — ®) Eckhard, 1. e.
8. 130; Löwit (1. e. 8. 328 ff.) für das Froschherz; Gaskell (Journ. of Physiol. 4,
50, 1883) für das Schildkrötenherz. — *) Zuerst beobachtet von Volkmann, vgl.
Heidenhain, De nervis organisque central. cordis ete. Inaug.-Dissert. 1854, 8. 50.
Unter Öl treten Kontraktionen nie wieder auf (Goltz, Virchows Arch. 21, 191, 1861),
aber auch das unverletzte Herz stellt seine Tätigkeit unter Öl früher ein als an der
Luft, wahrscheinlich wegen Erstickung. Wenn der Ventrikel frei in der Luft hängt,
beginnt er auch früher zu schlagen, als wenn er einer luftundurchlässigen Unterlage
aufliegt. Wird an einem mit Serum gefüllten ausgeschnittenen Herzen vom Sinus
her eine Kanüle in den Ventrikel eingeführt und der Vorhof um die Kanüle fest
zugeschnürt, so tritt kein Ventrikelstillstand, sondern eine „periodische“ Schlagfolge
desselben auf (Luciani, Sächs. Ber. 25, 11, 1872, weiteres darüber im folgen-
den!), nach Gaglio (Arch. ital. Biol. 12, 382 ff., 1889) bewirkt durch den
(intrakardialen) Druck der Füllungsflüssigkeit. Wird am unverletzten Froschherz
mit erhaltener Zirkulation der Vorhof quer durchquetscht, so daß der physiologische
Zusammenhang mit dem Sinus zerstört ist, so vollführt -der durch das Blut aus-
gedehnte Ventrikel ebenfalls periodische Kontraktionen, die aber nicht bloß auf
Reizung durch den gesteigerten Innendruck zurückzuführen sind (Langendorff,
Du Bois’ Arch. 1884, Suppl. 8. 59 #.)—°) v. Wittich, Königsberger med. Jahrb. 1,
18, 1859. Wooldridge, Du Bois’ Arch. 1883, 8. 522. Tigerstedt, ebenda 1884,
8. 497; Krehl u. Romberg, Arch. f. exp. Path. 30, 49, 1892.
Nagel, Physiologie des Menschen, I. 15
236 Deutung des Stanniusschen Versuchs.
Der Versuch von Stannius ist in zweierlei Weise gedeutet worden.
Die einen!) schlossen daraus, daß normalerweise die Erregung des Herzens
im Sinus ihren Ursprung nimmt und von hier aus den anderen Herzteilen
zugeleitet wird. Da aber die abgeschnittenen Teile nach einiger Zeit wieder
zu schlagen beginnen, nahm andererseits Heidenhain?) an, daß die Automatie
allen Herzteilen in gleicher Weise zukomme, daß aber durch die Unterbindung
eine starke Erregung der intrakardialen Hemmungsnerven gesetzt und da-
durch die Kontraktionen der darunter liegenden Teile vorübergehend unter-
drückt werden. Diese letztere Erklärung der Stanniusschen Ligatur läßt
sich indessen aus folgenden Gründen nicht halten:
1. Beobachtet man bei mechanischer Reizung der extrakardialen Herznerven
nie einen so anhaltenden Stillstand wie — in der Regel — beim Stanniusschen
Versuch. Heidenhain war der Meinung, daß die längere Dauer des Stillstandes
im letzteren Falle durch Mitreizung der Ganglienzellen im Herzen bedingt sei.
Doch geht aus neueren Versuchen, in welchen die zum Ventrikel hinziehenden
intrakardialen „Scheidewandnerven“ mit ihren Ganglien elektrisch gereizt wurden,
hervor, daß hierbei überhaupt kein oder nur ein sehr kurzer Stillstand (durch sog.
„Leitungshemmung“, siehe unten bei den Hemmungsnerven!) auftritt®). Auch gibt
ein Schnitt durch den Sinus, wobei ebenfalls die intrakardialen Hemmungsnerven
mitgetroffen werden, keinen dauernden, sondern nur vorübergehenden Stillstand,
und Reizung der Vorhöfe macht Beschleunigung, keinen Stillstand (Löwit, 1. c.
S. 329, 347 ff.). Über die angeblich bessere Wirkung der Ligatur statt des Schnittes
siehe die vorige Seite!
2. Tritt der Stillstand nicht ein, wenn die Vorhofswände bloß teilweise durch-
schnitten oder unterbunden werden, wenn nur eine genügend breite Muskel-
brücke zwischen Sinus und Ventrikel stehen bleibt, gleichgültig ob rechts oder
links, vorn oder hinten. Erst wenn diese letzte Muskelbrücke auch durchschnitten
wird, erfolgt Stillstand des Ventrikels‘®).
3. Der Stillstand tritt auch auf, wenn durch Vergiftung mit Atropin die
Endigungen der Hemmungsnerven gänzlich gelähmt sind und Reizung oder Ein-
schnitt in den Sinus keinen Stillstand mehr gibt’). Weitere Gründe bei Engel-
mann, sein Arch. 1903, 8. 505 ff.
Der Versuch von Klug (Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1881, 8. 947), daß auch
nach Degeneration der Vagi der Stillstand nach der ersten Stanniusschen Ligatur
bestehen bleibt, beweist nichts wegen des Erhaltenbleibens der postganglionären
Hemmungsfasern im Herzen (siehe unten unter Hemmungsnerven, vgl. auch Niko-
lajew, Du Bois’ Arch. 1893, Suppl. 8. 73).
Es bleibt also nur die erstgenannte Annahme übrig, die so zu formu-
lieren wäre, daß die Automatie am besten im Sinusgebiet ausgebildet ist,
daß aber auch die anderen Herzteile der Fähigkeit, automatisch zu
schlagen, nicht ganz entbehren ®).
!) Zuerst Eckhard, Beiträge usw. 1, 147, 1858, im Anschluß an Bidder,
Müllers Arch. 1852, 8. 163 ff. — °) De nervis organisque centr. cordis etc. Inaug.-
Diss. 1854, und Müllers Arch. 1858, 8. 502. — ®) F.B.Hofmann, Pflügers Arch. 60,
157 ff., 1895. — *) Gaskell (Journ. of Physiol. 4, 64ff., 1883) am Schildkrötenherzen,
F. B. Hofmann (l. e. $. 146) am Froschherzen. — °) Schmiedeberg, Sächs.
Ber. 22, 139, 1870. Löwit, 1. c. 8. 337. — °) Experimentelle Ansätze zu einer
wirklichen Erklärung des vorübergehenden Stillstandes nach der Abtrennung vom
Sinus, dahingehend, daß durch von anderer Seite her (durch künstliche Reizung
des Vorhofes oder vom Sinus her) zugeleitete rhythmische Erregungen die Automatie
des Ventrikels zurückgedrängt wird und nach ihrem Wegfall sich erst allmählich
zur vollen Höhe erhebt, bei Gaskell (l.c. 8.120) und Hofmann (Schmidts Jahrb.
281, 120, 1904); vgl. ferner Lohmann, Engelmanns Arch. Suppl. 1904, 8. 265.
u
Automatie isolierter Herzteile. 337.
Versuche, durch weitergehende Isolierung die Stellen, welche automatisch zu
schlagen vermögen, genauer zu bestimmen, haben folgendes ergeben'): Im „Sinus-
gebiet“ (im eigentlichen Sinus und im Endstück der Hohlvenen) ist die Fähigkeit,
automatisch zu schlagen, allen Teilen in ungefähr gleichem Maße eigen, den Hohl-
venen vielleicht in noch höherem Grade als dem Sinus?). Bleibt beim Stannius-
schen Versuch nur ein kleines Stückchen Sinus mit dem Vorhofe in Verbindung,
so tritt kein langdauernder Stillstand ein. Nach den oben 8. 225 erwähnten Ex-
perimenten von Löwit und Gaskell kommt ein ähnlich hoher Grad von Auto-
matie wohl auch der Übergangsstelle (dem Muskelring) zwischen Sinus und Vorhof zu.
Die spontanen Kontraktionen des sinuslosen Froschherzens gehen, wie ins-
besondere Engelmann°) durch Messungen des Zeitintervalls zwischen Vorhofs-
und Ventrikelkontraktion feststellen konnte, fast immer von einer Stelle zwischen
Vorhof und Ventrikel, also von der Gegend der Atrioventrikulargrenze aus. In
einigen Fällen beobachtet man aber, daß der wieder schlagende, vom Sinus ab-
getrennte Herzabschnitt von neuem zum Stillstand kommt, wenn man am oberen
Schnittende noch ein weiteres Stück des Vorhofes abträgt*‘). Ob dies in allen
Fällen darauf beruht, daß Reste vom Sinus stehen geblieben waren, wie Engel-
mann (l. ce.) meint, oder ob die Vorhofsmuskulatur des Froschherzens selbst auto-
matisch schlagen kann, ist noch fraglich.
Die von der Ventrikelbasis abgeschnittene Herzspitze des Frosches steht ohne
Zufuhr äußerer Reize dauernd still, ebenso beteiligt sich die Herzspitze am lebenden
Tiere nicht mehr am Herzschlag, wenn ihr physiologischer Zusammenhang mit dem
übrigen Herzen durch eine quere schmale Quetschung gelöst worden ist’). Wird die
Quetschung so ausgeführt, daß Partien der Ventrikelbasis mit dem abgequetschten
Ventrikelteile in Verbindung bleiben, so kann letzterer spontan schlagen‘). Beim
Schildkröten- und Säugetierherzen schlagen hingegen auch isolierte Streifen oder
Stücke aus der Muskulatur der Vorhöfe und Ventrikel unter geeigneten Bedingungen
spontan weiter’). Beim Froschherzen pulsiert auch der isolierte Aortenbulbus
spontan ®).
Nimmt man als Maßstab für die Ausbildung der Automatie eines Herz-
teiles die Frequenz seiner Kontraktionen nach der Isolierung, so ist die Auto-
matie beim Froschherzen in allen Teilen des Sinusgebiets ungefähr gleich-
mäßig und gegenüber anderen Herzteilen am besten entwickelt, d. h. diese
Stellen besitzen, wenn sie isoliert werden, das frequenteste Schlagtempo. Eine
geringer entwickelte Automatie — eine niedrigere Schlagfrequenz nach der
!) Inwieweit etwa bei derartigen Zerstückelungen durch die Verletzung usf.
abnorme Dauerreize gesetzt werden könnten, läßt sich freilich kaum bestimmen. —
2) Engelmann, Pflügers Arch. 65, 119, 1897. — °?) Sein Arch. 1903, 8. 512 ff. —
*) Löwit, Pflüg. Arch. 23, 330, 342, 1880; Langendorff, Du Bois’ Arch. 1884, Suppl.
8. 99. — °) Heidenhain, De nervis org. centr. cordis etc. Inaug.-Diss. 1854, 8. 47;
Bernstein, Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1876, S. 385 und andere, siehe Tigerstedt,
S. 157. Man quetscht am lebenden Tiere den Ventrikel mit Hilfe eines Fadens
oder einer kleinen Klemmpinzette kräftig quer über die Mitte durch. Die Tiere
können wochenlang am Leben erhalten werden. Bei mäßiger Erwärmung können
solche Herzspitzen mitunter anscheinend spontan pulsieren (Langendorff, 1. c.
8. 38).— °) v. Vintschgau, Pflügers Arch.76, 59, 1899; 88, 575, 1902.— 7) Gas-
kell (Journ. of Physiol. 4, 51ff.; Schäfers Textbook of Physiol 2, 176, 1900) für
das gut ernährte Herz von Testudo graeca. [Bei anderen Arten sahen Howell und
Cooke (Journ. of Physiol. 14, 219) und andere keine spontanen Kontraktionen der
Ventrikelmuskulatur]; Krehl u. Romberg (Arch. f. exp. Path. 30, 64, 1892) für
den rechten Ventrikel des Kaninchenherzens; Porter (Journ. of exp. med. 2, 391,
1897 und Americ. Journ. of Physiol. 1, 514, 1898) für blutdurchströmte Muskel-
stücke aus dem Ventrikel des Hunde- und Kaninchenherzens, auch die Herzspitze,
die abgeschnitten oder in vivo abgeklemmt ohne Blutzufuhr dauernd still steht
(Langendorff, Pflügers Arch. 70, 283, 1898). — ®) Engelmann, Pflügers Arch.
29, 425, 1882.
15*
228 Ursprung der normalen Herzerregung im Sinusgebiet.
Isolierung — besitzen beim Froschherzen die Atrioventrikulargrenze und der
Bulbus cordis, vielleicht auch die Vorhöfe, keine Automatie (wenigstens
unter gewöhnlichen Umständen) die Herzspitze. - Beim Säugetier ist die
Automatie der Vorhöfe besser entwickelt als die der Kammern, doch besitzen
auch Stücke der letzteren noch automatische Fähigkeit.
Stehen die einzelnen Herzteile miteinander in physiologischer Ver-
bindung, so wird jener Teil, welcher am frequentesten schlägt, den anderen
zuvorkommen und, wenn er ihnen seine Erregungen zuzuleiten vermag, auch
ihr Schlagtempo bestimmen. Da für gewöhnlich der Sinus am frequentesten
schlägt, so kommt die normale Reihenfolge des Schlages der einzelnen Herz-
abteiluingen — vom venösen gegen das arterielle Ende des Herzens hin —
dadurch zustande, daß die normalen Erregungen im Sinusgebiet ihren Ur-
sprung nehmen und von hier aus den übrigen Herzabteilungen nacheinander
zugeleitet werden. Auch innerhalb des Sinusgebietes wird jener Teil, welcher
jeweils die höchste Schlagfrequenz besitzt, das Schlagtempo des Ganzen be-
stimmen. Diese Stellen können wechseln, man kann deshalb auch nicht eine
bestimmte Stelle des Sinusgebietes als den Ursprungsort der Herzbewegung
bezeichnen. Partielle Zerstörung des Sinusgebietes wird die Fortdauer der
Herzbewegung nicht aufheben, weil sofort andere Stellen für die vernichteten
eintreten können!). Was beim Froschhergen vom Sinusgebiet gilt, ist
beim Säugetierherzen auf die Einmündungsstellen der großen Venen (Hohl-
venen und Pulmonalvenen) ins Herz zu beziehen ?).
Den klarsten Beweis dafür, daß die normale Herzschlagfolge im Sinus
ihren Ursprung nimmt, liefern folgende Versuche von Gaskell3). Erwärmung
des ganzen Herzens oder isolierter, spontan schlagender Teile bewirkt eine
Zunahme, Abkühlung eine Abnahme der spontanen Schlagfrequenz. Gas-
kell zeigte nun, daß am ausgeschnittenen ganz intakten Herzen isolierte
Erwärmung, Abkühlung oder Vergiftung des Ventrikels die Frequenz der
Ventrikelkontraktionen nicht beeinflußt, isolierte Erwärmung usf. des Sinus
dagegen das Schlagtempo des ganzen Herzens ändert, welches demnach von
dem des Sinus vollständig abhängig ist. Die Beschleunigung tritt auch auf
bei streng isolierter gelinder Erwärmung einer beliebigen kleinen Stelle des
letzten Stückes der Hohlvenen, und zwar auch nach Atropinvergiftung,
während gleich gelinde Erwärmung einer Stelle der Vorhöfe oder des Ven-
trikels einflußlos ist ®).
In der "bisherigen Darstellung wurde ganz abgesehen von der Frage
nach der anatomischen Grundlage der Automatie des Herzens. Nach Analogie
mit dem Zentralnervensystem nahm man früher meistan, daß die automatische
Tätigkeit des Herzens von den in ihm enthaltenen Ganglienzellen ausgehe,
daß also diese, insbesondere das sog. Remaksche Ganglion im Sinus, das
eigentliche automatische motorische Zentrum des Herzens darstelle. Daß die
Ansicht von einem neurogenen Ursprung der Herztätigkeit mindestens in
») W. H. Gaskell, Philos. Transact. 173 (3), 993 ff., 1882; Journ. of Physiol. 4,
44 ff., 1883; Th. W.Engelmann, Pflügers Arch. 65, 134 ff., 1896; Deutsche Klinik 4,
219 ff., 1903. — ?) Vgl. Me William, Journ. of Physiol. 9, 174, 1888; H.E. Hering,
Pflügers Arch. 82, 22ff., 1900. — °) Philos. Transact. 173 (3), 996, 1882. —
*) Me William (Journ. of Physiol. 9, 182, 1888) für das Säugetierherz, en
mann (Pflügers Arch. 65, 132 ff., 1895) für das Fröschherz.
ee u
Neurogene oder myogene Automatie? 3939
dieser Form unhaltbar ist, geht daraus hervor, daß auch Teile des Herzens
noch spontan pulsieren können, die sicher gar keine oder aber eine ver-
schwindend geringe Zahl von Ganglienzellen enthalten !).
Zu den ersteren gehören:
1. Isolierte Muskelstückchen aus den Hohlvenen und dem Sinus des Frosch-
herzens, in denen mikroskopisch keine Ganglienzelle nachweisbar war’).
2. Der Aortenbulbus des Froschherzens?).
3. Das vom zweiten Tage der Bebrütung an pulsierende embryonale Herz des Hühn-
chens bis zu der am sechsten Tage erfolgenden Einwanderung von Ganglienzellen *).
4. Das Herz verschiedener Wirbelloser ’°).
Höchstens einige wenige Ganglienzellen sind noch enthalten in folgenden
spontan pulsierenden Herzpartien:
1. Muskelstreifen aus dem Vorhof und Ventrikel des Schildkrötenherzens und
Muskelstücke aus dem Säugetierventrikel‘).
2. Im Sinus und Vorhof des Froschherzens nach Entfernung der Remakschen
und der Vorhofganglien ’).
Gegen die angeführten Beweise ließe sich zwar einwenden, daß die Ver-
hältnisse im Herzen von Embryonen und von Wirbellosen andere sein könnten
als im erwachsenen Wirbeltierherzen, weil im Laufe der Entwickelung ein
Funktionswechsel eintreten könnte, und daß in der zweiten Gruppe von Fällen
immer noch eine, wenn auch sehr geringe Zahl von Ganglienzellen vorhanden
sei, daß ferner bei den Zerstückelungsversuchen abnorme Reize gesetzt
wurden °). Diese Einwände sind aber recht gezwungen. Man muß also
wohl, wenn man an der Hypothese eines neurogenen Ursprungs der Herz-
tätigkeit festhalten will, annehmen, daß außer den Ganglienzellen noch ein
in allen Muskelstücken (mit Ausnahme des embryonalen Herzens und der
Froschherzspitze!) anzunehmendes Nervennetz automatische Fähigkeiten be-
sitzt?). Weitaus wahrscheinlicher aber ist, daß die Automatie des Herzens
im Herzmuskel selbst ihren Sitz hat, Theorie vom myogenen Ursprung der
Herztätigkeit von Gaskell und Engelmann).
!) Über die Verteilung der Ganglienzellen im Frosch- und Säugetierherzen,
siehe unten 8. 261 ff. — ?”) Engelmann, Pflügers Arch. 65, 120, 1897. — ®) Engel-
mann, ebenda 29, 425, 1882; bestritten von Dogiel, Zentralbl. f. d. med. Wiss.
1894, S. 225. — *) His jun., Abh. Sächs. Ges. d. Wiss.18, 1, 1891. Über die Physiologie
des embryonalen Herzens siche Pickering (Journ. of Physiol. 14, 383 — ausführliche
Literatur, 18, 470; 20, 165), Bottazzi Artikel Coeur in Richets Dict. de Physiol. 4,
253 ff. — °) Literatur bei Tigerstedt, 8. 172; vgl. auch Bottazzi und Fano,
Artikel -Coeur in Richets Dict. de Physiol. 4, 270ff., 1900. Für das Herz
von Limulus soll allerdings eine neurogene Automatie nachweisbar
sein. (Carlson, Americ. Journ. of Physiol. 12, 67 ff., 1904). — °) Vgl. die oben
8. 227 zitierten Versuche von Gaskell, Krehl und Romberg, Porter. — ’) Hof-
mann, Pflügers Arch. 60, 142, 1895. — ®) Bezüglich der Engelmannschen Ver-
suche am Aortenbulbus’ hat Langendorff (Du Bois’ Arch. 1884, Suppl. 8. 56 Anm.)
bemerkt, daß die Pulsationen beim mit Säugetierserum gespeisten Bulbus durch
mechanische oder chemische Reizung verursacht sein könnten. Engelmann sah
aber auch spontane Pulsationen am nicht durchströmten Bulbus (l. e. S. 435). —
°) Dies ist wohl die nicht ganz klar ausgesprochene Ansicht von Kronecker (Zeitschr.
f. Biol. 34, 600, 1896) und Bethe (Allg. Anat. u. Physiol. d. Nervensyst., Leipzig
1903, 8. 408 ff.). Letzterer beschreibt (l. c. 8. 91) übrigens an den marklosen
Nervenfasern eine besondere Art von ganz kleinen Ganglienzellen (identisch mit
den zuerst von Gerlach (Virch. Arch. 66, 211, 1876) beschriebenen kleinen Zellen
an den Maschen des Nervenplexus?). — '°) Zur Erklärung dafür, daß im erwachsenen
Herzen nicht allen Teilen Automatie zukommt, nehmen Gaskell und Engelmann
2330 Bedingungen der Automatie.
Wichtiger als die Frage, welche Gewebselemente automatisch tätig sind !),
ist die Frage nach den Bedingungen der Automatie. Darüber ist vorläufig
nur wenig festgestellt. Man weiß nur, daß zur dauernden Aufrecht-
erhaltung der automatischen Kontraktionen außer organischem Nährmaterial
und Sauerstoff?) die Anwesenheit bestimmter anorganischer Salze nötig ist,
und zwar der Na- und Ca-Salze.. Die Wirkung derselben ist nicht ge-
“nügend geklärt.
Nachdem zuerst Biedermann?) rhythmische Zuckungen von Skelettmuskeln
in schwach alkalischer 0,6 proz. Kochsalzlösung beobachtet hatte, wies Loeb‘) nach,
daß eine Reihe von Ionen, Na, Li usf., wenn sie in isotonischen Lösungen auf den
Skelettmuskel wirken, rhythmische Zuckungen hervorrufen, besonders wenn sich
eine geringe Menge freier OH- oder H-Ionen in der Lösung befindet. Andere,
z. B. die Ca- und K-Ionen hemmen nach Loeb das Auftreten rhythmischer Zuckungen.
Auf der anderen Seite fand Howell?), daß Stücke aus dem Hohlvenenende des Schild-
krötenherzens im eigenen Blutserum sowie in anorganischen Salzlösungen, welche
Na-, Ca- und K-Salze in denselben Mengen wie das Blutserum enthalten, weiter
schlagen, nicht aber Stücke aus dem Ventrikel. Um diese zum Schlagen zu bringen,
muß der Gehalt der Lösung an Na-Salzen erhöht, das Blut oder Serum mit 0,6 Proz.
Na Cl verdünnt werden °). Der weiteren Angabe Howells, daß auch Ca-Salze ähnlich
wirken, widersprachen Loeb’) und Lingle®). Die Kontroverse leidet darunter,
daß Leistungsfähigkeit im Sinne von Kontraktionsenergie und automatische Fähig-
keit nicht immer genügend scharf auseinandergehalten wurden’). Wie Kronecker')
zuerst zeigte, sinkt nach anhaltender Wirkung von 0,6 proz. Na Cl-Lösung die Leistungs-
fähigkeit des Froschherzens so weit, daß die Kontraktionen allmählich bis zur Un-
merklichkeit an Höhe abnehmen ohne besonders große Abnahme der Reizbarkeit und
Schlagfrequenz. Hinzufügung von Ca-Salzen erhöht die Leistungsfähigkeit, kann aber
die Schlagfrequenz herabsetzen''). Jedenfalls ist für das Entstehen spontaner,
an, daß die automatischen Fähigkeiten um so mehr verloren gehen, je weiter sich
die Muskulatur vom embryonalen Bau entfernt. Übrigens schlagen schon im
embryonalen Herzen isolierte Stückchen vom Vorhof frequenter als solche aus dem
Ventrikel (Fano, Arch. ital. de Biol. 13, 410 ff., 1890).
!) Zur weiteren Orientierung über diese Kontroverse ist zu vergleichen:
Engelmann, Pflügers Arch. 65, 535, 1897 und Deutsche Klinik 4, 215, 1908;
Langendorff, Ergebn. d. Physiol. 1 (2), 325 ff., 1902; F. B. Hofmann, Schmidts
Jahrb. d. Med. 281, 113, 1904. — ?) Bei der Erstickung nimmt die Schlagfrequenz
ab. Details bei Öhrwall, Skand. Arch. 7, 235 ff., 1897. Über die Unterdrückung
der Automatie durch CO,-Vergiftung siehe ferner Straub (Arch. f. exp. Path. 45,
380, 1901) und Lingle (Amer. Journ. of Physiol. 8, 78, 1903). Über Wieder-
belebung des erstickten Herzens durch Massage Battelli (Compt. rend. 130, 800,
1900) und andere. — °) Wiener Sitzungsber. 82, Abt. 3, 257, 1880. — *) Festschr.
£. Fick, 8. 99, 1899. — °) Amer. Journ. of Physiol. 2, 69 ff., 1899. — °) Ahnlich
an der Froschherzspitze Merunowicz (Sächs. Ber. 27, 252, 1875), Aubert (Pflügers
Arch. 24, 368ff., 1881) u. a. — 7) Amer. Journ. of Physiol. 3, 383 ff., 1900. —
®) Ebenda 4, 265, 1901; 8, 75, 1903; vgl. dagegen Howell, ebenda 6, 181, 1902;
Martin, ebenda 11, 103, 1904. — °) Lingle hat vielleicht diese Unterscheidung ge-
meint, wenn er sagt (ebenda 8, 86), daß nach Loebs Ansicht die Prozesse, welche
eine rhythmische Tätigkeit veranlassen, und solche, welche sie unterhalten, in ge-
wissem Sinne verschieden und einander mehr oder weniger antagonistisch sind. —
\0) Festschr. f. Ludwig, 1874, 8. 208f£. — "') Lingle, l.c. 4, 278; 8, 90;
Langendorff u. Hueck (Pflügers Arch. 96, 477 ff., 1903) beim Kaltblüter. Die
geringe Zunahme der Schlagfrequenz des Säugetierherzens bei Zusatz von Ca zur
Durchströmungsflüssigkeit führen die Verfasser auf Nebenumstände zurück (vgl.
dagegen Groß, ebenda 99, 308, 1903). Auch Martin (l. c. S. 107) sah spontane
Kontraktionen des Schildkrötenventrikels in 0,7 proz. Na Cl-Lösung früher auf-
treten, wenn der Muskel vorher in eine Ca-haltige Lösung getaucht wurde.
ee ee er :
Einfluß der Temperatur und von Giften auf die Automatie. 231
kräftiger Kontraktionen die Anwesenheit sowohl von Na- als auch von Ca-Salzen
erforderlich, wozu dann aus anderen Gründen (siehe unten, S. 248) noch die K-Salze
hinzukommen.
Das Herz schlägt spontan nur innerhalb gewisser individuell sehr variabler
Temperaturgrenzen. Unterhalb 0° bis 4° C und oberhalb von etwa 36° bis
42% C verfällt das Froschherz in diastolischen Stillstand, ist aber noch reizbar
und kann durch entsprechende Erwärmuug bzw. Abkühlung wieder zum
Schlagen gebracht werden!). Der reparable Wärmestillstand (nicht zu ver-
wechseln mit der irreparablen Wärmestarre, welche erst bei länger dauernder
Erwärmung des Froschherzens auf über etwa 42° C auftritt?), befällt am
ganzen Herzen zuerst den Ventrikel, dann stehen die Vorhöfe und- bei
noch höherer Temperatur erst der Sinus still. Je höher die Automatie des
abgetrennt schlagenden Herzteils ist, desto höher liegt die Temperatur, bei
welcher Wärmestillstand auftritt 3).
Erwärmt man das Herz von der unteren Temperaturgrenze für die
spontane Schlagfähigkeit an allmählich, so nimmt die Schlagfrequenz anfangs
ganz langsam, später immer rascher bis zu einem Maximum zu und von
diesem ab sehr rasch, aber in höchst unregelmäßiger Weise bis zum Still-
stande ab (Cyon, 1. ce.).
Bei plötzlicher starker Temperaturänderung beobachtet man verschiedene Reiz-
erscheinungen, Wärmetetanus bei Erwärmung von 0° auf 40° C*), Seltenerwerden
des Herzschlags bei Erwärmung von 20° auf 40° C (von Cyon°) auf Reizung der
Vagusendigungen bezogen), Acceleration bei Abkühlung).
Für das Warmblüterherz ergaben die Untersuchungen von Newell
Martin?) und Langendorff®) ebenfalls ein zunächst langsameres, dann
rascheres Ansteigen der Schlagfrequenz beim Erwärmen bis zu einem Maximum
bei etwa 42° C, das sich aber nach zeitweiliger Abkühlung gegen höhere
Temperatur hin verschiebt. Die untere Temperaturgrenze für spontanes
Schlagen liegt zwischen 6 bis 7°C, aber man kann selbst ein gefrorenes
Herz durch vorsichtiges Erwärmen wieder zum Schlagen bringen?). Einen
reparablen Wärmestillstand gibt es beim Säugetierherzen nicht, nur irreparable
Wärmestarre, die bei Temperaturen über 45° C eintritt.
Dureh Giftwirkung kann die Schlagfrequenz des Herzens herabgesetzt werden
entweder infolge direkter Schädigung der automatisch tätigen Elemente (Muskel-
fasern oder Nervennetz) oder infolge Reizung des intrakardialen Hemmungsapparates.
Die Entscheidung zwischen beiden Möglichkeiten sucht man gewöhnlich darin, daß
im letzteren Falle die Giftwirkung durch Atropin, welches die intrakardialen (post-
ganglionären) Hemmungsnerven lähmt, beseitigt wird, im ersteren Falle nicht. Da
aber Atropin daneben noch eine ausgesprochene Einwirkung auf die Muskulatur
besitzt — es wirkt der Bowditchschen Treppe entgegen und verlängert die refraktäre
!) Schelske, Über die Veränderungen d. Erregbarkeit durch Wärme. Heidel-
berg 1860, siehe Meißners Jahresber. 1860, S. 527. Cyon, Sächs. Ber. 18, 271, 1866. —
?2) Siehe Aristow (Du Bois’ Arch. 1879, 8. 201) und Ide (ebenda 1892, Suppl.
S. 243). — °) Stewart, Journ. of Physiol. 13, 119, 124, 130, 1892. — *) Vgl.
Cyon, 1. e. 8. 297. Stewart (l. c. 8. 124) sah einen „Wärmetetanus“ bloß bei
hohem Innendruck. — °) Cyon, 1. ce. 8. 305; Pflügers Arch. 8, 345, 1873. —
®) Aristow, l.e. 8.205. — 7) Philos. Transact. 174 (2), 674, 1883. — ®) Pflügers Arch.
66, 355, 1897. — °) Waller u. Reid, Philos. Transact. 178B, 223, 1897; Hering,
Pflügers Arch. 99, 250 ff., 1903.
232 Rhythmische Kontraktionen bei Dauerreizung.
Phase — so ist dies Kriterium nicht ganz eindeutig').. Noch schwieriger ist zu
entscheiden, ob eine Beschleunigung durch direkte Wirkung auf die automatisch
tätigen Elemente oder durch Reizung der intrakardialen Endigung der Beschleuni-
gungsfasern erzeugt wird. Bezüglich der speziellen Wirkung der einzelnen Sub-
stanzen muß auf die Zusammenstellung von Richet (Dict. de Phys. 4, 323 ff., 1900)
und auf die ausgedehnten Untersuchungen von Hedbom am Säugetierherzen-
(Skand. Arch. f. Physiol. 8, 148, 1898 und 9, 1, 1899) verwiesen werden.
Die Reizbarkeit des Herzens.
Rhythmische Kontraktionen bei Dauerreizen.
Hat man einen Abschnitt des Froschherzens (durch Abtrennung vom
Sinus) zum Stillstand gebracht, so reagiert derselbe auf einen konstanten
Dauerreiz — auf den konstanten elektrischen Strom, stärkeren intrakardialen
Druck, chemische Agenzien — mit rhythmischen Kontraktionen.
Schwache konstante Ströme rufen sowohl am ruhenden ganzen Ventrikel als
auch an der Froschherzspitze nur bei der Schließung eine Kontraktion hervor.
Verstärkt man den Strom, so erfolgen nach der Schließung mehrere Kontraktionen,
die um so frequenter sind und um so länger (mit allmählich abnehmender Frequenz)
anhalten, je stärker der Strom ist?). Nach der Öffnung erfolgt beim Froschherzen
nur eine oder höchstens einige wenige Kontraktionen, bei der Herzspitze der Ringel-
natter aber häufig eine ganze Reihe von Pulsationen. Schaltet man in einen
Stromkreis zwei Herzspitzen hintereinander ein, so sind beide in ihrem Rhythmus
ganz unabhängig voneinander®). Die beiden letzten Beobachtungen widerlegen
die Ansicht von Kaiser‘), daß die rhythmischen Kontraktionen des Herzens bei
Durchströmung mit dem konstanten Strom auf Stromesschwankungen beruhen,
welche durch jede Kontraktion erzeugt werden.
Viel leichter als an der Herzspitze werden Pulsationen am ganzen Ventrikel
ausgelöst), was nicht bloß auf die stärkere Verletzung im ersteren Falle, sondern
auf spezifische Unterschiede zurückgeführt werden muß. Daß bei Reizung des
isolierten Vorhofventrikels die Erregung von dem an der Anode liegenden Herzteile
ausgehen soll‘), gilt sicher mindestens nicht für alle Fälle”).
Rhythmische Pulsationen stillstehender Herzteile können ferner durch Er-
höhung des intrakardialen Druckes ausgelöst werden. Solche Versuche sind ins-
besondere an der nach Heidenhain-Bernstein abgeklemmten Spitze des Frosch-
herzens (siehe oben, S. 227, Anm. 5) ausgeführt worden. Bei Abwesenheit äußerer
Reize steht die Spitze still. Steigert man aber durch Kompression der Aorta den
Druck im Ventrikel, so beginnt sie nach einiger Zeit, unabhängig vom Rhythmus
der übrigen Herzteile, rhythmisch zu pulsieren®). Die Pulsationen überdauern die
Drucksteigerung einige Zeit.
!) Auch Versuche am embryonalen, nervenfreien Herzen über diesen Punkt
führten zu keinem eindeutigen Resultat. Pickering (Journ. of Physiol. 18,
478 ff.) beobachtete einen durch Atropin aufhebbaren Muskarinstillstand an Herzen
von Hühnerembryonen erst von einem Alter von 160 bis 200 Stunden ab, bei
Säugetierembryonen dagegen fand er das Muskarin schon in den jüngsten Stadien
wirksam (ebenda 20, 183). Vgl. dagegen Bottazzi, Richets Diet. 4, 268. — ?) Zuerst
beobachtet von Eckhard, Beiträge usw. 1, 153, 1858. Die übrige Literatur voll-
ständig bei Langendorff, Ergebn. d. Physiol. 1 (2), 290, 1902 und Tigerstedt,
8. 161. — ®) Trendelenburg, Pflügers Arch. 82, 268, 1900. — *) Zeitschr. f.
Biol. 30, 279, 1894 und 82, 464, 1895. — °) Foster und Dew Smith, Journ.
of Anat. and Physiol. 10, 746, 1876. — °) Bernstein, Unters. üb. d. Erregungs-
vorgang im Nerven- und Muskelsystem 1871, 8. 216. — 7) Vgl. z. B. Engel-
mann, Pflügers Arch. 52, 621, 1892. — °) Gaskell, Journ. of Physiol. 3, 51, 1880
u. 4, 46, 1883; Aubert, Pflügers Arch. 24, 366, 1881; Ludwig u. Luchsinger,
ebenda 25, 231, 1881.
2
Rhythmische Aktion bei Momentanreizung. 233
Auch durch die Drucksteigerung werden rhythmische Kontraktionen viel
leichter am ganzen, vom Sinus abgetrennten Ventrikel als an der Herzspitze aus-
gelöst. (Gaskell, 1. c.) Hierher gehören vermutlich auch die oben 8.225, Anm.4
zitierten Experimente von Luciani und Gaglio. Langendorff hält die von
ihm unter ähnlichen Verhältnissen beobachteten Kontraktionen für automatische,
weil sie auch nach Wegfall der Drucksteigerung bestehen blieben. Jedenfalls ist
hier eine scharfe Grenze zwischen den durch äußeren Reiz erzeugten und den
automatischen Kontraktionen schwer zu ziehen, weil — nach einem Gedanken von
Gaskell (l. c. 1883, S. 46) — eine geringe Nachhilfe durch einen äußeren Reiz
genügt, um der latenten automatischen Fähigkeit dieser Herzabschnitte zum Durch-
bruch zu verhelfen.
Rhythmische Kontraktionen werden endlich PER durch verschiedene chemische
Reizmittel hervorgerufen, welche auf die äußere Oberfläche der nach Bernstein
abgeklemmten Herzspitze gebracht werden: verdünnte Mineralsäuren, Alkalien, ge-
sättigte Kochsalzlösung, Alkohol, Galle usw.'). Alle diese Substanzen schädigen
gleichzeitig sehr bald die Ventrikelgewebe. Vorübergehend erregend wirken ferner
eine Reihe von Alkaloiden, wenn sie dem durch die Herzspitze zirkulierenden Blute
zugesetzt werden, so: Delphinin*), Chinin®) Atropin*), Akonitin, Veratrin, Helle-
borein, Morphin’). Auch am ganzen Ventrikel lösen Atropin (Gaskell, siehe oben,
S. 225) und Digitalin®) Kontraktionen aus, welche von der Atrioventrikulargrenze
ausgehen. Die Scheidung zwischen chemischer Reizung und Steigerung der Auto-
matie ist hier ganz konventionell. Über die zuerst von Merunowicz beobachteten
periodischen Kontraktionen der Froschherzspitze nach Einführung von mit Na Cl-
Lösung verdünntem Säugetierblut vgl. den ausführlichen Bericht von Tigerstedt
(S. 158 ff.) und oben $. 230.
Rhythmische Aktion des Herzens nach starker Momentanreizung.
Es gibt gewisse Stellen im Herzen, welche schon auf ganz kurz dauernde
äußere Einwirkungen — kurzen starken Druck, einzelne starke Induktions-
ströme oder kurze Tetanisierung — mit einer die Reizung lange über-
dauernden Reihe von Kontraktionen reagieren, deren Frequenz zunächst
zunimmt, dann aber allmählich bis zum völligen Stillstand abnimmt. Eine
solche Stelle ist an der Atrioventrikulargrenze des Froschherzens gelegen.
Mechanischer Druck durch eine Ligatur — die sogenannte zweite Stan-
niussche Ligatur — oder ein Schnitt, Stich oder starke elektrische
Reizung an dieser Stelle löst am sinuslosen Froschherzen die eben beschriebene
Pulsationsreihe aus’). Die Wirkung erfolgt nicht, wie man früher meinte, bei
Reizung der in der Nähe befindlichen Bidderschen Ganglien, sondern, wie
Gaskell®) und Ewald (l. e.) gezeigt haben, bei Reizung der Verbindungs-
muskulatur zwischen Vorhof und Ventrikel (His „Atrioventrikulartrichter“).
Mit mehreren Kontraktionen reagiert ferner auf Momentanreizung der
ganglienfreie Aortenbulbus des Froschherzens®) und auch einige Stellen des
Säugetierventrikels !%). Insbesondere aber kommt dem Venensinus des
Frosches, in geringerem Grade der Sinusvorhofgrenze die Eigenschaft zu,
‘) Langendorff, Du Bois’ Arch. 1884, Suppl. 8. 7; dort auch Literatur. —
”) Bowditch, Sächs. Ber. 23, 682, 1871. — ?) Schtschepotjew, Pflügers Arch.
19, 62, 1879. — *) Löwit, ebenda 25, 447, 1881. — °) Langendorff, l.c. —
‘) Brandenburg, Engelmanns Arch. 1904, Suppl. 8. 213. — 7) Stannius,
Müllers Arch. 1852, 8. 88; H. Munk, Beil. z. Tagebl. d. Naturf.-Vers. zu Speyer,
1861, 8. 46 (zit. nach Tigerstedt, 8. 198) und Du Bois’ Arch. 1878, $. 569;
Marchand, Pflügers Arch. 18, 513, 1878; Ewald, ebenda 91, 21, 1902. —
°) Schäfers Textbook (2), 8. 179. — °) Engekmanpn, ebenda 29, 445,. 1882. —
") Me William (Journ. of Physiol. 9, 179, 185, 1888), auch eigene Beobachtungen.
234 Refraktäre Phase.
auf einen starken Induktionsstrom mit einer langen Reihe sehr frequenter
Kontraktionen zu reagieren!). Die Stellen, welche so reagieren, sind also
in der Regel solche, welche eine ziemlich hoch entwickelte Fähigkeit der
Automatie besitzen. Doch soll nach Langendorff?) gelegentlich auch an
der abgeklemmten Herzspitze des Frosches auf einen kurzen mechanischen
Reiz eine die Reizung überdauernde Pulsreihe folgen (ähnlich wie andeutungs-
weise schon bei Steigerung des intrakardialen Druckes), besonders wenn sie
erwärmt wird und infolgedessen zu anscheinend spontanem Pulsieren neigt
oder sonstwie ihre Erregbarkeit gesteigert wird®). Daß der ganze Ventrikel
durch Dauerreize so viel leichter zu rhythmischem Pulsieren veranlaßt wird
als die abgeschnittene Herzspitze, beruht offenbar auf der Mitreizung der so
leicht zu spontanem Pulsieren anzuregenden Gewebe der Atrioventrikular-
grenze (entweder der Übergangsmuskulatur oder eines hypothetischen Nerven-
netzes — nicht der Ganglienzellen — daselbst).
Rhythmischer Wechsel der Reizbarkeit des Herzens.
Refraktäre Phase.
Der Grund für den rhythmischen Wechsel zwischen Erregung und Ruhe
bei konstanter Dauerreizung des Herzens ist nicht in Schwankungen des
äußeren Reizes, sondern in Änderungen der Reizbarkeit des Herzens zu
suchen. Jeder Herzabschnitt wird nämlich während seiner Systole für äußere
Reize unerregbar — refraktäre Phase —, und erst während der Diastole
kehrt die Reizbarkeit allmählich wieder zur vollen Höhe zurück®t). Ein
refraktäres Stadium zeigt nicht bloß der direkt gereizte, mit dem übrigen
Herzen noch in Zusammenhang stehende Vorhof und Ventrikel des Kalt- und
‘Warmblüterherzens (bei ersterem auch Sinus, Hohlvenen und Aortenbulbus),
sondern auch die isolierte Froschherzspitze >).
Der vorübergehende Verlust der Erregbarkeit bei jeder Erregung, welchen
das Herz übrigens mit dem maximal gereizten quergestreiften und glatten
Muskel und wohl auch mit allen nervösen Elementen teilt (nur ist er hier
meist bedeutend kürzer), wird allgemein als Folge einer anderen Eigenschaft
des Herzens aufgefaßt, nämlich der Besonderheit, auf jeden überhaupt wirk-
!) Lov&n, Mitteil. v. physiol. Labor. Stockholm 4, 16, 1886; Strömberg
u. Tigerstedt, ebenda 5, 43ff., 1888, zit. nach Tigerstedt, $. 199. — ?) Du
Bois’ Arch. 1884, Suppl. 8. 7 u. 39. — °) Die mit Nikotin vergiftete Herzspitze
des Hundes oder Frosches reagiert ebenfalls auf einen Momentanreiz mit mehreren
Kontraktionen (Wertheimer und Colas, Arch. de Physiol. 1891, 8. 344). —
*) Marey, Travaux du lab. 2, 78, 1876, auch abgedruckt in Journ. de l’anat.
et physiol. 1877, p. 60. Die Abhängigkeit der Reizbarkeit vom Reizintervall
hatten vor ihm schon Bowditch (Sächs. Ber. 23, 663, 1871) und Kronecker
(Festschr. f. Ludwig, 1874, 8. 181) beobachtet. Nach Marey (l. ce. 1877, 8. 72) ist
die Reizbarkeit des Herzens während der Systole bloß stark herabgesetzt, nach
Engelmann (Pflügers Arch. 59, 317#ff., 1895) vollständig vernichtet. Das Auf-
treten von Kontraktionen bei Reizung während der Systole in den Versuchen von
Marey beruht nach Engelmann und nach Courtade (Arch. de physiol. 1897,
p. 74) auf Mitreizung benachbarter Teile und sekundärer Zuleitung der Erregung zum
Ventrikel, wie sich aus dem langen Latenzstadium ergibt. — °) Ältere Literatur
bei Tigerstedt, 8. 164 ff. Für Vorhof und Ventrikel des Säugetierherzens ferner
E. Meyer (Arch. de physiol. 1898, p. 184), Langendorff (Pflügers Arch. 61, 317,
1895), Cushny u. Mathews (Journ. of Physiol. 21, 213, 1897).
:
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Änderung der refraktären Phase (Reizbarkeit) des Herzens. 2335
samen Reiz mit einer für den gegebenen Zustand des Herzens maximalen
Kontraktion zu reagieren, also keine untermaximalen Zuckungen zu geben!)
(„der Herzmuskel gibt entweder alles oder nichts“).
Man kann dies so deuten, daß der Herzmuskel bei jeder Kontraktion alles im
Augenblick verfügbare Material zersetzt. Dann wäre es begreiflich, daß er durch
eine zweite Reizung erst dann wieder in Erregung versetzt werden kann, wenn der
verbrauchte Vorrat wieder ersetzt ist. Dem entspräche nach jeder Kontraktion ein
allmähliches Ansteigen der Reizbarkeit und der Leistungsfähigkeit von Null an.
Bezüglich des zeitlichen Verlaufs der refraktären Phase folgert Engel-
mann?) aus seinen Versuchen, daß die Reizbarkeit des normalen blutdurch-
strömten Froschventrikels unmittelbar vor dem Anfang der Systole (im
Stadium der latenten Reizung) ganz schwindet, kurz vor Beginn der Diastole
wieder zurückkehrt und während letzterer und noch geraume Zeit darüber
hinaus ansteigt. Durch Untersuchungen am ausgeschnittenen Herzen mittels
eines Rheotomverfahrens überzeugten sich Walther?) und Trendelen-
burg) davon, daß die Reizbarkeit schließlich einige Zeit konstant bleibt
(abgesehen von ganz allmählichen Schwankungen), so daß es möglich ist, für
einige Zeit konstante Schwellenwerte zu bestimmen. Die so zu bestimmende
Schwelle gibt ein Maß der maximalen Erregbarkeit (des. allgemeinen Erreg-
barkeitszustandes), welche das Herz unter den gegebenen Bedingungen er-
reicht. Von diesem Maximum sinkt die Reizbarkeit während der Systole ab,
und auf dasselbe steigt sie nach der Systole an’). Die Art des Anstieges
(anfangs rascher, später immer langsamer?) ist nicht genau untersucht, nur
der Zeitpunkt, von welchem an die Reizbarkeit gleich bleibt (also Schwellen-
reize zu wirken anfangen), wurde von Walther und Trendelenburg für
einige Versuchsbedingungen festgestellt.
Dieser Punkt fällt am ganz frischen Herzen im allgemeinen hinter den dia-
stolischen Abfall der Kontraktionskurve, rückt aber bei länger dauernder Reizung
des ausgeschnittenen Herzens, sowie besonders nach Muskarinvergiftung und unter
„Ireppenbedingungen“ (siehe unten, $S. 246) immer mehr in die Diastole herein,
durch Atropinvergiftung wird er weiter hinausgerückt (Walther). Variiert man
unter sonst gleichen Versuchsbedingungen lediglich die Kontraktionsdauer (durch
Wechsel der Reizfrequenz), so findet man diesen Punkt in einer festen Beziehung zur
Kontraktionsphase. Je kürzer die Kontraktion, desto kürzer das refraktäre Stadium
(Trendelenburg). Dies gilt nach klinischen Beobachtungen von H. E. Hering‘)
auch für den Menschen. Erwärmung verkürzt, Abkühlung verlängert die refrak-
!) Zuerst gefunden von Bowditch (Sächs. Ber. 23, 687,.1871) und Kron-
ecker (Festschr. f. Ludwig, 1874, S. 173) für das Froschherz, für das Säugetierherz
bestätigt von Me. William (Journ. of Physiol. 9, 169, 1888). Die einzige von
Kronecker beobachtete Ausnahme (Du Bois’ Arch. 1883, S. 265, an mit altem Blut
gefüllten Herzen gaben schwache Reizungen nur etwa halb so hohe Zuckungen
wie starke Reize) beruht vielleicht darauf, daß der Ventrikel bei schwachen Reizen
sich nur partiell zusammenzog? Letzteres mit Sicherheit beobachtet von Engel-
mann am Sinus (Pflügers Arch. 65, 125, 1897). — ?) Pflügers Arch. 59, 312 ff.,
1895. — °) Pflügers Arch. 78, 622, 1900. — *) Engelmanns Arch. 1903, 8. 279. —
°) Nach dem Gesagten wäre zu unterscheiden ein Stadium völliger Unerregbarkeit
und ein darauf folgendes Stadium bloß herabgesetzter Erregbarkeit. Der Ausdruck
„refraktäres Stadium“ wird gewöhnlich gebraucht für die Zeit, innerhalb welcher
ein sonst wirksamer Reiz während der Herzkontraktion unwirksam bleibt: „Die re-
fraktäre Phase ist kürzer für starke als für schwache Reize.“ — °) Pflügers Arch.
89, 283, 1902.
236 Herzperiodik.
täre Phase!). Die Gifte der Digitalisgruppe setzen die Reizbarkeit des Herzens
(nach anfänglicher Erhöhung) herab, was sich ebenfalls in einer Verlängerung der
refraktären Phase für eine wirksame, beliebig gewählte aber konstante Reizstärke
äußert?). Erstickung®) bewirkt ebenfalls anfangs eine Steigerung der Reizbarkeit
und erst ganz spät eine Herabsetzung derselben, Strychninvergiftung setzt die Reiz-
barkeit herab*). Natronsalze verkürzen, Kalisalze verlängern die refraktäre Phase’).
Nach v. Basch°) hinterlassen Reize, welche noch keine Kontraktion aus-
zulösen vermögen, eine Zeitlang eine Steigerung der Reizbarkeit, so daß sie,
obwohl einzeln unwirksam, bei Wiederholung wirksam werden, es gebe also beim
Herzen eine Summation unterschwelliger Reize. Davon zu unterscheiden ist die
Steigerung der Reizbarkeit, welche eintritt, wenn man einen Herzteil nach längerer
Ruhe zum Schlagen veranlaßt. Wenn man nämlich z. B. bei rhythmischer Reizung
des sinuslosen Froschherzens eine längere Pause macht, so sinkt die Reizbarkeit
von dem Maximum, bis zu welchem sie nach der letzten Kontraktion angestiegen
war, während der darauf folgenden Ruhe ganz allmählich wieder ab. Beginnt man
sodann die rhythmische Reizung von neuem, so nimmt die Reizbarkeit nach den
ersten Schlägen zu’) (analog der gleichzeitigen „treppenförmigen“ Zunahme der
Kontraktionshöhen, siehe unten!).
Nach Öhrwall, der diese langsamen Reizbarkeitsschwankungen und ihre
Änderung bei der Erstickung (l. e.) in der Weise genauer studiert hat, daß er für
ein gegebenes konstantes Reizintervall unter verschiedenen Verhältnissen die Schwelle
bestimmt, sind die Vorgänge sogar noch komplizierter. Während im Anfangs-
stadium der Erstickung Ausfall eines Pulses bei mäßig frequenter Schlagfolge eine
Steigerung der Reizbarkeit verursacht, weil ja der Anstieg der Reizbarkeit nach
jeder Erregung die Systole gewöhnlich überdauert, sinkt in späteren Erstickungs-
stadien schon nach dem Aussetzen eines Pulses die Reizbarkeit rasch wieder ab.-
Dauert die Pause länger, so sinkt die Reizbarkeit zunächst noch weiter, steigt
aber dann ganz langsam wieder an. Folgt jetzt eine Gruppe von Kontraktionen,
so steigt die Reizbarkeit nach den ersten Schlägen an, nimmt aber während der
folgenden allmählich wieder etwas ab. Man findet also dann zwei Reizschwellen,
eine niedrigere für das tätige und eine höhere für das ruhende Herz. Im weiteren
Verlauf der Erstickung nähern sich die ‚beiden Schwellenwerte immer mehr, bis
schließlich, im Endstadium der Erstickung, die Schwelle dieselbe bleibt, gleichgültig
ob Pulse vorausgegangen waren oder nicht.
Läßt man in einem künstlich durchströmten Froschherzen die Durchströmungs-
flüssigkeit längere Zeit stagnieren, sö führt der Ventrikel Gruppen von Kontrak-
tionen aus, die durch verschieden lange Ruhepausen voneinander getrennt sind
(„Lucianische Perioden“®), und die einer regelmäßigen Schlagfolge Platz machen,
wenn man die Füllungsflüssigkeit wechselt (Roßbach). Die Erscheinung beruht,
wie zuerst Sokolow und Luchsinger vermuteten, Langendorff und Öhrwall
bewiesen, auf Erstickung, und zwar nach letzterem auf Sauerstoffmangel, nicht auf
Anhäufung von Kohlensäure [übrigens sah Straub (l.c.) auch bei der Kohlensäure-
') Kronecker, Festschr. f. Ludwig, 1874, 8. 179ff.; Marey, 1. c. 1877,
S. 72ff; von Burdon-Sanderson und Page (Joum. of Physiol. 2, 401)
mittels Rheotomverfahren und Schwellenreizen bestätigt. Dazu stimmt freilich gar
nicht die Angabe, daß die Reizbarkeit des Herzens für galvanische Ströme durch
Abkühlung erhöht wird (Gotch und Macdonald, Journ. of ‘Physiol. 20, 290,
1896). — °) Straub, Arch. f. exp. Path. 45, 346, 1901; siehe auch Brandenburg,
Zeitschr. f. klin. Med. 53, 1904. Pletnew, Zeitschr. 2. exp. Path. 1, 80, 1904. —
) Sauerstoffmangel ohne Kohlensäureanhäufung: Öhrwall (Skand. Arch. f. Physiol.
8, 37 f£., 1898). Kohlensäurevergiftung: Straub (Arch. f. exp. Path. 45, 380 ff.). —
*) H.E. Hering, Zentralbl. f. Physiol. 15, 195, 1901. — °) Ringer u. Sainsbury,
Journ. of Physiol. 4, 356 ff., 1883. — °) Wiener Sitzungsber. 79 (3), 37, 1879; vgl.
auch die Kontroverse zwischen v. Basch und Kronecker, Du Bois’ Arch. 1880,
S. 283 ff. — 7) Kronecker, Festschr. f. Ludwig, 1874, 8. 177 ff. — ®) Luciani
(siehe oben 8. 225, Anm. 4); Roßbach (Sächs. Ber. 26, 193, 1874); Sokolow u.
Luchsinger, Pflügers Arch. 23, 294, 1880; Langendorff, Du Bois’ Arch. 1884, Suppl.
8. 108; Öhrwall, ebenda 1893, Suppl. 8. 40, und die beiden eben zit. Abhandlungen.
Nervennetz oder Muskulatur? — Herztetanus. 937
vergiftung Gruppenbildung am Ventrikel]. Nach Öhrwall hängt die Periodik mit
dem eben beschriebenen langsamen Absinken und späteren Wiederansteigen der
Reizbarkeit während längerer Pausen zusammen. Sind schwache Reize vorhanden,
so treten diese beim Wiederansteigen der Reizbarkeit während der Ruhe über die
Schwelle, es beginnt eine Reihe von Kontraktionen. Dabei steigt die Reizbarkeit
anfangs noch weiter, sinkt aber dann wieder ab. Die Herzschläge hören auf, so-
bald die Reizbarkeit so weit gesunken ist, daß die Reize wieder unter der Schwelle
liegen. Vielleicht bestehen ähnliche Verhältnisse auch bezüglich der inneren Herz-
reize, woraus sich dann der Wechsel zwischen spontanen Schlägen und Ruhepausen
erklären ließe (vgl. auch das oben, 8. 233, über die Unterstützung der Automatie
durch schwache Dauerreize Gesagte!) |
Nach dem Gesagten würde man sich also das Zustandekommen einer
rhythmischen Schlagfolge bei konstanter Dauerreizung des Herzens so zu
denken haben, daß während jeder Systole der Reiz unwirksam wird und erst
gegen Ende der Diastole, sobald die Reizbarkeit wieder genügend angestiegen
ist, über die Schwelle tritt und eine neue Erregung auslöst. Je stärker der
Dauerreiz ist, desto früher wird er nach jeder Systole wieder wirksam werden,
desto frequenter wird also das Schlagtempo sein. Die Fähigkeit, auf den
konstanten Reiz mit rhythmischen Erregungen zu reagieren, wird ziemlich
allgemein dem Herzmuskel zugeschrieben. Diese Annahme ist um so wahr-
scheinlicher, als auch der quergestreifte Skelettmuskel eine refraktäre Phase
besitzt und auf Dauerreize (den konstanten Strom) mit rhythmischen Er-
regungen zu reagieren vermag!).
Wenn man die refraktäre Phase im Herzen auch wieder (wie die Automatie)
auf spezifische Eigenschaften eines Nervennetzes zurückführen wollte”), so bliebe
. wohl nichts anderes übrig, als entweder die direkte Reizbarkeit des Herzmuskels
überhaupt zu leugnen (weil man sonst bei Reizung während der refraktären Periode des
Nervennetzes doch den Erfolg der direkten Muskelreizung beobachten müßte ?), oder
wenigstens mit Schiff‘) anzunehmen, daß die direkte Muskelreizung nur zu einer
lokalen „idiomuskulären“ Kontraktion führt, die nicht fortgeleitet wird, während
eine geordnete Kontraktion eines ganzen Herzteils bloß durch Reizung des Nerven-
netzes zustande kommen könne. Dem gegenüber hat Langendorff°) betont, daß
die isolierte Herzspitze durch Substanzen zum Schlagen gebracht wird, welche am
Nervmuskelpräparat den Nerven nicht reizen (Ammoniak, Kalkwasser, verdünnte
Mineralsäuren), während Nervenreize (Glycerin) unwirksam sind; daß ferner die
nach Bernstein abgeklemmte Herzspitze noch wochenlang reizbar bleibt, wenn
ihre Nervennetze wohl schon degeneriert sein müßten‘). Dem galvanischen Strome
gegenüber soll sich die Reizbarkeit des Herzens wie die des Nerven verhalten’).
Nach Versuchen am Darm hat neuerdings Magnus®) eine- dritte Meinung aus-
gesprochen, nämlich „daß durch das Funktionieren“ nervöser „Zentren die
Muskeln selbst’) refraktär werden können“, während andererseits auch die
hypothetischen Zentren funktionell vom Zustande der Muskulatur abhängig
sein sollen.
Herztetanus.
In ähnlicher Weise wie konstante Reizung wirkt Tetanisierung des Herzens
mit Induktionsströmen. Jene Reize, welche in die refraktäre Phase hineinfallen,
bleiben unwirksam — soweit sie nicht (nach v. Basch) gegen Ende derselben die
‘) 8. Garten, Abhandl. sächs. Ges. d. Wiss. 26, 331, 1901; Buchanan, Journ.
of Physiol. 27, 95, 1901. — ?) v. Cyon, Pflügers Arch. 88, 277 ff., 1902; Bethe,
Allgem. Anat. u. Physiol. d. Nervensystems, $. 456, 1903. — °) Vgl. dazu auch Hof-
mann, Pflügers Arch. 72, 431 ff., 1898. — *) Arch. f. physiol. Heilk. 1850, 8.68, 70. —
°) Ergebn. d. Physiol. 1 (2), 283#f., 1902. — °) Bethe (l. c. 8. 109) ist freilich
der Meinung, daß diese Nerven überhaupt nicht degenerieren. — 7) Gotch u. Mac-
donald, 1. c. — ®) Pflügers Arch. 103, 539 ff., 1904. — °) Von mir gesperrt gedruckt.
2338 | Kardiotonus. — Lokale Reizwirkungen.
Erregbarkeit vorübergehend steigern. Der erste Reiz, welcher über die Schwelle
tritt, löst eine neue Kontraktion aus und vernichtet von neuem die Reizbarkeit des
Herzens. Auch durch Tetanisieren kann man also eine rhythmische Schlagfolge
auslösen, nur pflegt diese nicht lange anzuhalten, vermutlich wegen deletärer Neben-
wirkungen der Ströme. (Bei starken Reizungen tritt leicht Flimmern, Wühlen und
Wogen ein, vgl. die nächste Seite.) Da die refraktäre Phase in der Norm bis gegen
Ende der Diastole hin anhält und dann auch noch die Leistungsfähigkeit des Her-
zens zunächst beträchtlich herabgesetzt ist (siehe den folgenden Abschnitt!), so kann
am normalen Herzen auch bei rasch aufeinander folgenden Reizungen keine Super-
position der Zuckungen und kein Tetanus, wie am Skelettmuskel, zustande kommen').
Dies wird aber der Fall sein, wenn die refraktäre Periode durch irgend welche Ein-
flüsse verkürzt wird und zu gleicher Zeit die Leistungsfähigkeit nach jeder Erregung
rasch ansteigt”). — Die Bedingungen für Superposition und Tetanus sind vorhanden
am Froschherzen bei Erwärmung der Durchströmungsflüssigkeit von 0° auf 40° 0°),
bei hohem Gehalt der Durchströmungsflüssigkeit an Natrium- oder Caleiumsalzen *),
Zusatz von Alkohol zu derselben ’°), insbesondere aber bei gleichzeitiger Tetanisierung
des Vagus und des Herzens°), sowie nach Muskarinvergiftung und unter „Treppen-
bedingungen“ (Walther); am Katzenherzen bei starker Abkühlung’). Besonders
leicht erhält man ferner Tetanus am Ürustaceen- und am embryonalen Herzen.
(Literatur bei Walther.)
Kardiotonus.
Von dem durch Superposition der einzelnen Zuckungen charakterisierten echten
Tetanus muß man jene dauernden Zusammenziehungen des Herzmuskels unter-
scheiden, welche durch „Wühlen und Wogen“ bei sehr starken Reizungen’ entstehen,
sowie jene anhaltenden „kardiotonischen“ Zusammenziehungen der Herzwand,
welche auftreten bei plötzlicher starker Dehnung derselben ®), durch Gifte?) (Anti-
arin, Digitalin, Veratrin), bei Durchströmung mit alkalischen Flüssigkeiten !°) usf.
Lokale Reizwirkungen.
Der konstante Strom erzeugt am Froschventrikel eine (dem kathodischen Wulst
am Skelettmuskel analoge) lokale Dauerverkürzung an der Kathode, die sich bei
stärkeren Strömen auf größere Partien erstrecken kann, an der Anode dagegen eine
Erregungshemmung, welche am blutgefüllten Froschherzen durch eine Vorwölbung
der erschlafften anodischen Stelle während der Systole des übrigen Ventrikels kennt-
lich macht, und die sich von der anodischen Stelle aus anscheinend langsam über
den ganzen Ventrikel verbreitet!!). Mechanische Reizung (ev. bloße Berührung)
einer Stelle des Froschventrikels während der Systole setzt ebenfalls eine lokale
Erschlaffung, die am atropinisierten Herzen nicht auftritt'”). Stärkere mechanische
Reizung (ähnlich auch sehr starke Tetanisierung oder Betupfung mit Säure) übt
eine auf mehrere Systolen sich erstreckende Nachwirkung aus, die sich in einer
Verkürzung der Systole und vorzeitiger Erschlaffung der gereizten Stelle äußert '?).
Während der Diastole ist die Muskulatur dieser Stelle schwach kontrahiert (lokale
„Schrumpfung‘*).
!) Die Annahme von Fredericg, daß die normale Systole ein Tetanus sei, ist
unhaltbar (siehe Kapitel „Kreislauf“). — *) Am genauesten untersucht von Walther
(Pfliügers Arch. 78, 597, 1898), dort auch eine kritische Übersicht der gesamten
Literatur. — °) v. Cyon, Sächs. Ber. 18, 297, 1866; Aristow, Du Bois’ Arch,
1879, 8. 198. — *) Ringer, Journ. of Physiol. 4, 29, 1883; Ringer u. Sains-
bury, ebenda, 8. 350. — °) Roy, ebenda 1, 452, 1878. — °) Rouget, Arch. de
Physiol. 1894, p. 397; O. Frank, Zeitschr. f. Biol. 38, 300, 1899; Walther, 1. c. —
7) Langendorff,-Pflügers Arch, 61, 316, 1895. — °) Goltz, Virchows Arch. 23,
490 ff., 1862; Frank, Zeitschr. f. Biol. 32, 389, 1895. — °) Roy, l. ce. 8. 477. —
10%) Gaskell, Journ. of Physiol. 3, 53, 1880. — '') Biedermann, Wiener Sitzungsber,
89 (3), 47, 1884. — ") Schiff, Arch. f. physiol. Heilk. 9, 251, 1850; Roßbach,
Pflügers Arch. 25, 181, 1881; 27, 197, 1882; Aubert, ebenda 24, 358, 1881. —
13) Nach meinen Beobachtungen bewirkt auch die Anode des konstanten Stromes
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Flimmern. 239
Flimmern; Wühlen und Wogen.
Tetanisieren des Herzens mit sehr starken Strömen‘), Reizung mit starkem
konstanten Strom*), starke mechanische oder thermische Reizung®) erzeugen am
Warmblüterherzen eine frequente ungleichzeitige Kontraktion der verschiedenen
Muskelbündel, fibrilläres „Flimmern“, welches die Reizung, wenn sie sehr stark ist
oder wenn sie wiederholt wird, überdauert und dann ev., wenn nicht eine der
unten angeführten Gegenmaßnahmen angewandt wird, bis zum Absterben bestehen
bleibt. Vor dem Versuche, das (z. B. unter Chloroformwirkung) stillstehende mensch-
liche Herz durch elektrische Reizung wieder zum Schlagen veranlassen zu wollen,
wird deshalb gewarnt‘), Am abgekühlten Warmblüterherzen tritt ebenso wie an
dem in mittlerer Temperatur befindlichen Kaltblüterherzen statt des ungemein
raschen Flimmerns ein langsameres, peristaltisches Wühlen und Wogen auf. Das
stark erwärmte Kaltblüterherz flimmert ebenfalls. „Flimmern“ und „Wühlen
und Wogen“ sind also nicht prinzipiell voneinander verschieden’).
Das Flimmern läßt sich beseitigen, wenn man die Reizbarkeit des Herzens
durch vorsichtige Abkühlung‘) oder Absperrung der Blutzufuhr (bei künstlich
durchströmten ausgeschnittenen Herzen durch Abstellung der Durchströmung’)
herabsetzt, wenn man (bei Hunden) sehr viel Chloralhydrat intravenös injiziert
(Gley, 1. c.) oder der Durchströmungsflüssigkeit Chlorkalium zusetzt®), das Herz
massiert [bei Kaninchen] °) oder möglichst bald Wechselströme sehr hoher Spannung
(z. B. 4800 Volt) auf das ganze Tier, bzw. Wechselströme von 240 Volt oder sehr
starke Einzelschläge auf das freigelegte Herz einwirken läßt!‘). Die Herzen ver-
schiedener Säuger verhalten sich hierin verschieden. Verhältnismäßig leicht (auch
schon spontan) erholen sich Herzen von Föten oder neugeborenen Tieren, am
schwierigsten das Herz erwachsener Hunde, doch gelingt es auch hier, Erholung
herbeizuführen '').
. Auch der Vorhof kann durch starkes Tetanisieren zum Flimmern gebracht
werden '?). Zerschneidet man den Ventrikel in einen zickzackförmigen Streifen, so kann
sich das Flimmern bei Reizung eines Endes bis an das andere darin fortpflanzen
(Me. William, 1. c. 8. 298). Das Flimmern des Ventrikels pflanzt sich jedoch selten
auf die Vorhöfe und das der Vorhöfe nicht auf die Kammer fort (Vulpian, l.c.).
Daß die abgeschnittene Herzspitze durch elektrische Ströme viel schwerer
zum Flimmern gebracht wird als der ganze Ventrikel, bezieht Langendorff'?)
auf die Anwesenheit von Ganglienzellen im ganzen Ventrikel, doch ist es wahr-
scheinlicher (nach Analogie der-oben, 8. 233 ff., erwähnten Unterschiede zwischen
Spitze und Basis des Froschherzens) durch das Vorhandensein leichter erregbarer
Muskelpartien an der Ventrikelbasis bedingt. Diese Partien liegen nach den Unter-
nicht immer eine vollständige Aufhebung, sondern manchmal bloß eine sehr starke
lokale Abschwächung und Verkürzung der Systole (ganz ähnlich wie eine negativ.
inotrope Vaguswirkung, siehe diese!).
!) Ludwig u. Hoffa, Zeitschr. f. rat. Med. 9, 128#ff., 1849 und andere. —
?®) 8. Mayer, Wiener Sitzungsber. 68 (3), 80, 1873 und andere. — ®) Mc. William,
Journ. of Physiol. 8, 304, 1887; Kronecker, Compt. rend. Soc. de Biol. 1891, p. 258;
Langendorff, Pflügers Arch. 61, 314, 1895. — *) Vgl. Tigerstedt, 8. 221. —
®) Langendorff, Pflügers Arch. 66, 395, 1897; Bätke, ebenda 71, 412, 1898. —
°) Me. William, 1. ce. p. 304; Gley, Arch. de physiol. 1891, 8. 742. — 7”) Langen-
dorff, Pflügers Arch. 61, 319, 1895. — °) H. E. Hering, Zentralbl. f. Physiol. 17,
3, 1903. Nach Guttmann, Virchows Arch. 35, 465, Anm.; Aubert u. Dehn,
Pflügers Arch. 9, 122, 1874; Me. William, Journ. of Physiol. 8, 306, 1837, bewirken
Kalisalze in tödlicher Dosis übrigens selbst Flimmern, bzw. Wühlen und Wogen. —
®?) Zuerst wohl von Bezold, Unters. a. d. Würzburger Labor. 1, 285 ff., 1867. —
") Prevost u. Battelli, Journ. de physiol. 1899, p. 432; 1900, p. 40, 448. —
") Vgl. Me. William, H. E. Hering, l.c. Porter (Americ. Journ. Physiol. 1,
71, 1898) führte die Erholung des flimmernden Hundeherzens durch Durchströmung
mit warmem Hundeblut herbei, nach vorheriger Abkühlung des Herzens. — '?) Vul-
pian, Arch. de physiol. 1874, p. 976. — '?) Pflügers Arch. 70, 282ff., 1893.
240 Flimmern.
suchungen von Langendorff in der Tiefe (l. c. 8. 287). Es ist wahrscheinlich,
daß durch den Kroneckerschen Herzstich — Einstich in das “Ventrikelseptum
an der unteren Grenze des oberen Drittels desselben führt insbesondere am Hunde-
herzen zum Flimmern ') — solehe hocherregbare Elemente gereizt werden.
Das Flimmern ließe sich erklären, wenn man berücksichtigt, daß durch eine
sehr starke Reizung alle Muskelbündel zu maximal frequentem Schlagen gebracht
werden. Da die einzelnen Muskelbündel unter gewissen Umständen nachweisbar
eine individuell verschieden hohe Erregbarkeit besitzen (bei den einen das Re-
fraktärstadium länger dauert als bei den anderen), so wird ihre maximale Schlag-
frequenz individuell verschieden sein, sie werden sich ungleichzeitig kontrahieren ?).
Werden bei der Reizung Elemente mit betroffen, welche die Eigenschaft besitzen,
einen kurzdauernden Reiz mit anhaltenden rhythmischen Erregungen zu beant-
worten (siehe 8. 233), so kann das Flimmern die Reizung überdauern.
Flimmern tritt ferner sehr häufig auf nach Unterbindung oder Abklemmung
der Koronararterien und ihrer Hauptäste®). Die Erklärung ist hier durchaus strittig.
Während die Entdecker dieses Flimmern direkt oder indirekt auf die dadurch er-
zeugte Anämie der Herzwand bezogen, erklärten es Tigerstedt*) und M.v. Frey’)
durch Nebenverletzungen bei der Operation. Dagegen wird angeführt, daß auch
Verstopfung der Koronararterien mittels Glasstabes°) oder Einspritzung von Lyko-
podium’) oder Paraffin®) oder auch Ersatz des Sauerstoffs im Blut durch Kohlen-
oxyd denselben Symptomenkomplex (Stillstand mit nachfolgendem Flimmern)
herbeiführt. Am ausgeschnittenen, künstlich von der Aorta aus durchströmten
Katzenherzen vermochte aber Langendorff’) durch Absperrung der Durch-
strömungsflüssigkeit Flimmern nicht zu erzielen, ebensowenig sah Magnus'’) nach
Verdrängung des Blutes aus den Koronararterien durch indifferente Gase (Wasser-
stoff) Flimmern auftreten, wohl aber beim Durchtreiben von Kohlensäure. Es kann
also doch nicht die Anämie an sich das Flimmern verursachen, sondern irgend ein
unbekannter Nebenumstand. Cohnheim dachte an die Erzeugung eines giftigen
Stoffwechselproduktes, weil das Flimmern erst einige Zeit nach der Absperrung des
Blutes auftrat. Am wahrscheinlichsten bleibt aber trotzdem, daß das Flimmern
durch eine unbeabsichtigte Reizung beim Verstopfen der Koronararterien bedingt ist
(vgl. die Kritik bei Langendorff, 1. c.).
Die zuletzt genannten Experimente schließen nun auch die Deutung aus, welche
Kronecker (l. e. 8. 558) dem zum Flimmern führenden Stich in die Kammer-
scheidewand zuletzt gab. Während er früher annahm, daß dadurch ein Koordi-
nationszentrum gelähmt werde (wogegen sich schon Me. William 1. c. und
Porter!!) gewandt hatten), meinte er später, daß durch den Stich vasomotorische
Nerven für die Koronararterien gereizt würden, und führte das Flimmern auf die
hierdurch erzeugte Anämie der Herzwand zurück. Vielleicht handelt es sich um
Dauererregung irgend welcher hoch erregbarer Gebilde (vgl. oben).
Über die Beschaffenheit der normalen „inneren“ Herzreize.
Die Eigenschaft des Herzmuskels, auf Dauerreize mit rhythmischen
Kontraktionen zu reagieren, legt aber auch die Fragen nahe:
) Kronecker u. Schmey, Berl. Sitzungsber. 1884, 8.87. — ?) Trendelen-
burg, Engelmanns Arch. 1903, 8. 304. Ganz die gleichen individuellen Verschieden-
heiten nebeneinanderliegender Elemente beobachtet man auch beim Nervmuskel-
präparat, dessen einzelne Elemente z. B. bei der Ermüdung ebenfalls in ungleich
frequente Erregung geraten. — °) A. v. Bezold, Unters. physiol. Labor. Würzburg
1, 256, 1867; Cohnheim u. Schulthes-Rechberg, Virchows Arch. 85, 503, 1881.
— *) Skand. Arch. f. Physiol. 2, 394, 1890; Kreislauf, 8. 192. Hier Literatur. —
5) Zeitschr. f. klin. Med. 25, 158, 1894. Ausführliche Literatur. — °) Porter,
Zentralbl. f. Physiol. 9, 481 u. 645. — °) S6e, Bochefontaine u. Roussy,
Compt. rend. 92, 88, 1881; Porter, 1. c. — °) Kronecker, Zeitschr. f. Biol. 34,
551, 1896. — °) Pflügers Arch. 70, 289#f., 1898. — '°) Arch. f. exp. Path. 47, 200,
1902. — !!) Pflügers Arch. 55, 366, 1893.
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Erhaltung der physiologischen Reizperiode. 241
1. Ob der natürliche „Ursprungsreiz“ der Herzaktion im Sinusgebiet ein
Dauerreiz oder .ein rhythmischer ist.
2. Ob dem Vorhof und Ventrikel vom Sinus (bzw. den Einmündungs-
stellen der Venen) her dauernd „Leitungsreize“!) zugeleitet werden oder
rhythmisch entsprechend der jedesmaligen Sinuserregung.
Die zweite Frage hat zuerst Gaskell vermittelst der oben, 8. 228, zitierten
Erwärmungsversuche so beantwortet: Da isolierte Erwärmung des Frosch-
ventrikels, trotz deutlicher Wirkung auf die Stärke seiner Kontraktionen, keine
Zunahme seiner Schlagfrequenz bewirkt, diese vielmehr nach wie vor mit
der des Sinus übereinstimmt, so kann der Leitungsreiz kein kontinuierlicher,
sondern nur ein rhythmischer, von den Erregungen des Sinus abhängiger
sein. Im gleichen Sinne spricht?) die Erfahrung, daß am absterbenden
Herzen oder nach gewissen Vergiftungen®), bei welchen das refraktäre
Stadium für eine bestimmte Reizstärke sich allmählich verlängert, der Ven-
trikel zunächst nach jeder Vorhofskontraktion sich zusammenzieht, von einem
gewissen Punkte ab, sobald nämlich die refraktäre Periode für den Leitungs-
reiz länger geworden ist, als das Intervall zwischen zwei Vorhofskontraktionen,
aber nur nach jeder zweiten. Wirkte der Leitungsreiz kontinuierlich ein,
so müßte entsprechend der allmählichen Verlängerung der refraktären Phase
auch die Frequenzabnahme des Ventrikels allmählich — nicht sprunghaft —
erfolgen. Dabei zeigt sich außerdem, daß der Ventrikel dem natürlichen
Leitungsreiz gegenüber sich ganz so verhält wie gegen (nicht allzu starke)
künstliche rhythmische Reize, was übrigens auch in anderer Beziehung durch
mehrere Untersuchungen sichergestellt wurde ®).
Durch die Annahme rhythmischer, vom Sinus über die Vorhöfe zum
Ventrikel fortgeleiteter Erregungsimpulse erklärt sich ferner folgende Beob-
achtung: Schaltett man in Fig. 26.
die regelmäßige rhythmische
Schlagfolge des Ventrikels
eines normalen Frosch- oder
Säugetierherzens durch ein-
malige starke Momentan-
AORMDE desselben während a, b, d, e, f spontane Ventrikelkontraktionen; ce Extrasystole
der Diastole eine vorzeitige des Ventrikels nach Reizung mit einem einzelnen Induktions-
h K : strom. Vor den spontanen Kontraktionen (bes. vor d) sieht
Kontraktion ein —- eine SO- manin der Kurve einen schwachen Vorschlag, welcher durch
genannte Extrasystole ne, die vorhergehende Vorhofsystole erzeugt ist.
fällt die natürliche Systole, welche unmittelbar darauf folgen sollte, aus,
und erst nach einer längeren Pause — gewöhnlich als kompensatorische
Pause bezeichnet’) — erfolgt wieder eine Kontraktion. Die Gesamtdauer
a b ce d e f
!) Über die Begriffe „Ursprungsreiz“ und „Leitungsreiz“ vgl. H. E. Hering,
Pflügers Arch. 92, 392, 1902. — ?) Vgl. Engelmann, Deutsche Klinik 4, 244,
1903. — ®) Digitalin: Straub, Arch. f. exp. Path. 45, 346, 1901; Brandenburg,
Zeitschr. £. klin. Med. 53 (1904). Carpain: Alcock u. H. Meyer, Engelmanns
Arch. 1903, 8. 225. Kohlensäure: Straub, Arch. f. exp. Path. 45, 380, 1901. —
*) Mc. William, Journ. of. Physiol. 6, 192, 1885; F. B. Hofmann, Pflügers Arch.
72, 409, 1898, hier auch die übrige Literatur. Weitere Überlegungen über die ver-
gleichsweise Stärke und Dauer des Leitungsreizes bei v. Kries, Engelmanns Arch.
1902, S. 489; Alcock u. Meyer, l.c. 8. 232. — °) Marey, Travaux du labor.
1876, p. 74; auch Journ. de l’Anat. et de la physiol. 1877, p. 70.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 16
2423 Fehlen der kompensatorischen Pause im Sinusgebiet.
der letzten (durch die einfallende Extrasystole abgekürzten) spontanen Ventrikel-
periode!) und der darauf folgenden Extrasystöle samt kompensatorischer Pause
ist (bis auf geringe Bruchteile einer Sekunde) gleich der Dauer zweier
spontaner Ventrikelperioden (be + cd ziemlich gleich 2a b in Fig. 26).
Schaltet man statt einer mehrere Extrasystolen hintereinander ein, so
beträgt die Zeit vom Anfang der letzten spontanen Systole vor bis zum Beginn
der ersten spontanen Systole nach der Reizung immer ein gerades Vielfaches der
normalen Periodendauer: Engelmanns Gesetz der Erhaltung der physio-
logischen Reizperiode?). Dies gilt beim Froschherzen auch für den Vorhof.
Die Erklärung dafür ist nach Engelmann folgende: Vom Vorhof aus
werden dem Ventrikel Leitungsreize nur rhythmisch, nach jeder Vorhofs-
erregung einer, zugeleitet (in Fig. 26 durch schräge punktierte Pfeile an-
gedeutet). Schaltet man eine vorzeitige Extrasystole ein, so trifft der nächste
Leitungsreiz in der refraktären Phase der Extrasystole ein, vermag also den
Ventrikel nicht zu erregen. Erst die zweitnächste Erregungswelle vom Vor-
hofe löst wieder eine Ventrikelsystole aus. Setzt man .durch Abkühlung des
Sinus das Schlagtempo des Herzens herab, so vermag man zwischen die
natürliche Schlagfolge des Ventrikels Extrasystolen einzuschalten, ohne daß
darauf eine kompensatorische Pause folgt, weil dann die einzelnen Leitungs-
reize so weit auseinander liegen, daß die refraktäre Periode der Extrasystole
schon vorüber ist, wenn der nächste Leitungsreiz eintrifft).
Mit der Veränderung der Intervalle zwischen den einzelnen Kontraktionen ist
natürlich auch eine Änderung der Kontraktionsgröße verknüpft (vgl. unten, 8. 246).
Die Extrasystole ist, da sie früher eintritt als die natürliche Systole, niedriger als
letztere und läuft rascher ab. Die erste Systole nach der kompensatorischen Pause
ist höher als die Systolen in der gleichmäßigen Reihe und dauert zugleich etwas
länger. Infolge dessen ist die darauf folgende zweite natürliche Systole event.
wieder etwas kleiner als die der gleichmäßigen Reihe *).
Anders als Vorhof und Ventrikel des Froschherzens verhält sich der
Sinus. Hier wird nämlich nach Extrareizung niemals eine echte kompen-
satorische Pause beobachtet. Erfolgt die Extrareizung nicht allzu frühzeitig
nach einer spontanen Systole, so ist die Dauer einer Extraperiode (Zeit vom
Beginn der Extrasystole bis zum Beginn der nächsten spontanen Systole)
gleich der einer normalen Periode).
Setzt die Extrasystole sehr frühzeitig nach einer spontanen Systole ein, so ist
allerdings häufig eine geringe Verlängerung der Extraperiode nachweisbar, gleich-
viel ob die Extrasystole durch direkte Sinusreizung ausgelöst wurde oder durch
Zuleitung der Erregung von anderen Herzteilen her‘°).
’) Unter einer Ventrikelperiode versteht man die Summe von einer Systole,
Diastole und Pause, ihre Dauer entspricht also der Zeit, welche vom Beginn einer
Systole bis zum Anfange der nächsten verstreicht. — ?°) Pflügers Arch. 59, 333,
1894. Für den Ventrikel des Warmblüterherzens bestätigt von Cushny u. Ma-
thews (Journ. of Phys. 21, 221, 1897) und H. E. Hering (Pflügers Arch. 82,
425, 1900). — °) Trendelenburg, Engelmanns Arch. 1903, 8. 311. Fehlen der
kompensatorischen Pause bei ventrikulären Extrasystolen am selten schlagenden
menschlichen Herzen beschrieb Pan (Deutsch. Arch. £. klin. Med. 78, 128, 1903). —
*) Langendorff, Pflügers Arch. 70, 473 (hier die Literatur). Siehe auch Hof-
mann, ebenda 84, 148 ff., 1901. — °) Engelmann, ebenda 65, 137 ff., 1897. —
°) Darüber und über einige andere kleine Abweichungen siehe Engelmann, 1. c.
8. 145ff. Beachtenswert sind besonders lange anhaltende Nachwirkungen ganz
starker Reizungen (Hemmungen oder Beschleunigungen), die auch an atropinisierten
ee; hi
5 r v
E
-d
Ansichten über den „inneren Herzreiz“. 943
Am Vorhofe des Säugetierherzens folgt auf Extrasystolen zwar eine
Pausenverlängerung nach Art einer kompensatorischen, doch ist die Summe der
Extraperiode und der letzten (abgekürzten) spontanen Periode sehr oft kleiner als
das Doppelte zweier normaler Perioden‘). Fällt nämlich die Extrasystole so früh-
zeitig nach der spontanen Systole, daß sie sich noch rückläufig bis zu den Venen
fortpflanzen und auch dort eine vorzeitige Extrasystole auslösen kann, so kommt
wegen des Fehlens der kompensatorischen Pause im Sinusgebiet die nächste darauf
folgende spontane Systole der Venen um ebensoviel früher zustande, als durch die
Extrasystole die letzte spontane Periode verkürzt wurde. Die nächste Erregungs-
'welle geht also vom Sinusgebiet etwas früher aus als gewöhnlich. Daß sich die
Extrasystolen des Vorhofes im Warmblüterherzen so viel leichter rückläufig gegen
die Venen zu fortpflanzen als im Froschherzen, beruht wahrscheinlich darauf, daß
in letzterem die Erregung zunächst auf den Sinus und von diesem erst auf die
wahrscheinlich zuerst sich kontrahierenden Venen übergehen kann, während im
Warmblüterherzen der „Sinus“ mit dem Vorhof verschmolzen ist ?).
Ebensowenig wie am Sinus tritt eine echte kompensatorische Pause an
einem Froschherzventrikel auf, der durch einen konstanten Reiz zu rhyth-
mischem Schlagen gebracht wird und in dessen Schlagfolge eine Extrasystole
eingeschaltet wird®). Daraus folgt, daß vermutlich auch der unbekannte, die
rhythmischen Erregungen auslösende „innere Ursprungsreiz“ der Herzaktion
im Sinus nach Art eines konstanten Dauerreizes wirkt.
Dies ist aber nicht die einzige Erklärungsmöglichkeit, denn es könnte auch
sein, daß der innere Herzreiz nach jeder Systole neu erzeugt würde). Nach Loeb
und seinen Schülern ist der innere zur spontanen Schlagfolge führende Reiz im
Gehalt des Blutes und der Gewebsflüssigkeit an Na-Ionen zu suchen (siehe oben,
S. 230). Den die Automatie fördernden Na-Ionen wirken die hemmenden Ca- und
K-Ionen entgegen. Das Verhältnis der Na- und Ca-Ionen im Blut genügt, um ge-
rade bloß den Sinus zu, erregen; steigert man den Gehalt an Na-Ionen, so verfällt
auch der Ventrikel, ja selbst der Skelettmuskel in rhythmische Zuckungen. Selbst
wenn diese Tatsachen alle richtig wären (sie werden zum Teil bestritten, siehe
oben), so wäre es immer noch möglich, daß nicht die Na-Ionen selbst den Herzreiz
darstellen, sondern daß sie bloß die Reizbarkeit des Herzmuskels so weit steigern,
daß die inneren Herzreize wirksam werden’). Dann bliebe noch Raum für die
Ansicht Langendorffs‘), daß der innere Herzreiz durch die eigenen Stoffwechsel-
oder stark kuraresierten Herzen auftreten können, also wohl auf eine direkte
Muskelreizung bezogen werden müssen. Bezüglich der Beschleunigungen vgl. oben,
8. 233. Analoge Hemmungen, vermutlich durch direkte Muskelreizung, sah am Frosch-
herzen schon Dastre (Journ. de l’Anat. et de la Physiol. 1882, p. 463). Langen-
dorff (Du Bois’ Arch. 1885, S. 285) wies zuerst nach, daß sie auch an atropini-
sierten Herzen auftreten können, und auch F. B. Hofmann (Schmidts Jahrb. 281,
117, 1904) bezog eine ähnliche Hemmungswirkung bei Reizung der Atrioventrikular-
grenze des spontan schlagenden Froschventrikels auf direkte Muskelreizung.
!) Cushny u. Mathews, H. E. Hering, l. c. — ?) Wenckebach, Engel-
manns Arch. 1903, 8. 57. — ®) Engelmann, Pflügers Arch. 59, 328, 1895. Kaiser
(Zeitschr. f. Biol. 32, 457, 1895) gab zwar an, daß am isolierten Ventrikel bei
chemischer Reizung der Basis oder automatischer Tätigkeit ebenfalls eine echte
kompensatorische Pause nach Extrareizungen auftritt, doch sind die Erregungen in
seinen Fällen wohl vom Vorhofsrest und dem Atrioventrikulartrichter aus dem
Ventrikel rhythmisch zugeleitet worden (vgl. die Kritik bei Muskens, Pflügers
Arch. 66, 334, 1897; ferner Woodworth, Amer. Journ. of Physiol. 8, 237 ff.,
1902). — *) Das ist die Ansicht von Engelmann (Pflügers Arch. 65, 142, 1897;
Deutsche Klinik 4, 227, 1903). — °) Am Skelettmuskel steigern Na-Salzlösungen die
Reizbarkeit enorm (vgl. Biedermann, Elektrophysiologie 1, 89#f., 1895). Loeb
dagegen (Festschr. f. Fick, 8. 99) gibt freilich an, daß eine automatische Tätigkeit
auch ohne Steigerung der Reizbarkeit angeregt werden kann. — °) Ergebn. d.
Physiol. 1 (2), 324, 1902.
16*
244 Ansichten über den „inneren Herzreiz“.
produkte des Herzens gebildet wird. Dies widerspricht allerdings wieder der Mei-
nung Engelmanns, daß die Reizerzeugung während der Systole, ‘also während der
Periode gesteigerter Bildung von Stoffwechselendprodukten, unterdrückt ist!). Etwas
irgendwie Sicheres läßt sich also heute darüber noch nicht aussagen.
Wie nun ein stetig wirkender Reiz zu rhythmischer Tätigkeit führen kann,
hat: man sich im Anschluß an Rosenthal?) vielfach an mechanischen Modellen
klar gemacht®). Diese zeigen „alle das Eigentümliche, daß die stetige Wirkung
einen Widerstand findet, welchen sie zuerst überwinden muß, um’sich bemerklich
zu machen“. (Rosenthal, l.c. 8. 242.) Da es sich indessen bei den Vorgängen
der Muskel- und Nervenerregung im Grunde um Stoffwechselprozesse, also um
chemische Vorgänge handelt, würde man beim Suchen nach Analogien jetzt wohl
eher an die Gesetze des chemischen Reaktionsverlaufs und des Gleichgewichts in
chemischen Systemen denken.
Eine auch auf das Herz anwendbare Hypothese über die Stoffwechselvorgänge
bietet nun die bekannte, auf eine breite Beobachtungsbasis an vielen anderen erreg-
baren Gebilden Heringsche Theorie der Vorgänge in der lebenden Substanz *).
Hering nimmt bekanntlich an, daß in jedem kleinsten Teilchen der lebenden Sub-
stanz Aufbau und Zersetzung, Assimilierung (A) und Dissimilierung (D) (oder, wie
Gaskell es nannte, anabole und katabole Prozesse) gleichzeitig sich vollziehen.
Sind diese Gegenprozesse gleich stark, so befindet sich die Substanz trotz fort-
währender Änderung im „autonomen“ Gleichgewicht. Werden aber durch einen
äußeren Reiz die D-Prozesse gesteigert (D-Reizung), so daß also neben der „auto-
nomen“ normalen D ein Plus von „allonomer“ (durch den „D-Reiz“ erzeugter) D-
vor sich geht, welcher die autonome A nicht mehr das Gleichgewicht halten kann,
so verändert sich die Substanz im Sinne einer Verminderung ihrer Leistungsfähig-
keit und Reizbarkeit, sie wird unterwertig (macht eine „allonome* absteigende Ver-
änderung durch). Hört der D-Reiz auf, so strebt die Substanz durch Vermehrung
der autonomen A wiederum ihr früheres autonomes Gleichgewicht zu erreichen —
autonome aufsteigende Änderung. Auf einem solchen fortwährenden Wechsel ab-
und aufsteigender Änderungen beruht nun nach Hering (l. c. 8. 69) auch die
Tätigkeit des Herzens, indem durch die aufsteigende Veränderung die vorher-
gegangene absteigende Änderung immer wieder ausgeglichen wird. „Eine solche
‚periodisch tätige‘ Substanz ... ermüdet nicht, sofern nicht ihre Assimilierungs-
bedingungen gestört werden oder ihre Dissimilierung durch anderweite Einflüsse
übermäßig gesteigert wird; und innerhalb gewisser Grenzen ist sie befähigt, sich
auch veränderten A- und D- -Bedingungen bzw. A- und D-Reizen anzupassen, woraus
sich ebensowohl Änderungen der Periode als des Ausmaßes der einzelnen Änderungen
ergeben können.“
Der Blutdruck als Herzreiz.
Der Blutdruck ist zwar nicht als der normale innere Herzreiz zu be-
trachten, denn auch ohne Innendruck schlägt das Herz spontan weiter, bis zu
einem gewissen Grade ist aber die Schlagfrequenz doch vom intrakardialen
Druck abhängig. Wenn man nämlich in das venöse Ende eines völlig isolierten,
künstlich durchströmten Kaltblüterherzens die Durchströmungsflüssigkeit unter
hohem Druck einfließen läßt, so steigt die Schlagfrequenz; erniedrigt man
den Druck bald wieder, so überdauert die durch die Drucksteigerung gesetzte
Frequenzzunahme erstere noch einige Zeit’). Wenn der „venöse“ Druck
des einfließenden Blutes konstant bleibt und bloß der Ausfluß des Blutes aus
dem Ventrikel einem größeren Widerstande begegnet, so erfolgt bei Variationen
des Aortendruckes innerhalb der normalen Blutdruckhöhen keine Frequenz-
!) Eine andere Ansicht siehe bei Straub, Pflügers Arch. 103, 446 ff., 1904. — ?) Die
Atembewegungen, Berlin 1862. — °) Eine ausführliche Kritik derselben bei Öhr-
wall, Skand. Arch. 8, 5 ff., 1898. — *) Lotos, Prag 1888, 8. 35. — °) Tschiriew, Du
Bois’ Arch. 1877,8. 180 ff. Ludwig u. Luchsinger, Pflügers Arch. 25, 228 ff., 1881.
Der Blutdruck als Herzreiz. 245
änderung, bei sehr hohen Drucken (gänzlicher Behinderung des Abflusses)
eine geringe Frequenzabnahme, vielleicht wegen des Stagnierens des Blutes
im Herzen!),. Am künstlich durchströmten (Einfluß in den rechten Vorhof,
Abfluß aus der Aorta), bloß noch mit den Lungen in Verbindung stehenden
Säugetierherzen haben bei niedrigem konstanten Einflußdruck (unter 10 cm
Blut) Variationen des Aortendruckes von 25 bis 140 cm Quecksilber keinen
Einfluß auf die Pulsfrequenz. Eine geringe Frequenzabnahme erfolgt dann,
wenn der arterielle Druck dauernd so niedrig ist, daß der Kreislauf in den
Koronargefäßen leidet. Bei hohem Einflußdruck macht Behinderung des Ab-
flusses Arhythmie?); Variationen des (venösen) Einflußdruckes von 10 bis
70 cm Blut haben keinen Einfluß auf die Pulsfrequenz®). Am Präparate von
H.E. Hering (isolierter Herz-Lungen- und Carotis-Jugularis-Kreislauf) machte
Absperrung des Ausflusses meist eine geringe Beschleunigung, manchmal gar
keine Änderung der Frequenz, häufig traten Arhythmien auf (meist p. bige-
minus), nie eine Frequenzabnahme). Am nervös isolierten Herzen bei voll-
ständig erhaltenem Kreislauf vermehren starke Blutdrucksteigerungen meist
die Pulsfrequenz’), aber nur, wenn die Drucksteigerung rasch erfolgt ®).
Häufig treten-Arhythmien auf’), mehrere Autoren haben auch eine geringe
Frequenzabnahme beobachtet °).
Die Frequenzzunahme bei Steigerung des Einflußdruckes ist ersichtlich
bedingt durch Reizung der automatisch tätigen Elemente des Herzens am
venösen Ende, wofür auch das Überdauern der Erregung nach dem Reize
spricht (vgl: oben S. 233). Die Arhythmien bei Erhöhung des arteriellen
(Abfluß-)Druckes beruhen auf. Extrasystolen des Ventrikels, welche bei Ab-
klemmung der Aorta vom linken, bei Abklemmung der Pulmonalis vom rechten
Ventrikel ausgehen?). Es kann sogar zu einer Umkehrung der Schlagfolge
kommen, sodaß der Ventrikel vor dem Vorhofe schlägt. Die von mehreren
Autoren am nervös isolierten Herzen beobachtete geringe Frequenzabnahme
bei Blutdrucksteigerungen könnte auf sekundären Komplikationen beruhen.
N. Martin (. ce. S. 214) zählt als solche auf: Veränderung der ins Herz ein-
fließenden Blutmenge, deren Bedeutung nach dem Obigen fraglich ist, Ände-
rungen der Temperatur und der chemischen Zusammensetzung des Blutes 1°).
Die Leistungsfähigkeit (Kontraktilität) des Herzens und ihre
rhythmischen Schwankungen.
In ähnlicher Weise, wie die durch die Reizschwelle charakterisierte
Reizbarkeit ist auch die Höhe und Dauer der Kontraktionen — die Leistungs-
fähigkeit (Kontraktilität) — von der Länge des Intervalls nach der vorher-
!) Howell u. M. Warfild, Stud. biolog. Laborat. Johns Hopkin’s Univ. Balti-
more 2, 235, 1881. Hier Kritik der früheren Untersuchungen (Tschiriew, 1. c.,
hatte ebenfalls Frequenzzunahme bei Steigerung des Widerstandes für den Abfluß
gesehen). — ?) N. Martin, Ebenda $. 213. — ®) Howell u. Donaldson, Philos.
Transaet. 175, 151, 1884. — *) Pflügers Arch. 72, 173, 1898. — °) Zuerst Ludwig
u. Thiry, Wiener Sitzungsber. 49 (2), 442, 1864. — °) Johannson, Dn Bois’
Arch. 1891, 8.142ff. — 7’) Heidenhain, Pflügers Arch. 5, 143, 1872; Knoll, Wiener
Sitzungsber. 66 (3), 209 ff., 1872.— ®) Nur solange das Halsmark nicht durchschnitten
ist: Knoll, 1. c. 8. 213. Im übrigen siehe die Literatur bei Tigerstedt, 8. 298 ff.
— °) H. E. Hering, Pflügers Arch. 82, 1, 1900. — '°) Vgl. auch Knoll, l.c. -
246 Abhängigkeit der Systolengröße von der Schlagfrequenz.
gehenden Erregung abhängig!), Je früher also eine zweite Kontraktion.
nach der ersten einsetzt, desto kleiner ist sie. Macht man die Pausen zwischen.
den Reizungen länger, so wächst bis zu einer gewissen oberen Zeitgrenze
(dem „Optimum des Reizintervalls“ 2) die Größe der Kontraktionen. : Bis zu
dieser Grenze gilt also der Satz, daß die Kontraktionen um so größer werden,
je länger die Pause nach der vorhergehenden Erregung ist. Genauere‘ An-
gaben darüber, ob die Zunahme der Zuckungshöhen nach jeder Systole der
Zunahme der Reizbarkeit durchaus parallel geht, stehen noch aus°). Am
Froschherzen ist mit der Verkleinerung der Kontraktionen auch eine beträcht-
liche Verkürzung, mit ihrer Vergrößerung eine Verlängerung der Kontrak-
tionsdauer verbunden, während das mechanische Latenzstadium sich nur sehr
wenig ändert). Am Menschenherzen tritt zwar bei Frequenzänderung die ana-
loge Veränderung der Systolendauer gegenüber der beträchtlicheren Änderung
der Länge der Diastole mehr in den Hintergrund, ist aber ebenfalls vorhanden 5).
Verlängert man das Reizintervall über das Optimum hinaus, so nimmt
die Höhe der Kontraktionen wiederum ab, und zwar werden sie um so
niedriger, je länger die Ruhepause ist. Damit ist eine Verlängerung der
Kontraktionsdauer und des mechanischen Latenzstadiums verbunden®). Reizt
man ein stillstehendes Herz nach einer sehr langen Ruhepause rhythmisch,
so sind die Kontraktionen anfangs sehr niedrig und gedehnt und nehmen
allmählich an Höhe zu, an Dauer ab. Die Zunahme der Kontraktionshöhe
wird als „Bowditchsche Treppe“ bezeichnet’). (Ähnliche Erscheinungen am
Skelettmuskel und Nervensystem nach langer Ruhe siehe in den entsprechen-
den Kapiteln dieses Handbuches.)
Das Optimum des Reizintervalls liegt am frischen, gut ernährten Herzen
ziemlich hoch®), wird aber am absterbenden, ausgeschnittenen Herzen und bei der
Erstiekung immer kürzer, so daß schließlich schon nach ganz kurzen Pausen die
!) Ludwig u. Hoffa, Zeitschr. f. rat. Med., 1. Folge, 9, 135, 1850; Bow-
ditch, Sächs. Ber. 23, 673, 1871 und andere. Bezüglich der Trennung von Reiz-
barkeit (= Anspruchsfähigkeit) und Leistungsfähigkeit siehe H. E. Hering
(Pflügers Arch. 86, 534 ff., 1901), Engelmann (sein Arch. 1902, Suppl., 8. 1).
Streng genommen müßte man noch unterscheiden zwischen Größe der Erregung (des
der Kontraktion zugrunde liegenden Stoffwechselvorganges) und der Größe des
mechanischen Effekts (Kontraktilität im engeren Sinne), doch liegen hierüber keine
Untersuchungen vor. — °?) Hofmann, Pflügers Arch. 84, 141, 1901. — °) In
den Kurven von Walther (Pflügers Arch. 78, 622, 1899, Fig. 18) vom aus-
geschnittenen, blutleeren Herzen ist die Kurvenhöhe noch nicht maximal, wenn
die Reizschwelle schon konstant geworden ist. Das entgegengesetzte Verhalten
gibt Engelmann (Deutsche Klinik 4, 239, 1903) für das blutdurchströmte
Herz an. Aus dem langsameren Anstieg der Leistungsfähigkeit nach der
Systole erklärt sich auch bei Walter (l. c.), daß nach Muskarinvergiftung die
Superposition (das Höherwerden der Extrazuckung) meist später auftritt als die Ver-
kürzung der refraktären Phase. — *) Hofmann, 1. c. 8. 142ff.— °) Volkmann
(Hämodynamik 1850, 8. 362, u. Donders (Dublin quat. Journ. med. science 1868,
p. 225, zit. nach Tigerstedt, $. 128 ff., woselbst auch die übrige Literatur) durch
Messung des Intervalls zwischen erstem und zweitem Herzton beim Menschen.
Direkte Bestimmungen am Säugetier (Klug, Du Bois’ Arch. 1881, 8. 260; v. Frey
u. Krehl, ebenda, 1890, 8. 49) bei Frequenzänderung durch Vagusreizung ergaben
dasselbe Resultat. Vgl. auch H. E. Hering (Pflügers Arch. 89, 287, 1902). —
6%) Hofmann, 1. c. 8. 149. — 7) Sächs. Ber. 23, 669, 1871. — °) Am ausge-
schnittenen Froschherzen ungefähr 5 bis 6”. Für die künstlich durchströmte
Hundeherzspitze gibt Woodworth 1” an (Amer. Journ. of Physiol. 8, 215, 1903).
Abhängigkeit der Systolengröße von Temperatur und Ernährung. 247
Bowditchsche Treppe auftritt‘). Die sehr ähnlichen Änderungen der Reizbarkeit
am erstickenden Herzen (siehe oben $. 236) erfolgen nach Öhrwall zwar im
gleichen Sinne wie die Änderungen der Kontraktionshöhe, doch laufen beide ein-
ander nicht streng parallel. Muskarinvergiftung begünstigt ebenso wie Erstickung
das Auftreten der Treppe bei kurzen Reizintervallen, Atropin wirkt antagonistisch
(Bowditch, 1. ce. 8. 678f£.). Die Herzkammern mancher Tiere?) zeigen das
Treppenphänomen nicht.
Die Dauer und Höhe der Herzkontraktionen wird ferner beeinflußt durch
die Temperatur: Von der unteren Temperaturgrenze für spontanes Schlagen
an (siehe oben S. 231) nimmt beim Froschherzen die Kontraktionshöhe
bei Erwärmung rasch zu bis zu einem Maximum, und darauf zuerst
langsam, später rascher ab°). Die Kontraktionsdauer nimmt bei der Er-
wärmung im allgemeinen ab. Die spontane Schlagfrequenz verhält sich
innerhalb gewisser Grenzen umgekehrt, so daß zwischen 0° und 18° © die
Summe der Systolendauern in der Zeiteinheit angenähert gleich bleibt (Cyon,
l. c. S. 289). Beim Säugetierherzen nimmt die Kontraktionsgröße im all-
gemeinen bei Abkühlung von der Körpertemperatur bis auf ungefähr 20° C
zu, bei weiterer Abkühlung ab ®).
Die Leistungsfähigkeit des Herzens hängt ferner von seiner Er-
nährung ab. Um dauernd gut leistungsfähig zu bleiben, bedarf das Herz,
wie jeder Muskel, abgesehen von der nötigen Wegschaffung der Zersetzungs-
produkte seines Stoffwechsels, der Zufuhr organischen Nährmaterials, von O
und der Anwesenheit gewisser anorganischer Salze.
Die Untersuchungen über die einzelnen Faktoren der Ernährung sind meist
am künstlich durchströmten Herzen ausgeführt worden. Am Kaltblüter wird ent-
weder das ganze Herz nach dem Verfahren von Ludwig durchspült, oder in den
Vorhof oder Ventrikel eine Kroneckersche bzw. Williamssche Kanüle eingeführt.
Für das ausgeschnittene Säugetierherz hat Langendorff°) eine Durchströmungs-
methode ausgearbeitet, welche darin besteht, daß man von der Aorta aus unter
einem konstanten Druck von 90 bis 100 mm Hg Flüssigkeit durch die Koronararterien
treibt. Bezüglich der Details und Modifikationen dieser Methoden vgl. Langen-
dorff (Ergeb. d. Physiol. 1 (2), 275 ff., 1902).
Das Herz vermag zwar auch bei Durchströmung mit Lösungen bestimmter
anorganischer Salze (Ringerlösung, siehe unten) lange Zeit kräftig zu
schlagen, wobei es in ihm selbst (in den Gewebsspalten oder den Gewebs-
elementen, nicht in den makroskopischen Blutspalten®) verhandenes orga-
nisches Material’ zersetzt, es bleibt aber viel länger leistungsfähig, wenn man
der Ringerlösung geringe Mengen von Glukose (bis zu einem Gehalt von
1 Proz.) hinzufügt”). Ähnlich wirkt vielleicht auch Lävulose, nicht aber die
!) Öhrwall, Skand. Arch. 7, 235#f., 1897. Hofmann, Il. e. 8. 153. —
2) Aal: Mc William (Journ. of Physiol. 6, 210, 1885); Hecht: Walther (Pflügers
Arch. 78, 625, 1900); auch die Venen des Froschherzens: Engelmann, ebenda,
65, 126, 1895). — °®) Cyon, Sächs. Ber. 18, 275ff., 1866. — *) Langendorff,
Pflügers Arch. 66, 385, 1897. — °) Pflügers Arch. 61, 291,.1895. — °) Nach Howell
(Amer. Journ. of Physiol. 2, 55ff. u. 68, 1899), der an Streifen von den Hohl-
venen des Schildkrötenherzens arbeitete, welche im Inneren sehr wenig muskulöse
Maschen enthalten. Dagegen hält die Kroneckersche Schule an der Ansicht fest,
daß das Nährmaterial von den in den kapillaren Spalten zwischen den Muskelmaschen
zurückgehaltenen Blutresten geliefert wird (vgl. Schücking, Engelmanns Arch.
1901, Suppl. 8. 218). — 7) Locke, Zentralbl. f. Physiol. 14, 670, 1901; Journ. of
Physiol. 31, XIII f£., 1904. Wurde anfangs bezweifelt (vgl. z.B. Göthlin, 1. infra e.,
S. 42), ist aber seither mehrfach bestätigt worden.
248 Ernährung des Herzens.
übrigen Zuckerarten. Serumalbumin, das von Kronecker und seinen
Schülern für ein wichtiges Nährmaterial gehalten wurde, erhöht, zur Ringer-
lösung hinzugefügt, die Leistungsfähigkeit des Herzens nicht, ebensowenig
reines Paraglobulin, wohl aber ungereinigtes (an Lecithin gebundenes?)
Paraglobulin !).
In bezug auf sein O-Bedürfnis verhält Kia das Herz wie der Skelett-
muskel. Auch ohne O-Zufuhr kann es noch eine Zeitlang weiter arbeiten,
aber schließlich nimmt die Höhe der Kontraktionen enorm ab2). Kohlen-
säureanhäufung bewirkt ebenfalls eine Abnahme der Kontraktionshöhe,
eventuell bis zur Unmerklichkeit. Die von einigen Autoren angegebene an-
fängliche Erhöhung der Kontraktionen durch Kohlensäure hat Groß?) am
Säugetierherzen nicht gesehen.
Am ausgeschnittenen Säugetierherzen kann der für kräftiges Schlagen nötige
Bedarf an O auf lange Zeit auch ohne Anwesenheit von Hämoglobin gedeckt
werden, wenn man die Durchströmungsflüssigkeit mit O unter Atmosphärendruck
sättigt (Locke, 1. e.). Auf Kohlensäurewirkung führt Kronecker das Phänomen
der Treppe zurück‘).
Von anorganischen Salzen sind zur Aufrechterhaltung der Leistungs-
fähigkeit des Herzens nach Ringers Entdeckung) unbedingt erforderlich
Ca-Salze. In reiner physiologischer NaCl-Lösung sinkt die Kontraktions-
höhe sehr rasch bis zur Unmerklichkeit ab. Fügt man aber sodann der
Lösung etwas CaC], zu, so erscheinen die Kontraktionen wieder und nehmen
an Höhe zu®).
Man hat die Abnahme der Kontraktionen in reiner NaCl-Lösung meist allein
auf das Herausdiffundieren der Ca-Salze aus dem Muskel bezogen. Doch übt eine
ähnlich restaurierende Wirkung auf das durch 0,7 proz. NaCl-Lösung „erschöpfte“
Herz wie Ca-Zusatz auch aus Übertragung in eine isotonische Rohrzuckerlösung’)
und eine vermehrte O-Zufuhr?).
Ebenso unbedingt nötig wie die Ca-Salze sind aber für die Kontraktilität
der Muskeln auch die Na-Salze. In isosmotischer Zuckerlösung verliert der
Herz- wie der Skelettmuskel seine Reizbarkeit und Kontraktilität vollkommen,
erhält sie aber durch Zusatz von NaCl wieder?). In einem Gemisch von Na-
und Ca-Salzlösungen schlägt das Herz zwar sehr kräftig, neigt aber zu
Dauerkontraktionen (Ringer, ]. c.). Um diese zu vermeiden, ist es nötig,
noch eine passende Menge. eines Kalisalzes hinzuzufügen, welche, allein für
sich oder im Überschuß angewandt, die Leistungsfähigkeit, Reizbarkeit und
!) Göthlin, Skand. Arch. f. Physiol. 12, 45 ff., 1901. Vgl. dazu Schücking,
l. c. 8. 235. — 5) Öhrwall (Skand. Arch. f. Physiol. 7, 235ff., 1897) für das
Froschherz; Strecker (Pflügers Arch. 80, 161, 1900) für das Säugetierherz. Die
übrige Literatur bei Langendorff (Krgehn. d. Physiol. 1 (2), 313.) —
®) Pflügers Arch. 99, 314, 1903. Hier ausführliche Literatur. — ‘) Du Bois’ Arch.
1878, 8. 322. Vgl. auch Schücking, I. c. 8. 221. — °) Journ. of Physiol. 6,
361; Brit. med. Journ., p. 730,. 1885, und an mehreren anderen Orten. — °) Auch
die günstige Wirkung eines Zusatzes von Gummi arabicum zur NaCl-Lösung
(Heffter, Arch. f. exp. Path. 29, 49 ff., 1892), welche Albanese (ebenda 32, 297,
1893) auf die Erhöhung der Viskosität bezog, beruht nach Locke (Journ. of
Physiol. 18, 332, 1895) auf dem Gehalt an arabinsaurem Ca. — ?) Howell, Amer.
Journ. of Physiol. 6, 185, 189, 1902. — ®) Lingle, ebenda 8, 80 ff., 1903; Martin,
ebenda 11, 118ff., 1904. — °) Overton, Pflügers Arch. 92, 346ff., 1902. Die
Experimente von Lingle (Amer. Journ. 4, 267) beziehen sich nur auf das Fehlen
von spontanen Kontraktionen in reiner Dextroselösung.
Leitung der Erregung im Herzen. 249
die spontane Schlagfrequenz herabsetzen. Ringer gelangte so auf empirischem
Wege zu einer Lösung!), welche das Froschherz lange Zeit gut schlagend er-
hält. Für Säugetierherzen gab dann Locke?) nach den Serumanalysen von
Abderhalden?°) als beste Konzentration der Durchströmungsflüssigkeit an:
0,9 bis 1 Proz. NaCl, 0,02 bis 0,024 CaCl,, 0,02 bis 0,042 KCl, 0,01 bis
0,03 Proz. NaHCO, (nicht Na,C0;).
Über die Wirkung und den Nutzen des Zusatzes von NaHCO, hat sich eine
ausgedehnte Diskussion entsponnen®). Wahrscheinlich handelt es sich um die
günstige Wirkung einer ganz schwachen Alkaleszenz der Lösung. Das für die
Lösung benutzte Wasser muß aus Glasgefäßen destilliert sein, weil bei Benutzung
von Metallteilen schädliche „oligodynamische“ Wirkungen von Schwermetallsalzen
auftreten können’). ’
Die Stärke der Kontraktionen (weniger die spontane Schlagfrequenz) ist
ferner in hohem Grade abhängig von der in der Zeiteinheit durch die Koronar-
arterien strömenden Blutmenge. Erhöhung des Druckes, unter welchem das
Blut am ausgeschnittenen Herzen in die Kranzgefäße eingetrieben wird,
steigert die Systolenhöhe‘). Nach völliger Abstellung der Zirkulation tritt
vor der Abschwächung eine vorübergehende Verstärkung der Kontrak-
tionen auf’).
Bezüglich der großen Zahl von Herzgiften, welche die Leistungs-
fähigkeit des Herzens ändern, sei auf die Zusammenstellung von Richet °)
verwiesen. Die Änderungen der Leistungsfähigkeit und der Reizbarkeit
scheinen bei Vergiftungen nicht immer gleichen Schritt zu halten ?).
Beachtenswert ist besonders die Wirkung einiger Organextrakte auf
die Leistungsfähigkeit des Herzens. Der Extrakt des Nebennierenmarkes
bewirkt infolge seines Adrenalingehaltes eine beträchtliche Acceleration und
Verstärkung des Herzschlages bei Kalt- und Warmblütern, am nervös iso-
lierten Herzen in situ sowie am ausgeschnittenen Herzen und am künstlich
durchströmten Muskelstreifen aus dem Säugetierventrikel10). Kochsalz-
extrakte vom Zentralnervensystem und peripheren Nerven vermindern die
Kraft besonders der Vorhofsschläge, vielleicht sekundär infolge der starken
Blutdrucksenkung und Verminderung des Stromvolumens im Koronarkreis-
lauf!t). Die Wirkung dieser Extrakte auf die Frequenz ist ganz unbedeutend
und imkonstant. Extrakte des Lobus posterior (des Infundibularteiles) der
?) 100 cm? 0,6 proz. NaCl, enthaltend 1cm? 1proz. NaHCO,, 1 cm? 1 proz. CaCl,,
0,75cm®? 1proz. KCl (Journ. of Physiol. 6, 362). Göthlin (Skand. Arch. f.
Physiol. 12, 9) empfiehlt ein Gemisch von NaCl 0,65 Proz., NaHCO, 0,1 Proz.,
KC1 0,01 Proz., CaCl, 0,0065 Proz., Na,HPO, 0,0009 Proz., NaH,PO, 0,0008 Proz.
Die Phosphate können ohne großen Schaden weggelassen werden. — ?) Zentralbl.
f. Physiol. 14, 672, 1900. — °) Zeitschr. f. physiol. Chemie 25, 65, 1898. —
*) Siehe deren ausführliche Zusammenstellung bei Groß, 1. e. 8. 311ff. —
°) Locke, Journ. of Physiol. 18, 319, 1895. Ringer, ebenda 22, 14, 1897. —
°) Magrath und Kennedy, Schirrmacher, zitiert nach Langendorff
(Ergebn. d. Physiol. 1 (2), 300. — 7) Rusch, Pflügers Arch. 73, 547, 1898; Langen-
dorff, l. e. — °) Dict. de Physiol. 4, 330ff. — °) Alcock und H. Meyer,
Engelmanns Arch. 1903, S. 235 ff, — !°) Oliver und Schäfer, Journ. of Physiol.
18, 252 ff., 1895; Gottlieb, Arch. f. exp. Pathol. 38, 99, 1896 und 43, 286, 1899;
Hedbom, Skand. Arch. 8, 147, 1898; Cleghorn, Amer. Journ. of Physiol. 2, 279,
. 1899; Boruttau, Pflügers Arch. 78, 101, 1899 und andere. — '') Osborne u.
S. Vincent, Journ. of Physiol. 25, 289, 1900; vgl. auch 8. Vincent u. Sheen,
ebenda 29, 261, 1903.
250 Leitung der Erregung.
Hypophyse bewirken nach Herring!) am ganzen Froschherzen (nach Zer-
störung des Zentralnervensystems) Abschwächung und geringe Frequenz-
abnahme, am isolierten Froschventrikel (oder am ganzen Herzen nach
Atropinvergiftung) Verstärkung der Kontraktionen und Acceleration. Thyreo-
globulin setzt nach Vagusdurchschneidung sowie nach Atropinvergiftung die
Schlagfrequenz herab und verstärkt (sekundär infolgedessen?) die Herz-
schläge 2). Jodothyrin sowie Kochsalzextrakte der Schilddrüse verstärken
die Kontraktionen isolierter Herzmuskelstücke unter geringer Acceleration °).
Über die relativ geringen Wirkungen anderer Organextrakte vgl. Hedbom
und Öleghorn (. c., hier auch ausführliche Literatur).
Die Leitung der Erregung im Herzen.
Die Analyse des ersten Stanniusschen Versuchs hat endgültig ergeben,
daß die automatische Erregung des Herzens normalerweise im Sinus-
gebiete ihren Ursprung nimmt und von hier aus den aufeinander folgenden
Herzabteilungen, also nacheinander den Vorhöfen, dem oder den beiden
Ventrikeln (und dem Aortenbulbus) zugeleitet wird. Dieser Leitungsprozeß
zerfällt in zweierlei Etappen: die Überleitung der Erregung von einem Herz-
abschnitte auf den nächsten und in die Ausbreitung der Erregung innerhalb
jeder einzelnen Herzabteilung.
Geschwindigkeit der Leitung.
Innerhalb der einzelnen Herzabteilungen erfolgt die Erregungsleitung
unter normalen Verhältnissen mit so großer Geschwindigkeit, daß sie sich
bei einfacher Inspektion in allen Teilen gleichzeitig zusammenzuziehen scheinen,
und zwar kontrahieren sich beide Vorhöfe zusammen und ebenso beide Ven-
trikel zusammen in diesem Sinne gleichzeitig®).
Die Geschwindigkeit der Erregungsleitung. innerhalb der intakten Herz-
abteilungen kann gemessen werden durch Untersuchung der Aktionsströme nach zwei
Methoden: Man bestimmt sie entweder bei Ableitung von zwei unverletzten Stellen
aus dem Intervall vom Beginn des Aktionsstromes bis zum Gipfel der ersten Phase®)
oder bei künstlicher Reizung aus dem Zeitintervall zwischen dem Moment der
Reizung an einer und Beginn des Aktionsstromes bei Ableitung von einer anderen
Stelle — richtiger aus der Differenz dieses Zeitintervalls bei Reizung einer von der
Ableitungsstelle entfernteren und einer ihr näheren Stelle‘). Im Prinzip auf das-
selbe läuft hinaus die Methode von Langendorff, die Nerven zweier Nervmuskel-
präparate vom Frosch an verschiedenen Stellen über den Säugetierventrikel zu
.') Journ. of Physiol. 31, 420, 1904. Hier auch die (zum Teil widersprechenden)
Literaturangaben. Die Unterscheidung beider Teile der Hypophyse zuerst bei
Howell (Journ. of exp. med. 3, 245, 1898). — ?) v. Cyon u. Oswald, Pflügers
Arch. 83, 199, 1901. — °) Cleghorn, 1. c. p. 287. — *) Die Angabe, daß in
klinischen Fällen beide Ventrikel sich ungleichzeitig kontrahieren (sog. Hemisystolie),
ist nicht genügend begründet, weder durch das Tierexperiment (Frank u. Voigt,
Deutsch. Arch. f. klin. Med. 65, 580, 1900) noch durch die Beobachtungen am
Menschen (Riegel, Zur Lehre v. d. Herzirregularität usw., Wiesbaden 1891;
H. E. Hering, Prager med. Wochenschr. 21, Nr. 6, 1896); nur bei absterbenden
Herzen kann dies vorkommen. — °) Dieser Punkt entspricht dem Anfang der
Negativität der von der Reizstelle ferner liegenden Ableitungsstelle, vgl. Burdon-
Sanderson u. Page; Journ. of Physiol. 2, 424 ff., 1880. — °) Engelmann,
Pflügers Arch. 17, 88, 1878.
Leitung der Erregung. 251
. legen und deren sekundäre Zuckungen zu verzeichnen‘). Von Waller und Reid’)
wurde fernerdie Verzeichnung von Verdickungskurven an zwei verschiedenen Stellen
des Ventrikels angewendet.
Die durchschnittliche Geschwindigkeit der Erregungsleitung beträgt im
blutleeren Froschventrikel nach Engelmann in der ersten halben Stunde
nach dem Herausschneiden bei 12 bis 16° C ungefähr 35 bis 40 mm in der
Sekunde, nach Burdon-Sanderson und Page dagegen beträgt sie um
100mm in der Sekunde. Im blutdurchströmten Vorhofe des Froschherzens
fand Engelmann?) nach einer anderen Methode Werte von 90 bis 200 mm
in der Sekunde. Im Säugetierventrikel geben Bayliss und Starling*) etwa
3m in der Sekunde an, Schlüter (l. e. S. 107) schätzt sie auf 2 bis 4m pro
Sekunde, Waller und Reid (l. c. S. 239 und 249) fanden bei verschiedenen
Säugetieren Zeiten von 300 bis 2400 mm in der Sekunde, als Maximum beim
Schafherzen 8m. Die Leitungsgeschwindigkeit ist abhängig von der Tempe-
ratur, sie nimmt ab in der Kälte, steigt in der Wärme’). Eine Abhängigkeit
derselben von der Länge des Intervalls nach der voraufgegangenen. Erregung
ist am unverletzten Froschventrikel bei mittleren Reizintervallen (1!/, bis
6 Sekunden) nicht nachweisbar‘) (siehe dagegen unten), doch hat an-
scheinend Bethe’) bei Einschaltung von Extrasystolen in die normale Schlag-
folge eine verzögerte Leitung der Extrasystole beobachtet.
Der Übergang der Erregung von einer Herzabteilung auf die andere er-
fordert eine geraume Zeit, so daß sich schon bei bloßer Inspektion eine kleine
Pause zwischen den Kontraktionen der aufeinander folgenden Abschnitte be-
merkbar macht. Dies Intervall z. B. zwischen Atrium- und Ventrikelsystole
(von Engelmann mit As—Vs bezeichnet), gemessen durch die zeitliche Diffe-
renz des Kontraktionsbeginnes bei graphischer Verzeichnung, schwankt ganz
außerordentlich, am Froschherzen von etwa !/, bis 2 Sekunden und darüber.
Am Hundeherzen in situ fanden Bayliss und Starling‘°) mittels Ver-
zeichnung der Aktionsströme rund 0,13”. Es ist abhängig von der Temperatur
im selben Sinne wie die Leitungszeit innerhalb des Ventrikels, von der Er-
nährung (Blutzufuhr) und von der Schlagfrequenz. Je rascher die Kon-
traktionen aufeinander folgen, desto länger, je seltener, desto kürzer ist es.
Jede Systole setzt also die Geschwindigkeit der Leitung vorübergehend herab.
Die verzögernde Wirkung mehrerer rasch aufeinander folgender Systolen
vermag sich zu summieren®). Nach ganz langen Pausen kann die Kon-
traktilität schon abgenommen haben (Bowditchs Treppe), die Leitungs-
geschwindigkeit aber noch auf voller Höhe sein 10).
Infolge der leitungshemmenden Wirkung jeder Systole wird eine im Sinus
‚oder Vorhofe vorzeitig einsetzende „Extra“-Systole auf die folgenden Herzabschnitte
entsprechend später übertragen. Es werden also im Sinusgebiete entstandene Irre-
gularitäten „auf ihrem Wege zur Kammer über eine größere Zahl von Perioden verteilt
und dadurch im einzelnen gemildert werden“ — Selbstregulierung des Herzschlags"').
') Schlüter, Pflügers Arch. 89, 87, 1902. — ?) Philos. Transact. 178B, 226, 1887.
— ?) Pflügers Arch. 56, 188 u. 194, 1894. — *) Proceed. Royal Soc. 50, 213, 1891. —
®) Engelmann, Pflügers Arch. 11, 480, 1875. — °) F. B. Hofmann, ebenda 84,
136, 1901. — 7) Allg. Anat. u. Physiol. d. Nervensyst. 1903, 8. 430. — *°) Intern.
Monatsschr. f. Anat. u. Physiol. 9, 271, 1892. — °) Engelmann, Pflügers Arch. 56,
166 ff., 1894. — !°) Derselbe, Deutsche Klinik 4, 241, 1903. — '') Details bei
Engelmann, Pflügers Arch. 65, 153 ff., 1897, ufd Deutsche Klinik 4, 245 ff., 1909.
252 Leitungsrichtung.
Schneidet man den Vorhof oder Ventrikel von der Seite her so tief ein,
daß nur eine ganz schmale muskulöse Verbindungsbrücke stehen bleibt, so
erfolgt die Erregungsleitung durch die Brücke so langsam, daß sich beide
Hälften in einem deutlichen Absatz nacheinander kontrahieren!). Man kann
also künstlich innerhalb jeder Herzabteilung dieselbe Leitungsverzögerung
erzeugen, die normalerweise zwischen den einzelnen Herzabteilungen vor-
handen ist. Ein prinzipieller Unterschied zwischen beiden Leitungsvorgängen
braucht also nicht zu bestehen. Die Leitungsgeschwindigkeit in der künstlich
hergestellten schmalen Verbindungsbrücke ist unmittelbar nach jeder Systole
herabgesetzt und nimmt danach allmählich zu, ganz so wie die Leitungs-
geschwindigkeit zwischen Vorhof und Ventrikel?). Daß man am intakten Ven-
trikel diesen Einfluß der Systole bei mittleren Reizintervallen nicht nachweisen
kann, beruht wahrscheinlich bloß darauf, daß sich in diesem Falle die Leit-
fähigkeit nach der Systole sehr rasch wieder zur vollen Höhe erhebt.
Ist nicht bloß eine beschränkte Stelle, sondern das ganze Herz geschädigt,
so erfolgt die Erregungsleitung mitunter so langsam, daß man mit dem bloßen
Auge das Wandern der Kontraktionswelle beobachten kann: so an der hinteren
Fläche der Vorhöfe abgekühlter, absterbender Säugetierherzen?), manchmal auch
an ausgeschnittenen Froschherzen*), nach Injektion von Bromkalium’).
Leitungsrichtung.
Innerhalb der einzelnen Herzabteilungen pflanzt sich die Erregung bei
künstlicher Reizung, wie durch die Beobachtung der Aktionsströme von allen
Autoren übereinstimmend erwiesen wurde), von der Reizstelle aus diffus nach.
allen Richtungen hin fort. Bei der auf dem normalen Wege, vom Vorhofe her,
ausgelösten Ventrikelsystole wandert die Erregung im Froschherzen stets von
der Basis zur Spitze, d.h. es wird zuerst die Basis negativ gegenüber der Spitze
(erste Phase des Aktionsstromes) und dann umgekehrt die Spitze negativ
gegenüber der Basis (zweite Phase”). Über das Verhalten des Säugetierherzens
differieren die Angaben. Am Katzen- und Igelherzen wird nach Injektion
von Bromkalium die Leitung so verlangsamt, daß man das Wandern der
Kontraktionswelle von der Einmündungsstelle der großen Venen über die
Vorhöfe hin, im Ventrikel von der Basis zur Spitze direkt sehen kann
(Me William, 1. c.). Waller®) dagegen fand am freigelegten Hunde- und
') Gaskell, Journ. of Physiol. 4, 64, 1883. Dieselbe Beobachtung am Frosch-
ventrikel machten vorher schon Volkmann (Wagners Handwörterb. 2, 616, 1844)
und Aubert (Pflügers Arch. 24, 364, 1881). — ?°) Gaskell, 1. e.,- Engel-
mann, Pflügers Arch. 62, 550, 1896. — ?) Vgl. besonders H. E. Hering, Pflügers
Arch. 82, 22 f£., 1900. — *) Kronecker, Du Bois’ Arch. 1883, 8. 268, und andere. —
5) Mc William, Journ. of Physiol. 8, 306, 1887. — °) Marchand, Pflügers Arch. -
15, 530, 1877; Engelmann, ebenda 17, 72, 1878; Burdon-Sanderson u.
Page, Journ. of Physiol. 2, 399, 1879, und andere. Die abweichenden Angaben
von Pagliani u. Kaiser, daß die Kontraktionen entfernt von der Reizstelle
beginnen können, beruht auf bloßem Augenschein und ist wohl eine Täuschung
(Muskens, Pflügers Arch. 66, 333, 1897). Auch die Angabe von Bethe (I. c.
S. 445), daß er an zwei Streifen vom Hundeherzen einmal bei künstlicher Reizung
eines Endes die Kontraktionen am anderen Ende- beginnen sah, ist, da jede genauere
Analyse des Versuchs fehlt, ganz unklar. Die Erklärung, welche Bethe selbst gibt
(Rücklaufen der Erregungswelle im „Nervennetz“), ist aus verschiedenen Gründen
unhaltbar. — 7) Engelmann, l. c.; Marchand, Pflügers Arch. 17, 143, 1878. —
®) Philos. Transact. 180 B, 169, 1889.
Sul ie ee ec 5 Dee SE
Leitungsrichtung. 253,
Katzenherzen in der Regel zuerst eine Negativität der Spitze. Doch zeigten
Bayliss und Starling!), daß bei sehr sorgfältig behandelten Hundeherzen
stets die Basis zuerst in Erregung gerät, dann erst die Spitze. Kühlte sich
das Herz ab, so kehrte sich das Verhältnis um, eventuell trat ein drei-
phasiger Aktionsstrom auf.
Dies beruht nach den Verff. darauf, daß sich an der stärker abgekühlten
Basis der Aktionsstrom langsam entwickelt. Infolgedessen kommt es bei geringer
Schädigung zu einem kurzen Vorschlag: Basis negativ, dann überwiegt die Nega-
tivität der Spitze, und endlich kommt die länger anhaltende Negativität der Basis
wieder zum Vorschein. Bei stärkerer Abkühlung ist der erste Vorschlag von der
Basis verschwindend klein (Fig. 6, 2. Aktionsstrom). Die unmittelbar darauf folgende
Umkehr (Negativität der Spitze vor der Basis, Fig. 6, 1. und 3. Aktionsstrom) er-
klären Verff. durch nervöse Leitung von der Basis zur Spitze und durch muskuläre
in umgekehrter Richtung. Die Deutung, daß die Erregung in den inneren Muskel-
bündeln von der Basis zur Spitze geht und in den äußeren zurückkehrt, ist
nach den Verff. unhaltbar. Eine Erregung der Basis vor der Spitze fand auch
Schlüter?) nur an ganz frisch ausgeschnittenen Katzenherzen. Später kehrte
sich auch hier das Verhältnis stets um.
Bei diesem großen Einfluß äußerer Umstände auf den Verlauf der
Aktionsströme war von großer Wichtigkeit der Nachweis von A. Waller?),
daß man bei passender Lage .der Elektroden (Ableitung von rechter Hand,
rechter Scapula, Stirn, Mund einerseits, Herzspitze, linker Hand usw. anderer-
seits, am besten Herzspitze mit rechtem Arm oder rechter Schulter*) die
Aktionsströme des Herzens vom ganzen Tier oder Menschen ableiten und
mittels des Kapillarelektrometers registrieren kann. Diese Methode, das
menschliche Elektrokardiogramm aufzunehmen, wurde später von Einthoven )
sorgfältig ausgearbeitet, der durch Analyse der Kapillarelektrometerkurve
die Normalform des Elektrokardiogramms feststellte und sie mit einem noch
rascher reagierenden Meßinstrument, dem Saitengalvanometer, verifizierte.
Die Normalform des Elektrokardiogramms besteht nach Einthoven aus
fünf Ausschlägen, P bis T in Fig. 27, von denen der Anfang der Erhebung
Rum rund 0,03” dem Beginn Fig. 27.
der Herzstoßkurve vorauseilt. 0,18ec.
Einthoven hält die Aus- —
schläge P und @ für den R ee
zweiphasischen Aktionsstrom
der Vorhöfe, R und T für P T
den Aktionsstrom der Ven- g9__A Ks nes x
trikelbasis, der länger anhält \ S
als der der Spitze und in- Q
folgedessen nur in der Mitte Normalform des menschlichen Elektrokardiogramms
£ nach Einthoven.
von letzterem ungefähr kom-
pensiert wird. Der Ausschlag S rührt nach ihm vermutlich vom Überwiegen
der Stromzweige des linken Ventrikels (der eigentlichen Spitze) her. Nach
dieser Analyse ist am ganz intakten Menschenherzen sowohl im Vorhofe als
im Ventrikel der dem venösen Herzende zugerichtete Teil zuerst in Erregung,
*) Intern. Monatsschr. f. Anat. u. Physiol. 9, 256, 1892. — ?) Pflügers Arch. 89,
87, 1902. — °) Journ. .of Physiol. 8, 239, 1887. — *) Einthoven, Pflügers Arch.
80, 150, 1900. — °) 1. c. Ferner Pflügers Arch. 6N, 101, 1895 und 99, 472, 1903.
254 Leitungsbahn.
"dann erst der davon abgewandte, entsprechend dem Wandern der Erregungs-
welle vom venösen gegen das arterielle Ende des Herzens hin.
Die Übertragung der Erregung von einem Herzteil auf den andere
kann am intakten Herzen sowohl in der normalen, als auch in der entgegen-
gesetzten Richtung erfolgen. Bei manchen wirbellosen Tieren kann sich
die Richtung der Erregungswelle spontan umkehren, so daß der Ventrikel
eine Zeitlang vor dem Vorhofe schlägt. Bei höheren Tieren tritt dies nur
ein, wenn man durch frequente rhythmische Reizung oder durch einen am
Ventrikel angreifenden Dauerreiz!) den letzteren zu häufigerem Schlagen
veranlaßt als den Vorhof. An absterbenden Herzen oder nach Helleborein-
vergiftung kann die rückläufige Leitung vor der rechtläufigen verloren gehen,
die Reizleitung wird also dann irreziprok?), auch kann sich die rückläufige
Erregung langsamer fortpflanzen als die rechtläufige °).
Leitungsbahn.
Verwandelt man den Froschventrikel durch seitliche Einkerbungen in
einen ziekzackförmigen Streifen, so läuft die an einem Ende gesetzte Er-
regung noch immer über den ganzen Streifen ab*). Die beiden-Kammern des
'Säugetierherzens schlagen nur so lange koordiniert, als sie noch durch eine
Muskelbrücke miteinander in Verbindung stehen’). Ebenso bleibt die Er-
regungsleitung im Vorhofe nach einem seitlichen Einschnitte so lange er-
halten, als noch“eine genügend breite muskelhaltige Verbindungsbrücke
vorhanden ist 6).
Auch die Überleitung der Erregung von einer Herzabteilung auf die
andere ist nach unseren heutigen Kenntnissen an das Bestehen von Muskel-
brücken gebunden”). Soweit man die intrakardialen Nervenstämmchen von
der umgebenden Muskulatur reinlich trennen konnte, hat man stets gefunden,
daß sie die motorische Erregung isoliert für sich nicht zu leiten vermögen.
So vermag der Koronarnerv des Schildkrötenherzens (ein intrakardialer Ast
des rechten Vagus, der frei vom Sinus zum Ventrikel hinzieht) nach Durch-
schneidung des Vorhofes die Erregung nicht vom Sinus zum Ventrikel zu leiten®).
') Vgl. die Beobachtungen am Säugetierherzen von Mc William (Journ. of
Physiol. 6, 185, 1888) und von H. E. Hering (Pflügers Arch. 82, 19ff., 1900).
Über wahrscheinliche rückläufige Erregungswellen vom Ventrikel des menschlichen
Herzens Volhard (Zeitschr. f. klin. Med. 53, 1904). — *) Kaiser, Zeitschr. f.
Biol. 32, 20, 1895; Engelmann, Pflügers Arch. 61, 275, 1895. — ®) Bayliss
u. Starling, Journ. of Physiol. 13, 410, 1892. — *) Fick (Sitzgsber. d. physik.-
med. Ges. Würzburg, 1874, wörtlich zit. in Pflügers Arch. 72, 453 Anm.). Engel-
mann, Pflügers Arch. 11, 465, 1875. — °) Porter, Amer. Journ. of Physiol. 2,
127, 1899. — °) Gaskell, Journ. of Physiol. 4, 64 ff., 1883. — 7) Solche Muskel-
verbindungen bestehen am Kaltblüterherzen in Form eines breiten Ringes um
das Sinusvorhof- und Atrioventrikularostium (letzterer ist der oben 8. 233 er-
wähnte Atrioventrikulartrichter von His, Arb. d. med. Klinik zu Leipzig, 1893 —
vgl. ferner Gaskell, Journ. of Physiol. 4, 70, 1883 und F. B. Hofmann,
His’ Arch. 1902, 8. 66). Beim Warmblüter sind Muskelverbindungen zwischen Vor-
hof und Ventrikel von His (l. c.), Stanley Kent (Journ. of Physiol. 14, 239,
1893), Retzer (His’ Arch. 1904, S. 1), Humblet (Arch. internat. de physiol.
1, 278, 1904) und Braeunig (Engelmanns Arch. 1904, Suppl. $S. 1) insbesondere
in der Scheidewand nachgewiesen worden. — °) Gaskell, Journ. of Physiol. 4,
64, 1883, vgl. auch 8. 75.
int Hz De 02 Dh A nn 1 nn nie
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Leitungsbahn. 255
Am Froschherzen wirkt Durchtrennung der muskulösen Vorhofswände mit Er-
haltung der funktionsfähigen Scheidewandnerven, der einzigen Nervenstämmchen,
die vom Sinus zur Kammer ziehen (intrakardiale Vagusfortsetzung, siehe unten,
S. 261), wie die erste Stanniussche Ligatur'), Beim Hunde- und Kaninchen-
herzen wird die Überleitung der Erregung vom Vorhofe auf den Ventrikel auf-
gehoben, wenn man unter Erhaltung der oberflächlichen Nervenbündel (der vor-
deren Kammernerven) die Verbindung zwischen den Vorhöfen und Kammern
zerquetscht?), ja sogar schon, wenn man die Muskelbrücke in der Scheidewand
durchtrennt®). Die Ventrikel schlagen natürlich weiter (siehe oben, $. 225), aber
ihr Schlagtempo ist dann unabhängig von dem der Vorhöfe.
Umgekehrt hindert Durchschneidung der größeren Nervenbündel die
Überleitung der Erregung von einer Herzabteilung auf die andere nicht, wenn
noch eine genügend breite Muskelbrücke bestehen bleibt *).
Die Angabe, daß nach Exstirpation der Atrioventrikularganglien beim Frosch
der Ventrikel still steht°), wurde von Gaskell (l. c. 8. 75ff.) dahin berichtigt,
daß dies nur der Fall ist, wenn dabei die nahe anliegende Verbindungsmuskulatur
zwischen Vorhof und Ventrikel mit verletzt und infolgedessen ein „totaler Block“
gesetzt wird (vgl. unten, 8. 258). Kronecker°) beobachtete an einem Hunde-
herzen nach Unterbindung eines vom Vorhof zum Ventrikel ziehenden Nerven eine
Herabsetzung der Schlagfrequenz des Ventrikels, doch ist nicht angegeben, ob sich
der Ventrikel nicht vielleicht nach jedem vierten Vorhofschlag: kontrahierte.
N. Lomakina’) hat durch Ligatur einzelner Nerven an der Vorhofkammergrenze
von Hunden und Kaninchen in vielen Fällen Unregelmäßigkeiten des Schlages so-
wohl der Vorhöfe als auch der Kammern. (Flimmern, Störungen des Rhythmus
und der Koordination — sogar zwischen den beiden Vorhöfen!) hervorrufen können,
doch sind die Versuchsresultate (wegen der gleichzeitigen Zirkulationsstörungen
oder Nebenverletzungen? vgl. oben, S. 240) so unregelmäßig, daß man irgend
welche sichere Folgerungen daraus nicht ziehen kann. Bemerkenswert ist, daß
Massenligatur um die Atrioventrikulargrenze mit Ausschluß der größeren Nerven-
stämmchen (l. c. 8. 417) ziemlich regelmäßig Störungen der Koordination zwischen
Vorhofs- und Ventrikelkontraktion gab (wie bei Wooldridge).
Die angeführten Tatsachen schließen die alte Vorstellung, daß die Er-
regung im Herzen von einem gangliösen Zentrum im Sinus zu einem eben-
solchen im Vorhofe und im Ventrikel geleitet wird, unbedingt aus®). Es
bleiben nur noch zwei Möglichkeiten übrig: Entweder erfolgt die Leitung
intramuskulär in dem allseitig zusammenhängenden Zellsyneytium, welches
nach histologischen?) und embryologischen 1%) Untersuchungen die Herzmuskel-
!) F. B. Hofmann, Pflügers Arch. 60, 142, 1895. — ?) Wooldridge,
Du Bois’ Arch. 1883, 8. 532ff. — ®) His jun., Berner Kongreß, Zentralbl. f. Physiol.
1895, 8. 469. Humblet, 1. c. Nach persönlicher Mitteilung von H. E. Hering
steht sein Befund (Zentralbl. f. Physiol. 17, 2, 1903), daß am Hundeherzen die
Koordination zwischen Vorkammer und Kammer erhalten blieb, wenn bloß die
äußere Wand des rechten Vorhofes mit dem Ventrikel in Verbindung stand, dazu
in keinem Gegensatz, weil auch in diesem Falle die Erregung auf das Septum
überging. — *) Eckhard (Beiträge z. Anat. u. Physiol. 7, 192, 1874) und
F. B. Hofmann (Pflügers Arch. 60, 139, 1895) für das Froschherz. Gaskell (l. c.
S. 61 ff.) für das Schildkrötenherz. — °) Marchand, Pflügers Arch. 17, 148 ff.,
1878; Löwit, ebenda 23, 335 ff., 1880. Hier auch weitere Literatur. — °) Zeitschr.
f. Biol. 34, 598, 1897. — 7) Zeitschr. £. Biol. 39, 377, 1900. — °) Eine ausführliche
“Widerlegung dieser Ansicht in ihren verschiedenen Modifikationen bei F.B. Hofmann
(Pflügers Arch. 72, 445 ff., 1898). — °) v. Ebner, Wiener Sitzungsber. 109 (3), 700,
1900; M. Heidenhain, Anat. Anz. 20, 33, 1901. — !°) Hoyer jun., Bull. de l’Acad.
de Cracovie, zit. nach Schwalbes Jahresber. d. Anat. 1, 210, 1901. Godlewsky,
Arch. f. mikr. Anat. 60, 111, 1902. Vgl. auch Richets Diet. de physiol. 4, 254.
256 Leitungsbahn.
zellen miteinander bilden (Engelmann!), Gaskell, ]. c.); oder sie wird ver-
mittelt durch die marklosen Nervenfasern, welche die Herzmuskulatur
überall durchziehen, und welche nach einigen Autoren innerhalb der Musku-
latur ein kontinuierlich zusammenhängendes Netz bilden?), was allerdings
noch nicht sicher bewiesen ist 3).
Wenn die oben 8. 237 angeführten Argumente Langendorffs für die direkte
Reizbarkeit des Herzmuskels richtig sind, so ist damit auch die muskuläre
Erregungsleitung höchst wahrscheinlich gemacht. Denn wenn die chemischen
Reize an der Applikationsstelle den Muskel, nicht aber das Nervennetz erregen,
dann kann die Fortleitung der Erregung von der Reizstelle auch nur auf
muskulärem, nicht auf nervösem Wege erfolgen, weil wir einen Übergang der
Erregung vom Muskel auf den Nerven nicht kennen. Als weitere Gründe gegen
die Annahme einer nervösen Leitung der motorischen Erregung im Herzen werden
angeführt:
1. Die eben erwähnte Unfähigkeit der größeren intrakardialen Nerven-
stämmchen, die motorische Erregung zu leiten. Man könnte zwar annehmen, daß
die feinen marklosen Nerven im Myokard andere Eigenschaften besitzen als die
marklosen Fasern der Stämmchen. Dem ist aber entgegenzuhalten, daß an und in
den intrakardialen Nervenstämmchen die Ganglienzellen liegen, aus deren Achsen-
zylinderfortsätzen das intramuskuläre Nervengeflecht gebildet wird. Reizung dieser
Stämmchen nun, wobei auch die Ganglienzellen und ihre Achsenzylinderfortsätze
mit gereizt werden, gibt keinerlei motorischen Effekt*).
2. Die Unabhängigkeit der motorischen Erregungsleitung im Herzen von der
Leitung der Hemmungswirkungen (nach mäßiger Quetschung kann die motorische
Leitung noch erhalten sein, während die Hemmungsnerven schon leitungsunfähig
sind’). Es ist unwahrscheinlich, daß im Herzmuskel ein kontinuierlich zusammen-
hängendes Nervennetz für die motorische Leitung und ein diskontinuierliches, für
Vorhof und Ventrikel gesondertes Nervengeflecht der Hemmungsfasern nebenein-
ander besteht.
3. Der Einfluß der Hemmungsnerven auf das Leitungsvermögen (vgl. unten
8. 271). Erfolgte die Leitung durch ein Nervennetz, so müßte man annehmen,
daß die Hemmungsnerven irgendwie an den marklosen Nerven des Netzes endigten,
wofür histologisch keinerlei Anhaltspunkte oder auch nur Analogien vorliegen.
4. Der Unterschied in der Leitungsgeschwindigkeit zwischen und innerhalb
der einzelnen Herzabteilungen würde zur Annahme zwingen, daß das Nervennetz
in der Verbindungsmuskulatur die Erregung ganz bedeutend langsamer leitet als
das einheitlich damit zusammenhängende Netz der Kammer und des Vorhofes.
Gaskell und Engelmann führen diese langsamere Leitung in sehr ein-
facher Weise darauf zurück, daß die Verbindungsmuskulatur zwischen den beiden
Herzteilen, wie oben, $8. 229, Anm. 10, schon angeführt wurde, etwas andere histolo-
gische und physiologische Eigenschaften besitzt (mehr der embryonalen Muskulatur
ähnelt) als die Muskulatur der Kammer und der Vorhöfe. Daß die Erregung im
embryonalen Herzen langsamer geleitet wird als im erwachsenen (3,6 bis 11,5 mm
pro Sekunde), wurde von Fano°) für das Hühnchen angegeben. Die Pause zwischen
Vorkammer- und Kammersystole tritt übrigens im embryonalen Herzen nach
His jun.’) zu der Zeit auf, in der sich in der Herzwand die Muskelzellen zu
differenzieren beginnen, Ganglienzellen aber noch nicht eingewandert sind.
!) Pflügers Arch. 11, 465, 1875. — ?) Ranvier, App. nerv. termin. des museles
de la vie organ., Paris 1880, p. 191ff.; Heymans u. Demoor, Arch. de biol. 13,
644, 1894, und andere, neuerdings Bethe, Allg. Anat. d. Nervensyst. —.°) Hofmann,
His’ Arch. 1902, 8. 100 ff. — *) Ausführlicher bei Hofmann, Schmidts Jahrb. 281,
117 #., 1904. — °) Engelmann, sein Arch. 1902, $. 103. Hofmann, Pflügers
Arch. 72, 443, 1898. Dasselbe geht hervor aus einem Experiment von Kronecker
(6. Intern. Physiol.-Kongr., Arch. di Fisiol. 2, 137, 1904): Flimmern der Vorhöfe
verhindert nicht die Leitung der Hemmung zum Ventrikel. — °) Arch. ital. de
Biol. 13, 402, 1890. — 7) Arb. aus d. mediz. Klin. z. Leipzig, 1893, S. 18 ff.
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Einwände gegen die intramuskuläre Erregungsleitung. 357
Stark umstritten ist die Frage, ob man aus der absoluten Größe der Leitungs-
geschwindigkeit irgend welche Schlüsse auf intramuskuläre oder nervöse Leitung
ziehen soll. Über diesen Punkt muß auf die einschlägige Literatur verwiesen werden!).
Die Bedenken gegen die Annahme einer intramuskulären Leitung im Herzen
sind folgende:
1. Bei Wasserstarre der Vorhöfe®), bei starker Vagusreizung®), nach Muskarin-
vergiftung*) kann eine Vorhofskontraktion nicht mehr nachweisbar sein und trotzdem
die normale Erregung vom Sinus (den Hohlvenen) zum Ventrikel geleitet werden,
bzw. bei künstlicher Vorhofsreizung eine Ventrikelkontraktion nach entsprechend
langer Latenzzeit auftreten. Bei der Wasserstarre handelt es sich um eine Art
mechanischer Verhinderung des Kontraktionsaktes (auch im wasserstarren Skelett-
muskel wird in einem gewissen Stadium die Erregung ohne Kontraktion noch
weiter geleitet°), bei starker Vaguswirkung wohl nur um eine so hochgradige Ab-
schwächung der Kontraktion, daß sie bei den gewöhnlichen Untersuchungsmethoden
der Beobachtung entgeht‘). Nach Muskarinvergiftung hat allerdings Bethe auch
unter dem Mikroskop keine Bewegung mehr gesehen. Selbst wenn dies richtig ist,
liefern solehe Experimente noch keinen entscheidenden Beweis gegen die intra-
muskuläre Erregungsleitung, denn es ist möglich, daß die Erregungsleitung und der
mechanische Akt der Kontraktion auch im Skelettmuskel an zwei verschiedene
Substrate gebunden ist?).
2. Erfolgt die Erregungsleitung intramuskulär, so bleibt es in einzelnen
Fällen (Ventrikel mancher niederen Tiere) fraglich, welche Funktion den intra-
muskulären Nervenfasern zukommt®).
Einige weitere, weniger wichtige Einwände siehe bei F. B. Hofmann’) und
Langendorf£f'’). Die vereinzelten, oben, S. 252, Anm. 6, erwähnten Angaben, daß
gelegentlich bei künstlicher Reizung die Kontraktion an einem von der Reizstelle
entfernten Orte beginnen soll, können nicht gegen die intramuskuläre Leitung ver-
wertet werden, denn sie stehen in Widerspruch zu den sehr sorgfältigen Beobachtungen
einer ganzen Reihe von Autoren und lassen sich übrigens auch unter der Annahme
der Leitung durch ein kontinuierliches Nervennetz nicht erklären. Auch die von
Bayliss und Starling gegebene Erklärung der scheinbaren Umkehr der Leitungs-
richtung im absterbenden Säugetierventrikel ist noch zu wenig begründet, als daß
man sichere Folgerungen daraus ziehen könnte.
Für die Leitung der motorischen Erregung im Herzen durch Nerven führt
Bethe (I. c.) ferner vergleichende physiologische Überlegungen an, nach welchen
bei Wirbellosen innerhalb der glatten Muskulatur ein diffus leitendes, kontinuierlich zu-
sammenhängendes Nervennetz vorhanden sein soll. Nach meinen eigenen Unter-
suchungen, die sich allerdings nur auf Mollusken (Kephalopoden, Aplysia) und
Würmer (Sipunculus) beziehen, kann ich mich den Folgerungen von Bethe nicht
ganz anschließen. Inwieweit die Analogieschlüsse dieses Autors von der Meduse
auf das Herz zulässig sind, darüber kann ich mir ohne eigene Experimente kein
Urteil erlauben. So beachtenswert indes derartige Analogien in heuristischer Be-
ziehung sein mögen, so wird die Entscheidung doch immer in erster Linie von den
Versuchsergebnissen am Objekt selbst abhängen, denn es könnte sehr wohl dieselbe
Bewegungsform — peristaltische Welle — an verschiedenen Objekten auf ver-
schiedenem Wege zustande kommen").
) Engelmann, Pflügers Arch. 56, 193 ff., 1894 und Deutsche Klinik 4, 233 ff.,
1903. H. E. Hering, Pflügers Arch. 86, 568, 1901. Bethe, Allg. Anat. u. Physiol.
d. Nervensyst. 1903, 8. 436 ff. — ?) Engelmann, Pflügers Arch. 56, 199, 1894. —
®) Engelmann, ebenda, $S. 197; Knoll, ebenda 67, 609; 68, 339, 1897; Hof-
mann, ebenda 72, 438, 1898. — *) Bethe, 1. c. S. 443. — °) Biedermann,
Wiener Sitzungsber. 97 (3), 101, 1888. — °) Vgl. Gaskell, Schäfers Textbook of
Physiol. 2, 185, 1900. Wie leicht schwächste Kontraktionen dem Nachweis ent-
gehen, darüber siehe Bayliss u. Starling, Journ. of Physiol. 13, 410, 1892. —
7) Engelmann, 1. c. — ®) Vgl. Hofmann, Schmidts Jahrb. 281, 121, 1904. —
®) Pflügers Arch. 72, 457 ff., 1898. — !) Ergebn. d. Physiol. 1 (2), 337 ff., 1902. —
") vgl. Biedermann, Pflügers Arch. 102, 476, 1904.
‚ Nagel, Physiologie des Menschen. I, 17
258 Blockierung der Leitung.
Hält man sich an die Beobachtungen am Herzen selbst und wägt man.
die einander entgegenstehenden Gründe und Gegengründe gegeneinander
ab, so erscheint die Annahme einer intramuskulären Leitung der motorischen
Erregung im Herzen als die weitaus wahrscheinlichere, und sie soll deshalb
auch dem Rest der Darstellung zugrunde gelegt werden. Nehmen wir aber
dieses an, so ist es sehr unwahrscheinlich, daß die normale automatische Er-
regung von Nerven ausgehen und dann im Muskel sich weiter fortpflanzen
sollte. Vielmehr gelangen wir zu einer einheitlichen und in sich geschlossenen
Auffassung erst dann, wenn wir mit Gaskell und Engelmann nicht bloß
‚die Erregungsleitung, sondern auch die Fähigkeit der Automatie auf den
Herzmuskel selbst beziehen. Aus diesem Grunde würde ich es für den weit-
aus wichtigsten der bisherigen Gegenbeweise gegen die muskuläre Erregungs-
leitung im Herzen halten, wenn sich die oben S. 229, Anm. 5, erwähnte
Angabe Carlsons von einer neurogenen Automatie des Herzens von Limulus
bestätigen und auf Herzen anderer Tierklassen übertragen lassen sollte.
Will man trotz der erwähnten großen Schwierigkeiten an der Annahme der
motorischen Leitung durch ein Nervennetz festhalten, so muß man folgerichtig alle
die Eigenschaften, welche wir früher dem Herzmuskel zugeschrieben haben, also
neben der Automatie auch die rhythmischen Veränderungen der Reizbarkeit (re-
fraktäre Phase) und Leistungsfähigkeit dem Nervennetz beilegen'). Unter dieser
Voraussetzung kann man die folgende Darstellung auch noch vollkommen bei-
behalten, nur müßte statt „Herzmuskel“ stets „intramuskuläres Nervennetz“ gesetzt
werden.
Blockierung der Erregungsleitung.
Wenn man in den Vorhof oder Ventrikel des Frosch- oder Schildkröten-
herzens einen tiefen seitlichen Einschnitt macht, so wird bei frequenter
Schlagfolge nicht jede einzelne, sondern je nach der Tiefe des Einschnittes
und je nach der Schlagfrequenz nur jede zweite, dritte oder vierte Erregung
durch die Muskelbrücke weiter geleitet, und wenn die Brücke ganz dünn ist,
geht gar keine Erregung mehr durch. Gaskell?) bezeichnete diese mit der
oben, 8. 252 erwähnten Leitungsverzögerung verknüpfte Erscheinung als
„Block“, als partiellen, wenn noch einzelne Erregungen durchgehen, als kom-
pletten, wenn die Leitung ganz aufgehoben ist. Partiellen bis kompletten Block
kann man auch erzeugen durch lineare quere Quetschung des Vorhofes oder
Ventrikels. Das Phänomen beruht auf dem Umstande, daß während jeder
Systole die Reizbarkeit des Herzmuskels wie für den künstlichen Reiz, so
auch für den natürlichen „Leitungsreiz“ vorübergehend aufgehoben ist und um
so langsamer wieder zur Norm zurückkehrt, je stärker der Muskel geschädigt
ist?). Ein partieller Block (Halbierung oder Viertelung der Schlagfrequenz
!) An, allerdings sehr unklaren und anfechtbaren, Ansätzen dazu fehlt es
nicht, vgl. oben 8. 237. — ?) Journ. of Physiol. 4, 66, 1883. — °) Vgl. besonders
Straub, Arch. f. exp. Path. 45, 366, 1901 u. a. Gaskell bezieht (l. c. 8. 71) den
Block bei seitlichem Einschnitt zum Teil auf eine Abnahme des Querschnitts der
leitenden Brücke, zum Teil auch auf eine Schädigung der noch erhaltenen Brücke
durch die nahe Verletzung, ähnlich wie nach Biedermann (Wiener Sitzgsber. 80
(3), 40, 1879) der Skelettmuskel in der nächsten Umgebung einer verletzten Stelle
eine Abnahme der Reizbarkeit zeigt. Beträufeln der Blockstelle mit 0,75 proz.
Kochsalzlösung beseitigt den Block (Gaskell, 1. c. 8. 95), vgl. oben 8. 236 die
Verkürzung der refraktären Phase durch Na-Salze! Ein (allmählich verschwindender)
ul rd a ad rn a
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Blockierung der Leitung. 259
des Ventrikels) tritt auch auf, wenn man den Ventrikel abkühlt und dadurch
seine refraktäre Phase verlängert oder die Schlagfrequenz des Sinus durch
Erwärmen erhöht), ferner nach Vergiftungen 2?) und beim Absterben.
v. Kries beobachtete (l. c.), daß, wenn die Herabsetzung der Temperatur auf
einen schmalen Streifen an der Atrioventrikulargrenze oder quer über den Ventrikel
beschränkt blieb, die Frequenzabnahme sprungweise nach Potenzen von 2 erfolgte:
erst Halbierung, dann Viertelung, Achtelung usw. Er schloß daraus, daß, wenn n
Erregungswellen ankommen, die ersten schwächer abgekühlten Elemente bloß auf
- reagieren, auf die nächsten stärker gekühlten wieder bloß die Hälfte davon, also
= wirksam sind, usf. Bei linearer Quetschung kommt hingegen Drittelung öfter vor.
In der Übergangsmuskulatur zwischen den einzelnen Herzabteilungen,
z. B. zwischen Vorkammer und Kammer, kehrt schon in der Norm die Leit-
fähigkeit nach jeder Systole langsamer zur vollen Höhe zurück als in der
eigentlichen Vorhofs- und Kammermuskulatur (vgl. oben, 8.251). Die Über-
gangsmuskeln werden deshalb auch von Gaskell (l. c.) als Blockfasern be-
zeichnet. Daher kommt es wohl, daß Extrasystolen des Sinus oder Vor-
hofes, welche sehr frühzeitig nach der Hauptsystole einsetzen, mitunter gar
nicht auf den Ventrikel übergeleitet werden®). Dies könnte indes auch
daher rühren, daß die Systole des Vorhofes und damit auch die refraktäre
Phase desselben kürzer ist als die des Ventrikel... Daß am absterbenden
oder vergifteten Herzen zunächst vereinzelte Ventrikelsystolen ausfallen, also
zunächst ein partieller, später ein kompletter Block an der Atrioventrikular-
grenze auftritt, wird ebenfalls vielfach auf eine besonders rasche Schädigung
der „Blockfasern“ zwischen Vorhof und Ventrikel bezogen. Dem widerspricht
aber H. E. Hering*), der Gründe dafür beibringt, daß sich in solchen Fällen
(nach Strychninvergiftung, die nach ihm ähnlich wie Erstickung wirkt) die
Verbindungsfasern noch mit dem Vorhof mit kontrahieren, daß aber die
Reizbarkeit der eigentlichen Ventrikelmuskulatur für den zugeleiteten natür-
lichen Reiz gesunken ist. Am absterbenden Herzen kann schließlich ein
Block auch innerhalb der einzelnen Herzabteilungen auftreten, so daß z. B.
nur eine Kammer schlägt).
Eine Abnahme der Erregungsgröße (ein Dekrement) infolge des Passierens
einer Blockstelle kann beim Herzen wegen der stets maximalen Kontraktionen
nicht vorkommen6). Wenn der Leitungsreiz überhaupt über die Schwelle
tritt, löst er in der nachfolgenden Herzabteilung auch eine für den gegebenen
Zustand derselben maximale Kontraktion aus.
Block zeigt sich anfangs auch in Streifen, welehe man aus der Herzmuskulatur
herausgeschnitten hat, so daß im Anfang die an einer Stelle gesetzte Erregung
nicht bis ans Ende vorzudringen vermag. (Gaskell, l. c. 8. 52).
!) Gaskell, Philos. Transact. 1882 (3), S. 998 ff.; v. Kries, Engelmanns Arch.
1902, 8. 477. — ?) Digitalin: Straub 1. c. — °) Engelmann, Pflügers Arch. 65,
158 ff., 1895. — *) Zentralbl. f. Physiol. 15, 193, 1901. — °) Vgl. Gley, Compt. rend.
Soc. Biol. 1893, p. 1053; Engelmann, Pflügers Arch. 62, 543, 552, 1896. —
*) Vgl. H. E. Hering, Pflügers Arch. 86, 550 ff., 1901.
..
260 Übersicht über die regulatorischen Herznerven.
Die Innervation des Herzens.
Die automatische Tätigkeit des Herzens kann vom Zentralnervensystem
aus in mannigfacher Weise modifiziert werden. Es kann durch Nerveneinfluß
verändert werden: die Schlagfrequenz (dieser Effekt wird von Engelmann!)
als chronotrope Nerveneinwirkung bezeichnet), die Schlagstärke (inotrope
Nervenwirkung), die Leitung der Erregung im Herzen (dromotrope Nerven-
wirkung) oder die Reizbarkeit des Herzens (bathmotrope Wirkung). Die
regulatorischen Herznerven zerfallen nun in zwei Klassen: solche, welche die
genannten einzelnen Faktoren der Herztätigkeit hemmen oder mindern
(negativ chronotrop usw. wirken) „Hemmungsnerven“, und solche, welche
sie fördern oder verstärken (positiv chronotop usw. wirken), „Förderungs-
nerven“ nach dem Vorschlage. von F. B. Hofmann?), gewöhnlich nach
einer ihrer Wirkungen Acceleratoren genannt.
Die von den Brüdern Weber (1845) entdeckten und seither bei allen
Wirbeltierklassen — auch beim Menschen — nachgewiesenen Hemmungs-
fasern 3) entspringen aus der Medulla oblongata aus dem Vaguskerne, ver-
laufen dann im Vagusstamme und ziehen in den Herzästen dieses Nerven
zum Herzen hin). Ausnahmsweise irren Hemmungsfasern in den Depressor
ab°), wahrscheinlich auch manchmal in den Halssympathicus, dessen peri-
pherer Stumpf auf Reizung mitunter Herzhemmung gibt).
Da man durch Herausziehen des Accessorius aus dem Foramen jugulare die
Hemmungsfasern des Vagus mit durchreißen kann 7), glaubte man lange, sie
würden dem Vagusstamme durch eine Accessoriuswurzel zugeführt. In letzter Zeit
wurde nun zunächst histologisch der Beweis erbracht, daß der Ursprung derselben
im Vaguskern gelegen ist®).. Von hier aus verlassen sie die Medulla nach
Großmann?) in der mittleren und unteren, nach Kreidl'’) ausschließlich, nach
Friedenthal und Schaternikoff (l. e.) in weitaus überwiegender Zahl in der
mittleren Wurzelgruppe des Glossopharyngeus-Vagus-Accessoriusgebietes (den eigent-
lichen Vaguswurzeln), während sie nach Cadman'') ausschließlich in der untersten
Wurzelgruppe austreten sollen.
Die vonv. Bezold und den Brüdern Cyon fast gleichzeitig entdeckten 1?)
Förderungsnerven (Acceleratoren, Augmentatoren) verlassen das Rückenmark
!) Pflügers Arch. 62, 555, 1896; Engelmanns Arch. 1900, 8. 320 ff. — ?) Schmidts
Jahrb. 281, 113, 1904. 8. J. Meltzer (Du Bois’ Arch. 1892, 8. 374) faßte sie mit
anderen Nerven unter der Bezeichnung Aktionsnerven zusammen. — °) Zur
Geschichte ihrer Entdeckung vgl. Tigerstedt, 8. 229ff. Dort auch die ver-
gleichende physiologische Literatur. — *) Genaue anatomische Daten über den
Verlauf der Herznerven bei den Säugetieren gibt Schumacher, Wiener Sitzungsber.
111 (8), 133, 1902. — °) H. E. Hering, Pflügers Arch. 57, 77, 1894. — °) Siehe
Tigerstedt, 8. 265. Andeutungen darüber, daß einige Hemmungsfasern auch ganz
außerhalb des Vagusgebiets verlaufen können, bei Friedenthal und Schater-
nikoff (Engelmanns Arch. 1902, 8. 58) und Langley (Philos. Transact. 183B,
111, 1893: 5. und 6. Thorakalnerv). Vielleicht spielen dabei indirekte Wirkungen
auf das Herz (durch Blutdruckänderungen?) mit. Über Frequenzminderung der
Herzschläge bei Ammoniakeinblasung in die Nase nach Vagusdurchschneidung siehe
Knoll, Wiener Sitzungsber. 66 (3), 199 ff., 1872). — 7) Literatur bei Tigerstedt,
S. 259. — ®)Van Gehuchten, nach Hermanns Jahresber. 1902, S. 73. — °) Pflügers
Arch. 59, 1, 1895. — !°) Wiener Sitzungsber. 106 (3), 197, 1897. — '') Journ. of
Physiol. 21, 42, 1900. — !?) Geschichte der Entdeckung bei Tigerstedt, 8. 260.
az Sn LE er 2
Die Ganglien der Herznerven. 261
mit dem 1. bis 5. Thorakalnerven !), gehen in den weißen Rami communicantes
zum Grenzstrang des Sympathicus, treten ins Ganglion stellatum und in das
untere Cervicalganglion desselben ein und verlaufen von diesen Ganglien teils
als gesonderte Nervenbündel, teils mit Vagusfasern gemischt zum Herzen 2).
Förderungsnerven finden sich auch im Vagusstamm (siehe unten, $. 267), in
seltenen Fällen bei Kaninchen und Katze im Halssympathicus °).
Die regulatorischen Herznerven gehören zum „autonomen“ Nerven-
system von Langley (vgl. den Art. Sympathieus in diesem Handbuch), in
ihren Verlauf sind daher Ganglienzellen eingeschaltet, und wir unterscheiden
an ihnen einen präganglionären Abschnitt bis zu ihrer Endigung an
den peripheren sympathischen Ganglienzellen, deren Achsenzylinderfortsätze
als postganglionäre Nervenfasern zum Endorgan hinziehen.
Für die Stelle, an welcher Ganglienzellen in den Verlauf sympathischer Nerven-
fasern eingeschaltet sind, liefert einen (deskriptiv-anatomischen) Wahrscheinlich-
keitsschluß die Bekleidung der Nervenfasern mit Mark (die präganglionären Fasern
sind markhaltig, die postganglionären meist marklos). Sicherer ist der Nachweis
mittels der Degenerationsmethode und mittels Nikotinvergiftung. Injiziertt man
einem Tier Nikotin oder bepinselt direkt das Ganglion mit 1 proz. Nikotinlösung,
so gehen Erregungen von den präganglionären Fasern nicht mehr auf die post-
ganglionären über, während die letzteren noch reizbar und leitfähig sind.
Für die Acceleratoren liegen die Ganglienzellen nach Gaskell®) und
Langley (l. c.) im Ganglion stellatum und im unteren Cervicalganglion.
Die von dort zum Herzen abgehenden Äste enthalten demnach postganglionäre
Fasern. Die in den Verlauf der Hemmungsfasern eingeschalteten Ganglien-
zellen liegen im Herzen selbst (anatomischer Schluß von Gaskell, l.c.). Damit
stimmen überein die Resultate der Degenerationsversuche 5) und die Ergebnisse
der Nikotinmethode®). Zu dem gleichen Schlusse führt die Beobachtung’),
daß beim absterbenden Affenherzen die Acceleratorwirkung bedeutend länger
erhalten blieb als die Hemmungswirkung, was mit dem früheren Unwirksam-
werden der präganglionären Fasern anderer Funktion in Einklang steht.
Die Ganglienzellen des Herzens.
Im Frosehherzen®) verlaufen die jederseits einfachen Herzäste der beiden
Vagi, an welchen die Ganglienzellen hauptsächlich liegen, nach ihrem Eintritt in
das vorderste Sinusende zunächst in der Wand der Vena pulmonalis (dort liegt das
sogenannte Remaksche Ganglion) und ziehen dann als „Scheidewandnerven“ im
Septum zwischen den beiden Vorhöfen zur Atrioventrikulargrenze hin, wo an jedem
wiederum eine größere Anhäufung von Ganglienzellen sich befindet, die Bidder-
schen Ganglien. Die Ganglienzellen sind meist unipolar (bipolare und multipolare
sind selten). An ihnen endigen intrakapsulär, unmittelbar dem Zelleib anfliegend,
in Form von „Spiralfasern“ mit Endkörben präganglionäre Fasern — offenbar
!) Langley, Philos. Transact. 183 B, 107, 1893. Hier auch die Literatur. —
2) Topographie dieser Äste für das Kaninchen bei Bever (Unters. a. d. Würzburger
Labor. 1, 249 ff., 1867), für den Hund bei Schmiedeberg (Sächs. Ber. 23, 148,
1871), für die Katze bei Böhm (Arch. f. exp. Path. 4, 255). — °) Literatur bei
Tigerstedt, 8. 265. Beim Menschen sahen Wertheimer u. Gaudier (Compt.
rend. Soc. Biol. 1901, p. 137) keine Beschleunigung bei Reizung des Halssympa-
thieus. — *) Journ. of physiol. 7, 13, 1886. — °) Zusammengestellt bei F. B. Hof-
mann, His’ Arch. 1902, 8. 81. — °) Langley, Journ. of Physiol. 11, 277, 1890;
Hofmann, Schmidts Jahrb. 281, 118, 1904. — 7) H. E. Hering, Pflügers Arch.
99, 245, 1903. — ®) Vgl. F. B. Hofmann, His’ Arch. 1902, S. 54.
262 Ganglien des Herzens; chronotrope Hemmung.
Vagusfasern. Die Nervenfortsätze der unipolaren Zellen gehen als postganglionäre
Fasern zur Muskulatur und bilden im Myokard ein dichtes Nervengeflecht. An den
Nervenzweigchen von den Scheidewandnerven zum Myokard findet man zunächst
auch noch einzelne Ganglienzellen. Sehr arm an Ganglienzellen sind die äußeren
Vorhofswände und die unteren zwei Drittel des Ventrikels, doeh findet man auch
hier noch gelegentlich einige versprengte Zellen ').
Iın Säugetierherzen*) liegen die Ganglienzellen hauptsächlich an und in den
Nervenstämmehen im subperikardialen Bindegewebe, seltener in den Nerven-
geflechten des Myokards®). Am zahlreichsten kommen sie vor in der hinteren
Vorhofswand zwischen Hohl- und Pulmonalvenen, ferner zwischen Aorta und Arteria
pulmonalis, mehr vereinzelt auch am oberen Ende des Conus arteriosus. In dem
subperikardialen Nervenplexus der Kammer findet man Ganglienzellen nur selten.
Dogiel unterscheidet drei Typen von (vorwiegend multipolaren) Zellen: Die Zellen
vom ersten Typus anastomosieren miteinander durch ein dichtes Netz kurzer Den-
driten und schicken ihre Nervenfortsätze als marklose Fasern ins Myokard hinein.
Die ungemein langen, ganz wie marklose Nervenfasern aussehenden Dendriten der
Zellen vom 2. Typus gehen in die Nervenstämmchen über, ihre Endigung war nicht
zu eruieren. Die Dendriten der Zellen vom 3. Typus bilden innerhalb des be-
treffenden Ganglions ein dichtes extrakapsuläres Geflecht zwischen den Ganglien-
zellen. Die Endigungsweise der Nervenfortsätze der Zellen vom Typus 2 (welche
vielfach einen dünnen Markbelag annehmen), sowie der des 3. Typus war nicht zu
ermitteln. In den Ganglien endigen Nervenfasern in zweierlei charakteristisch ver-
schiedener Weise: Dünne markhaltige und marklose Fasern, welche in extra-
kapsuläre Nervengeflechte übergehen; dicke, ungemein reich sich verteilende mark-
haltige Fasern, welche intrakapsulär unmittelbar auf dem Zelleib, wahrscheinlich
bloß der Zellen vom ersten Typus, endigen. Die letzteren Nervenfasern hält Dogiel
für cerebrospinale — also wohl Vagusfasern.
Die einzelnen Wirkungen der Hemmungs- und Förderungsnerven.
1. Chronotrope Nervenwirkung.
a) Hemmung. Elektrische, mechanische oder chemische Reizungen
des Vagus geben, wenn sie schwach sind, eine Herabsetzung der Schlag-
frequenz, wenn sie stark genug sind und einige Zeit anhalten, einen völligen
Stillstand des Herzens. Diese „negativ-chronotrope Wirkung“ erfolgt mit
einer merklichen Latenz nach Beginn der Reizung und überdauert die Reizung
einige Zeit, so daß z. B. ein zum Stillstand gebrachtes Herz nach Schluß der
Reizung allmählich wieder in die normale Schlagfrequenz übergeht.
- Bei den Bestimmungen der Latenzzeit der Vaguswirkung wurde früher nicht
berücksichtigt, daß die Erregungswelle, welche zu Beginn der Vagusreizung eben
vom Sinusgebiet aus zum Ventrikel hin im Ablauf begriffen ist, noch bis zu Ende
läuft (wenn nicht eine sogenannte „dromotrope“ Wirkung mitspielt), so daß also
der Ventrikel in der Regel nach Beginn der Vagusreizung noch einen Schlag aus-
führt, ehe er stillsteht. Die Latenzzeit muß also. am Sinus bestimmt werden.
Unter Berücksichtigung dieses Umstandes fand Trendelenburg‘*) beim Frosch-
herzen und Zimmertemperatur eine Latenz von 0,9 bis 1”, d. h. wenn der Anfang
') J. Dogiel, Arch. f. mikr. Anat. 21, 21, 1882. Die oben, 8. 229, Anm. 9
erwähnten kleinen Zellen am Endplexus, welche von Bethe für Ganglienzellen
gehalten werden, sind von den hier beschriebenen echten Ganglienzellen durchaus
verschieden. — ?) Vgl. insbes. Krehl u. Romberg, Arch. f. exp. Path. 30, 52 ff.,
1892; A. 8. Dogiel, Arch. f. mikr. Anat. 53, 246, 1899. Weitere Literatur bei
Tigerstedt, 8. 212. — ®) Die von Berkley (Anat. Anz. 9, 33, 1894) im Myokard
beschriebenen spindeligen Ganglienzellen werden von anderen Forschern für Binde-
gewebzellen gehalten (siehe A. 8. Dogiel, l. c. 8. 241 ff.). — *) Engelmanns Arch.
1902, Suppl. 8. 301 ff.
Chronotrope Hemmung. 363
der Vagusreizung um dieses Zeitintervall vor den Systolenbeginn fiel, war die
nächste Schlagperiode schon merklich verlängert.
Momentanreize, z. B. einzelne Induktionsströme, geben, auch wenn sie noch so
stark sind, keinen völligen Stillstand, sondern vermögen bloß eine allmählich ab-
klingende Herabsetzung der Schlagfrequenz hervorzurufen. Das Maximum der Ver-
zögerung fällt dabei meist schon auf die erste Periode nach der Reizung, seltener
geht ihr noch eine submaximal verzögerte Periode voraus'). Mehrere aufeinander
folgende Einzelreize summieren sich in ihren Wirkungen. Folgen sich die Einzel-
reize in langen Intervallen, so nimmt die Herabsetzung der Schlagfrequenz mit
der Dauer der Reizung ganz allmählich zu*). Je stärker und besonders je frequenter
die Reize sind, desto früher nach dem Reizbeginn setzt völliger Stillstand ein. Das
serien des Reizintervalls beträgt im Mittel 0,07 Sek. (Trendelenburg,l. ce. 8. 309).
Der konstante Strom erregt die Hemmungsnerven bei Schließung und Öffnung
nach dem Pflügerschen Zuckungsgesetz. Durchschneidung oder Unterbindung
wirkt wie ein elektrischer Momentanreiz (wichtig wegen der Auffassung der Stan-
niusschen Ligatur), chemische Reizung mit Kochsalz wirkt wie schwache Teta-
nisierung mit Induktionsströmen. Für Induktionsströme sind die Hemmungsfasern
sehr viel weniger erregbar als der Ischiadicus, für lineare, mittels Rheonom er-
zeugte Stromesschwankungen ist ihre Reizbarkeit nur wenig geringer als die der
motorischen Nervenfasern *).
Der Herzstillstand, welchen man durch starke Vagusreizung erzielen
kann, hält bei langen Reizungen nicht während der ganzen Dauer derselben
an, sondern macht einer bloßen Herabsetzung der Schlagfrequenz Platz, die
dann allerdings bei Fortdauer der Reizung außerordentlich lange anzuhalten
vermag (biszu 2 Stunden am Hunde). Wird in diesem Stadium eine Reizung
des anderen Vagus hinzugefügt, so kann eine vorübergehende Verstärkung
der Hemmungswirkung (bis zu neuerlichem kurzen Stillstande) erfolgen, voraus-
gesetzt, daß der andere Vagus nicht schon vorher anhaltend gereizt worden
war. Warletzteres der Fall, so vergeht (beim Warmblüter) nach der Reizung
des ersten Vagus einige Zeit, ehe der andere wirksam wird 5). Unter gewissen
Umständen sieht man aber bei Hinzufügung der Reizung des anderen Vagus,
auch wenn er ganz frisch ist, keine Verstärkung der Hemmung ®).
Das Aufhören des Herzstillstandes trotz fortdauernder Vagusreizung beruht
nicht etwa immer auf lokaler Ermüdung der Reizstelle’) oder Ermüdung der Nerven-
fasern des Vagusstammes, denn wenn man den Vagus peripher von der Reizstelle
durch Kälte leitungsunfähig gemacht und ihn dann andauernd gereizt hat, so ver-
ursacht die Reizung sofort wieder Herzhemmung, sobald die Leitung durch Erwärmen
wiederhergestellt wird®). Ebenso gibt bei Atropinvergiftung am Kaninchen der
Vagus nach dem Ende der Vergiftung sofort wieder Stillstand, auch wenn er vorher
sieben Stunden lang gereizt worden war’). Die Erscheinung ist vielmehr wahrschein-
lich so zu erklären, daß ein für beide Vagi gemeinsamer Hemmungsapparat im
Herzen sich befindet, der relativ schwer ermüdet!°), und daß die Übergangsstellen
von den Nervenfasern des Vagus auf diesen Hemmungsapparat verhältnismäßig
') Donders, Pflügers Arch. 1, 351, 1868; Nuäl, ebenda 9, 83, 1874; Tren-
delenburg, 1. c. — *) Legros und Onimus (Journ. de l’Anat. et Physiol. 1872,
p- 581 ff.) für Schildkröte und winterschlafende Ringelnatter, bei höheren Tieren
weniger auffallend. — °) Imamura, Engelmanns Arch. 1901, S. 187. — *) Lau-
lanie, Compt. rend. 109, 407, 1889. — °) Eckhard, Beiträge usw. 8, 181, 1878.
Gampgee u. Priestley, Journ. of Physiol. 1, 39 ff., 1878. — °) Hüfler, Du Bois’
Arch. 1889, S. 305. Hough, Journ. of Physiol. 18, 198, 1895. — ’) Dies kann
allerdings vorkommen: Ludwig u. Hoffa, Zeitschr. f. rat. Med. 1. Folge, 9, 122,
1850. Stricker u. Wagner, Med. Jahrb. 1878, 8. 375. — °) Hough, 1. e.
S. 161. — °) Szana, Du Bois’ Arch. 1891, S. 315. — !°) Vgl. Gamgee u. Priest-
ley, 1. e.; Laulanie, Compt. rend. 109, 377, 1889.
264 Chronotrope Hemmung.
leicht ermüdbar sind. Unter der Voraussetzung des myogenen Ursprungs der
Herztätigkeit hatte dieselbe Folgerung eines für alle Vagusfasern gemeinsamen
Hemmungsapparates im Herzen auch Hofmann!) aus dem Umstande gezogen, daß
schon bei Reizung eines einzelnen Vagus, ja auch nur einiger weniger Hemmungs-
fasern eine Frequenzabnahme des ganzen Herzens erfolgt. Doch ist diese An-
gelegenheit noch nicht spruchreif, da Langley*) gegen die daran anknüpfende
Auffassung des Sympathicus wichtige experimentelle Gegengründe beigebracht hat.
Reizt man einen Vagus untermaximal, so daß bloß eine geringe Herab-
setzung der Schlagfrequenz zustande kommt, so kann man durch Hinzufügen
einer ebenso starken Reizung des anderen Vagus die Hemmung verstärken >).
Je größer also die Zahl der gleichzeitig gereizten Hemmungsfasern ist, desto
stärker ist die Hemmung und umgekehrt: selbst sehr starke Reizung der sehr
wenigen in den Depressor abgeirrten Hemmungsfasern im Falle von H. E.
Hering gab bloß Herabsetzung der Schlagfrequenz, keinen Stillstand. Dieser
Umstand erklärt wahrscheinlich die von mehreren Forschern gemachte
Beobachtung, daß der rechte und linke Vagus besonders bei niederen Tieren
verschieden starke chronotrope Wirkungen ausüben.
Nach den Experimenten von Gaskell am Schildkrötenherzen *) und be-
sonders von F. B. Hofmann am Froschherzen 5), wo die Scheidewandnerven .
die einzigen Vagusfortsetzungen zum Ventrikel darstellen, endigen die chrono-
tropen Vagusfasern im Sinus, die zum Vorhof und Ventrikel weiterziehenden
Vaguszweige üben am normal schlagenden Herzen, dessen Erregungswellen
vom Sinus ausgehen, nur noch inotrope und „dromotrope* Wirkungen aus.
Wenn daher in einem Vagus mehr Fasern für den Ventrikel und weniger
für den Sinus enthalten sind als im anderen, so wird der erstere mehr eine inotrope
Wirkung auf die Kammer, der letztere mehr eine chronotrope Wirkung entfalten.
Beim Frosch übt in der Regel der rechte Vagus eine starke chronotrope Wirkung
und eine geringe inotrope Hemmung auf den Ventrikel aus, beim linken Vagus ist
das Verhältnis gewöhnlich umgekehrt‘). Hier kann man nun direkt nachweisen,
daß der vorwiegend die Fortsetzung des rechten Vagus zum Ventrikel hin bildende
vordere Scheidewandnerv meist viel dünner ist als der hintere, hauptsächlich dem
linken Vagus entstammende. Die Dicke der Nerven variiert aber, woraus sich die
Inkonstanz der Versuchsresultate erklärt.
Vagusreizung gibt keine chronotope Hemmung mehr, wenn das Herz — oder
nach Asher’) auch bloß das Sinusgebiet — unter hohem intrakardialem Druck
steht, ferner bei niederen Temperaturen. Bei Erhöhung der Temperatur bis
auf 39° C (beim Frosch) bleibt die Vaguswirkung bestehen, die Reizschwelle sinkt
sogar®). Bei gleicher Reizstärke ist die chronotrope Hemmung um so größer, in je
!) Verh. d. 74. Naturforschervers. 1902, 584 ff.; Schmidts Jahrb. 281, 121 ff.,
1904. Vgl. auch schon Eckhard, 1. ce. 8. 178, 1878. — ?) Journ. of physiol. 31,
244, 1904. — °) Hüfler, 1. ce. — *) Journ. of Physiol. 4, 83, 1883. — °) Pflügers
Arch. 60, 167, 1895; 72, 434 ff., 1898. — °) Tarchanoff, Trav. du labor. de
Marey 2, 292, 1876; Hofmann, 1. c. 8. 160, 1895. — 7) Verh. d. 21. Kongr. f. inn.
Med. 1904. — ®) Ludwig u. Luchsinger, Pflügers Arch. 25, 213 ff., 1881. Hier
die ältere Literatur. Stewart, Journ. of Physiol. 13, 59, 1892. Am isolierten,
mit Ringerlösung durchströmten Schildkrötenherzen nimmt die Reizbarkeit des
Vagus bei Erwärmung über Zimmertemperatur ab (Martin, Amer. Journ. of
Physiol. 11, 388 ff., 1904). Merkwürdig ist, daß bei Fröschen im Hochsommer die
chronotrope Vaguswirkung oft fehlt, daß ferner bei Warmblütern, insbesondere bei
den Vögeln, welche die höchste Körpertemperatur besitzen, die chronotrope Hemmung
nicht so lange anhält wie bei Kaltblütern, siehe Tigerstedt, S. 235ff. Nach
Asher (I. ce.) setzt plötzliche Temperatursteigerung die Reizbarkeit des Vagus
vorübergehend herab.
ra
7
|
Chronotrope Hemmung; Beschleunigung. 265
schlechterem Zustande sich das Herz befindet!). Angeblich bewirkt auch Asphyxie
(oder Pyrogallolinjektion) eine beträchtliche Steigerung der Hemmungswirkung,
während Injektion von bee ins Blut die Hemmungswirkung
herabsetzt?).
Atropin lähmt die letzten Endigungen des Hemmungsapparates im Herzen,
nach genügend starker Vergiftung geben weder Reizung des Vagusstammes noch
des Venensinus eine chronotrope Hemmung mehr°). Ebenso wirken nach Böhm‘)
eine Reihe anderer Gifte, wie Datürin, Hyoscyamin usw. Nikotin (ebenso Coniin,
Curare) verhindert in mäßigen Dosen zunächst den Übergang der Erregung von den
präganglionären auf die postganglionären Fasern (Langley, siehe oben, 8. 261).
Vor der Lähmung bewirkt das Nikotin infolge Erregung der in den Vagusverlauf
eingeschalteten Ganglien °) einen kurzdauernden Stillstand, dessen Zustandekommen
durch vorherige Injektion von Atropin, das die postganglionären Fasern lähmt, ver-
hindert wird. Der Stillstand des Herzens nach Muskarininjektion wurde von
Schmiedeberg ebenfalls auf eine Reizung des wahrscheinlich gangliösen intra-
kardialen Endapparates des Vagus bezogen, weil er wohl durch Atropin, nicht aber
durch Nikotin beseitigt werden kann. Gaskell®) hingegen hält den Muskarin-
stillstand für die Folge einer direkten Wirkung des Giftes auf den Herzmuskel
(siehe auch oben, $. 231).
Nach subkutaner Injektion von Natriumkarbonat verliert beim Frosch der
Vagus für lange Zeit seine Wirkung auf das Herz, nach intravenöser Injektion beim
Kaninchen nur vorübergehend. Darauf folgendes Bestreichen des Sinus mit ver-
dünnten Kalisalzlösungen macht beim Frosch den Vagus wenigstens auf kurze Zeit
wieder wirksam’). Jodnatrium setzt nach Barbera®) die Wirksamkeit des Vagus
beim Warmblüter herab und hebt den Muskarinstillstand auf°), Injektion von
Natriumphosphat erhöht sie. Jodothyrin erhöht nach v. Cyon!?) ebenfalls die
Reizbarkeit der Vagi und ruft in hohen Dosen sogar selbst eine Erregung derselben
hervor. Die Atropin- und Nikotinlähmung kann nach demselben Autor durch Jodo-
thyrininjektion aufgehoben werden"). Ebenso steigere Jodothyrin die herabgesetzte
Reizbarkeit des Vagus bei thyreoidektomierten oder strumösen Tieren, deren Vagi
durch Atropin besonders leicht dauernd gelähmt werden sollen. Hypophysenextrakt
soll ähnlich wirken wie Jodothyrin!?), die durch Injektion desselben hervorgerufene
Herabsetzung der Schlagfrequenz läßt sich nicht immer durch Atropin beseitigen. Über
die lähmende Einwirkung verschiedener Substanzen auf den Vagusstamm siehe unten!
b) Beschleunigung (positiv chronotrope Wirkung). Der Accelerans
ist im allgemeinen weniger reizbar als der Vagus. Beim Tetanisieren liegt
für ihn die Reizschwelle höher als für die Hemmungsnerven 13). Stärkste
mechanische Einzelreize, wie Durchschneidung, Quetschung, sind ganz un-
wirksam !#). Die Zunahme der Schlagfrequenz bei Reizung des Accelerans
setzt mit sehr bedeutender Latenz (einige Sekunden nach Beginn der Reizung,
in der Kälte länger, bei höherer Temperatur kürzer !5) ein und überdauert das
!) Hough (Journ. of Physiol. 18, 162, 1895) für Hunde- und Katzenherzen,
während Gaskell (Philos. Transact. 173 (3), 1011, 1882) für den Frosch das
Gegenteil angibt. — ?) Danilewsky, Physiologiste Russe 2, 3, 1900. Hüfler
(Du Bois’ Arch. 1889, S. 311) fand dagegen keinen von der Atmung abhängigen
Unterschied in der Reizbarkeit des Vagus. Dagegen sah er, daß die Reizbarkeit
des Hemmungsapparates Schwankungen zeigte, deren Ursache unaufgeklärt blieb
(l. c. 8. 303, 310). — °?) Vgl. hierzu und zum Folgenden bes. Schmiedeberg,
Sächs. Ber. 22, 130, 1870. — *) Böhm, Studien über Herzgifte. Würzburg 1871. —
5) Beweise dafür an anderen sympathischen Ganglien von Langley (Journ. of
Physiol. 27, 224, 1901). — °) Ebenda 8, 408, 1887. — ”) Löwit, Pflügers Arch. 25,
473 ff., 1882. — °) Ebenda 68, 434, 1897. — °) v. Cyon, ebenda70, 643, 1898. —
10) Ebenda 70, 161ff., 1898. — "!) Ebenda 70, 511; 73, 42, 1898. Bestätigt von
Boruttau (Pflügers Arch. 78, 127 Anm.) und Asher (I. c.). — '?) Pflügers Arch.
71, 432 ff. und 73, 339, 1898. — "?) Schmiedeberg, Sächs. Ber. 23, 157, 1871.
— 1) Boehm, Arch. f. exp. Path. 4, 274, 1875. — "°”) Stewart, 1. c. 8. 983.
266 Acceleratorwirkung.
Ende der Reizung beträchtliche Zeit. Bei einigermaßen (über 1”) anhalten-.
dem Tetanisieren nimmt die Beschleunigung mit Verstärkung der Reizung
zu bis zu einem von der Schlagfreguenz vor der Reizung unabhängigen
Maximum), das bei weiterer Verstärkung der Reizung nicht überschritten
wird, das aber hinter der maximalen Beschleunigung, welche durch direkte
chemische Reizung (mit Barytsalzen usf.) des Herzens selbst erzielt wird,
zurückbleibt (Böhm, 1. c. S. 276). Variiert man bei gleichbleibender maxi-
maler Reizstärke die Reizdauer von 1 bis 36 Sekunden, so steigt die Schlag-
frequenz jedesmal in ungefähr derselben Zeit (beim Hunde etwa 10 Sekunden)
bis zum gleichen Maximum an, die Beschleunigung überdauert aber die Reizung
um so länger (bis zu mehreren Minuten), je anhaltender letztere ist?). Bei
kurzdauernder Reizung kann es vorkommen, daß die Beschleunigung erst
nach dem Ende der Reizung beginnt, bzw. ihr Maximum erreicht. Eine
Ermüdung des Accelerans ist nach einer Reizung von zwei Minuten Dauer
noch nicht nachweisbar (Böhm, 1. c.), wohl aber nach viel länger anhaltenden
Reizungen (Reid Hunt).
Nach diesem Autor ermüdet der Accelerans viel rascher bei Reizung mit
frequenten Strömen als bei Reizung mit selten aufeinander folgenden Strömen.
Wenn die marklosen postganglionären Fasern gereizt werden, so beruht die Er-
müdung zum Teil auf einer lokalen Herabsetzung der Reizbarkeit an der Reiz-
stelle, wie sich durch Verschieben der Elektroden zeigen läßt. Diese lokale Wirkung
fehlt bei Reizung der markhaltigen präganglionären Fasern. Dann bleibt bloß eine
ermüdende Wirkung auf das Herz selbst übrig. Ob diese die Endigungen des
Accelerans oder den Herzmuskel selbst betrifft, "blieb fraglich. Injektion von Neben-
nierenextrakt hat auf derart „ermüdete“ Herzen eine sehr geringe Wirkung, die
Vagusreizung hingegen ist viel stärker wirksam. Curare und Atropin in großen
Dosen beschleunigt die Ermüdung des Accelerans, Jodnatrium (das nach v. Cyon*)
die Reizbarkeit des Accelerans steigert) verringert die Ermüdbarkeit desselben.
Jodothyrin setzt nach v. Cyon’) die Reizbarkeit des Accelerans herab. Abkühlung
verringert die Wirksamkeit des Accelerans, bei Erwärmung nimmt sie zu bis zu
einem Maximum zwischen 18 bis 25° C (beim Frosch), bei weiterer Erwärmung
nimmt sie wieder ab. Durch hohen intrakardialen Druck, der die Hemmungswirkung
schon aufhebt, wird die Wirksamkeit des Accelerans erhöht°).
Werden Hemmungs- und Beschleunigungsnerven gleichzeitig und gleich
stark gereizt, so überwiegt während der Reizung die Wirkung der Hemmungs-
nerven. Nach Schluß der Reizung schwindet die Hemmungswirkung zuerst,
und es kommt dann die länger anhaltende Nachwirkung des Accelerans zum
Vorschein ?).
Während der gleichzeitigen Reizung beider Nerven wird nicht etwa, wie
Baxt°®) meinte, die Wirkung des Accelerans durch den Vagus völlig unterdrückt.
S. J. Meltzer’) wies aus Baxts Tabellen nach, daß die Zahl der Herzschläge
stets größer war, wenn zusammen mit dem Vagus der Accelerans gereizt wurde,
als wenn der Vagus allein gereizt wurde. Ferner gibt Reizung des Accelerans eine
!) Da das Maximum in dieser Beziehung konstant ist, so hängt die durch
maximale Acceleransreizung erzielbare Vermehrung der Schlagzahl im Einzelfalle
von der Schlagfrequenz vor der Reizung ab. Je niedriger diese war, desto größer
ist die Zunahme der. Herzschlagzahl. — ?) Baxt, Du Bois’ Arch. 1877, 8. 521. —
®) Americ. Journ. of Physiol. 2, 407 ff., 1899. — *) Pflügers Arch. 70, 176, 1898. —
>) Ebendal. c. — °) Stewart, Journ. of Physiol. 13, 87 ff., 141,1892. — 7) Schmiede-
berg, l.c. 8. 155 ff. — °) Sächs. Ber. 27, 299, 1875, bes. S. 350. — °) Du Bois’ Arch.
1892, 376. Vgl. auch Böhm, 1. c.. $S. 278; Stricker u. Wagner, Wiener med.
Jahrb. 1878, S. 373. Muhm, Engelmanns Arch. 1901, 8. 244.
ee
a ).
Daß die spinalen Gefäßzentren auch bei Asphyxie in Erregung geraten,
wurde von Kowalewsky und Adamück®) bei Hunden angegeben, von
S. Mayer’) und Kabierske (l. c.) aber an Kaninchen nicht bestätigt. Der
negative Befund dieser Autoren rührt nach Luchsinger°) daher, daß sie
die künstliche Atmung nicht genügend lange aussetzten. Die Blutdruck-
steigerung tritt nämlich hier erst nach längerer Zeit ein®). Asher und
Lüscher (l. e., S. 527) sahen sie viel eher auftreten als Konow und Sten-
beck und führen den Unterschied auf die geringere Schädigung des Rücken-
markes bei ihrer Methode zurück. Daß diese Drucksteigerung wirklich auf
Reizung von spinalen Zentren zurückzuführen ist, geht daraus hervor, daß
sie nach Zerstörung des Rückenmarkes oder nach asphyktischer Lähmung
desselben wegfällt !0).
Über die genauere Lage der Gefäßzentren im Rückenmark läßt sich aus-
sagen, daß im Halsmark keine vorhanden zu sein scheinen, weil der Blut-
druck, gleichgültig, in welcher Höhe das Halsmark durchschnitten wird, stets
auf die gleiche Größe absinkt. Wenn man dagegen der Halsmarkdurch-
schneidung eine Durchtrennung des Brustmarkes am ersten Brustwirbel folgen
!) Virchows Arch. 29, 410 ff., 1864. — ?) Pflügers Arch. 8, 485, 1874; hier die
Literatur. — ?) Proe. Roy. Soe. 66, 394, 1900. — *) Schlesinger, Med. Jahrbb. (Wien)
1874, S. 20. — °) Heidenhain u. Kabierske, Pflügers Arch. 14, 518, 1877; hier
die ältere Literatur; Smirnow, Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1886, 8. 147; Usti-
mowitsch, Du Bois’ Arch. 1887, 8. 188; Roschansky, Zentralbl. f. d. med.
Wiss. 1889, 8. 162; Asher u. Lüscher, Zeitschr. f. Biol. 38, 528, 1898. —
©) Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1868, 8. 582ff. — 7) Wien. Sitzungsber. 73 (3), 91ff.,
1876. — °) Pflügers Arch. 16, 526, 1878. — °) Bestätigt von Konow u. Stenbeck,
Skand. Arch. 1, 407, 1889; Landergren, ebenda 7, 7 ff., 1897. — '%) Luehsinger,
l. e., 8. 529; Konow u. Stenbeck, 1. c., 8. 405.
304 Spinale Gefäßnervenzentren ; Dilatatorenzentren.
läßt, so sinkt der Blutdruck von neuem. Hier beginnen also offenbar die
Zentren!). Wie weit sie herunterreichen, ist nicht ganz sichergestellt.
Kabierske (l. c. 8.527) sah die Blutdrucksteigerung bei Ischiadicusreizung
am Hunde ausbleiben nach Durchtrennung des Brustmarkes am letzten
Brustwirbel, auch nachdem die Wunde verheilt und Strychnin injiziert worden
war. Er schloß daraus, daß der Reflex dann bloß noch auf so kleine
Gefäßgebiete beschränkt ist, daß eine merkliche Blutdrucksteigerung nicht
mehr zustande kommt. Auch Goltz?) hatte vorher schon keinen Beweis für
eine reflektorische Gefäßverengerung vom Lumbalmark aus finden können.
Wie man sieht, entspricht diese Ausdehnung im ganzen (die obere Grenze
scharf, die untere nur ungefähr) dem Austrittsgebiete von Vasoconstrictoren
aus dem Rückenmark. - Da nachgewiesen ist, daß die präganglionären Fasern
des Sympathicus aus Ganglienzellen des Seitenhorns entspringen®), so
könnte man in diesen die spinalen Gefäßzentren vermuten, doch ist nicht
ausgeschlossen, daß auch benachbarte Gebiete der grauen Substanz be-
teiligt sind. |
Über das gegenseitige Verhältnis des Gefäßzentrums in der Medulla zu
den spinalen Zentren ist wenig Tatsächliches bekannt. Von der Beobachtung
ausgehend, daß die vom Rückenmark auslösbaren Gefäßreflexe auch nach
Strychninvergiftung sehr klein sind, hat Heidenhain*) die Meinung aus-
gesprochen, daß die Zentralorgane der Gefäßnerven eine ähnliche innere
Gliederung besitzen wie die Zentren der Skelettmuskulatur. Das medulläre
Zentrum könnte dann eine Art „allgemeines Reflexzentrum“* darstellen, wäh-
rend vom Rückenmark aus nur lokale Reflexe vermittelt würden. Daß das
medulläre Zentrum de norma der Hauptvermittler des normalen Gefäßtonus
ist, folgt daraus, daß der Blutdruck nach Ausschaltung desselben auch dann
noch beträchtlich absinkt, wenn eine „Shockwirkung“ des Eingriffes so gut
wie ausgeschlossen ist, z. B. bei lokaler Narkose der Medulla durch Auf-
träufeln von ß-Eukain ’). Ob der Tonus der Gefäßnervenzentren ein automati-
scher ist oder reflektorisch ausgelöst ist, ist nicht entschieden.
Die Zentren der Vasodilatatoren.
Ob das Gefäßzentrum in der Medulla oblongata nur eine gefäßverengende
(blutdrucksteigernde, „pressorische*) Wirkung hat oder ob von ihm aus auch
gefäßerweiternde (blutdruckmindernde, „depressorische*) Wirkungen aus-
gehen, ob wir also in der Medulla oblongata ein einheitliches Zentrum sowohl
für die Constrietoren, als auch für die Dilatatoren oder für jede Art der
Gefäßnerven ein besonderes Zentrum annehmen sollen, ist ganz unentschieden.
Laffont‘) sah nach einem seitlichen Stich in den Boden der Rautengrube
neben der Medianlinie die Blutdrucksenkung bei Reizung des Nervus depressor
!) Stricker, Med. Jahrbb. (Wien) 1878, 8.21; 1886, S. 6.— ?) Pflügers Arch. 11,
98, 1875. — °) Das Seitenhorn und seine Zellgruppe verschwinden oberhalb des Ab-
ganges des ersten Dorsalnerven (Sherrington, Journ. of Physiol. 13, 700, 1892).
Nach Durchschneidung des Halssympathicus degenerieren die Zellen des Seiten-
hornes (Anderson, ebenda 28, 510, 1902; hier auch die übrige Literatur), —
*) Pflügers Arch. 14, 527 ff., 1877; vgl. auch Vulpian, Lecons sur l’app. vasomot.
1, 266 ff., 1875. — °) Vgl. darüber ausführlich Asher (Ergebn. d. Physiol. 1 (2),
364 bis 367, 1902). — ®) Compt. rend. 90, 705, 1880.
a Zn 0
Zentren der Dilatatoren; „periphere Gefäßzentren“. 305
derselben Seite zunächst weiter bestehen. Später verschwand die depres-
sorische Wirkung der Reizung, und an ihrer Stelle trat eine Blutdrucksteige-
rung auf, schließlich, nachdem sich die Hämorrhagie an der Läsionsstelle
stark vergrößert hatte, gar kein Effekt mehr. Er schloß daraus, daß zuerst
das Dilatatorenzentrum der betreffenden Seite zerstört worden war.
Auf absteigende Dilatatorenbahnen aus der Medulla oblongata deutet
der Umstand hin, daß man bei Reizung des Halsmarkes Erweiterung der Ge-
fäße des Ohres und der Regio buccofacialis!) und im Penis?) beobachtet hat,
ja sogar eine zwischen die gewöhnliche aeg She eingeschaltete
Blutdrucksenkung °).
Daß die Ganglienzellen, aus welchen die Dilatatorfasern vermutlich im
Rückenmark entspringen, auch reflektorisch erregbar sind, schloß man daraus,
daß Reizung des Plexus brachialis sowie des zentralen Splanchnicusstumpfes
auch noch nach Isolierung des Rückenmarkes Blutdrucksenkung bewirken
kann). Die Zulässigkeit dieser Schlußfolgerung hängt aber von der Auffassung
ab, die man über das Zustandekommen solcher depressorischer Reflexe hat.
Bestehen sie in einer Hemmung des Tonus der Constrietoren, so ist damit
nichts bewiesen für die Existenz von Dilatatorenzentren. Sicherer läßt sich
auf letztere schließen aus der reflektorisch auslösbaren Blutgefäßerweiterung
im Penis und in den hinteren Extremitäten nach Isolierung des Lumbosacral-
markes des Hundes’), da hierbei Constrietorenzentren kaum mehr in Betracht
kommen (s. die vorige Seite).
Der selbständige Tonus der Gefäße („periphere Gefäßzentren‘“).
Die Existenz peripherer Gefäßzentren wird daräus erschlossen, daß
auch die nervös vollständig isolierten Gefäße noch einen gewissen Grad von
Tonus besitzen, bzw. wieder erlangen können. Am beweisendsten sind hier
die Versuche von Goltz), welcher zeigte, daß nach der Durchschneidung
des N. ischiadicus die anfangs beträchtliche Temperaturerhöhung der be-
treffenden Extremität wieder zurückgeht, und daß die Gefäße sich dann auf
direkte mechanische und elektrische Reizung und bei starker Abkühlung‘
wieder lokal erweitern können, und zwar selbst dann noch, wenn die Extre-
mität nur noch mittels der Gefäße mit dem übrigen Körper zusammenhängt ’’).
Wenn aber eine Erweiterung möglich ist, so müssen die Gefäße doch einen
gewissen Tonus besitzen. Dasselbe geht hervor aus der Beobachtung, daß
einige Tage nach der Ischiadieusdurchschneidung Reizung des peripheren
Stumpfes Erweiterung gibt. Der Einwand, daß vielleicht das betreffende
Gefäßgebiet außer von den durchschnittenen Vasomotoren noch von anderer
Seite her (eventuell von Nervenbündeln, welchein den Gefäßwänden verlaufen)
versorgt wird, wird dadurch widerlegt, daß in derartigen Fällen wohl noch
‘) Dastre u. Morat, Rech. exp. sur le syst. nerv. vasomot. p. 144; Vulpian
(Legons ete. 1, 219) sah einmal auch Erweiterung der Darm- und Mesenterial-
gefäße beim Hunde. — *) Eckhard, Beiträge usw. 7, 73f#f., 1873. Auch bei
Reizung der Brücke und der crura cerebri erfolgt Erektion. — ®) Johannson,
Du Bois’ Arch. 1891, 8. 134 ff. — *) Literatur bei Tigerstedt, 8. 530. — °) Goltz,
Pflügers Arch. $, 463 ft.; 9, 189, 1874, u. a. (s. Tigerstedt). — °) Pflügers Arch.
9, 181 8., 1874; 11, ss k., 1875; Goltz und Ewald, ebenda 63, 389 ff., 1896. —
7) Vgl. Gergens und Werber, ebenda 13, 52, 1876.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 20
306 „Periphere Gefäßzentren.“
Erweiterung auf lokale Reizung hin, aber nicht mehr reflektorisch von ent-
fernteren Stellen her ausgelöst werden kann. Eine ähnliche Wiederherstel-
lung des Tonus ist auch, allerdings nicht immer !), am Kaninchenohr nach,
Durchschneidung des Halssympathicus. beobachtet worden. Die Blutdruck-
senkung nach Splanchnicusdurchschneidung geht ebenfalls nach einiger Zeit
wieder zurück, obwohl keine Verheilung der Nervenenden stattgefunden hat).
Die Zungengefäße erweitern sich nach Durchschneidung und Degeneration
der Konstriktoren und Isolierung des Zungenkreislaufs auf Reizung der Dila-
tatoren hin und verengern sich nachher wieder von selbst, bleiben nicht er-
weitert. Es muß also eine besondere periphere Erregungsursache für dieselben
geben 3). Der selbständige periphere Gefäßtonus reicht allerdings, wenn man
nicht besondere Vorsichtsmaßregeln anwendet, nicht hin, um unmittelbar nach
plötzlicher Zerstörung des Rückenmarks den Kreislauf aufrecht zu erhalten.
Dies gelingt aber, und man kann die Tiere am Leben erhalten, wenn man
das Rückenmark stückweise in mehreren Sitzungen entfernt*). Der Kreis-
lauf bleibt ferner erhalten, wenn man den Tieren eine genügende Menge
physiologischer Kochsalzlösung intraarteriell injiziert °) oder das Rückenmiark
ganz allmählich durch Anämisierung ausschaltet®6). Asher und Arnold
führen dies als Beweis dafür an, daß schon in der Norm ein peripherer Ge-
fäßtonus bis zu einem gewissen Grade besteht, daß er also nicht etwa erst
nach der Nervendurchschneidung als Regulierungsvorgang auftritt. Ein
guter Beweis dafür liegt auch darin, daß man schon unmittelbar nach der
Durchschneidung des gemischten Gefäßnerven, z. B.. des Ischiadicus, durch
geeignete Reizungsart (siehe oben S. 292) eine Gefäßerweiterung erzielen
kann. Auch steht die Auffassung, daß schon normalerweise ein merklicher
peripherer Tonus vorhanden ist, in guter Übereinstimmung mit der allge-
meinen Beobachtung, daß Hemmungsnerven — wie hier die Dilatatoren —
sonst nur zu Gebilden hinziehen, welche einen selbständigen Tonus besitzen 7).
Die „peripheren Zentren“, durch deren Erregung die eben beschriebenen
Erscheinungen zustande kommen, müssen entweder in unmittelbarster Nähe
‚der Gefäße oder in der Gefäßwand selbst liegen. Daß sie nicht in den sym-
pathischen Ganglien gesucht werden dürfen, geht daraus hervor, daß der
periphere Gefäßtonus auch nach der Durchschneidung der postganglionären
Fasern wiederkehrt.
Allerdings liegen einige Anzeichen vor, daß auch die sympathischen Ganglien
einer tonischen Dauererregung fähig sind. Sie sind jedoch nicht genügend ein-
deutig, um sicher für diese Ansicht verwertet werden zu können. Ein Hinweis
darauf könnte einem Experimente von Goltz und Ewald®) entnommen werden.
Nachdem sie bei einem Hunde jenes Rückenmarkstück entfernt hatten, welches
die spinalen Gefäßzentren für die hinteren Extremitäten enthielt, stellte sich der
periphere Tonus der Gefäße, der anfangs verschwunden war, allmählich wieder
her. Nach sechs Monaten wurde der Ischiadicus der einen Seite durchschnitten,
und nun folgte eine binnen wenigen Tagen sich wieder ausgleichende Temperatur-
!) Vgl. die Zusammenstellung bei Langley, Schäfers Textbook of Physiol.: 2,
657, 1900. — *) Asp, Sächs. Ber. 19, 141, 1867. — °) Isergin, Du Bois’ Arch. 1894,
S. 444. — *) Gergens und Werber (l. ec.) am Frosch, Goltz und Ewald (l. e.)
am Hunde. — °) Spina, Pflügers Arch. 76, 219, 1899. — °) Asher und Arnold,
Zeitschr. £. Biol. 40, 278, 1900. — 7) Biedermann, Pflügers Arch. 80, 437, 1900;
Verworn, Engelmanns Arch. 1900, Suppl., 8. 121. — ®) Pflügers Arch. 63, 390, 1896.
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„Periphere Gefäßzentren.“ 307
erhöhung und Rötung dieser Pfote: infolge der Durchschneidung waren die im
Sympathicus gelegenen Ganglienzellen der Vasoconstrietoren abgetrennt worden,
- und dadurch wurde vielleicht der Tonusverlust bedingt. Indessen ist es doch
fraglich, ob diese Deutung richtig ist. Goltz hatte früher beobachtet !), daß,
wenn nach einmaliger Durchschneidung des Ischiadicus die anfängliche Tempe-
raturerhöhung der Extremität sehr langsam zurückgegangen war, eine neuerliche
mehr periphere Durchschneidung wiederum eine langsam zurückgehende Tempe-
raturerhöhung bewirkt, und er schloß daraus, daß die Durchschneidung einen sehr
anhaltenden Reiz der Vasodilatatoren setzt, der besonders durch Summation
(mehrfache Einschnitte) sehr gesteigert werden kann. 18 Tage nach der ersten
Durchschneidung waren die Nerven degeneriert, und neuerliche Durchschneidung
brachte dann keine Temperatursteigerung mehr hervor (l. c. 11, 67). Im Falle
von Goltz und Ewald aber konnten ja die Vasodilatatoren nach der Rücken-
marksexstirpation nicht degeneriert sein, weil ihr trophisches Zentrum (seien es nun
Spinalganglien oder sympathische Ganglien) erhalten war, sie mußten also durch
den Schnitt gereizt werden.
Für einen Tonus der sympathischen Ganglien spricht dann noch die Erfah-
rung von Goltz *), daß die Gefäßerweiterung nach Durchschneidung des Ischiadicus
‚(also der postganglionären Fasern) immer beträchtlicher ist als die nach Zerstö-
rung der Rückenmarkszentren und der von ihnen ausgehenden präganglionären
Fasern. Die ähnliche Angabe von Claude Bernard, daß die Temperaturerhöhung
im Ohr nach Exstirpation des oberen Spinalganglions stärker und anhaltender ist
als nach Durchscehneidung des Halssympathicus, ist später bestritten worden’).
Auch die Beweise, welche Dastre und Morat‘*) für die Existenz eines Tonus der
vasoconstrietorischen sympathischen Ganglien angeführt haben, sind nach Langley
(Schäfers Textbook 2, 676) nicht haltbar.
Daß die vasomotorischen sympathischen Ganglienzellen weder reflektorisch
noch durch Erstickung erregbar sind, ist nach Analogie mit den Ganglienzellen
anderer Funktion anzunehmen und geht für die Asphyxie auch direkt aus den
‘oben 8. 303 angeführten Experimenten hervor. Die Reflexe, welche Claude
Bernard’) bei Reizung des Lingualis und Roschansky°) bei Reizung des zen-
tralen Splanchnicusstumpfes nach Zerstörung des Rückenmarkes beschrieben haben,
sind als „Axonreflexe“ im Sinne von Langley aufzufassen.
Auf welche anatomischen Elemente der Gefäßwand der Ursprung des
peripheren Gefäßtonus zu beziehen ist, ist nicht ausgemacht. Ganglienzellen
können es nicht sein, weil unzweifelhaft echte Ganglienzellen bisher nur aus-
nahmsweise einmal in der Gefäßwand nachgewiesen wurden. Zwar werden
von manchen Autoren ’) auch gewisse kleine verzweigte Zellen, welche die
kleineren Gefäße allenthalben umspinnen, als Ganglienzellen angesprochen.
Andere °) halten sie aber für Bindegewebszellen, weil sie in keinem Zusammen-
hang mit den Nervenfasern stehen. Es ist möglich, daß die Gefäßmuskel-
zellen selbst einen automatischen Tonus besitzen?). Nach meinen eigenen
Erfahrungen an Wirbellosen !) würde ich es aber auch für möglich halten,
daß die letzten peripheren Endigungen der Vasoconstrictoren selbst nach der
Abtrennung vom Zentralnervensystem in Dauererregung geraten und besonders
leicht auf mechanische Reizung (Dehnung) ansprechen. Allerdings dürften
.diese allerletzten Endigungen dann (bei dem langen Bestande des Tonus)
!) Pflügers Arch. 8, 497; 11, 59ff., 1875. — *) Ebenda 9, 180, 1874. — °?) Siehe
die Literatur bei Langley, Schäfers Textb. of Physiol. 2, 677, 1900. — *) Rech.
exp. sur le syst. nerv. vasomot. besonders 8. 322 ff., 1884. — °) Compt. rend. 55,
345, 1862. — °) Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1889, 8. 162. — 7) Neuerdings von
Bethe, Allg. Anat. u. Physiol. d. Nervensyst., 8. 80, Abb. 28. — °) Vgl. Dogiel,
His’ Arch. 1899, 8. 150#£. — °) Vgl. Bernstein, Pflügers Arch. 15, 602, 1877. —
10%) Vgl. die vorl. Mitt. 6. Physiol.-Kongr. Arch. di Fisiol. 2, 116, 1904.
20*
308 „Periphere Gefäßzentren“; mechanische Reizung der Gefäße.
auch nicht degenerieren, was Brodie und Dixon!) in der Tat vermuten.
Man wird durch diese Vermutungen an ein von S. Mayer?) aufgestelltes
Gesetz erinnert, daß nämlich der Ursprung und die Endigung einer Nerven-
faser, die „terminale Substanz“, auf Ernährungsstörungen insofern gleichartig
reagieren, als sie die Wiederaufnahme der Ernährung mit einer Erregung
beantworten, was die dazwischen liegende Nervenfaser, die „interterminale
Substanz“, nicht tut). Für einen myogenen Ursprung des peripheren Tonus
und gegen alle anderen Annahmen spricht freilich die Analogie mit dem
Herzen, sowie gewisse Erfahrungen an anderen glatten Muskeln (Sphincter
iridis).
Von den Annahmen, die man über die Natur des peripheren tonusfähigen
Apparates macht, hängt natürlich auch die Auffassung über die Wirkungs-
weise der Vasodilatatoren ab. Vermutet man in den Gefäßwänden eigene
nervöse Zentren, so könnten die Vasodilatatoren deren Tätigkeit hemmen.
Sind dagegen die Muskelfasern selbst einer tonischen Erregung fähig, so wird
man anzunehmen haben, daß die Dilatatoren direkt an ihnen endigen, und
daß die spezifische Hemmungswirkung derselben entweder die Folge ihrer
besonderen Endigungsart oder eines spezifischen, in ihnen ablaufenden Pro-
zesses ist, kurz, es wiederholen sich hier jene Fragen, auf welche bei Gelegen-
heit der Herznerven schon hingewiesen wurde. Eine sichere Entscheidung
darüber ist heute nicht möglich.
Direkte periphere Einwirkungen auf die Gefäße.
Dieselbe Unsicherheit der Auffassung herrscht auch bezüglich der direkten
peripheren Einflüsse, welche den Tonus der Gefäße entweder zu verstärken
oder abzuschwächen vermögen. Ja, noch mehr, man ist in vielen solchen
Fällen sogar im unklaren darüber, ob man es mit einer direkten Wirkung
auf den peripheren Apparat oder mit einer reflektorisch unter Vermittelung
des Zentralnervensystems ausgelösten Tonusänderung zu tun hat. Dies gilt
schon für den Erfolg mechanischer Reizung der Hautgefäße. Direkte mecha-
nische (ebenso wie elektrische) Reizung kleiner Arterien erzeugt an der Reiz-
stelle eine allmählich entstehende, lange anhaltende Verengerung, die nachher
entweder einfach zurückgeht oder einer stärkeren lokalen Erschlaffung Platz
macht *). An der Vena saphena ist die Verengerung auf mechanische Reizung
nach längerer Abschnürung und Wiederherstellung des Kreislaufs viel ge-
ringer als vorher, und sie wurde deshalb von Welikij°) auf Reflexwirkung
bezogen. Fährt man über leicht gerötete Hautpartien mit einer stumpfen
Spitze leicht weg, so entsteht infolge der Blutverdrängung im Momente der
Berührung ein sofort wieder verschwindender weißer Strich, nach einigen
Sekunden aber tritt als Folge der Reizung eine anhaltende Blässe der ge-
reizten Stelle auf®). War die mechanische Reizung sehr intensiv, so ver-
schwindet diese blasse Linie bald, und an ihrer Stelle tritt eine ganz lange
!) Journ. of Physiol. 30, 499 ff., 1904. — ?) Wien. Sitzungsber. 81 (3), 121,
1880. — °) Eine ähnliche noch viel allgemeinere Ansicht hat v. Cyon (Pflügers
Arch. 70, 261 ff., 1898) bezüglich der Herznerven ausgesprochen. Doch liegen dort
die Verhältnisse viel unklarer. — *) Vergleiche hierzu und zum Folgenden Vulpian,
App. nerv. vasomoteur 1, 40ff., 1875. — °) Siehe Hermanns Jahresber. 1895, 8. 70. —
°) Durchaus nicht immer, vgl. Vulpian,l. ce. 8. 52.
u
Gift- und Organextraktwirkung auf die Gefäße. 309
(bis zu einer Stunde) dauernde Rötung auf. Zu beiden Seiten des roten
Striches können blasse verwaschene Streifen erscheinen. Vulpian hält ins-
besondere die Rötung für eine reflektorische Dilatatorerregung, weil sie der
Reizung so spät nachfolgt und so lange anhält, endlich weil ihre Intensität
von der Reizbarkeit des Zentralnervensystems abhängt. Es könnte aber
auch sein, daß die Erregbarkeit des peripheren tonusfähigen Apparates unter
normalen Umständen von der Erregbarkeit des Zentralnervensystems abhängt.
Beachtenswert ist jedenfalls die Ähnlichkeit der anhaltenden lokalen Gefäß-
erweiterung nach starker Reizung mit der lokalen Diastole nach mechanischer
Reizung des Froschherzens. Außerdem bieten die oben $S. 305 zitierten
Experimente von Goltz zahlreiche Beispiele von Gefäßerweiterung auf starke
mechanische (oder elektrische) Reizung auch bei völliger BNDE der Ge-
fäßnerven.
Zu den wenigstens teilweise direkt peripher wirkenden Faktoren gehört ferner
die Temperatur, deren Einfluß unten S. 327 im Zusammenhang mit den 'Tem-
peraturreflexen besprochen werden soll, endlich verschiedene Gifte. Manche
Gifte bewirken an nervös isolierten Blutgefäßen eine Erweiterung unter gleich-
zeitiger Vernichtung der Reizbarkeit der Vasoconstrietoren. Andere, wie Amyl-
nitrit und Nitroglycerin, welche ebenfalls eine peripher bedingte Gefäßerweiterung
bewirken, vernichten die Reizbarkeit der Vasoconstrietoren nicht. Eine Reihe
anderer Gifte, wie z. B. Chlorbaryum, die Substanzen der Digitalisgruppe, Nikotin,
Piperidin usf., verengern durch direkte periphere Einwirkung die Gefäße').
Schwache Säuren erweitern, ‚Alkalilösungen verengern die Gefäße?) (wenigstens
beim Frosch).
- Am bemerkenswertesten ist die Wirkung einiger Organextrakte. So be-
wirkt das im Nebennierenextrakt enthaltene Adrenalin durch periphere Wirkung
auf die Gefäße eine enorme Blutdrucksteigerung®). Da das Adrenalin auch eine
deutliche Wirkung auf den Skelettmuskel entfaltet *), da ferner die Wirkung auf
die Gefäße auch nach Degeneration der postganglionären Gefäßnerven bestehen
bleibt’), so nimmt man meist an, daß das Arenalin seine Wirkung direkt auf die
Muskulatur der Gefäße ausübe. Dem widersprachen aber neuerdings Brodie und
Dixon®), welche insbesondere nach Lähmung der Vasomotoren durch Apocodein
die Adrenalinwirkung verschwinden sahen und daraus schlossen, daß das Adrenalin
die allerletzten Endigungen der Vasoconstrietoren errege, welche nach Nerven-
durchschneidung nicht degenerieren sollen. Läwen’) sah dagegen die Adrenalin-
wirkung bei Fröschen auch noch nach Vergiftung mit reinem Kurarin fortbestehen,
das nach Tillie die Vasomotoren lähmt. Ganz so wie das Extrakt des Nebennieren-
markes wirken nach Biedl und Wiesel®) Extrakte aus den Nebenorganen des
Sympathicus, dem chromaffinen Gewebe Kohns, welche a aereehiche
lich mit dem Nebennierenmarke identisch sind.
Tigerstedt und Bergmann’) fanden ferner in dem mit kalter Kochsalz-
lösung bereiteten Extrakt aus der Nierenrinde eine Substanz, die auch im Nieren-
!) Vgl. Kobert, Arch. f. exp. Path. 22, 77, 1887; F. Pick, ebenda 42, 399,
1899. Hier ausführliche Literatur. Durdufi, ebenda 43, 121, 1899. — ?) Gaskell,
Journ. of Physiol. 3, 62ff., 1880. — °) Gleichzeitig entdeckt von Oliver. und
Schäfer (vgl. Journ. of Physiol. 18, 230, 1895) und Szymonowicz und Cybulski
(siehe Pflügers Arch. 64, 97, 1896), richtig gedeutet von den ersteren. Die spätere
Literatur bei Boruttau, Pflügers Arch. 78, 97 ff., 1899. — *) Oliver und Schäfer,
1. ec. 8. 263. — °) Langley, Journ. of Physiol. 27, 247 ff., 1901. Vgl. dazu Elliott,
Journ. of Physiol. 31, XXI, 1904. — °) Ebenda 30, 497, 1904. Die Wirkung von
Baryumchlorid bleibt nach Apocodeinvergiftung bestehen, ist also auch nach
diesen . Autoren direkte Muskelwirkung, Pilocarpin und Musecarin werden unwirk-
sam. — 7?) Arch. f. exp. Pathol. 51, 426 ff., 1904. — °) Pflügers Arch. 9, 434,
1902. — °) Skand. Arch. f. Physiol. 8, 223, 1898.
310 ij Organextraktwirkung; spezifisch wirkende Substanzen.
venenblute enthalten ist, und welche durch periphere Einwirkung auf die Gefäße
blutdrucksteigernd wirkt. Die Substanz wird durch Kochen zerstört. In letzter
Zeit haben Swale Vincent und Sheen') auch noch aus anderen Organen
(Muskeln, Nerven usf.) mit Kochsalzlösung bei Zimmertemperatur PISMMEERE
wirkende Extrakte erhalten.
Aus einer ganzen Reihe von Organen (Thyreoidea, Thymus, Nekmiukks,
Hypophyse, Nerven und Muskeln, Niere, Leber, Milz, Darmschleimhaut usf.°)
lassen sich ferner — insbesondere beim Auskochen mit Kochsalzlösung — depres-
sorisch wirkende Substanzen ausziehen. Daß die depressorisch wirkende Substanz
im Extrakt von Nervengewebe nicht das Cholin ist, wie Halliburton°) meinte,
geht nach 8. Vincent und Sheen (l. ce.) daraus hervor, daß nach Atropin-
vergiftung der Extrakt noch immer den Blutdruck herabsetzt, während Cholin-
injektionen ihn dann steigern.
Bayliss und Starling*) haben die Vermutung ausgesprochen, daß es viel-
leicht auf die verschiedenen Gefäßbezirke spezifisch depressorisch wirkende Sub-
stanzen geben könne. Wenn auch die Experimente, aus welchen Bayliss und
'Starling ihre Folgerung zogen, vielleicht nicht ganz beweisend sind’), so liegen
doch von anderer Seite ähnliche Angaben vor. So scheint Kohlenoxydvergiftung
eine Dilatation speziell der Hirngefäße zu bewirken®). So wirken die Albumosen
(Witte-Pepton) auf die einzelnen Gefäßbezirke verschieden stark dilatierend: Die
Leber-, Milz- und Darmgefäße sind besonders empfindlich, während die Nieren-
und Hautmuskelgefäße sehr wenig darauf reagieren’). Am bemerkenswertesten
aber sind die Angaben von Cavazzani°) über die Wirkung des Harnstoffs. Auf
der einen Seite hatten mehrere Autoren ?) nachgewiesen, daß die harntreibenden
Mittel, und zwar nicht bloß die sogenannten „harnfähigen Substanzen“, sondern
auch die eigentlichen Diuretica mit Ausnahme des Digitalins, wenn sie einem
isolierten Nierenkreislauf zugefügt wurden, also durch direkte periphere Wirkung,
die durchfließende Blutmenge vermehrten. Cavazzani und Rebustello zeigten,
daß diese Gefäßerweiterung außerdem, aber in abnehmendem Maße, auch die Ge-
fäße des Hirns, der Leber, der Extremitäten, schließlich auch der Lunge betrifft.
Andererseits steigert Harnstoff, ins Blut injiziert, den Blutdruck, und zwar durch
eine direkte Wirkung auf das Vasomotorenzentrum. Wenn man nämlich in der
hinteren Extremität bei intakten Nerven einen künstlichen Kreislauf herstellt, so
nimmt das Stromvolumen in dieser Extremität ab, wenn dem Tier Harnstoff injiziert
wird. Durch das Zusammenspiel dieser entgegengesetzten zentralen und peripheren
Wirkungen, von denen die periphere quantitativ variiert, kommt es nach Harnstoff-
injektion zu einer zweckmäßigen Regulierung des Kreislaufes, nämlich einer ver-
mehrten Durchströmung der Niere vermöge der lokalen Erweiterung der Nieren-
gefäße bei gleichzeitiger Steigerung des allgemeinen Blutdrucks, da die geringe
periphere Wirkung in den anderen-Bezirken durch die zentralen Erregungen über-
tönt werden. Ganz ähnlich überwiegt nach Gottlieb und Magnus'°) die durch
gewisse Substanzen der Digitalisgruppe bewirkte Blutverdrängung aus dem Splanch-
nicusgebiete die direkt verengernde Wirkung des Giftes auf die peripheren Gefäße
so sehr, daß letztere sich erweitern.
!) Journ. of Physiol. 29, 261 ff., 1901. — ?) Vincent und Sheen, 1. c. Hier
auch die Literatur. — °) Journ. of Physiol. 26, 229, 1901; vgl. auch Mott und
Halliburton, Philos. Transact. 191 B, 216, 242, 1899. — *) Journ. of Physiol. 28,
351, 1902. — ®) Vincent und Sheen, 1. c. 8. 263. — °) F. Pick, Arch. f. exp. Path. 42,
437 ff. Vgl. auch Wiechowsky, ebenda 48, 407, 1902. Die verschieden starke
Wirkung des Adrenalins auf die einzelnen Gefäßbezirke (Langley, Journ. of Physiol.
27, 248, 1901) könnte auf verschieden ausgiebiger Versorgung mit Vasoconstrietoren
beruhen (Brodie und Dixon, Journ. of Physiol. 30, 495, 1904), denn Gefäße mit
geringer Constrietorenversorgung (Hirn, Lunge) werden erst bei stärkeren Dosen
verengert. — 7) Thompson, Journ. of Physiol. 24, 396; 25, 1, 1899. — *®) Arch.
ital. de biol. 18, 158, 1893. Vgl. auch Stefani, ebenda 21, 247, 1894. — °?) Abeles,
Wien. Sitzungsber. 87 (3), 196 ff., 1883. J. Munk, Virchows Arch. 107, 291,
1887; 111, 434, 1888. Landergren und Tigerstedt, Skand. Arch. 4, 263,
1894. — '°) Arch. f. exp. Pathol. 47, 135, 1901.
DE, WERD EB
Wirkung von Erstickung und Anämie; spontane Tonusschwankungen. 311
Stefani!) scheint zur Erklärung der Erweiterung der Hautgefäße bei der
Erstickung ebenfalls eine ähnliche periphere, lokal verschiedene dilatatorische
Wirkung des Erstickungsblutes heranziehen zu wollen, wie sie für den Harnstoff
angegeben wurde. Die Zulässigkeit dieser Folgerung ist aber zweifelhaft.
Mosso?) sah, wenn er durch die Gefäße der ausgeschnittenen Niere nach
längerer Durchströmung mit arteriellem Blut Erstickungsblut durchfließen ließ, eine
Abnahme des Stromvolumens, also Gefäßverengerung. Wurde dann wieder arterielles
Blut durchgeleitet, so erweiterten sich die Gefäße langsam wieder, am meisten,
wenn das Blut an der Luft geschlagen und es so mit O gesättigt, die CO, ihm aber
zu einem großen Teile entzogen worden war. Läßt man auf dieses mit O gesättigte
Blut mit Eisenfeilspänen reduziertes Blut folgen, so fließt dieses noch rascher.
Unterbricht man den Strom des arteriellen Blutes, und läßt man es sodann von
neuem durchströmen, so ist der Blutstrom zunächst außerordentlich beschleunigt,
die Gefäße sind stark erweitert, was ja auch vom lebenden Tiere als Gefäßlähmung
nach Anämie bekannt ist. Dieser Lähmungszustand kann aber schon durch
mit Eisenfeile reduziertes Blut beseitigt werden. Die verengernde Wirkung des
Erstiekungsblutes bezog Mosso auf eine Reizwirkung der CO,. Die Arteria saphena
des Kaninchens kontrahiert sich energisch, wenn sie längere Zeit mit dyspnoischem
Blut gefüllt war und dann plötzlich hellrotes (eupnoisches) Blut in sie einströmt?).
Auf eine analoge „postanämische“ Erregung der letzten Endigungen der Vaso-
motoren in den Gefäßen bezieht S.Mayer‘*) die Blutdrucksteigerung, welche einige
Zeit nach Lösung einer 10 bis 15 Minuten dauernden Aortenabklemmung erfolgt.
Plumier°) sah die Lungengefäße nach Durchschneidung ihrer Vasoconstrietoren
(des Sympathicus) sich bei der Erstickung verengern. Die Blutgefäße der Frosch-
pfote erweitern sich beim Durchleiten von mit 00, gesättigter Ringerlösung °).
Der Tonus der isolierten Gefäße kann außer durch nachweisbare äußere
Reize auch noch durch unbekannte innere Einwirkungen beeinflußt werden’).
Derartige „spontane“ Tonusschwankungen — Erweiterungen und Verenge-
rungen — sind an Gefäßen mit intakten Nerven zuerst von Schiff°) an
den Arterien des Kaninchenohres beobachtet worden. Die Verengerung
dauert gewöhnlich länger als die Erweiterung. Die Perioden folgen sich sehr
unregelmäßig, sie sind unabhängig von Blutdruck und Atmung und verlaufen
in beiden Ohren unabhängig voneinander. Ähnliche Schwankungen der Gefäß-
weite sind auch an mehreren anderen Orten beobachtet worden, so an der
Schwimmhaut und im Mesenterium des Frosches, an der Arteria saphena und
anderen Hautgefäßen des Kaninchens?), an den Darmgefäßen!P). Nach Durch-
schneidung des Halssympathicus verschwinden die Tonusschwankungen der
Ohrarterie zunächst, kehren aber nach einigen Tagen wieder !!). Dieselbe Beob-
achtung hat Huizinga !2) an den Schwimmhautarterien des Frosches gemacht
und dabei auch den Einwand einer vikariierenden anderweitigen Vasomotoren-
versorgung widerlegt, denn die Reflexe von der vorderen Extremität auf die
Schwimmhaut blieben aus. Diese Beobachtungen, sowie das Auftreten von
!) Arch. ital. de biol. 21, 248, 1894. — ?) Sächs. Ber. 26, 330ff., 1874. —
3) E. Hering bei $S. Mayer, Wiener Sitzungsber. 81 (3), 138, 1880. — *) Ebenda
79 (3), 112#. Hier Literatur. — °) Trav. du Labor. de Frederieq 6, 277, 1901. —
6) Bayliss, Journ. of Physiol. 26, XXXII, 1901. — 7) Goltz, Pflügers Arch. 11,
91. — °) Arch. f. physiol. Heilk. 13, 525, 1854. Die übrige Literatur bei Tiger-
stedt, 8. 538. — °) Siehe Tigerstedt, 1. c. — !") Bayliss, ebenda 28, 280 ff.,
1902. Dieselben Volumsehwankungen zeigt die Milz (Roy, Journ. of Physiol. 3,
208 ff., 1881). — '') Vulpian, Lecons sur l!’app. vasomoteur 1, 81, 1875, und andere.
Nach S$S. Mayer (Hermanns Handbuch 5 [2], 478) sind allerdings die Schwankungen
am nervös völlig isolierten Ohre nur durch Blutdruckschwankungen bedingt. —
\2) Pflügers Arch. 11, 213, 1875. e
312 Tonusschwankungen; Reaktion auf Dehnung.
Tonusschwankungen in der ausgeschnittenen Niere !) sprechen für die Möglich-
keit eines peripheren Ursprungs. Für letztere Annahme wurde ferner geltend
gemacht, daß die Schwankungen an den beiden Ohren des Kaninchens, ja selbst
an den verschiedenen Arterien der Schwimmhaut nicht gleichzeitig auftreten,
und daß an einer und derselben Arterie (besonders an der Arteria saphena)
erweiterte und verengerte Stellen nebeneinander vorkommen 2). Trotzdem
müssen die Tonusschwankungen in gewisser Beziehung vom Zentralnerven-
system abhängig sein, denn sonst würden sie nach der Durchschneidung der
Vasomotoren nicht zunächst verschwinden. Ferner sind sie abhängig vom
Erregbarkeitszustande des Zentralnervensystems: nach Strychninvergiftung
sind sie enorm verstärkt (Huizinga, l. c. S. 211, auch bei anämischen Tieren
ohne Vergiftung!), am Kaninchenohre zeigen sie sich nach Mosso?°) nur
dann, .wenn das Tier aufgeregt ist.
Zu den selbständigen Kontraktionen der Gefäßwand gehören ferner- die
zuerst von Wharton Jones®) beobachteten rhythmischen Verengerungen
der Venen im Fledermausflügel, welche nach Luchsinger) und Schiff ®)
auch nach Unterbindung aller Flügelnerven und Bepinselung der zum Flügel
hinziehenden Gefäße mit Ammoniak, am abgeschnittenen oder besser ab-
gebundenen Flügel und bei künstlicher Durchströmung bis zu 20 Stunden
nach dem Tode des Tieres bestehen bleiben, also ihren peripheren Ursprung
ganz sicher erkennen lassen. Vorbedingung für ihr Zustandekommen ist
allerdings ein Innendruck von einiger Größe (40 bis 50cm Wasser), was
lebhaft an das analoge Verhalten des Herzens gewisser Wirbelloser erinnert,
die sich erst bei einem gewissen Füllungsdruck kontrahieren ’).
Die Eigenschaft, auf Steigerungen des Innendruckes durch Kontraktion
zu reagieren, bildet aber nicht etwa eine gelegentliche Ausnahme, sondern
ist wahrscheinlich allen Gefäßen eigen. Nachdem schon Ostroumoff®)
durch Temperaturmessungen an der Pfote zu dem Schlusse gelangt war, daß
die Blutgefäßwandung. für sich, nach Durchtrennung der an sie herantretenden
Nerven, das Vermögen besitzt, auf eine plötzliche Blutdrucksteigerung mit
Verstärkung ihrer Spannung zu reagieren, zeigte jüngst Bayliss®) durch
Volummessungen, daß Erhöhung des Blutdruckes eine Verengerung, Er-
niedrigung des Blutdruckes eine Erweiterung des Volumens der entnervten
Hinterpfote des Hundes herbeiführt, ja an der ausgeschnittenen Carotis
des Hundes konnte er die Kontraktion bei Drucksteigerung direkt sehen.
Diese periphere Tonusregulierung bei Schwankungen des Innendrückes ist
aber nach Ostroumoff (l. ec.) nur vorhanden bei guter Erregbarkeit der
„peripheren Zentren“. Wird diese durch ermüdende Einflüsse, wozu frische
Nervendurchschneidung, längere Atemsuspensionen, wiederholte Druck-
steigerungen gehören, herabgesetzt, so werden die Gefäße durch die Steigerung
des Innendruckes erweitert.
') Mosso, Sächs. Ber. 26, 317, 1874. — ?°) Riegel, Pflügers Arch. 4, 357,
1871. Doch sah derselbe Autor ähnliche lokale Einschnürungen an den Mesenterial-
arterien auch bei direkter Halsmarkreizung (l. ec. 8. 372£.). — °) Zit. nach Tiger-
stedt, 8. 539. — *) Philos, Transact. 1852 (1), 8. 131ff.; zit. nach Tigerstedt,
8. 441. — °) Pflügers Arch. 26, 445, 1881. — °) Ebenda, 8. 456. — 7) Herz von
Helix (Biedermann, Wiener Sitzungsber. 89 [3], 24ff., 1884), von Aphysia (Straub,
Pflügers Arch.. 86, 504, 1901). — °) Pflügers Arch. 12, 244 ff., 1876. — °) Journ.
of Physiol. 28, 220, 1902.
a a u
Wirkung von Erstickung‘’und Anämie auf das Gefäßnervenzentrum. 313
Die Beobachtungen von Ostroumoff und Bayliss stehen in-einem gewissen
Gegensatz zu den Angaben von Stefani'), der bei künstlich unterhaltenem Kreis-
lauf die Gefäße auf Drucksteigerung sich erweitern sah, und zwar die Haut- und
Muskelgefäße der Extremitäten viel stärker und prompter als die Gefäße der Ein-
geweide.
Einfluß von Ernährungsstörungen auf die Gefäßnervenzentren.
Erstickung, und zwar speziell Mangel an Sauerstoff, bewirkt zu-
nächst eine enorme Erregung des bulbären Vasomotorenzentrums und in-
folgedessen meist eine sehr bedeutende Steigerung des Blutdruckes?). Nach
der anfänglichen Steigerung sinkt der Blutdruck infolge der fortschreitenden
Lähmung des Zentrums wieder ab und zwar anfangs schneller, später lang-
samer. Diese Verzögerung des Absinkens wird von Konow und Stenbeck
und Landergren°) erklärt durch die nunmehr neu hinzutretende asphyk-
tische Erregung der. spinalen Gefäßzentren, welche den Blutdruck noch eine
Zeitlang hoch erhält. Kohlensäureanhäufung im Blute bei genügender Sauerstoff-
zufuhr bewirkt nach Mares bloß eine ganz vorübergehende Blutdrucksteige-
rung mit darauf folgendem allmählichen Absinken.
Ebenso wie die Erstickung bewirkt Anämisierung des Hirnes beim
Kußmaul-Tennerschen Versuch und bei Steigerung des allgemeinen Hirn-
druckes anfangs Erregung, später Lähmung des bulbären Gefäßzentrums ?).
Die spinalen Zentren und Bahnen der Gefäßnerven werden durch Anämisierung
ebenfalls zunächst erregt und darauf, vergleichsweise aber erst sehr spät,
gelähmt. S. Mayer) fand nach Abklemmung der Aorta noch hohen Blut-
druck bei schon vollständiger motorischer Lähmung. Asher und Arnold®)
sahen, daß nach Anämisierung des Rückenmarkes die Reflexe auf den Blut-
druck als letzte übrig blieben. Insbesondere der Depressorreflex bleibt be-
stehen, wenn schon längst die Sensibilität und Motilität des Rückenmarkes
verloren gegangen ist.
Läßt man in einem Stadium der Erstickung oder Anämisierung, in
welchem der Blutdruck bereits stark abgesunken ist, von neuem arterielles
Blut durch die Zentren strömen, so erfolgt wiederum eine starke „post-
dyspnoische“ oder „postanämische“ Erregung derselben, die zu einer be-
trächtlichen Blutdrucksteigerung führt”).
Die Gefäßverengerung bei der Erstickung erstreckt sich nicht auf alle
Organe. Vielmehr betrifft sie vorwiegend die Bauch- und Beckeneingeweide:
") Arch. ital. de biol. 21, 246, 1894. — °) Traube, Konow und Stenbeck,
Pick und Knoll, Mares an den oben 8. 277ff. zitierten Orten und andere. Die
Blutdrucksteigerung ist unter gewissen Umständen nicht sehr bedeutend (Zuntz,
Pflügers Arch. 17, 400, 1878), kann sogar ganz fehlen (Hürthle, ebenda 44, 592,
1889. — °) Skand. Arch. 7, 7, 1897. — *) Über den Kußmaul-Tennerschen
Versuch siehe 8. Mayer (Wiener Sitzungsber. 73 [3], 85, 1876; Lähmung sieher
nur bei Kaninchen, nicht bei Hunden), über Hirndruck Naunyn und Schreiber
(Arch. f. exp. Path. 14, 32#f., 1881) und Cushing (Mitteil. a. d. Grenzgeb. d.
Med. u. Chirurgie 9, 791ff., 1902). Durch allmähliche Steigerung des Hirndruckes
kann man den Blutdruck immer höher (bis auf 290 mm Hg beim Hunde) treiben.
Naunyn und Schreiber halten übrigens die bei Hirnkompression der Blutdruck-
senkung vorhergehende primäre Erhebung für reflektorisch, durch Reizung sensibler
Nerven bedingt. — °) Wiener Sitzungsber. 79 (3), 99, 1879. — °) Zeitschr. f. Biol.
40, 277, 1900. — 7) 8. Mayer, Wiener Sitzungsber. 81 (3), 130 ff., 1880. Hier
weitere Literatur. ?
314 Loi de balancement bei Erstickung.
es verengern sich die Gefäße des ganzen Darmes, der Milz, Niere, des Uterus,
während sich die Gefäße anderer innerer Organe (der Nebenniere), vor allem
aber die Gefäße der Haut und Muskulatur und die Hirngefäße en die
Retinalarterien) erweitern }).
Dieser Gegensatz zwischen dem Verhalten der Hautmuskel- und Hirngefäße
einerseits, den Eingeweidegefäßen andererseits tritt auch bei reflektorisch ausgelösten
Blutdrucksteigerungen sehr oft auf (loi de balancement von Dastre und Morat)
und Könnte hier in plausibler Weise durch eine bestimmte Organisation des Gefäß-
nervenzentrums selbst erklärt werden, vermöge welcher etwa nur die Zentren für
bestimmte Gefäßbezirke in Erregung gerieten oder etwa gleichzeitig mit einer Er-
regung der Constrietoren für den einen Bezirk eine Erregung der Dilatatoren für
andere Bezirke verbunden wäre. Bei der Erstickung aber würde man eher — wie
bei den Erstickungskrämpfen der Skelettmuskeln — eine allgemeine, gleichmäßige
Reizung aller Gefäßnerven erwarten. In der Tat fand schon Heidenhain (l. ce.
8. 103ff.), daß man durch relativ schwache elektrische Reizung des Vasomotoren-
zentrums dieselben Erscheinungen erhält wie bei Erstickung. Bei starker Reizung
verengern sich dagegen auch die Hautgefäße mit. Er meinte also zunächst, daß
bei nicht allzustarker Erregung der Zentren die geringe constrietorische Wirkung
auf die Hautgefäße durch den gesteigerten Blutdruck überwunden wird und da-
durch eine passive Hyperämie der Haut bewirkt wird. Am ehesten könnte man
sich ein solches Verhalten bei den Hirngefäßen mit ihren verhältnismäßig schwach
wirkenden Vasomotoren zurechtlegen. Zwar beteiligen sich jene Hautteile, deren
Gefäßnerven durchschnitten sind, nicht an der Hyperämie, wofern ihr peripherer
tonusfähiger Apparat gut erregbar ist?), aber das könnte die Folge der oben
8. 312 beschriebenen peripheren Reaktion der nervös isolierten Gefäße auf Steigerung
des Innendruckes sein, von der man nicht sagen kann, ob sie ebenso auch bei in-
takten Gefäßnerven vorhanden ist.
Den direkten Beweis dafür, daß die Erweiterung der Haut- und Muskelgefäße
bei der Erstickung eine passive ist, bedingt durch die Blutdrucksteigerung, erbrachten
Bayliss und Bradford‘). Je kleiner die Blutdrucksteigerung bei einem Tiere
desto geringer auch die Erweiterung der oberflächlichen Gefäße, ja, wenn nach
vorheriger Durchschneidung beider Splanchnieci die Drucksteigerung ganz un-
bedeutend ist, so verengern sich auch die Gefäße der Extremitäten, das Volumen
der letzteren nimmt ab. Eine Volumenabnahme der Extremitäten erfolgt auch
dann, wenn man die Blutdruckerhöhung bei der Erstickung dadurch verhindert,
daß man den Überschuß des Blutes aus der Carotis in ein geräumiges Seitenrohr
ausfließen läßt*). Danach fließen wohl also in der Tat bei der Erstickung allen
Gefäßen eonstrietorische Erregungen zu, aber den Eingeweidegefäßen am stärksten.
Sie treiben also das in ihnen enthaltene Blut am kräftigsten aus, und es ergießt
sich in die verhältnismäßig schwächer kontrahierten Gefäße der äußeren Teile.
Die Ursache der kräftigeren Kontraktion der Eingeweidegefäße ist vermutlich auf
reichere Innervation mit Constrietoren begründet (vgl. aber oben 8. 313 die An-
gaben von Stefani). Ob bei der Erstickung neben der allgemeinen Erregung der
Vasoeonstrietoren eine ebensolche allgemeine Dilatatorenerregung vorhanden ist
(Dastre und Morat, 1. c.), die aber von der Constrietorenerregung übertönt wird,
ist nach den vorliegenden Untersuchungen nicht zu entscheiden.
!) Heidenhain, Pflügers ‘Arch. 5, 100, 1872; Dastre und Morat,
Rech. exp. sur le syst. nerv. vasomoteur 1884, p. 287 #t. Über das Verhalten
der Nebennierengefäße siehe Bied]l und Reiner (Pflügers Arch. 67, 450, 1897),
über die Hirngefäße, Literatur bei Hürthle (ebenda 44, 590 ff., 1889) und
Gottlieb n. Magnus (Arch. f. exp. Path. 48, 269, 1902). — ?) Ostroumoff
(unter Heidenhain), Pflügers Arch. 12, 257, 1876. Durch Untersuchung der
"Druckverhältnisse im Hirnkreislauf kam Hürthle (ebenda 44, 594, 1889) zu
dem Schlusse, daß während der Asphyxie auch Vasodilatatoren der Hirngefäße
erregt sein müßten. — °) Journ. of Physiol. 16, 20, 1894. — *) Bayliss, ebenda 23,
Suppl., 8. 14. Ganz das Entgegengesetzte findet (Ebenda 8. 42) Delezenne.
Einfluß des Großhirns auf die Gefäße; Sensibilität derselben. 328
Über den Einfluß von Giften auf das Constrietorenzentrum (die Narcotica
wirken lähmend, Stryehnin, Campher usf. erregend), vgl. Gottlieb (Verh. d.
19. Kongr. f. innere Med. S. 21ff., 1901). Auch bei der Erregung des Gefäß-
zentrums durch Gifte ist häufig mit der Verengerung der Gefäße des Splanchnicus-
gebietes eine Erweiterung der Haut-, Muskel- und Hirngefäße verbunden !).
Die Beziehungen der Gefäßnerven zum Großhirn.
Von der Großhirnrinde her werden die Gefäßzentren beeinflußt bei
Affekten. Diese Einflüsse bilden einen Teil der schon bei den Herzzentren
erwähnten „Ausdrucksvorgänge des Gefühlslebens“ (emotive Innervationen),
‚bezüglich welcher auf die psychologische Literatur verwiesen werden muß?).
Über die „emotiven Reflexe“ bei Tieren siehe unten $. 322.
In neuerer Zeit haben einige Psychologen die Ansicht ausgesprochen, daß die
Gefühle und Affekte das Bewußtseinskorrelat von nervösen Erregungen darstellen,
welche von afferenten Gefäß- (und Eingeweide-)nerven dem Großhirn zugeführt werden
(James [wenigstens anfangs], Lange®). Mit Rücksicht darauf hat Sherrington*)
nachgewiesen, daß Hunde nach Durchschneidung des Halsmarkes (also oberhalb des
Abganges der Vasomotoren — in einem Falle waren außerdem die Vagosympathici
und Depressores durchschnitten) genau ebenso Affektsymptome (Furcht, Zorn usw.)
zeigen wie normale Hunde. Wahrscheinlich ist es freilich, daß vom Gefäßsystem
aus dumpfe Sensationen ausgelöst werden, welche die Stimmung beeinflussen.
Injektion stark reizender Substanzen in die Gefäße’), sowie Reizung des De-
pressors®), der ja nach neueren Untersuchungen ein sensibler Gefäßnerv (der
Aorta) ist, ruft bei nicht narkotisierten Tieren Schmerzäußerungen hervor. Ferner
spielen wohl auch bei den Kitzelempfindungen Gefäßveränderungen mit’),
Wündt°) meint sogar, daß die Wärme- und Kälteempfindung indirekt durch Gefäß-
nervenreizung hervorgerufen werden könnte. Die Fälle von Herzangst und Herz-
schmerz, insbesondere die typischen Anfälle von Angina pectoris, finden sich in aller-
erster Linie bei Erkrankungen der Koronararterien und des Anfangsteiles der Aorta °).
Auch durch künstliche Reizung bestimmter Stellen der Großhirnrinde
(der motorischen Zone und der angrenzenden Gebiete) und der von diesen
Stellen ausgehenden zentrifugalen Bahnen in die innere Kapsel und die Groß-
hirnschenkel lassen sich Veränderungen der Gefäßweite auslösen, die sich in
einer Steigerung, gelegentlich aber auch in einer Senkung des allgemeinen
Blutdruckes zu erkennen geben !%). Eine tonische Innervation des bulbären
Gefäßzentrums von den oberen Hirnteilen aus besteht aber nicht, wie daraus
hervorgeht, daß Durchschneidung des Hirnstammes vor dem Gefäßzentrum
keine Erniedrigung des Blutdruckes setzt.
!) Gottlieb u. Magnus, Arch. f. exp. Path. 48, 270, 1902. — ?) Vgl. oben $. 280.
Eine scharfe Kritik der zu den Untersuchungen verwendeten plethysmographischen
Methode und der psychologischen Folgerungen aus den Ergebnissen gab R. Müller
(Zeitschr. f. Psychol. u. Physiol. d. Sinnesorg. 30, 340, 1902). — °) Vgl. Wundt,
Grundz. d. physiol. Psychol. 2, 5. Aufl., 367, 1902. — *) Proc. Roy. Soc. 66, 390,
1900. — °) Pagano, Arch. ital. de biol. 33, 33, 1900. — °) Tschirwinsky, Zentralbl.
f. Physiol. 9, 778, 1896; v. Cyon, Pflügers Arch. 70, 233, 1898. — 7) Siehe dieses
Handb. 3, 705. — ®) Grundz. d. physiol. Psych. 1, 5. Aufl., 402, 436, 1901. —
®) Vgl. Krehl, Pathol. Physiol., S. 110 ff. — '°) Vgl. die Literatur bei Tigerstedt,
8. 536ff. Nach Howell und Austin (Amer. Journ. of Physiol. 3, XXII, 1900)
gibt Reizung der motorischen Zone bei Morphium-Äthernarkose Blutdrucksenkung,
bei Curare-Äthernarkose Steigerung. Die Blutdrucksteigerung wird bewirkt durch
Kontraktion der Gefäße der Eingeweide (des Dünndarmes), während die des Colons
2. B. sich erweitern, wie bei Reizung eines sensiblen Nerven ae -Franck
und Hallion, Arch. de physiol. 1896, p. 504).
316 Traube-Heringsche Blutdruckschwankungen.
Die zentral bedingten Schwankungen des Gefäßtonus.
Wenn bei einem curaresierten Hunde nach doppelseitiger Vagotomie die
künstliche Respiration ausgesetzt wird, so steigt infolge der dyspnoischen
Erregung des Gefäßzentrums der Blutdruck an, und zwar in langsamen
Wellen (Traube). Vorbedingung für das Entstehen dieser Wellen ist
eine gewisse Venosität des Blutes. An curaresierten Hunden, Katzen und
Kaninchen treten sie auch bei gleichbleibendem mittleren Blutdruck auf,
wenn man die Tiere durch oberflächliche künstliche Atmung dyspnoisch
macht. Wenn die Tiere nicht ganz vollständig curaresiert sind, sieht man,
daß diese Blutdruckschwankungen den abortiven Atembewegungen isochron '
sind (Hering?). Schwankungen des Blutdruckes, welche mit den Atem-
bewegungen zusammenfallen (Absinken des Blutdruckes bei der Inspiration,
Ansteigen desselben bei der Exspiration), treten ferier auf nach Abstellung der
künstlichen Atmung bei cchloroformierten Hunden, wenn beide Phrenici und Vagi
durchschnitten und Thorax und Abdomen weit eröffnet sind (Fredericg?).
Daß die von Traube und Hering an curaresierten Tieren mit den von
Fredericq an nicht curaresierten Tieren beobachteten Wellen identisch sind und
strenge mit der Atmung koinzidieren in der Weise, daß der Exspiration eine
Drucksteigerung entspricht, zeigte Plumier‘*) an morphinisierten Hunden, denen
beide Vagi und Phrenici durchschnitten, Thorax und Abdomen weit eröffnet waren
und die künstlich respiriert wurden. Nach Sistierung der künstlichen Atmung
traten parallel den frustranen Atembewegungen die Blutdruckschwankungen auf.
Nun wurde das Tier immer stärker curaresiert und die Atemsistierung wiederholt.
Die Blutdruckschwankungen blieben immer synchron mit den immer schwächer
werdenden Atembewegungen und änderten ihr zeitliches Verhältnis (ungefähr 7 in.
der Minute) auch nicht nach vollständiger Curaresierung.
Die Traube-Heringschen Wellen müssen, da sie an curaresierten
Tieren ebenso wie an Tieren mit eröffnetem Thorax auftreten, deren Atem-
bewegungen keinen peripheren, mechanischen Einfluß auf den Kreislauf haben
können, durch zentrale Ursachen bedingt sein. Sie stellen sich analog der
inspiratorischen Hemmung des Vagustonus dar als eine Art Irradiation der
Erregung vom Atemzentrum auf das Gefäßzentrum (inspiratorische Hemmung,
exspiratorische Verstärkung des Tonus’). Ähnlich wie die inspiratorische
Hemmung des Vagustonus am stärksten ist bei Dyspnoe, so treten auch die
Traube-Heringschen Wellen erst in der Dyspnoe hervor. Sie sind ferner
sehr stark, wenn das Gefäßzentrum durch Drucksteigerung in der Schädel-
höhle erregt wird 6). Bei erhaltenen Vagis wirken sich während der Inspi-
ration die Pulsbeschleunigung und die periphere Gefäßerweiterung in bezug
auf den Blutdruck entgegen ?).
!) Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1865, 8. 881. — ?) Wiener Sitzungsber. 60 (2),
829, 1869. — °) Arch. de biol. 3, 71,. 1882; Du Bois’ Arch. 1887, 8. 351. —
*) Travaux du labor. de Frederieq 6, 241, 1901. — °) Der Einwand von Woodjr. _
(Amer. Journ. of Physiol. 2, 352, 1899), daß die Traube-Heringschen Wellen
nach Injektion von Extractum veratri viridis, welches das Atemzentrum lähmt, nicht
verschwinden, ist nach Plumier (l. e.) nicht stichhaltig, weil die von Wood
beobachteten Wellen keine Traube-Heringschen, sondern Wellen vierter Ord-
nung (8. Mayersche) waren (vgl. oben). — °) Naunyn und Schreiber, Arch.
f. exp. Path. 14, 41ff., 1882. (Hier auch 8. Mayersche Wellen?); Cushing,
Mitt. a. d. Grenzgeb. d. Mediz. u. Chirurgie 9, 799, 1902. — 7) Frederieg, 1. e.
1882, 8. 90,
nt dt ur ee
S. Mayersche Blutdruckschwankungen. 317
Um die rein zentral ausgelösten Traube-Heringschen Wellen von den
größtenteils peripher bedingten, gewöhnlich auch bei Eupnoe vorhandenen respi-
ratorischen Schwankungen der Blutdruckkurve zu scheiden, sind die ersteren von
Biedl und Reiner'!), denen sich Morawitz*) anschloß, als Wellen dritter
Art (oder Ordnung) bezeichnet worden, wobei die Autoren unter Wellen erster
Ordnung die einzelnen Pulswellen, unter Wellen zweiter Ordnung die gewöhnlichen
Atemschwankungen des Blutdrucks verstehen. Fredericgq (l. ce.) bezeichnete auch
die Traube-Heringschen Wellen als Wellen zweiter Ordnung, d. h. von der-
selben Größenordnung wie die gleichzeitigen Ateminnervationen.
Von den Traube-Heringschen, den einzelnen Ateminnervationen parallel
gehenden Wellen sind streng zu scheiden langsame Schwankungen des Blut-
drucks, welche bei unvergifteten, spontan atmenden Kaninchen auftreten,
deren Wellenlänge mehrere spontane Atemperioden umfaßt. Diese zuerst
von Cyon3) und Latschenberger und Deahna*) beobachteten Blut-
druckschwankungen wurden insbesondere von S. Mayer’) genau beschrieben
(S. Mayersche Wellen oder Wellen dritter Ordnung nach Fredericeq —
"Wellen vierter Ordnung von Biedl-Reiner und Morawitz). Diesen Blut-
druckschwankungen gehen gewöhnlich, nicht immer, Schwankungen in der
Atemgröße und periodisches Erschauern des Versuchstieres parallel. Knoll ®)
führt daher diesen Symptomenkomplex auf die kontinuierliche sensible Reizung
beim gefesselten Tiere zurück, auf welche die bulbären Zentren periodisch
reagieren, wobei der Einfluß auf die einzelnen Zentren (Atmungs- und Gefäß-
zentrum, Bewegungszentren) je nach der Erregbarkeit derselben variiere. Da-
gegen bemerkt Rulot?), daß diese Blutdruckwellen auch am ungefesselten
Tiere auftreten; sodann verschwinden in tiefer Chloralnarkose, wenn die Reflexe
auf den Blutdruck sehr herabgesetzt sind, zwar die periodischen Schwankungen
der Atemgröße, aber nicht immer auch die S. Mayerschen Blutdruckwellen.
Latschenberger und Deahna (I. ce. 8. 200) erklärten die von ihnen beob-
achteten Wellen, welche sie mit den Traube-Heringschen identifizierten, durch
das Wechselspiel zwischen pressorischen und depressorischen Reflexen. Sobald die
pressorischen Einflüsse überwiegen und der Blutdruck steigt, trete infolge der
Autoregulation des Kreislaufs (siehe das Folgende!) ein depressorischer Reflex ein
und umgekehrt. Auch nach v.Cyon®), der ebenfalls beide Wellenarten für identisch
hält, sollen sie der Ausdruck eines Wettstreites zweier antagonistisch wirkender
Kräfte sein, nämlich der Erregung des Vasoconstrietorenzentrums und der Gegen-
wirkung der Depressoren (siehe jedoch unten 8. 320).
Wenn bei sehr. seltenem Herzschlag die künstliche Atmung so frequent
gemacht wird, daß sie der Zahl der Herzschläge nahezu gleichkommt, so beob-
achtet man ebenfalls wellenförmige Schwankungen des Blutdruckes, welche nach
Hering und 8. Mayer (l. c. 8. 302) bedingt sind durch die Interferenz der Puls-
wellen „mit den durch den mechanischen Einfluß der künstlichen Lufteinblasungen
bedingten Wellen des Blutdruckes“. Morawitz (l.c. 8.83 ff.) glaubt auch für diese
Wellen eine Beteiligung des Vasomotorenzentrums annehmen zu müssen, weil er
nach völliger Ausschaltung desselben (Abbindung aller vier Hirnarterien und
Dekapitierung des Tieres) nur noch sehr selten, bei ganz genauer Einstellung der
Frequenz der künstlichen Respiration echte Interferenzwellen erhielt, welche sich
aber bezüglich der Pulsform in charakteristischer Weise von den beim normalen
Tier vorkommenden ähnlichen Wellen, die er „pulmonale Reflexwellen“ nennt,
unterschieden.
Y) Pflügers Arch. 79, 176, 1900. — ?) Engelmanns Arch. 1903, 8. 92. — *) Pflügers
Arch. 9, 506 ff., 1874. — *) Ebenda 12, 171 #£., 1876. — °) Wiener Sitzungsber. 74
(3), 281, 1876. — °) Ebenda 92 (3), 439, 1885. — 7) Travaux du Labor. de Fredericq
6, 67, 1901. — °) Pflügers Arch. 70, 262 ff. 1898.
318 ‚Reflexe vom Herzen auf die Gefäße; n. depressor.
Außer den bisher erwähnten, ziemlich regelmäßig ablaufenden rhythmischen
Wellen sind unter verschiedenen Umständen noch andere Blutdruckschwankungen
beobachtet worden, bezüglich welcher auf die Zusammenstellung von Biedl und
Reiner (l. e. 8. 173 ff.) verwiesen werden muß.
3. Gefäßreflexe.
Die Regulierung des Kreislaufs durch: die Gefäßnerven muß naturgemäß
in erster Linie auf reflektorischem Wege ausgelöst werden. Wir können
diese Reflexe in zwei Gruppen sondern: 1. Reflexe von den einzelnen Teilen
des Gefäßsystems aufeinander (Autoregulation des Kreislaufs), 2. Reflexe auf
das Gefäßsystem von anderen Organen.
Reflexe vom Herzen auf die Gefäße und von den Gefäßen
- aufeinander.
Von dieser ersten Gruppe sind zunächst bekannt Reflexe vom Herzen auf
die Gefäße. Nachdem zuerst Bochefontaine und Bourceret!) bei Reizung
des Pericardialüberzuges des Herzens Blutdrucksteigerung beobachtet hatten,
wies Wooldridge?) bei Reizung: der oberflächlichen Nervenstämmehen des
Herzens Blutdruckänderungen (Steigerungen und Senkungen) nach, welche
von der Schlagzahl des Herzens unabhängig waren. Ebenso sahen Brodie
und Russell) bei Reizung der extracardialen Herzäste des Vagus den Blut-
druck unabhängig von der Frequenz des Herzschlages bald steigen, bald
sinken.
Als den wichtigsten Reflexnerven des Herzens betrachtete man früher
den Nervus depressor. Es sind aber oben S. 283 (siehe dort auch die
Literatur) schon die Gründe angegeben worden, welche dafür sprechen,
daß dieser Nerv nicht aus dem Herzen, sondern aus dem Anfangsteil der
Aorta entspringt. Elektrische Reizung des zentralen Stumpfes des Nervus
depressor bewirkt eine allmählich eintretende, die Reizung lange über-
dauernde Herabsetzung des Blutdrucks, die hauptsächlich durch Erwei-
terung der Blutgefäße des Splanchnicusgebietes zustande kommt). Nach
Durchschneidung der Splanchniei, Durchschneidung des Rückenmarkes in
der Höhe des dritten Brustwirbels ®) oder Ausschaltung des ganzen Bauch-
kreislaufs durch Kompression der Aorta, der unteren Hohlvene und der
Pfortader €) ist die Blutdrucksenkung absolut genommen zwar bedeutend
geringer, aber doch nicht ganz verschwunden. Nach der Splanchnicus-
durchschneidung kann sie wieder ganz (oder fast ganz) auf dieselbe Höhe
gebracht werden wie vorher, wenn der Blutdruck durch Kochsalzinfusion
oder Reizung der peripheren Splanchnicusstümpfe auf der normalen Höhe
gehalten wird 7). Die Erweiterung bezieht sich demnach noch auf andere
Gefäßbezirke, und Bayliss®) wies plethysmographisch direkt eine Volum-
zunahme der Extremitäten nach. Das Nierenvolum nahm, wahrscheinlich
!) Compt. rend. 85, 1168, 1877. — ?) Du Bois’ Arch. 1883, 8.539. — °) Journ.
of Physiol. 26, 96, 1900. — *) Ludwig und Cyon, Sächs. Ber. 18, 307, 1866. —
°) Smirnow, Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1886, 8. 146. — °) Heidenhain u.
Grützner, Pflügers Arch. 16, 51, 1877. — 7) Porter u. Beyer, Amer. Journ. of
Physiol. 4, 283, 1901. — °) Journ. of Physiol. 14, 303, 1893.
Nervus depressor. 319
infolge kollateraler Anämie, ab!). Sobald der Blutdruck wieder anstieg,
vergrößerte sich nachträglich auch das Nierenvolumen. Die Blutgefäße der '
Schilddrüse erweitern sich 2). |
Ludwig und Cyon führten die Blutgefäßerweiterung bei Depressor-
reizung auf zentrale Hemmung des Constrietorentonus zurück. Es ist seit-
her vielfach 3) die Vermutung ausgesprochen worden, daß der Reflex durch
Erregung eines eigenen Dilatatorenzentrums in der Medulla oblongata zustande
komme. Ein strenger Beweis dafür ist aber bisher noch nicht erbracht
worden ®). S
v. Cyon nimmt an, daß die Depressorfasern nicht direkt im Gefäßzentrum
endigen, sondern in einem parigen, ganglionären Zwischenapparat. Jedenfalls, meint
er, müsse die Verbindung des Depressors mit dem Gefäßzentrum eine ganz eigen-
- tümliche sein, denn es gelang ihm nie, durch Anderung des Zustandes des Gefäß-
zentrums eine pressorische Wirkung vom N. depressor aus zu erhalten’), während
bei anderen sensiblen Nerven je nach dem Zustande des Zentrums pressorische
oder depressorische Erfolge erzielt werden können (vgl. unten 8. 325). Der
Depressorreflex wird außerordentlich gesteigert nach Injektion von Jodothyrin
oder Natriumphosphat ®). Jodnatriuminjektion schwächt ihn ab’), nach Adrenalin-
einspritzung ist er herabgesetzt oder ganz vernichtet®), Einspritzung des blutdruck-.
steigernden Nierenextraktes hebt ihn dagegen nicht auf’). Atropin und Curare
ist ohne Wirkung auf den Depressorreflex, Chloralhydrat, Amylenhydrat und
Ather setzen ihn herab. Nach Strychnininjektion und bei Erstickung wird die
Wirkung geringer, nach Morphium- und Nikotinvergiftung stärker !). Depressor-
reizung bringt die 8. Mayerschen (?) Wellen zum Verschwinden ''), ebenso die
„pulmonalen Reflexwellen“ von Morawitz'”).
Da nach Ludwig und Cyon der Depressor aus dem Herzen entspringen
sollte, so folgerten sie daraus, daß durch diesen Nerven das Herz die Wider-
stände, welche sich seiner Entleerung entgegenstellen , auf dem Wege des
Reflexes vermindern könnte, wobei natürlich der oben S. 282 erwähnte Einfluß
aufs Herz im gleichen Sinne wirken würde.: Nach den neueren Angaben von
Köster-Tschermak und Schumacher 13) müßten die sensibeln Nerven des
Herzens, denen man diese Funktion zuschreiben wollte, ausschließlich im
Vagusstamme selbst verlaufen. Der Nervus depressor würde gereizt werden
durch die Dehnung der Aortenwand, er wäre nicht der „Ventilnerv“ des
Herzens, sondern der Aorta. Als Beweis dafür wurde von Köster und
Tschermak die negative Schwankung des Längsquerschnittstromes dieses
Nerven bei Erhöhung des Innendrucks der Aorta angeführt.
!) Dasselbe fanden Bradford (ebenda 10, 398, 1889) und Frangois-Franck
und Hallion (Arch. de physiol. 1896, p. 505). Auf denselben, rein mechanischen
Grund ist es wohl zurückzuführen, daß auch die Schleimhaut der Regio bucco-facialis
(Dastre und Morat, Rech. exper. sur le syst. nerv. vasomot. 1884, p. 302 ff.)
erblaßt. — ?) v. Cyon, Pflügers Arch. 70, 145, 1898. — °) Zuerst von Ostrou-
moff, ebenda 12, 276, 1876. — *) Vgl. v. Cyon in Richets Diet. de physiol. 4,
784 ff. — °) Tsehirwinsky gibt an (Zentralbl. f. Physiol. 10, 66, 1896), daß er
an narkotisierten, curaresierten Kaninchen manchmal auch pressorische Effekte bei
Reizung des N. depressor erhalten hat. — °) v. Cyon, Pflügers Arch. 70, 161 ff. —
7) Barb6ra, ebenda 68, 434 ff., 1897. — ®) Oliver und Schäfer, Journ. of Physiol.
18, 250, 1895; v. Cyon, Pflügers Arch. 74, 105 ff., 1899. — °) Tigerstedt u.
Bergmann, Skand. Arch. 8, 263, 1898. — '°) Tschirwinsky, l.c. und ebenda 9,
777, 1895. — "') Bayliss, l.c. p. 318; v. Cyon, Pflügers Arch. 70, 276, 1898
(Die Wellen sind hier als Traube-Heringsche bezeichnet). — '*) Engelmanns
Arch. 1903, S. 86. — '?) Siehe oben, $. 283.
320 Autoregulation des Kreislaufs.
Die Fälle, in welchen der Depressor bei Blutdrucksteigerungen nach-
“ weisbar in den Kreislauf regulierend eingreift, sind nicht sehr zahlreich.
Unter den gewöhnlichen Versuchsbedingungen (bei normalem Blutdruck)
befindet sich der Depressor in Erregung, nach Durchschneidung der vorsichtig
unmittelbar vorher präparierten Depressores steigt der. Blutdruck,. allerdings
nur vorübergehend, an!). Dieser Anstieg ist aber bei von vornherein
erhöhtem Blutdruck nicht etwa größer als bei normalem, ja bei Drucksteige-
rungen durch künstliche Plethora (Transfusion des Blutes eines anderen
Tieres in das Versuchstier) bleibt sie sogar vollständig aus. Auch vermag
der Depressor experimentell gesetzten Blutdrucksteigerungen durchaus nicht
immer entgegen zu wirken. Der einzige nicht unbestrittene ?2) Fall ist der,
daß die Blutdrucksteigerung, welche unmittelbar nach Abklemmung beider
Carotiden auftritt, nach der Durchschneidung der Depressoren stärker ist
als vorher. Auf die Höhe der Blutdrucksteigerung bei Reizung eines sen-
siblen Nerven oder bei der Asphyxie hat es keinen Einfluß, ob die Depressoren
erhalten sind oder nicht. Erwähnenswert ist schließlich mit Rücksicht auf den
oben angeführten Einfluß des Depressors auf die S.Mayerschen Wellen und die
S. 317 erwähnte Annahme v.Cyons der Umstand, daß nach Durchschneidung
beider Depressoren häufig wellenförmige Blutdruckschwankungen auftreten.
Der Nervus depressor ist wohl der wichtigste, aber nicht der einzige
Repräsentant einer Gruppe von sensiblen Nerven der Gefäße), welchen eine
regulierende Wirkung auf den Kreislauf zugeschrieben wird. Latschen-
berger und Deahna!) erschlossen derartige Einflüsse zuerst aus folgendem
Versuch. Sie durchschnitten bei Hunden auf einer Seite den n. ischiadicus
und cruralis und klemmten die arteria femoralis ab. Wurde sodann gleich-
zeitig die Klemme von der Femoralis des gelähmten Beines entfernt und die
Femoralis des anderen (nicht gelähmten) Beines abgeklemmt, so trat allmäh-
lich eine Blutdrucksteigerung auf, beim Freilassen der Femoralis der normalen
und gleichzeitigem Abklemmen der Arterie des gelähmten Beines eine Druck-
senkung. Da eine rein mechanische Erklärung hierfür nicht ausreicht, so
deuteten Latschenberger und Deahna das Resultat im .Sinne einer reflek-
torischen gegenseitigen Regulation der Gefäßweite. Zwar führte Zuntz)
die Drucksteigerung bei Anämisierung auf dyspnoische Reizung der Nerven-
endigungen in den Geweben zurück (weil auch Blutstauung durch Verschluß
der abführenden Venen eine Blutdrucksteigerung ergab), ließ aber das
Prinzip einer reflektorischen Beeinflussung gelten. Später wies Heger)
nach, daß Injektion stark reizender Substanzen (Nikotin, Silbernitrat) in die
periphere Blutbahn (bei abgebundenen Venen) eine reflektorische Druck-
steigerung hervorruft. Einer genaueren Analyse wurden diese Erscheinungen
durch Pagano’) unterzogen, welcher angibt, daß Injektion stark reizender
!) Sewall und Steiner, Journ. of Physiol. 6, 162, 1885; Hirsch und
Stadler, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 81, 391, 1904. Nach diesen auch das Folgende;
vgl. dort auch die weitere Literatur. — ?) Bayliss, Journ. of Physiol. 14, 315. —
®) Histologischer Nachweis der sensiblen Nervenendigungen in der Adventitia und
Intima bei Dogiel, Arch. f. mikr. Anat. 52, 66, 1898. — *) Pflügers Arch. 12,
178 ff., 1876; im ganzen bestätigt von Reid Hunt, Journ. of Physiol. 18, 392,
1895. — °) Pflügers Arch. 17, 404 ff., 1878. — °) Festschr. f. Ludwig, 1887,
8. 193, — 7) Arch. ital. de biol. 33, 1, 1900.
ee in
EB BEEELIELELLEOEEUE EN
Autoregulation des Kreislaufs. 321
Stoffe in die Femoralis und in die Nierenarterien, besonders aber in die
Carotis und in die Aorta eine sofortige starke Blutdrucksteigerung setzt,
welche bedingt ist durch eine Verengerung der Gefäße im Splanchnicüsgebiet,
während die Haut- und Muskelgefäße sich erweitern. Unwirksam ist Injek-
tion in die Darmarterien und ins venöse System. Ehe man freilich aus
diesen Experimenten weitergehende Schlüsse zieht, muß man berücksichtigen,
daß die Injektionen für das Tier äußerst schmerzhaft sind und also die so
hervorgerufenen Reflexe möglicherweise nichts für die Gefäße Charakteristisches
enthalten, selbst wenn sie wirklich von den Gefäßen, und nicht etwa vom
umgebenden Gewebe ausgehen. ;
Als der gewissermaßen adäquate Reiz für diese sensiblen Gefäßnerven
müßte doch wohl der Blutdruck angesehen werden. Daß nun wirklich Blut-
druckschwankungen in einem beschränkten Bezirke reflektorisch den all-
gemeinen Blutdruck verändern können, haben zunächst Spalitta und
Consiglio!) und bald darauf Delezenne?) angegeben. Sie fanden, daß
Blutdruckerhöhung in den Gefäßen einer isoliert durchströmten, eventuell
nur noch vermittelst der Nerven mit dem übrigen Tier zusammenhängenden
Pfote reflektorisch eine Drucksteigerung in der Aorta auslöst. Für einen
„Regulierungsvorgang“ spricht diese Beobachtung allerdings nicht), wohl
aber deutet auf einen solchen die Mitteilung von Siciliano®), daß die
geringe Blutdrucksteigerung, welche (bei Hunden zusammen mit einer
Acceleration des Herzschlages) unmittelbar nach Abklemmung der Carotiden
auftritt, ein Reflex ist, welcher bedingt wird durch den Wegfall einer Dauer-
erregung sensibler Nerven, die durch die Wandspannung der Carotis hervor-
gerufen wird. (Das Genauere darüber wurde schon oben $. 283 mitgeteilt.)
Diesem Reflex würde nach dem vorhin Gesagten andererseits wieder der
Depressor entgegenwirken. Ist dies alles richtig, so hätten wir hier in der
Tat einen Fall von gegenseitiger Ausbalancierung der Gefäßweite auf reflek-
torischem Wege vor uns, der auch bei dem „Balancement“ zwischen Ein-
geweide- und Hautmuskelgefäßen wohl zu berücksichtigen wäre. Wenigstens
beschreiben Gottlieb und Magnus’) eine Gefäßerweiterung in der isoliert
durchströmten hinteren Extremität bei einer durch Strophantininjektion ver-
ursachten Verengerung der Bauchgefäße. Ob ferner derartige Gefäßreflexe
neben der direkten Wirkung der Anämie auf das Gefäßnervenzentrum auch
an der nervösen Regulierung der Spannung der Gefäßwände bei Änderung
der Körperstellung beteiligt sind 6), ist nicht zu sagen.
Reflexe auf das Gefäßsystem von anderen Organen.
Die Reflexe von anderen sensiblen Nerven (außer denen des Herzens und
der Gefäße selbst) sind sehr mannigfaltig und lassen sich nur zum Teil unter
allgemeineren Gesichtspunkten zusammenfassen. Wir wollen dabei unter-
scheiden die Reflexwirkungen auf den allgemeinen Blutdruck infolge von
!) I nervi vasosensitivi. Palermo 1896. — ?) Compt. rend. 124, 700, 1897. —
®) Spalitta und Consiglio nehmen dies freilich an. — *) Arch. ital. de biol.
33, 338, 1900. — °) Arch. £. exp. Path. 47, 159, 1902. — °) Vgl. darüber Hill
(Schäfers Textb. of Physiol. 2, 90ff., 1900) und den Artikel Kreislauf in diesem
Handbuch.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 2
-
322 Pressorische Reflexe.
Verengerung oder Erweiterung größerer Gefäßgebiete und die ev. daneben
herlaufenden örtlichen Gefäßveränderungen von beschränkter Ausdehnung.
Pressorische Reflexe. Starke sensible Reizung, und zwar sowohl
Reizung der Nervenendigungen als auch der Nervenstämme bewirkt in der
Regel — mit gewissen, später zu erörternden Ausnahmen — eine Steigerung
des Blutdruckes, einen sogenannten „pressorischen“ Reflex. So wirken z. B.
elektrische Reizung des zentralen Ischiadicusstumpfes, verschiedener Haut-
nerven, des Splanchnicus major und minor, des Trigeminus und seiner
Endigungen in der Nasenschleimhaut (Einblasen irrespirabler Gase), des
Laryngeus superior, starke Reizung des Magens usf.!). Besonders stark
und auffällig steil ist die Drucksteigerung bei Reizung der Hinterwurzeln
der Dorsal- und der ersten drei Lumbalnerven ?).
Derartige starke Reizungen rufen’ bei erhaltenem Bewußtsein Schmerz
hervor, und es ist die erste Frage, ob nicht die Blutdrucksteigerung in solchen
Fällen gleich den anderen Schmerzäußerungen als Affektsymptom zu betrachten
ist, das nur unter Beteiligung der Großhirnrinde zustande kommt). Für
einige „emotive Reflexe“, welche durch adäquate Reizung der Sinnesnerven
ausgelöst werden, ist ein solcher Ursprung in der Tat anzunehmen. So sahen
v. Bezold®) und Couty und Charpentier’) die Blutdrucksteigerungen,
welche durch Gehörseindrücke (Drohungen usw.) hervorgerufen werden, nach
Ausschaltung der Großhirnhemisphären (durch Lykopodiuminjektion oder
Exstirpation) ausbleiben.
Strittig ist, ob die Blutdrucksteigerungen, welche man am Kaninchen in einem
gewissen Stadium der Curarevergiftung bei schwachen Hautreizen (leisem Strei-
cheln der Haut, Heben des Kopfes usf.) beobachtet‘), ebenfalls als Schreckreflexe
aufzufassen sind. Heidenhain und Grützner geben an, daß diese Übererreg-
barkeit auch nach Durchschneidung des Mittelhirnes noch fortbesteht. Knoll’)
dagegen fand, daß sie nach Großhirnexstirpation sowie bei einer gewissen Tiefe
der Chloralnarkose verschwindet, während der pressorische Reflex von der Nasen-
schleimhaut aus noch erhalten ist. Reid Hunt‘) nimmt neuerdings an, daß das
Curare die Erregbarkeit der sensiblen Nervenendigungen steigere.. Sehr merk-
würdig ist, daß gleichzeitig die schmerzhaftesten Hautreize keine oder nur eine
unbedeutende Blutdrucksteigerung bewirken (Heidenhain und Grützner, |. c.).
Abgesehen von den genannten Fällen bleiben aber die Blutdruckreflexe auf
Reizung sensibler Nerven auch nach der Ausschaltung des Großhirnes bestehen.
Dies gilt insbesondere für den Reflex von der Nasenschleimhaut, aber auch
für die Reizung des zentralen Ischiadicusstumpfes?) und verschiedener anderer
sensibler Nerven. Freilich ist in den letztgenannten Fällen die Blutdruck-
steigerung nicht selten geringer, und es wird das Auftreten depressorischer
Reflexe begünstigt (s. unten S. 325), so daß eine gewisse Mitbeteiligung des
Großhirnes am Zustandekommen dieser Schmerzreflexe doch vielleicht an-
zunehmen ist 19). E
!) Vgl. die Literatur bei Tigerstedt, 8. 522ff. — *) Bradford, Journ. of
Physiol. 10, 400, 1899. — °) So Cyon, Ges. Abh., 8. 95 ff. — *) Unters. über d.
Innervation d. Herzens 2, 276 ff., 1863. — °) Compt. rend. 85, 161, 1877.—°) v.Bezold,
1. c.; Heidenhain u. Grützner, Pflügers Arch. 16, 54, 1878. — 7) Wiener
Sitzungsber. 92 (3), 452 ff., 1885. — ®) Journ. of Physiol. 18, 406, Anm., 1895. —
®) Dittmar, Owsjannikoff (siehe oben 8.302); Heidenhain u.Grützner, l.o.;
Couty u. Charpentier, l. e, u. a. — !") Knoll, 1. e. 8. 452.
Loi de balancement bei pressorischen Reflexen. 323
Die Blutdrucksteigerung bei Reizung sensibler Nerven wird ebenso wie
die bei der Erstickung, hervorgerufen durch eine Verengerung der Gefäße der
Baücheingeweide. Zu gleicher Zeit aber erweitern sich in der Regel die
Blutgefäße des Gehirnes, der Haut und der Muskeln, es erfolgt eine Volum-
‚ zunahme der Extremitäten wie bei der Erstickung. Hier wie dort erhebt
sich nun die Frage, ob diese Erweiterung hervorgerufen wird durch direkte
Nervenwirkung (Erregung der Dilatatoren oder Nachlaß des Constrietoren-
tonus) auf die Hautmuskelgefäße, oder ob letztere rein passiv durch die große,
aus den Baucheingeweiden verdrängte Blutmenge erweitert werden. Für die
Beteiligung der Gefäßnerven werden folgende Gründe beigebracht. Werden
einige Zeit vor dem Versuche die Gefäßnerven der Extremität durchschnitten,
so erweitern sich die Hautgefäße der gelähmten Pfote nicht mehr (die Haut-
temperatur steigt nicht 'an!). Dies gilt auch für die Muskelgefäße 2). Ebenso
verschwindet die Rötung der Lippen, die beim Hunde auf Reizung des zen-
tralen Ischiadicusstumpfes auftritt, nach Durchschneidung des Vagosympa-
thicus oder Exstirpation des oberen Cervicalganglions auf der gelähmten
Seite). Daß die Gefäßerweiterung durch Erregung der Dilatatoren und nicht
etwa durch Herabsetzung des Constrictorentonus zustande kommt, zeigte
Isergin®), indem er an der Zunge des Hundes einen künstlichen Kreislauf
einleitete und nun die Reflexe bei Reizung des zentralen Ischiadicusstumpfes
untersuchte. Es trat bei Reizung dieses Nerven eine beträchtliche Zunahme
des Ausflusses aus der Vene auf, welche fast vollständig ausblieb, wenn die
Vasodilatatoren der Zunge im Nervus lingualis und glossopharyngeus beider-
seits durchschnitten wurden, während die Constrictoren erhalten blieben. Iso-
lierte Durchschneidung der Constrietoren schwächte den Reflex nur wenig ab.
Die Gefäße der Zungenschleimhaut bei weißen Katzen zeigten auf Ischia-
dieusreizung zuerst eine vorübergehende Erweiterung, sodann eine Verengerung.
Wie aus der Nervendurchschneidung hervorgeht, ist die erstere durch Erregung
der Dilatatoren, die letztere durch Erregung der Constrietoren bedingt. Am Öhre
folgen sich die beiden Phasen gerade umgekehrt, zuerst Verengerung, dann Er-
weiterung°). Vulpian°) beschreibt bei zentraler Ischiadicusreizung an der Zungen-
schleimhaut Verengerung, am Ohre Erweiterung.
Endlich sah Bayliss’) eine Volumzunahme der hinteren Extremität des
Hundes bei Reizung des N. cruralis anterior auch dann noch, wenn infolge
Exstirpation der Baucheingeweide die Blutdrucksteigerung fast vollständig
aufgehoben war.
Diesen für Nervenwirkung beweisenden Angaben stehen nun andererseits
mehrere Gegenargumente entgegen. Mittels der plethysmographischen Methode
zeigte Bayliss°), daß eine Volumzunahme der Extremität (beim Hunde) nur
!) Ostroumoff, Pflügers Arch. 12, 256, 1876; unmittelbar nach der Durch-
schneidung, ehe noch der periphere tonusfähige Apparat sich erholt hat, erfolgt
bei jeder Drucksteigerung eine Erweiterung der Gefäße auch der gelähmten
Extremität. — *) Heidenhain u. Grützner, l. c. 8. 20ff. — °) Wertheimer,
Arch. de physiol. 1891, S. 549. — *) Du Bois’ Arch. 1894, 8. 446 ff. — °) So schon
Eckhard, Beiträge z. Anat. u. Physiol. 7, 87, 1876. — °) Lecons sur l’app. vaso-
moteur 1, 238, 242 ff.; vgl. auch Wertheimer,l. c. 8. 550; hier weitere Literatur. —
7) Journ. of Physiol. 28, 292, 1902; danach darf wohl das ebenda, 23, Suppl.,
S. 14, angeführte Experiment von Bayliss mit negativem Resultate bei Reizung
desselben Nerven (allerdings am Kaninchen) als zurückgenommen gelten. Vgl. auch
(ebenda, S. 42) Delezenne). — °) Journ. of Physiol. 16, 17 ff., 1894.
21*
324 Balancement; lokale Gefäßreflexe.
stattfindet, wenn der Blutdruck infolge der sensiblen Reizung stark ansteigt.
So bewirkt Reizung des zentralen Splanchnicusstumpfes eine enorme Blut-
drucksteigerung und eine (passive) Volumvergrößerung der Extremität nur
so lange, als der Splanchnicus der anderen Seite noch erhalten ist. Wird
dieser auch noch durchschnitten, so ist die Blutdrucksteigerung gering und,
das Volumen der Extremität nimmt jetzt ab. Daß nach Durchschneidung
beider Splanchnici oder Ausschaltung des Bauchkreislaufs durch Unterbindung
der Aorta und der unteren Hohlvene noch eine geringe Blutdrucksteigerung
bei Reizung sensibler Nerven erfolgt, war aber schon früher bekannt!), und
Heidenhain und Grützner wiesen bereits auf den Gegensatz hin, der darin
besteht, daß hiernach eine Verengerung erfolgen muß in Bezirken (Haut,
Muskel), welche nach ihren anderen Versuchen eine Erweiterung zeigen. Der
Widerspruch ist heute ebensowenig gelöst wie damals.
Lokale Gefäßreflexe. Man könnte daran denken, daß sich vielleicht
nur bestimmte Gefäßgebiete in der Haut und den Muskeln erweitern, andere
sich verengern, und diese Überlegung führt zur Frage der lokalen Gefäß-
reflexe. Nachdem schon Snellen?) beobachtet hatte, daß zentrale Reizung
des Nervus auricularis Erweiterung der Ohrarterien bewirkt, untersuchte
Lov&n3), geleitet von der Erfahrung, daß beim Menschen schmerzhafte
Reizung einer Hautstelle Rötung derselben hervorruft, außer dem N. auri-
cularis noch eine Anzahl anderer sensibler Hautnerven beim Kaninchen
und fand besonders deutlich bei Reizung des N. dorsalis pedis eine Er-
weiterung der Arteria saphena, weniger deutlich bei Reizung der sensiblen
Gesichtsnerven eine Erweiterung im Gebiete der Arteria maxillaris externa,
der Arterien des Vorderarmes bei Reizung der zugehörigen sensiblen Nerven
bei gleichzeitigem Ansteigen des allgemeinen Blutdruckes. Die Erweiterung
erstreckte sich nach Lov6&n gewöhnlich nur wenig über das Gebiet des
betreffenden sensiblen Nerven hinaus, doch kommt bei Reizung des N.
auricularis einer Seite gelegentlich auch Rötung des anderen Öhres vor,
oder eine Rötung im Nachbargebiete des betreffenden Nerven, niemals da-
gegen erstreckte sich die erweiternde Wirkung der Nerven der hinteren
Extremität bis auf die Ohrarterien. Dies Resultat wurde dann von Cyont)
dahin verallgemeinert, daß Reizung jedes sensiblen Nerven außer der in der
Regel auftretenden Blutdrucksteigerung noch eine Gefäßerweiterung in seinem
Verbreitungsgebiete auslöse. Dieser Erweiterung könne eine Verengerung
als Teilerscheinung des allgemeinen pressorischen Effektes vorangehen. Die
Untersuchungen der folgenden Zeit haben nun in der Tat eine Zahl von
Einzelbeobachtungen gebracht, welche sich dieser Regel fügen.
Huizinga°) fand beim Frosch, daß Kneipen der Haut an einer entfernten
Stelle Verengerung der Schwimmhautgefäße, an einer unmittelbar benachbarten
Stelle dagegen Erweiterung derselben auslöste. Bei Reizung der Nasenschleimhaut
sah Francois-Franek®°) eine Vasodilatation nur der Kopfgefäße, am stärksten.
auf derselben Seite, etwas schwächer auf der Gegenseite, dagegen eine Vaso-
constrietion sonst überall (in der vorderen und hinteren Extremität, in den
!) Asp, Sächs. Ber. 19, 155, 1867; Grützner u. Heidenhain, Pflügers
Arch. 16, 47 ff., 1878. — ?) Arch. f. d. holländ. Beiträge 1, 213, 1858. — °) Sächs.
Ber. 18, 91 ff., 1866. — *) Ges. Abh., 8. 103, 121. — °) Pflügers Arch. 11, 216,
1875. — °) Arch. de physiol 1889, p. 550 ff.
EEE BLEZEBEL ELLE ZOLL TEEIL EEE WERL En SW
Lokale Gefäßreflexe; depressorische Reflexe. 325
inneren Organen, die Lungen mit eingeschlossen), infolgedessen ein Ansteigen des
Blutdruckes. Auch an den Baucheingeweiden kommen solche lokale Wirkungen
vor. So folgt auf zentrale Reizung jener Hinterwurzeln jener Spinalnerven, von
welchen die meisten Vasomotoren zur Niere abgehen, starke Erweiterung der
Nierengefäße!). Da die Reizung des zentralen Stumpfes des zugehörigen N.
intercostalis meist nur Verengerung der Nierengefäße hervorruft, muß man an-
nehmen, daß die Erweiterung durch Reizung der afferenten Nerven der Ein-
geweide (bzw. der Niere selbst) ausgelöst wird. Zu gleicher Zeit erfolgt bei
Reizung der Hinterwurzeln des Wundgebietes eine Erweiterung der Gefäße in
der Brustwand (erschlossen aus der stärkeren Wundblutung) usw.
Auf der anderen Seite sind aber eine ganze Menge von Beobachtungen
über Erweiterung von Gefäßen in entfernten Gebieten gemacht worden ?),
und zwar insbesondere auch solche, welche auf eine direkte Beteiligung
der Vasodilatatoren zurückzuführen sind, wie» die oben S. 323 erwähnten
Fälle von Isergin, für welche also die angeführte Regel nicht paßt.
Irgendwelche allgemeineren Gesichtspunkte lassen sich für diese Reflexe nicht
aufstellen.
Dagegen kennt man eine Anzahl von lokalen Gefäßreflexen, die auf Rei-
zung sensibler Nervenendigungen hin zugleich mit anderen Reflexen in funk-
tionell zusammengehörigen Gebieten auftreten: so erweitern sich die Blutgefäße
der Glandula submaxillaris zu gleicher Zeit mit reflektorisch von der Mund-
höhlenschleimhaut aus ausgelöster Sekretionstätigkeit; es erfolgt Erweiterung
der Blutgefäße im sich kontrahierenden Musculus mylohyoideus bei Reizung
der Schleimhaut des Kehlkopfeinganges und des Oesophagus des Frosches 3),
eine Erektion des Penis bei Reizung der Haut der.Genitalien usf.
Über die angeblichen lokalen Reflexe bei mechanischer Reizung der Haut
siehe oben S. 309.. Die Rötung freigelegter tiefer Organe führt Vulpian)
ebenfalls auf Reflexwirkung zurück, nicht auf direkte periphere Reizung, weil
sie sich weiter ausbreitet, als der Ausdehnung der freigelegten Teile entspricht.
Depressorische Reflexe. Mitunter erhält man bei Reizung sensibler
Nervenstämmchen am unvergifteten Tiere statt der gewöhnlichen reflek-
torischen Blutdrucksteigerung eine Blutdrucksenkung, statt der pressorischen
einen „depressorischen“ Effekt, und zwar gibt es einzelne Nerven (abgesehen
vom N. depressor), welche vorwaltend (N. glossopharyngeus) depressorisch,
und andere, die ausschließlich (Splanchnicus) oder vorwaltend (Ischiadicus,
Faeialis, Infraorbitalis, Cervicalnerven) pressorisch wirken). Das Hervor-
treten der depressorischen Reflexe wird begünstigt durch Abtragung des
Großhirnes beim Kaninchen ), durch einen gewissen Grad von Chloralhydrat-,
Äther- oder Chloroformnarkose, durch Ermüdung der Zentren infolge lange
anhaltender sensibler Reizung”).
Latschenberger und Deahna erklärten diese Erscheinung durch die
Annahme gesonderter pressorisch und depressorisch wirkender Nervenfasern
im gemischten Nervenstamme, von denen die pressorischen in der Norm die
') Bradford, Journ. of Physiol. 10, 399 ff., 1889. — ?) Vgl. Tigerstedt,
S. 521. — °) Gaskell, Journ. of Anat. and Physiol. 11, 742, 1877. — *) Lecons
sur l’app. nerv. vasomoteur 1, 243. — °) Knoll, Wiener Sitzungsber. 92 (3), 447 ff.,
1885. — °) Cyon, Ges. Abh., 8. 95ff.; Heidenhain u. Grützner, Pflügers
Arch. 16, 52, 1878; Knoll, 1. e. 8. 452ff. — 7) Latschenberger u. Deahna,
Pflügers Arch. 12, 165 ff., 1876.
3236 Depressorische Reflexe; Regulierungswirkung.
anderen gewöhnlich überwiegen würden, während bei zunehmender Ermüdung‘
die Wirkung des pressorischen Apparates früher geschwächt würde und
dann die der Depressoren zum Vorschein käme. Eine tatsächliche Unter-
lage erhielt diese Annahme durch die Beobachtung von Kleen!), daß mecha-
nische Reizung (Massage) der entblößten Skelettmuskeln ganz regelmäßig
eine Blutdrucksenkung hervorruft, während Reizung der darüber befindlichen
Haut eine Drucksteigerung bewirkt. Elektrische Reizung der Muskelnerven
gibt dagegen einen pressorischen Effekt?. Man kann auch durch rein
periphere Eingriffe auf den gemischten Nervenstamm die depressorischen
Reflexe hervortreten lassen. Zunächst bekommt man auch ohne solche Ein-
griffe bei sehr schwachen Reizungen meist eine Drucksenkung), ferner
behalten die depressorisch wirkenden Nerven bei Abkühlung ihre Leitfähig-
keit länger als die blutdrucksteigernden, sie vertragen Schädigungen, wie z.B.
längere Freilegung, besser als die anderen Nervenfasern, und sie regenerieren
nach der Durchschneidung früher als die anderen). Reid Hunt meint,
der N. depressor setze den Tonus des Vasomotorenzentrums herab, die übrigen
depressorisch wirkenden Nerven erregen nach ihm das Vasodilatatorenzentrum.
Direkt nachgewiesen wurde letzteres für die Haut und Muskelgefäße durch
Bayliss’), welcher eine Gefäßerweiterung in den Extremitäten auch noch
nach Durchschneidung der Constrietoren nachweisen konnte.
Eine Blutdrucksenkung erhält man ferner beim Einblasen stark reizender
Gase in die Lunge‘) oder Reizung der pulmonalen Vagusäste?), nach Francois-
Franck wahrscheinlich infolge Verengerung der Lungengefäße.
Über die Bedeutung der genannten Reflexe als Regulierungsvorgänge ist
etwas Gesichertes nicht auszusagen °). Es sei nur darauf hingewiesen, daß
nach Francois-Franck?°) außer den pressorischen Reflexen auf den großen
Kreislauf auch solche auf den kleinen ausgelöst werden, und daß die dadurch
bedingte Abnahme des Blutzuflusses zum linken Herzen regulatorisch den
gesteigerten Blutdruck im großen Kreislauf herabsetzen soll.
Durchsichtig ist dagegen die Bedeutung jener Reflexe, welche Teil-
erscheinungen anderer funktioneller Zusammenhänge sind, wie die oben 8. 325
schon angeführte Gefäßerweiterung in tätigen Muskeln und Drüsen, die
Erektion des Penis’, wozu dann noch die im Dienste der Wärmeregulierung
stehenden Temperaturreflexe hinzukommen. Da sich aber hierbei den Re-
flexen noch andere Einwirkungen auf die Gefäße beimischen können, die von
den reflektorisch ausgelösten schwer zu trennen sind, so sollen diese Bezie-
hungen in einem Zusammenhang besprochen werden.
!) Skand. Arch. 1, 247, 1887; bestätigt von Brunton u. Tunicliffe, Journ.
of Physiol. 17, 373, 1894, u. Reid Hunt, ebenda 18, 389, 1895. — °?) Reid Hunt,
l. c.; Asp, Sächs. Ber. 19, 183 ff.,, 1867. — °) Knoll, 1. e., Hunt, l. e. —
*) Reid Hunt, 1. c. — °) Journ. of Physiol. 38, 287 ff., 1902. — °) Frangois-
Franck, Trav. du labor. de Marey 4, 379, 1880. — 7) Brodie and Russel, Journ.
of Physiol. 26, 98, 1900. — °) Wenn der mehr oder weniger lokalen Gefäß-
erweiterung bei schmerzhafter Hautreizung eine regulatorische Bedeutung zu-
kommen sollte, so wäre (durch den Wegfall derselben) vielleicht eine Erklärungs-
möglichkeit für die sogenannten trophischen Störungen an sensibel gelähmten
Partien gegeben, — worauf Kollege Garten und ich gelegentlich der Versuche
von Köster (Zur Physiol. d. Spinalganglien u. d. trophischen Nerven. Leipzig,
1904) aufmerksam wurden. — °) Arch. de physiol. 1896, p. 198.
ee
tier u
Direkte thermische Reizung der Gefäße. 327
Die Abhängigkeit der Gefäßweite von der Temperatur.
Die genauere Analyse der geläufigen Erscheinung, daß (bei intakten
Gefäßnerven) Abkühlung eine Verengerung der Gefäße, länger anhaltende
Kälte ebenso wie Erwärmung eine Erschlaffung der Gefäßwand bewirkt !),
stößt auf Schwierigkeiten. Es könnten sich hierbei kombinieren eine direkte
periphere Wirkung auf die Gefäßwand und eine direkte oder reflektorische
Einwirkung der Temperaturschwankung auf das Gefäßnervenzentrum.
Die direkte Wirkung von Temperaturänderungen auf die Gefäße ist so-
wohl an ausgeschnittenen größeren Arterien, als auch — nach Durchschneidung
der Gefäßnerven — im Körper selbst studiert worden. Die auf dem ersteren
Wege gewonnenen Daten sind schwer zu deuten. Nachdem von Piotrowski
angegeben worden war 2), daß sich ausgeschnittene Arterien bei der Erwär-
mung verkürzen und bei Abkühlung verlängern, untersuchte Mc William 5)
diese Verhältnisse genauer und fand an frischen, noch gut erregbaren, quer
zur Längsachse des Gefäßes ausgeschnittenen Streifen großer Arterien inner-
halb der physiologisch in Betracht kommenden Temperaturgrenzen bei Er-
wärmung von etwa 25°C bis auf ungefähr 35°C eine Verkürzung, bei
weiterer Erwärmung bis auf rund 45°C eine Erschlaffung. Frische Längs-
streifen verhalten sich gerade umgekehrt. Der Verkürzung des Querstreifens
entspricht an der ganzen auf einer Seite abgebundenen und mit Flüssigkeit
gefüllten Arterie eine Volamabnahme. Die eben erwähnten Veränderungen
treten an mehrere Tage außerhalb des Körpers aufbewahrten Gefäßen
nicht mehr auf.
Bei künstlicher Durchströmung frisch isolierter Extremitäten mit ver-
schieden temperiertem Blut fand Lewaschew *) bei Temperaturdifferenzen
(des einströmenden Blutes) zwischen rund 33° bis 37°C in der Regel eine
Vermehrung der aus der Vene ausfließenden Blutmenge bei Erwärmung, eine
Verminderung bei Abkühlung, bei sehr niederen Temperaturen nachher eine
Vermehrung. Die Erschlaffung der Gefäßwand bei Erwärmung ist nicht auf
direkte Reizung der Vasodilatatoren zu beziehen — nach Grützner‘’)
werden die Vasodilatatoren für die Hautgefäße schon durch mäßige Erwär-
mung erregt — denn sie tritt auch auf, wenn die Gefäßerweiterer so lange
vorher durchschnitten worden waren, daß sie degeneriert sein mußten. Bei
rascher starker Erwärmung kann sich gelegentlich in die Erschlaffung eine
vorübergehende Verengerung der Gefäße einschieben. Lui$) bezeichnet es
‚nach seinen Versuchen sogar als Regel, daß die Erschlaffung vorübergeht
und einer dauernden Verengerung Platz macht. Manchmal erfolgt auf Tem-
peraturänderung gar keine Änderung der Gefäßweite — auch Winkler’)
bemerkte bei direkter Inspektion der Blutgefäße im Kaninchenohre keinen
ersichtlichen Einfluß der Erwärmung oder Abkühlung des durchströmenden
!) Zusammenstellung der älteren Beobachtungen bei Lewaschew, Pflügers
Arch. 26, 60#f., 1881. Daß es sich, entgegen der Meinung mancher Hydrothera-
peuten, sowohl bei der Erschlaffung unter Wärme als auch unter Kälteeinfluß
natürlich in gleicher Weise um eine Abnahme des Tonus und Zunahme des Strom-
volumens handelt, hat F. Pick (Zeitschr. f. Heilk. 24, 61 ff., 1903) am Tier direkt
gezeigt. — *) Pflügers Arch. 55, 295, 1894. — °) Proceed. Roy. Soc. 70, 117 ff.,
1902. — *) 1. ec. — °) Pflügers Arch. 17, 226 ff., 1878. — °) Arch. ital. de biol. 21,
416, 1894. — 7) Wiener Sitzungsber. 111 (3), 91 ff., 1902.
328 Thermische Reizung des Gefäßnervenzentrums; thermische Reflexe.
Blutes auf die Gefäßweite — nach Lewaschews Vermutung deshalb, weil
die Erregbarkeit des peripheren tonusfähigen Apparates aus unbekannten
Gründen herabgesetzt sein kann und die Temperaturreize dann unter der
Schwelle bleiben. Die Versuche von Lewaschew stimmen überein mit den
Beobachtungen von Goltz!), Bernstein?) und anderen über Verengerung
der Gefäße bei Abkühlung und Erweiterung bei Erwärmung (oder sehr inten-:
siver Kältewirkung) nach Durchschneidung der Gefäßnerven, so daß eine:
direkte Wirkung der Temperatur auf den peripheren tonusfähigen Apparat
der Gefäße wohl feststeht. |
Eine direkte Beeinflussung des Gefäßnervenzentrums durch Temperatur-
schwankungen ist dagegen von früheren Beobachtern nicht angenommen
worden. Stefani?) sah bei Erwärmung des Carotisblutes oder bei Auf-
träufeln warmer Kochsalzlösung auf die Medulla oblongata, wenn beide Vagi-
durchschnitten waren, bloß noch eine ganz geringe Blutdrucksteigerung, die:
nicht selten ausblieb, bei- Abkühlung geringe Steigerungen oder Senkungen.
Knoll) beobachtete nach intravenöser Infusion großer Mengen kalter
physiologischer Kochsalzlösung keine besonderen Blutdruckveränderungen.
Dagegen fand neuerdings Kahn’) bei Erwärmung des Carotidenblutes (und
dadurch bedingter isolierter Erwärmung des Kopfes des Versuchstieres) eine
beträchtliche Erweiterung sämtlicher oberflächlichen Gefäße. Da der Blut-
druck dabei nicht absank, sondern etwas anstieg, so mußte die Gefäßerweiterung
an der Körperoberfläche durch Verengerung in anderen Gebieten überkom-:
pensiert werden, und zwar verengerten sich die Gefäße des Splanchnieus-
gebietes, denn nach Durchschneidung beider Splanchnici sank. der Blutdruck
beim Erwärmen des Kopfes. Kahn hält den Symptomenkomplex für die
Folge einer direkten Reizung des Gefäßnervenzentrums, nicht für einen
Temperaturreflex von der Haut des Kopfes.
Von der größten Bedeutung sind die reflektorisch durch Erwärmung
und Abkühlung der Haut ausgelösten Änderungen der Gefäßweite. Bei
Tieren und Menschen bewirkt lokale Abkühlung eine Verengerung, Erwär-
mung eine Erweiterung auch entfernter Gefäßbezirke. Setzt man ein
Kaninchen mit der hinteren Extremität in kaltes Wasser, so verengern sich
die Ohrgefäße, setzt man es in warmes Wasser, so erweitern sie sich). Daß
es sich um einen Reflex handelt, ergibt sich daraus, daß nach Rückenmark-
durchschneidung die unmittelbare Fernwirkung von dem anästhetischen
Körperteile aufs Ohr wegfällt”), während allerdings nach längerer Zeit noch
eine Wirkung auftritt, nach Winkler vermutlich deshalb, weil infolge Er-
wärmung des ganzen Tieres ein thermischer Reflex von der intakten Vorder-
hälfte ausgelöst wird... Beim Menschen sind derartige Fernwirkungen
(Gefäßverengerung bei Abkühlung) ebenfalls schon von Brown-Söquard
und Tholozan °) angegeben, später von den einen bestätigt?), von anderen
!) Pflügers Arch. 11, 90, 1875. Vgl. auch Goltz und Ewald, ebenda 63,
390 ff., 1896. — ?) Ebenda 15, 585 ff., 1877. — °) Arch. ital. de biol. 24, 424, 1895. —
*) Arch. f. exper. Pathol. 36, 305, 1896. — °) Engelmanns Arch. 1904, Suppl. 8. 81. —
%) Beke-Callenfels, Zeitschr. £. rat. Med, 7, 155, 1855; Paneth, Zentralbl. £.
Physiol. .1, 272, 1887. — 7) Winkler, Wien. Sitzungsber. 111 (8), 68 ff., 1902. —
®) Journ. de la physiol. 1, 500, 1858. — °) Francois-Franck, Travaux du labor.
de Marey 2, 39ff., 1876 u. a.
Thermische Reflexe; Gefäßerweiterung in tätigen Organen. 329
allerdings auch bestritten oder anders beschrieben worden !). Die Gefäß-
verengerung bei kalten Duschen, Berührung der Haut mit Eis usw. erstreckt
sich nicht bloß auf die Hautgefäße, sondern betrifft auch innere Organe
(direkt nachgewiesen von Wertheimer?) für die Niere) in einem solchen
Umfange, daß es zu einer Blutdrucksteigerung kommt. Daß dies nicht.
bloß ein Schreckreflex ist, wie Stefani?) meinte, geht daraus hervor,
daß die Drucksteigerung bei längerer Reizung während der ganzen Zeit
fortbesteht. Die Gefäße der Muskeln erweitern sich nach Wertheimer*)
dabei (im Zusammenhang mit dem vermehrten Stoffumsatz im Muskel ?).
Bemerkenswert ist ferner, daß sich bei Kaninchen die Trachealschleimhaut
stark rötet (und stärker sezerniert), sobald man die Haut des Tieres abkühlt >).
Bei den durch die Schwankungen der Umgebungstemperatur am Nor-
malen bewirkten Änderungen der Gefäßweite dürften wohl thermische Re-
flexe auf die Dilatatoren und direkte peripherische Einwirkungen auf die
Gefäße zusammenwirken®). Dies ergibt sich beim Tiere aus einem von
Luchsinger’) mit gleichem Erfolge wiederholten Versuche von Schiff >),
daß die Gefäße eines Organes nach Durchschneidung der Gefäßnerven bei
Erwärmung sich zwar noch erweitern, aber viel weniger als die mit intakten
Gefäßnerven. Auf eine gleiche kombinierte periphere und zentrale Wirkung
schloß auch S. Amitin’) aus plethysmographischen Versuchen. Sie sah ihr
Armvolumen bei Abkühlung des ihn umgebenden Wassers von 31°C bis
12°C abnehmen, bei Erwärmung zunehmen, während allerdings U. Mosso!P)
innerhalb dieser Grenzen gar keine Änderung des Armvolumens sah, nur bei
Abkühlung des Wassers im Plethysmographen auf 6° und Erwärmung über
33°C eine starke Volumzunahme. Es ist möglich, daß die reflektorische Beein-
flussung der Gefäßweite durch unbehagliche Temperaturen bei nervösen Per-
sonen stärker ist als bei weniger empfindlichen.
Die Gefäßerweiterung in tätigen Organen.
Eine vermehrte Blutzufuhr bei der Tätigkeit ist nachgewiesen. worden
bei den Drüsen (Glundula submaxillaris, Verdauungsdrüsen des Abdomens)
und der Muskulatur. (Über das Verhalten der Hirnzirkulation siehe das ent-
sprechende Kapitel dieses Handbuches!)
Eine Beschleunigung des Blutstromes wurde in verschiedenen Muskeln
bei tetanischer Reizung des zugehörigen motorischen Nerven beobachtet. Die
Verhältnisse sind nur dadurch kompliziert, daß die Kontraktion des Muskels
selbst eine Veränderung der Blutströmung bewirkt. So kommt es am Beginne
des Tetanus (oder einer verlängerten Zuckung des veratrinisierten Muskels)
zu einer plötzlichen Beschleunigung des Blutstromes, welcher während der
Dauer des Tetanus eine Abnahme des Stromvolumens nachfolgt!!). Erst nach
!) Vulpian, Lecons sur l’app. nerv. vasomot. 1, 233 ff., 1875; Stefani, Arch.
ital. de biol. 24, 414, 1895. — *) Arch. de physiol. 1894, p. 308. — ?) l. c. — *) Arch.
de physiol. 1894, p. 732ff. — °) Lode, Arch. f. Hygiene 28, 389, 1897, zuerst
Roßbach (zitiert bei Lode). — °) An eine direkte Wirkung auf das Gefäß-
nervenzentrum ist wohl höchstens in Ausnahmefällen zu denken. — 7) Pflügers
Arch. 14, 391, 1877. — ®) Legons sur la physiol. de la digest. 1, 233. — °) Zeitschr.
£. Biol. 35, 13, 1897. — !®) Arch. ital. de biol. 12, 346, 1889. — '') Gaskell, Arb. a.d.
physiol. Anst. z. Leipzig 1876, 8. 60. Vgl. auch Heilemann, His’ Arch. 1902, 8. 45.
330 Gefäßerweiterung in tätigen Organen.
dem Tetanus oder bei länger dauernden Reizungen schon am Ende desselben
nimmt das Stromvolumen wieder über das Ruheausmaß zu. Eine reine
Zunahme des Stromvolumens erhält man dagegen, wenn man die Zusammen-
ziehung des Muskels entweder mechanisch verhindert!) oder das Versuchstier
‚schwach curaresiert?). Es sind also in den Muskelnerven Vasodilatatoren ent-
halten, durch deren Mitreizung eine Erweiterung der Blutgefäße bedingt wird.
Aus manchen Anzeichen wird von Gaskell auch die gleichzeitige Anwesenheit
einer viel geringeren Anzahl vasoconstrictorischer Nervenfasern erschlossen.
Daß auch bei reflektorisch ausgelösten Muskelkontraktionen die Gefäße
des Muskels sich erweitern, geht aus den oben $. 325 zitierten Experimenten
von Gaskell hervor... Die Zunahme des Stromvolumens bei willkürlicher
Muskelaktion wiesen Chauveau und Kaufmann‘) im M. masseter und
levator labii sup. des Pferdes während des Kauens nach. Daß diese Zunahme
nicht bloß aus der Steigerung der Herzarbeit während der Muskeltätigkeit
resultiert, sondern daß daneben eine Dilatation der Muskelgefäße vorliegt,
ergibt sich aus der gleichzeitigen Drucksteigerung in der Muskelvene.
Wenn sich bei angestrengter Tätigkeit die Gefäße größerer Muskel-
gruppen erweitern, so müßte der Blutdruck infolgedessen sinken, wenn nicht
eine Kompensation an anderen Orten erfolgte. Tatsächlich aber steigt. wie
Zuntz und Tangl*) durch Manometerversuche an im Tretwerk arbeitenden
Hunden sahen, der Blutdruck in der Regel an, besonders bei sehr an-
strengender Arbeit. Das deutet darauf hin, daß mit der Gefäßerweiterung in
den Muskeln gleichzeitig Verengerungen anderer Gefäße, wahrscheinlich im
Splanchnicusgebiete, einhergehen. Es wird also offenbar bei der Muskel-
arbeit eine größere Blutmenge aus den Eingeweidegefäßen heraus in die
Muskelgefäße verdrängt, ähnlich wie während der Zeit der Verdauung eine
größere Blutmenge durch die Baucheingeweide zirkuliert und den anderen
Organen entzogen wird. Der Nachweis, daß in der Muskulatur während der
Tätigkeit eine viel größere Blutmenge enthalten ist als in der Ruhe, wurde
von Ranke und Spehl erbracht).
Gaskell#) machte darauf aufmerksam, daß die lokale Gefäßerweiterung
in den Muskeln und Drüsen während der Tätigkeit auf vermehrter Erzeugung
(saurer) Stoffwechselprodukte beruhen könnte, die eine direkte erschlaffende
Wirkung auf die Gefäßmuskulatur ausüben könnten. FExperimentell ent-
schieden ist die Frage nicht’), wenn man es auch von vornherein für wahr-
scheinlicher halten würde, daß die Gefäßerweiterung, ähnlich wie die Accele-
ration des Herzschlages bei der Muskeltätigkeit, in erster Linie vom
Zentralnervensystem abhängt.
!) Sadler, Sächs. Ber. 21, 206, 1869. — ?) Gaskell, Journ. of Physiol. 1,
274, 1878. — °?) Siehe Arch. de physiol. 1892, p. 279. — *) Pflügers Arch. 70, 544,
1898. Kaufmann (l. e. 8. 279 und 493) hatte allerdings am Pferde mit der-
selben Methode nur beim Kauen meist eine geringe Zunahme, beim Arbeiten im
Tretwerk dagegen Sinken des Blutdrucks beobachtet. — °) Vgl. Tigerstedt,
8. 551. — °) Journ. of Physiol. 3, 67 ff., 1880. — 7) Siehe Loewi, 6. intern. Physiol.-
Kongr., Arch. di Fisiol. 2, 145, 1904. Vgl. ferner Bayliss, Journ. of Physiol. 26,
XXXII, 1902.
" see
Die Physiologie des Stoffwechsels
von
R. Tigerstedt.
Zusammenfassende Darstellung, in welcher die ältere Literatur gesammelt ist:
Voit, Physiologie des allgemeinen Stoffwechsels und der Ernährung, in Hermanns
Handbuch der Physiologie 4, Tl. I. Leipzig 1881. (Im folgenden nur mit dem
Autornamen zitiert.) 3
Einleitung.
Die Physiologie des Stoffwechsels untersucht, welche Stoffe für den Zu-
wachs und den Unterhalt des Körpers nötig sind, die Bedeutung dieser Stoffe
für den Körper, den Umfang der im Körper unter verschiedenen Bedingungen
stattfindenden Verbrennung sowie den Ansatz von verschiedenen Verbindungen
im Körper !).
Die betreffenden Substanzen sind dreierlei Art, nämlich 1. organische
Nahrungsstoffe, Verbindungen, welche dem Körper potentielle Energie zu-
führen und also die Kraftquelle des Körpers darstellen; hierher gehören vor
allem Eiweißkörper, Fette und Kohlehydrate; 2. Sauerstoff, welcher
zur Unterhaltung der Verbrennung notwendig ist; 3. Wasser und anorga-
nische Nahrungsstoffe (mineralische Bestandteile, Aschebestandteile),
welche vom Körper unaufhörlich abgegeben werden und durch die Nahrung
ersetzt werden müssen, weil sonst schwere, zum Tode führende Störungen im
Befinden des Körpers auftreten.
Im allgemeinen werden weder die organischen noch die anorganischen
Nahrungsstoffe in reinem Zustande dem Körper zugeführt, sondern in Form
von Mischungen untereinander und mit Substanzen genossen, welche keinen
Nährwert besitzen. Diese Nahrungsmittel stellen entweder, wie z. B. das
Fleisch, reine Naturprodukte dar, oder sie werden, wie das Mehl, aus solchen
!) Der zu meiner Verfügung stehende Raum hat es mir leider nicht gestattet,
den geschichtlichen Entwickelungsgang der Ernährungslehre zu besprechen; aus
demselben Grunde ist es mir auch nicht möglich gewesen, den Anteil der neueren
Autoren an den Fortschritten dieses Abschnittes der Physiologie in dem gebührenden
Umfange darzulegen, weshalb die folgende Darstellung keine Ansprüche auf Voll-
ständigkeit machen kann.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 91 r*
332 Einleitung.
durch die Industrie dargestellt. Übrigens genießt der Mensch in der Regel
die zu seiner Verfügung stehenden Nahrungsmittel nicht ohne weitere Be-
reitung, sondern unterwirft dieselben noch mannigfachen Veränderungen, bis
sie in Form neuer Mischungen, als Speisen, verzehrt werden.
Wenn die Kost alle Nahrungsstoffe in der Menge enthält, die den Körper
auf seinem stofflichen Bestande erhält oder ihn in einen gewünschten stoff-
lichen Zustand versetzt, heißt sie nach Voit eine Nahrung!).
In gewissen Fällen, wo es nur gilt, eine allgemeine Übersicht über den
Stoffwechsel zu gewinnen, kann die alleinige Feststellung der (festen
und flüssigen) Einnahmen des Körpers ganz befriedigende ‚Aufschlüsse
geben. Hierbei nimmt man an, daß die genossene Kost gerade genügt, um
den Körper in stofflichem Gleichgewicht zu erhalten, wie dies bei Erwachsenen
im allgemeinen der Fall ist. Wo die Art der Ernährung einzelner Gruppen
der Bevölkerung durch ausgedehntere statistische Untersuchungen zu er-
mitteln ist, steht übrigens kein anderes Mittel zu unserer Verfügung.
Die nützliche Wirkung einer Kost kann in vielen Fällen aus den Ge-
wichtsveränderungen der Versuchsperson in einem gewissen Grade beurteilt
werden, denn wo das Körpergewicht stetig ab- oder zunimmt, muß die Kost
zu arm bzw. zu reich sein, und ein dauerndes Konstantbleiben des Körper-
gewichts stellt ohne Zweifel einen vollgültigen Beweis dafür dar, daß die
Kost gerade genügend, weder zu arm noch zu reich gewesen ist.
Weitergehende Schlußfolgerungen dürfen kaum aus der Bestimmung des
Körpergewichts gezogen werden, denn eventuelle Veränderungen desselben
geben an und für sich keinen Aufschluß darüber, welche Bestandteile des
Körpers dabei teilgenommen haben, wozu noch kommt, daß der Wassergehalt
des Körpers nicht selten viel größere Variationen als der Gehalt an festen
Bestandteilen darbietet und also unter Umständen die Gewichtsveränderungen
des Körpers in sehr erheblichem Umfange beeinflussen kann.
Um tiefer in die Kenntnis der Stoffwechselvorgänge eindringen zu können,
ist es daher unbedingt notwendig, auch die Ausgaben des Körpers fest-
zustellen, um dann aus der Stoffwechselbilanz Schlüsse betreffend den
im Körper stattgefundenen Umsatz ziehen zu können.
Als -besonders wichtig stellt sich die Frage nach der Dauer eines Stoff-
wechselversuches. Generell kann sie jedoch nicht beantwortet werden, und ich
will daher nur einige allgemeine Betrachtungen darüber einschalten.
Wenn sich keine störenden Einflüsse geltend machen, kehren im Leben des
Menschen und der höheren Tiere wenigstens die Variationen in der Intensität des
Stoffwechsels im Laufe von 24 Stunden immer wieder zurück, und die Periode von
24 Stunden stellt daher nicht allein als Zeitabschnitt, sondern auch in bezug auf
den Ablauf des Stoffwechsels und überhaupt der Lebensfunktionen eine wohl be-
grenzte Einheit dar. Wenn es also gilt, absolute Werte für den Stoffwechsel zu
erhalten, in welchen die im Laufe der 24 Stunden erscheinenden Variationen sich
gebührendermaßen geltend machen sollen, so muß der Versuch wenigstens diese Dauer
haben. Aus Beobachtungen von nur kurzer Dauer, z. B. einer Stunde, lassen sich
keine sicheren Schlüsse betreffend den Gesamtstoffwechsel pro 24 Stunden ziehen.
Auch diese Zeit ist nicht immer unbedingt genügend: wenn der Einfluß einer
bestimmten Kost untersucht werden soll, muß der Versuch so lange dauern, bis die
genossene Nahrung tatsächlich verdaut und vom Darme resorbiert worden ist, denn
sonst muß es ja zutreffen, daß die betreffende Kost ihren Einfluß nicht in vollem
1) Yoit, 8. 491.
Einleitung. 333
Umfange hat ausüben können. Wie lange diese Zeit bis zur vollständigen Auf-
saugung eigentlich ist, kann nur die direkte Erfahrung entscheiden. Nach Voit')
ist beim Fleischfresser die aufgenommene Nahrung bei reiner Fleischfütterung
innerhalb 24 Stunden so vollständig verdaut und aufgesogen, wie dies überhaupt
stattfindet. Wenn man also im Anfange des Versuchstages die ganze Futtermenge
auf einmal verabreicht, ist die Verdauung nach 24 Stunden beendigt.
Bei den Pflanzenfressern ist die Sache wegen des großen Volumens der
Nahrung mehr verwickelt, und bei Versuchen an diesen gibt man daher dem Tiere
eine Zeitlang ein und dasselbe Futter, damit die Nahrungsstoffe täglich immer in
der gleichen Menge vom Darme ins Blut übergehen.
Was endlich den Menschen betrifft, so begegnen wir auch hier Schwierigkeiten,
da wir ja daran gewöhnt sind, unsere Kost immer auf mehrere Mahlzeiten täglich zu
verteilen, und es daher leicht geschehen kann, daß die in der letzten Mahlzeit
genossenen Nahrungsstoffe am Ende des Versuchstages noch nicht vollständig ver-
daut und aufgesogen sind. Auf seine große Erfahrung gestützt, schreibt Voit?)
vor, die letzte Mahlzeit nicht später als 12 bis 14 Stunden vor dem Ende des Ver-
suches zu geben.
Streng genommen ist auch diese Forderung nicht genügend, denn eigentlich
sollten die resorbierten Nahrungsstoffe vor Ende des Versuches im Körper voll-
ständig umgesetzt und die Zersetzungsprodukte von ihm abgegeben werden, so daß
der stoffliche Zustand des Körpers am Ende des Versuches so viel als möglich ganz
derselbe als zu Beginn wäre, vorausgesetzt, daß aus der genossenen Nahrung kein
stofflicher Ansatz erfolgt ist. Diesem Postulate wird genügt, wenn der Versuch
(bei einer und derselben Kost) mehrere Tage nacheinander fortgesetzt wird, denn
der Körper stellt sich in der Regel binnen einer verhältnismäßig kurzen Zeit mit
der zugeführten Nahrung in stoffliches Gleichgewicht und bietet dann Tag für
Tag den gleichen Stoffwechsel dar.
Wollen wir die Einwirkung einer bestimmten Variabel, z. B. eines
bestimmten Nahrungsstoffes, eines Giftes, gewisser körperlicher Zustände usw. auf
den Stoffwechsel feststellen, so müssen wir zuerst beim betreffenden Individuum fest-
stellen, wie sich der Stoffwechsel ohne die Einwirkung dieser Variabel verhält. Hierbei
können wir entweder von dem Hungerzustande oder, bei Nahrungszufuhr, von dem
Zustande stofflichen Gleichgewichts ausgehen. Beim Hunger stellt sich der Körper,
nachdem die ersten Hungertage vorüber sind, auf einen Minimalverbrauch und
zersetzt eine Zeitlang pro Kilogramm Körpergewicht täglich etwa ebensoviel von
seiner eigenen Substanz. Wenn dann der Stoffwechsel infolge eines bestimmten
Eingriffes eine plötzliche Veränderung nach der einen oder anderen Seite erleidet,
so ist es klar, daß diese Veränderung gerade von dem betreffenden Eingriff hervor-
gerufen worden ist. — Auch können wir durch eine zweckmäßig angeordnete Kost
das Versuchsindividuum in einen solchen Zustand bringen, daß es mit derselben in
vollständigem stofflichen Gleichgewicht ist: jeder Eingriff, welcher einen Einfluß
auf den Stoffwechsel ausübt, wird sich dann durch Störung dieses Gleichgewichts
offenbaren müssen.
Wenn ich also in bezug auf die Dauer eines Stoffwechselversuches Beobach-
tungen von 24stündiger und längerer Dauer in erste Linie stelle, so verkenne ich
indes keineswegs, daß auch Beobachtungen von kürzerer Dauer vielfach eine sehr
große Bedeutung haben und oft unumgänglich sind. Nur durch solche können wir
ja den zeitlichen Ablauf des Stoffwechsels näher verfolgen und genaue Aufschlüsse
über Eingriffe erhalten, welche eine schnell hervortretende und schnell vorüber-
gehende Wirkung haben. Alles hängt von der Aufgabe und dem Zwecke des Ver-
suches ab, und hier wie auch sonst wird nur der wissenschaftliche Takt des
Forschers die schließliche Entscheidung treffen können.
) Voit, 8..16. — ?) Ders., 8. 17.
334 Die Einnahmen des Körpers.
Erstes Kapitel.
‚Allgemeine Übersicht der Einnahmen und Ausgaben des Körpers.
8$ 1. Die Einnahmen.
Bei der Untersuchung der Einnahmen ist die Quantität der in der ge-
nossenen Kost enthaltenen Nahrungsstoffe zu bestimmen !). Besonders in
früherer Zeit begnügte man sich meistens damit, aus zugänglichen Durch-
schnittszahlen die quantitative Zusammensetzung der Kost
einfach zu berechnen. Auch heutzutage ist man, besonders bei der
statistischen Ermittelung der bei frei gewählter Kost genossenen Nahrung,
vielfach geradezu gezwungen, die Aufgabe in dieser Weise zu vereinfachen.
In solchen Fällen ist es, um eine zuverlässige Vorstellung von dem Kostmaß
des betreffenden Individuums zu erhalten, notwendig, die Untersuchung
auf mindestens eine Woche auszudehnen. Während dieser Zeit genießt der
Mensch in der Regel ziemlich viele verschiedene Nahrungsmittel, und im all-
gemeinen kommen dieselben Speisen usw. die eine Woche nach der anderen
etwa in derselben Weise wieder vor; es ist daher gestattet, anzunehmen, daß
die Ermittelung der während einer Woche genossenen Kost eine ziemlich
richtige Vorstellung von der Nahrungsaufnahme des Individuums gibt,
sowie daß die bei der Berechnung der Kost nach den Durchschnittszahlen
stattfindenden Fehler nicht alle in derselben Richtung gehen, sondern sich
zum größten Teile gegenseitig kompensieren. Selbstverständlich ist es um
so besser, je länger die Dauer der Beobachtung ausgedehnt werden kann.
Immer mehr macht sich indes die Forderung geltend, bei den Stoff-
wechselversuchen die genossene Kost direkt zu analysieren. Auch ist
diese Aufgabe dank den Fortschritten der analytischen Methoden nunmehr
wesentlich erleichtert worden, obgleich insbesondere bei Versuchen am
Menschen mit seiner aus zahlreichen verschiedenen Nahrungsmitteln und
Speisen zusammengesetzten Kost hierdurch ein bedeutender Aufwand von
Arbeit beansprucht wird.
Jedenfalls werden noch in unserer Zeit sehr wesentliche Vereinfachungen
gemacht. Es wäre natürlich am richtigsten, den Gehalt der Nahrung an
reinem Eiweiß, reinem Fett, reinen Kohlehydraten, sowie an den verschiedenen
Arten dieser und anderer Nahrungsstoffe direkt zu bestimmen. So weit sind
wir jedoch noch lange nicht gekommen, und wir müssen uns damit be-
gnügen, in der Kost den Stickstoff, das Ätherextrakt, die Trocken-
substanz und die Asche zu bestimmen. Aus dem Stickstoff berechnet
man, unter Anwendung eines bestimmten Koeffizienten, gewöhnlich 6,25, das
Eiweiß; das Ätherextrakt wird als Fett aufgefaßt und der Rest, nachdem von
der Trockensubstanz das „Eiweiß“, das „Fett“ und die Asche subtrahiert
wurden, stellt die Kohlehydrate dar.
Diese Berechnungsweise geht indes von mehreren unbegründeten und nach
weislich unrichtigen Annahmen aus. Es ist nicht richtig, daß alles Eiweiß
!) Hier sehe ich zunächst von den Aschebestandteilen und dem Sauerstoff
ganz ab.
Die Einnahmen des Körpers. 335
16 Proz. N enthält, wie der Koeffizient 6,25 voraussetzt, denn verschiedene Eiweiß-
körper haben einen ziemlich verschiedenen Gehalt an Stickstoff.
Außerdem kommt der Stickstoff sowohl. in tierischen als in pflanzlichen
Nahrungsmitteln auch in anderen Verbindungen als Eiweiß vor. Neben Eiweiß und
der mit ihm in nahrungsphysiologischer Hinsicht fast gleichwertigen leimgebenden
Substanz enthält das Fleisch eine Anzahl N-haltiger Verbindungen, welche nur
intermediäre Produkte des Eiweißstoffwechsels darstellen und den aus der N-Be-
stimmung berechneten scheinbaren Eiweißgehalt des Fleisches nicht unwesentlich
erhöhen. Nach Rubner!) würde der Extraktivstickstoff in 100g trockenem Muskel
2,41g betragen, d. h. bei 15,49 g Gesamtstickstoff nicht weniger als 15,56 Proz.
desselben (Pflüger?). Frentzel und Schreuer°) fanden allerdings geringere.
Zahlen, laut welchen der Extraktivstickstoff 8,9 bis 7,1 Proz. des Gesamtstickstoffs
betragen würde, jedenfalls ist aber, auch nach ihren Bestimmungen, der wirkliche
Eiweißgehalt des Fleisches wesentlich niedriger als der aus dem Stickstoff be-
rechnete.
Dasselbe gilt von sämtlichen pflanzlichen Nahrungsmitteln, bei welchen außer-
dem N-haltige, in den Verdauungsflüssigkeiten unlösliche Substanzen zuweilen in
sehr reichlicher Menge vorkommen. Als Beispiel seien nur die Kartoffeln und die
eßbaren Pilze erwähnt. In jenen beträgt der Eiweißstickstoff nach Schulze und
Barbieri 65 bis 44 Proz., nach Kellner 56 bis 42, nach Morgen 70 bis 48, nach
Snyder*) 40 Proz. des Gesamtstickstoffs. Von dem in den eßbaren Pilzen (Cham-
pignons) enthaltenen Stickstoff kommen 49,3 Proz. auf (bei künstlicher Ver-
dauung) digestibles, 16,0 Proz. auf nicht-digestibles Eiweiß, sowie 34,7 Proz. auf
sonstige N-haltige Verbindungen (C. Th. Mörner°). 5
Unter Umständen kann also die Berechnung des Eiweißes aus dem N-Gehalt
der Nahrungsmittel einen sehr beträchtlichen Fehler bedingen; völlig exakt ist sie
nur in dem Falle, wenn reine Eiweißstoffe verabreicht werden. Im folgenden be-
zeichne ich, wie dies gewöhnlich geschieht, als Eiweiß die durch Multiplikation des
N-Gehaltes mit 6,25 erhaltene Stickstoffsubstanz °).
Der Äther löst bekanntlich mehrere andere Substanzen als das Fett, und da
solche in den Nahrungsmitteln mehr oder minder reichlich vorkommen, besteht
das Ätherextrakt nicht allein aus Fett (bzw. freien und durch Spaltung von etwa
vorhandenen Seifen freigemachten Fettsäuren), sondern auch aus verschiedenen
anderen Verbindungen (Lecithin, Cholesterin usw.). Da wir keine Kenntnisse über
den Nahrungswert dieser Verbindungen haben, können wir dieselben nicht in
gleiche Reihe mit dem Fett stellen, und auch hier bleibt eine gewisse Unsicherheit,
welche indes von viel geringerer Bedeutung ist als der entsprechende Fehler bei
der Eiweißbestimmung.
Der als Differenz berechnete Gehalt an Kohlehydraten stellt nicht allein die
in den Verdauungsflüssigkeiten löslichen Kohlehydrate dar, sondern schließt außer-
dem die in den pflanzlichen Nahrungsmitteln zuweilen sehr reichlich vorkommende
Zellulose u. dgl. ein. Wenn die löslichen Kohlehydrate nicht direkt bestimmt
werden — was in der Tat bei mehreren Arbeiten stattgefunden hat —, wird also
der berechnete Gehalt an ihnen in der Regel größer als der wirkliche. Übrigens
ist es einleuchtend, daß bei der Differenzbestimmung alle Analysen- und Berech-
nungsfehler sich bei den Kohlehydraten geltend machen müssen.
Der geringe Kohlehydratgehalt in den meisten tierischen Nahrungsmitteln
bewirkt im allgemeinen keine Ungenauigkeit und braucht nur dann berücksichtigt
!) Zeitschr. f. Biol. 19, 344, 1883. — ?) Arch. f. d. ges. Physiol. 79, 545,
1900. — ®?) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1902, 8. 284. — *) U.S. Depart. of agricult.,
Off. of exp. stat., Bull. No. 43, p. 10, 1897. — °) Zeitschr. f. physiol. Chem. 10,
503, 1886. — °) Unter Berücksichtigung der elementaren Zusammensetzung der
Eiweißkörper und der nicht-eiweißartigen N-haltigen Substanzen in verschiedenen
Nahrungsmitteln stellt Atwater (Storrs Agricultural Experiment Station 1899,
p- 79) als Reduktionsfaktor für die Berechnung der N-Substanz folgende Zahlen
auf: tierische Nahrungsmittel 6,25; Weizen, Roggen 5,70; Mais, Hafer, Buchweizen,
Reis 6,00; Erbsen 6,25; Früchte 5,80.
336 Die Ausgaben des Körpers.
zu werden, wenn die Aufgabe der Untersuchung, wie z.B. das Studium des Ansatzes
von Kohlehydraten im Körper, es bestimmt fordert.
Endlich leidet auch die Bestimmung der anorganischen Bestandteile an eineın
prinzipiellen Fehler: die in den eiweißartigen Verbindungen enthaltenen anorgani-
schen Elemente, wie Schwefel und Phosphor, bleiben nach der Einäscherung in der
Asche zurück und vermehren also den scheinbaren Gehalt an Aschebestandteilen.
Aus dieser Zusammenstellung folgt, daß die heutige Physiologie des Stoff-
wechsels eine volle Genauigkeit bei der Bestimmung der Einnabmen noch lange -
nicht erreicht hat, wenn auch dieser Mangel aller Wahrscheinlichkeit nach nur in
Ausnahmefällen erheblichere Fehler bewirken dürfte.
Es ist indes noch eine nicht unwesentliche Fehlerquelle zu berücksichtigen,
nämlich daß die zur Analyse entnommene Probe der durchschnittlichen Zusammen-
setzung des betreffenden Nahrungsmittels nicht immer völlig entspricht. Um dessen
ganz sicher zu sein, sollte man eigentlich die Kost ganz fein zerkleinern und erst
dann die Probe nehmen. Etwa in dieser Weise verfährt man bei Versuchen an
Tieren. Bei Versuchen am Menschen ist dies aber in der Regel lange nicht mög-
lich, vor allem weil wir nicht daran gewöhnt sind, ausschließlich eine breiige Kost
zu genießen. Hier müssen daher besondere Vorsichtsmaßregeln beobachtet werden,
welche indes hier nicht näher besprochen werden können.
8 2. Die Ausgaben.
Die beim Stoffwechsel gebildeten Produkte bleiben nicht im Körper,
sondern werden durch die Ausscheidungsorgane — die Lungen, die Haut,
die Nieren und den Darm — vom Körper abgegeben. Der Körper befindet
sich in stofflichem Gleichgewicht, wenn die in den Ausgaben erscheinenden
Elemente mit den in der Kost aufgenommenen quantitativ und qualitativ
übereinstimmen.
Insofern sich die Ausgaben auf die Stoffwechselprodukte der organischen
Nahrungsstoffe beziehen, enthalten sie als elementare Bestandteile N, S, P, C,
H und O0. Stickstoff, Schwefel und Phosphor entstammen den Eiweißkörpern,
Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff sowohl diesen als den Fetten und
Kohlehydraten. Da die Moleküle der organischen Nahrungsstoffe beim Stoff-
wechsel zerfallen, kann nur die Elementaranalyse der Ausgaben die ge-
wünschten Aufschlüsse über den Umfang der im Körper stattgefundenen
Zersetzung geben.
Für die Eiweißkörper stellt der Stickstoff den am meisten charakteri-
stischen elementaren Bestandteil dar. Um die Menge des im Körper ver-
brannten Eiweißes zu bestimmen, genügt daher in der Regel die Bestimmung
des Stickstoffs; man braucht also meistens nicht den Schwefel besonders zu
berücksichtigen und den Phosphor nur dann, wenn es gilt, das Verhalten der
P-haltigen Eiweißkörper beim Stoffwechsel zu untersuchen.
Von den übrigen Elementen der Nahrungsstoffe ist der Kohlenstoff bei
derartigen Untersuchungen unbedingt als das wichtigste zu bezeichnen.
Wenn wir neben der N-Abgabe die Kohlenstoffabgabe genau bestimmt haben,
so erhalten wir, nach Abrechnung des in dem zersetzten Eiweiß enthaltenen
Kohlenstoffs, einen Rest an Kohlenstoff, welcher die zersetzte Fett- und
Kohlehydratmenge ausdrückt.
Um die solcherart erhaltene Kohlenstoffmenge auf die beiden Gruppen
der N-freien Nahrungsstoffe bestimmt verteilen zu können, ist die Ermittelung
des gleichzeitigen Sauerstoffverbrauches unbedingt notwendig. Vgl. darüber
unten S. 340.
Die'gasförmigen Ausscheidungsprodukte. 337
Auch die Bestimmung der Wasserstoffabgabe ist aus verschiedenen Ge-
sichtspunkten bedeutungsvoll. Hierbei muß indes bemerkt werden, daß ein
großer Teil des als Wasser vom Körper abgegebenen Wasserstoffs schon als
Wasser vom Körper aufgenommen worden ist und also kein Produkt der im
Körper stattgefundenen Verbrennung darstellt.
Der in den Ausscheidungen enthaltene Sauerstoff ist zum größten Teil behufs
der Oxydation der organischen Nahrungsstoffe durch die Atmung aufgenommen
. und rührt nur in geringem Grade von den letzteren her. Wie sonst wird er durch
die Differenz bestimmt, und zwar nur in dem Falle, wenn alle anderen vom Körper
abgegebenen Elemente direkt bestimmt worden sind.
Die Elementaranalyse der aus den organischen Nahrungsstoffen stammen-
den Ausgaben beschränkt sich also auf Stickstoff (Schwefel und Phosphor),
Kohlenstoff und Wasserstoff, wozu noch die Bestimmung des aufgenommenen
Sauerstoffs hinzukommt.
In vielen Fällen ist es jedoch notwendig, einzelne in den Ausgaben des
Körpers erscheinende Verbindungen an und für sich zu bestimmen, teils um
einen tieferen Einblick in die Art und Weise der Stoffwechselvorgänge zu
gewinnen, teils auch um das Verhalten der einzelnen Nahrungsstoffe im Darme
festzustellen.
Die Analysen der Ausgaben werden nach gewöhnlichen Methoden aus-
geführt; dieselben erfordern in diesem Zusammenhange keine Besprechung.
Dagegen müssen die Methoden zum quantitativen Aufsammeln der
Ausscheidungsprodukte hier in ihren allgemeinen Zügen erörtert werden,
weil dieselben für die Physiologie des Stoffwechsels eine durchgreifende Be-
deutung haben.
I. Das Sammeln der Ausscheidungsprodukte.
a) Das Sammeln der gasförmigen Ausscheidungsprodukte und die
Bestimmung des verbrauchten Sauerstoffs.
„ Eigentümlicherweise bezogen sich die ersten quantitativen Bestimmungen
der Ausgaben des Körpers gerade auf die am schwierigsten zu sammelnden
Exkretionsprodukte, die gasförmigen. Zu diesem Zwecke benutzte La-
voisier, teilweise im Verein mit Laplace und Seguin, folgende Methoden.
1. Er schloß das Versuchstier (einen Sperling) in eine abgeschlossene Glasglocke
von 31 Cubikzoll Inhalt ein und ließ es hier bis zum Tode bleiben, welcher nach
55 Minuten eintrat. Danach analysierte er die in der Glocke enthaltene Luft !).
2. Im Verein mit Laplace?) schloß er ein Meerschweinchen in ein Gefäß
ein, welches er die ganze Versuchsdauer hindurch ventilierte. Die ausströmende
Luft wurde auf Kohlensäure und Wasserdampf analysiert.
3. Ebenfalls im Verein mit Laplace (und S&guin) schloß Lavoisier®) ein
Meerschweinchen in ein mit reinem Sauerstoff gefülltes Gefäß ein; die abgegebene
Kohlensäure wurde durch Lauge absorbiert und bei länger dauerndem Versuche
neuer Sauerstoff in bestimmten Mengen zugeführt.
4. Bei Lavoisiers Versuchen am Menschen atmete die Versuchsperson durch
eine Gesichtsmaske; die durch dieselbe exspirierte Luft wurde gemessen und ana-
!) Me&moires de l’Acad&mie des sciences, Paris 1777, p. 185. Oeuvres de La-
voisier 2, 177. — ?) Ebenda 1780, p. 355. Oeuvres de Lavoisier 2, 327. —
3) Ebenda 1780; 1789, p. 185. Oeuvres de Lavoisier 2, 326, 693.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. PP}
338 Die gasförmigen Ausscheidungsprodukte.
lysiert!). Die Anordnung dieser Versuche geht aus zwei von Mme. Lavoisier
ausgeführten Zeichnungen, welche Grimaux) in seinem Buche über Lavoisier
mitgeteilt hat, sehr deutlich hervor.
Es liegt ganz außerhalb der Aufgabe dieses Handbuches, eine Darstellung
der verschiedenen Methoden zu geben, welche seitdem zur quantitativen Be-
stimmung des Gaswechsels benutzt wurden. Ich werde daher, ohne An-
sprüche auf Vollständigkeit zu erheben, nur die wichtigsten unter denselben
kurz erwähnen und verweise in bezug auf ältere Arbeiten auf die Zusammen-
stellungen von Zuntz und Voit in Hermanns Handbuch der Physiologie,
Ba. IV, 2 und VI 1.
Diese sämtlichen Versuchsweisen gründen sich auf die von Lavoisier
und seinen Mitarbeitern praktisch geprüften Methoden. Die zweite Methode
wurde am Menschen zuerst in kleinem Maßstabe von Scharling?°) und dann
von Pettenkofer ?) in seinem großen Respirationsapparate angewandt. Der
Respirationsapparat von Voit) stellt im großen und ganzen nur eine Ver-
kleinerung dieses Apparates dar. Nach demselben Grundprinzip sind ferner
die Respirationsapparate von Liebermeister®), Stohmann’), Kühn),
Leyden und Fränkel?), Sonden und mir !0), Rubner!!) und Jaquet !2)
sowie das Respirationskalorimeter von Atwater und Rosa 3) konstruiert.
Die dritte Methode Lavoisiers wurde von Regnault und Reiset!*)
zu großer Vollkommenheit ausgebildet, von Reiset!’) auch auf größere Säuge-
tiere angewandt, sowie von Hoppe-Seyler !6) bei Versuchen am Menschen
benutzt. Andere Autoren !’) haben derartige, für kleinere Tiere eingerichtete
Apparate gebaut. Bei allen diesen wird die abgegebene Kohlensäure durch
Lauge absorbiert und statt derselben reiner Sauerstoff automatisch zugeführt.
Prinzipiell gehört hierher auch eine von Röhrig und Zuntz!°) aus-
gearbeitete Methode, bei welcher das Versuchstier aus einem Behälter Sauer-
stoff einatmet und in denselben wieder ausatmet, wobei die ausgeatmete Luft
durch zweckmäßig wirkende Ventile ein mit Lauge beschicktes Gefäß zu
passieren hat.
Die Bestimmungen, welche unter Anwendung eines Respirationsapparates
ausgeführt werden, sind 1. die Kohlensäureabgabe, 2. die Abgabe von Wasser-
dampf, 3. die Aufnahme von Sauerstoff.
!) M&moires de l’Acaddmie des sciences, Paris 1789. Oeuvres de Lavoisier
2, 695. — °) Grimaux, Lavoisier 1743—1794, Paris 1888, p. 119, 129. —
®) Ann. d. Chem. u. Pharm. 45, 218, 1843. — *) Ebenda, 2. Suppl.-Bd., 8. 1,
1863. — °) Zeitschr. f. Biol. 11, 532, 1875. — °) Deutsch. Arch. f. klin. Med. 7, 75,
1870. — 7) Landwirtschaftl. Versuchsstat. 19, 93, 1876. — °®) Ebenda 44 (1894). —
°) Arch. f. path. Anat. 76, 150, 1879. — '!°) Skand. Arch. f. Physiol. 6, 7, 1895. —
l) Arch. f. Hygiene 26, 32, 1896. — !?) Verhandl. d. Naturf. Ges. zu Basel 15, 252,
1903. — '°) U. 8. Depart. of Agriculture, Off. of exp. stat., Bull. No. 44, 1897;
No. 63, 1899; No. 69, 1899; No. 109, 1902; No. 136, 1903. Andere derartige
Apparate sind ferner noch von Laulanie, Arch. de physiol. 1895, p. 617, Hal-
dane, Journ. of Physiol. 13, 419, 1902, und anderen Autoren beschrieben. — '*) Ann.
de chimie et de physique, 3. serie, 26, 1 (1849). — !?) Ebenda, 3. serie, 69, 129, 1863. —
1) Zeitschr. f. physiol. Chemie 19, 574, 1894. — ') Colasanti, Arch. f. d. ges.
Physiol. 14, 94, 1877; Seegen u. Nowak, ebenda 19, 370, 1879; Leo, ebenda
26, 221, 1881; Nemser, ebenda 45, 284, 1889; Heerlein, ebenda 52, 170, 1892;
Pflüger, ebenda 77, 443, 1899; Bleibtreu, ebenda 85, 366, 1901; Rosenthal,
Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1902, 8. 167; Zuntz, ebenda 1903, Suppl. 8. 492. —
!#) Arch. f. d. ges. Physiol. 4, 83, 1871; Wolfers, ebenda 32, 227, 1883.
Die gasförmigen Ausscheidungsprodukte. 339
Bei allen soeben erwähnten Apparaten läßt sich die Bestimmung der
Kohlensäureabgabe sehr genau machen. Zur Prüfung ihrer Leistungsfähigkeit
in dieser Hinsicht läßt man im Apparate Stearin, Alkohol oder Petroleum von
bekanntem Kohlenstoffgehalt brennen und bestimmt die entwickelte Kohlen-
säure. Ganz wie bei der organischen Elementaranalyse kann man dann die
berechneten und die gefundenen Mengen untereinander vergleichen. Das
Resultat dieser Prüfungen ist für einige der oben erwähnten Apparate in
folgender Tabelle aufgenommen: |
| Kohlensäure;
Apparat mittlerer Fehler
E | Proz.
Hotkeukotae 0 0 u | 1,96!)
DET A MEERE 1,76
Stohmann ..... | 1,45
Leyden u. Fränkel . . RETRO EN 1,58
Sonden u. Tigerstedt ....... 1,16?)
Bar EEE RR AEINTEDLG | 0,54 ?)
Viel schwieriger ist die Bestimmung des abgegebenen Wasserdampfes
gewesen. Zwar erhielt Pettenkofer bei seinen ersten Versuchen ziemlich
befriedigende Resultate: bei 5 Versuchen einen Maximalfehler von — 6,7 Proz.
und einen mittleren Fehler von 4,4 Proz. Zwei folgende Reihen zeigten
indes ungünstigere Resultate, im Durchschnitt von 4 Versuchen 6,4 Proz.
GC. und E.Voit und Forster suchten durch Prüfung aller Einzelheiten des
Apparates die Ursache dieses Fehlers näher aufzuklären und kamen zu dem
Schluß, daß der Fehler auf unvollständiger Verbrennung des Stearins be-
ruhte. Wenn sie Wasser direkt abdampfen ließen, erhielten sie als Durch-
schnitt von drei Versuchen einen Fehler von nur — 3 Proz.
Inwieweit diese Erklärung das Richtige getroffen hat, mag unentschieden
bleiben. Jedenfalls kommt noch ein anderer Umstand hinzu, auf welchen Stohmann
die Aufmerksamkeit richtete. Wenn ein mit Ölfarbe angestrichenes Metall feuchter
Luft ausgesetzt wird, so entsteht eine Absorption von Wasserdampf, und eine Wasser-
abgabe erfolgt wieder, wenn die Luft trockener wird. Dieses Phänomen ist mit der
gewöhnlichen Kondensation ‚des Wasserdampfes durchaus nicht zu verwechseln, denn
das absorbierte Wasser kann nicht als sichtbare Feuchtigkeit mit den Augen er-
kannt, wie auch nicht durch Löschpapier oder Leinwand weggeschafft werden‘).
Durch zweckmäßige Wahl des Wandmaterials hat man indessen später
viel genauere Bestimmungen des Wasserdampfes erzielen können. Im
Respirationskalorimeter von Atwater und Rosa beträgt der Fehler in 23
Versuchen durchschnittlich nur 1,65 Proz.5); und auch Rubner)gibt an, daß
‘) Ann. d.. Chemie u. Pharm., 2. Suppl.-Bd., 1863; C. u. E. Voit u. Forster,
Zeitschr. f. Biol. 11, 126, 1875. — ?) Vgl.auch Rosenberg, Skand. Arch. f. Physiol.
16, 67, 1904. — °) Hier sind auch 2 Kontrollversuche aufgenommen, bei welchen irgend-
welche Zufälligkeiten das Ergebnis fehlerhaft machten. Wenn diese Versuche aus-
geschlossen werden, beträgt der prozentige Fehler in 25 Kontrollversuchen nur 0,016.
— *) Die landwirtschaftl. Versuchsstationen 19, 104, 1876.—°) U. S. Depart. of Agrieult.,
Off. of exp. Stat., Bull. No. 136, p. 38, 1903. Von der Reihe sind vier Versuche aus-
geschlossen, bei welchen Zufälligkeiten das Resultat abnorm schlecht machten. —
) Rubner, Die Gesetze des Energieverbrauches, Leipzig und Wien 1903, 8.17.
22*
340 Die gasförmigen Ausscheidungsprodukte.
bei seinem Apparat jeder Fehler der Wasserbestimmung durch Kondensation
absolut beseitigt ist. Doch ist zu bemerken, daß das Respirationskalorimeter
von Atwater und Rosa einen Cubikinhalt von nur 4,8cbm und die
Respirationskammer von Rubner einen von 7,5cbm hat, während der Luft-
raum im Pettenkoferschen Apparat 12,7cbm und in dem von Sonden
und mir 100,65 cbm beträgt.
Mit Apparaten nach Regnault und Reiset hat man, meines Wissens,
nie versucht, Bestimmungen der Wasserabgabe zu machen.
Bis jetzt ist es nur Jaquet und, nach brieflicher Mitteilung, Atwater
gelungen, unter Anwendung eines durch einen ununterbrochenen Luftstrom
ventilierten Respirationsapparates den Sauerstoffverbrauch mit genügender
FExaktheit direkt zu bestimmen. Da indes die Kenntnis von dem Sauerstoff-
verbrauch für Stoffwechseluntersuchungen von der größten Bedeutung ist,
suchte Pettenkofer denselben indirekt zu ermitteln. Die Differenz zwischen
dem Anfangsgewicht der Versuchsperson, plus allen seinen direkt bestimmten
Einnahmen, minus aller Ausgaben und des Endgewichts ergibt die Sauer-
stoffaufnahme. Jedoch kann diese Berechnung nie völlig befriedigende Re-
sultate geben, denn alle Analysenfehler werden sich ja bei derselben geltend
machen müssen, und insbesondere wird der Fehler der Wasserbestimmung
hierbei einen sehr bedenklichen Einfluß ausüben. Auch hat man nur sehr
selten Versuche gemacht, um in dieser Weise die Sauerstoffaufnahme zu
bestimmen.
Dagegen sind die nach Regnault und Reiset gebauten Apparate ganz
besonders für die direkte Bestimmung des Sauerstoffs geeignet; hat man ja
nur die Luft in der Respirationskammer vor und nach dem Versuche auf Sauer-
stoff zu analysieren und die Menge reinen Sauerstoffs zu bestimmen, welche
aus den Behältern in die Respirationskammer übergeht.
Unter Anwendung von Respirationsapparaten nach Pettenkofer oder
Regnault und Reiset kann man sogar am Menschen tagelang die Kohlen-
säure- und Wasserabgabe (bzw. die Sauerstoffaufnahme) ununterbrochen be-
stimmen. Solche Apparate sind aber sehr kostspielig und erfordern ziemlich
viel Raum, weshalb sie nicht in allen Laboratorien eingerichtet werden können.
Darin liegt wesentlich die Ursache, weshalb man in der letzten Zeit vielfach
Apparate nach der vierten Methode Lavoisiers benutzt hat, d.h. Apparate,
“ bei welchen das Versuchsindividuum durch eine Gesichtsmaske oder ein
Mundstück, bei Tieren durch eine Trachealkanüle atmet und die eingeatmete
wie die ausgeatmete Luft durch zweckmäßig eingerichtete Ventile vonein-
ander getrennt wird. Die bewegten Luftmengen werden gemessen und
analysiert; wegen des hier in Betracht kommenden kleinen Luftvolumens läßt
sich auch die Sauerstoffbestimmung mit großer Präzision ausführen.
Unter den von verschiedenen Autoren benutzten Versuchsanordnungen
dieser Art sind die im Laboratorium von Zuntz!) ausgebildeten Methoden
!) Zuntz und Geppert, Arch. f. d. ges. Physiol. 42, 196, 1888; Strass-
mann, ebenda 49, 321, 1891; Loewy, ebenda 49, 492, 1891; Magnus-Levy,
ebenda 55, 1, 1894. Vgl. unter anderem noch Speck, Schriften d. Ges. zur Beförd.
der Naturw. zu Marburg 10, 1871; Hanriot und Richet, Ann. d. chimie et de
phys., 6. serie, 22, 1, 1891 und Travaux du laboratoire de Richet 1, 470, 1893;
Tissot, Archives de physiologie 1896, p. 563.
u Allein u Iiesuuuuiie. 4 Sul Ai ee ee
Harn und Kot. 341
in erster Linie zu nennen, weil sie sich vielfach sehr gut bewährt haben
und sogar bei Bergbesteigungen und Ballonfahrten!) erfolgreich benutzt
worden sind. |
Obgleich diese Methode an dem wesentlichen Übelstande leidet, daß die
Versuchsperson, wenigstens bis sie sich an den Apparat gewöhnt hat, unter
abnormen Bedingungen atmet?), und daß daher die Beobachtung nur eine
verhältnismäßig kurze Zeit (1/, bis /, Stunde, zuweilen auch etwas länger)
ohne Unterbrechung ausgeführt werden kann ?), muß sie dennoch als in vielerlei
Hinsicht sehr wertvoll bezeichnet werden, vor allem, wenn es gilt, schnell ein-
tretende und schnell vorübergehende Veränderungen des Stoffwechsels zu er-
forschen. So hat sie die Einwirkung der Muskelarbeit auf den Stoffumsatz
in vielen wesentlichen Punkten aufgeklärt. Daß sie dagegen nicht genügt,
um die Stoffwechselgröße pro 24 Stunden festzustellen, ist nach dem schon
Angeführten ohne weiteres ersichtlich.
b) Das Sammeln von Harn und Kot.
In unserer Zeit erscheint die Frage nach dem Sammeln der flüssigen
und festen Exkrete behufs der Analyse außerordentlich einfach — es hat
aber geraume Zeit gedauert, bis man so weit gekommen ist.
Betreffend den Harn ist vor allem zu bemerken, daß er für die gesamte
Dauer des Versuches gesammelt werden muß. Man hat sich daher davon zu
vergewissern, daß die Blase sowohl im Beginn als am Ende der Versuchs-
periode ganz leer ist.
In erster Linie hat Voit auf die früher begangenen Fehler beim Sammeln
des Harns aufmerksam gemacht und gezeigt, wie diese zu vermeiden waren ®).
Man meinte, daß kein namhafter Verlust an Harn entstehen konnte, wenn
der Harn des Versuchstieres auf den (hölzernen) Boden des Käfigs gelassen
und von diesem in geeigneter Weise gesammelt wurde. Die direkte Prüfung
ergab indessen, daß diese Annahme ganz unrichtig war, und daß man viel
strengere Vorsichtsmaßregeln einzuhalten hatte. Zu diesem Zwecke richtete
Voit seine Versuchshunde so ab, daß sie den Harn niemals in den Käfig,
sondern nur außerhalb desselben in ein untergehaltenes Glas entleerten, oder
auch wurde das Tier katheterisiert. Bei Hündinnen ist dies nach Spaltung
des vorderen Teiles der Harnröhre (C. Ph. Falck°) sehr einfach; aber auch
männliche Hunde lassen sich mit sehr feinen elastischen Röhrchen kathe-
terisieren 6).
Es ist aber nicht an allen Tieren möglich, das Katheterisieren durch-
zuführen, und um dennoch sicher zu sein, allen Harn der Versuchsperiode zu
bekommen, hat man verschiedene Einrichtungen ersonnen, welche jedoch hier
nicht beschrieben werden können. Auch hat es sich erwiesen, daß man bei
zweckmäßiger Konstruktion des Bodens der Käfige (Drahtgitter, durch welches
Y) Arch. f. d. ges. Physiol. 63, 466, 1896; 66, 481, 1897. — °) Vgl. Speck,
Physiol. d. menschl. Atmens, Leipzig 1892, S. 215. Katzenstein, Arch. f.d.
ges. Physiol. 49, 380, 1891; Hoppe-Seyler, Zeitschr. f. physiol. Chemie 19, 578,
1894. — °) Smith hat es durchgesetzt, 18 Stunden lang mit alleiniger Unter-
brechung für die Mahlzeiten durch eine Maske zu atmen (Philosophical Transactions
139, 690, 1859). — *) Zeitschr. f. Biol. 4, 318, 1868. — °) Arch. f. path. Anat. 9,
57, 1856. — °) Vgl. Voit, 8. 25.
342 Harn und Kot. — Schweiß.
der Harn sogleich in einen weiten Trichter abfließt; Spülen des Gitters)
vollkommen brauchbare Resultate erzielen kann !).
Beim erwachsenen Menschen begegnet es im allgemeinen keiner Schwierig-
keit, den Gesamtharn einer Periode zu erhalten. |
Es ist selbstverständlich, daß die Untersuchung. des Kotes nur dann
für das Studium der Stoffwechselvorgänge eine Bedeutung haben kann, wenn
der betreffende Kot sich auf eine bestimmte Kost bezieht. Indessen ist der
Darm bei allen Tieren mehr oder weniger gefüllt, und man muß daher den
Versuchskot in geeigneter Weise vom früheren und späteren Kote abgrenzen.
Eine wirkliche Abgrenzung ist bei den Pflanzenfressern nicht möglich; man
kann die Schwierigkeit aber in der Weise umgehen, daß man dem Versuchs-
tiere mehrere Tage lang das Versuchsfutter gibt und den eigentlichen Versuch
erst dann beginnt, wenn man annehmen kann, daß aller früherer Darminhalt
entleert ist.
Beim Fleischfresser beobachteten Bidder und Schmidt, daß der
schwarze, pechartige Kot nach Fleischfütterung sich leicht von dem volumi-
nösen, dem Brote ähnlichen Exkrementen nach Aufnahme von Schwarzbrot
unterscheiden läßt?2). Dann untersuchten Bischoff und Voit die Frage
genauer, stellten die Unterschiede des Kotes bei verschiedener Fütterung dar
und konnten dadurch eine wirkliche Kotabgrenzung erzielen). Als besondere
Abgrenzungsmittel wurden später frische Knochen (G. Meyer), Badeschwamm
(Adamkiewicz), Korkstückchen (Salkowski und I. Munk®), Kieselsäure
(Cremer und Neumayer°) usw. benutzt.
Bei Versuchen am Menschen suchte J. Ranke die Abgrenzung des Ver-
suchskotes durch Preißelbeeren zu erzielen®). Weiske’) und G. Meyer’)
grenzten bei Versuchen mit vegetabilischer Kost den Versuchskot dadurch ab,
daß sie vor und nach dem Versuche reine animalische Kost ohne Zusatz von
Stärke oder Cellulose darreichten. Später führte Rubner die Abgrenzung
durch Milch ®) oder Ruß 10) ein; Hultgren und Landergren !!) benutzten ge-
trocknete Blaubeeren, Ad. Schmidt!?) Karmin usw. Betreffend die Frage,
wie diese Abgrenzung im Detail ausgeführt wird, verweise ich auf die unten
zitierten Arbeiten.
c) Das Sammeln von Schweiß.
Der von der Körperoberfläche abgegebene Wasserdampf wird in den
Respirationskammern gleichzeitig mit dem durch die Respirationswege aus-
geschiedenen bestimmt. Zum Sammeln der festen Bestandteile, welche im
Schweiß abgegeben werden, hat Argutinsky!?) folgendes Verfahren ein-
geschlagen. Wenn die Schweißabsonderung durch ein Dampfbad erzeugt
wurde, saß die nackte Versuchsperson auf einem Holzstuhl, der in ein Sitzbad
!) Vgl. Voit, 8. 26. — *) Bidder u. Schmidt, Die Verdauungssäfte und der
Stoffwechsel. Mitau u. Leipzig 1852, 8. 217. — °) Voit, Physiol. chem. Unters.
1, 14, 1857; Bischoff u. Voit, Die Gesetze der Ernährung des Fleischfressers.
Leipzig u. Heidelberg 1860, 8. 289. — *) Voit, 8. 32. — °) Zeitschr. f. Biol. 35, 391,
1897. — °) Arch. f. Anat. u. Physiol. 1862, 8. 315. — 7?) Zeitschr. f. Biol. 6, 458,
1870. — ®) Ebenda 7, 18, 1871. — °) Ebenda 15, 119, 1879. — !*) Ebenda 19, 56,
1883. — !!) Skand. Arch. f. Physiol. 2, 376, 1890. — !?) Siehe bei Ad. Schmidt
u. Strasburger, Die Fäces des Menschen. Berlin 1902, 8. 5. — ') Arch. f.d.
ges. Physiol. 46, 594, 1890.
RR
Ze ee ee ee ee
u ae eh N u ee Me Be Ma Be Ben. Dh
Sonstige Abgaben. — Die Abgaben durch die Respiration. 343
aus Zinkblech gestellt war, so daß der herabfließende Schweiß fast vollständig
gesammelt werden konnte, während der auf dem Körper zurückgebliebene
Schweiß nicht berücksichtigt wurde. — Um am bekleideten Körper den
Schweiß unter, soweit möglich, normalen Verhältnissen zu sammeln, wurde
aus wohl ausgewaschenem Flanell ein Anzug und aus dünnem Jägerwollstoff
ein Hemd und Unterhosen gemacht. In diesen Kleidern wurde der abgesonderte
Schweiß zurückgehalten und nach Ende des Versuches der Stickstoff in Hemd,
Unterhosen, Weste und Hut bestimmt.
d) Sonstige Abgaben vom Körper.
Der Körper erleidet noch dadurch Substanzverlust, daß Stoffe von ihm ab-
gegeben werden, welche nicht Produkte der in ihm stattfindenden Verbrennung
darstellen. Hierher gehört der Verlust durch Abschuppen der Epidermis, durch
Schneiden von Haaren und Nägeln, durch die Abgabe von Sperma und Menstrual-
blut, durch die Milchsekretion. Durch abfallende Haare verliert der Ochs täglich
nicht mehr als 2,2 bis 2,8g N, während seine tägliche Stickstoffabgabe im Harn
und Kot 100 bis 200g beträgt. Auf demselben Wege gibt der Hund täglich nur
etwa 0,18 und der Mensch 0,03g N ab. Durch Schneiden der Nägel ist der täg-
liche Verlust an N etwa 0,0007g N (Moleschott!). Diese Substanzverluste sind
also im großen und ganzen sehr gering; auch werden sie bei Stoffwechselversuchen
nicht in Betracht gezogen, da die bei diesen sonst auftretenden, unvermeidlichen
Fehler an sich viel mehr betragen.
Die Substanzverluste durch Abgabe von Sperma, Menstrualblut und Milch sind
viel beträchtlicher und müssen selbstverständlich genau berücksichtigt werden. In
der Regel werden sie aber bei Stoffwechselversuchen vermieden, wenn sich die
Untersuchung nicht speziell auf die Feststellung ihres Einflusses richtet.
II. Die Verteilung der einzelnen Elemente auf die verschiedenen
Ausscheidungen.
a) Die Abgaben durch die Respiration.
Daß Kohlenstoff und Wasserstoff in Form von Kohlensäure und Wasser
von den Lungen abgegeben werden, ist seit dem Anfang der wissenschaft-
lichen Untersuchungen über den Stoffwechsel bekannt und bedarf hier keiner
näheren Erörterung.
Anders stellt es sich mit dem Stickstoff und den N-haltigen Produkten.
Von vornherein läßt es sich ja nicht bestreiten, daß freier Stickstoff als Stoff-
wechselprodukt bei der Exspiration vom Körper abgegeben werden könnte,
und dasselbe wäre ja auch mit etwaigen N-haltigen, gasförmigen Verbin-
dungen möglich.
Nur mit Hilfe von Apparaten nach Regnault und Reiset ist es mög-
lich, die quantitativen Veränderungen des freien Stickstoffs bei länger
dauernden Stoffwechselversuchen zu bestimmen. In den zahlreichen, von den
genannten Autoren veröffentlichten Beobachtungen finden wir auch eine,
wenn auch geringe Abgabe von Stickstoff 2). Dieselbe beträgt durchschnitt-
lich nach einer Berechnung von Zuntz beim Kaninchen 0,004 und beim
Hunde 0,007 g pro Kilogramm und Stunde 3). Die einzelnen Beobachtungen
weichen aber untereinander sehr erheblich ab, indem sie beim Kaninchen
!) Vgl. Voit, 8. 51. — *) Ann. de chim. et de phys., 3° serie, 27 (1849). —
®) Hermanns Handb. d. Physiol. 4 (2), 132.
344 Die Abgaben durch die Respiration.
zwischen 0,007 und 0,0007 und beim Hunde zwischen 0,024 und OÖ bis
— 0,005 g variieren. NReiset fand beim Schaf eine N- Abgabe von 0,003
bis 0,0055, beim Kalb eine von 0,004 bis 0,003 pro Kilogramm und Stunde !).
Seegen und Nowak beobachteten in der Exspirationsluft beim Kaninchen
0,005 (0,004 bis 0,006), beim Hunde 0,008 (0,006 bis 0,009) N pro Kilo-
gramm und Stunde ?2). Ein Hund von30 kg Körpergewicht würde demnach
im Laufe von 24 Stunden 5,8 g Stickstoff, d. h. bei Fütterung mit 1500 g Fleisch
(— 5lg N) mehr als 11 Proz. des Gesamtstickstoffs in Gasform abgeben.
Demgegenüber kann aber bemerkt werden, daß sogar bei einem Respira-
tionsapparat nach Regnault und Reiset nicht unbedeutende Fehler der
N-Bestimmung unterlaufen können. In dieser Hinsicht bemerken Petten-
kofer und Voit?) den genannten Autoren gegenüber, daß eine Abgabe von
freiem Stickstoff durch Verunreinigung des gebrauchten Sauerstoffs, durch
Diffusion von außen her, durch nicht beobachtete Temperaturunterschiede im
Apparat, durch Zersetzung des Harnammoniaks beim Glühen der Luft hätte
vorgetäuscht werden können. Auch könnte dieser Stickstoff zum Teil aus
der Haarbekleidung oder aus der im Darme befindlichen verschluckten Luft
herrühren.
In der Tat zeigten die bald nachher folgenden Versuche von Leo, daß
.die scheinbare Abgabe von freiem Stickstoff um so geringer wurde, je besser
es gelang, alle Fehlerquellen auszuschließen. Beim Kaninchen erhielt er
nämlich pro Kilogramm und Stunde durchschnittlich nur 0,00042g N, also
weniger als 1/0. der von Seegen und Nowak beobachteten Ausscheidung ?).
Diese Zahl fällt übrigens schon innerhalb der Grenzen der unvermeidlichen
Versuchsfehler.
Wir können daher mit großer Wahrscheinlichkeit behaupten, daß freier
Stickstoff als Stoffwechselprodukt nicht in erwähnenswerter Menge in den
gasförmigen Exkreten abgegeben wird. Daß eine N-Abgabe sehr geringen
Umfanges völlig ausgeschlossen ist, ist dagegen nicht einwandfrei bewiesen.
Zuntz hat nämlich über Versuche von Tacke berichtet, nach welchen beim
Kaninchen meistens eine geringe, aber immerhin die Grenzen der möglichen
Versuchsfehler übersteigende Menge gasförmigen Stickstoffs abgegeben wird.
Bei Zufuhr von salpetersaurem oder salpetrigsaurem Ammon in den Magen
steigt diese Abgabe beträchtlich an — möglicherweise findet hierbei eine
Spaltung nach der Gleichung NH,.NO, = N, + 2H,0 statt. Nach Zuntz
dürften Gärungsprozesse im Darme das Agens darstellen, welches diesen Zer-
setzungsprozeß einleitet °).
Defren bemerkt, daß im kondensierten Wasser der Exspirationsluft Nitrate
und insbesondere Nitrite nachgewiesen werden können°®). Nach Atwater und
Benedict ist indes die Menge derselben außerordentlich gering, und es ist also
höchst wahrscheinlich, daß keine meßbare Quantität Stickstoff auf diesem Wege
den Körper verläßt?).
Mit großer Bestimmtheit vertraten Brown-Söquard und d’Arsonval die
Ansicht, daß die exspirierte Luft stark giftige Substanzen enthält, und es lag
!) Ann. de chim. et de phys., 3° serie, 69 (1863). — ?) Arch. f. d. ges. Physiol.
19, 414, 1879. — °) Zeitschr. f. Biol. 16, 508, 1880; vgl. auch Seegen: und
Nowak, Arch. f. d. ges. Physiol. 25, 383, 1881. — *) Ebenda 26, 235, 1881. —
5) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1886, 8. 560. — °) Exper. Stat. Record 8, 385, 1897. —
7) U. 8. Depart. of Agricult., Off. of exp. Stat., Bull. No. 109, p. 18, 1902.
Die Abgaben durch die Haut. 345
natürlich sehr nahe, anzunehmen, daß dieselben N-haltig waren. Von den Bemer-
kungen verschiedener Autoren veranlaßt, machten sie mit vervollkommneten Ver-
suchsanordnungen neue Versuche, welche immer wieder dasselbe Resultat gaben ').
Indes wies Formanek, wie es scheint, vollkommen einwandfrei nach, daß die
Ursache der betreffenden giftigen Wirkungen nicht in der Gegenwart toxischer
Verbindungen in der Exspirationsluft lag, sondern daß dieselben vom Ammoniak,
welches aus dem festen und flüssigen Exkrete der Versuchstiere in die Luft über-
gegangen war, hervorgerufen waren’).
Soweit es die Untersuchung des Stoffwechsels betrifft, haben wir daher
in den Respirationsprodukten nur die Kohlensäure „und den Re
zu berücksichtigen.
b) Die Abgaben durch die Haut.
"Perch die Haut wird vor allem Wasser abgegeben. Da dasselbe ver-
dampft, wird es in den Respirationsapparaten gleichzeitig mit dem Respirations-
wasser bestimmt. Die Menge des Wassers, welche bei Versuchen am Menschen
in den Kleidern zurückbleibt, wird durch Wägen derselben vor und nach
dem Versuche ermittelt.
Der Schweiß enthält aber auch feste Bestandteile, unter welchen der
Harnstoff der wichtigste ist. Die Menge desselben kann (beim Menschen)
unter Umständen eine nicht zu vernachlässigende Größe betragen. So fand
Argutinsky, daß während eines Dampfbades von !/, bis 3/, Stunde Dauer
im Schweiß 0,25 bis 0,26g N ausgeschieden wurden. Nach einem langen
Spaziergang wurden im Schweiß bis zu 0,76g N beobachtet®). Atwater
und Benedict?) fanden beim ruhenden Menschen bei gewöhnlicher Zimmer-
temperatur pro Tag nur 0,025g N im Schweiß, beim arbeitenden dagegen
durchschnittlich 0,29g (Minimum 0,20, Maximum 0,66 g).
In dem tropischen Klima von Java beobachtete Eykman’) bei Ruhe
eine tägliche Abgabe von 0,76 g N und bei leichter Arbeit eine von 1,36 g N
im Schweiß.
Im allgemeinen braucht man aber die N-Abgabe durch den Schweiß
nicht zu berücksichtigen; unter besonderen Umständen bewirkt aber ihre
Vernachlässigung einen nicht unbeträchtlichen Fehler.
Endlich wird auch Kohlensäure durch die Haut abgegeben. Bei Ver-
suchen in der Respirationskammer addiert sie sich zu der bei der Exspiration
abgegebenen Kohlensäure. Nach direkten Bestimmungen von Schierbeck ®)
und v. Willebrand’) ist die von der Haut ausgeschiedene Kohlensäure-
menge jedenfalls nur eine geringe. Pro 24 Stunden berechnet betrug sie bei
einer Temperatur von 20 bis 32°C etwa 7,2 bis 8,4g (= 2 bis 2,3g C).
Wenn die Temperatur zu dem Punkte stieg, wo sichtbarer Schweiß hervor-
brach (etwa 33°C), nahm die Kohlensäureabgabe durch die Haut auf etwa
31 bis 32g (= 8,5 bis 8,7g C) zu.
!) Compt. rend. de l’Acad&mie des sciences (Paris) 106, 106, 165, 1888; 108,
267, 1294, 1889; Archives de physiol. 1894, p. 113; vgl. auch Merkel, Arch. f.
Hygiene 15, 1, 1892; Haldane u. Smith, Journ. of Pathol. and Bacteriol. 1
(1893). — ?) Arch. f. Hygiene 38, 1, 1900. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 46, 594,
1890. — *) U. S. Depart. of Agricult., Off. of exp. Stat., Bull. No. 69, p. 24, 1899;
Bull. No. 136, p. 118, 1903. — °) Arch. f. path. Anat. 131, 177, 1893. — °) Arch.
f. (Anat. u.) Physiol. 1893, 8. 116; Arch. f. Hygiene 16, 218, 1893. — 7) Skand.
Arch. f. Physiol. 13, 351, 1902.
346 Die Abgaben durch die Nieren und den Darm.
c) Die Abgaben durch die Nieren.
Wenn wir wie früher von den Abgaben der Aschebestandteile absehen,
so sind im Harne nur Stickstoff (Schwefel, Phosphor), Kohlenstoff und Wasser
zu berücksichtigen.
Ich werde die chemische Zusammensetzung des Harns hier nicht -be-
sprechen, da dieselbe in einem anderen Abschnitt dieses Handbuches mit der
gebührenden Ausführlichkeit behandelt wird. Hier habe ich also nur den
Harn aus dem Gesichtgpunkte der Physiologie des Gesamtstoffwechsels zu
berücksichtigen.
Vor allem ist die N-Abgabe im Harn bedeutungsvoll, denn der bei
weitem größte Teil des vom Körper abgegebenen Stickstoffs erscheint
im Harn.
Die durch die Nieren ausgeschiedene Menge Kohlenstoff ist dagegen
im Vergleich mit der Kohlenstoffmenge der Exspirationsluft sehr gering.
Übrigens steht sie, bei gesunden Individuen, in einem ziemlich konstanten
Verhältnis zur N-Menge des Harns, und es ist daher gestattet den Harn-
kohlenstoff aus dem Harnstickstoff zu berechnen, wenn nicht eine sehr große
Genauigkeit erstrebt wird.
Bei gemischter Kost betrug im Durchschnitt von 47 Versuchen an vier
verschiedenen Individuen mit zusammen 145 Versuchstagen das Verhältnis
C/N 0,721 — Max. 0,791, Min. 0,635 (Atwater und Benedict!). Beim
Hunger hat man für C/N 0,654 bis 0,950 gefunden [Munk?), Johansson,
Landergren, Sonden und Tigerstedt)].
Da die tägliche N-Abgabe im‘°Harn beim Menschen etwa 16 g beträgt,
würde darin durchschnittlich 11,5 g Kohlenstoff mit den Grenzwerten 10,2
bis 14,8 enthalten sein. Auch wenn wir bemerken, daß das Verhältnis C/N,
wie aus anderen Erfahrungen hervorgeht, innerhalb etwas weiterer Grenzen
als der von Atwater und Benedict gefundenen variieren kann, so wird
doch der Fehler der Kohlenstoffberechnung im Vergleich mit der täglichen
Kohlenstoffabgabe in der Respiration, welche beim Erwachsenen in der Regel
200 g und mehr beträgt, kaum eine wesentliche Differenz verursachen können.
d) Die Abgaben durch den Darm.
Im Kote werden teils Reste der genossenen Kost, welche nicht im Darm-
rohre resorbiert wurden, teils Bakterien, teils Rückstände der Verdauungs-
säfte, zerfallene Darmepithelien und Substanzen, welche sonst von der Darm-
schleimhaut und der Leber ausgeschieden werden, abgegeben.
Es wäre natürlich von großer Bedeutung, wenn man feststellen könnte,
welchen Ursprunges die in einer bestimmten Kotportion enthaltenen Verbin-
dungen eigentlich sind, ob sie dem Körper selber entstammen oder unresor-
bierte Reste der Kost darstellen. Jedoch lassen sich keine ganz bestimmten
Resultate in dieser Beziehung gewinnen; nichtsdestoweniger besitzen wir
vielerlei Erfahrungen, welche eine allgemeine Vorstellung hierüber gestatten.
!) U. 8. Depart. of Agricult,, Off. of exp. Stat., Bull. No. '36, p. 114, 223,
1903. — ?) Arch. f. path. Anat. 131, Suppl. 145, 1893. — °) Skand. Arch. f.
Physiol. 7, 78, 1896.
EN UE3SN
zu
en ee a ee er ee ec 2 ee ee e. Biken de ee a
Die Abgaben durch den Darm. 347
Daß eine wirkliche Kotbildung auch ohne Aufnahme von Nahrung statt-
findet, geht aus den Erfahrungen an hungernden Individuen hervor. Schon
das Vorhandensein des Meconiums gibt dafür einen Beweis ab. Das
Trockenmeconium betrug bei ausgetragenen Schafsfrüchten im Mittel von
drei Beobachtungen 53,6 g, bei einem 8!/, monatlichen Pferdefötus 65,2 g, bei
einem ausgetragenen Pferdefötus- 88,0 g. Das Schafsmeeonium enthielt
(trocken) 13,5 Proz. Ätherextrakt, welcher zum großen Teil aus Farbstoffen
bestand. Das Meconium des jüngeren Pferdefötus gab (trocken) 15,3 Proz.
Ätherextrakt, von welchem etwas mehr als ein Drittel aus Neutralfett,
Cholesterin usw. bestand. Im trockenen menschlichen Meconium fand Voit
15,5 Proz. Ätherextrakt und davon 7,3 Proz. Cholesterin !).
Der Hungerkot des Fleischfressers stellt eine schwarze pechartige Masse
von schwachem, kaum fäkalen Geruch dar. Die Entleerung erfolgt in
Zwischenzeiten von 8 bis 18 Tagen. Berechnet für 1 kg mittleres Körper-
gewicht, beträgt die Menge etwa 0,06 bis 0,32 g Trockenkot pro Tag?)
Über die tägliche Kotabgabe bei hungernden Menschen liegen die in der
folgenden Tabelle zusammengestellten Angaben vor.
N l & " 5;
Beobachtungs- 'Trockensubstanz | Stickstoff Atherextrakt
Versuchsperson | dauer | pro Tag pro Tag pro Tag
| .....Eage - »| g g g
TR | 10 | 3,82 0,32 1,35
Breithaupt?).. . 6 | 2,00 0,11 0,57
Betr, \ 5 | 2,20 0,13 0,44
Pro Kilogramm mittleres Körpergewicht beträgt der Trockenkot 0,072
bzw. 0,034 und 0,034 g.
Auch von einer anderen Seite her hat man die unabhängig von der Nahrungs-
zufuhr im Darme stattfindende Kotbildung feststellen können. Hermann isolierte
am Hunde ein Dünndarmstück von dem Zusammenhang mit dem übrigen Darm,
vereinigte die beiden Enden dieses Stückes, so daß sie einen geschlossenen Ring
bildeten, und ließ das Tier am Leben. "Als es nach zwei bis drei Wochen getötet
wurde, war der Darmring von einem fäkal aussehenden, schwach alkalischen
Inhalt stark gefüllt; außer zahlreichen Kokken und Bakterien verschiedener Art
und spärlichen farblosen Zellen enthielt er Mucin, Fetttropfen und nadelförmige
Fettsäurekristalle’). Diese Erscheinung wurde dann von Blitstein und Ehren-
thal®), Berenstein’?) und F. Voit®) untersucht. Der Inhalt des Darmringes
wird von diesen Autoren wesentlich als Dünndarmsekret mit größerer oder geringerer
Beimischung von abgestoßenen und allmählich in Detritus verwandelten Epithelien
aufgefaßt, und F. Voit ist sogar gewillt, aus diesen Beobachtungen zu folgern,
daß diese Produkte den wesentlichsten Anteil an der Kotbildung haben, während
die großen Verdauungsdrüsen, die Leber und das Pankreas, hierbei fast keinen
Einfluß ausüben.
Demgegenüber bemerkt aber Klecki°’), daß die von Hermann und seinen
Nachfolgern beobachtete Erscheinung größtenteils durch Bakterien bedingt sei, und
!) F. Müller, Zeitschr. f. Biol. 20, 329, 1884. — ?) Derselbe, ebenda 20,
334, 1884; I. Munk, Arch. f. d. ges. Physiol. 58, 325, 1894; F. Voit, Zeitschr. f.
Biol. 29, 346, 1892. — °) F. Müller, Arch. f. path. Anat. 131, Suppl., 10, 14,
17, 64, 1893. — *) Johansson u. a., Skand. Arch. f. Physiol. 7, 86, 1896. —
5) Arch. f. d. ges. Physiol. 46, 93, 1890. — °) Ebenda 48, 74, 1891. — 7) Ebenda
53, 52, 1893. — °) Zeitschr. f. Biol. 29, 325, 1892; vgl,.auch I. Munk, Arch. f..d.
ges. Physiol. 58, 388, 1894. — °) Zentralbl. f. Physiol. 7, 736, 1893.
348 Die Abgaben dureh den Darm.
also über die normalen Sekretionsbedingungen keine Aufklärung geben kann.
Wenn nämlich die isolierte Darmschlinge mit Borsäurelösung und künstlichem
Magensaft desinfiziert wird, so findet man sogar nach Ablauf von 46 Tagen in
einer 13 cm langen Darmschlinge nur 4,5 g einer gelblichen, dicken, klebrigen
Flüssigkeit. Dies stimmt mit den Erfahrungen Pawlows über die Sekretions-
bedingungen des Darmsaftes vollständig überein; nach diesen wird derselbe nämlich
nur bei direkter Reizung der Darmschleimhaut durch den Darminhalt abge-
sondert !).
Jedenfalls geht auch aus diesen Beobachtungen hervor, daß ein Teil des
Kotes dem Körper selber entstammt. Es ist ziemlich selbstverständlich, daß
dieser Teil bei Nahrungszufuhr größer als bei Hunger sein muß, denn dann
wird ja die Sekretion der Verdauungsflüssigkeiten bedeutend stärker, als sie
je beim Hunger ist. Also wird der Kot auch bei Nahrungsaufnahme zu
einem wesentlichen Teil aus dem eigenen Bestand des Körpers herzuleiten
sein. Dieser zuerst von Bischoff und Voit?) ausgesprochene Satz findet
in Erfahrungen am Hunde seine volle Bestätigung.
Wenn man einen Hund mit N-freiem Stärkemehl füttert, so findet man
dessen ungeachtet im Kote ziemlich viel Stickstoff. Ein kleiner Hund von
7kg Körpergewicht schied in einer 9tägigen Hungerperiode durchschnittlich
1,32 g Trockenkot mit 0,09g N täglich aus. Bei Fütterung mit 70g Stärke-
mehl und 6,4g Fett betrug der tägliche Trockenkot 3,04g mit O,11gN; bei
140g Stärke und 11,2g Fett fanden sich 5,95 g Trockenkot mit 0,22g N.
Derselbe Hund schied nach 500 g Fleisch täglich 3,3 g Trockenkot mit
0,24g N aus (Rieder).
Wenn wir nun weiter erfahren, daß ein großer Hund von mehr als 30 kg
Körpergewicht nach Aufnahme von 1500 bis 2000 g Fleisch durchschnittlich
0,67 g N pro Tag im Kote abgibt, so läßt es sich nicht verkennen, daß der
größte Teil dieses Stickstoffs keinen Rückstand des gefütterten Fleisches dar-
stellen kann ®).
Wenn die gefütterte Fleischmenge eine sehr große ist, oder wenn man
einem Hunde eine vegetabilische, stark voluminöse Kost gibt, so nimmt die
Kotmenge beträchtlich zu, und nun erscheinen wirklich bedeutendere Reste
des Futters im Kote >).
Auch das im Kote enthaltene Fett ist wesentlich ein Produkt des Körpers
selbst, wie daraus hervorgeht, daß der Kot auch bei sehr fettarmer Nahrung
ziemlich viel Fett enthält.
Beim Menschen begegnen wir ganz entsprechenden Erscheinungen. Bei
an Stickstoff sehr armer Kost enthält also der Kot ziemlich viel Stickstoff
und zwar scheint die darin ausgeschiedene N-Menge um so größer zu sein,
je reichlicher die Kost, wie dies aus folgender Tabelle (siehe nächste Seite
oben) näher ersichtlich ist$).
!) Pawlow, Das Experiment als zeitgemäße und einheitliche Methode medizini-
scher Forschung. Wiesbaden 1900, 8. 15. — ?) Bischoff u. Voit, Die Gesetze
der Ernährung des Fleischfressers. Leipzig u. Heidelberg 1860, 8. 291. — ?) Zeitschr.
f. Biol. 20, 382, 1884. — *) F. Müller, ebenda 20, 343, 1884; Tsuboi, ebenda 35,
68, 1897. — °) Vgl. F. Müller, ebenda 20, 359, 1884. — °) Bei Versuchen am
Hunde mit variierenden Mengen N-freien Futters hat Tsuboi dasselbe gefunden
(Zeitschr. f. Biol. 35, 76, 1897).
Die Abgaben durch den Darm. 349
3: SE
| N
Kost I a |
Nr pro Tag | in der Kost | im Kote Audi
Ä pro Tag | pro Tag |
- | 8 g |
1 |
1. | 150 Fett, 585 Stärke. . .. .| 136 | 139% | Rubner!)
2. | 300 Stärke, 120 Zucker, 89 | | |
" Schmalz, 900 Weißwein ... | 0,29%) | 054 | Rieder?)
3.190 Stärke, 40 Zucker, 30: | | |
| Schmalz, 1125 Weißwein... 0,87) | 087 | A
4. | 100 Stärke, 30 Zucker, 30 | | |
| Schmalz, 900 Weißwein . . | 0,30%) | 0,78 s
5. | Stärke, Zucker, Butter, Sago- |
\ grütze, Fruchtgelee, Kar- |
1: tefelmahl: %.°. 2:34 0°, | 0,14 | 0,65 C. Tigerstedt‘)
6. | 1050 Sagogrütze, 213 Zucker . 0,22 | 1,50 Renvall°)
1450 Sagogrütze, 238 Zucker | 0,31 1,52 | =
u I! h
Wo man also bei gewöhnlicher Kost nur etwa 1 bis 1,5 - Stickstoff im
täglichen Kot findet, da ist dieser Stickstoff wesentlich als ein vom Körper
selbst stammendes Exkretionsprodukt aufzufassen.
Auch im menschlichen Kote ist das Fett zum großen Teil desselben Ur-
sprunges. Bei drei Versuchen mit Brot und einem mit Makkaroni, wo der
Fettgehalt der Kost äußerst gering war, fanden sich im entsprechenden Kot
bzw. 3,1, 4,7, 6,1, 6,5g Ätherextrakt (Rubner®). In Renvalls Versuchen,
wo gleichfalls die Kost kein Fett enthielt, betrug die Fettmenge im Kote
2,5 bis 1,6 g täglich ”).
Wenn die Fettmenge im Kote nicht mehr als etwa 6 bis 7g pro Tag
beträgt, entstammt sie also wesentlich dem Körper selbst und stellt keinen
Rückstand der Kost dar.
Die Erfahrungen über die bei gewöhnlicher, einigermaßen zweckmäßiger,
gemischter Kost im Kote abgegebenen N- und Fettmengen zeigen, daß der
Kot tatsächlich zum allergrößten Teil dem Körper selbst entstammt. In
Atwaters und Benedicts°) langer Reihe von 47 Versuchen mit insgesamt
145 Tagen betrug die tägliche N-Abgabe in den Fäces durchschnittlich 1,6 g
(Maximum 2,7, Minimum 0,7g). Im Durchschnitt von 22 Versuchen bei
Muskelruhe und einer mittleren Zufuhr von 2659 Kalorien enthielt der Kot
1,1g N (Maximum 1,7, Minimum 0,8g) und im Durchschnitt von 25 Arbeits-
versuchen mit einer mittleren Zufubr von 4340 Kalorien 1,7g N (Maxi-
mum 2,7, Minimum 0,7g). Ganz dasselbe finden wir in den Versuchen von
Wait°): hier beträgt die N-Menge im Kote unter 25 Versuchsreihen im
Maximum 1,8g und im Minimum 0,6 g; Durchschnitt 1,3 g. In den Versuchen,
!) Zeitschr. f. Biol. 15, 198, 1879. — ?) Ebenda 20, 386, 1884. — °) Im Wein. —
*) Skand. Arch. f. Physiol. 16, 68, 1904. — °) Ebenda 16, 127, 1904. — °) Zeitschr.
£. Biol. 15, 191, 1879. — 7) Skand. Arch. f. Physiol. 16, 129, 1904. — °) U.S. Depart.
of Agricult., Off. of exp. stat., Bull. No. 136, p. 120, 1903. — °) Ebenda Bull. No. 89,
1901 and No. 117, 1902.
350 Die Abgaben durch den Darm.
welche über die Ausnutzung einzelner Nahrungsmittel hauptsächlich in
Voits Laboratorium von Meyer!), Rubner?), Atwater?), Prausnitz ®)
und Uffelmann’) ausgeführt wurden, schwankt die N-Menge im Kot bei
tierischen und gewissen feiner präparierten pflanzlichen Nahrungsmitteln
zwischen 0,14 und 1,9 g pro Tag; nur in einem einzigen Versuche mit 4100 g
Milch betrug der Kot-N 3,10 g.
Durch mikroskopische Analyse des menschlichen Kotes haben Prausnitz und
seine Mitarbeiter diese Folgerungen noch erhärtet. Nach einer Methode, die aller-
dings nur approximative Resultate ergeben kann, fand Kermauner, daß mikro- .
skopisch nachweisbare Fleischreste nur zu etwa 0,2 bis 1,0 Proz. des genossenen
Fleisches im Kote erscheinen ®). Nach Verabreichung von dem Kaseinpräparate
Plasmon enthält der Kot keine in Betracht kommende Mengen von unresorbiertem
Plasmon oder dessen Verdauungsprodukten (Micko’).
Sogar wenn die N-Menge im Kote größer als in den jetzt besprochenen
Versuchen wäre, ist es nicht ausgeschlossen, daß sie dennoch ein Produkt
des Körpers darstellen könnte, denn die Menge der Verdauungsflüssigkeiten
kann ja unter verschiedenen Umständen sehr verschieden sein, wie dies aus
den Erfahrungen Walthers über die während einer Verdauungsperiode im
Pankreassaft des Hundes bei verschiedener Nahrungsweise abgegebene
N-Menge direkt hervorgeht. Nach Fütterung mit Milch, Brot oder Fleisch
in Quantitäten, welche die gleiche N-Menge (3,4g) enthielten, betrug die -
N-Menge des secernierten Pankreassaftes bzw. 0,345, 0,651 und 0,326 g°).
Daraus dürfen wir indessen nicht schließen, daß der genossene Stickstoff
nimmer in erwähnenswerter Menge in dem Kote erscheint. Wissen wir ja,
daß sich in den vegetabilischen Nahrungsmitteln N-haltige Verbindungen
vorfinden, welche von den Verdauungsflüssigkeiten gar nicht angegriffen und
also mit dem Kote vom Körper ausgeschieden werden ?). , Solche Ver-
bindungen kommen vor allem in den Hülsensubstanzen: vor: daher finden
wir auch, daß die N-Menge im Kote bei gröberen vegetabilischen Nahrungs-
mitteln wesentlich größer ist als bei fein präparierten, wo die Hülsen durch
die vorhergehende Präparation größtenteils entfernt worden sind. Auch muß
die Beschaffenheit der Kost an und für sich, ihr Volumen, die Schwierigkeit,
welche sie der Einwirkung der Verdauungssäfte macht, usw. bewirken können,
daß Reste von sonst resorbierbaren Stickstoffverbindungen im Kote er-
scheinen.
Prausnitz!”) bemerkt, daß der Trockenkot bei leicht verdaulichen tierischen
und pflanzlichen Nahrungsmitteln einen sehr konstanten N-Gehalt (durchschnitt-
lich 8,65 Proz., Grenzwerte 8,16 bzw. 9,16 Proz.) hat und betrachtet diesen Kot als
fast vollständig aus dem Verdauungsrohre entstammend. Bei schwerer verdaulicher
Kost (grobem Brote usw.) ist der N-Gehalt im Trockenkot wesentlich niedriger
(bis zu etwa 3,8 Proz.), vorausgesetzt, daß die Kost keine schwer digestiblen Sub-
stanzen mit hohem N-Gehalt enthält, in welchem Falle der N- Gehalt ein höherer
wird. In den Versuchen von Atwater und Benedict!'), bei welchen, wie schon
Y) Zeitschr. f. Biol. 7, 26, 1871. — ?) Ebenda 15, 195, 1879; 36, 59, 1898. —
®) Ebenda 24, 23, 1888. — *) Ebenda 25, 536, 1889. — °) Arch. f. d. ges. Physiol.
29, 356, 1882. — °) Zeitschr. f. Biol. 35, 330, 1897. — 7) Ebenda 39, 430, 1900;
vgl. auch P. Müller, ebenda 39, 451, 1900, sowie Tsuboi, ebenda 35, 68, 1897. —
®) Arch. des sciences biol. 7, 85, 1899. — °) Vgl. Rubner, Zeitschr. f. Biol. 19, 74,
1883. — !°) Ebenda 35, 335, 1897; vgl. auch Menicanti u. Prausnitz, ebenda
30, 354, 1894. — '!} U. S. Depart. of Agricult., Off. of exp. Stat., Bull. No. 136,
p. 115, 1903.
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Die Abgaben durch den Darm. 351
erwähnt, der Stickstoff so vorzüglich ausgenutzt wurde, betrug indessen der pro-
zentige Gehalt des Trockenkotes an Stickstoff durchschnittlich nur 5,33 Proz.
- (Maximum 6,97, Minimum 3,91). Andererseits fand Renvall'!) bei einer zum
großen Teil aus groben vegetabilischen Nahrungsmitteln (Hafergrütze, hartem
Roggenbrot, Käse, Schinken und Butter) bestehenden Kost, daß der Kotstickstoff,
trotz einer Gesamtmenge von 2,15 bis 3,59g N, durchschnittlich nur 5,77 Proz.
der Trockensubstanz (Maximum 5,97, Minimum 5,55) betrug. Auch findet Schier-
beck ®), daß es hinsichtlich des Totalstickstoffs im Kote wenigstens drei verschiedene
Typen von Individuen gibt. Der eine Typus hat bei jeglicher Kostform ein sehr
niedriges N-Prozent, etwa 4, im Kote; der zweite hat dagegen ein verhältnismäßig
hohes N-Prozent, etwa 6 bis 7; während der dritte Typus bei grober, stark kot-
bildender Kost ein N-Prozent von etwa 4, bei gewöhnlicher gemischter Kost etwa
6 und unter besonderen Kostverhältnissen mit sehr geringer Kotbildung etwa 7
bis 8 Proz. N hat.
Betreffend der Fettmenge im Kote zeigen die oben (S. 350) zitierten
Ausnützungsversuche mit einzelnen Nahrungsmitteln, daß die tägliche Ab-
gabe, trotz einer ziemlich reichlichen Fettzufuhr (71 bis 214g), in der Regel
nicht mehr als 6 bis 7g beträgt. Auch Versuche mit gemischter Kost er-
geben dasselbe: in einer Reihe von 41 Versuchen fanden Atwater und
Benedict im Kote durchschnittlich 5,1 g Fett (2,1 bis 13,4) pro Tag), und
ähnliche Beobachtungen sind auch von anderen Autoren mitgeteilt worden.
Da die Fettmenge des Kotes bei fettfreier Kost auf etwa 6 bis 7g
steigen kann, ist es ersichtlich, daß dieselbe unter diesen Umständen zum
allergrößten Teile als Produkt des Körpers selbst aufzufassen ist. Es kommen
indes Fälle vor, wo die Fettmenge im Kote wesentlich größer ist und wo
also ein beträchtlicher Teil derselben als Rückstand der Kost aufgefaßt
werden muß. Dies findet z. B. beim Genuß von Fett statt, welches noch
innerhalb bindegewebiger Membranen eingeschlossen ist und daher nicht so
leicht wie freies Fett durch die Verdauungssäfte angegriffen werden kann;
ferner auch in dem Falle, wenn das Fett nicht bei Körpertemperatur in
flüssige Form übergeht (Arnschink) usw.
Ob Kohlehydrate in erwähnenswerter Menge in Kot übergehen, ist vor
allem von ihrer Beschaffenheit an und für sich abhängig. Da die Zellulose
von den Verdauungsflüssigkeiten nicht angegriffen wird und ihre Lösung nur
durch einen durch Bakterien bewirkten Gärungsprozeß erfolgt (Tappeiner’),
und da der Aufenthalt der Kost im Darme des Menschen nicht sehr lange
dauert, ist es von vornherein zu erwarten, daß die Menge der in gewöhn-
licher Weise als Differenz bestimmten Kohlehydrate im Kote bei zellulose-
reichen Nahrungsmitteln ziemlich beträchtlich sein muß, sowie daß sie um so
geringer sein wird, je vollständiger die Nahrungsmittel von den Hülsen befreit
sind. Dies wird auch durch die Erfahrung bestätigt. Bei grobem Roggen-
brot beträgt die tägliche Kohlehydratmenge im Kote 72 bis 38 g, während sie
bei Weißbrot, Makkaroni, Reis usw. höchstens etwa 13 bis 14g ausmacht
und vielfach noch geringer ist (Rubner‘), Hultgren und Landergren ’’).
!) Skand. Arch. f. Physiol. 16, 104, 1904. — ?) Arch. f. Hygiene 51, 62, 1904. —
®) U. S. Depart. of Agricult., Off. of exp. Stat., Bull. No. 69, 1899; No. 109, 1902;
No. 136, 1903; Memoirs of the Nat. acad. of sciences, Washington 1902, VIII,
p. 231. — *) Zeitschr. f. Biol. 26, 434, 1890. — °) Ebenda 20, 52, 215, 1884; 24, 105,
1888. — °) Ebenda 15, 192, 1879. — 7) Skand. Arch. f. Physiol. 2, 373, 1891; 5,
111, 1894.
352 Die Ausscheidungswege des Stickstoffs.
Bei direkter Bestimmung der löslichen Kohlehydrate fand Constantinidi,
nach Genuß von etwa 375g Stärke in Kartoffeln, nur 1,5 bis 2,7g davon
im Kote!).
Dementsprechend läßt sich bei gesunden Individuen nach Genuß von Cerealien
und Kartoffeln mikroskopisch fast; gar keine Stärke im Kote nachweisen, während
‘ dies stattfindet, wenn die Stärke in Form von Hülsenfrüchten oder in grünen Ge-
müsen verzehrt wird (J. Möller’).
Aus dieser Darstellung folgt, daß bei gut verdaulicher Kost der Kot, so
weit es seine organischen Bestandteile betrifft, zum allergrößten Teil ein Ex-
kretionsprodukt des Körpers selbst (Reste der Verdauungsflüssigkeiten, wirk-
liche Ausscheidungsprodukte, Darmbakterien) darstellt, und daß die in ihm
enthaltenen Reste der Kost nur verhältnismäßig gering sein müssen. Bei
schwerer verdaulicher Kost wird der Anteil dieser an der Kotbildung größer,
und im Kote können sich dann sogar sehr beträchtliche Mengen unresorbierter
Nahrungsstoffe vorfinden.
In diesem Zusammenhange ist noch zu bemerken, daß tote oder lebendige
Mikroorganismen auch unter völlig normalen Verhältnissen einen nicht zu ver-
nachlässigenden Teil des Kotes bilden und zwar würden sie bei leicht verdaulicher
Kost dem Gewichte nach etwa rund ein Drittel der Trockensubstanz des Kotes
gesunder Erwachsener betragen (Strasburger’).
Bei einer genauen Untersuchung des Stoffwechsels ist es notwendig, auch
die Kohlenstoffmenge im Kote in Betracht zu ziehen. Wie dies mit dem Harn-
kohlenstoff der Fall ist, kann man aber auch den Kotkohlenstoff, ohne einen
erheblicheren Fehler zu begehen, aus dem Kotstickstoff berechnen und braucht
ihn daher nicht immer direkt zu bestimmen. In den Versuchen von Atwater
und Benedict betrug die tägliche C-Menge im Kote durchschnittlich 12,9 g
pro Tag (Maximum 24,3, Minimum 6,5g). Auf 1g Kotstickstoff kamen im
Durchschnitt 9,2 g Kohlenstoff; die Grenzwerte waren 13,8 bzw. 6,8gt).
e) Die Ausscheidungswege des Stickstoffs.
Aus den Erfahrungen über die gasförmigen Ausscheidungsprodukte
folgerten wir oben ($. 345), daß Stickstoff als Stoffwechselprodukt nicht in
merkbarer Menge in Gasform vom Körper abgegeben wird. Es muß also
die gesamte Mengöd Stickstoff, welche den Körper verläßt, im Harn und Kot
erscheinen.
Es dauerte lange, bis diese hochwichtige Tatsache allgemein anerkannt
wurde. Allerdings hatten Bidder und Schmidt) bei ihren Versuchen an
Katzen und Hunden die Gesamtmenge des gefütterten Stickstoffs im Harn
und Kot wiedergefunden, die meisten Autoren konnten dies aber nicht be-
stätigen und wollten vielmehr festgestellt haben, daß die im Harn und Kot
ausgeschiedene Stickstoffmenge in der Regel geringer war als die N - Zufuhr.
Schon im Jahre 1857 wies indes Voit an fünf Hunden nach, daß
wenigstens unter gewissen Umständen aller Stickstoff des Futters im Harn
!) Zeitschr. f. Biol. 23, 445, 1886. — ?) Ebenda 35, 291, 1897. — °) Ad.
Schmidt und Strasburger, Die Fäces des Menschen, S. 267; vgl. daselbst auch
die ältere hierhergehörige Literatur. — *) U. 8. Depart. of Agrieult., Off. of exp.
Stat., Bull. No. 136, p. 120, 1903. — °) Bidder und Schmidt, Die Verdauungs-
säfte und der Stoffwechsel, 1852, 8. 333 ff., 386.
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Die Ausscheidungswege des Stickstoffs.
und Kot wiedererhalten werden konnte!).
Durch neue, lange andauernde Versuchs-
reihen begründeten Voit undBischoff?)
dieses Resultat noch fester, und ersterer
wies dann im Laufe der folgenden Jahre
die Einwendungen der Gegner mit voll-
stem Erfolg zurück >).
Die Bedeutung dieser Tatsache kann
nicht zu hoch geschätzt werden, denn
erst durch die Feststellung, daß aller
Stickstoff mit dem Harn und Kot vom
Körper abgegeben wird, ist überhaupt
eine exakte Physiologie des Stoffwechsels
möglich. Wenn Stickstoff in erwähnens-
werter Menge in Gasform abgegeben
werden würde, so hätte die alleinige
Untersuchung des Harnes und Kotes
keinen Sinn, und wir könnten daraus
gar keine Folgerungen ziehen. Jeder
Stoffwechselversuch würde daher die An-
wendung eines Respirationsapparates er-
fordern — vorausgesetzt, daß die Stick-
stoffabgabe dadurch bestimmt werden
konnte, was indes mit unseren gegen-
wärtigen Mitteln nicht der Fall ist.
Wir dürfen uns indes nicht vor-
stellen, daß die im Harn und Kot täglich
abgegebene N-Menge immer gleich der
in der Kost aufgenommenen wäre. Im
Gegenteil treten vielfach Differenzen auf,
indem teils die N-Zufuhr größer ist als
die N-Abgabe, teils umgekehrt diese
größer als die N-Zufuhr, was nur dadurch
bedingt ist, daß der Körper im ersten
Falle Stickstoff zurückgehalten, im letz-
teren von sich selbst abgegeben hat.
Man kann es aber immer dazu
bringen, die N-Zufuhr und die N-Ab-
gabe im Harn und Kot Tag für Tag
gleichgroß zu machen, wenn man näm-
lich dem Versuchsindividuum eine Zeit-
‘) Voit, Physiol. chem. Unters. 1, 19,
Augsburg 1857. — ?) Bischoff und Voit,
Die Gesetze der Ernährung des Fleisch-
fressers, Leipzig und Heidelberg 1860. —
°) Zeitschr. f. Biol. 1, 69, 109, 283, 1865;
2, 6, 189, 1866; 4, 297, 1868; vgl. auch
Voit, 8. 45.
Nagel, Physiologie des Menschen. I.
Für die ganze Periode.
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354 Die Berechnung der Stoffwechselversuche.
lang die gleiche, an Stickstoff nicht zu arme Kost reicht. Wenn dieser Zu--
stand des Stickstoffgleichgewichts erreicht ist und dann bestehen bleibt,
so läßt es sich nicht denken, daß Stickstoff in merkbarer Menge auf einem
anderen Wege als durch den Harn und den Kot vom Körper abgegeben
worden wäre.
Als Beispiel der großen Übereinstimmung, welche zwischen den N-Ein-
nahmen und den N-Abgaben erzielt werden kann, teile ich folgende Versuche
von Gruber!) hier mit. Diese wurden an einem Hunde von etwa 17kg
Körpergewicht ausgeführt. Im gefütterten Fleisch sowie im Harn und Kote
wurde der Stickstoff und in der zweiten Periode des ersten Versuches auch
der Schwefel bestimmt. (Siehe Tabelle auf 8.353.)
Das gefütterte Fleisch enthielt in der zweiten Periode des Versuches I
3,562 Proz. N und 0,2128 Proz. S. Wenn wir für diese Periode die Größe
der Fleischzersetzung nach dem Stickstoff berechnen, so erhalten wir 5986 g;
nach dem Schwefel bekommen wir 5998 g. Tatsächlich wurden während dieser
Periode 6000 g Fleisch gefüttert.
$ 3. Die Berechnung eines Stoffwechselversuches.
Um die Art und Weise zu erläutern, wie man aus den Daten der Ein-
nahmen und Ausgaben den Stoffwechsel berechnet, teile ich als Beispiel einen
Versuch von Atwater und Benedict?) hier mit. Bei diesem sind sämtliche
Einnahmen und Ausgaben des Körpers mit alleiniger Ausnahme des Sauerstoff-
verbrauches bestimmt.
Versuchsperson: ein 32jähriger gesunder Mann von etwa 64 kg Körper-
gewicht. Versuchsdauer: 4 Tage. Während des Versuches sollte Muskel-
tätigkeit so viel als möglich vermieden werden. (Siehe Tabellen auf neben-
stehender Seite.)
Bei der Berechnung des tatsächlich stattgefundenen Stoffwechsels haben
wir den Kot in erster Linie zu berücksichtigen. Wie oben bemerkt, stammt
derselbe bei gewöhnlicher, nicht zu grober Kost zum größten Teil aus dem
Körper selbst, zum Teil aber auch aus der genossenen Kost. Eine bestimmte
Verteilung der im Kote ausgeschiedenen Verbindungen auf diese beiden
Quellen läßt sich in einem gegebenen Falle nicht durchführen, und wir
müssen daher den Kot entweder als Rückstand der Kost oder als Exkretions-
produkt vom Körper auffassen. Für die Berechnung des Stoffwechsels ist es
einerlei, was wir tun, denn wenn wir annehmen, daß der Gesamtkot ein Pro-
dukt des Körpers darstellt, so ist die Kost restlos resorbiert worden; fassen
wir dagegen den Kot als reinen Rückstand der Kost auf, so ist ihre Menge
mit der Kotmenge zu vermindern. In allen beiden Fällen gelangen wir zu
ganz demselben praktischen Resultat. Auf Grund dessen werde ich bei der
Berechnung des Stoffwechsels hier und im folgenden den Kot als Rückstand
der Kost betrachten, ohne darum die oben (S. 352) entwickelte: Auffassung
bezüglich der Herstammung des Kotes aufzugeben.
Im vorliegenden Versuch haben also von der genossenen Kost 89,08
Eiweiß (mit 14,26g N), 78,8 g Fett, 286,6 g Kohlehydrate mit insgesamt
!) Zeitschr. f. Biol. 16, 367, 1880; 19, 563, 1883. — ?) U. S. Depart. of Agri-
cult., Off. of Exp. Stat., Bull. No. 109, 1902.
355
Die Berechnung der Stoffwechselversuche.
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356 Die Berechnung der Stoffwechselversuche.
231,62g C dem Körper zur Verfügung gestanden. Im Harn sind 16,23g N
ausgeschieden worden; der Umsatz von Eiweiß beträgt also 16,23 x 6,25
— 101,44g, von welcher Menge 12,44 g —= 1,97 g N dem Körper selber
entstammen. „1-57
Die vom Körper abgegebene Kohlenstoffmenge rührt sowohl von Eiweiß,
als von Fett und Kohlehydraten her. Wieder N-Gehalt in verschiedenen Eiweiß-
körpern innerhalb gewisser Grenzen variiert, so varliert auch der Gehalt an
Kohlenstoff, und verschiedene Autoren haben daher etwas verschiedene Zahlen
für das Verhältnis N:C angenommen. Mit mehreren anderen Autoren werde
ich hier als Verhältniszahl die von Rubner!) angegebene 3,28 benutzen und
erwähne nur, daß Pflüger?) eine etwas geringere Zahl, 3,20, als richtiger
auffaßt. 2. 22677
Im zersetzten Eiweiß sind also 16,23 x 3,28 — 53,24 g C enthalten.
Für die N-freien Nahrungsstoffe bleiben daher 219,46 — 53,24 — 166,22 80.
Es erübrigt, diese Kohlenstoffmenge auf Fette und Kohlehydrate zu verteilen.
Wenn der gleichzeitige Sauerstoffverbrauch auch bekannt wäre, würde
keine Schwierigkeit vorliegen, dies durchzuführen. Bei der Verbrennung der
Kohlehydrate genügt der in ihrem Molekül vorhandene Sauerstoff gerade zur
Oxydation des Wasserstoffs, und der aufgenommene Sauerstoff wird also
ausschließlich zur Oxydation des Kohlenstoffs verwandt. Das Volumen-
verhältnis der gebildeten Kohlensäure zum verbrauchten Sauerstoff, der
respiratorische Quotient C0,/O,, ist daher gleich 1. Da die Fette durch-
schnittlich 76,5 Proz. C, 12 Proz. H und 11,5 Proz. O enthalten, bedürfen
sie auch zur Oxydation des Wasserstoffs einer Sauerstoffzufuhr, und der
respiratorische Quotient sinkt auf 0,707 herab. Wenn der dem zersetzten
Eiweißquantum entsprechende Sauerstoff vom gesamten verbrauchten Sauer-
stoff abgezogen ®) und also die Sauerstoffmenge ermittelt wird, die auf die
Oxydation der N-freien Nahrungsstoffe fällt, so läßt sich, wie leicht ersicht-
lich, aus der Größe des dann erhaltenen respiratorischen Quotienten der
gegenseitige Anteil der Fette und der Kohlehydrate an der stattgefundenen
Verbrennung berechnen. .
Wenn aber, wie es bei länger dauernden Versuchen in der Regel der
Fall ist, die Sauerstoffaufnahme nicht bestimmt worden ist, so kann man,
unter Berücksichtigung der Zusammensetzung der genossenen Kost und des
entsprechenden Kotes, dennoch mit einer ziemlich befriedigenden Genauigkeit
die betreffende Verteilung durchführen. Es zeigen nämlich viele Erfahrungen,
welche im Kap. IV besprochen werden, daß die Kohlehydrate beim Stoff-
wechsel vor den Fetten verbrennen. Man bezieht also den aus N-freien
Nahrungsstoffen entstammenden Kohlenstoff in erster Linie auf die resorbierten
Kohlehydrate. Bleibt noch eine Kohlenstoffmenge übrig, so wird diese auf
Fett bezogen. Im vorliegenden Versuche bestanden die resorbierten Kohle-
hydrate aus 176,8g Stärke und 109,8g Disacchariden, wenn wir annehmen,
!) Zeitschr. f. Biol. 21, 324, 1885. — ?) Arch. f. d. ges. Physiol. 51, 234, 1892;
68, 179, 1897. — °) Das Eiweiß (trockener Muskel) enthält 50,5 Proz. C, 7,6 Proz. H,
15,4 Proz. N und 20,97 Proz. O; davon werden 11,3 Proz. C, 2,8 Proz. H, 15,4 Proz. N
und 11,44 Proz. O im Harn und Kot abgegeben; es bleiben also für die Abgabe
durch die Atmung 39,2 Proz. 0, 4,8 Proz. H und 9,53 Proz. OÖ. Der respiratorische
Quotient ist also hier 0,78.
Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe. br 357
daß die nicht resorbierten nur Stärke darstellten. Sie enthiel 4 also a
+ 46,23 —= 124,73g C und es blieben dann nur noch 41,49g C übrig,
welche aus zersetztem Fett entstammen müssen.
Während dieses Versuches hat der Körper also 101,44g Eiweiß, 54,35 g
Fett und 286,6 g Kohlehydrate zersetzt.
Die Nettozufuhr von Kohlenstoff betrug 231,62g. Davon sind im
Harn und in der Respiration 219,46 g ausgeschieden und also 12,16 g im
Körper zurückgeblieben.
Nebst 6,45 g C, welche der vom Körper selbst verlorenen N - Menge
(1,97 g) entsprechen, ist dieser Kohlenstoff als N-freie Verbindung in dem
Körper angesetzt worden. Als Fett berechnet beträgt dies 24,38 g.
Wir können also noch sagen, daß der Körper 12,44 g Eiweiß eingebübßt,
dagegen aber 24,38g Fett angesetzt hat. Die Kost war daher nahezu aber
nicht vollständig genügend. N
Zweites Kapitel.
Die Verbrennung im Körper.
$ 1. Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe.
In einer Mitteilung vom Jahre 1789 faßte Lavoisier die von ihm und
seinen Mitarbeitern Laplace und Seguin gewonnenen Ergebnisse, betreffend
die Respiration und Wärmebildung des Körpers, folgendermaßen zusammen.
Die Atmung ist nichts anderes als eine langsame Verbrennung von Kohlen-
stoff und Wasserstoff, welche in jeder Beziehung, mit derjenigen einer
brennenden Lampe übereinstimmt. Die Tiere sind also wahrhafte brennbare
Körper, welche brennen und sich verzehren. Die eigene Substanz der Tiere,
‚das Blut liefert den brennbaren Stoff: wenn das Tier nicht durch die Nahrung
diese Verluste wieder ersetzte, so würde der Lampe binnen kurzem das Öl
mangeln, und es würde zugrunde gehen, ganz wie eine Lampe erlischt,
wenn das Öl zu Ende ist!!).
Durch diese Beobachtungen und Versuche war es ein für allemal fest-
gestellt, daß eine Verbrennung die Quelle der tierischen Wärme darstellt.
Bei seinen Berechnungen der im Tierkörper gebildeten Wärme ging Lavoisier
von der Annahme aus, daß die Verbrennungswärme einer organischen Verbindung
gleich der aus der Verbrennungswärme ihrer Elemente berechneten sei. Die Un-
richtigkeit dieser Voraussetzung wurde an der Hand zahlreicher Versuche von
Favre und Silbermann nachgewiesen ?), und es war daher für die weitere Ent-
wickelung unserer Kenntnisse über die tierische Wärme unabweisbar, die Ver-
brennungswärme der verschiedenen Körpersubstanzen und organischen Nahrungs-
stoffe festzustellen.
Nachdem Frankland) die ersten hierher gehörigen Bestimmungen
ausgeführt hatte, stellte sich Stohmann ) seit 1877 die Aufgabe, die Wärme-
werte der wichtigsten Nahrungsstoffe und Körperbestandteile exakt zu
!) Memoires de l’Academie des sciences 1789, p. 185; Oeuvres de Lavoisier
2, 691; vgl. auch Lavoisiers frühere Arbeiten, Oeuvres 2, 174—183, 318—333,
676— 703. — *?) Annales de chim. et de phys., 3. serie, 34, 427, 1852. — °) Phil.
Mag. 32, 182, 1866. — *) Landwirtschaftliche Jahrbücher 13, 513, 1884.
358 Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe.
ermitteln und veröffentlichte darüber mehrere lange Versuchsreihen. Kurz
danach widmeten sich Rubner!) und Berthelot?) derselben Aufgabe.
Durch die von dem letzteren außerordentlich verfeinerten Technik der kalori-
metrischen Bestimmungen veranlaßt, unterwarf Stohmann im Verein mit
Langbein) seine früheren Resultate einer eingehenden Revision und teilte
wieder eine große Anzahl derartiger Bestimmungen mit.
Die folgende Tabelle enthält eine Zusammensetzung der wichtigsten von
diesen Autoren mitgeteilten Wärmewerte. (S. Tab. auf nebenstehender Seite.)
Nach allgemeinen naturwissenschaftlichen Grundsätzen ist von vorn-
herein anzunehmen, daß die Nahrungsstoffe bei dem im Körper stattfindenden
Umsatz dieselbe Menge aktueller Energie entwiekeln müssen, als dies bei den
entsprechenden Vorgängen außerhalb des Körpers der Fall ist.
Um den Energiewechsel im Körper berechnen zu können, müssen wir
daher in erster Linie feststellen, welche chemische Verwandlungen die
Nahrungsstoffe beim Stoffwechsel erleiden.
So viel uns jetzt bekannt, findet die Verbrennung im Körper nie in der
Weise statt, daß die oxydablen Substanzen mit einem Male in ihre End-
produkte zersetzt werden. Im Gegenteil durchläuft sie mehrere verschiedene
Stufen, bis die Endstufe erreicht wird, und bei einer zu kurzen Beobach-
tungsdauer könnte es möglicherweise zutreffen, daß etwa vorhandene inter-
mediäre Produkte das Resultat trüben könnten. So viel es das Fett und
die Kohlehydrate betrifft, kommt dieser Umstand bei genügend langer Beob-
achtungsdauer indes gar nicht in Betracht, wie daraus hervorgeht, daß inter-
mediäre Produkte des Fett- oder Kohlehydratstoffwechsels, wenn überhaupt
nachweisbar, immer nur in sehr geringen Mengen im Körper vorkommen.
Im großen und ganzen zerfallen also die einmal angegriffenen Fett- und
Kohlehydratmoleküle vollständig in ihre Endprodukte: Kohlensäure und Wasser,
und dabei ist es für die Berechnung des kalorischen Wertes von gar keinem
Belang, ob die Verbrennung mit einem Male oder stufenweise erfolgt. :
Bezüglich der N-haltigen Nahrungsstoffe stellt sich die Sache wesentlich
anders dar, denn ihre N-haltigen Ausscheidungsprodukte (Harnstoff, Harn-
säure usw.) repräsentieren jedenfalls noch "einen beträchtlichen Wärmewert,
welcher dem Körper von gar keinem Nutzen ist. Vom kalorimetrisch be-
stimmten Wärmewert dieser Substanzen müssen wir also die Verbrennungs-
wärme der Ausscheidungsprodukte abziehen, um den physiologisch nutzbaren
Wärmewert derselben zu erhalten.
Unter den N-haltigen Abfallsprodukten der Eiweißkörper ist bei den Säuge-
tieren der Harnstoff unbedingt das wichtigste. Dessen Wärmewert beträgt durch-
schnittlich 2,528 Kal. Da nun 100g Rindfleisch nach Stohmann. 16,4g N ent-
halten, und 16,4g N 35,1g Harnstoff entsprechen, so würden 100g Rindfleisch mit
572,1 Kal. im Körper eine Wärmemenge von 572,1— 35,1 X 2,528 — 483,4, d. h.
pro 1g 4,834 Kal. entwickeln.
Diese Berechnung ist indessen nicht ganz richtig, denn die Eiweißkörper
geben bei ihrer Verbrennung noch andere N-haltige Abfallsprodukte als Harnstoff
ab, und es kann ja der Fall sein, daß sich unter diesen Verbindungen mit größerer
oder kleinerer Verbrennungswärme als der des Harnstoffs vorfinden könnten.
!) Zeitschr. f. Biol. 21, 337, 1885. — *) Vgl. Berthelot, Chaleur animale;
Prineipes chimiques de la production de la chaleur chez les ötres vivants. Paris 1899,
T.2. — ®) Journ. f. prakt. Chemie, N. F. 42, 361, 1890; 44, 336, 1891; 45, 305, 1892.
Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe.
359
Die Verbrennungswerte der wichtigsten organischen Nahrungs-
stoffe bei konstantem Druck pro 1g aschefreier Substanz).
Stoh-
Substanz Stoh- | Beorthelot |Rubner| mann Anmerkungen
bg Proz. N
Äthylalkohol . . —_ 7,026 —_ _
Glycerin . . . 4,316 — —_ —
Arabinose . . . 3,720 3,714 — --
Xyloe....... 3,746 3,738 = Tr
Hui. ..,.% 3,743 3,762 — —
Lävulose . . 3,755 — _ —
Galaktose . . 3,722 — —_ —
Rohrzucker © . 3,955 3,962 4,001 =
Milchzucker, krist. 3,737 EIR7T — —
Maltose, krist. 3,722 a > ni
Dextrin Ir: 4,119 - _
Stärke. . . 4,183 4,228 — —
Glykogen ar 4,190 — Er
Zellulose . . 4,185* 4,200** = — |*Schwedisches Fil-
Palmitinsäure — 19,265— 9,369 vr we trierpapier. Baum-
‘ wolle. Baum-
Stearinsäure . ng 9,429— 9,549 | 9,745 ner wolle
Olsiitite: 2, aaa _ 9,511 9,334 —_
Tierisches Fett. . 9,500 — 9,423 —
Butter . .. 11 9231 ee er a
Vegetabilisches Öl — 9,520 — _
Asparagin ... . 3,511 3,397 — 21,3
Harnstoff 2,537 2,525 2,523 46,7
Harnsäure . 2,741 2,747 — 33,3
Eiereiweiß . 5,735 5,687 — 15,2
Fibrin . . 5,637 5,529 _ 16,7
Rindfleisch . 5,721?)| ° 3,728°) 5,778%)| 16,4
Kalbfleisch . | 5,663 — — 16,4 Vollständig '
Rindfleisch. . . . | 5,641 5,656 16,4 entfettet
Syntonin. ... . 5,908 En = 15,8 Digestion von
frischem Fleisch
mit HCl
"Serumalbumin | 5,918 = — 15,2
Hämoglobin (Pferd 5,885 5,910 5,949 16,5
a 5,858 5,626 — 15,6
Össein . 5,040 5,410 — 16,3 Entfettet
Chondrin 5,131 5,342 des 15,4 Entfettet
Vitellin 5,745 5,781 = 16,0
Eidotter . 5,841 — _ 15,3
Pflanzenfibrin . .. . 5,942 5,832 _ 15,4
Pepton. .. . 5,942 — — 15,4 Durch Pepsin aus
Fibrin dargestellt
!) Es wird angenommen, daß die gebildete CO, gasförmig ist. Die Lösungs-
wärme der Kohlensäure in Wasser beträgt nach Berthelot 0,127 Kal. — *) Durch
Kochen mit Wasser von Extraktivstoffen befreit, entfettet. — °) Mit Alkohol und
Ather gewaschen, getrocknet, gepulvert. — *) Mit Wasser ausgezogen, entfettet.
360 Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe.
Nur direkte Versuche können diese Frage entscheiden. Solche wurden
in erster Linie von Rubner ausgeführt !).
Dabei ging er von der Annahme aus, daß (beim Hunde) bei reiner
Fleischdiät alle brennbaren Substanzen im Harn nur Abkömmlinge des gleich-
zeitig zersetzten Eiweißes darstellen, sowie daß im Laufe von 24 Stunden
alle diese Zersetzungsprodukte vom Körper abgegeben werden.
In einer ersten Versuchsreihe untersuchte er als Repräsentant der
Eiweißkörper Rindfleisch, welches mit Wasser von 35°C angerührt und
koliert, sodann mit warmem Wasser (von 60") mehrere Male ausgezogen und
nachher noch mit Alkohol und Äther entfettet worden war. Dieses Präparat
enthielt 16,59 Proz. N; seine Verbrennungswärme betrug 5,778 Kal. pro 1g
aschefreier und 5,754 pro 1g aschehaltiger Substanz.
Mit diesem Eiweißmaterial in frischem Zustande wurde ein Hund acht
Tage lang gefüttert und der Harn der zwei letzten Versuchstage zur Be-
stimmung des Wärmewertes benutzt. Auf 1g N berechnet betrug derselbe
6,69 Kal, während 1g N im Harnstoff nur 5,4 Kal. entspricht. Daraus
folgt, daß die Verbrennungswärme der im Körper entstandenen Zersetzungs-
produkte des Eiweißes größer ist, als wenn sie ausschließlich aus Harnstoff
bestehen würden.
Nach Rubner müssen ferner auch die im Fleischkote abgegebenen
Verbindungen bei der Feststellung der physiologischen Verbrennungswärme
des Fleisches in Abzug gebracht werden. Zu diesem Zwecke machte er Be-
stimmungen an einem anderen Hunde, bei welchem er im Durchschnitt pro
Tag pro 100g trockenen Eiweißes im Kote 3,24 g mit 0,23 g N wieder-
fand. Die Verbrennungswärme desselben betrug pro 1g aschehaltiger Sub-
stanz 5,722 Kal.
Unter Voraussetzung des N-Gleichgewichtes treten von den in 100 g Ei-
weiß enthaltenen 16,59g N im Harn 16,36 N aus. Wir erhalten demnach
die physiologische Verbrennungswärme des Eiweißes nach folgender Rechnung:
100g trockenes aschehaltiges Eiweiß . . cs... ... 7... yo ae
Davon abzuziehen:
Für den: Harn. 16,36: 8569: Sana I Beast nen a ke SER Et 128.0
Für den Kot 84 X E10 KR us a aBpee 18,5 ER NER
Rest 447,4 Kal.
Rubner reduziert diese Zahl noch mehr, indem er pro 100g Substanz
für die Quellungswärme des Eiweißes 2,9 Kal. und für die Lösungswärme der
im Harn abgegebenen Produkte 2) 2,2 Kal. in Abzug bringt. Nach diesen Korrek-
tionen findet er also den physiologischen Nutzeffekt von 100g des von ihm
benutzten, aschenhaltigen Präparates gleich 442,4 Kal., d. h. für 1g 4,424 Kal.
In derselben Weise bestimmte Rubner die physiologische Verbrennungs-
wärme des fettfreien Fleisches und erzielte dabei folgende Resultate:
100 g trockenes, fettfreies, aschehaltiges Fleisch mit 154g N. ... . 534,5 Kal.
Davon abzuziehen:
Für den: Harn 1108 NIE RE Kal. 80 6 et re 112,9
Für den Kot 32.2 ICE Ra N, is in 16,8
Für die Quellung des BiwelßBbe u.a = 0 3.2.00. 000 Wiens 2,7 | 1
Für: die Lösung des HarBew wo. 2 see ter el, are 2,0
Rest 400,1 Kal.
!) Zeitschr. f. Biol. 21, 296, 1885. — *) Ebenda 20, 414, 1884.
ei te
2 2 se > Fu re he
BE SR
Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe. 361
Als einen dritten Fall untersuchte Rubner die beim Hunger zer-
fallende eiweißartige Körpersubstanz, welche nach seinen Beobachtungen und
Berechnungen an und für sich dieselbe Verbrennungswärme als das Muskel-
fleisch — 5,345 Kal. — hätte, und bekommt dann für ihre physiologische
Verbrennungswärme folgendes:
100.8 Trockensubstänz mit 154g N . 2... 2... nenne ee .. 534,5 Kal.
Davon abzuziehen:
Für den Harn 15,168 N X 8,495 Kal... ...... SOEHTT 418,8
Für-den Ko6 3,46 5.N X 4824 Kal 2... 20.0 16,8 150.3
Für die - Quellung. des. Eiweißes „ 2... ul sa an 2:7 5
Eur>di9 Bbasınp- dos BLAIHE.. 200 2 Sinne antıa e eke azeine Ad 2,0
Rest 384,2 Kal.
Aus diesen Zahlen berechnet sich für 1g Stickstoff in den verschiedenen
Substanzen:
NS Bw ee ee a el 2 Ereln, 26,66: Kal,
N uns Mnskalteiuch nn She a Se Fe a re Rue BC OR LEE} Fe > Vol
1g N in der beim Hunger Kurtallonden Körpersubstanz. - - © .. 2... 24,94 „
Gegen die Rubnersche Berechnungsweise bemerkte Pflüger'), daß die
unter Umständen sehr große Fettmenge im Fleischkot nicht aus dem Fleisch ab-
geleitet werden darf, und daß also der kalorische Verlust durch den Kot von
Rubner zu hoch aufgenommen worden ist; daß die Korrektionen wegen der Quel-
lung des Eiweißes und Lösung der Harnbestandteile ganz unsicher sind und daher
fortgelassen werden sollten; daß die Nahrungszufuhr bei den betreffenden Ver-
suchen nicht ausreichte, um das Tier im stofflichen Gleichgewicht zu erhalten und
daß also der Harn keinen reinen Eiweißharn darstellte; daß die Menge und die
chemische Zusammensetzung des Fleischkotes nicht als konstant zu betrachten sei,
indem große Variationen sowohl bei verschiedenen Individuen, als auch bei dem-
selben Individuum unter verschiedenen Umständen stattfinden können. Unter An-
wendung der Rubnerschen Zahlen für die Verbrennungswärme des Fleischharns
und einer auf verschiedene, ziemlich willkürliche Annahmen gegründeten Berechnung
der Verbrennungswärme des Fleischkotes, stellt Pflüger folgende Rechnung über
den physiologischen Verbrennungswert des Fleisches auf:
100g trockenes, aschehaltiges Fleisch mit 15,448 N. ..... 22... 2984,95 Kal.
Davon abzuziehen:
Für den Harn 14,58g N x 745 Kal. ..... RR. a ar 5 8:6
Für den Kot 0,68 N X 282 Kal -... 2222... Re er
Rest 401,4 Kal.
Die Differenz der Rubnerschen Zahl gegenüber beträgt nur 1,3 Kal., d.h.
etwa 0,3 Proz., und ist also ganz irrelevant. Indes fügt Pflüger noch hinzu,
daß dieser Wert nur für arbeitende Tiere gilt; bei ruhenden Hunden ist die Kot-
bildung geringer und daher auch der durch den Kot bewirkte Verlust an Spann-
kraft kleiner. Als Nutzeffekt des Stickstoffs bei solchen Tieren erhält Pflüger
demnach 26,76 Kal., während Rubner 25,98 Kal. angibt. Die Differenz ist hier
3 Proz.
Später machte Pflüger die Rechnung rigen:
100g trockenes, aschehaltiges Fleisch mit 15,498 N... . 2.2... 534,1 Kal
Davon abzuziehen: .
Bor den Harn DIENSTE 2 ine. Neo} 120,
Für'den Kot0,4 HN R723,2 Kal... .. ..... 6,8 %
Rest 413,7 Kal.
D. h. pro 1g N im Futter 26,71 Kal.
!) Arch: f. d. ges. Physiol. 52, 14, 1892; 78, 542, 1900.
Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe.
362
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h- -andtnon ©
Gegen diese Kritik macht Rub-
ner”) seinerseits geltend, daß das
„Kotfett“ bei Fleischfütterung kein
wirkliches Fett darstellt, denn seine
Verbrennungswärme beträgt nur
8,470 Kal., während die des wirklichen
tierischen Fettes etwa 9,4 Kal. ist®);
daß diese Substanz nicht ein Rück-
stand des Futters sein kann, sowie
daß sie jedenfalls infolge der Fleisch-
aufnahme vom Darme des Tieres ab-
gegeben worden ist und also einen
durch die Fütterung bewirkten Ver-
lust darstellt. Da wir aber wissen,
daß auch bei völlig fett- und eiweiß-
freier Kost immer etwas Fett im Kote
abgegeben wird, haben wir meines
Erachtens keine Gründe, diese Sub-
stanz bei der Berechnung der physio-
logischen Verbrennungswärme des Ei-
weißes als einen diesem entstammen-
den Verlust in Abzug zu bringen,
insbesondere wenn es gilt, eine Zahl
zu finden, welche auch bei Zugabe
anderer Nahrungsstoffe zum Futter
benutzt werden kann.
In der letzten Zeit sind wieder
neue Versuche über die physiolo-
gische Verbrennungswärme. des Flei-
sches von Rubner, Frentzel und
Schreuer, sowie von Frentzel und
Toriyama mitgeteilt worden.
In zwei Versuchen findet Rub-
ner*) für 1g trockenes, aschehaltiges,
fettfreies Fleisch, mit einer Ver-
brennungswärme von bzw. 5,327 und
5,532 Kal., den physiologischen Nutz-
effekt gleich 4,038 bzw. 4,171 Kal.
Hier wurden für Quellung und Harn-
lösung keine Korrektionen gemacht.
Mit diesen werden die Zahlen bzw.
3,991 bzw. 4,124, im Mittel 4,058 Kal.,
zeigen also eine vollständige Über-
einstimmung mit den früheren Be-
stimmungen Rubners.
!) Ohne Korrektion für Quellung
und Harnlösung. — ?) Rubner, Die
Gesetze des Energieverbrauches bei der
Ernährung, 8. 22, 1902. — °) Nach
Frentzel und Schreuer (Arch. £.
[Anat. u.] Physiol. 1903, 8. 470) be-
trägt der Brennwert des Ätherextraktes
des Fleischkotes etwa 9,550 Kal. prolg.
Aber auch diese Autoren geben zu,
daß das Ätherextrakt des Fleischkotes
kein Fett ist. — *) Rubner, Die.
Gesetze usw., 8.31, 1902.
tt ee a Vie ee En he en Be Dit zu rehee ch. e Fe Bi u ee ae See dee
|
|
|
|
|
|
Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe. 363
Frentzel und Schreuer') fanden, auch ohne Korrektionen für Quellung usw.,
bei Fütterung mit einer Mischung von Fleisch und Fleischmehl für die physio-
logische Verbrennungswärme pro 1g N in der fettfreien, aschehaltigen Substanz
25,62 Kal. Hierbei wurde das Atherextrakt des Kotes nicht als Abfallprodukt des
Eiweißes aufgefaßt.
In einer folgenden Reihe mit reinem Fleisch erhielten dieselben Autoren als
Nutzwert pro 1g N in der aschehaltigen, fettfreien Trockensubstanz des Fleisches
26,06, bzw. 24,86 Kal. ?).
Die vorliegenden Angaben über den physiologischen Verbrennungswert
des Fleisches haben also ergeben: (siehe Tabelle auf nebenstehender Seite).
Im Durchschnitt beträgt der Nutzwert des extrakthaltigen Fleisches
(Nr. 2, 4, 5, 7, 8) pro 1g aschehaltiger Substanz 4,067 Kal., 4,474 Kal.
dem extraktfreien Fleisch gegenüber.
Diese Differenz ist selbstverständlich von dem geringeren Wärmewert
der Extraktivstoffe bedingt; wenn der Gehalt an diesen bekannt ist, so kann
man, wie z. B. in folgendem Fall von Frentzel und Schreuer?), den Ver-
brennungswert des extraktfreien Fleisches (Eiweißes) mit großer Genauigkeit
herleiten.
23,15 g fettfreies Trockenfleisch enthielten 4,08g Extrakt. Die Verbrennungs-
wärme des letzteren betrug 4,08 X 3,154 — 12,9 Kal. Da die Verbrennungswärme
des fettfreien Trockenfleisches 5,300 Kal. betrug, war der Gesamtwärmewert in
23,15g = 122,7 Kal. Der extraktfreie Rückstand machte 23,15 — 4,08 — 19,07 g
Eiweiß, darauf kommen 122,7 — 12,9 = 109,8 Kal., d. h. pro 1g = 5,758 Kal.,
was mit der Zahl von Rubner, 5,754, vollständig übereinstimmt.
Durch die Feststellung der Nutzwerte der organischen Nahrungsstoffe
eröffnete sich die Möglichkeit zu prüfen, ob diese, wie aus allgemeinen
Gründen anzunehmen war, bei ihrer Verbrennung im Körper tatsächlich die
berechnete Wärmemenge entwickeln oder nicht. Man hatte nämlich dann
zu erwarten, daß sich die verschiedenen Nahrungsstoffe beim Stoffwechsel
in Gewichtsmengen vertreten würden, welche gleichgroße Wärmemengen
repräsentierten. Auf Voits Anregung nahm es Rubner*) sich vor, diese
Voraussetzung experimentell zu prüfen, und es gelang ihm in einer sehr
eleganten Weise, die Richtigkeit derselben nachzuweisen. Aus Rubners Ver-
suchen und Berechnungen ging nämlich hervor, daß 100g Fett entsprechen
Direkt ; B
R Kalorimetrisch
am Tier :
bestimmt bestimmt
Biwaßri nn. Si Rare Te, 211 201
BIBTEBUENE I EEE DE Fe a a N = 282 221
Roöhrzueker. "273722... 1 a ran 234 231
Traubenzucker, swasserfrer 2”. 2. 0:00 0 an 256 243
Wie diese Versuche in ihren Einzelheiten durchgeführt wurden, braucht um
so weniger hier dargestellt werden, als seitdem direkte kalorimetrische Bestim-
mungen die betreffende Auffassung außer allen Zweifel gestellt haben. Ich be-
!) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1901, 8. 284. — ?) Ebenda 1902, 8. 282. —
®) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1902, S. 507. — *) Zeitschr. f. Biol. 19, 312, 1883;
vgl. auch Hoesslin, Münchener med. Wochenschr. 1901, 8. 2141; 1902, S. 795,
sowie Rubner, ebenda 1902, S. 232 und Voit, ebenda 1902, 8. 233.
o
Differenz
— 3,15
+ 1,20
— 0,97
— 0,68
0.47
+ 1,20
— 0,24
— 0,30
+ 0,69
Proz.
Differenz
Kal.
+ 8,7
— 34,6
E46
48
— 27,0
ch E
+ 27,1
— 115
— 52,3
Summe
der direkt be-
stimmten Wärme
1305,2
1056,6
333,9
1495,3
3958,4
2488,0
2276,9
4769,3
Kal.
17683,6
Summe
der berechneten
Kal.
1296,3
1091,2
329,9
2492,4
2249,8
4780,8
17735,9
Wärme
Versuchs-
dauer
Futter
Tier
Tage
46
Summa
Hunger
Hunger
390 Fleisch
40 Speck
80 Fleisch, 30 Speck
350 Fleisch
580 Fleisch
Hund I
Hund I .
Hund I
0
Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe.
merke nur, daß zu der Zeit, als diese
Versuche ausgeführt wurden, die Kennt-
nis von den wirklichen Verbrennungs-
werten der hier in Betracht kommenden
Verbindungen noch lange nicht so ent-
wickelt war, wie sie jetzt ist, und daß
daher die von Rubner bei der Be-
rechnung seiner Resultate benutzten Kon-
stanten etwas von den heutigen ab-
weichen, sowie daß er betreffend die
elementare Zusammensetzung des Ei-
weißes einen zu hohen Kohlenstoffgehalt
angenommen hatte, was seinerseits auf
die Berechnung der verbrannten Fett-
menge einwirkt. Die oben angeführten
Zahlen sind daher nicht mehr als völlig
exakt zu bezeichnen.
Die ersten Versuche, bei welchen
die aus dem Stoffwechsel berechnete
Wärmebildung mit der direkt kalori-
metrisch bestimmten Wärmeabgabe
verglichen wurde, wurden von Rub-
ner!) ausgeführt. Bei denselben
wurde die Gesamtabgabe von Stick-
stoff, Kohlenstoff und Wasser be-
stimmt. Die Resultate dieser Ver-
suche sind in nebenstehende Tabelle
eingetragen.
Bei der Berechnung des Stoffwechsels
wurde angenommen, daß aller Kohlen-
stoff aus N-freien Substanzen aus zer-
setztem Fett stammt. Bei den Fütterungs-
versuchen, wo das Tier keine Kohle-
hydrate bekam, ist diese Annahme als
vollständig berechtigt aufzufassen. Bei
den Hungerversuchen ist die Teilnahme
des Körperglykogens an der Verbrennung
aber nicht ausgeschlossen, und da 1g ©
aus Glykogen einen geringeren Wärme-
wert als 1g C aus Fett hat, wird sich
die berechnete Wärmeproduktion etwas
größer darstellen als die tatsächliche.
Im Versuch I ist diese Einwirkung des
Glykogens nicht merkbar gewesen. Da-
gegen dürfte die erhebliche Differenz
zwischen der berechneten und der ge-
fundenen Wärme im Versuch II gerade
‚durch das Glykogen bedingt sein. Um
eine vollständige Übereinstimmung zu
bekommen, braucht man nur anzu-
nehmen, daß vom Gesamtkohlenstoff etwa
19 Proz. dem Glykogen entstammten.
!) Zeitschr. f. Biol. 30, 73, 1894;
Vorl. Mitteil. Berl. klin. Wochenschr. 1891.
Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe. 365
Aus allen Versuchen, welche insgesamt 46 Tage umfassen, geht hervor,
daß die aus dem Stoffwechsel berechnete Wärmemenge 17 735,9 und die direkt
bestimmte 17 683,6 Kal. betrug. Die absolute Differenz. ist nur 52,3 Kal.,
d. h. 0,30 Proz. Diese Versuche ergeben also, daß die organischen Nahrungs-
stoffe, unter Berücksichtigung der Abfallprodukte des Eiweißes, bei der im
Körper stattfindenden Verbrennung die gleiche Wärmemenge entwickeln, als
sie bei der Verbrennung außerhalb des Körpers produzieren.
Ebenso deutlich geht diese Tatsache aus den zahlreichen Versuchen
hervor, welche Atwater im Verein mit Rosa, Woods, Benedict, Smith,
Bryant und Snell ausgeführt hat. Da sich diese Versuche auf den
Menschen beziehen und zum Teil in einer nur wenig verbreiteten Publikation
veröffentlicht sind, finde ich es angezeigt, dieselben hier etwas näher zu
besprechen !).
Der zu diesen Versuchen benutzte Apparat, dessen Bau schon im Jahre 1892
angefangen wurde ?), besteht aus einer als Kalorimeter eingerichteten Respirations-
kammer von 2,15m Länge, 1,22m Breite und 1,92 m Höhe und hat also einen
Cubikinhalt von 4,99 cbm. In derselben kann sich ein erwachsener Mensch tage-
lang ohne weitere Unannehmlichkeiten aufhalten und darin auch mechanische
Arbeit verrichten. Zu diesem Zwecke ist in der Kammer ein stationäres Fahrrad
aufgestellt, welches von der Versuchsperson bewegt wird und seinerseits einen Dynamo
antreibt. Der hierdurch erzeugte elektrische Strom wird mittels einer elektrischen
Lampe in Wärme verwandelt. Die Gesamtarbeit wird also als Wärme gemessen.
Es ist nicht möglich, die von Atwater benutzten Vorrichtungen hier zu be-
schreiben, ich beschränke mich daher nur darauf, die Resultate der Kontroll-
versuche mitzuteilen. Diese wurden teils unter Anwendung eines elektrischen
Stromes, dessen Energie in Wärme transformiert wurde, teils durch Verbrennen
von Alkohol im Apparat ausgeführt. Die letzteren sind natürlich die wichtigsten,
weil der Apparat bei diesen ganz in derselben Weise als bei den wirklichen Ver-
suchen funktionierte. Die 27 zu verschiedenen Zeiten ausgeführten derartigen Ver-
suche ergeben als Differenz zwischen der berechneten und der gefundenen Wärme-
menge + 0,74 Pröz.; mit Ausschluß von drei Versuchen, wo offenbar irgendwelcher
Fehler vorlag, beträgt die Differenz nur + 0,51 Proz. (vgl. auch oben, 8. 339).
Die bei den Versuchen benutzte Kost wurde, ebenso wie der Harn und
der Kot, an N, C, Ätherextrakt, Asche, Trockensubstanz und Wasser ana-
lysiert, sowie außerdem noch die Verbrennungswärme der Kost, des Harnes
und des Kotes direkt bestimmt. Bei diesen Versuchen genoß die Versuchs-
person diese Kost schon etwa vier Tage vor dem Versuche, damit sie sich an
dieselbe gewöhne und sich, wenn möglich, vor dem eigentlichen Versuche in
N-Gleichgewicht stelle. Als Wärmeeinheit wird diejenige Wärmemenge be-
nutzt, welche bei 20°C die Temperatur eines Kilogramm Wasser um 1° erhöht.
Bei der Berechnung der Versuche wird angenommen, 1. daß in erster
Linie die aus der Kost stammenden resorbierten Nahrungsstoffe im Körper
verbrennen; 2. daß der Kot einen Rückstand der Kost darstellt; 3. daß eine
Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben an N als Eiweiß aufzufassen
!) U. S. Depart. of Agriculture, Off. of exp. stat., Bull. No. 44, 1897; No. 63,
1899; No. 69, 1899; No. 109, 1902; No. 136, 1903. Alle diese werden im folgenden
als „Bull. No.“ zitiert.. Bull. No. 136 ist neuerdings in den Ergebnissen der Physio-
logie 3, 1 (Wiesbaden 1904) in deutscher Übersetzung mitgeteilt worden. Memoirs
of the national academy of seiences, Washington 1902, 8, sixth Memoir. — *) Vgl.
Atwater u. Rosa, Storrs Agrieultural Exp. Stat., tenth ann. report 1897, Middle-
town, Conn., 1898, p. 212.
366 Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe.
Kost
N Versuchs- Dauer
person Eiweiß Fett Kohlehydrat
Tage g g g
5 E. 0 4 119,1 94,7 275,5
7 1 4 104,4 68,2 190,4
8 a + 129,4 95,7 307,8
9 R 4 119,6 69,0 341,8
10 s 4 123,5 31,6 297,4
13 x 3 117,1 87,8 270,2
14 = 4 94,4 82,5 289,8
15 # 2
16 \ 2 108,9 39,9 276,9
17 E 2
22 E 3 123,2 68,8 276,1
23 n 3 123,6 68,8 278,6
24 g 3 123,6 68,8 408,6
18 A. W.S. 2
19 = 2 96,9 72,4 250,1
20 R 2
21 s 8 96,9 72,4 250,1 un
25 ı..TH, 3 110,8 104,4 312,2 —
26 . 3 99,6 94,8 247,2 —_
27 5; 3 98,6 40,3 247,2 72,0
= 2 3 98,6 40,3 375,2 _
35 J. C.W. 4 97,7 85,6 278,0 —
Mittel dieser 22 Versuche mit 67 Tagen . i a
—
36 J. C. W. 1 0 0) 0 0 |
39 £ 1 0 0 0 {)
42 N 1 0 0 0 0 }
51 ; 2 ) 0 0 v [
Arbeits-
5 E. O 4 119,1 152,9 377,8 _
11 3 4 124,1 129,1 484,6 _
12 A ‚4 120,6 158,5 296,1 72,4
29 BR. 3 100,1 106,0 470,7 Z
30 ‚ 3 99,2 104,2 340,9 72,0 |
31 - 3 100,9 160,8 "842,7 Fe |
39 a 3 100,5 151,6 353,9 Rn |
33 e 8 99,7 99,3 - 355,0 72,0
34 2 3 99,7 ‚99,3 477,9 _
Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe. 367
Im angesetzten | Im angesetzten ä :
win (+) ie Da abge-|(-+) ie abge- bee engg. uaern
gebenen (—) | gebenen (—)
Eiweiß Fett berechnet | gefunden | Differenz
Kal Kal. Kal. Kal. Kal. Proz.
128 — 24 — 174 2482 2379 —42°
134 — 60 .— 138 2437 2394 — 1,7
153 0 + 266 2356 2286 — 3,0
149 — 20 + 174 2272 2309 + 1,6
147 — 38 + 200 2265 2283 + 0,8
173 — 66 + 258 2106 2151 +21
142 — 69 + 234 2124 2193 En 3,2
128 +31 + 37 2358 2362 + 0,2
126 +39 + 50 2335 2332 —01
128 +34 + 105 2288 2276 —05
138 + 7 + 602 2168 2259 + 4,2
141 — 9 + 87 2213 2176 — LT
136 hi: 9 + 573 2227 2272 + 2,0
2762 100 123 — 67 + 244 2362 2488 + 5,3
2765 101 108 + 1 — 341 2214 2279 + 2,9
2763 101 106 +12 + 209 2335 2303 — 1,4
2264 101 126 — 31 — 240 2308 2279 — 1,3
2896 111 147 +11 + 386 2241 2224 E= 0,1
2490 106 128 — 19 + 232 2043 2085 + 2,0
2485 97 124 — 34 + 173 2125 2123 — 0,1
2489 112 128 — 26 —+ 209 2066 2079 0,6
2519 110 135 — 36 — 47 2357 2397 +1,7
—
2659 107 134 — 16 + 176 2258 2270 +06
j 0 0 95 — 406 — 2062 2373 2253 —5,1
Eo 0 131 — 565 — 1708 2142 2027 —5,4
0 0 108 — 498 — 1663 2053 1946 — 5,2
Po 0 97 — 414 — 2033 2350 2362 + 0,5
0 0 94 — 433 — 1995 2334 2348 + 0,6
g.
ersuch
3678 139 125 +39 — 464 3839 3726 — 2,9
3862 219 133 — 17 — 382 3909 3931 + 0,6
3891 136 130 — 5 — 309 3928 3927 0)
3487 93 134 — 28 — 229 3517 3589 .- 2,1
3453 71 140 — 74 — 164 3480 3470 — 0,3
3495 91 129 — 13 — 153 3441 ‚3420 —0,8
3487 142 119 ns — 336 3590 3565 —0;7
3481 125 129 — 87 — 371 3685 3632 — 1,4
3493 126 126 —65 — 338 3644 3587 — 1,6
368 Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe.
Mitte
| Kost
Nr. | Versuchs- | Dauer |
| person | Eiweiß Fett Kohlehydrat' Alkohol
| Tage | g g g g
| :
37 | J W. 4 100,4 69,1 601,0 _
38 | R 4 102,6 202,8 295,7 _
40 ö 4 101,7 66,5 797,7 _
41 = 4 102,6 285,1 318,4 —
43 | s 4 104,0 291,8 383,3 Me
44 | % 4 104,4 66,9 902,1 _
45 | . 1 105,3 289,1 391,4 —
46 a 4 103,0 302,8 366,7 nee
47 5 4 102,2 69,7 843,1 _
48 x 1 103,0 292,1 380,8 _
49 | N 3 110,8 95,4 975,3 _
52 | % 3 106,3 333,9 435,8 _
53 | b 3 105,1 95,8 983,0 _
54 | n 3 109,6 346,2 437,7 _
50 | 5 1 1 /.65,2 137,2 235,5 _
55 | 5 1 | 109,2 333,5 434,7 _
Mittel der Versuche 6 bis 54 mit 76 Tagen ... ». 2. 2 ne
Mittel :aller-Veersuche: ©. nl 1. 35 Re ER
ist; 4. daß eine Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben an C als Fett
zu betrachten ist.
Wie ersichtlich, sind alle Posten der Einnahmen (mit Ausnahme von
Sauerstoff) und Ausgaben direkt analytisch und kalorimetrisch bestimmt, mit
alleiniger Ausnahme der im Körper angesetzten oder von ihm abgegebenen
Verbindungen. Auf Grund der ganzen Anordnung der Versuche ist indes
die Menge der letzteren in den meisten Fällen so gering, daß die, übrigens
unvermeidliche, Schätzung ihrer kalorischen Werte nur einen äußerst geringen
Fehler hat bewirken können. Hiervon machen (von den Hungerversuchen ab-
gesehen) die Versuche 37, 38, 40, 41, 43 bis 48, 50 und 55 in der vorstehenden
Tabelle eine Ausnahme; nichtsdestoweniger ist der Unterschied zwischen
berechneter und direkt bestimmter Wärmeproduktion nur bei den zwei letzten,
wo der Körper eine sehr große Fettmenge einbüßte, etwas beträchtlicher.
Das Resultat dieser Versuche ist so deutlich wie möglich: die aus dem
Wärmewert der Einnahmen und Ausgaben berechnete Wärmeproduktion ist
der direkt bestimmten Wärmeabgabe genau gleich. Da hier die Kost aus
allen drei Gruppen organischer Nahrungsstoffe, sowie in einigen Versuchen
auch aus Alkohol zusammengesetzt war, folgt außerdem, daß gerade die zu-
geführte, aus dem Darm resorbierte Kost in erster Linie zerfällt, sowie daß
die genossenen Kohlehydrate vor dem Fett zugrunde gehen. Denn wäre dies
nicht der Fall, so könnte eine so genaue Übereinstimmung zwischen be-
rechneter und gefundener Wärmeproduktion bei weitem nicht stattfinden.
Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe.
ro Tag (Fortsetzung).
369
|
|
|
|
|
|
Im angesetzten | Im angesetzten Wärmeproduktion
Kost | Kot | Ham |Chlonen Car Chancen dDRr in
| Eiweiß Fett berechnet | gefunden | Differenz
Kal | Kal. | Kal Kal. Kal. Kal. Kal. | Proz.
ars | 18 133 — 61 — 1304 4821 4764 | —ı12
3708 153 155 — 172 — 1001 4573 4477 — 21
45065 | 182 143 | — 77 — 994 5251 5223 — 0,5,
4539 | 231 158 | — 173 — 981 5304 5242 — 12
4867 224 147 | — 141 — 518 5155 5205 +10
4932 190 140 | — 74 — 449 5125 5198 +14
4860 256 150 | — 145 — 658 5257 5162 — 1,8
4836 214 144 | — 39 N 5193 5238 + 0,8
4710 199 145° | — 58 | — 749 5173 5248 + 1,4
4856 280 |.162 | _ 8 — 798 5297 5218 u
5499 172 | 135 | + 16 +88 5088 5245 +3,
5476 | 228 128 | — 12 477 5309 5277 — 0,6
5478 | 218 288; +8 u, 20 5104 5178 +14
5513 | 242 132 | — 19 — 196 5354 5215 — 2,6
2601 | 128 118 — 142 — 1847 4344 4134 —4,8
5514 | 243 145 — 56 — 4799 9981 9314 6,7
— "
| 1 | 138 u | 4 | | 08
u — -
3541 | 14 136 — 4 | — 296 | 3597 | 3577 | —06
Da es indes nicht möglich ist, bei jedem Stoffwechselversuch und noch
weniger bei der Berechnung statistischer Angaben über die Nahrung bei ver-
schiedenen Bevölkerungsgruppen die direkte kalorimetrische Bestimmung der
Einnahmen und Ausgaben durchzuführen, und da ferner die gewöhnliche
Kost des Menschen aus zahlreichen Nahrungsmitteln zusammengesetzt ist,
welche mehrere verschiedene Eiweißkörper, Fette und Kohlehydrate mit ver-
schiedenen Verbrennungswerten enthalten, ist es notwendig, Standardzahlen
zu besitzen, welche so genau als möglich die mittlere Verbrennungswärme
der verschiedenen organischen Nahrungsstoffe angeben.
Im Anschluß an seine Studien über die Verbrennungswärme der wichtig-
sten Nahrungsstoffe suchte Rubner!) auch solche Standardzahlen zu be-
rechnen, und tiese sind seitdem bei den hierher gehörigen Arbeiten fast
überall benutzt worden.
Für die Verbrennungswärme der animalischen Eiweißkörper benutzt Rubner
als Durchschnittszahl die des asche- und fettfreien Fleisches, also für 1g
4,233 Kal. DBetreffend die pflanzlichen Eiweißkörper nimmt er an, daß sie die
gleiche physiologische Verbrennungswärme als die mit ihnen etwa gleich zusammen-
gesetzten tierischen Eiweißkörper (Syntonin und Fibrin) haben, und stellt also für
1g die Zahl 4,301 Kal. auf. Da aber der N-Gehält dieser Eiweißkörper größer als
16 Proz., und also der Koeffizient 6,25 hier zu groß ist, aber dennoch im all-
gemeinen für alle Eiweißkörper benutzt wird, macht Rubner eine entsprechende
!) Zeitschr. f. Biol. 21, 370, 1885.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. .
370 Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe.
Reduktion des Wärmewertes dieser Verbindungen und gibt für 1 g Substanz
3,960 Kal. als Normalzahl an.
Endlich setzt Rubner voraus, daß das Eiweiß in der Kost des Menschen zu
60 Proz. aus animalischen und: zu 40 Proz. aus vegetabilischen Nahrungsmitteln
stammt. Danach erhält er für 100g Eiweiß in der Kost
608 X 4,233 Kal. = 253,98 Kal.
40. X 3,960 „ = 15840 „
100g = 412,38 Kal.
lg Eiweiß in der menschlichen Kost hätte also eine physiologische Ver-
brennungswärme von rund 4,1 Kal.
Da in der Kost des Menschen unter allen Kohlehydraten die Stärke am
reichlichsten vertreten ist, nimmt Rubner als Standardzahl für die Kohle-
hydrate die Verbrennungswärme der Stärke —= 4,1 Kal. an.
Als Standardzahl für die Fette benutzt Rubner das Mittel der Ver-
brennungswerte für Olivenöl, Tierfett und Butter, wie sie damals von Stoh-
mann bestimmt worden waren, und bekommt also für die Verbrennungswärme
von 1g Fett 9,3 Kal.
Rubner bemerkt noch ausdrücklich, daß diese Standardzahlen sich nur
auf die gemischte Kost des Menschen beziehen, sowie daß bei ihrer Berech-
nung die Ausnutzung verschiedener Nahrungsmittel im Darme keine Berück-
sichtigung gefunden hat.
Um die Zuverlässigkeit dieser Standardzahlen zu prüfen, eh die langen
Versuchsreihen Atwaters zu unserer Verfügung. Zu diesem Zwecke habe ich
die in den Bull. No. 63, 69 und 109 mitgeteilten in folgender Weise berechnet.
Von der genossenen Kost habe ich die im entsprechenden Kote enthaltene
Menge von Eiweiß, Fett und Kohlehydraten subtrahiert und also die Menge
der resorbierten Nahrungsstoffe erhalten, sowie dann nach den Angaben von
Atwater das im Körper zurückgebliebene bzw. von ihm abgegebene Eiweiß
und Fett dazu algebraisch addiert. Die Summe stellt den im Körper tat-
sächlich stattgefundenen Stoffwechsel dar. Diese habe ich dann nach den
Standardzahlen ausgedrückt; die so erhaltenen Werte sind in folgender
Tabelle mit den von Atwater gefundenen zusammengestellt.
Die von Atwater benutzte Wärmeeinheit bezieht sich auf die spezifische
Wärme des Wassers bei 20°C und nicht bei 0 bis 1°, infolgedessen dieselbe 0,9 Proz.
kleiner ist als die gewöhnliche. Bei der Berechnung der Atwaterschen Versuche
habe ich daher die Standardzahlen um 1 Proz. erhöht und benutze also für das
Fett rund 9,4 und für die Kohlehydrate rund 4,15 Kal. Für das Eiweiß habe ich
unterlassen, eine Korrektur für den N-Verlust durch den Darm zu machen, weil
es mir am einfachsten erscheint, in jedem einzelnen Falle den Kot als Verlust der
Gesamtkost aufzufassen. Nur wenn die Kost ausschließlich aus Eiweiß besteht,
kann die gesamte N-Menge im Kote in bestimmte Beziehung zu der Kost gebracht
werden, obgleich auch hier der Stickstoff wesentlich dem Körper selber ent-
stammt. Bei einer Kost, welche auch N-freie Bestandteile enthält, findet aber
gar keine direkte Beziehung des Kotstickstoffs zum genossenen Eiweiß statt, denn
hier sind die Verdauungsflüssigkeiten jedenfalls zu einer größeren oder geringeren
Menge wegen der Verdauung dgs Fettes und der Kohlehydrate im Darme aus-
gegossen worden. Übrigens wissen wir ja, daß der Kot auch bei ganz N-freier
Kost ebensoviel Stickstoff als bei reichlicher Eiweißzufuhr enthalten kann. Durch
dieses Verfahren würden sich auch verschiedene Einwendungen, welche Pflüger
gegen die Berechnungsweise Rubners gemacht hat (vgl. S. 361), erledigen. Ich
nehme daher die Verbrennungswärme des Eiweißes zu 4,2 Kal. an.
Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe. 371
Nach Atwater
Fe, B Differenz
Vers.- | berechnet nach der/direkt kalori- Von mir Sea
Nr. Verbrennungs- metrisch . berechnet
wärme d. Kost usw.| bestimmt Mittel
Kal. Kal. Kal. Kal. Kal. | Proz.
5 2481 2379 2430 2501 +71 + 2,9
6 3829 3726 171... 3819 — 42 +11
7 2434 2394 2414 2480 +66 + 2,7
8 2361 2287 2324 2359. +35 +15
9 2276 2309 2293 2292 — 1 — 0,04
10 2268 2283 2272 2277 +5 + 0,2
11 3901 3932 3916 3936 + 20 + 0,5
13 2112 2151 2131 2125 — 6 —0,3
14 2131 2193 2162 2127 — 35 — 1,6
21 2304 2279 2291 2300 +9 + 0,4
23 2216 2176 2196 2154 . — 42 — 1,9
24 2238 2272 2255 2197 — 58 — 2,6°
25 2242 2244 2243 2270 + 27 + 1,2
26 2043 2085 2064 2038 — 26 —1,3
28 2067 2079 2073 2071 — 2 —01
29 3515 3589 3552 3549 — 3 —0,1
31 3439 3420 3430 3434 +4 +0,
32 3573 3565 3569 3553 — 16 —0,5
34 3629 3587 3608 3605 — 3 — 0,1
Summa 51000 51087 + 87 + 0,2
Nach Atwater beträgt der Energiewechsel bei diesen 19 Versuchen ins-
gesamt 51 000, nach meiner Berechnung 51087; die Differenz macht nur
0,17 Proz. des Gesamtmittels au.. Wenn wir die Angaben über die pro-
zentige Differenz bei den einzelnen Versuchen näher analysieren, so finden
wir erstens eine vollkommen gleichmäßige Verteilung der positiven und der
negativen Unterschiede, sowie zweitens daß die mittlere Differenz nur
+ 1,01 Proz. beträgt. Die größten Differenzen sind + 2,9 bzw. — 2,6 Proz.
In diesen Versuchen bestand die Kost aus Fleisch, Eiern, Butter, Käse,
Milch, Brot, Kartoffeln, Früchten, Zucker usw. (in Nr. 7 und 10 außerdem
aus 72,5 g Alkohol) und entsprach also genau der Kost bei freier Wahl.
Wenn also in einem Stoffwechselversuch bei gemischter Kost die Kost
und der Kot genau analysiert, sowie der abgegebene Stickstoff und Kohlen-
stoff direkt bestimmt werden, so gibt die unter Anwendung der Standard-
zahlen Rubners ausgeführte Berechnung des Energiewechsels den tatsächlich
stattgefundenen Energieumsatz sehr genau an.
Atwater') hat seinerseits in folgender Weise Standardzahlen berechnet.
Unter Berücksichtigung der direkt bestimmten Verbrennungswärme verschiedener
Eiweißkörper, sowie der Verteilung des Stickstoffs in verschiedenen Nahrungsmitteln
auf Eiweiß und nicht-eiweißartige Substanzen berechnet er in erster Linie den
Verbrennungswert für 1g N-Substanz in diesen Nahrungsmitteln. Für Fette und
Kohlehydrate benutzt er die direkten Bestimmungen ihrer Verbrennungswerte. Aus
!) Storrs (Connecticut) Agrieultural Experiment Station for 1899, p. 98.
24*
Die Verbrennungswerte der organischen Nahrungsstoffe.
Eiweiß.
A B h
Pro 100g Ver- AB Mittel
Nahrungsmittel des Gesamt- | brennungs- pro 1g
eiweißes wärme pro g
£ Kal. Kal Kal.
Fleisch, Fisch usw. . 43,0 5,65 243,0 —_
Kier - 0... Nuree 6,0 5,75 34,5 u
Molkereiprodukte . 12,0 5,65 67,8 —
Animalisches Eiweiß 61,0 — 345,3 5,66
Getreide . | 31,0 5,80 179,8 -
Leguminosae . | 2,0 5,70 11,4 _-
Grünkraut . | 5:5 5,00 27,5 _
Früchte 0,5 5,20 2,6 —
Vegetabilisches Eiweiß 39,0 en | 221,3 5,67
Summa | 100,0 N | 566,6 5,67
Fett
A B
Pro 100g Ver- 2 Mittel
Nahrungsmittel des Gesamt- | brennungs- pro1lg
fettes wärme pro &
g Kal. Kal Kal
Fleisch und Eier . 60,0 9,50 570,0 =
Molkereiprodukte . 32,0 9,25 296,0
l
Animalisches Fett | 92,0 _- 866,0 9,41
Vegetabilisches Fett | 8,0 9,30 74,4 9,30
Summa | 100,0 “r 940,4 9,40
|
Kohlehydrate.
N B
Pro 100g Ver- Mittel
Nahrungsmittel der ker brennungs- AB pro 1g
hydrate |Wärme pro g
g Kal. Kal Kal
Animalische Kohlehydrate 5,0 3,90 19,5 3,90
Getreide . 55,0 4,20 231,0 —
Leguminosae . 1,0 4,20 4,2 —
Grünkraut . 13,0 4,20 54,6 _—
Früchte 5,0 4,00 20,0 —
Zucker 21,0 3,95 83,0 —
Vegetabilische Kohlehydrate 95,0 | _ 392,8 4,13
Summa | 100,0 | = |. 419,3 4,12
ee DE MN
Die Verbrennungswärme des Harns. 373
seinen Ermittelungen über die in seinen Stoffwechselversuchen stattgefundene
Zusammensetzung der Kost berechnet er nun, wieviel Prozent der verschiedenen
Nahrungsstoffe aus den verschiedenen Nahrungsmitteln herstammen, multipliziert
diese Zahlen mit den entsprechenden Wärmewerten und erhält solcherart. den
mittleren Wärmewert für 1g Eiw&iß, 1g Fett und 1g Kohlehydrat, wie dies aus
den Tabellen auf nebenstehender Seite ersichtlich ist.
Nach Atwater erhalten wir also brutto für die Verbrennungswärme
GEBEN GEBES KREIE ee et 5,65
LT REN TE a DS U A a 9,40
dem Konlahydrate” wre. ae Be er ae 4,15
Um die physiologische Verbrennungswärme des Eiweißes zu erhalten, ist die
Reduktion für die im Harn enthaltenen brennbaren Verbindungen zu machen,
welche er wie Rubner als ausschließlichen Verlust des Eiweißes in die Rechnung
bringt. Dieselbe beträgt pro 1g Eiweiß rund 1,25, und der physiologische Ver-
brennungswert des Eiweißes wäre demnach 4,40 Kal. Wie ersichtlich, stimmen
die Zahlen für das Fett und die Kohlehydrate mit den oben benutzten vollständig
überein. Nur in bezug auf das Eiweiß findet sich ein Unterschied, der indes nur
0,2 Kal. beträgt. Indes wird hierdurch die Differenz zwischen Kol. A und B in
der obigen Tabelle mit alleiniger Ausnahme von vier Versuchen (Nr. 9, 14, 23
und 24) positiv, weshalb sich die von mir benutzte Zahl wohl besser empfiehlt.
Es erübrigt noch, die Verbrennungswärme des Harnes und des Kotes etwas
näher zu besprechen.
‚Betreffend den Harn bemerkt Rubner!), daß dessen auf 1g N be-
rechnete Verbrennungswärme, der kalorische Quotient (Kal./N), trotz großer
Verschiedenheit der Kost nur ziemlich geringe Schwankungen darbietet. Für
die Muttermilch entsprechen allerdings 12,1 Kal. 1g N, bei den übrigen
Nahrungsmitteln bewegt sich aber der kalorische Quotient in Rubners
Versuchen nur zwischen 6,42 und 8,57; das Mittel beträgt 7,93 Kal. Nähere
Angaben sind in folgender Tabelle enthalten.
|
| Kal. z
Nahrung a Versuchsdauer
pro ig N Tage
: |
BURN, Bäugling : u: IScbum rise 6,93 | 7
a Iirwachsener 1.3 sat a 20 nenn 7,08 7
Batiermo. Kost i:....:=. suis Be he ra a 8,57 2
d RER OR: a le se 8,33 4
Fettreiche Kost; - ., -., m sum dirie en ee. 8,87 2
ee Euren, 8,44 4
denliihte Kost, Knaben es 6,42 4
f a a RE EN 7,50 | 4
TFiaiuch. 7 4 He ee 7,69 4
Kartoffeln! .u 3. Sala a2 38, EL FIED 7,85 1
In fünf Versuchen von Lo ewy RUE der kalorische Quotient im Mittel
8,56 (7,77 bis 9,762). .
Aus Atwaters langen Versuchsreihen mit gemischter Kost erhalten wir
als Gesamtmittel von 47 Versuchen mit 145 Tagen den kalorischen Quotienten
gleich 8,07 Kal. Das Maximum betrug 9,08, das Minimum 7,09 3).
!) Zeitschr. f. Biol. 42,.302, 1902. — ?) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1901,
S. 317. — °?) Bull. No. 136, p. 223, 1903.
374 Die Verbrennungswärme_ des Kotes.
Pro 1g N beträgt also die Verbrennungswärme des Harns rund 8 Kal.
Wenn wir, wie es zurzeit allgemein stattfindet, den N-Gehalt des Eiweißes
gleich 16 annehmen, so würde der Verlust durch den Harn pro 1g Eiweiß
0,16 x 801,28, rund 1,3 Kal. betragen.
Die ganze Berechnung des Wärmewertes des Harns auf 1g Harnstickstoff
basiert, wie mehrmals hervorgehoben wurde, auf der Annahme, daß die im Harn
abgegebenen brennbaren Verbindungen zum allergrößten Teil Produkte der Eiweiß-
zersetzung darstellen. Die große Konstanz des kalorischen Quotienten gibt dieser
Annahme eine gute Stütze, obgleich wir andererseits nicht behaupten dürfen, daß
diese Annahme in aller Strenge richtig ist. So finden wir bei Tangl'), daß dieser
Quotient beim Menschen bei einer einseitigen Kohlehydratnahrung wesentlich
größer als bei vorwiegender Fettnahrung ist, nämlich im ersten Falle 11,47 bis
11,93, im zweiten 8,59 bis 9,63 Kal. In derselben Richtung variierte übrigens auch
der Kohlenstoffquotient (C/N) des Harns: bei Fett zwischen 0,691 und 0,771, bei
Kohlehydraten zwischen 0,944 und 0,981. Dementsprechend gibt Kellner?) für
den kalorischen und den Kohlenstoffquotienten‘ des Ochsenharns die Zahlen 31,4,
32,9, bzw. 3,32, 3,46 an. Bei Fütterung von hungernden Hunden mit Fleisch-
extrakt fand Bürgi°), daß sowohl der kalorische als der Kohlenstoffquotient des
Harns denjenigen beim Hungerharn gegenüber beträchtlich ansteigt; während im
letzteren Kal/N etwa 8 und C/N etwa 0,7 waren, betrugen sie im Extraktharn bis
zu 25,5 bzw. 1,57.
In kalorischer Hinsicht bietet der Kot, wie Rubner?) bemerkt, ein un-
gemein gleichartiges Bild dar. Bei einer sehr verschieden zusammengesetzten
Kost (Fleisch, Milch, fette Kost, magere Kost, Brot, Kleiebrot oder Kar-
toffeln), deren Wärmewert auf 1g organische Substanz zwischen 4,18 und
6,5 Kal. variierte, schwankte der Wärmewert pro 1g organische Substanz im
Kote nur zwischen 5,26 und 6,52 Kal. und betrug im Mittel 6,04 Kal.
In den Atwaterschen Versuchen beträgt die Verbrennungswärme pro 1g
organische Substanz im Kote bei gemischter Kost 6,62 Kal. Das Maximum ist
7,66 Kal. und das Minimum 5,905). Durchschnittlich kann also der Wärmewert
des aschefreien Trockenkotes auf etwa 6,5 Kal. pro Gramm geschätzt werden.
Viel größere Variationen stellen sich dar, wenn die Verbrennungswärme.
des Kotes pro 1g N berechnet wird. BeiRubners Bestimmungen begegnen
uns Variationen zwischen 66 und 123 Kal., und bei denjenigen von Atwater
zwischen 73 und 159. Hier ist also der Stickstoff bei weitem nicht in dem-
selben Maße als beim Harn bestimmend, was ohne Zweifel zum Teil wenigstens
von dem verschiedenen Gehalt des Kotes an Ätherextrakt bedingt ist. Dafür
spricht auch die von Frentzel und Schreuer®) hervorgehobene Tatsache,
daß der kalorische Quotient des fettfreien Kotes (Kal./N) nur wenig variiert,
in fünf Fällen zwischen 47,12 und 48,64 Kal.
8 2. Die Berechnung des Energiewechsels aus dem respira-
torischen Stoffwechsel.
Bei kürzer dauernden Versuchen, wo man über die aus dem Darme statt-
gefundene Resorption der verschiedenen Nahrungsstoffe nichts Bestimmtes sagen
kann, hat man als Basis einer Berechnung des Energiewechsels nur die Beobachtungen
») Arch. f. (Anat. u.) Physiol., Suppl. 1899, 8. 251.; vgl. auch Rubner,
Zeitschr. f. Biol. 42, 303, 1901. — ?) Die landwirtschaftl. Versuchsstat. 47, 290,
308, 1896. — ®) Arch. f. Hyg. 51, 14, 1904. — *) Zeitschr. f. Biol. 42, 297, 1901;
vgl. auch Lorisch, Zeitschr. f. physiol. Chem. 41, 308, 1904. — °) Bull. No. 136,
115, 205, 1903. — °) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1903, 8. 478.
Zu Be a he ee
Berechnung des Energiewechsels aus dem Gaswechsel. 375
über die CO,-Abgabe und die O-Aufnahme (ev. die N-Abgabe) zur Verfügung.
Es fragt sich, mit welcher Sicherheit Schlußfolgerungen aus solchen Bestimmungen
gezogen werden können.
Wenn die N-Abgabe im Harn gleichzeitig bestimmt worden ist, so hat man
natürlich von dem ausgeschiedenen Kohlenstoff bzw. dem aufgenommenen Sauer-
stoff die dem zersetzten Eiweiß entsprechenden Mengen in Abzug zu bringen. Da
der Harn, wie schon erwähnt, bei gemischter Kost auf 1g N etwa 0,72g C enthält
und im Eiweiß das Verhältnis N:C gleich 1:3,28 ist, so kommt auf je 1g im
Harn abgegebenen Stickstoff 2,56g Kohlenstoff in der Exspiration; der übrige
Kohlenstoff entstammt den N-freien Nahrungsstoffen.
Da das Fett durchschnittlich 76,5g C auf 100 Teile enthält, .so ‚beträgt die
Verbrennungswärme für 1g aus Fett stammenden. Kohlenstoff in der Exspiration
etwa 12,3 Kal. Für 1g aus Stärke stammenden Kohlenstoff beträgt die Ver-
brennungswärme 9,5 Kal. Der Unterschied beträgt 22,8 Proz. Aus der Kohlen-
stoffabgabe allein lassen sich also keine bestimmten Schlüsse bezüglich des im Körper
während des Versuches stattgefundenen Energiewechsels ziehen. Bei gemischter
Kost findet Rubner') den kalorischen Wert von 1g CO, rund 3,0 Kal., d. h. pro
1g C 11,0 Kal.
Wesentlich anders ist es.mit dem Sauerstoffverbrauch der Fall, und man
kann aus demselben ziemlich befriedigende Aufklärungen über die wirkliche Größe
des Energieumsatzes gewinnen. Kann man ja bei gleichzeitiger Bestimmung der
Kohlensäureabgabe und der Sauerstoffaufnahme schon aus der Größe des respi-
ratorischen Quotienten wenigstens annäherungsweise berechnen, in welchen gegen-
seitigen Mengen das Fett und die Kohlehydrate beirn Stoffwechsel beteiligt waren.
Es kommt aber noch der wichtige Umstand hinzu, daß der kalorische Wert des
Sauerstoffs für alle drei Gruppen organischer Nahrungsstoffe nur sehr wenig
variiert. Magnus-Levy berechnete denselben für 1g bei fettfreiem Muskelfleisch
zu 3,00, bei Fett zu 3,27 und bei Rohrzucker zu 3,56; diese Zahlen verhalten
sich wie 100:109:118,6 — d.h. der Unterschied zwischen Fett und Zucker beträgt
nur 9 Proz.?). Später führte Pflüger eine. neue Berechnung aus und kam dabei
zu dem Resultate, daß 1g Sauerstoff bei Verbrennung des Fettes 3,29 Kal., bei der
des fettfreien Muskels 3,30 und bei der Verbrennung der Stärke 3,53 entspricht;
diese Zahlen verhalten sich wie 100:100,3:107,3°?). Wenn der Energiewechsel nach
dem Sauerstoffverbrauch berechnet wird und gleichzeitig keine synthetischen Pro-
zesse, wie Fettbildung aus Kohlehydraten, stattfinden, so werden Resultate erhalten,
die sich um höchstens 7,3 Proz. von dem richtigen Werte unterscheiden.
Mit diesen Zahlen stimmen die von E. Voit berechneten sehr gut überein:
Pflanzeneiweiß 3,30, tierisches Eiweiß 3,27, Fett 3,27, Kohlehydrate 3,53 Kal.
für 1g bei ihrer Verbrennung verbrauchten Sauerstoff‘).
Drittes Kapitel.
Der Stoffwechsel beim Hunger.
An und für sich gestaltet sich der Stoffwechsel beim Hunger nicht ein-
facher als bei Zufuhr von Nahrung, denn hier kommen nicht allein die Zer-
setzungsvorgänge, sondern auch diejenigen Prozesse, durch welche das Ver-
brennungsmaterial von den lebenden Geweben abgegeben wird, in Betracht.
Wenn es aber gilt, den Stoffwechsel ohne Berücksichtigung der dabei statt-
findenden intermediären Vorgänge zu untersuchen, so läßt sich ohne
!) Rubner, Beiträge zur Ernährung im Knabenalter. Berlin 1902, 8. 61. —
2) Arch. f. d. ges. Physiol. 55, 7, 1894; vgl. auch Zuntz, ebenda 68, 201, 1897
und 83, 558, 1901, sowie Arch. f. pathol. Anat. 131, Suppl. 8. 18%. — °) Arch. f. d.
ges. Phys. 77, 465, 1899; 78, 526, 1899; 79, 575, 1900. — *) Zeitschr. f. Biol. 44,
359, 1903; vgl. auch Krummacher, ebenda 44, 362, 1903.
376 Der allgemeine Zustand beim Hunger.
Zweifel sagen, daß der Hunger den einfachsten Zustand darstellt, indem hier
der Einfluß der Kost auf die Größe des Stoffwechsels ausgeschlossen ist und,
wie die Erfahrung ergeben hat, der Körper so viel als möglich den Umfang
der Zersetzungsprozesse beschränkt. Der Hungerstoffwechsel bietet daher
einen außerordentlich bedeutungsvollen Ausgangspunkt dar, wenn es gilt,
die absolute Größe des Stoffwechsels zu untersuchen und den Nahrungsbedarf
des Körpers unter verschiedenen Umständen festzustellen.
8& 1. Der allgemeine Zustand beim Hunger.
Aus allen hierher gehörigen Beobachtungen, sowohl an Tieren wie am
Menschen, geht hervor, daß der Hunger mit verhältnismäßig geringen
Beschwerden verbunden ist. Die Eßlust ist im Laufe des ersten Tages
natürlich sehr stark, und die Versuchspersonen haben wegen des Fastens ver-
schiedene unangenehme Sensationen; diese verschwinden indes ziemlich bald,
und es zeigt sich sogar, daß nach Ende des Fastens, wenn Nahrung wieder
zur Verfügung gestellt wird, die Eßlust nicht besonders groß ist, so daß die
Versuchsperson sich gewissermaßen zum Essen zwingen muß. Nach dem
Genuß des ersten Bissens kehrt die Eßlust allerdings bald wieder).
Aus den genauen Untersuchungen an hungernden Menschen, welche
in Berlin, Florenz und Stockholm gemacht wurden, seien folgende Er-
scheinungen hervorgehoben.
Cetti hungerte im März 1887 zehn Tage lang und wurde während dieser
Zeit von C. Lehmann, F. Müller, I. Munk, Senator und Zuntz beobachtet.
Zur Zeit seines Fastens war er 26 Jahre alt, mittelgroß, schlank, von heller Haut-
farbe, gracilem Knochenbau. Muskulatur mittelmäßig entwickelt, aber von guter
Konsistenz, Fettgewebe gering. Körpergewicht nach der letzten Mahlzeit 57,08 kg.
Keine anderen krankhaften Veränderungen werden erwähnt, als daß der Perkussions-
schall in der linken Fossa infraclavicularis etwas höher und kürzer war als rechts;
im äußersten Teil derselben war auch das Exspirationsgeräusch etwas länger als
rechts. Auf Grund dieser Befunde hat Klemperer gemeint, Cetti habe an
Tuberkulose gelitten?), was indes von Munk und Senator entschieden bestritten
wird®). Übrigens ist Cetti noch jetzt, 17 Jahre nach dem Hunger versuch, am Leben.
Während seines Fastens trank Cetti Wasserleitungswasser in beliebiger Menge
und rauchte ziemlich viel Zigaretten. ;
Bis zum sechsten Hungertag trat bei Cetti keine wesentliche Veränderung
im Befinden ein; nur klagte er von Zeit zu Zeit über Aufstoßen und Schmerzen im
Leib. Am siebenten Tage klagte er über stärkere Beschwerden im Leib, sie nahmen
im Laufe des Tages zu, er sah elend und hohläugig aus und gab an, daß er sich
sehr schlecht fühle. Am Schluß desselben Tages erfolgte zum erstenmal Stuhlgang,
nach welchem Cetti sich sofort sehr viel wohler fühlte, und zwar am achten Tage
frischer als an den vorhergehenden beiden Tagen. Er gab an, wieder ganz
beschwerdefrei zu sein und sich vollkommen wohl zu fühlen, nur hatte er öfter
das Bedürfnis zu ruhen als früher, und klagte leicht über ein Gefühl von Kälte.
Obgleich er es nieht zugeben wollte, machte sich am neunten und zehnten Tage
eine gewisse Veränderung in seinem Aussehen und seinem Wesen allmählich bemerk-
bar. Er sah blässer aus, das Gesicht erschien hohläugig und eingefallen, die
Y) Vgl. Ranke, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1862, 8.335. H. Schultzen,
ebenda 1863, 8.31. F. A. Falck, Beiträge zur Physiologie, Hygiene und Toxikologiel,
Stuttgart 1875. Lehmann, Müller u.a., Arch. f. pathol. Anat. 131, Suppl., 1893
(Cetti). Luciani, Das Hungern, Hamburg und Leipzig 1890 (Succi). Johansson,
Landergren u. a., Skand. Arch. f. Physiol. 7, 1896 (J. A.) — ?) Berl. klin.
Wochenschr. 1889, 8. 872. — °) Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1889, 8. 833, 836.
Der allgemeine Zustand beim Hunger. 377
Bewegungen schienen ihm schwerer zu fallen, er wurde stiller und, reizbarer. Am
Ende des zehnten Tages erschien das Aussehen Cettis noch elender als am Tage
zuvor, die Mattigkeit hatte zugenommen; als er rasch sich aus der liegenden
Stellung zum Stehen aufrichten wollte, wurde ihm schwindelig, schwarz vor den
Augen, und er drohte umzufallen. Es wurde deshalb trotz der Einwendungen
Cettis beschlossen, den Versuch abzubrechen.
Der zweite Hungerer, Breithaupt, welcher von den Berliner Physiologen
untersucht wurde, war Schuhmachergeselle, zur Zeit des Versuches 21 Jahre alt,
von mittlerer Körpergröße und mittlerem Ernährungszustand. Er stammte aus
gesunder Familie, soll früher nie ernstlich krank gewesen sein und erschien auch
jetzt vollkommen gesund. Die ärztliche Untersuchung konnte an ihm niehts
Krankhaftes entdecken. Die Muskulatur der Arme war nur von mittelmäßigem
Volumen, aber von fester Konsistenz; die Muskulatur der Beine sehr wohl ent-
wickelt. Körpergewicht am Tage vor dem Fasten 60,07 kg. Während der Ver-
suchsdauer durfte er nach Belieben Wasserleitungswasser trinken, sonst war ihm
nicht erlaubt, irgend etwas zu genießen, auch nicht zu rauchen.
Während der zwei ersten Hungertage befand sich Breithaupt vollkommen
wohl und gab an, gar keine Beschwerden zu empfinden. Am dritten und vierten
Tage litt er an einem Schnupfen, welcher von Unbehagen und Mattigkeit begleitet
war. Am fünften Tage hatte sich das Wohlbefinden vollständig wieder hergestellt.
Am sechsten Tage erschien er aber wieder matter; er selbst gab zwar an, nichts
davon zu merken, doch fiel es auf, daß er beim Gehen bisweilen schwankte und
daß er bei der Arbeit schwer atmete. Es wurde daher beschlossen, den Versuch
abzubrechen. ;
Während des ersten und zweiten, sowie des fünften und sechsten Tages seines
Fastens verrichtete Breithaupt am Gärtnerschen Ergostaten eine genau gemessene
Arbeit, welche pro Tag zwischen 1423 und 617 kg-m schwankte.
Der dritte Hungerer, Succi, hatte schon früher in Mailand und Paris ein
dreißigtägiges Fasten durchgeführt, als er im Februar 1888 in Florenz ein neues
Fasten unternahm, während dessen er von Luciani untersucht wurde. Zu dieser
Zeit war er etwa 40 Jahre alt, mittlerer Größe, von schön gerundeten Körperformen
mit: gut entwickelten Muskeln und nicht zu reichlichem, aber derbem Fettpolster.
Körpergewicht vor der letzten Mahlzeit 63,55 kg. Er litt an einer Facialislähmung
nach einem Trauma. Sonst bot er keine krankhaften Symptome dar. Während
seines Fastens durfte Succi sowohl ein alkalisches Getränk als Brunnenwasser
genießen.
Während seines ganzen dreißigtägigen Fastens blieb Succi in vollkommen
physiologischem Zustande und entwickelte sogar in den späteren Tagen desselben
sehr bemerkenswerte körperliche Leistungen. Am Tage beschäftigte er sich eifrig
mit seinen Privatinteressen und hielt sich viel in Bewegung, indem er täglich
etwa 3000 bis 4000 Schritte machte. Am 12. Tage konnte er einen Ritt von
1 Std. 40 Min. machen; am selben Tage spazierte er viel im Zimmer umher,
machte einen Dauerlauf von 8 Minuten mit drei jungen Studenten und hielt an
demselbem Abend eine Fechtübung aus. An diesem Tage hatte er 19900 Schritte
gemacht. Am 23. Fasttage beabsichtigte er, den Abend bei Volksspielen zuzu-
bringen; er nahm daran teil mit zwei Gängen auf Säbel, die er mit Ausdauer,
Kraft und Gewandtheit führte. An diesem Tage hatte er 7000 Schritte gemacht.
Am 20. Hungertage war er fähig, den Widerstand von 52 kg mit der rechten
Hand zu überwinden, und nöch am 29. Tage zeigte er eine bemerkenswerte Wider-
standskraft gegen Ermüdung.
J. A., Kandidat der Medizin, 26 Jahre alt, gesund, mit ziemlich kräftiger
Muskulatur, fastete fünf Tage lang. Während seines Fastens trank er nur Wasser-
leitungswasser. Das allgemeine Befinden war die ganze Zeit gut oder ziemlich
gut. Am ersten Hungertage fühlte sich J. A. etwas schlaff und litt trotz einer
Zimmertemperatur von 20° an Kälte. Am zweiten Tage litt er gleich nach seinem
Spaziergang vormittags an Spannungsgefühl im Magen, was jedoch bald wieder
verschwand. Am dritten Tage sind gelinde Magenschmerzen und Übelkeit an-
gegeben. In der Nacht Schmerzen in der‘ linken Wade. Dagegen wird für den
378 Der allgemeine Zustand beim Hunger.
vierten und fünften Hungertag angegeben, daß keine Schmerzen im Magen auf-
traten. Betreffend die Körperkräfte ist zu bemerken, daß J. A. am ersten Tage
keine merkbare Mattigkeit empfand. Erst am dritten Tage fühlte sich J. A. ziem-
lich matt und schlaf. Am fünften Hungertage litt er an einer unbedeutenden
Mattigkeit, Schwindel; beim plötzlichen Aufstehen wurde es ihm schwarz vor den
Augen.
Über das Verhalten hungernder Tiere ist nach F. A. Falck, der an vier er-
wachsenen und sechs neugeborenen Hunden eine eingehende Untersuchung aus-
geführt hat, folgendes hier mitzuteilen:
Viele Tage, ja Wochen lang konnten in dem Allgemeinbefinden der Tiere
keine wesentlichen Veränderungen nachgewiesen werden. Die kleinen Hündchen
schrien viel, wie dies überhaupt Hunde des Alters, wenn sie von ihrer Mutter ent-
fernt werden, zu tun pflegen; die ausgewachsenen, gut gezogenen Tiere verhielten
sich dagegen vollkommen ruhig; sie suchten wohl hin und wieder in ihrem
Käfig,‘ ob sie nichts Eßbares erlangen könnten, gebärdeten sich jedoch nicht
ungezogen und wütend. -
Im weiteren Verlauf des Hungers trat die fortwährend zunehmende Adynamie
mehr und mehr in den Vordergrund; die Tiere lagen meist schlafend in ihrem
Käfig, und es bildete sich schließlich ein schlafsüchtiger Zustand aus. Die Fähig-
keit, zu gehen und zu stehen, nahm mit jedem Tage mehr und mehr ab, während
die nervösen Funktionen noch vollkommen intakt zu sein schienen, da die Tiere
auf Anrufen usw. gut reagierten. Kurze Zeit vor dem Tode schwanden jedoch
auch diese Reaktionen, und die Tiere lagen paralytisch wie eine leblose Masse
da. Es zeigten sich Störungen der Respiration; dieselbe wurde sehr verlangsamt;
plötzlich trat Respirationspause ein, welche Hin- und Herschleudern des Kopfes
und allgemeine Körperbewegungen veranlaßte; hierdurch kam die Respiration
wieder in Gang, und zwar anfangs luftschnappend, laut hörbar, später ruhiger.
Dieser Wechsel der Respirationsbewegungen wiederholte sich oft, bis die Respiration
immer langsamer und langsamer erfolgte und endlich für immer stillstand. Kurz
vor dem Tode erfolgte meist eine dünne Kotentleerung. Einige Zeit vor. dem
Tode beobachtete man regelmäßig, daß sich in den Conjunctivalsäcken eitrige
Sekrete ansammelten.
Über die großen Körperfunktionen während des Hungers
liegen folgende Angaben vor:
Die Pulsfrequenz ist im großen und ganzen unverändert oder richtiger
etwas geringer als bei Nahrungszufuhr; für J. A. betrug sie während der
Eßtage im Mittel 78,8, während der Hungertage 71,4; bei Breithaupt
war sie am sechsten Hungertage 47 bis 48, am ersten Eßtage danach 56
bis 68. Bei Cetti änderte sich die Pulsfrequenz bis zum zehnten Hunger-
tage nicht merklich, bei Succi war dieselbe vielleicht ein wenig niedriger
als normal.
Dagegen stellt sich eine beträchtliche Zunahme der Erregbarkeit des Herzens
ein, die sich durch eine ganz unverhältnismäßige Steigerung der Pulsfrequenz bei
geringfügigen Bewegungen zu erkennen gibt. So stieg die Pulsfrequenz bei Cetti
am neunten und zehnten Tage schon beim Aufrichten aus der liegenden Stellung
in die sitzende von 80 bis 84 auf 112 bzw. 104. Bei Succi nahm die Pulsfrequenz
am zwölften Hungertage infolge eines vierminutigen Laufens mit 63 Schlägen pro
Minute zu. Eine zehn Minuten dauernde Arbeit am Ergostaten erhöhte am sechsten
Hungertage die Pulsfrequenz bei Breithaupt von 62 auf 150.
Die Körpertemperatur (Rectum) hält sich lange Zeit ziemlich un-
verändert, scheint aber etwas niedriger als normal zu sein. Die Differenz
betrug im Versuche an J. A. bei Messungen jede zweite Stunde im Mittel nur
0,16°C. Auch Jürgensen hat in seinen ausführlichen Bestimmungen der
Körpertemperatur nur eine geringfügige Abnahme beim Hungern beob-
Der allgemeine Zustand beim Hunger. 379
achtet!). Eine beträchtlichere Abnahme erscheint nach Versuchen an Hunden
erst während der letzten Tage vor dem Tode?).
Nach Wasser scheinen hungernde Tiere kein großes Bedürfnis zu haben.
Selbst wenn ihnen Wasser dargeboten wird, trinken sie oft nichts. Auch
hungernde Menschen trinken im allgemeinen nicht viel Wasser: während
der fünf ersten Hungertage genoß Cetti durchschnittlich 1137 g, Breit-
haupt 1540 und J. A. gar 563g. Während der zwei ersten Tage seines
Fastens in Florenz enthielt sich Succi vollständig des Trinkens, am dritten
bis fünften Tage genoß er durchschnittlich 867 g.
Diese Erscheinung erklärt sich daraus, daß Wasser teils durch die
Verbrennung des Wasserstoffs gebildet wird, teils aus den Geweben bei
deren Zerstörung dem Körper zur Verfügung gestellt wird. Außerdem
findet ja nur eine sehr geringe Absonderung von Verdauungsflüssigkeiten
statt, infolgedessen der Wasserbedarf des Körpers wesentlich herabgesetzt
werden muß?).
Aus dem Versuche an J. A. geht folgendes betreffend die Wasserbilanz hervor:
Während des fünftägigen Hungerns entstanden durch Oxydation des Wasserstoffs
durchschnittlich 235 g; durch das Zugrundegehen der Gewebe wurden durchschnitt-
lich 260 g freigemacht; Summe 495 g. Die mittlere Aufnahme von Wasser betrug
563g. Also standen dem Körper durchschnittlich 1058 g Wasser zur Verfügung. Im
Harn und in der Respiration erschienen aber durchschnittlich 1564 g Wasser. Der
Körper hatte also jedenfalls noch 506 g Wasser pro Tag verloren.
Bei seinen Hunden, welche auch kein Wasser erhielten, fand Falck, daß das
Körpergewicht nach einer fast geraden Linie abnahm. Auf der anderen Seite
beobachtete Luciani bei Hunden, welchen 150g Wasser täglich zugeführt wurden,
daß das Körpergewicht, die drei ersten und die sechs letzten Tage ausgenommen,
sehr nahe eine gleichseitige Hyperbel durchläuft, deren Abszissenachse eine der
Asymptoten darstellt.
Bei den vielfach erwähnten hungernden Menschen nahm das Körper-
gewicht täglich um etwa 1 Proz. ab. Bei Cetti betrug der gesamte Gewichts-
verlust während zehn Tage 11 Proz., bei Breithaupt in sechs Tagen 6 Proz.,
bei Sucei in zehn Tagen 9 Proz., sowie bei J. A. in fünf Tagen 7,4 Proz.
des Anfangsgewichtes. Diese Abnahme erfolgt indes nicht gleichmäßig, sondern
zeigt verschiedene Schwankungen, welche zum Teil wenigstens durch die ver-
schieden große Wasseraufnahme bedingt sind, wie übrigens auch die indivi-
duellen Differenzen mit Unterschieden in der Wasseraufnahme teilweise zu-
sammenhängen.
$ 2. Der Stoffwechsel beim Hunger.
Über den Gesamtstoffwechsel bei hungernden Tieren besitzen wir eine
Reihe sehr wertvoller Angaben von Bidder und Schmidt), Pettenkofer
und Voit5), sowie Rubner®). Da es nicht möglich ist, alle diese Beobach-
tungen hier aufzunehmen, stelle ich einige, wo der Hunger am längsten
gedauert hat, als Beispiele hier zusammen. (Siehe Tabelle auf folgender Seite.)
!) Jürgensen, Die Körperwärme des gesunden Menschen. Leipzig 1873,
8. 21 bis 27. — *°) Vgl. besonders Falck, Beiträge zur Physiologie usw. 1, 38,
1875. — °) Vgl. Voit, 8.99. — *) Bidder und Schmidt, Die Verdauungssäfte
- und der Stoffwechsel, 8. 310. — ) Zeitschr. f. Biol. 5, 370, 1869. — °) Ebenda 19,
540, 1883; Rubner, Biologische Gesetze. Marburg 1887.
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Der Gesamtstoffwechsel beim Hunger.
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Die Zersetzung von Eiweiß beim Hunger. 383
-& 3. Die Zersetzung von Eiweiß und Fett beim Hunger.
Um eine vollständigere Vorstellung von den Stoffwechselvorgängen beim
Hungern zu bekommen, ist es notwendig, die dabei stattfindende Zersetzung
des Eiweißes und des Fettes gesondert zu untersuchen; wir besitzen vielerlei
Erfahrungen, welche in dieser Hinsicht außerordentlich wertvoll sind.
Betreffend den Eiweißzerfall geben uns vor allem die Versuche von
F. A. Falek!), von welchen drei besonders charakteristische in Fig. 28
graphisch dargestellt sind, Aufklärung.
Fig. 28.
30g
o
25 /
u
20
15 T >
10 er /; A
I
u I FIN)
5 Da an DE ER
IH I YV wu
I
0
1 Tag 11 21 31 41 51 61
Die Harnstoffabgabe bei drei hungernden Hunden nach F. A. Falck.
Bei diesen Versuchen wurde, wie es bis zur Einführung der Kjeldahlschen
Methode in der Regel der Fall war, nicht der gesamte Stickstoff im Harn, sondern
nur der Harnstoff bestimmt. Wie aber aus mehreren Beobachtungen hervorgeht,
ist der hierdurch entstehende Fehler, beim Hunde wenigstens, nur gering.
Die Kurve I bezieht sich auf eine Hündin, die 60 Tage lang auf ab-
solute Karenz gesetzt war. Ihr Verlauf kann in gewissem Grade für die
Harnstoffabgabe bei einem erwachsenen Tier, das zu Beginn des Fastens
genügend Fett besitzt, als typisch angesehen werden. Noch nach dem Tode
enthielt der Körper etwas Fett, in der Bauchhöhle allein 30g. Wie ersicht-
!) Falck, Beiträge zur Physiologie usw. 1, 69, 1875; vgl. auch Voit,
Zeitschr. f. Biol. 2, 307, 1866; Kumagawa, Mitt. d. med. Fakultät der Universität
zu Tokio 3, 1, 1894,
384 Die Zersetzung von Eiweiß beim Hunger.
lich, nimmt die Harnstoffabgabe unter verschiedenen, verhältnismäßig geringen
Unregelmäßigkeiten bis zum Tode ununterbrochen ab.
Die Kurven II und III haben einen teilweise ganz anderen Charakter.
Im Anfang nimmt zwar auch hier die Harnstoffausscheidung in derselben
Weise wie im Versuch I ab; nach Verlauf einiger Tage steigt sie aber wieder
an und erreicht jetzt Werte, die die Anfangswerte wesentlich übertreffen.
Danach folgt in Kurve III eine neue, bis zum Tode führende Abnahme der
Harnstoffausscheidung. Die Ursache dieser Verschiedenheit bei den ver-
schiedenen Hungertieren werde ich später erörtern.
Beim Menschen ist die Eiweißzersetzung während längerer Hunger-
perioden an den mehrmals erwähnten Hungerern studiert worden. In
folgender Tabelle sind die dabei erhaltenen Zahlen für die N-Abgabe im
Harn zusammengestellt:
Hungertag Cetti Hüngertag Sucei I!) |Sucei I?)
Letzter Eßtag 13,5 Letzter Eßtag 16,2 —
1 13,6 1 13,8 17,0
2 12,6 2 11,0 11,2
3 13,1 3 13,9 10,6
4 13,4 4 12,8 10,8
5 10,7 5 12,8 11,2
6 10,1 6 10,1 11,0
Fi 10,9 7 9,4 8,8
‘8 8,9 8 8,4 9,7
9 10,8 9 7,8 10,1
10 9,5 10 6,8 7,
1. Eßtag 13,4 11 7,9 6,3
2. Eßtag 13,3 12 7,2 6,8
Breithaupt 13 3,5 5,1
Letzter Eßtag 13,0 14 5,3 4,7
1 10,0 15 5,1 5,1
2 9,9 16 5,5 4,2
3 13,3 17 6,2 5,4
4 12,8 18 5,5 3,6
5 11,0 19 5,0 5,7
6 9,9 20 4,4 3,3
1. Eßtag 11,8 21 3,9 2,8
2. Eßtag 8,3 22 3,2 u
| J. A. 23 4,8 — 4
Letzter Eßtag 22,4 24 5,6 —
1 12,0 25 6,0 nr
2 12,7 26 9,1 =
3 13,5 27 5,4 age
4 13,6 28 5,6 ei
5 11,3 29 | 4,1 _
1. Eßtag 24,4 30 6,6 _
2. Eßtag | 17,1 | oe
!) Lucianis Beobachtungen. Vgl. die Note 8.382. — ?) E. und O. Freund,
Wiener klin. Rundschau 1901, S. 69, 91.
Die Zersetzung von Eiweiß beim Hunger. 385
Die einzigen Versuche, welche einen näheren Vergleich mit dem Ver-
halten bei hungernden Tieren gestatten, sind die an Cetti und Succi. In
beiden und insbesondere in dem letzteren finden wir, daß der Eiweißzerfall
beim Menschen ganz wie beim Hunde im Verlauf des Hungerns unter ver-
schiedenen, im allgemeinen geringen Unregelmäßigkeiten allmählich abnimmt
und etwa nach zwei Wochen einen sehr kleinen Wert erreicht.
Ähnlich geringe Werte wie bei Succi hat man auch bei anderen Hungerern
in der späteren Hungerzeit beobachtet. Ein sich aushungernder 50jähriger Irrer,
der seit vier Wochen nur ein Weißbrot und ein Glas Bier zu sich nahm, schied am
28. Tage nur 4,44g N im Harn aus (Scherer); ein 24jähriges Mädchen, das in-
folge einer Oesophagusstenose in 16 Tagen verhungerte, schied sogar nur 2,8g N aus
(Schultzen). Ein abstinierender Geisteskranker von 65kg Körpergewicht schied
vom 15.bis 21. Hungertage durchnittlich 4,26, ein anderer von 55 kg Körpergewicht
während 16 Tagen im Mittel 4,3g aus (Tuczek). Bei einem Falle von Schlafsucht
und Inanition beobachtete Senator am vierten Tage 5,7g, am 14. sogar 3,8g N
im Harn. Übereinstimmende Zahlen sind auch von F.Müller mitgeteilt worden').
Während der ersten Hungertage ist die N-Abgabe verhältnismäßig groß; auf
Grund dessen hat Munk geltend machen wollen, daß sich der Mensch betreffend
den Eiweißzerfall im Anfang des Hungerns wesentlich anders verhielte als der Hund,
bei welchem die N-Abgabe schnell herabsinkt?). Diese Auffassung scheint jedoch
nicht berechtigt zu sein, denn Munk selbst hat schon früher bei einem Hunde von
35 kg Körpergewicht während neun Hungertagen eine N-Abgabe von insgesamt 78g
beobachtet?). Dies macht pro Kilogramm Körpergewicht 2,23g N, während die
N-Abgabe bei Cetti während der ersten neun Hungertage insgesamt 1,83 g pro Körper-
kilo betrug.
_ Während der ersten drei bis vier Hungertage bemerken wir bei allen
vier Hungerern (nicht aber bei Succi II), daß die N-Abgabe im Harn stetig
zunimmt, um dann wieder abzusinken. Die gleiche Erscheinung hat Praus-
nitz bei 15 zweitägigen Hungerversuchen zwölfmal beobachtet und findet
eine Erklärung dieses Verhaltens in folgender Überlegung. Da der Mensch
in seiner gemischten Nahrung in der Regel viel Fett und namentlich viel
Kohlehydrate genießt, so wird sich auch in seinem Körper immer viel Glykogen
und Fett vorfinden. Am ersten Hungertage schützt nun das reichlich ab-
gelagerte Glykogen eine gewisse Menge Eiweiß vor der Zersetzung, es geht
aber selber an diesem Tage zu großem Teile zugrunde, und seine schützende
Wirkung fällt daher am zweiten Hungertage wesentlich fort, statt dessen
wird nunmehr Eiweiß in größerem Umfange angegriffen ®). Hierdurch verarmt
aber der Körper an disponiblem Eiweiß, infolgedessen nimmt die Eiweiß-
zersetzung wieder ab, und das vorhandene Körperfett wird nun in größerem
Maße angegriffen. Diese Auffassung wird dadurch wesentlich unterstützt,
daß beim Versuche an J. A., pro Körperkilogramm berechnet, gleichzeitig
mit der Steigerung des Eiweißzerfalles die Abgabe von Kohlenstoff aus N-
freien Verbindungen abnahm, um erst am fünften Tage wieder in die Höhe
zu gehen’).
Trotzdem dürfen wir uns nicht vorstellen, daß die Gesamtmenge des
Glykogens schon im Laufe der ersten Hungertage verbraucht worden wäre,
denn wir wissen ja, daß sich Glykogen sogar nach mehrwöchigem Hungern
!) Nach Munk, Arch. f. path. Anat. 131, Suppl., S. 119. — ?) Ebenda 131,
Suppl., S. 118. — °?) Ebenda 101, 105. — *) Zeitschr. f. Biol. 29, 151, 1892. —
5) Vgl. Skand. Arch. 7, 64, 1896.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 25
386 ; Die Zersetzung von Eiweiß beim Hunger.
im Körper nachweisen läßt. Im Anfang des Hungerns ist aber der Glykogen--
gehalt viel größer als später, und das Glykogen kann daher gerade zu dieser
Zeit seine stärkste eiweißersparende Wirkung ausüben }).
Ausden im folgenden Kapitel näher zu besprechenden Erfahrungen über
den Stoffwechsel bei Zufuhr von Nahrung wissen wir, daß das aus dem Darm
resorbierte Eiweiß leichter als alle anderen Nahrungsstoffe im Körper zersetzt
wird. Beim Hungern finden wir indes, daß der Anteil des Eiweißes am Ge-
samtstoffwechsel verhältnismäßig gering ist, und zwar beträgt derselbe dem
Wärmewerte nach bei gut genährten Tieren nur etwa 7,3 bis 16,5 Proz. der
totalen ‚Wärmeentwickelung (E. Voit?). Da nun dieses Eiweiß den Geweben
selbst entstammt, so folgt, daß die Körpergewebe in verhältnismäßig geringem
Umfange Eiweiß von sich selber abgeben.
Wie schon oben bemerkt, beobachtet man bei hungernden Tieren nicht
selten, daß die N-Abgabe nach einer vorübergehenden Abnahme wieder be-
ginnt anzusteigen und allmählich Werte erreicht, welche die Anfangswerte
wesentlich übertreffen (vgl. Kurve II und III, Fig. 28°).
Voit, welcher die betreffende Erscheinung zuerst beobachtete, deutete
dieselbe durch die Annahme, daß das anfangs neben dem Eiweiß noch vor-
handene Fett das erstere schützte, später aber nicht mehr, nachdem der
Körper dem Fett gegenüber reicher an Fleisch geworden war.
Eine wesentliche Stütze erhielt diese Auffassung durch Rubners Ver-
suche an hungernden Hunden). Es wurden an einem und demselben Tiere
zwei Hungerversuche ausgeführt. In dem ersten war das Tier mager, 8,83 kg,
dabei zersetzte es am zweiten Hungertage pro Körperkilogramm 5,32 g Fett
und schied 0,34g N im Harn aus. Sodann wurde es gemästet und vier
Monate später zu einem neuen Hungerversuche benutzt. Eswognun 11,11kg
und zersetzte am zweiten Hungertage pro Kilogramm 5,92 g Fett, schied aber
nur 0,14g N aus. Die absoluten Zahlen sind im mageren Zustande 3,04 g
N und 46,94g Fett, im fetten 1,64g N und 65,79g Fett. Noch direkter
scheint die Bedeutung der Fettabnahme aus folgenden Versuchen am Kaninchen
hervorzugehen (Rubner’).
N im Harn, . Zersetztes Fett,
Nr. Hungertag | Durchschnitt pro Tag] Hungertag | Durchschnitt pro Tag
8 g
II 8 1,67 2% 10,3
4—5 1,46 4 10,3
6.:—:,8 3,21 8 2,4
III 1-12 1,50 — —
MB 1,03 a —iß 10,0
9 —15 0,91 915 7,4
16—18 2,65 16—18 1,0
!) Vgl. auch Landergren, 'Skand. Arch. 14, 165, 1903, — °) Zeitschr. f.
Biol. 41, 167, 1901; vgl. auch Rubner, ebenda 19, 557, 1883. — °) Weitere
Beispiele davon finden sich bei Voit, Zeitschr. f. Biol. 2, 327, 1866; Feder, ebenda
14, 176, 1878; Schimanski, Zeitschr. f. physiol. Chemie 3, 396, 1879; Kukein,
Zeitschr. f. Biol. 18, 26, 1882; Schöndorff, Arch. f. d. ges. Physiol. 67, 432,
1897. — *) Zeitschr. f. Biol. 19, 541, 561, 1883. — °) Ebenda 17, 220, 231, 233, 1881.
Die Zersetzung von Eiweiß und Fett beim Hunger. 387
Im Versuch I steigt die N-Abgabe von 1,46 auf 3,21g, während gleichzeitig
die Fettzersetzung von 10,3 auf 2,49 herabsinkt. Das Ergebnis vom Versuch III
ist gleichlautend: N- Abgabe während des 9.bis 15. Tages 0,91, während der letzten
Tage 2,65; Fettzersetzung während des 9. bis 15. Tages 7,4 g, während der letzten
Tage 1,0g.
Wenn die hier zu erörternde Deutung richtig ist, so müßte durch Zufuhr
von N-freien Nahrungsstoffen die betreffende Steigerung des Eiweißzerfalls
vermieden werden können. Diese Voraussetzung hat sich nun in der Tat in
einer Anzahl von Fällen, wie z. B. in den folgenden, bewährt.
Ein hungerndes Kaninchen von 2159 g Anfangsgewicht lebte 29 Tage lang;
während 23 Tage erhielt es je 30g Öl subeutan, während der letzten drei Tage
aber nicht. Von der gesamten Fettmenge, 690 g, wurden 540g resorbiert. Eine
Steigerung der N-Abgabe trat erst spät auf und kam eigentlich nur während der
letzten drei Hungertage deutlich zum Vorschein. (Am 1. bis 8. Tage 1,78 g, 13. bis
22. Tage 0,58 g, 23. bis 25. Tage 0,64 g, 26. Tage 0,99, 27. Tage 1,24, 28. Tage
1,17 g; Koll?).
Auch durch Zufuhr von Kohlehydraten ist es gelungen, während langer
Zeit der beim Kaninchen in der Regel hervortretenden Steigerung des Eiweiß-
umsatzes vorzubeugen (Kaufmann).
Schulz°) fütterte einen Hund mit einer den Bedarf weit untersteigenden
Menge Fleisch und entzog also, bei nur wenig verändertem Eiweißbestand, dem
Tiere allmählich dessen Fett: die prämortale Steigerung der N-Abgabe kam endlich
sehr charakteristisch zum Vorschein. Nach dem Tode enthielt das Tier allerdings
noch etwas Atherextrakt; ein Drittel davon bestand aber aus Cholesterin.
- Wenn also diese Erfahrungen unbedingt dafür sprechen, daß das
Körperfett und seine quantitativen Veränderungen in bezug auf die Größe
des Eiweißumsatzes beim Hungern eine sehr bedeutende Rolle spielen, so ist
dadurch nicht nachgewiesen, daß die betreffende Steigerung des Eiweiß-
umsatzes nur von der Fettabnahme bedingt ist, denn sie kann auch dann
auftreten, wenn der Körper sein Fett noch lange nicht verbraucht hat, wie
daraus hervorgeht, daß man an verhungerten Tieren, welche die prämortale
Steigerung der N-Abgabe sehr schön därgeboten haben, immer noch zurück-
gebliebenes Fett hat nachweisen können ). Ein vollständiger Fettmangel
existiert also überhaupt nicht, was übrigens Voit nie behauptet hat.
Angesichts dieser Tatsachen hat Schulz’) erwogen, ob nicht auch andere
Umstände hierbei zu berücksichtigen sind, und ist in dieser Hinsicht zu der
folgenden Auffassung gekommen: Beim Hunger können die Körperzellen zu-
nächst ohne wesentliche Störungen ihrer Lebenstätigkeit Eiweiß von sich
abgeben. Endlich muß doch irgend eine Zelle ihren niedrigsten Eiweißbestand
erreicht haben, und sie stirbt ab. Dieses Absterben einer oder weniger Zellen
wird natürlich nicht den Tod des Gesamtorganismus zur Folge haben. Wenn
aber eine große Anzahl von Zellen zugrunde gegangen ist, werden die
Leistungen des Körpers erheblich gestört werden müssen, bis sie ‘schließlich
ganz aufhören. Ein fettreiches Tier hält den Hunger länger aus, weil der
Fettreichtum des für gewöhnlich auch eiweißreicheren Tieres einen größeren
») Koll, Die subeutane Fetternährung vom physiolog. Standpunkte, 8. 98.
Würzburg 1897. — ?) Zeitschr. f. Biol. 41, 96; E. Voit, ebenda 41, 550, 1901. —
%) Arch. f. d. ges. Phys. 76, 400, 1899, — *) Vol. Schulz, ebenda 66, 145, 1897. —
°) Ebenda 76, 385, 1899.
25*
388 Die Zersetzung von Eiweiß und Fett beim Hunger.
Eiweißschutz ausübt und also wenig Zelleiweiß vernichtet wird. Die prä-
mortale Steigerung des Eiweißzerfalles ist also von einem plötzlich statt-
findenden Absterben von Zellen bedingt).
Eine nähere Erörterung dieser Anschauung und der darüber geführten Polemik
würde hier zu weit führen. Ich will nur bemerken, daß bei dieser Erscheinung
auch andere Faktoren beteiligt sein könnten. Es könnte möglich sein, daß die
Fähigkeit der durch den Hunger beschädigten Körperzellen, Fett zu zersetzen,
ganz allmählich abnehmen würde ‚und zur Deckung des dadurch entstandenen
Defizits Eiweiß in entsprechend steigenden Mengen zum Abschmelzen kommen
müßte. — Auch ist es nicht unmöglich, daß bei einer bedeutenden Abnahme des
Körperfettes das Fett nicht in genügender Menge aus seinen großen Depots in den
Saftstrom gerät, wodurch die Speisung der Gewebe mit Fett verringert wird ?).
Als entschieden kann diese Frage jedenfalls nicht erachtet werden. Es zeigt
sich ja übrigens, daß der Stoffwechsel bei Hunger demjenigen bei Nahrungszufuhr
gegenüber verschiedene Abnormitäten darbietet, wie schon daraus hervorgeht, daß
die Verbrennungswärme des Harns beim Hunde pro 1g N größer ist als bei reiner
Fleischfütterung (vgl. oben 8.361). Betreffend fernere Unterschiede weise ich auf
die von E. und OÖ. Freund an Sucei gemachten Beobachtungen hin °).
Könnte es dann nicht der Fall sein, daß die prämortale Steigerung des Eiweiß-
zerfalles durch eine Art von Autointoxikation bedingt wäre, welche entweder das
Zersetzungsvermögen der Zellen für Fett oder die Lösung des Fettes aus den großen
Fettdepots herabsetzen würde?
Nach dem Hungern zeigt der Körper eine ausgesprochene Fähigkeit, die
erlittenen Verluste wieder zu ersetzen. Da ich in den Kapiteln VIII bis X
den Ansatz von organischer Substanz im Körper näher besprechen werde,
beschränke ich mich hier nur darauf, einige hierher gehörige Beobachtungen
am Menschen mitzuteilen.
Die Versuchsperson J. A. hatte während fünf Hungertagen vom Körper
398,8 g Eiweiß, 937,7g Fett, 36,69 Aschebestandteile und 3829 g Wasser ver-
loren. Am letzten Tage betrug der Umsatz 71,7g Eiweiß und 181g Fett. Bei
einer sehr reichlichen Kost, aus welcher im Mittel 170,5g Eiweiß, 238,3g Fett,
249,1g Kohlehydrate und 29,3 Alkohol = 4141 Kal. resorbiert wurden, zersetzte
J. A. während zwei Eßtagen durchschnittlich 135,5g Eiweiß, 68g Fett, 249,1g
Kohlehydrate und 29,3g Alkohol = 2424 Kal. Es blieben also während dieser
zwei Tage 81,5g Eiweiß, 339,3 Fett und wenigstens 25,1 g Aschebestandteile im
Körper zurück. Vom genossenen Wasser, für die zwei Tage 7894 g, wurden 2730g
angesetzt. Während dieser zwei Tage wurden also 20,4 Proz. des verlorenen Ei-
weißes, 36,2 Proz. des verlorenen Fettes, 71,3 Proz. des verlorenen Wassers und
wenigstens 68,6 Proz. der verlorenen Aschebestandteile dem Körper ersetzt‘).
$ 4. Der Verlust der verschiedenen Organe beim Hungern.
Um den Gewichtsverlust der einzelnen Organe beim Hungern festzustellen,
hat man zwei möglichst gleichgroße Tiere derselben Art und desselben Alters
ausgewählt, das eine sogleich, das andere aber nach einem genügend langen
Hunger getötet und dann an beiden die einzelnen Organe, frisch und in
trockenem Zustande gewogen und miteinander verglichen. Hierbei ist man
von der Annahme ausgegangen, daß bei zwei Tieren gleichen Gewichts und
gleichen Alters alle Organe gleich schwer sind, was indes nicht ganz richtig
!) Vgl. auch Kaufmann, Zeitschr. f. Biol. 41, 75, 1901; Schulz, ebenda 41,
368; E. Voit, ebenda 41, 502, 550, 1901. — ?) Vgl. E. Voit, Zeitschr. f. Biol. 41,
530, 1901. — ®?) Wiener klin. Rundschau 1901, 8. 69, 91..— *) Skand. Arch. £.
Physiol. 7, 46, 49, 65, 68, 1896.
Der Gewichtsverlust der Organe beim Hunger. 389
ist, denn das Gewicht einzelner Organe kann trotz gleichgroßem Körper-
gewicht vielfach variieren. Es steht uns aber keine andere Methode zur
Verfügung, um diese Frage ganz allgemein zu beantworten. Folgende Tabelle
enthält eine Zusammenstellung der in dieser Weise von Chossat!) (Tauben),
Voit2) (Katze), Kumagawa) (Hund) und Sedlmair®) (Katze) gemachten
Beobachtungen.
100 g Organ verloren nach:
x Chossat Voit Kumagawa Sedlmair ISedlmair I
se frisch #risch | trocken frisch, fettfreii trocken trocken
Skelett 21 14 —. 6) 19 24
Haut 33 I 21 — 28 32 | 44
Muskeln 42 \ 31 30 42 70 65
Gehirn und |\
2 3 SE 22 1,1 _—
Rückenmark |/ Mn]
Herz 45 3 _ 16 55 4
Blut = 27 18 48 — EB
Milz : 67 63 97 74 75
Leber 92 54 57 50 72 64
Pankreas 64 17 — 62 39 69
Nieren 32 „26 21 55 98 53
Genital- A Sa u 49 ar ze.
apparat |/
Magen ‚und ya 18 = 32 53 57
Darm
Lungen 22 18 19 29 30 35
Fettgewebe 93 97 —_ —_ 97 89
Aus dieser Tabelle geht in voller Bestätigung der Stoffwechselversuche
hervor, daß vor allem das Fettgewebe beim Hungern zugrunde geht. Ferner
finden wir, daß die drüsigen Organe — die Milz, die Leber, das Pankreas —
in einem beträchtlichen Umfange leiden, sowie daß auch die Skelettmuskeln
in einem sehr großen Umfange zerstört werden. Nach Voit und Kumagawa
würde dagegen das Herz nur wenig an Masse einbüßen, während dasselbe
nach Chossat und Sedlmair sehr stark abnimmt. Das zentrale Nerven-
system scheint dagegen nur in sehr geringem Grade durch das Hungern
zu leiden.
Die zuletzt erwähnte Erscheinung könnte dafür sprechen, daß diejenigen
Organe, deren Tätigkeit für das Leben am wichtigsten ist, trotz eines pro-
longierten Hungerns nicht an Masse abnehmen und also ganz speziell auf
Kosten der übrigen Organe ernährt werden, und man könnte auch in dem
geringen Gewichtsverlust des Herzens bei den Versuchen von Voit und
Kumagawa eine Bestätigung dieses Schlusses finden. Da aber das Gewicht
!) M&m. present6s par divers savants ä l’Acad&mie des sciences. Paris. 8, 438,
1843; zit.nach Voit, 8.95.—*) Zeitschr. f. Biol. 2, 351, 1866, 13tägiges Hungern. —
®) Mitt. der med. Fakultät der Universität zu Tokio 3, 1, 1894. Die bier mit-
geteilten Zahlen sind von E. Voit (Zeitschr. f. Biol. 46, 195, 1904) auf fettfreies
Tier berechnet, 24tägiges Hungern. — *) Zeitschr. f. Biol. 37, 41, 1899, 28-, bzw.
35tägiges Hungern.
390 Der Gewichtsverlust der Organe beim Hunger.
des zentralen Nervensystems an und für sich sehr gering ist und die Er-
fahrungen Chossats und Sedlmairs bezüglich des Herzens ganz anders
als die von Voit und Kumagawa lauten, so dürfte aus diesen Beobachtungen
keine bestimmte Schlußfolgerung gezogen werden können, obgleich das
Material jedenfalls eine Andeutung davon gibt, daß beim Hungern die be-
sonders tätigen Organe ihre Arbeit auf Kosten der übrigen Organe ausführen.
Diese Anschauung hat aber durch andere Untersuchungen eine sehr
wichtige Stütze gefunden. E. Voit fütterte Tauben mit sehr kalkarmem
Futter; die Knochen, welche bei den Bewegungen der Tiere benutzt wurden,
verlieren dabei kaum etwas an Gewicht, während das Brustbein und der
Schädel zu ganz dünnen, löcherigen Gebilden verwandelt worden waren !).
Da die Kost die zum Unterhalt des Körpers notwendige Kalkmenge nicht
enthielt, wurde Kalk von den „untätigen* Knochen abgegeben, um den
„tätigen“ zur Verfügung gestellt zu werden. Daß auch beim vollständigen
Hungern die Knochen ihre anorganischen Bestandteile abgeben, geht aus
Munks?) Beobachtungen an hungernden Menschen und Tieren hervor.
Sehr demonstrativ ist auch folgende Beobachtung von Miescher?°). Der
Rheinlachs zieht im besten Ernährungszustande aus dem Meere, bleibt aber
sechs bis neun Monate lang im Süßwasser, ohne irgendwelche Nahrung zu
genießen. Während dieser Zeit magert er natürlich in sehr hohem Grade ab,
die Geschlechtsorgane, die Hoden und die Eierstöcke entwickeln sich aber
auf Kosten der abnehmenden Skelettmuskeln zu einem enormen Umfange.
Hierher gehört auch die Verwandlung der Batrachierlarven, z. B. der der
Geburtshelferkröte (Alytes obstetricans). Wenn dieselbe gegen Ende Mai aus-
gewachsen ist und eine Länge von. etwa 8cm erreicht hat, hört sie auf zu fressen.
Die Länge des eigentlichen Körpers beträgt etwa 3 cm, und der mächtige Ruder-
schwanz stellt also einen sehr großen Teil der Masse des Tieres dar. In der Zeit
von etwa fünf Wochen wird nun infolge des Hungers der ganze Schwanz auf-
gezehrt, indem er sich von Tag zu Tag verkleinert, während auf seine Kosten die
Hinter- und Vorderbeine aus dem Rumpfe hervorwachsen (Pflüger‘).
Es scheint daher die Auffassung gestattet zu sein, daß sämtliche Organe
beim Hungern ihre Beiträge zum Unterhalt des Gesamtkörpers abgeben; die-
jenigen Organe aber, deren Tätigkeit in erster Linie für das Leben in Betracht
kommt, leisten ihre Arbeit auf Kosten der übrigen: ihr Nahrungszustand leidet
daher weniger als der der anderen Organe, und sie nehmen verhältnismäßig.
wenig an Gewicht ab. a“
Früher oder später trifft aber die Zeit ein, wo das durch diese Be-
steuerung der Organe angeschafite Material nicht mehr genügt, um die
lebenswichtigsten Organe und Verrichtungen zu unterhalten. In dieser
Hinsicht verhalten sich verschiedene Tiere und verschiedene Individuen sehr
verschieden: junge Tiere haben eine sehr geringe Widerstandskraft, neu-
geborene Hunde sterben schon innerhalb 72 Stunden; erwachsene Hunde sind
!) Amtl. Ber. d. 50. Vers. d. deutschen Naturf. in München 1877, 8. 242, zit.
nach Voit. — ?) Arch. f. path. Anat. 131, Suppl., $. 171, 1893; Arch. f. d. ges.
Physiol. 58, 336, 1894. Vgl. auch Sedlmair, Zeitschr. f. Biol. 37, 25, 1899;
E. Voit, ebenda 46, 167, 1904. — °) F. Miescher, Histochemische u. physiol,
Arbeiten 2, 124, 1880; vgl. auch Boyd, Dunlop, Gillespie, Gulland, Greig,
Mahalanobis, Newbigin und Paton, Journ. of Physiol. 22, 333, 1898. — *) Arch.
f. d. ges. Physiol. 29, 78, 1882; 54, 403, 1893.
Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Nahrung. 391
bei absoluter Karenz bis zu 60 Tagen am Leben geblieben; erwachsene
Menschen haben 40 bis 50 Tage lang gefastet, ohne zu sterben — unwider-
ruflich kommt aber der Tag, wo das Leben erlischt. Wenn die Tiere in
Watte eingebettet und dadurch der Wärmeverlust vermindert wird, kann der
Tod allerdings noch einige Zeit aufgeschoben werden. Es dauert indes nun-
mehr nicht lange, bis die Störungen der lebenswichtigsten Organe so weit
fortschreiten, daß das Leben nicht mehr möglich ist, das Tier stirbt.
Viertes Kapitel.
Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Nahrung.
Wenn ein Tier beliebig große Mengen der N-freien Nahrungsstoffe, aber
kein Eiweiß aufnimmt, so scheidet es nichtsdestoweniger Stickstoff im Harn
und Kot ununterbrochen aus; wenn mit dieser Diät genügend lange fort-
gefahren wird, tritt der Tod an N-Hunger unvermeidlich ein. Dennoch hält
der Körper bei alleiniger Zufuhr von N-freier Kost länger aus als bei voll-
ständigem Hungern. Haben wir ja schon beim Studium des Hungerstoff-
wechsels gesehen, wie die zugrunde gehende Eiweißmenge geringer ist, so-
lange der Körper Gelegenheit und Vermögen hat, Fett in genügender Menge
zu zerstören, sowie daß die Zufuhr von Fett oder Kohlehydraten den Eintritt
der prämortalen Steigerung der N-Abgabe unter Umständen wenigstens ver-
hindern oder aufschieben kann. In derselben Richtung gehen die an
Kaninchen gemachten Beobachtungen von Oertmann!): bei möglichst N-
armem, hauptsächlich aus Kohlehydraten bestehendem Futter blieben die Tiere
noch bis zu 61 Tagen am Leben, während Kaninchen bei vollständiger
Nahrungsentziehung viel früher verenden.
Auf der anderen Seite ist es bei einem Tiere, dessen Verdauungsorgane die
Resorption ausreichender Eiweißmengen gestatten, möglich, durch alleinige Zu-
fuhr von Eiweiß bleibend den Körper völlig leistungsfähig zu erhalten. Das
beste Beispiel davon haben wir in einem Versuch von Pflüger?), der einen
äußerst mageren Hund von etwa 30 kg Gewicht fast 3/, Jahre lang mit möglichst
fett- und glykogenfreiem Fleisch fütterte. Nach dieser Zeit war das Tier, ob-
gleich es dabei eine sehr beträchtliche Arbeit ausführte, noch sehr leistungsfähig.
Da wir in betreff der chemischen Vorgänge bei der Stoffzersetzung im
Körper keinen wesentlichen, prinzipiellen Unterschied zwischen dem Hunde
und dem Menschen voraussetzen können, läßt es sich theoretisch sehr wohl
denken, daß auch der Mensch sich ausschließlich mit Eiweiß ernähren könnte.
Indes kommt hier die Leistungsfähigkeit der Verdauungsorgane noch in Be-
tracht, und die Erfahrung hat gezeigt, daß diese nicht vermögen, dauernd
Eiweiß in solcher Menge zu verdauen und dem Blute abzugeben, wie sie für
den Unterhalt des Körpers nötig wäre, und aus diesem Grunde ist der Mensch
immer gezwungen, neben dem Eiweiß auch N-freie Nahrungsstoffe zu genießen.
Da das Eiweiß also unter den organischen Nahrungsstoffen eine bestimmte
Ausnahmestellung einnimmt, ist es angezeigt, die Darstellung des Stoffwechsels
bei Zufuhr von Nahrung mit dem Studium des Eiweißes zu beginnen.
1) Arch. f. d. ges. Physiol. 15, 375, 1877. — ?) Ebenda 50, 98, 1891; 96, 331, 1903.
392 Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Eiweiß.
$ 1. Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Eiweiß).
Noch heutzutage sind die von Bischoff und Voit ausgeführten Unter-
suchungen über den Eiweißstoffwechsel vor allem maßgebend. Daher teile
ich zur Orientierung in erster Linie eine Zusammenstellung einiger Beob-
achtungen von diesen Autoren hier mit?).
N-Abgabe, | | Dauer
Hund I°) |N-Aufnahme | Durchschnitt pro Tag | N-Bilanz IR:
Nr. 1858 pro Tag pro Tag NEN N.
im Harn | im Kot | Summe
Datum g g g £ g Tage
1 9.—15. Nov. 61,2 56,5 1,0 97,9 + 3,7 7
24510:==17. 15 51,0 50,6 0,8 51,4 — 0,4 2
3 | 18.—19. „ 40,8 41,3 0,6 41,9 — 11 2.
4 11:20.—21.° ; 30,6 36,6 0,5 37,1 — 6,5 2
5 122,23. , 20,4 22,9 0,2 23.1 —27 2
6 || 24.—25. „5 10,2 15,2 0,2 15,4 —)2 2
7 || 26,—27.. „ 6,0 12,5 _ 12,5 — 6,5 2
8 || 28.—30. „ 0 7,7 —_ 7,7 — 7,7 3
9 1.— 4. Dez. 61,2 57,8 0,6 58,4 —+ 2,8 +
10 ee 85,0 80,6 0,8 | 81,4 + 3,6 3
N-Abgabe, x
Hund II?) | N-Aufnahme ae pro Tag |N-Bilanz SRURRER
Nr. 1858 pro Tag pro Tag Er
im Harn | im Kot | Summe ii
Datum g g g £ g Tage
1 | 25. Aug. f) 7,6 an. 7,6 — 7,6 1
2 | 26. n f) 6,5 in) 6,5 —65 1
——
3 |. 27.—28. , 10,2 12,9 12,9 BE 2
4 129. Aug.—1.Sept. 20,4 22,6 22,6 — 2,2 +
5 | 2.—3. Sept. | 30,6 32,0 32,0 — 14 2
6 ae a EE 40,8 40,1 40,1 + 0,7 2
+7. 51,0 49,2 92 | +1,8 2
ı I I
!) Das Verhalten der P-haltigen Eiweißstoffe wird im Zusammenhange mit
den Aschebestandteilen erörtert werden (Kap. X). — ?) Das bei diesen Versuchen
benutzte Fleisch war gutes, frisches Kuhfleisch, jederzeit sehr sorgfältig von
Knochen, Knorpel usw. rein präpariert. Verschiedene Analysen ergaben, daß es
durchschnittlich nicht mehr als 1 Proz. Fett enthielt. Als Durchschnittswert für
den N-Gehalt des gefütterten Fleisches wird nach mehreren Analysen die Zahl
3,4 angenommen. — Im Harn wurde nur der Harnstoff, nicht der Gesamtstickstoff
bestimmt, was aber nur einen verhältnismäßig geringen Fehler hat veranlassen
können. Die Resultate der Versuche werden von Voit in der Regel als „Fleisch“
aufgenommen. Um dieselben mit den späteren Untersuchungen leichter vergleich-
bar zu machen, habe ich sie hier und im folgenden in Stickstoff angegeben. —
®) Bischoff u. Voit, Die Gesetze der Ernährung des Fleischfressers. Leipzig u.
Heidelberg 1860, Tabelle; Voit, Zeitschr. f. Biol. 3, 74, 1867. — *) Voit, Zeitschr.
f. Biol. 3, 29, 84, 1867.
Pe EN RN
ae due ee ee Ben
u Ge ee
Einfluß verschiedener Eiweißmengen. 393
Aus diesen Versuchen folgt, daß bei vermehrter Zufuhr von Eiweiß auch
die Eiweißzersetzung zunimmt, und zwar wird in den meisten Fällen nicht
allein die gesamte zugeführte Eiweißmenge zersetzt, sondern ein Teil des
Körpereiweißes geht außerdem zugrunde; nur bei sehr reichlicher Fleisch-
zufuhr tritt Gleichgewicht ein oder erfolgt sogar eine Retention von Stick-
stoff im Körper.
Wesentlich in derselben Weise verhält sich der Eiweißumsatz, wenn das Futter
nebst Eiweiß auch Fette oder Kohlehydrate enthält. Auch jetzt steigt die Eiweiß-
zersetzung in nahezu gerader Proportion zu der gefütterten Eiweißmenge, obgleich,
wie später näher auszuführen ist, die absolute Größe des Eiweißzerfalls bei Zugabe
von Fett oder Kohlehydraten etwas herabgesetzt wird. Als Belege verweise ich
auf folgende Versuche von Bischoff und Voit!).
| pro Tag || Abende, | wanitanz | Dauer
Nr. etc | Durchschnitt pro Tag des
| N-. |.Fetk pro Tag Versuchs
g g g g | Tage
1 || 22. Nov. bis 1 Dez. 1857 51 | 250 || 7,9 — 2,8 10
2 2. Dez. 8,5 | 250 9,2 —0,7 1
3 Bes 11,9 | 250 _ _ 1
4 ae | 15,3 | 250 11,7 + 3,6 1
5 |5. Dez. 1857 bis5. Jan. 1858| 17,0 | 250 15,1 + 1,9 32
6 6. bis 8. Jan. 25,5 | 250 22,4 + 3,1 3
* "ER 5 Reel 34,0 | 250 29,8 +42 3
8 7 a? 42,5 | 250 39,2 + 3,3 3
9 re 51,0 | 250 47,0 + 4,0 4
| 5
| Babe. Tubes: N-Bilanz He
Nr. Datum urchsehnitt pro Tag >
| N | Stärke pro Tag Versuchs
I 8 g g 8 Tage
1 22. März 1858 23,8 150 26,3 — 25 1
2 5, NER 20,4 150 23,1% — 2,7 1
3 a 14,6 200 18,8 — 42 1
4 25. bis 28. März 8,8 |250-350 13,4 — 4,6 4
5 | 31. März bis 1. April 5,1 |350-430 10,7 — 5,6 2
6 2. bis 3. April 0 450 | 5,7 —5,7 2
} l
Wie der Körper sehr verschiedene Eiweißmengen zersetzen kann, so ver-
mag er es auch, sich mit sehr verschiedenen Quantitäten Eiweiß in Stick-
stoffgleichgewicht zu stellen (vgl. S.353), vorausgesetzt, daß die betreffende
Kost genügend lange verabreicht wird.
Wie leicht ersichtlich, kann dies jedenfalls nur innerhalb gewisser Grenzen
stattfinden: erstens gibt es eine untere Grenze, unterhalb deren die Eiweiß-
Y!) Bischoff u. Voit, a. a. O., Tab.; Voit, Zeitschr. f. Biol. 5, 332, 338,
433, 1869.
394 Einfluß verschiedener Eiweißmengen.
zufuhr nicht sinken darf, ohne daß N-Hunger eintritt, und zweitens findet
sich eine obere Grenze, welche, wie es scheint, von der Verdauungs- und Re-
sorptionsfähigkeit des Darmes bestimmt wird, indem der Körper nach einiger
Zeit wenigstens es vermag, jede noch so große Menge resorbierten Eiweißes
zu zersetzen.
Um die Art und Weise zu zeigen, wie sich der Körper ins N-Gleich-
gewicht stellt, verweise ich auf folgende zwei Versuche von Voit!).
Fall I
Ta N-Zufuhr | N-Abgabe N-Bilanz
5 pro Tag pro Tag pro Tag
1863 g£ RER g
as 77 ER 17,0 184.4, —18
IH. 2.5 Syke 51,0 41,6 +94
BE 51,0 44,5 ° +65
8. ; | 51,0 47,3 + 3,7
RR Re RR 51,0 47,9 +31
RR N 51,0 49,0 + 2,0
a 49,3 +1,77
7 ls ar Sec Zehn airne | 51,0 51,0 0
Summa 1. bis 7. Juni . . a v1 2,
Fall I.
Ta | N-Zufuhr | N-Abgabe N-Bilanz
5 pro Tag pro Tag pro Tag
1863 £ g g-
13. April | 51,0 51,0 0
Its | 34,0 39,2 — 5,2
+ Me a ra 36,9 — 2,9
Lore. a 34,0 37,0 — 3,0
Er BE. 36,7 —37
18... EN 34,0 34,9 — 0,9
Summa 14. bis 18. Apzil t nusa ae — 14,7
Beide Versuche sind an demselben Hunde ausgeführt. In Fall I hatte das
Tier vorher täglich 17g N im Fleisch bekommen; es war mit dieser N- Menge
nicht im Gleichgewicht, sondern gab von seinem Körper noch 1,6g N ab. Jetzt
wurde die N-Zufuhr auf 51 g gesteigert. Der N-Umsatz stieg dabei sogleich auf
41,6g an und betrug während der folgenden Tage bzw. 44,5, 47,3, 47,9, 49,0, 49,3,
51,0. Das N-Gleichgewicht trat erst am siebenten Tage ein. Bei vermehrter N - Zu-
fuhr steigt also der N-Umsatz sogleich an, ist aber anfangs kleiner als die Zufuhr
und wird erst nach einigen Tagen derselben gleich.
Fall II stellt das Spiegelbild des ersten Falles dar. Hier war das Tier vorher
mit 51g N im Fleisch im N-Gleichgewicht. Wenn nun die N-Zufuhr auf 34 g herab-
gesetzt wird, sinkt der N-Umsatz sogleich auf 39,2 und beträgt während der folgenden
Tage bzw. 36,9, 37,0, 36,7, 34,9g. Erst am fünften Tage nähert sich das Tier dem
N-Gleichgewicht, hat aber während dieser Zeit 14,7g N von seinem Körper ver-
loren. Bei verminderter N-Zufuhr sinkt also der N-Umsatz sogleich herab, ist aber
anfangs größer als die Zufuhr und nähert sich im Laufe einiger Tage derselben.
!) Zeitschr. f. Biol. 3, 79, 1867.
Das Stickstoffgleichgewicht. 395
Zur Erklärung der Tatsache, daß bei genügend großer Vermehrung der
Zufuhr Stickstoff anfangs im Körper zurückgehalten wird, können mehrere
Hypothesen aufgestellt werden. Es könnte der Fall sein, daß dies von der
Anhäufung N-haltiger Stoffwechselprodukte im Körper bedingt wäre. Dem-
gegenüber läßt sich aber bemerken, daß diese Produkte bei einigen Versuchen
- eine mit dem Bestand des Lebens unvereinbare Menge betragen würden.
Bei einem Hunde von 32 kg, der sechs Tage lang mit 1500 g Fleisch gefüttert
war und acht Stunden nach Fütterung mit 2000 g Fleisch getötet wurde,
fand Schöndorff!) in Muskel, Herz, Leber, Nieren, Gehirn, Milz, Pankreas
und Blut, welche zusammen etwa 53 Proz. des Körpergewichtes betrugen, 16,9 g
Harnstoff. Im ganzen Tiere hätten also 34 g Harnstoff vorhanden sein können.
In dem oben mitgeteilten Versuch mit 51 g N hatte das Tier ein Körpergewicht
von etwa 30kg und hielt während sechs Tagen insgesamt 26,4g N zurück,
. was, als Harnstoff berechnet, etwa 60 g beträgt. Es ist also nicht möglich, daß
der Stickstoff in Form von Harnstoff im Körper zurückgehalten worden wäre.
Außerdem besitzen wir direkte Versuche von Voit, nach welchen der im
Körper befindliche Harnstoff tatsächlich im Laufe desselben Tages vom Körper aus-
geschieden wird?). Er gab einem Hunde, der sich mit 51g N im N-Gleichgewicht
befand, drei Tage lang noch Harnstoff und beobachtete dabei im Harn einen dieser
Harnstoffmenge genau entsprechenden Überschuß, wie aus folgender Zusammen-
stellung ersichtlich ist.
N .‘
- ß im H
5 N im Fleisch | im’ gefütterten | N im Harn | = nee ee:
Tag bei Zufuhr von Harnstoff
Harnstoff
g g g g
1 51 — 51,7 —
2 51 2,5 54,4 2,7
3 51 2,4 54,1 2,4
4 51 3,7 55,5 3,8
5 51 L 51,7 =
SUMME: dns ep 8,6 _ | 8,9
Daß auch intermediäre N-haltige Zersetzungsprodukte nicht in größerer
Menge von einem Tage zum anderen zurückgehalten werden, geht teils daraus,
daß die mit dem Fleisch aufgemommenen N-haltigen Extraktivstoffe Tag für Tag
quantitativ ausgeschieden werden, teils auch aus dem folgenden Versuch hervor.
Reicht man einem Hunde viel Leim und wenig Fleisch, so wird eine große Menge
von Harnstoff oder intermediären N-haltigen Zersetzungsprodukten ausgeschieden;
würde nun ein Teil derselben im Körper zurückgehalten werden, so müßte, wenn
man einen Hungertag folgen läßt, beträchtlich mehr Harnstoff abgegeben werden
als nach Darreichung der geringen Gabe von Fleisch allein.- Voit?) gab nun einem
Hunde von 22kg Gewicht 200g Fleisch und 200g Leim, wonach dieser im Tag
im Mittel 34,0 N entleerte; am darauf folgenden Hungertage erschienen nur 7,6g N,
das heißt nicht mehr als gewöhnlich beim Hungern nach voraufgehender Fütterung
mit 200g Fleisch. i
Ebenso deutlich tritt dies aus Versuchen über die Ausscheidung des Kreatinins
und der Harnsäure hervor; auch verläuft die Schwefelausscheidung während der
») Arch. f. d. ges. Physiol. 74, 355, 1899. — ?) Zeitschr. f. Biol. 2, 51, 1866. —
®) Voit, 8. 59.
396 Die Retention von Stickstoff.
ersten Hungertage nach reichlicher Fleischfütterung der N-Ausscheidung parallel,
was nicht möglich wäre, wenn der dabei abgegebene Stickstoff nicht von Eiweiß
herstammen würde (Gruber!).
Nach diesen und anderen Erfahrungen scheint zur Erklärung der zeit-
weiligen Retention von Stickstoff nur die Annahme übrig zu bleiben, daß
dieser Stickstoff tatsächlich in Form von Eiweiß oder dessen Verdauungs-
produkten im Körper zurückgehalten wird.
Damit ist aber nicht gesagt, daß dieses Eiweiß in den Zellen und Ge-
weben als organisierte lebende Substanz angesetzt wird. Vollständig läßt
sich ja diese Möglichkeit nicht ausschließen, und daß dies in vielen Fällen
tatsächlich geschieht, steht außer jedem Zweifel. Ebenso unzweifelhaft ist es
aber, daß ein anderer Teil des resorbierten Eiweißes als totes Eiweiß eine
Zeitlang unzersetzt bleibt und den Eiweißvorrat der Körperflüssigkeiten usw.
erhöht. Dafür spricht unter anderem die sogleich zu besprechende Erfah-
rung über die Eiweißzersetzung bei Verminderung der Eiweißzufuhr und
während der ersten Hungertage.
Die Ursachen dieser Retention von totem Eiweiß sind insbesondere von
Gruber?) erörtert worden, und zwar kommt er dabei zu folgendem Schlusse,
welcher mit den neueren Erfahrungen über die Verdauung und Resorption
des Eiweißes in einer sehr guten Übereinstimmung steht.
Aus dem genossenen Eiweiß werden unter dem Einfluß der verschiedenen
Verdauungsflüssigkeiten verschiedene Verbindungen gebildet, welche nicht
mit gleicher Leichtigkeit im Körper zerlegt werden. Die Mehrzahl derselben
wird sehr schnell angegriffen und sehr schnell in ihre Endprodukte zer-
setzt; es finden sich aber darunter auch solche Verbindungen, welche wider-
standsfähiger sind und daher nur allmählich zugrunde gehen. Infolgedessen
wird sich die Abgabe der einer bestimmten Eiweißmenge entsprechenden Ab-
fallstoffe auf eine kürzere oder längere Reihe von Tagen verteilen müssen.
Um dies zu erläutern, nimmt Gruber rein willkürlich an, daß 80 Proz. des.
Nahrungseiweißes immer binnen des ersten Tages, 13 Proz. binnen des zweiten,
5 Proz. binnen des dritten und 2 Proz. binnen des vierten Tages zerlegt werden.
Innerhalb der drei ersten Tage einer neuen eiweißreicheren Fütterung muß dem-
nach Eiweißansatz und am vierten Tage N-Gleichgewicht eintreten, das dann er-
halten bleibt, solange die gleiche Fütterung fortdauert.
| Am Fütterungstage zersetzt
Aus dem Futter des | »
1:72 2 3 4 5
1. Fütterungstages . . . . . . | 2780 RT A 2 2
2. BR U a |. 5 2
3. : BR a 13 5
4. . a Be Tr 80 13
5. a 27 Te E = 80
Summa ,.. | so | 08 | 98 100 100
Aus demselben Gesichtspunkte läßt sich auch, zum Teil wenigstens, der
in Fall II (S.394) stattfindende Verlust an Stickstoff bei Verminderung der
Eiweißzufuhr auffassen. Das aus der früheren Kost stammende, noch nicht
!) Zeitschr. f. Biol. 42, 416, 1901. — ?) Ebenda, 8. 422,
2 he A u
Die N-Abgabe beim Hunger. 397
zersetzte Eiweiß vermehrt einige Tage lang die Eiweißzersetzung, bis diese
Reste zugrunde gegangen sind.
Außerordentlich klar tritt uns dieses Verhalten während der ersten
Hungertage entgegen. Wenn ein und dasselbe Tier zu wiederholten Malen
auf Hunger gesetzt wird, nachdem es vor demselben bei den verschiedenen
Versuchsreihen ein an Stickstoff verschieden reiches Futter bekommen hat,
so ist die N-Abgabe im Harn während der ersten Hungertage um so größer,
je größer die vorher gefütterte Eiweißmenge war. Von dem vierten oder
fünften Hungertage an tritt aber in allen Reihen, unabhängig von der ver-
fütterten Eiweißmenge, die gleiche N-Abgabe auf. Als Belege sei auf folgende
Versuche von Voit!) verwiesen.
N-Abgabe
Reihe 11 | Reihe 15 | Reihe 7
g g g
1. Hungertag . ... . 28,1 12,4 6,4
2 Be 11,6 8,7 5,4
BE et 8,9 7,3 4,8
4. ee ER, 8,1 7,0 5,7
5 EA RRE S 5,7 6,9 5,7
6 Eee 6,2 6,0 5,9
7 Bu Ge ae 4,8 6,0 5,3
8. EN ne ak 4,7 5,7 5,1
Vor dem Hunger im Gemischtes
a sa 85,0 | 51,0 Futter
Indessen wissen wir aus verschiedenen Beobachtungen, daß es unter
Umständen beträchtlich länger dauert, bis sich bei verminderter Eiweißzufuhr
das N-Gleichgewicht wiederherstellt. In solchen Fällen dürfte der Körper,
aller Wahrscheinlichkeit nach, von seiner Organmasse Eiweiß abgegeben
haben, bis er sich an die kleine Eiweißmenge im Futter gewöhnt hat, ebenso
wie ein länger dauernder Ansatz von Eiweiß wohl als Ausdruck einer Neu-
bildung von Organmasse aufgefaßt werden muß (vgl. oben, S. 396).
In genau derselben Weise wie bei ausschließlicher Eiweißnahrung stellt sich
der Körper ins N-Gleichgewicht, wenn das Futter nebst Eiweiß auch Fett oder
Kohlehydrate enthält, wie z. B. in folgenden Versuchen von Voit?).
A. Eiweiß und Fett.
Fall I.
Aufnahme pro Tag N-Abgabe | N-Bilanz
Tag N | Fett pro Tag | pro Tag
g | g | g g
6. Januar 1858 ...... 385.11, 5.950 20,1 + 5,4
7% = 255 | 250 | 23,0 +25
EREN Bu. + ae 25,5 | 250 | 1 +14
Vorher 500g Fleisch (= 17,0g N) und 200g Fett.
!) Zeitschr. f. Biol. 2, 311, 1866. — °) Ebenda 3, 34, 1867; 5, 348, 443, 1869.
398 Die Eiweißzersetzung unter dem Einfluß von Fett und Kohlehydraten.
Fall I.
Aufnahme pro Tag N-Abgabe | N-Bilanz
Tag pro Tag pro Ta
N Fett
g g g g
20. Februar 1861... .. 13,6 200 21,6 — 8,0
BLNER N RE 13,6 200 19,2 — 5,6
air. Kl UT DOT, 13,6 200 16,9 — 3,3
8. RE 13,6 200 16,0 — 124
lie RE . 13,6 200 15,3 — 1/7
Vorher 1800g Fleisch (= 61,2g N).
B. Eiweiß und Stärke.
Fall Il.
Aufnahme pro Tag | N-Abgabe | N-Bilanz
Tag pro Tag pro Tag
N Stärke
g g Y g
29. März 1861.11 7 WEM 27,2 450 14,8 + 12,4
20,5: N Er 278. 450 21,1 + 61
31.%; A Re, 61,2 450 45,6 + 15,6
1 ABl a a 61,2 450 50,2 + 11,0
Vorher nur 450g Stärke.
Fall I.
Aufnahme pro Tag | N-Apgabe | N-Bilanz
Tag pro Tag pro Tag
N Stärke
g g g g
13.,4U.51869- areas 13,6 400 20,8 — 12
ie: ER 13,6 400 17,9 4
EI OS Fa 13,6 400 15,5 —uR
3 ER SE 13,6 400 15,2 — 1,6
Vorher 1500g Fleisch = 5lg N und 200 g Stärke.
Die nahe Abhängigkeit des Eiweißumsatzes von der Eiweißzufuhr geht
auch aus den Erfahrungen über den stündlichen Ablauf der N-Ausgabe nach
N-haltiger Kost sehr prägnant hervor.
An Hunden sind Versuche in dieser Richtung von Panum!), Feder?),
Falck°®), Krummacher‘*), Gruber’) u. a. ausgeführt worden. Dieselben
Y) Nord. med. Arkiv 6, Nr. 12, 1874. — ?) Zeitschr. f. Biol. 17, 531, 1881. —
8) Falck, Beiträge zur Physiologie usw. 1, 185, 1875. — ) Zeitschr. f. Biol. 35,
494, 1897. — °) Ebenda 42, 420, 1901.
ai hit al on ia za
Der stündliche Verlauf der N-Abgabe. 399
stimmen in allem Wesentlichen gut überein, und ich kann mich daher auf die
Wiedergabe einer einzigen Untersuchung beschränken. Zu diesem Zwecke wähle
ich die von Feder, weil hier die Versuchsbedingungen am meisten variiert
worden sind.
Vor jedem Versuche wurde die Blase entleert, wonach das Tier das für den
Tag bestimmte Futter erhielt und in wenigen Minuten verschlang. Die Blase
wurde dann nach jeder zweiten Stunde katheterisiert.
In erster Linie wollte Feder den zeitlichen Verlauf der N-Abgabe nach
mehrtägigem Hungern feststellen. Die Ergebnisse zweier solcher Versuche sind in
Fig. 29, Kurve I und II graphisch dargestellt worden. In demselben kommen
allerdings gewisse Schwankungen vor; diese sind aber nur geringfügig, und wir
können daher sagen, daß die N-Abgabe beim hungernden Hunde, der sich, wie
bekannt, nur sehr wenig bewegt, von Stunde zu Stunde im großen und ganzen
sehr wenig variiert.
Fig. 29.
dg
De 1000 g Fleisch VI
1 ug
TG ET
Be 500 g Fleisch, 150 g Speck III
500g Fleisch IV
a F-—___ 1} Hunger I, U
0
0 4 8 12 16 20 24: Stunden
Die stündlichen Variationen der N-Abgabe beim Hunde nach Feder. Die dicke Linie stellt
den Verlauf der Eiweißresorpfion im Darme dar.
Ein ganz anderes Aussehen bieten die Kurven IV und VI dar, welche sich
auf Fütterung mit reinem Fleisch (in IV mit 500 g = 17 gN, in VI mit 100g =
34 N) beziehen. Nicht allein die absoluten Zahlen für die N-Abgabe sind hier
beträchtlich größer, im Laufe des Tages treten außerdem noch sehr bedeutende,
regelmäßig verlaufende Schwankungen derselben auf, welche unbedingt mit der
Eiweißzufuhr in Zusammenhang gebracht werden müssen.
Schon längere Zeit vor dem Versuche war das Tier mit den gleichen Fleisch-
mengen gefüttert worden, und es stand daher mit denselben etwa im N-Gleich-
gewicht. Aus den Kurven geht hervor, wie die N-Abgabe durch das Futter sofort
in die Höhe getrieben wird, in der sechsten bis achten Stunde ihr Maximum er-
reicht und dann wieder allmählich auf den Nüchternwert herabsinkt, welcher für
die 22, bis 24.- Stunde bei 500 g Fleisch 0,57 und bei 1000 g Fleisch 1,03 g N
beträgt.
Von vornherein ist es deutlich, daß diese Schwankungen von dem zeitlichen
Verlauf der Resorption aus dem Verdauungsrohre bedingt sein müssen. Um diese
Frage näher aufzuklären, empfiehlt es sich, diese Resultate mit denjenigen zu ver-
gleichen, welche über den Verlauf der N-Resorption beim Hunde vorliegen. Zu
diesem Zwecke ist die stark ausgezogene Kurve in die Fig. 29 gezeichnet. Dieselbe
400 Der stündliche Verlauf der N-Abgabe.
gibt nach Schmidt-Mühlheim') an, wieviel Prozent der gesamten gefütterten
Eiweißmenge während der sechs ersten zweistündigen Verdauungsperioden aus dem
Verdauungsrohr resorbiert wurden. Die Anordnung der betreffenden Versuche
machte es notwendig, für jede einzelne Bestimmung ein besonderes Tier zu opfern,
und infolgedessen leiden die Ergebnisse an einer gewissen Unsicherheit. Jedoch
können wir mit großer Wahrscheinlichkeit aus denselben folgern, daß die Eiweiß-
resorption während der ersten zwei Stunden am reichlichsten ist und während der
folgenden zehn Stunden langsamer, aber ziemlich gleichmäßig fortgeht, sowie daß
zu der zwölften Stunde schon etwa 95 Proz. des gefütterten Einweißes aus dem
Darme verschwunden sind.
Während der ersten und in einem noch höheren Grade während der zweiten
Periode nach der Fütterung steigt die N-Abgabe sehr beträchtlich an. Zu dieser
Zeit sind schon 47 Proz. des gefütterten Eiweißes resorbiert worden. Zur Zeit der
maximalen N-Abgabe sind vom Eiweiß 56,5 Proz. zum Blute übergegangen.
Indes ist während der ersten sechs Stunden die ganze resorbierte N-Menge bei
weitem nicht ausgeschieden, denn am Ende der sechsten Stunde sind im Versuche IV
nur 33,5, im Versuche VI nur 34,4 Proz. der ganzen N-Menge im Harne erschienen.
Bis 56,5 Proz. des Stickstoffes vom Körper abgegeben werden, dauert es in beiden
Versuchen etwa neun Stunden.
Es findet sich also, wie übrigens zu erwarten ist, eine deutliche Verschiebung
zwischen den Kurven der N-Resorption und der N-Ausscheidung. Dieselbe ist leicht
zu erklären, denn erstens werden die resorbierten N-haltigen Verbindungen doch
nicht sogleich in ihre Endprodukte verwandelt, und zweitens muß es jedenfalls
eine Zeitlang dauern, bis die letzteren durch die Nieren abgegeben werden. Unter
Bezugnahme auf diese Umstände dürfte aus dem Vergleich der beiden Vorgänge
der Schluß berechtigt sein, daß die Variationen der N-Resorption für die der N-Zer-
setzung bzw. N-Abgabe in erster Linie bestimmend sind.
Wenn nebst Fleisch auch Fett gefüttert wird (Kurve III: 500 g Fleisch und
150g Fett), bekommen die Kurven ein ganz anderes Aussehen als bei reinem
Eiweißfutter. Allerdings ist die gesamte N-Abgabe hier etwa ebensogroß als bei
Fütterung mit 500g Fleisch allein; der Verlauf derselben ist aber ein anderer,
die Ausgabe ist auf den ganzen Tag gleichmäßiger verteilt, und wir vermissen
hier sowohl den starken Anstieg als auch die plötzliche Senkung, welche den
Kurven IV und VI ein so charakteristisches Gepräge erteilen. Jedenfalls zeigen
auch diese Kurven nicht denselben gleichmäßigen Verlauf als die Hungerkurven:
schon während der zweiten Stunde nach der Fütterung erreichen sie einen ver-
hältnismäßig hohen Wert, welcher während der folgenden Stunden noch höher
ansteigt; dann nimmt die N-Abgabe eine Zeitlang ab, um schließlich am Ende des
Tages schnell ihr Minimum zu erreichen.
Diese Eigentümlichkeit hängt wohl zum Teil damit zusammen, daß der Eiweiß-
zerfall durch das gleichzeitig gefütterte Fett etwas herabgedrückt worden ist.
Hierbei kommt aber noch eine durch die Gegenwart des Fettes möglicherweise
stattfindende Verzögerung der Verdauung und Resorption des Eiweißes in Betracht.
Beim Menschen haben Voit2), Forster), Oppenheim), Sonden
und ich’), Landergren®), Tschlenoff?), Veraguth®), Rosemann?),
Tengwall!), Hopkins und Hope!!), Slosse!?2), Hawk und Chamber-
") Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1879, 8. 39. Schmidt-Mühlheim hat die
Resorption nur für die zweite, vierte, sechste, neunte und zwölfte Stunde bestimmt.
Um diese Resultate mit seinen eigenen vergleichen zu können, hat Feder die-
selben auf zweistündige Perioden umgerechnet. — ?) Voit, Physiol.-chem. Unteres. 1,
41, 1857. — ®) Zeitschr. f. Biol. 9, 383, 1873. — *) Arch. f. d. ges. Physiol. 23, 461,
1880. — °) Skand. Arch. f. Physiol. 6, 151, 1885. — °) Ebenda 7, 75, 1886. —
7) Korr.-Bl. Schweiz. Ärzte 1896, 8. 65. — °) Journ. of Physiol. 21, 112, 1897. —
®) Arch. f. d. ges. Physiol. 65, 343, 1897. — '°) Vgl. Tigerstedt, Lehrbuch der
Physiol. 1, 90, 1897. — "') Journ. of Physiol. 23, 270, 1898. — "”) Travaux du
laboratoire de physiol. de l’Institut Solvay 4, 501, 1901.
Der stündliche Verlauf der N-Abgabe. 401
lain!) u. a. ähnliche Versuche und wesentlich mit demselben Resultat wie
bei den Versuchen an Hunden ausgeführt.
Indes ist der Verlauf der N-Abgabe beim Menschen weder im Hunger
noch nach einmaliger Nahrungsaufnahme so glatt wie beim Hunde. Während
des vierten und fünften Hungertages wurde an J. A. die N-Abgabe im Harn
in zweistündigen Perioden bestimmt; dieselbe stieg (vgl. Fig. 30) zwischen
10 Uhr vormittags und 12 Uhr mittags an, um danach im weiteren Verlauf
des Tages allmählich abzunehmen. Nach den Erfahrungen an Hunden hätte
man erwartet, daß die N-Abgabe während dieser Tage im großen und
ganzen konstant gewesen wäre. Es ist möglich, daß der Anstieg damit zu-
sammenhängt, daß J. A. zwischen 8 und 10 Uhr vormittags einen Spazier-
gang im Freien machte und daß die dabei stattfindende Muskelarbeit, welche
jedenfalls die größte Anstrengung während des Tages darstellte, einen ver-
mehrten Eiweißumsatz bewirkte. Auch ist an den Einfluß eines infolge der
Arbeit erhöhten Blutdruckes zu denken, welcher eine stärkere Tätigkeit der
Nieren hat verursachen können.
Fig. 30.
3g -
Erster Eßtaz Zweiter Eßtag
RER — Fe
|
r 7 r| Hungertag re Hungertag
0
10vM. 2nM. 6 10 2vM. 6 10 2nM. 6 10 2vM. 6 10
Die stündlichen Variationen der N-Abgabe während des vierten und fünften Hungertages,
nach Landergren.
Nach einer einmaligen Nahrungsaufnahme kann sich die N-Abgabe auch
beim Menschen sehr regelmäßig gestalten. Dies scheint aber nicht als all-
gemeine Regel aufgestellt werden zu können, denn es treten oft verschiedene
Unregelmäßigkeiten auf, welche zeigen, daß noch andere Umstände als die
Resorption der Nahrung hierbei von Bedeutung sein dürften. Vor allem ist
es beim Menschen im allgemeinen nicht möglich, während einer längeren Zeit
eine gleiche, absolute Muskelruhe zu beobachten, und auch wenn die Muskel-
arbeit bei genügendem Vorhandensein von N-freien Nahrungsstoffen nicht direkt
auf Kosten des Eiweißes ausgeführt wird, so werden jedenfalls Veränderungen
des Blutdruckes dabei hervorgerufen, welche ihrerseits die Durchblutung der
Nieren und damit die Harnsekretion beeinflussen können.
Endlich findet man bei der gewöhnlichen Verteilung der Nahrungsauf-
nahme auf mehrere Mahlzeiten, daß die N-Abgabe im Harn nach jeder Mahl-
zeit mehr oder weniger ansteigt.
Trotz allen Unregelmäßigkeiten gilt also auch für den Menschen die
allgemeine Regel, daß eine vermehrte Zufuhr von Eiweiß im engsten Anschluß
an die Resorption aus dem Darme den Eiweißumsatz in die Höhe treibt.
Tschlenoff sowie später Veraguth und Slosse haben in Versuchen, bei
welchen der Harn stündlich entleert und an Stickstoff analysiert wurde, noch
verschiedene Diskontinuitäten der N-Abgabe beobachtet, welche sie mit einer zwei-
!) American Journ. of Physiol. 10, 115, 269, 1903, 1904.
Nagel, Physiologie des Menschen. I, 96
402 Der stündliche Verlauf der N-Abgabe.
zeitigen Resorption des Stickstoffs, erstens aus dem Magen, zweitens aus dem
Darme, in Zusammenhang bringen wollen. Diese Auffassung ist ja an und für
sich vollkommen plausibel, obgleich unsere Kenntnisse über die Resorption im
Magen noch zu gering sind, um einen unanfechtbaren Grund einer solchen An-
nahme darzustellen. Noch bleibt aber die Frage, ob es bei so kurzen Perioden
möglich ist, allen Harn wirklich zu gewinnen, denn das Zurückbleiben auch eines
ziemlich geringen Harnquantums in der Blase kann ja sehr wesentliche Fehler
verursachen. Bei Oppenheim verlief übrigens auch bei stündlichem Harnlassen
die N-Abgabe vollkommen gleichmäßig.
Es ist fast selbstverständlich, daß der Verlauf der N-Abgabe im Harn
nach mehrmaliger Nahrungsaufnahme im Tage weniger steile Schwankungen
darbieten muß, als wenn die gleiche Eiweißmenge auf einmal verabreicht
wird!). Es fragt sich aber, inwiefern und in welcher Richtung der gesamte
tägliche Eiweißumsatz unter dem Einfluß fraktionierter oder einmaliger
‘ Nahrungsaufnahme verändert wird.
Adrian?), welcher diese Frage zuerst erörterte, machte zu ihrer Aufklärung
Versuche, die indes nicht als beweiskräftig angesehen werden können. Die folgen-
den Untersuchungen von I. Munk°), v. Gebhardt?) und Krummacher‘) haben
entgegengesetzte Resultate ergeben. Während ersterer bei dreimaliger Fleischzufuhr
einen größeren Eiweißumsatz als bei einmaliger findet, kommen die beiden letzteren
Autoren zu dem Resultate, daß der tägliche N-Umsatz bei fraktionierter Aufnahme
geringer ist. Die Differenzen sind jedenfalls nicht bedeutend und betragen nur 5
bis 6 Proz.
Es würde zu viel Raum beanspruchen, die verschiedenen Versuche hier näher
zu erörtern. Es scheint mir indes, daß insbesondere v. Gebhardts Beobachtungen
die von ihm und Krummacher vertretene Auffassung in hohem Grade stützen,
weshalb ich in folgender Tabelle dieselben hier mitteile. Das Versuchstier befand
sich im N-Gleichgewicht, und ein und dasselbe Eiweißquantum wurde ihm ent-
weder auf einmal oder in zwei bis acht Portionen gegeben.
A Tägliche
Tägliche N-Abgabe im Dauer
Nr. Reihe N-Zufuhr anBi der Reihe
g g Tage
1 Einmalig . . . 18,0 18,01 5
2 Zweimalig Aissesnel.. 18,0 18,26 7
5 Zweimalig . . 18,0 17,91 6
4 | Viermalig a 18,0 17,24 7
B) Viermalig ; . .. .. 18,0 16,28 1
6 Achtmalig (nern. 18,0 16,77 8
7 Achuanalbe 2... 40.0 18,0 17,22 6
8) 12,9 1 ra 18,0 17,94 7
Nur in der zweiten Reihe (Übergang von einmaliger zu zweimaliger Fütterung)
ist die N-Abgabe unter den Reihen mit mehrmaliger Fütterung größer als bei
einmaliger. Sonst zeigt sich bei der fraktionierten Fütterung die N-Abgabe durch-
gehend geringer.
Zur Erklärung dieser Tatsache hebt Krummacher hervor, daß die bei ein-
maliger Aufnahme innerhalb einer kurzen Zeit resorbierte große Eiweißmenge ver-
!) Vgl. Krummacher, Zeitschr. f. Biol. 35, 495, 1897. — ?) Zeitschr. £. physiol.
Chem. 17, 616, 1893. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 58, 354, 1894. — *) Ebenda 65,
611, 1897. — °) Zeitschr. f. Biol. 35, 480, 1897. Vgl. auch die Polemik zwischen.
Munk und Krummacher, Zentralbl. f. Physiol. 11, 729; 12, 87, 41, 1898.
nn a u Ta rn
Der stündliche Verlauf der N-Abgabe. 403
hältnismäßig rasch im Körper aufgebraucht wird, während bei fraktionierter Zufuhr
die Resorption gleichmäßiger erfolgt und daher auch die Eiweißzersetzung all-
mählicher stattfindet. Der von Adrian und v.Gebhardt vertretenen Ansicht, daß
das Eiweiß bei einmaliger Darreichung durch weitgehende Spaltungsprozesse in
minderwertige Produkte verwandelt würde, wird von Munk und Krummacher
aus, wie mir scheint, guten Gründen als unhaltbar widersprochen.
Bei Zufuhr von Fleisch und Fett beobachtete Munk fast genau den gleichen
N-Umsatz, gleichgültig, ob er das Futter auf einmal oder fraktioniert gab — was
mit den früher erwähnten Erfahrungen über den zeitlichen Verlauf der N-Abgabe
bei Fütterung mit Fleisch und Fett genau übereinstimmt und zum Teil wenigstens
damit zusammenhängen dürfte, daß die Resorption von Eiweiß durch Beigabe von
‚Fett langsamer erfolgt. r
Beim Menschen kann keine Rede davon sein, die Nahrung nur einmal täglich
aufzunehmen, denn seine Verdauungsorgane sind nicht für solche Mengen, die dann
auf einmal genossen werden müßten, angepaßt. Auch zeigt ein Versuch von
J. Ranke, der 1832 g Fleisch auf einmal verzehrte — was jedenfalls nicht eine
ausreichende Nahrung eines erwachsenen, arbeitenden Menschen darstellt —, daß
von der Trockensubstanz nicht weniger als 12 Proz. im Kote gefunden wurden,
während der Verlust mit dem Kote, wenn dieselbe Fleischmenge in drei Portionen
verteilt genossen wurde, nur 5 Proz. betrug').
Die obere Grenze des N-Gleichgewichtes ist, aller Wahrscheinlichkeit
nach, von dem Resorptionsvermögen des Darmes bedingt, indem der Körper *
auch die größten Mengen von Eiweiß, die von dem Darme noch bewältigt
werden können, früher oder später Tag für Tag zersetzt.
Das Maximum von reinem Fleisch, mit welchem Voits?) großer Hund von
etwa 35 kg Körpergewicht sich ins Gleichgewicht stellen konnte, betrug 2500g =
85 g N. Bei 2600 g Fleisch mit 88,4 g N konnte er das Futter noch verdauen,
setzte davon aber 126g = 4,3g N an. Es ist indes: in höchstem Grade wahr-
scheinlich, daß das Tier nach einiger Zeit auch mit dieser Fleischmenge ins Gleich-
gewicht gekommen wäre. Bei 2900 g Fleisch (= 101,5 g N) traten schwere, von
Erbrechen und Durchfall begleitete Verdauungsstörungen auf.
Beim Menschen ist es wohl kaum möglich, eine bestimmte Zahl auf-
zustellen, welche die obere Grenze des N-Gleichgewichts ausdrücken würde.
Im allgemeinen genießt der erwachsene Mensch etwa 80 bis 150 g Eiweiß
(= 12,8 bis 24 g N) und hält sich dabei im Gleichgewicht. Aber auch viel
größere Eiweißmengen können verdaut und im Körper zersetzt werden. Bei-
spiele davon haben wir in Hultgrens und Landergrens Untersuchungen 5)
über die Kost schwedischer Arbeiter, in Ohlmüllers) Beobachtungen über
siebenbürgische Arbeiter, in den in Amerika unter Atwaters’) Leitung aus-
geführten Studien über die Nahrungsaufnahme verschiedener Bevölkerungs-
gruppen, sowie in den Ermittelungen über die Kost bei strenger körperlicher
Arbeit (Wettturnen usw.) und bei Eiweißmast. So beobachtete Jaffa ‘) beim
Trainieren für einen Fußballzweikampf in Kalifornien eine tägliche N-Aufnahme
von 43,2g (— 270g Eiweiß); Goodbody, Bardswell und Chapman’)
erwähnen zwei völlig gesunde Menschen, welche bei absichtlicher Über-
!) J. Ranke, Die Ernährung des Menschen; München 1879, 8. 309. Zit.
nach Munk. — ?) Zeitschr. f. Biol. 3, 24, 1867. — °) Hultgren und Lander-
gren, Untersuchungen über die Ernährung schwedischer Arbeiter, Stockholm 1891,
8. 15. — *) Zeitschr. f. Biol. 20, 393, 1884. — °) U. S. Depart. of Agricult., Off.
of exp. Stations, Bull. No.98, 1901. — °) Ebenda, Bull. No. 84, 1900. — 7) Journ.
of Physiol. 28, 257, 1902. Vgl. auch Lichtenfelt, Arch. f. d. ges. Physiol. 86,
182, 1901.
26*
404 Die Grenzen des N-Gleichgewichts.
ernährung 47,1 bzw. 53,9 g N (= 294 g bzw. 337 g Eiweiß) genossen. (Vgl.
auch unten im Kapitel von Eiweißansatz.)
Die untere Grenze des N-Gleichgewichtes beobachtete Voit bei dem
oben erwähnten Hunde in einem sehr herabgekommenen Zustande bei Zufuhr
von 480 g Fleisch (— 16,3 g N); für gewöhnlich genügten nicht 500 g Fleisch,
um das Tier im N-Gleichgewicht zu erhalten, sondern es verlor unaufhörlich
Stickstoff und näherte sich nur äußerst langsam dem N-Gleichgewicht!). —
Wenn aber das Tier außer Eiweiß auch Fett und Kohlehydrate im Futter
bekommt, so sinkt die untere Grenze des N-Gleichgewichtes erheblich tiefer
als bei ausschließlicher Zufuhr von Fleisch. So betrugen bei dem hier
besprochenen Tiere etwa 350 g Fleisch (— 11,9g N) das Minimum, womit
das N-Gleichgewicht erreicht werden konnte, wenn neben Fleisch 250 g Fett
gefüttert wurden?). Daß das Minimum noch viel tiefer herabgedrückt werden
kann, geht aus mehreren neueren Untersuchungen hervor,“
Auf Grund seiner Erfahrungen über den N-Umsatz ünter verschiedenen
Bedingungen kam Voit zu dem Schluß, daß die geringste gefütterte Eiweib-
menge, mit welcher sich der Körper im N-Gleichgewicht erhalten kann, auch
bei dem reichlichsten Zusatz von Fett oder Kohlehydraten immer größer ist
als die beim Hungern etwa vom vierten Tage an zugrunde gehende Eiweibß-
menge?).
Dieser Satz kann indes nicht länger aufrecht erhalten werden. Schon
Versuche von Salkowski*) und Rubner‘’) ergaben, daß man durch reich-
liche Zufuhr von Fett und Kohlehydraten bzw. durch alleinige Zufuhr von
Rohrzucker die N-Abgabe im Harn gegenüber derjenigen beim Hungern tat-
sächlich herabdrücken kann, daß also die N-Abgabe beim Hungern nicht dem
überhaupt erreichbaren Minimum des Eiweißzerfalles, soweit er sich aus dem
Harn allein beurteilen läßt, entspricht. ;
Sodann folgten Untersuchungen von I. Munk, bei welchen erstrebt
wurde, die geringste zur Herstellung des N-Gleichgewichtes notwendige
Eiweißmenge am Hunde festzustellen ®).
Unter diesen Versuchen werde ich nur den folgenden hier mitteilen, Bei einem
Hunde von 25 kg Körpergewicht betrug die tägliche N- Abgabe im Harn und Kot
während des vierten bis sechsten Hungertages durchschnittlich 6,38g. Dann wurde
ihm ein aus Fleisch, Schmalz und Stärke zusammengesetztes, an N und Fett ana-
lysiertes Futter mit 5,70 bis 6,23g& N pro Tag gegeben. Bei dieser Fütterung schied
das Tier am vierten Tage 5,81, am fünften Tage 5,02, am sechsten Tage 4,62 und
am siebenten Tage 4,682 N im Harn und durchschnittlich 0,86 & N im Kote aus.
Während der zwei letzten Tage betrug also die gesamte N-Abgabe im Mittel 5,51 g,
also 0,87 g weniger als während des vierten bis sechsten Hungertages.
Im Anschluß an die früheren Versuche von Munk machten E. Voit und
Korkunoff?) eine lange Versuchsreihe, um die vorliegende Frage aufzuklären.
Das Versuchstier bekam teils Eiweiß allein, teils Eiweiß mit Zugabe von Fett und
Kohlehydraten. Das Eiweiß bestand aus Fleisch, aus dem durch warmes Wasser
die Extraktivstoffe größtenteils ausgelaugt waren. Zum Vergleich wurde bei jeder
Reihe auch eine Hungerperiode eingeschaltet.
1) Zeitschr. f. Biol. 3, 30, 1867; Voit, 8. 112. — ?) Voit, 8. 134. — °) Zeitschr.
f. Biol. 3, 29, 1867; 5, 355, 1869. — *) Zeitschr. f. physiol. Chemie 1, 43, 1877. —
5) Zeitschr. f. Biol. 19, 357, 1883. — °) Arch. f. path. Anat. 101, 112, 1885; 132,
92, 1893; Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1896, 8. 184. — 7) Zeitschr. f. Biol. 32,
58, 1895.
u a Au
ee a Dazu
Die Grenzen des N-Gleichgewichts. 405
Gesamte | Futter | Gesamte | Bi
| Körper- | N-Abgabe 2. N-Abgabe N
Nr. | gewicht beim N | Fett Kohle- | bei PN: ei
| Hungern e hydrate | Fütterung | Fütterung
I. kB 8 RETTET ad WE a BR
1) 202 4,01 | 11,99 3,8 ee 12,04 — 0,05
N
t
2 24,0 485 | 749 85 .- 7,78 — 0,29
3 | 24,0 43 | 5 86 E= 5,72 — 0,61,
4 28,8 401 | 5,88 151 _ 5,46 + 0,42
5 24,0 886 | 5,30 159 _ 5,16 +0,14
|
6 24,1 535 -| 388 18 249 4,91 — 1,08
7 24,7 4,94 | 5,00 18 249 4,35 +0,65
8 24,0 4,93 5,07 21 334 4,48 +0,59
9) 30,0 4,08 5,88 22 286 4,47 +1,41
10 || . 27,7 4,98 5,11 16 274 5,11
Durch die Zugabe von Fett bzw. Kohlehydraten wird in Nr. 2 bis 10 der N-
Umsatz in hohem Grade herabgedrückt und N-Gleichgewicht wird in Nr. 4, 5, 7,
8, 9 und 10 bei einer N-Zufuhr von nur bzw. 5,88, 5,30, 5,00, 5,07, 5,88 und 5,l1g
erreicht. Die Ausgaben von N im Harn und Kot betragen hier bzw. 5,46, 5,16,
4,35, 4,48, 4,47, 5,11, während sie in den entsprechenden Hungerreihen bzw. 4,01,
. 3,86, 4,94, 4,93, 4,08 und ,4,98 betragen. In Nr. 7 und 8 ist also N-Gleichgewicht
bei einem N-Umsatz erreicht, der um 0,59 bzw. 0,45 g geringer ist als in den ent-
sprechenden Hungerreihen.
Aus diesen Beobachtungen würde nun unmittelbar folgen, daß sich der Körper
bei genügender Zufuhr von N-freien Nahrungsstoffen mit einer N-Menge, die tat-
sächlich geringer ist als die beim Hungern ausgeschiedene, in N-Gleichgewicht
stellen kann. Diese Folgerung lassen E. Voit und Korkunoff indes nicht gelten,
indem’ sie demgegenüber bemerken, daß der bei Hunger ausgeschiedene Stickstoff
nicht allein Eiweiß, sondern zu etwa 20 Proz. auch N-haltigen Extraktivstoffen
entstamme, während das gefütterte Fleisch von diesen Verbindungen frei war.
Sie finden daher in ihren Beobachtungen eine Bestätigung der ursprünglich von
C. Voit vertretenen, später‘) aber verlassenen Auffassung.
Meinerseits kann ich dieser Deutung der Versuchsergebnisse nicht zustimmen.
Wenn ich mich auf den Standpunkt der genannten Autoren stelle und also will-
kürlich für die Extraktivstoffe im Hunger-N 20 Proz. abziehe, so erhalte ich bei
Nr.7 und 8 für den Eiweiß-N beim Hungern 3,95 g — also nur 0,40 bzw. 0,53 &
weniger als bei der Zuführ von Eiweiß. Dieses Plus — wenn es überhaupt existiert —
braucht aber gar nicht im Sinne von (©. Voit, daß sogar die geringste Eiweiß-
zufuhr an und für sich den Eiweißumsatz erhöhe, aufgefaßt zu werden, sondern ist
meiner Meinung nach ganz einfach dadurch bedingt, daß die Absonderung der Ver-
dauungsdrüsen bei Nahrungszufuhr viel lebhafter als beim Hungern ist. Auch
finden wir bei den hier speziell besprochenen Versuchen Nr. 7 und 8, daß die N-
Abgabe im Harn beim Hungern 4,83 bzw. 4,82 beträgt, während sie bei Nahrungs-
zufuhr nur 3,35 bzw. 3,89 ausmacht. Hierzu kommt endlich noch, daß doch ein
Teil des Kotstickstoffs einen Rückstand des Futters darstellen kann’).
Noch ist eine hierher gehörige Versuchsreihe von Jägerroos zu erwähnen.
Einem Hunde von etwa 12kg Körpergewicht wurde nach einer an N sehr armen
Kost — 1,74 bis 0,58g pro Tag — das Futter während sieben Tagen entzogen.
Die N-Abgabe während derselben betrug durchschnittlich 3,14 (4,11 bis 2,31)g N
pro Tag. Vier Tage später wurde mit einem Futter begonnen, das bei genügendem
Y) Zeitschr. f. Biol. 25, 285, 1889. — ?) Vgl. auch E. Voit, ebenda 33, 333, 1896;
Cremer, ebenda 42, 612, 1901.
406 Die Grenzen des N-Gleichgewichts.
Vorhandensein von N-freien Nahrungsstoffen durchschnittlich nur 3,60g N enthielt.
Im Mittel von 15 Tagen schied das Tier dabei 2,36 g, also 0,78g N weniger als beim
Hungern im Harn und Kot aus. Da das Futter aus 100g frischem Fleisch und 50g
Butter bestand, war der Gehalt desselben an N-haltigen Extraktivstoffen ebenso
groß als derjenige in der beim Hungern zerfallenden Körpersubstanz'). Auch dieser
Versuch stellt also einen entscheidenden Beweis gegen die hier erörterte An-
schauung dar.
Beim Menschen verhält sich die untere Grenze des N-Gleichgewichtes
ganz ähnlich wie beim Hunde, wie dies aus den Erfahrungen über den Stoff-
wechsel bei N-armer Kost hervorgeht.
Bei einer durchschnittlichen Zufuhr von 4,73g N, 135g Fett, 268g Kohle-
hydraten und 54g Alkohol pro Tag schied Hirschfeld am vierten bis achten
Tage durchschnittlich 6,65g N im Harn und Kot aus — war also dabei noch nicht
im Gleichgewicht. In einer folgenden Reihe mit durchschnittlich 7,44g N, 165g
Fett, 354g Kohlehydrate und 43 g Alkohol betrug die durchschnittliche N- Abgabe
im Harn und Kot während des fünften bis achten Tages dagegen 7,53g. Hier war
also das N-Gleichgewicht aufs nächste erreicht worden’).
Zu entsprechenden Resultaten kamen ferner Kumagawa°) und Klemperer‘).
Ersterer genoß bei Selbstversuchen während neun Tagen durchschnittlich 8,75g N,
2,5g Fett und 570g Kohlehydrate und schied dabei im Harn und Kot 8,108 N
aus — also wurden bei dieser Diät noch 0,65 & N täglich im Körper zurückgehalten.
Klemperers Versuche wurden an einem 20jährigen und einem 28jährigen Körper-
arbeiter ausgeführt. Die Kost bestand durchschnittlich aus 5,28g N, 264g Fett,
470 g Kohlehydraten und 172g (!) Alkohol. Während des sechsten bis achten Tages
betrug die gesamte N-Abgabe durchschnittlich 4,60 bzw. 3,91g, d. h. auch hier
ein Ansatz von bzw. 0,68 und 1,37 g N.
Peschel?) genoß eine Kost, in welcher der N-Gehalt Tag für Tag vermindert
wurde, und zwar von 7,59 auf 5,88g. Am fünften Tage war bei einer N-Zufuhr
von 7,16g die N-Ausgabe 7,05g; am sechsten Zufuhr: 7,05, Abgabe 6,89; am
siebenten Zufuhr: 6,24, Abgabe 6,48; am achten Zufuhr: 5,88, Abgabe 6,2. Am
siebenten Tage berechnet sich der N-Umsatz pro Kilogramm Körpergewicht zu
etwa 0,08 g. =
Der kalorische Wert der bei diesen Versuchen genossenen Kost ist,
wie I. Munk‘) bemerkt hat, verhältnismäßig sehr groß. Während der
Stoffwechsel bei einem mäßig arbeitenden Menschen nur etwa 35 bis
40 Kal. pro Kilogramm Körpergewicht beträgt, trat das N-Gleichgewicht
bei Hirschfeld bei einer Zufuhr von 43, bei Peschel bei einer von 46, bei
Kumagawa bei einer von 52, sowie bei den beiden Versuchspersonen
Klemperers erst bei einer von 78,5 Kal. pro Kilogramm Körpergewicht auf.
Es schien also, als ob das N-Gleichgewicht bei geringer N-Zufuhr nur in
dem Falle erzielt werden könnte, wenn die absolute Kraftzufuhr übermäßig
groß wäre.
Neue Versuche von Siven’), bei welchen die N-Zufuhr unter Ersatz
des weggelassenen Eiweißes durch isodyname Mengen von N-freien Nahrungs-
stoffen stufenweise vermindert wurde, ergaben indessen, daß auch bei etwa
normaler Kalorienzufuhr das N-Gleichgewicht bei sehr geringen Eiweißmengen
in der Kost erzielt werden kann.
!) Skand. Arch. f. Physiol. 13, 408, 1902. — ?) Arch. f. path. Anat. 114, 301,
1888; vgl. auch Arch. für die ges. Physiol. 41, 338, 1887. — °) Arch. f. path. Anat.
116, 404, 1889. — *) Zeitschr. f. klin. Med. 16, 550, 1889. — °) Peschel, Inaug.-Diss.,
Berlin 1891. — °) Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1889, Nr. 16; Arch. f. path. Anat.
132, 99, 1893. — 7) Skand. Arch. f. Physiol. 10, 91; 1899:
Die Grenzen des N-Gleichgewichts. 407
Mittel pro Tag
Reihe Dauer | Gesamte L
N-Zufuhr re Abgabe | N-Bilanz
Tage g g g
1 7 12,69 2479 11,30 + 1,39
22 3 10,44 2493 10,40 +0,04
2b 6 10,35 2505 9,36 + 0,99
3 6 8,71 2486 7,98 0,73,
4 6 6,26 2477 6,36 — 0,10
5 4 4,52 2444 4,95 — 0,43
6 7 | 2,47 2440 3,51 — 1,04
|
Zu dieser Zusammenstellung ist noch hinzuzufügen, daß Siven am letzten
Tage der fünften Reihe tatsächlich im N-Gleichgewicht war. Also genügte hier
bei einer Zufuhr von 41,4 Kal. pro Kilogramm Körpergewicht (58,9 kg) 0,08g N
zum Unterhalt des N-Gleichgewichts.
In einer weiteren Versuchsreihe verminderte Siv&n mit einem Male die N-
Zufuhr von etwa 18g auf 2,69g'). Die N-Ausgaben im Harn und Kot betrugen
dabei am vierten Tage 4,88.und am 17. Tage 4,06. Es wurde deshalb die N-Zufuhr
auf 4,02g erhöht; nunmehr war die gesamte N-Abgabe im Mittel von vier Tagen
4,30 g, also fast Gleichgewicht. Die Kost enthielt 42 Kal. pro Kilogramm Körper-
gewicht.
Damgsgsznübsr konnte Caspari?) bei einer Zufuhr von 50,1 Kal. pro Kilo-
gramm Körpergewicht und insgesamt 10,82g N nicht in]N - Gleichgewicht kommen,
denn er schied noch am fünften Tage 11,96g N im Harn und Kot aus. Er stellt
sich daher vor, daß Sivens Resultat vereinzelt dasteht. Diese Ansicht dürfte jedoch
nicht ganz richtig sein, denn schon die früheren Arbeiten von Hirschfeld und
Kumagawa zeigen ja, daß bei einer so reichlichen Kost wie der von Caspari
genossenen' N-Gleichgewicht schon bei einer weit geringeren N-Zufuhr eintritt.
Außerdem hat Caspari selber in Verein mit Glaeßner°) an zwei Vegetarianern
Beobachtungen über den N-Umsatz gemacht, aus welchen hervorgeht, daß bei
dem einen (einer Frau) bei einer Zufuhr von 0,09g N und 47 Kal. und bei dem
anderen (einem Mann) bei einer Zufuhr von 0,11g N und 66 Kal. pro Kilo-
gramm Körpergewicht nicht nur N-Gleichgewicht, sondern sogar N-Ansatz er-
reicht wurde.
Entsprechende Angaben sind auch von anderen Autoren mitgeteilt worden.
Bei einem 28jährigen Tapezierergehilfen von 57kg Körpergewicht, welcher seit
drei Jahren an rein vegetabilische Kost gewöhnt war, fand Voit‘) in der täglichen
Kost 8,4g N, im Harn und Kot 8,8g N. — Albu’) erwähnt eine vollkommen
gesunde 42jährige Frau von 37,5 kg Körpergewicht, die sechs Jahre lang auf rein
vegetabilischer Diät gelebt hatte. In der täglichen Kost waren 5,46g N(=0,15g N
und 37,3 Kal. pro Kilogramm Körpergewicht) enthalten. Während fünf Tagen
wurde 0,37g N erspart. — Endlich beobachtete Caspari‘) bei einem Manne von
41,3 kg Körpergewicht N-Gleichgewicht bei einer Zufuhr von 3,79g N und 1566 Kal. =
0,108 N und 38 Kal. pro Körperkilo.
Bei seinem ersten Versuch bestimmte Siv&n nach Stutzers Methode noch
die Verteilung der von ihm genossenen N-Substanz auf Eiweiß und andere N-
haltige Stoffe. Bei der fünften Reihe betrug der Eiweißstickstoff nur 1,98 g
!) Skand. Arch. f. Physiol. 11, 315, 1901. — ?) Arch. f. (Anat. u.) Physiol.
1901, 8. 323. — ®) Zeitschr. f. diätet. u. physik. Therapie 7, (9), 1904. — *) Zeitschr.
f. Biol. 25, 255, 1889. — °) Zeitschr. f. klin. Med. 43, 75, 1901. — °) Arch. f.
(Anat. u.) Physiol. 1904, S. 562; vgl. auch Klemperer, Zeitschr. f. klin. Med. 16,
588, 1889; Bernert u. Stejskal, Arch. f. exp. Path. 48, 134, 1902.
408 Die Grenzen des N-Gleichgewichts.
pro Tag (= 12,4g Eiweiß). In der vierten Reihe, wo Siv&n während der
letzten vier Tage N ansetzte, war der Eiweiß-N höchstens 4,43g (aller N im Brot
ist dann als Eiweiß-N berechnet), was pro Kilogramm Körpergewicht 0,074g N
beträgt.
Wenn wir diese Ergebnisse mit den an hungernden Menschen er-
haltenen vergleichen, so finden wir, daß auch beim Menschen N -Gleichgewicht
bei einem N-Umsatz bestehen kann, der geringer ist als der beim Hunger :
stattfindende. Pro Kilogramm Körpergewicht betrug die gesamte N- Abgabe
im Harn und Kot bei den oben erwähnten Versuchspersonen bzw. 0,10, 0,15,
0,07, 0,06, 0,08, 0,08, 0,10. Während des achten bis zehnten Hungertages
schied Cetti 0,19g, während des sechsten Hungertages Breithaupt 0,18g,
während des 21. bis 25. Hungertages Succi 0,09 und während des fünften
Hungertages J. A. 0,18g N im Harn aus.
Bei Versuchen an Hunden mit sehr N-armem Futter beobachteten Munk!)
und Rosenheim), daß trotz bestehenden N-Gleichgewichts, etwa von der sechsten
bis achten Woche an allmählich verschiedene sehr schwere Störungen auftraten,
welche, wenn das Futter nicht beizeiten verändert wurde, zum Tode führten und
von den genannten Autoren als Ausdruck einer ungenügenden N-Zufuhr aufgefaßt
werden. Diese Störungen bestanden vor allem in Störungen der Verdauung und
wurden, nach Munk, dadurch bewirkt, daß bei der N-armen Kost zu wenig
Eiweiß zum Wiederaufbau des bei der Sekretion zum Teil zerfallenen Proto-
plasmas der Drüsenzellen vorhanden war. Dementsprechend konstatierte Rosen-
heim bei der Sektion im Verdauungsrohre und in der Leber schwere pathologische
Veränderungen.
Betreffend die Deutung dieser Erscheinungen bemerkt Siven°), daß sie
möglicherweise von einer andauernd zu einförmigen Beschaffenheit der Kost be-
dingt waren; Breisacher‘) faßt die Störungen als Ausdruck eines vorhandenen
Salzhungers auf. Daß die geringe N-Menge in der Kost an und für sich diese
Störungen nicht bewirkte, dürfte aus Jägerroos’ Beobachtungen ganz deutlich
hervorgehen’). Bei diesen Versuchen wurde nebst Zucker und Butter nur
frisches Fleisch in rohem Zustande gefüttert. Die folgende Tabelle enthält seine
Resultate in konzentrierter Form.
Gesamt-N | N im Mittel pro Tag
Versuchs- | |
Nr. dauer Auf- A | Auf- y
nahme | Abgabe | Bilanz | nahme Abgabe | Bilanz
Tage g g Bio huich g g
E4; 91 207,2 231,7 | — 245 2,28 2,55 — 0,27
2. 132 224,9 200,38 | -+24,6 1,70 1,51 +0,19
3°), 14 11,4 174 | — 50 0,82 1,24 — 0,42
a 1ER 435 | 494 | — 50 | 1,87 1,00. br
u. Mittel vr ie .
| | |
!) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1891, $. 338; Arch. f. path. Anat. 132, 141,
1893. — °) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1891, 8. 341; Arch. f. d. ges. Physiol. 54,
61, 1893; vgl. auch Zuntz u. Magnus-Levy, Arch. f. d. ges. Physiol. 49, 440,
1891. — °) Skand. Arch. f. Physiol. 10, 147, 1899; vgl. auch Hagemann, Inaug.-
Diss., Berlin 1891. — *) Deutsche med. Wochenschr. 1901, 8. 1310. — °) Skand.
Arch. f. Physiol. 13, 389, 1902. — °) Hiernach folgte noch eine Periode von
46 Tagen, während welcher das Tier trächtig war; aus diesem Grunde ist diese
Periode hier ausgeschlossen. £
Die Grenzen des N-Gleichgewichts. 409
Gesamt-N | N im Mittel pro Tag
|Versuchs- |
Nr. dauer Auf- j | Auf- #
EEE Abgabe | Bilanz dla Abgabe | Bilanz
Tage g g & g g g
I. 1. 132 467,8 444,3 | + 23,5 3,54 3,36 | +0,18
2. 17 13,7 52,2 | — 385 0,80 3:07. | —90
3. 50 144,2 131,2 | + 13,0 2,88 2,62 +0,26
Summa
u. Mittel 199 625,7 627,7 — 2,0 3,14 3,15 —.0,01
Das Körpergewicht des Tieres im Versuch I variierte zwischen 4,55 und 6,73
und betrug im Durchschnitt 5,9kg; im Versuch II wog das Tier im Durchschnitt
etwa 12 kg.
Bei den verschiedenen Reihen im Versuch I betrug der N-Umsatz pro Kilo-
gramm Körpergewicht bzw. 0,50, 0,26 und 0,20g, im Versuch II bzw. 0,28, 0,25
und 0,23g. In den Versuchen von Munk und Rosenheim war der N-Umsatz
pro Kilogramm Körpergewicht 0,23 g, also etwa von derselben Größe wie in denen von
Jägerroos. Und dennoch blieben die Tiere 146 (von der ersten Periode abgesehen)
bzw. 199 Tage am Leben. In beiden Fällen starb das Tier nicht an irgend welcher
ehronischen Erkrankung oder an Verdauungsstörungen, sondern an einer akuten
Infektionskrankheit. Im Darmepithel konnten keinerlei pathologische Veränderungen
nachgewiesen werden, wie auch das Futter bis zum Tode sehr gut ausgenutzt
wurde. Während der ganzen Beobachtungsdauer befanden sich die Tiere wohl,
und es waren bei ihnen keine Zeichen von abnehmender Leistungsfähigkeit oder
von Mattigkeit zu bemerken.
Daß auch der Menseh bei einer an Eiweiß ziemlich armen Kost bei dauernder
Gesundheit bleiben kann, folgt teils aus den oben mitgeteilten Erfahrungen an Vege-
tariern, teils aus einer sehr wichtigen Versuchsreihe von R. O0. Neumann!'). Die-
selbe umfaßte im ganzen 746 Tage und war in drei Abschnitte geteilt. In dem
ersten und dritten Abschnitt, welche je 10 Monate dauerten, genoß Neumann eine
freigewählte Kost; durch Konstantbleiben des Körpergewichts wurde festgestellt,
daß sie genügend war. Im zweiten Abschnitt, 120 Tage, wurde durch Versuche
über den N-Umsatz die Effektivität der Kost direkt kontrolliert. Die Ergebnisse
sind in Tabelle 1 (8. 410) zusammengestellt (vom Abschnitt II nur die ersten
50 Tage in fünf Perioden verteilt).
Über den Gesamtstoffwechsel bei Zufuhr von Eiweiß haben wir die
Bilanzversuche von Pettenkofer und Voit in erster Linie zu berück-
sichtigen.
Die genannten Autoren berechneten ihre Analysenresultate unter der Annahme,
daß sich N und C im Eiweiß wie 1: 3,684 verhielten. Diese Verhältniszahl ist
indes nicht richtig, und sie beträgt nach Rubner 1: 3,28, nach Pflüger sogar
1:3,20°). Dieser Unterschied ist besonders bei großen Eiweißmengen von durch-
greifender Bedeutung. So entspricht einer Abgabe von 85,4g N (= etwa 2500g
Fleisch) nach Pettenkofer und Voit 314,6g C, nach Rubner 280,1 g — also eine
Differenz von 34,5g C. D. h. wenn die N-Substanz in 2500g Fleisch im Körper
vollständig zersetzt wird, und 280,18 C vom Körper abgegeben worden sind, so
würde dies nach Rubners Verhältniszahl bedeuten, daß der gesamte an Eiweiß
gebundene Kohlenstoff in 2500 g Fleisch vom Körper abgegeben worden ist, während
nach der Zahl von Pettenkofer und Voit im Körper 34,5 © — wahrscheinlich
als Fett — zurückgehalten worden sind.
') Arch. f. Hyg. 45, 1, 1902. — ?) Siehe oben $. 356.
‘(898 8 TA) Te 98'958 = N 31 — ey 086 = Pad 31 “ey 828 = N 31 (:
(«1'89 8317 0877 se+ 70 1 — »'c8 ‘88 DER TIEETRRT 8 L
(«9° 18 0091 #821 + |. IT 37 — ‘69 0'89 “7%. 8981 TUN "97 SIq "IZ X)
(8'584 Te81 | 8091 BI 0€ 1'689 219 nr T9BT TenIgag '61 ‘<
(s8'97 FSsı 1. 8gg1 33 — u 33 z'1g EHRT E98T ZIEW "6 SIQ AenIgOT ‘0% u)
(8'886 I a Bu 7: Be Er 88 1'986 08 er WITT IT 8
(378 #601 | gHF 69 — — 68 +07 01 "8987 Tunp 'T sıq Tuudy ‘0% T
(1678 wu | 0 La RL 1. Be 86 gg 0 79098987 ZIgM "FI SIq ‘01 |
: yyoLmod zyesun] | 2'033 west Bar 000, ersurr Dr
s'sı sı 01 | 2861 z 2'108 g'eL LuI. | 80, | Are
5 1% —- e’gl ZT 9° 6061 — 8'707 0'F8 zı | 0'9 u 'g
Ko Em Gs1 I 011 | 6661 - 0'F81 L’EL 16 9'99 we 3 z
A 83 — oT 0% 0'6 I gest = ers ‘29 °8 1: 808 SseL O1 EH
= _ ._ = wu: 950 sg 1 ” | — FR
ar _ = = ' 608% u'$r 0'087 g'g8 g‘oL | 029 syeuom OL 11
|
3 3 3 3 3 3 3 3 | 34 |
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; vurumg | 90y WIN Weg mwN toyoyIy | ereapkyoryoy | MOL N ı aypımes |
zueitg-N RUE: Mi — | -aedıoy | AS EIN
& | Se, o1d ogedqy | SeL od owuyeumy ' sarogımt |
- | ||
= - -
PL
Der Gesamtstoffwechsel bei Zufuhr von Eiweiß. 411
Eine neue Berechnung der Versuche von Pettenkofer und Voit!) war
daher notwendig, und Pflüger ?) unterzog sich der Mühe, diese auszuführen.
Nach dieser neuen Berechnung sind die Resultate der Münchener Physiologen
in Tabelle 2 (S.410) zusammengestellt.
Diese Versuche sind alle an einem und demselben Hunde ausgeführt. Erst
bei einer Zufuhr von etwa 68g N (Nr. 6) gelangt das Tier in stoffliches Gleich-
gewicht; bei den Reihen mit geringerer N-Zufuhr setzt das Tier nicht allein von
seinem eigenen Eiweiß, sondern auch von seinem eigenen Fett zu. Je größer die
gefütterte N-Menge wird, um so geringer ist auch die Selbstbesteuerung des Körpers,
bis er endlich mit 68 und 84 g N (= 2000 bis 2500 g Fleisch) ungefähr in
materielles Gleichgewicht kommt ’°).
Einen näheren Aufschluß über den Umfang der tatsächlich stattgefundenen
Verbrennung gibt uns die kalorische Berechnung der Versuche. Aus der-
selben geht hervor, wie gleichzeitig mit dem vermehrten N-Umsatz tatsäch-
lich auch der Gesamtstoffwechsel, und zwar sehr regelmäßig, ansteigt. Beim
Hunger beträgt er pro Kilogramm Körpergewicht 34,9 Kal., ist bei 17g N
etwa gleich groß, um dann immer mehr zuzunehmen und bei 85g N im
Futter das Maximum von 65,0 Kal. zu erreichen.
Bei abundanter Eiweißzufuhr steigt also der Gesamtstoffwechsel mit
etwa 90 Proz. dem Stoffwechsel beim Hunger und bei geringer Eiweißzufuhr
gegenüber an.
In einem noch höheren Maße steigt indes der N- Umsatz; die Differenz
zwischen dem Maximum bei Zufuhr von 85,0g N und dem Minimum beim
Hunger beträgt 79,3g, d. h. 1426 Proz. Es wäre also grundfalsch, wenn
wir aus dem N-Umsatz den Gesamtstoffwechsel schätzen wollten.
Später hat Rubner ähnliche Versuche ausgeführt, welche dadurch, daß
die zu vergleichenden Versuche unmittelbar nacheinander angestellt wurden,
den Vorzug haben, daß sie sich so viel als möglich auf den gleichen körper-
lichen Zustand des Versuchstieres beziehen®). Ich stelle einige von ihnen
hier zusammen.
|
' N-Zufuhr | N-Abgabe | Kalorien
Nr..i Tag- | | —
| | g g Zufuhr Umsatz pro kg
I I
L. ya f) 18 | ) 308 51,9
2 0 1,5 0 281 48,3
3 17,0 13,1 481 330 56,3
4 17,0 14,2 | 481 330 55,0
2L 1 20,4 | 17,3 576 607 88,9
2 20,4 1772 | 576 539 78,1
Be, ) 40 | N) 446 65,0
= | 20,4 16,6 576 536 78,0
b) | 0 32,9 0 477 70,6
0: f) 22 | 0 507 78,0
7 f) 19:1 0 | 4a 70,2
!) Zeitschr. f. Biol. 5, 370, 1869; 7, 432, 1871. — *) Arch. f..d. ges. Physiol.
51, 267, 1891. — °?) Der Fettansatz, der hier erscheint, dürfte nur ein scheinbarer
sein, denn wenn die Versuche unter Anwendung der Verhältniszahl C/N = 3,20
berechnet werden, wird derselbe nur 14 bzw. 3g. — *) Rubner, Die Gesetze des
Energieverbrauches, S. 57, 65, 76, 84, 155.
4123 Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Fett.
| .
Nr. | Tag N-Zufuhr | N- Abgabe Kalorien
g g Zufuhr Umsatz pro kg
Im. | 1 > 7,8 0 1089 40,6
| 52 0 7,4 ) 947 36,0
| 3 0 7,3 0 1017 39,1
| 4 0 6,3 0 912 35,2
| 5 51 46,5 1326 1171 46,0
| 6 51 46,8 1326 1218 47.5
| 7 51 49,5 1326 1274 48,7
| 8 51 48,9 1326 1291 49,8
IV. 1 0 5,0 ) 718 _
2 0 5,1 0 742 _
3 68 51,6 1926 1046 —
4 0 12,4 | ) 746 _
5 | 68 | 52,7 1926 1115 _
6 | ) | 12,2 | 0 772 _
ı i \
Aus diesen Versuchen erhalten wir im Durchschnitt: Versuch I: Hunger
290 Kal., Zufuhr von 17g N 530 Kal.; Versuch II: Hunger 472 Kal, Zu-
fuhr von 20,48 N 561 Kal.; Versuch III: Hunger 991 Kal., Zufuhr von
5lg N 1239 Kal.; Versuch IV: Hunger 745 Kal., Zufuhr von 68g N
1080 Kal. Ganz wie bei den Versuchen von Pettenkofer und Voit steigert
eine verhältnismäßig geringe N-Zufuhr den Gesamtstoffwechsel nur in geringem
Grade (im Versuch I um 14 Proz.), während dagegen eine reichlichere
N-Zufuhr den Stoffwechsel beträchtlich in die Höhe treibt (im Versuch II um
19 Proz., im Versuch III um 25 Proz., im Versuch IV um 45 Proz.); gleich-
zeitig beträgt die durchschnittliche Zunahme der N-Abgabe dem Hungerwerte
gegenüber in allen Versuchen mehrere hundert Prozent.
$ 2. Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Fett.
Pettenkofers und Voits!) Versuche über den Einfluß des Fettes auf
den Stoffwechsel sind, nach den früher benutzten Konstanten berechnet, in
folgender Tabelle zusammengestellt 2).
| !
| De Futter N- | Fett, | | ns Fe
| er | — ro
Nr. Datum on ehe! N Fett Abgabe] zersetzt Kal. Körper-
| periode | & e | g & | gewicht
|| I I I
I. | 10. März 1862 | 6 | A 1207 | 38,7
1 Aa | 10 | — 2 86 947 31,5
' 1. April®) 8 | —|ı10| 54 | 9 1057 35,8
Sr, | 10 — | 160. 45 | 108 1093 | 37,4
| | | | |
II. | 5. April 1861 | 2 — |. — 171,6 97 | 1187 36,1
BE che 5 NET |: 1070 |i TE8E 37,3
ER = | 8 — u Eee 102 ' 1089 35,7
19. 00) | 2 SE re 1. 7,7 1... 169 = 11800 | 56,2
N l I I
!) Zeitschr. f. Biol. 5, 369, 1869. — *?) 1g N = 25,25 Kal., 1g Fett = 9,5 Kal. —
®) In der Zwischenzeit bekam das Tier täglich bis zum 24. März 1500 g Fleisch, da-
nach 100g Fett. — *) Der Versuch dauerte nur 10 Stunden, ist aber auf 24 Stunden
berechnet. — °) Nach sehr reichlichem gemischten Futter bekam das Tier vom
18. April an 350g Fett.
Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Fett. 413
Aus diesen Versuchen geht hervor, daß die beim Hunger zugrunde
gehende Fettmenge durch eine gleichgroße Fettmenge im Futter ersetzt
werden kann, sowie daß eine sehr bedeutende Steigerung der Fettzufuhr
den Fettumsatz bedeutend in die Höhe treibt.
Wie sich der Stoffwechsel bei Zufuhr von Fett und Eiweiß verhält, ist
aus folgenden wie früher berechneten Versuchen von Pettenkofer und
Voit!) ersichtlich:
ES a ne ze I 3
| \ Futter N- Fett, Kalorien
Nr. Datum ee
| er setzt | lorien | Körper-
| & g & g gewicht
|
I. | 20. April bis 1. Juni 1863 . | 1,0) — | 20,4 59 | 1094 34,9
| 12. Mai 1863... 2.2... 17,0 | 100 | 16,7 75 | 1151 36,8
| 3. Juni bis 30. Juli 1862. . | 17,0 | 200 | 17,6 | 119 | 1593 49,0
I. | 20. Febr. bis 9. März 1863 . | 51,0 | — | 51,0 22 | 1554 46,5
| 9. u. 13. März 1868... . . 51,0 | 30 | 49,5 24 | 1528 45,7
I 17. März 18638 ....... 51,0 60 | 51,0 48 | 1795 53,8
| 20. u. 24. März 1868 . .... . | 51,0 | 100 | 47,7 34 | 1575 46,5
1 18. Juni 1868 ....... 51,0 | 100 | 49,3 17 | 1456 46,9
| 27. u. 30. März 1863 . .. . || 51,0 | 150 | 49,5 40 | 1679 49,6
Die zu der ersten Versuchsreihe mit 17g N und bzw. 0, 100 und 200g
Fett im Futter gehörigen Versuche sind zum Teil in weiten Intervallen aus-
geführt und dürften daher kaum sichere Schlußfolgerungen gestatten. Da-
gegen sind die Versuche der zweiten Reihe ziemlich gut untereinander ver-
gleichbar. Aus denselben kann kaum anders geschlossen werden, als daß
die Zugabe von 30 bis 150g Fett die Fettzersetzung nicht beeinflußt, wenn
die gleichzeitig gefütterte Eiweißmenge an und für sich ungefähr genügt, um
den Stoffwechsel zu unterhalten.
In allem Wesentlichen wurden diese Resultate durch Versuche von
Rubner, bei welchen der Stoffwechsel beim Hunger und bei Fettzufuhr in
unmittelbarem Anschluß aneinander bestimmt wurde, bestätigt?), wie z. B.
I
| | Futter | Fett, Kalorien
Nr Tag N Fett N-Abgabe | „ersetzt Kalorien u; kg
‚örper-
g g£ £ g 2 gewicht
I. 1 —_ _ 9,4 74 955 39,8
2 | — 167 5,1 81 914 38,1
1. 8 ee _ 3,9 88 957 40,0
| |
2u.| ı |) — EU ER. 62 | es | 563
| 2 | — ee 59 | se | 545
a Di ER. 180 | 17 Pe EEE. , . a Be 2
») Zeitschr. £. Biol. 9, 1, 1873. 1g N = 26,26; 1g Fett = 9,5 Kal. —
?2) Rubner, Die Gesetze des Energieverbrauches, 8. 51.
414 Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Kohlehydraten.
Bei Zufuhr von einer Fettmenge, deren kalorischer Wert (1537 Kal.)
um 60 Proz. den Stoffwechsel beim Hunger übertraf, trat keine Steigerung
der Fettzersetzung ein (Versuch I). Eine ziemlich bedeutende Zunahme,
18,4 Proz. dem Hungerstoffwechsel gegenüber, erschien aber im Versuch II,
wo das gefütterte Fett, seinem Kalorienwert (1710 Kal.) nach, fast dreimal -
so groß war als der Umsatz beim Hunger (durchschnittlich 609 Kal.).
Also erscheint eine Zunahme der Fettzersetzung und des gesamten, in
Kalorien ausgedrückten Stoffwechsels bei Zufuhr von Fett nur dann, wenn
die gefütterte Fettmenge ihrem kalorischen Werte nach den Bedarf des
Körpers sehr beträchtlich übersteigt. Bei geringerer Fettzufuhr bedingt das
Fett aber keine Steigerung, wie es auch Pflüger durch Versuche an Hunden
bestätigt hat.
$ 3. Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Kohlehydraten.
Wie oben bemerkt, ist es nicht ohne gleichzeitige Bestimmung der Sauer-
stoffaufnahme möglich, zu entscheiden, in welchem Maße Fette und Kohle-
hydrate beim Stoffwechsel beteiligt sind. Beim Hunger, sowie bei Zufuhr
von Eiweiß oder Fett ist doch, aller Wahrscheinlichkeit nach, der Anteil der
Kohlehydrate an der Verbrennung so gering, daß kein großer Fehler entsteht,
wenn der gesamte, aus N-freien Nahrungsstoffen stammende Kohlenstoff in
den Ausgaben als Fett-C berechnet wird.
Bei Zufuhr von Kohlehydraten gestaltet sich die Sache viel komplizierter,
und es ist nicht möglich, aus der alleinigen Bestimmung des abgegebenen
Kohlenstoffs, auch wenn die Zusammensetzung des Futters genau bekannt
ist, den gegenseitigen Anteil des Fettes und der Kohlehydrate festzustellen.
Hier ist daher die Bestimmung des Sauerstoffverbrauches unbedingt not-
wendig.
Bei kurzdauernden, unter Anwendung einer Respirationsmaske aus-
geführten Versuchen, wo neben der CO,-Abgabe auch die O,- Aufnahme be-
stimmt worden ist, hat es sich nun herausgestellt, daß der respiratorische
Quotient bei Zufuhr von Kohlehydraten binnen kurzem ansteigt, daß also diese
in der Tat sogleich nach ihrer Resorption vom Körper angegriffen werden !).
Aus diesen Erfahrungen zog man nun den Schluß, daß die resorbierten
Kohlehydrate vollständig vor dem resorbierten Fett bzw. dem Körperfett ver-
braucht werden, und berechnete von dieser Annahme aus den unter solchen
Umständen stattfindenden Stoffwechsel. Dieser Schluß war indes nicht voll-
ständig berechtigt, denn es lagen meines Wissens keine Beobachtungen vor,
welche seine Richtigkeit tatsächlich bewiesen hätten.
Diese wesentliche Lücke in unseren Kenntnissen ist indes durch die
Untersuchungen Atwaters und seiner Mitarbeiter in der letzten Zeit aus-
gefüllt worden. Allerdings war es bis jetzt auch ihnen nicht möglich, bei
länger dauernden Versuchen die O,-Aufnahme festzustellen; ihre kalorimetri-
schen Bestimmungen des Stoffwechsels bei verschieden zusammengesetzter
Kost lassen uns aber die vorliegende Frage entscheiden. Wenn nämlich der
aus dem Wärmewerte der Kost und der Ausgaben berechnete Stoffwechsel
auch bei Zufuhr von Kohlehydraten mit der direkt kalorimetrisch bestimmten,
!) Vgl. z. B. Magnus-Levy, Arch. f. d. ges. Physiol. 55, 1, 1893.
Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Kohlehydraten. 415
Wärmeabgabe genau übereinstimmt, so liegt hierin ein unanfechtbarer Beweis
dafür, daß die gesamten Kohlehydrate der Kost tatsächlich vor dem Fett im
Körper angegriffen werden.
‘Da die Versuchspersonen bei allen Versuchen von Atwäter in ihrer
Kost sowohl Fett als Kohlehydrate genossen (vgl. S. 366), stellen diese Ver-
suche sämtlich die erwünschte Begründung dieses Satzes dar. Unter den-
selben finden sich aber einige, welche in dieser Hinsicht ganz besonders be-
deutungsvoll sind, indem die Versuchsperson hier die gleiche Zufuhr von
Eiweiß und Kalorien, aber mit verschiedener Verteilung auf Fett und Kohle-
hydrate bekam. Einige dieser Versuche sind in folgender Tabelle aufgenommen.
|
| Kraftwechsel, berechnet aus | Kraft- |
| wechsel, |
Versuch I. Ei- | i Kohle- | direkt | Anmerkungen
| weiß | Fett hydraten, hg age: bestimmt i
| Kal. | Kal. | Kal. | Kal. Kal. |
! |
|
a #2 Narite | 38 Iısee | — 2250 | 2187 | Hunger, Ruhe
35 \ 429 814 1114 2357 | 2397 | Gew. Kost, Ruhe
| | N ;
37, 40, 44, irren | 434 | 1288 | ssrı | soss | sıse | Bulhydresiche
47, 49, 53 f | Il Kost, Arbeit
38, 41, 43, | | s n
45, 46, 48, V Mittel | 489 | 3190 | 1465 | 5144 | sıos |} Fettreiche Kost,
| !l Arbeit
52, 54 | |
Bei Hunger und Ruhe, wo der Körper von seinem eigenen Eiweiß und Fett
lebt, ist der Stoffwechsel durchschnittlich berechnet 2250, direkt bestimmt 2187 Kal,
während er bei Nahrungszufuhr, darunter 1114 Kal. in Kohlehydraten, 2357 bzw.
2397 Kal. beträgt. Die Differenz der direkten kalorimetrischen Bestimmungen macht
nur 210 Kal. aus, was sich leicht daraus erklären läßt, daß ein fastender Mensch,
selbst am ersten Hungertage, doch etwas ruhiger als bei Nahrungszufuhr ist. Die
beiden anderen Durchschnittszahlen beziehen sich auf den Stoffwechsel bei körper-
licher Arbeit. In der einen Reihe enthielt die Kost 1288 Kal. aus Fett und 3371 Kal.
aus Kohlehydraten; Kraftwechsel berechnet 5093, gefunden 5136. In der zweiten
Reihe war das Verhältnis des Fettes und der Kohlehydrate umgekehrt: 3190 Kal.
aus.Fett und 1465 Kal. aus Kohlehydraten; Gesamtstoffwechsel berechnet 5144,
gefunden 5105. Die Differenz zwischen|den kalorimetrischen Bestimmungen beträgt
nur 31 Kal.
Aus diesen Erfahrungen folgt also, daß die genossenen Kohlehydrate
sowohl vor dem Körperfett, als vor dem mit der Kost aufgenommenen Fett
im Körper zerfallen.
Nachdem dies festgestellt ist, können wir an der Hand der vorliegenden
Versuche den Einfluß der Zufuhr von Kohlehydraten in verschiedener Menge
näher untersuchen. Auch hier haben wir die Beobachtungen von Petten-
kofer und Voit in erster Linie zu berücksichtigen !). Dieselben sind mit
den mehrfach erwähnten Korrekturen in folgender Tabelle zusammengestellt.
!) Zeitschr. f. Biol. 9, 435, 1873; vgl. Pflüger, Arch.ff. d. ges. Physiol. 52,
239, 1892. 1g N = 26,26, 1g Fett = 9,5, 1g Stärke (St) = 4,2, 1g Trauben-
zucker (T) = 3,8 Kal.
416 Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Kohlehydraten.
| Aus diesen Versuchen
EBSEl.n Aal no oo ließe sich schließen, daß die
IB - u.a Eee A a nr
ISES8EI SI ES58 55 35 Zufuhr von 379g Kohle-
Id MM &% hydraten den Stoffwechsel,
dem beim Hunger gegen-
Rue" über, pro Kilogramm Körper-
Eu 38 3223 38 38 gewicht um etwa 17 Prozent
er 5 "on ET RER Tr = f k N : .
ER m DR SIE IR Re Er En in die Höhe treibt. Bei Zu-
gabe von 167 bzw. 182g
Un SIE OTE BRAIN Kohlehydraten zu 500g
838 5 aa Vei ai & Fleisch steigt der Gesamt-
SE om > oo © > n x
: nn - stoffwechsel um höchstens
AN 12 Prozent, im Durchschnitt
aber nur um 10 Prozent
a "SS RS an e® (Nr. II). Bei 1500 g Fleisch
5% on NO zu Arm nm 0 " 4
EB an] 3. Me ++ 7% (Nr. III) beträgt die Zunahme
a 2
S = ” —_ durch 172g Stärke sogar
48 Prozent; es muß aber
8 bemerkt werden, daß dieses |
Eh al E85 Sa2S8 25 & :
I 2 ara 2) 2 bei dem anderen 57,7 Kal.
> &D paar | DD — <<
© & SS a & In Nr. IV ist die Zunahme
a ” Ga er es nur etwa 12 Proz.
= M Leider sind die zu ver-
EI . gleichenden einzelnen Ver-
Q 8 eRUeE re >, = = suche nicht in unmittelbarem
r ” Anschluß aneinander ausge-
g
führt worden, weshalb diese
I ERTAI RURM Schlüsse nicht als völlig
a Er sicher erachtet werden kön-
th ne nr nen. Bei Rubner?) finden
- wir indes einwandsfreie Beob-
$ achtungen wie die folgenden,
EEE ne welche übrigens einen di-
N . Pr
SR. rekten Vergleich betreffend
28 ie
un ua. AL den Einfluß der verschie-
= © sis o© = are ®
B ig: eV el denen Nahrungsstoffe auf den
® - ER 2
=) En is ® = = = Stoffwechsel gestatten.
| TR BER. Bı8r 80
| garten 5” 4
| TE BR 55 ) Das im Fleisch ent-
| 2 ei <ı<23 23 & 2 5 a haltene Fett ist nicht berück-
| ‚8 08mm So 8, sichtigt. Auch bei der Fett-
I en 0 bilanz ist das Nahrungsfett
@ i ar nieht aufgenommen worden. —
| > "= EB - > ®) Rubner, Die Gesetze des
| Energieverbrauches, 8. 72.
Einfluß der Nahrungsaufnahme auf den Stoffwechsel. 417
Futter | Kraftwechsel
Tag N Fett Kohle- | Kalorien Total prokg
hydrate Körpergewicht
g 8. Kal. Kal.
2 A = a _ | 969 40,2
3 56,8 — = 1543 | 1072 44,8
4 Er —_ — — | 947 39,9
5 _ 167 -- 1536 | 963 40,9
6 = er 45 _ 922 39,6
ni — — 411 1446 982 42,3
| — Be — _ | 977 42,1
Im Durchschnitt beträgt der Kraftwechsel pro Kilogramm Körpergewicht beim
Hunger 40,4 Kal., bei Zufuhr von Eiweiß 44,4, bei Zufuhr von Fett 40,9, bei Zu-
fuhr von Kohlehydraten 42,3; derselbe nimmt also bei Eiweiß um 11,9, bei Fett
um 1,2 und bei Kohlehydraten um 4,7 Proz. zu. Wie aus der Tabelle ersichtlich,
war in allen Fällen die potentielle Energie des Futters gleichgroß, und zwar über-
stieg sie den Umsatz beim Hunger um bzw. 58, 61 und 52 Proz.
In einer anderen Versuchsreihe wurden dem Tiere pro Kilogramm Körper-
gewicht im Eiweiß 57,4, im Fett 54,2, in Kohlehydraten 57,0 Kal. zugeführt. Beim
Hunger betrug der Gesamtstoffwechsel pro Kilogramm Körpergewicht 37,5 Kal.,
bei Fleisch 46,0, bei Fett 39,4 und bei Kohlehydraten ebenfalls 39,4 Kal. In Pro-
zenten war die Steigerung dem Hungerstoffwechsel gegenüber bei Eiweiß 24,3, bei
Fett und Kohlehydraten 5,1.
Eine dritte Versuchsreihe ergab für den Stoffwechsel während des zweiten
Hungertages 310 Kal. Bei Zufuhr von 482 Kal. im Fleisch war derselbe 396 Kal.,
bei Zufuhr von 749 Kal. in Stärke und Rohrzucker 345 bzw. 390 Kal.
Aus diesen Beobachtungen geht als Resultat hervor, daß allerdings so-
wohl Fett als Kohlehydrate den Gesamtstoffwechsel nicht unwesentlich steigern,
aber, wie es scheint, im allgemeinen nur, wenn sie in großem Überschuß auf-
genommen werden, während das Eiweiß den Gesamtstoffwechsel immer in die .
Höhe treibt, sobald es in einer Menge genossen wird, die den Umsatz beim
Hunger nur verhältnismäßig wenig übersteigt.
Zur theoretischen Deutung dieser Tatsachen könnte man sich vorstellen,
daß der größere Vorrat an Verbrennungsmaterial an sich eine umfangreichere
Verbrennung im Körper hervorrufe. Es könnte auch der Fall sein, daß die
Steigerung des Gesamtstoffwechsels durch die Verdauungsarbeit oder durch
Muskelbewegungen und -Spannungen bedingt wäre.
Zur Aufklärung dieser Frage sind Versuche notwendig, bei welchen der
Einfluß der Muskelbewegungen so viel als möglich ausgeschlossen ist und wo
der Stoffwechsel in kürzeren Perioden untersucht wurde.
An Hunden, welche die ganze Versuchszeit vollkommen ruhig lagen, unter-
suchte Rubner') in dreistündigen Perioden die CO,-Abgabe beim Hunger, sowie
bei Fütterung mit Fleisch oder Fett. Beim Hunger verlief diese mit äußerst ge-
ringen Variationen, und dasselbe gilt im großen und ganzen auch bei der Fett-
fütterung. Auch war der absolute Unterschied nur gering: während neun Stunden
beim Hunger 108,8 bis 116,7g CO,, während neun Stunden nach Fütterung mit
80 g Fett 111,0 bis 111,4g CO,. Dagegen stieg die CO,-Abgabe bei Fütterung mit
!) Festschrift für Ludwig 1887, 8. 259.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 237
418 Einfluß der Nahrungsaufnahme auf den Stoffwechsel.
460 g ausgelaugtem Fleisch sehr bedeutend an und betrug während 6 Stunden 92,9
bis 95,1g, 73 bis 76,3g beim Hunger gegenüber. Nähere Angaben über diese Ver-
suche sind in folgender Tabelle enthalten.
C0,-Abgabe g
©
= 1 460 g
5 Zeit Hunger 80 g Butterfett ausgelaugtes
& Fleisch
I I R 21.6
1 9—12 V 36,6 35,6 35,6 37,8 } 92.9 PER
2 12—3 N 36,4 40,7 37,7 36,7 :
3 6 35,8 40,4 37,7 37,4 } = 971
4 6—9 35,2 38,5 — - g
5 9—12 36,8 41,1 _ he } 18.2 8
6 12—3 V 35,5 38,8 — —
7 3—6 35,7 35,9 _— — } 78,4 75,3
8 6—9 33,8 37,2 RR PR:
Sowohl am Hunde als am Menschen machte dann Magnus-Levy') ausführ-
liche Untersuchungen über denselben Gegenstand und bestimmte dabei nicht allein
die CO,-Abgabe, sondern auch den O-Verbrauch, wodurch die absolute Größe des
Stoffwechsels viel genauer als bei alleiniger Bestimmmung der Kohlensäure be-
rechnet werden kann (vgl. 8. 374). Aus denselben läßt sich folgendes entnehmen.
Bei den Versuchen am Hunde war eine Erhöhung des Sauerstoffverbrauches
bei einer den Bedarf nicht überschreitenden Zufuhr von Fett sehr gering und war
in der 5. bis 9. Stunde in der Höhe von etwa 10 Proz. deutlich sichtbar. Bei einer
sehr reichlichen Zufuhr ging die Steigerung nie über 20 Proz. hinaus, sie fand
etwa von der 4. bis zur 13. und 14. Stunde oder etwas später statt. Im Durchschnitt
von 18 Stunden überstieg die Zunahme des Stoffwechsels nicht 10 Proz. und war
jedenfalls für 24 Stunden noch geringer.
Nach Fütterung mit Kohlehydraten in reichlicher Menge (500g Reis, 200g
Hackfleisch und 25 g Fett) nahm der O-Verbrauch während der zwei ersten Stunden
um etwa 30 Proz. zu, um dann langsam und stetig weiterzuwachsen bis zu einem
Maximum von 39 Proz. während der 6. bis 8. Stunde. Bis zur 11. Stunde sank
der Sauerstoffverbrauch wieder sehr langsam ab und fiel dann schneller, so daß
von der 14. bis 15. Stunde ab die erhaltenen Werte nur um wenige Prozente die
Nüchternwerte übertrafen. Für 24 Stunden berechnet betrug die Zunahme des
O-Verbrauches etwa 17,5 Proz., was aber zu einem Viertel von dem gleichzeitig ge-
nossenen Eiweiß bedingt war. Wenn das Futter nur die dem Bedarf gerade ent-
sprechende Menge von Kohlehydraten enthielt, zeigte sich eine viel geringere Zu-
‘nahme, und zwar betrug dieselbe für die ersten 10 Stunden durchschnittlich nur
etwa 11 Proz.
In einem noch erheblicheren Grade nahm indessen der O-Verbrauch nach
Fütterung mit Eiweiß zu. Durchschnittlich betrug die Steigerung während der
ersten 12 Stunden bei 13,2g N:19 Proz., bei 36,8g N:37,5 Proz., bei 59,3g N
47 Proz. und während der ersten 24 Stunden bzw. 10, 21 und 32 Proz.
Am Menschen fand Magnus-Levy, daß bei 210g Speck oder Butter eine
Steigerung des O-Verbrauches eintrat, die mit der 8. Stunde noch nicht beendet war.
Dieselbe war aber nur gering, für 8 Stunden durchschnittlich nur etwa 6 bis 8 Proz.,
bei Aufnahme von kleineren Fettmengen (100g) ganz unbedeutend. Nach Genuß
von Kohlehydraten in geringer Menge (85 g Weißbrot) zeigte sich eine Steigerung
des O-Verbrauches um 11 bis 16 Proz., die schon in der 3. und 4. Stunde kaum
mehr sichtbar war. In Versuchen, wo 140 bis 160g Stärke verabreicht wurden,
!) Arch. f. d. ges. Physiol. 55, 1, 1893.
uf
BER
u ee ee
Einfluß der Nahrungsaufnahme auf den Stoffwechsel. 419
war der O-Verbrauch in den ersten 3 Stunden bis rund 33 Proz. erhöht, in der
3. Stunde sank die Kurve zumeist ab, um in der 4. und 5. Stunde ziemlich die ur-
sprüngliche Höhe zu erreichen. Endlich beobachtete er nach Genuß von 120 bis
310g gebratenem Rindfleisch eine prozentuale Zunahme des O-Verbrauches bis zu
32 Proz. Das Maximum trat etwa in der 4. Stunde ein. Für die ersten 7 Stunden
betrug die Zunahme bei 250 bis 310g Fleisch etwa 16 bis 22 Proz.').
Auch diese Versuche zeigen also, daß das Fett in mäßigen Gaben keine
erwähnenswerte Steigerung des Gesamtstoffwechsels veranlaßt, daß Kohle-
hydrate in reichlicherer Menge aufgenommen eine erheblichere Zunahme, die
indes nur kurze Zeit dauert, bewirken können, sowie daß das Eiweiß den
Stoffwechsel sowohl für kürzere als für kleinere Perioden steigert.
Da die letzterwähnten Versuche an ruhenden Menschen gemacht wurden
und die Wirkung der Muskelbewegungen auf den Stoffwechsel also wesentlich
ausgeschlossen waren, muß die Ursache der vorliegenden Steigerung des
Stoffwechsels entweder in der Verdauungsarbeit oder darin liegen, daß eine
größere Zufuhr ohne Beteiligung sichtbarer Muskelbewegungen einen größeren
Verbrauch hervorruft.
Daß erstere nicht die alleinige Ursache der betreffenden Steigerung ab-
geben kann, scheint aus der großen Verschiedenheit hervorzugehen, welche
bei mäßigen Gaben von Eiweiß einerseits und von N-freien Nahrungsstoffen
andererseits stattfindet. Denn es läßt sich, meines Erachtens, kaum denken,
daß die Verdauung einer gewissen Eiweißmenge einen so viel größeren Auf-
wand von Arbeit als die einer isodynamen Menge von Fett oder Kohle-
hydraten erforderte. Da wir nun ferner wissen, wie die Spaltung des Ei-
weißes auch bei der natürlichen Verdauung im Darme sehr weit geht, und
wie aller Wahrscheinlichkeit nach diese Spaltung nach stattgefundener Re-
sorption unmittelbar fortgesetzt wird, so dürfte man in bezug auf das Eiweiß
kaum der Annahme entgehen können, daß der Zerfall gerade von der ver-
mehrten Zirkulation von oxydationsfähigem Material verursacht wird 2).
Damit verkenne ich keineswegs den Einfluß der Darmarbeit, deren Be-
deutung in erster Linie von Speck), v. Mering und Zuntzt), Magnus-
Levy) hervorgehoben wurde, und die, wie es scheint, nunmehr auch von
Rubner‘) ziemlich hoch angeschlagen wird. Ist es ja selbstverständlich,
daß die Kontraktionen der Muskulatur der Verdauungsorgane, sowie die
Drüsensekretion nicht ohne die Entwickelung von aktueller Energie stattfinden
können.
Welchen Umfanges die hierdurch hervorgerufene Verbrennung tatsächlich
ist, davon wissen wir indes nichts Bestimmtes. Wenn wir uns vergegenwärtigen,
wie der Stoffwechsel bei Zufuhr von mäßigen Mengen Fett gar nicht ansteigt,
wie er sogar bei ziemlich großen Fettgaben in der Regel nur unerheblich -ge-
steigert wird, und wie die Steigerung bei Kohlehydraten doch der bei Zufuhr
von Eiweiß stattfindenden im allgemeinen weit nachsteht, so müssen wir wohl
') Vgl. auch die Versuche Koraens über die CO,-Abgabe bei verschiedener
Kost. Skand. Arch. f. Physiol. 11, 176, 1901. — ?) Vgl. Fick, Sitzungsber. d. Würz-
burger physik. med. Ges., 21. Dez. 1889. — °) Arch. f. exp. Pathol. 2 (1874);
Physiol. des menschlichen Atmens, Leipzig 1892, 8.28. — *) Arch. f. d. ges. Physiol.
15, 634, 1877; 32, 173, 1883. Vgl. auch Zuntz, ebenda 83, 566, 1901. — °) Ebenda
55, 116, 1893. — °) Rubner, Biol. Ges. 1887, 8. 27. Die Gesetze des Energie-
verbrauches, 8. 127.
27°
420 Einfluß der Nahrungsaufnahme auf den Stoffwechsel.
schließen, daß die Verdauungsarbeit an sich nur einen verhältnismäßig ge-
ringen Aufwand von Energie erfordert.
Diese Auffassung wird durch die Erfahrung Rubners!) gestützt, daß
bei einem Hunde von 7 kg Körpergewicht die Fütterung mit 20 bis 30g
Knochen eine Steigerung des Stoffwechsels um nur 10 Proz. hervorrief. Wenn
aber sehr große Ansprüche an die Verdauungsorgane gestellt werden, so
zeigt sich eine sehr bedeutende Steigerung des Stoffwechsels.. So stieg der
O-Verbrauch in einem Versuche von Magnus-Levy nach Fütterung mit
900 bis 1000 g Knochen während der ersten Stunden um 24 bis 33 Proz. an.
Die Zunahme war also hier etwa desselben Umfanges wie bei Fütterung mit
großen Kohlehydratmengen. Man darf doch nicht behaupten, daß die letzteren
eine ebenso große Darmarbeit erfordert hätten wie 1000 g Knochen.
Es ist möglich, daß der Einfluß der Darmarbeit dadurch verdeckt wird,
daß gleichzeitig die Verbrennung in den übrigen Körperteilen in entsprechen-
dem Umfange herabgesetzt wird. Es würde also eine Kompensation der bei
der Verdauung stattfindenden Wärmeerzeugung durch Ersparung innerhalb
gewisser Grenzen auftreten.
Dies alles gilt aber nur in dem Falle, wenn die Körperbewegungen mög-
lichst vermieden werden, denn diese üben auf den Stoffwechsel einen so mäch-
tigen Einfluß aus, daß schon anscheinend ganz geringfügige Veränderungen
des Muskeltonus eine unverkennbare Veränderung des Stoffwechsels hervor-
rufen. Da wir nun wissen, einen wie großen Einfluß die Nahrungsaufnahme
an sich auf das subjektive Gefühl der Leistungsfähigkeit ausübt und wie in-
folgedessen der Muskeltonus gesteigert wird, ist es leicht zu verstehen, daß
der Umfang des Stoffwechsels nach Nahrungsaufnahme, gleichgültig, wie die
Kost zusammengesetzt sein mag, gesteigert werden kann: diese Steigerung
hängt aber nur indirekt mit der Nahrungsaufnahme an sich zusammen.
$ 4. Der Stoffwechsel bei Zufuhr von anderen N-haltigen
Verbindungen als dem Eiweiß.
Außer dem Eiweiß gibt es eine ganze Menge von N-haltigen Verbindun-
gen, welche in unseren gewöhnlichen Nahrungsmitteln enthalten sind. Bei
der Untersuchung ihres eventuellen Nährwertes gilt es vor allem, festzu-
stellen, ob sie das Eiweiß vollständig oder zum Teil vertreten können oder
in dieser Hinsicht vielleicht ganz wirkungslos sind. Zu diesem Zwecke kann
man prüfen, inwiefern die betreffende Verbindung überhaupt im Körper zer-
setzt wird, oder ob sie unzersetzt vom Körper wieder abgegeben wird. Nur
im ersten Falle ist es möglich, daß die Substanz Eiweiß vertreten kann. Um
dies zu entscheiden, hat man dann zu untersuchen, ob sie, in genügender
Menge, allein für sich die N-Abgabe beim hungernden Körper vollständig auf-
heben kann, oder ob sie, bei stattfindendem N-Gleichgewicht, imstande ist, das-
selbe noch zu unterhalten. Wenn dies der Fall ist, so ist diese Substanz als
dem Eiweiß völlig gleichwertig aufzufassen. Wird aber der N-Verlust beim
Hunger nur zum Teil aufgehoben, oder bleibt das N-Gleichgewicht nicht mehr be-
stehen, ohne daß der Körper so viel Eiweiß als beim Hunger von sich selber zuzu-
setzen braucht, so muß die Verbindung als ein Eiweißvertreter bezeichnet werden.
!) Zeitschr. f. Biol. 19, 330, 1884.
Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Albumosen. 421
Man ist zuweilen auch in der Weise zu Werke gegangen, daß man die be-
treffende Substanz einer bestimmten Kost zugefügt hat, um zu prüfen, inwie-
fern durch diese Zugabe ein Ansatz von Eiweiß erzielt werden konnte. Diese
Verfahrungsweise gibt indes nicht ganz eindeutige Resultate, denn es kann
der Fall sein, daß der Ansatz dadurch Beamngt worden ist, daß die Zugabe
Eiweiß erspart, aber nicht vertritt.
1. Die Verdauungsprodukte des Eiweißes.
Soviel sich aus vorliegenden Erfahrungen entnehmen läßt, wird das ge-
nossene Eiweiß, auch wenn es in nicht koagulierter Form aufgenommen wird, nur
zu einem sehr geringen Teile unverändert aus dem Darme resorbiert. Infolgedessen
ist es von vornherein einleuchtend, daß das Gemenge sämtlicher Produkte der Ei-
weißverdauung, so wie es bei der normalen Digestion gebildet wird, genau denselben
Nährwert wie das Eiweiß haben muß.
Dagegen kann man über den Nährwert der einzelnen Verdauungsprodukte an
und für sich a priori nichts sagen, und nur direkte Versuche können hier den
Ausschlag geben.
Ich werde die älteren hierhergehörigen Arbeiten von Plosz!), Maly?), Adam-
kiewiez°) u. a.*) hier nicht berücksichtigen, da sie einer Zeit entstammen, wo die
Kenntnisse von den Verdäuungsprodukten des Eiweißes noch sehr mangelhaft waren.
Nachdem die Lehre von der Eiweißverdauung durch die Arbeiten von Kühne
und seinen Schülern wesentlich erweitert und vertieft worden war, stellte sich
Pollitzer?) die Aufgabe, den Nährwert einiger dabei entstandener Produkte fest-
zustellen, und zwar benutzte er bei seinen Versuchen Amphopepton, Protoalbumose
und Heteroalbumose, welche Verbindungen sämtlich nach den Vorschriften Kühnes
dargestellt waren. Das Resultat dieser Versuche ist in folgender Tabelle zu-
sammengestellt, aus welcher hervorgeht, daß sowohl das Amphopepton als die
beiden Albumosen ganz denselben Nährwert als das Fleisch besitzen, indem unter
ihrem Einfluß ein ebenso großer N-Ansatz wie bei Fütterung mit einer entsprechenden
Fleischmenge erfolgt*).
| N |
Zahl | i
Futter Fer | Zufuhr | Ausgabe im | ae
Tage Harn und Kot | Pro zag
() () 5 | g |
i 1 |
Fleisch . Bas 1-8 | 1,91 | + 0,50
Pepton . . . i 2 2,41 1,83 | + 0,58
Fleisch . . . . Er, 2,41 | 1,90 #051
Protoalbumose . 2 t 279,47 | 1,80 I + 0,67
Heteroalbumose . | 1 2,49 | 1,67 | + 0,82
Fleisch . a | 1,67 I 4 0,46
Gelatine a ee Be rt 2,77 I. 0,52
Pesch. 2°... 8228 a ar | 1,67 | + 0,46
!) Arch. f. d. ges. Physiol. 9, 323, 1874; 10, 536, 1875. — °) Ebenda
9, 602, 1874. — °) Adamkiewiez, Die Natur und der Nährwert des Peptons,
Berlin 1877; Arch. f. pathol. Anat. 75, 144, 1879. — *) Vgl. Voit, 8. 121, 122,
394. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 37, 301, 1885. — °) Vgl. unter anderen auch
Zuntz, Arch. f. d. ges. Physiol. 37, 313, 1885; Pfeiffer, Berl. klin. Wochenschr.
1885, 8. 477; Gerlach, Die Peptone in ihrer wissenschaftlichen und praktischen
Bedeutung, Hamburg 1896; I. Munk, Therap. Monatsh., Juni 1888; Deutsche med.
Wochenschr. 1889, S. 26; Hildebrandt, Verhandl. d. XII. Kongresses f. inn. Med.
1893; Zeitschr. f. physiol. Chem. 18, 180, 1893; Cahn, Berl. klin. Wochenschr. 1893,
S. 565, 602; Kuhn und Völker, Deutsche med. Wochenschr. 1894, 8. 793.
4923 Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Leim.
Mit dem nach Kühnes Vorschriften durch Selbstverdauung des Pankreas dar-
gestellten „Drüsenpepton“ (wesentlich Antipepton) fand Ellinger') ebenfalls am
Hunde:
N pro Tag
Futter Zufuhr Ausgabe im N-Bilanz
Harn und Kot | pro Tag
g g
Eiweiß ...-. 8,92 6,09 + 2,83
Albumose . ... || 891 6,42 + 2,49
Drüsenpepton . . 8,95 10,39 — 1,44
Obgleich das Drüsenpepton also unzweifelhaft das Eiweiß zu einem gewissen
Grade ersetzen konnte, war es dennoch nicht imstande, dasselbe vollständig zu
vertreten.
Sogar diese Versuche können indes kaum als einwandfrei bezeichnet werden,
-denn.die bei denselben benutzten Präparate stellten, wie aus den Arbeiten der
Hofmeisterschen Schule hervorgeht, bei weitem keine so reinen Verbindungen
dar, wie sie nunmehr erhalten werden können. So bestand das Antipepton El-
lingers aus echtem Pepton mit reichlichen Mengen der Endprodukte der Pepsin-
verdauung; die von Pollitzer gefütterte Protoalbumose war ein Gemenge von Proto-
und Heteroalbumose, und sein Pepton stellte ein Gemisch von der O©- Albumose
Picks mit Peptonen und Endprodukten der Verdauung dar.
Es war daher unumgänglich notwendig, die Frage an der Hand der inzwischen
gewonnenen Erfahrungen wieder aufzunehmen. Dies wurde von Blum?) getan,
und zwar benutzte er bei seinen Versuchen teils die Heteroalbumose des Fibrins,
teils die Protoalbumosen des Kaseins. Seine Resultate sind in folgender Tabelle
zusammengestellt.
2 Tage {
Art des Futters a ad NEHamR
Einnahme Ausgabe g
Pleisch » 70. 2 area ee RO ES 14,12 13,81 u- 0,31
Heteroalbumose des Fibrins . . ... . 14,12 15,30 — 1,18
Fleisch . . ET UNE | 14,7 14,80 BET EH
Protoalbumose I des Kaseins . | 14,7 | 14,43 + 0,27
1100 Ran RE 92:3 14,7 14,0 + 0,7
Protoalbumose II des Kaseins | 14,7 14,4 + 0,3
Während die.beiden Protoalbumosen das Fleisch vollständig ersetzen können,
ist dies mit der Heteroalbumose nicht der Fall, sondern der Körper setzt noch von
seinem eigenen Stickstoff zu; jedenfalls bewirkt auch sie eine wesentliche Ersparnis
an Eiweiß.
Wie Blum "bemerkt, muß dieser Unterschied davon herrühren, daß der Hetero-
albumose gewisse chemische Eigenschaften oder Molekülgruppen fehlen, welche
den anderen primären Spaltungsprodukten zukommen.
Geht man von den beiden als minderwertig erkannten Eiweißabkömmlingen,
der Heteroalbumose und dem Leim (vgl. sub 2), aus, so ergibt sich als wesent-
licher Unterschied zwischen ihnen und den echten Eiweißkörpern inklusive der
Protoalbumosen die Abwesenheit bzw. der geringe Gehalt an Tyrosin und Indol
liefernden Gruppen, hingegen ein verhältnismäßig reichlicher Gehalt an Glykokoll-
!) Zeitschr. f. Biol. 33, 190, 1896. — ?) Zeitschr. f. physiol. Chem. 30, 15, 1900.
Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Leim. 423
gruppen. (Die Kohlehydratgruppen spielen hierbei keine Rolle, da das von solchen
freie Kasein den vollen Nährwert des Eiweißes besitzt.)
Betreffend das Glykokoll wissen wir, daß es im Körper zu Harnstoff oxydiert wird,
und es liegen keine Gründe zu der Annahme vor, daß aus dem im Eiweiß, Leim usw.
enthaltenen Glykokoll die C-reicheren Aminosäuren des Eiweißmoleküls hervorgehen
würden. Der in der Heteroalbumose und im Leim in Form von Glykokoll vor-
kommende Stickstoff hat daher keine Bedeutung für eine eventuelle Synthese von
Eiweiß im Körper.
Das Fehlen der Tyrosin- und Indolgruppen in diesen Substanzen stellt wohl
die Hauptursache ihrer Minderwertigkeit dar, denn anscheinend vermag es der
Körper nicht, eine Neubildung von aromatischen Gruppen zu bewirken. Diese sind
ihm aber unentbehrlich, und eiweißartige Substanzen, welche keine solchen Gruppen
enthalten, können daher seinen Eiweißbedarf nicht decken.
Versuche von Escher und Hermann!) geben dieser Auffassung eine gewisse
Stütze: es zeigte sich nämlich, daß die Zugabe von Tyrosin zu einem eiweißfreien,
aber Leim enthaltenden Futter das Körpergewicht erhielt oder sogar steigerte,
während dasselbe Futter ohne Tyrosin die stetige Abnahme des Körpergewichtes
nicht verhindern konnte. Da indes aus den Veränderungen des Körpergewichtes
nie ganz bestimmte Folgerungen über den Stoffwechsel gezogen werden dürfen,
sind entsprechende Untersuchungen über die N-Bilanz notwendig, ehe die Frage
als erledigt angesehen werden kann.
2. Der Leim.
In wenigen Fragen haben die Ansichten so stark gewechselt wie in bezug
auf den Nährwert des Leimes. Nachdem man sich eine lange Zeit vorgestellt
hatte, daß derselbe einen außerordentlich hohen Nährwert besäße, erfolgte ein
Rückschlag in das entgegengesetzte Extrem, indem man annahm, daß er gar keinen
Nährwert hätte, ja sogar als ein Gift wirken sollte?).
Erst nachdem Bischoff und Voit®) unter Anwendung der inzwischen vervoll-
kommneten Technik auch diese Frage in Angriff nahmen, ‚wurde für unsere Auf-
fassung eine feste wissenschaftliche Unterlage geschaffen, und es ergab sich, daß
hier wie anderswo die Wahrheit zwischen den beiden Extremen lag.
Aus den betreffenden Untersuchungen wie aus späteren Versuchen von Voit
und Hofmann‘) sind einige Resultate in der folgenden Tabelle zusammengestellt.
N-Zufuhr pro Tag
ä N-freie N- N-
A ) in x
Tier |Reihe| Tag in in Extrak- Substanzen | Abgabe Bilanz
Fleisch | Leim |,. pro Tag |pro Tag | pro Tag
: tivstoffen
we g g g g g
L| ı | 1 | 680 = m = 67,0 | + 10
BR 68,0 28,0 °) —..'f _ 83,2 + 12,8
|
5 |1-3 17,0 _ _ 300 Fett 15,5 + 15
47 17,0 _ _ _ 17,8 — 0,8
10—13|) 17,0 28,1°) .- — 435 | + 16
| 7 1 13,6 _ _ 200 Fett 15,3 — 17
2—4 13,6 _ — 250 Stärke 14,7 — 11
| 5—7 13,6 ie _ 250 Zucker 14,9 — 1,8
| 8s—10| 18,6 5) | — | > 40,6 + 15
Y) Vierteljahrsschr. d. naturf. Ges. in Zürich 21, 36, 1876. — ?) Vgl. Voit,
Zeitschr. f. Biol. 8, 297, 1872. — °) Bischoff und Voit, Die Gesetze der Er-
nährung des Fleischfressers 1860. — *) Zeitschr. f. Biol. 8, 313, 1872. — °) 200 g Leim.
424 Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Leim.
N-Zufuhr pro Tag
N-£freie N- N-
Mier |Reihe| Tag in in. & er 2 Substanzen | Abgabe | Bilanz |
Fleisch | Leim | “*W@® | pro Tag | pro Tag | pro Tag
tivstoffen
g g g g & g
I. , 10,2 14,6 !) 0,9 | 200 Speck 86 | — 29
3 | ill. 102 29,2?) 1,5 20 „ 39,8 +11
514 te 1,8 200 , 9,7 —:19
6 |13—15 _ _ Beer — 15 —115
7: 116—17 — 29,2?) 0,8 200 Speck 33,7 — 87
6.1.12 Be ur ee 10,6 — 166;
3—5 — | 43,6°) 0,4 200 Speck 46,1 — 21
7 — _ — _ 17,8 — 17,8
Br) _ _ er) — 10,6 — 10,6
Aus diesen Versuchen folgt, daß der Leim tatsächlich Eiweiß in einem be-
deutenden Grade erspart. In der Reihe I. 1 wurden bei 68g N in 1000g Fleisch
nur 1gN täglich im Körper angesetzt; als dem Futter 200g Leim zugefuhrt wurden,
blieben im Körper 12,89 N zurück. Etwas Ähnliches finden wir in II. 2 und 3, wo-
selbst die Zugabe von 100g Leim zu 10,2 N in 300g Fleisch, 100g Leim und 100g
Speck nicht nur N-Gleichgewicht, sondern sogar einen N-Ansatz von 1,1g bewirkte.
Ferner folgt aus I. 7, daß der Leim in höherem Grade als eine dem Gewichte etwa
gleiche, aber dem Kalorienwerte nach größere Menge Fett oder Kohlehydrate Eiweiß
erspart, sowie aus II. 5 und 7, daß er den N-Verlust beim Hunger wesentlich
herabsetzt.
Auf der anderen Seite kann der Leim aber nicht das Eiweiß vollständig ver-
treten. Dies geht aus Il. 5 bis 7, sowie 16 hervor; im ersten Falle verlor der
Körper bei Zufuhr von 200g Leim noch 3,7g N, im zweiten bei 300g Leim noch
2,1g von sich selber.
Ganz gleiche Resultate erzielte auch Oerum‘). Mit Ausnahme einiger ein-
geschalteter Hungertage bekam das Versuchstier (Hund) die ganze Zeit hindurch
125 g Stärke, 50g Zucker und 5g Fleischextrakt, sowie außerdem eine immer
gleiche N-Menge, einmal im Leim, das andere Mal im Fleisch. Im letzteren Falle
fand ein N-Ansatz im Körper statt, während beim Leim die Stickstoffabgabe stets
größer war als die Zufuhr:
ö : N N- N-
Tag Leim | Mleinch im Futter| Abgabe Bilanz
8 g g g g
1—3 — _ _ 2,1 BR
4—3 = 91 8,5 3,2 + 0,3
—i2 22 _ 3,5 4,3 — 0,8
13—15 ini _ 0,4 2,3 — 1,9
16—23 ar 91 3,5 2,8 -#.0,7
24—29 22 i 3,5 3,9 — 04
30—33 = a 0,4 1,7 18
!) 100g Leim. — ?) 200g Leim. — °) 300g Leim. — *) Nordiskt Medieinskt
Arkiv 11, Nr. 11, p. 8, 1879.
Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Leim. 435
Um diese Resultate richtig zu würdigen, müssen wir noch den physiologischen
Wärmewert des Leimes berücksichtigen. Derselbe wurde von Krummacher!)
nach der Rubnerschen Methode, und zwar mit folgendem Ergebnis bestimmt.
Pro1g Trockensubstanz beträgt die Verbrennungswärme des Leimes 5,209 Kal., davon
ist aber für den Harn 1,23 und für den Kot 0,16 Kal. abzuziehen. Es bleiben also
für 1g aschehaltigen Leim 3,819 Kal. und, bei einem Aschegehalt von 2,95 Proz.,
3,934 Kal. für 1g aschefreien Leim. Macht man nun nach Rubner Korrekturen
für die Quellung des Leimes und für die Lösungswärme des Harnes, so bekommt
man 3,884 Kal. —= 21,2 Kal. für 1g Stickstoff im Leim.
Kehren wir nun zu Oerums Versuchen zurück, so finden wir, daß 3,1g N im
Fleisch = 81 Kal., während 3,1g N im Leim nur 66 Kal. betragen. Die Diffe-
renz ist 15 Kal. oder in Prozent der Gesamtzufuhr bei der Fleischfütterung 1,9.
Es ist kaum anzunehmen, daß diese geringe Differenz das Resultat in merkbarem
Grade hat beeinflussen können.
Um die Frage nach dem Nährwert des Leimes noch weiter aufzuklären, hat
man vielfach den Eiweißzerfall beim Hunger mit dem bei Leimfütterung am Hunde
verglichen. Aus den älteren hierher gehörigen Untersuchungen von Voit, Oerum,
Pollitzer?) und Munk°) schien hervorzugehen, daß unter günstigen Umständen
der Zerfall des Körpereiweißes durch den Leim auf etwa ein Drittel des Hunger-
wertes herabgedrückt werden konnte. In einer Versuchsreihe von Munk, wo das
Futter nebst 57 g Fett und 44 g Kohlehydraten 9,73g N im Eiweiß oder Leim ent-
hielt, wurden folgende Resultate erhalten:
3 | N im Futter | N-Abgabe pro Tag N-
5 pro Tag ı Harn Kot Summa Bilanz
er g Ice g eh g
|
I. | 9,738 N im Eiweiß. . . | 8,75 0,62 9,37 | + 0,38
IL |:8,16; ,„ „. Leim + | |
1,57, „ „ Eiweiß... | 8,69 0,74 943 | +0,31
IH. | 9,73, „ „ Eiweiß... | 89 0,53 9455 | +0,28
l |
Hier konnten also sogar fünf Sechstel des Eiweiß-N durch den Leim-N ersetzt
werden, ohne daß das Körpereiweiß angegriffen wurde. Beim Hungern nach Ende
der dritten Periode schied der Hund am ersten Tage 5,17, am zweiten. 4,32g N im
Harn aus. Dies beträgt pro Körperkilogramm 1,75 g Eiweiß, während in der zweiten
Periode 0,5 g Eiweiß genügten, um den Körper auf seinem Eiweißbestand zu erhalten.
Dem gegenüber bemerkt Kirchmann‘), daß der käufliche Leim immer von
Eiweiß mehr oder minder verunreinigt sei, und stellte daher Versuche mit eiweiß-
freiem Leim an. Diese ergaben wesentlich andere Resultate: wenn Leim allein ge-
füttert wird, so sinkt im ‘günstigsten Falle die Eiweißzersetzung im Verhältnis zu
der beim Hunger stattfindenden höchstens um 35 Proz. — dabei war der gefütterte
Leim imstande, etwa 62 Proz. des Energiebedarfes zu decken. — In Versuchen von
Krummacher’), wo 100 Proz. des Energiebedarfes durch Leim gedeckt worden
waren, konnte der Eiweißzerfall beim Hunger nur um 37,4 Proz. herabgedrückt
werden.
Über das Verhalten des Fettes bei Leimfütterung liegen Versuche von Petten-
kofer und Voit‘) vor, deren Hauptresultate in folgender Tabelle zusammen-
gestellt sind’).
!) Zeitschr. f. Biol. 42, 242, 1901. — ?) Arch. f. d. ges. Physiol. 37, 307, 1885;
vgl. oben 8.421. — ®) Ebenda 58, 309, 1894; 61, 607, 1895; Arch. f. pathol. Anat.
101, 107, 1885. — *) Zeitschr. f. Biol. 40, 54, 1900. — °) Ebenda 42, 252, 1901. —
6) Ebenda 5, 377, 389, 1869; 7, 482, 487, 1871; 8, 370, 1872. — ?) Die Versuche
sind hier umgerechnet unter der Annahme, daß N:C im Fleisch wie 1: 3,28, im
Leim wie 1:2,8 sich verhält.
496 Der Stoffwechsel bei Zufuhr von Leim.
Zersetzt g Kalorien
Nr. Tag Einnahmen & = Kal. #2 kg
N Fett |35 Körper-
[e} Pi
g MB gewicht
1 | 19. Febr. | 1800 Fleisch 59,7 30 — || 1851 | 55,8
2| 24. „ 400 „ 15,3 181 — | 2121 | 64,5
200 Fett
31.07.00 400 Fleisch, 14,9 27 210 | 1531 | 46,6
210 Stärke
4| 2. März 400 Fleisch, 13,4 32 | 227 1518 | 46,6
227 Zucker
54:78. .:.% 400 Fleisch, 39,5 65 — | 1514 | 46,9
200 Leim (28,3 aus Leim,
11,2 aus Eiweiß)
6 | 3. April | 2500 Fleisch 85,4 (+12')| — | 2128 | 63,1
0 A Pe _ 11,6 93 — | 1187 | 36,1
ET Fe _ 5,7 107 — || 1184 | 37,3
|
9.1.11... — 4,7 102 — || 1089 35,7
01 18% 75 350 Fett 77 .169 — || 1800 56,2
11 | 15. Mai 200 Leim 30,6 38 | — | 1014 | 30,8
| (28,3 aus Leim,
i 2,3 aus Eiweiß)
12 | 17. „ 20 „ 30,6 128 — | 1873 | 56,4
200 Fett (28,3 aus Leim, |
2,3 aus Eiweiß) |
18.1.4949, -, 200 Fleisch, 34,7 88 — | 1603 | . 49,0
200 Leim (28,3 aus Leim, |
| 6,4 aus Eiweiß) - |
14 || 21. , 1800 Fleisch, 82,4 (+22))| — | 1810 | 55,2
200 Leim (28,3 aus Leim, |
| 54,1 aus Eiweiß)
N |
I | i
In Versuch 4 wurde bei Zufuhr von 400 g Fleisch und 227g Zucker noch
32 g Körperfett zersetzt. Als in Versuch 5 der Zucker durch 200g Leim ersetzt
wurde, stieg die Fettzersetzung um 33 g. Die Verbrennungswärme von 250 g Zucker
ist etwa 1000 Kal., die von 200g Leim (= 28,3g N) etwa 600; im letzten Falle
ist die Zufuhr also 400 Kal. geringer gewesen. Da der Verbrennungswert des
‚tierischen Fettes 9,46 Kal. beträgt, hätte der Körper 42,3g Fett statt 33g mehr
zersetzen müssen; der Versuch zeigt also, daß der gefütterte Leim in hohem
Grade das Körperfett schützt. — Beim Hunger ist die Zersetzung von Fett in
Versuch 7 bis 9 durchschnittlich 100,8g = 950 Kal. Bei alleiniger Zufuhr von
200 g Leim (= 600 Kal.) in Versuch 11 sinkt der Fettzerfall auf 38, also eine
Ersparnis von 62g = 591 Kal. Hier hat der Leim seinem vollen Wärmewerte
nach das Fett vertreten. Aus den Versuchen 1 und 14 folgt, daß 200g Leim eine
Ersparnis von 30 + 22 = 52g Fett bewirken, d. h. 600 Kal. aus Leim haben
495 Kal. aus Fett erspart usw.
Über das Verhalten der leimgebenden Gewebe beim Stoffwechsel besitzen
wir nur wenige Erfahrungen. In zwei Versuchsreihen mit Knorpeln und Sehnen
fand Etzinger?) folgendes:
!) C-Retention dem zersetzten Eiweiß entsprechend. — ?) Zeitschr. f. Biol. 10,
106, 1874.
ee en u Be neh
Die N-haltigen Extraktivstoffe des Fleisches. 427
N pro Tag
Reihe Tag Futter Futter ER N-Bilanz
8 g g
T. 7 0 0 8,7 — 8,7
8 Knorpel |\ 25 10,2
9 ii J . 10,8 — 17,5; Mittel — 5,8
10 0 0 9,6
11 0 0 7,5 — 75
II. 8 0 0 7,0 = 70
\ 9 | Sehnen \ 46.6 13,1
10 | R J ? 18,6 —+ 5,9; Mittel + 2,0
321 0 | f) 9,0
| 12 0 0 7,6 — 7,6
Da die N-Abgabe im Harn in beiden Reihen am Tage nach der Fütterung
größer ist als während der Hungertage, habe ich bei der Bilanzberechnung auch
diesen Tag mitgenommen. Bei Knorpelfütterung beträgt dann der durchschnitt-
liche N-Verlust 5,8g, 8,7 bzw. 7,5g dem bei Hunger gegenüber; bei Fütterung
mit Sehnen finden wir sogar einen N-Ansatz, der durchschnittlich 2g pro Tag
beträgt. Indessen wurde der Kot in diesen Versuchen nicht analysiert, weshalb
bestimmte Schlußfolgerungen aus denselben nicht gezogen werden können.
Mit Ossein hat Voit!) folgenden Versuch gemacht:
N pro Tag
Tag | Futter Futter PIRARS N-Bilanz
g g g
5 0 0 10,4 — 10,4
6 Össein 41,8
7 R 169,6 59,6
8 2 58,2 — 35,9; Mittel — 7,2
9 0 _ 31,1
10 {) Ir 14,8
11 {) I 10,0 |
Hier wurde auch der Kot an N analysiert, und zwar fanden sich darin
9,7g N, welche zum größten Teil dem gefütterten Ossein entsprechen. Unter Be-
rücksichtigung dieses Stickstoffes wird die Bilanz für die Osseintage und die zwei
folgenden, an welchen die N-Abgabe noch erhöht war, — 45,6 oder pro Tag 9,1g.
Da die N-Abgabe während der Hungertage (5,11) etwa 10,2g betrug, hat das
Ossein wenigstens 1,1g N erspart. Wenn man indessen zu der N-Abgabe während
der ÖOsseintage nur das Plus der N-Abgabe an den folgenden Tagen addiert, so
wird die Ersparnis noch größer: Einnahmen 169,6, Gesamtausgaben 194,8, Verlust
25,28 = 84g N pro Tag.
In bezug auf den Stoffwechsel dürften sich daher die leimgebenden Gewebe
etwa in derselben Weise wie der Leim verhalten ?).
3. Die N-haltigen Extraktivstoffe des Fleisches.
Rubners?) Versuche über den Nährwert dieser Verbindungen ergaben, daß
unter ihrer Einwirkung die CO,-Abgabe gar nicht verändert wurde, während der
!) Zeitschr. f. Biol. 10, 212, 1874. — *?) Über den Nährwert des Elastins
vgl. Mann, Arch. f. Hyg. 36, 166, 1899. — °) Zeitschr. £. Biol. 20, 265, 1884.
Vgl. auch Pflügers Kritik, Arch. f. d. ges. Physiol. 77, 556, 1900.
428 Die N-haltigen Extraktivstoffe des Fleisches.
N-Verlust des Körpers, demjenigen beim Hunger gegenüber, eine geringe Abnahme-
zeigte: N-Verlust während des 6. und 9. Hungertages durchschnittlich 4,5g,
N-Verlust nach Fütterung von je 3,6g N im Fleischextrakt während zwei dazwischen
liegender Tage 3,3 — also eine geringe Ersparnis an N. Auf Grund verschiedener,
im. Originale nachzulesender Überlegungen kommt Rubner indessen zu dem Re-
sultate, daß das Fleischextrakt auf den Stoffwechsel keinen Einfluß hat. Bei diesen
Versuchen konnte der Kot nicht analysiert werden.
Neue Versuche über den Nährwert des Fleischextraktes wurden von Frentzel
und Toriyama') ausgeführt. Das Versuchstier bekam in einer Vorperiode von
vier Tagen 100g Stärke, 50g Schmalz und 3g Fleischasche, sowie im Versuch
mit Fleischextrakt noch 40g davon im Tage. Die Resultate, pro Tag berechnet,
sind folgende.
N
Futter Harn | Kot Summa der DIABE
g g | g Ausgaben
Vorversuch:3.. 1.0.0: 844 0,1 2,83 | 0,3 | 2,6 — 2,5
Hieischextrakt:. usHs.5 wir 3,8 5,8 | 0,5 | 5,8 — 2,0
Der N-Verlust des Körpers ist in beiden Fällen etwa gleich, und der geringen
Differenz zugunsten des Fleischextraktes kann um so weniger irgend welche Be-
deutung zugeschrieben werden, als das Extrakt 0,46g Albumin-N enthielt.
Aus der kalorimetrischen Untersuchung des Harns geht indes hervor, daß das
Fleischextrakt nicht unverändert vom Körper abgegeben wird. Es fanden sich
nämlich im Vorversuch im Harn 20,9, im Kot (näch Abzug des Fettes) 19,9 Kal.,
Summa 40,8 Kal., sowie im Versuche mit Fleischextrakt im Harn 55,3, im Kote
(mit Abzug des Fettes) 22,9, Summa 78,2 Kal. Vom Gesamt-N im Harn während
der Fleischextraktperiode entstammten 0,46 g = 3,4 Kal. dem im Extrakt enthaltenen
Eiweiß. Mit Abzug dieser Quantität betrug also die Mehrausgabe im Laufe dieser
Periode im Harne und Kote täglich 34 Kal. Das gefütterte Fleischextrakt enthielt
104,8 Kal., davon 16,5 im Eiweiß, also in N-haltigen Extraktivstoffen 88,3 Kal.
Jedenfalls sind also 54,3 Kal. vom Körper verwertet worden; die N-haltigen Ex-
traktivstoffe des Fleisches würden daher zu etwa 60 Proz. am Stoffwechsel teil-
nehmen.
In Versuchen von Bürgi?) und Rubner?) an hungernden Hunden wurden
von den Kalorien der aufgenommenen Extraktivstoffe nur 17,6 bis 42,2 Proz. im
Harn nicht wiedergefunden; die genannten Autoren wollen aber nach im Originale
nachzulesenden Überlegungen dartun, daß hier doch keine Verbrennung, sondern
eine Retention der Extraktivstoffe vorliegt, und zwar würde beim Durchgange
dieser Stoffe durch den Körper möglicherweise eine Art Trennung derselben statt-
finden, indem einige rascher als die anderen aus dem Körper entfernt werden.
Unter den einzelnen N-haltigen Extraktivstoffen des Fleisches ist allein das
Kreatin hinsichtlich seines Verhaltens im Körper näher untersucht worden. In
einem Versuche am Hunde, bei welchem zum Normalfutter (500g Fleisch und
250g Stärke) 5g Kreatinin zugefügt wurden, fand Voit‘) im Harn 4,79g Kreatinin
mehr als sonst. Hier wurde also fast die ganze verfütterte Kreatininmenge ohne
Oxydation vom Körper abgegeben. Bei Zusatz von 6,27g Kreatinin erschienen
insgesamt 3,81 g Kreatinin mehr als gewöhnlich; von der eingeführten Kreatinin-
menge konnten demnach 2,46g nicht wieder aufgefunden werden. Bei 8,56g
Kreatin (= 6,48g Kreatinin) betrug die Mehrausgabe an Kreatinin 4,71g. Also
konnte auch hier ein Teil der Fleischbase nicht im Harne nachgewiesen werden.
Unter der Bemerkung, daß das im Wasser so schwer lösliche Kreatin längere Zeit
im Darme bleibt und daher erst später entfernt wird, folgert Voit, daß das ver-
!) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1901, 8. 499. — ?) Arch. f. Hyg. 51, 1, 1904. —
®) Ebenda 51, 19, 1904. — *) Zeitschr. f. Biol. 4, 111, 1868.
u Zu de ne See ee Me u Ba u
Der Nährwert des Asparagins. 429
zehrte Kreatin zum größten Teil wenigstens als solches oder als Kreatinin aus-
geschieden wird '!).
Diese Schlußfolgerung ist durch neüe Versuche am Menschen von Mallet?)
sichergestellt worden. Bei gewöhnlicher Kost betrug die Kreatininabgabe während
9 Tage durchschnittlich 0,817 g (0,695—0,894) — es konnte kein Kreatin nach-
gewiesen werden. Dann gab er in der Kost 5 — 10 — 15g Kreatin oder
Kreatinin und erbielt dabei, mit Abzug für die normal stattfindende Kreatinin-
ausscheidung folgende Resultate:
Kreatinin
Nr. 3; EE {
in der Kost! im Harn II in Proz. von I
g g
1 5 4,81 96,2
2 10 9,77 97,7
5 15 14,74 98,2
Fast die ganze verzehrte Kreatininmenge erschien also am selben Tage im Harn.
Mit Kreatin erzielte er, wie aus der folgenden Zusammenstellung hervorgeht,
genau dasselbe Ergebnis:
Kreatin
Nr. A H.
in der Kost | im Ham°) | H in Proz. von I
g g
|
4 3 | 2,87 95,7
5 5 | 4,81 96,1
e: 7 10 9,75 97,5
7 | 15 14,70 98,0
!
Das Fleischextrakt verdankt seinen Nährwert also anderen Verbindungen als
dem Kreatin.
4. Das Asparagin.
Angesichts des Vorkommens von Asparagin in vielen pflanzlichen Nahrungs-
mitteln hat man zahlreiche Untersuchungen gemacht, um dessen Nährwert fest-
zusstellen.
. Betreffend den Fleischfresser liegen folgende Angaben vor.
v. Knieriem*) fütterte einen Hund neun Tage lang mit 50 g Brot und 100g
Milch mit 1,03g N; dabei schied das Tier während der drei letzten Tage durch-
schnittlich im Harn und Kot 2,14g N aus und verlor also von seinem Körper 1,11 gN.
Zu diesem Futter wurden während zwei Tagen insgesamt 7,21’g N im Asparagin zu-
gefügt; die N-Abgabe stieg dementsprechend an, der Verlust an N sank aber auf
0,87g. Drei folgende Tage mit dem Normalfutter ergaben einen mittleren Verlust
von 0,98g N. Das Asparagin hätte also durchschnittlich eine Ersparnis von
0,19g N bewirkt, was wohl innerhalb der Grenzen der Versuchsfehler fällt.
Demgegenüber findet I. Munk°), daß das Asparagin nicht allein keine Ersparnis
an Stickstoff, sondern vielmehr eine Steigerung des Eiweißzerfalles sowohl während
der Fütterung als nach derselben hervorbringt, wie z. B. in folgendem Versuch.
') Vgl. auch Scheffer, Zeitschr. f. physiol. Chem. 4, 241, 1880. —
®) U. S. Depart. of Agricult., Off. of exp. Stat., Bull. No. 66, 1899. Vgl. auch
Macleod, Journ.. of Physiol., Proceedings 1900, p. 7. — °) Als Kreatinin be-
stimmt. — *) Zeitschr. £. Biol. 10, 284, 1874. — °) Arch. f. path.‘Anat. 94, 436,
1883; 98, 364, 1884.
430 Der Nährwert des Asparagins.
N im |N im Harn 2
N-Bilanz
Nr. | Tag | Futter und Kot Anmerkungen
pro Tag | pro Tag pre. Tag
1: 1—7 34,0 34,3 — 0,3 |1kg Fleisch pro Tag
8—10 39,3 41,3 — 18 |5,3g N in Asparagin
11—12| 34,0 37,2 — 3,2 -| Wie die Tage 1 bis 7
13 34,0 33,8 + 0,2
I. | 1—8 23,8 26,2 — 2,4 700g Fleisch + 120 g Kohlehydrate
9—11 29,1 31,6 — 25 |5,3g N in Asparagin
12 23,8 28,8 5,0
13 23,8 27,9 — 4,1 |Der Kot wurde nicht berück-
14 23,8 28,3 — 45 sichtigt
Mit v. Knieriems Resultaten stimmen dagegen die von Mauthner') ziemlich
genau überein. Sein Versuchshund bekam 7 Tage lang täglich 500g Fleisch und
50g Speck, danach während 3 Tage noch je 20g Asparagin und endlich wieder
das Normalfutter. Ein anderer Hund wurde mit N-freier Kost und Asparagin
gefüttert.
N s P,0,
; Abgabe | Abgabe
Nr. Ta im ; Bemerkungen
e Futter Abgabe | Bilanz |jm Harn im Harn ®
g g g g
I. | 3,5,6,7 | 16,683 1852 |—ı91| 1,08 2,43 Er
8—10 | 20,386 | 21,39 |—097| 0,98 2,30. |9:738N in Aspara-
11 16,63 1928 |—2,65| 1,08 2,46 Rn
D..1,9—5 0,27 3,66 |—3,39| 0,17 a
68 4,0 6,96 | —2,96 | 0,22 0,58. 19:79.8 DAN Apee
9—11 0,27 3,53 .|—3,26 | - 0,14 0,58 gm
Aus dem ersten Versuche geht hervor, daß das Asparagin im Versuch I
während 3 Tage insgesamt 3 X 0,94 = 2,82 g N erspart hat. Am 11. Tage ist
die N-Abgabe indes noch um 0,74g erhöht. Die gesamte Ersparnis beträgt also
2,088 N. Zu gleicher Zeit ist auch die Ausscheidung von 8 und P,O, etwas
herabgesetzt. :
Im zweiten Versuche beträgt die N-Ersparnis durchschnittlich nur 0,37g, die
Abgabe von Schwefel ist erhöht. Jedenfalls findet sich in diesen Versuchen ebenso-
wenig wie in denjenigen von v. Knieriem irgendwelcher deutlicher Beweis dafür,
- daß das Asparagin beim Fleischfresser als Eiweißersparer auftre'en konnte.
Gleich unsicher stellt sich die Wirkung des Asparagins beim omnivoren
Menschen dar. Bei Selbstversuchen beobachtete Graffenberger?), daß, bei statt-
findendem N-Gleichgewicht, die Zugabe von 5g N in Asparagin die N-Ausscheidung
nur um 3,95g erhöhte, daß also eine Ersparnis von 1,05g N stattgefunden hatte.
Aus diesen Versuchen lassen sich indes keine bestimmten Schlüsse ziehen, da der
Kot nicht analysiert wurde.
Als Eiweißersparer dürfte daher das Asparagin weder beim Hunde noch beim
Menschen gelten können. Da es jedenfalls zum großen Teil im Körper oxydiert
wird, wie dies unter anderem aus Potthasts®) Beobachtung, daß der respira-
!) Zeitschr. f. Biol. 28, 506, 1891. — *) Ebenda 28, 319, 1891. Vgl. auch die
Versuche an Ratten von Politis, ebenda 28, 492, 1891 und Gabriel, ebenda 29,
115, 1892, sowie die Bemerkungen Voits, ebenda 29, 125, 1892 und Longo,
Zeitschr. f. physiol. Chem. 1, 213, 1877. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 32, 288, 1883.
a | nn nn ne a nn ll m dl Zn u oc m
Der Nährwert des Asparagins. 431
torische Quotient nach intravenöser Injektion von Asparagin ansteigt'), so sollte
man erwarten, daß es aus dem ae a der Fettersparnis eine gewisse Rolle
spielen könnte.
Wenn wir annehmen, daß das Asparagin glatt in Harnstoff und eine N-freie
Verbindung gespalten wird, so wäre dessen physiologische Verbrennungswärme
gleich 2,358 Kal., etwa 0,56g Stärke entsprechend. Indes ist es dem Menschen
nicht möglich, mehr als 30g Asparagin pro Tag zu genießen; im besten Falle
würde dasselbe also höchstens 16g Stärke = 7,5g Fett vertreten können, was ja
für den Stoffwechsel des Menschen vollständig irrelevant ist. In noch höherem
Grade gilt dies vom Fleischfresser, in dessen URIDEINOENE Nahrung das Asparagin
niemals vorkommt.
Beim Pflanzenfresser dürfte das ERRRER eine größere Bedeutung haben,
und nach den Erfahrungen von. Weiske*) und seinen Schülern, sowie von Kellner)
scheint es, als ob dasselbe unter Umständen eine nicht ganz unerhebliche Wirkung
auf den Umfang des Eiweißzerfalls ausüben könnte. Aus den zahlreichen hierher
gehörigen Beobachtungen teile ich einige charakteristische Beispiele hier mit.
-
3 N pro Tag
Nr E im im | im |Summa Anmerkungen Autor
*» Futter | Harn| Kot |der Aus-, Bilanz
2 g g g gaben
I. 1. |Schaf | 7,29 | 3,28 | 3,74 7,02 + 0,28 : Weiske
“ 15,10 | 9,96 | 3,76 | 13,72 |+-1,32|| 7,84N in Asparagin
n
er | » 17,05 | 9,55| 6,50 | 16,05 |-+ 1,00 5
2.| » 27,13 |16,91| 7,81 | 24,72 |+2,41| 10,08Nin Asparagin A
II. 1. | „118,11 | 10,39 | 6,59 | 16,98 |+ 1,18 1000 g Heu b
2.) „1811| 8,26) 8,42 | 16,68 +1,43) 1000gHeu-+ 183g R
|
St. + 32g Zucker
3.| „ | 27,91 |18,67 | 8,10 | 26,77 |+1,14| 1000g Heu-+ 130g z
St. + 32g Zucker
+ 52,5g Asparagin
IV. 1. ä 9,06 | 2,85 | 6,51 9,36 | — 0,30 Kellner
2. a 18,50 | 11,76 | 5,54 | 17,30 |+1,20 | 9,36 N in Aspara- E
gin *)
2 S = 9,06 | 2,76 | 6,32 | 9,08 — 0,02 i
x 18,50 | 10,90 | 5,77 | 16,67 +1,83 9,36g N in Aspara- 2
gin ‘)
ee = 17,08 | 8,07 | 7,17 | 15,24 +1,84 h 2
A 26,45 |18,34 | 7,08 | 25,42 +1,03 9,36g N in Aspara- >
en gin
vo. 1. 2 17,08 | 7,75| 6,95 | 14,70 |-+ 2,38 R
5 26,45 |16,86 | 6,85 | 23,71 |—+-2,74| 9,36g N in Aspara- F
gın i |
In Nr. Iund II hat das Asparagin, wie es scheint, täglich 1,04 bzw. 1,41g N
erspart; dasselbe ist in Nr. IV und V der Fall. Dagegen kommt keine durch das
Asparagin bewirkte Ersparnis in Nr. III, VI und VII zum Vorschein. Nach den
) CH, ‚(NHY.O „= = CO(NH,), + 0,H,0,. — ?) Zeitschr. f. Biol. 15, 261,
Harnstoff
1879; 17, u 1881; 20, 254, 1884; 30, 254, 1894. — °) Ebenda 39, 313, 1900.
In diesen Arbeiten wird auch über die übrige Literatur berichtet. — *) Als Ersatz
für eine entsprechende Menge Stärke.
4323 Der Nährwert der Fettsäuren.
näheren Angaben über diese Versuche folgt, daß die Ersparnis eigentlich nur in
dem Falle eintritt, wenn das Asparagin einem kohlehydratreichen, aber verhältnis-
mäßig eiweißarmen Futter zugegeben wird.
Betreffend diese Wirkung haben wir keine Veranlassung anzunehmen, daß
das Asparagin durch synthetische Prozesse im Körper in Eiweiß verwandelt werden
könnte. Es muß daher nur als Eiweißersparer wirken.
In dieser Hinsicht wäre in erster Linie daran. zu denken, daß das Aspa-
ragin in derselben Weise wie Fett, Kohlehydrate oder Leim das Eiweiß ersparen
könnte. Dagegen spricht aber der Umstand, daß es bei den Pflanzenfressern nur
bei verhältnismäßig geringen Eiweißmengen im Futter diese Wirkung entfaltet,
sowie daß dieselbe, wenn sie bei den Fleischfressern und dem Menschen überhaupt
existiert, bei diesen nur eine sehr geringe ist.
Viel wahrscheinlicher erscheint daher die ursprünglich von Weiske aus-
gesprochene Anschauung, welcher später Zuntz') und Hagemann’) beigetreten
sind. Nach dieser würde die durch das Asparayin bewirkte Ersparnis an Eiweiß
dadurch zuwege gebracht werden, daß es von den im Darme vorhandenen Bak-
terien angegriffen würde und solcher Art das Eiweiß vor diesen schützt. Mög-
licherweise könnte es durch die Lebenstätigkeit dieser Bakterien sogar in Eiweiß
verwandelt und dann als solches vom Körper verwertet werden.
Für diese Auffassung spricht gewissermaßen auch Kellners Erfahrung, daß
am Lamm das Ammoniumacetat die gleiche Ersparnis hervorruft, wie z. B. in
folgendem Versuch:
N pro Tag |
Nr. | A kunge
. Einnahme Ausgabe Bilans | EN
g g |
1 | 10,26 9,15 +11 |
Ze 15,99 18,15 +2,84 | 5,73g N in Ammoniumacetat
3 | 15,99 13,67 +2,32 | 5,73g N in Asparagin
Daß das Asparagin durch eine bessere Ausnutzung der Kohlehydrate das
Eiweiß erspare, dürfte nicht sehr wahrscheinlich sein, denn im vorliegenden Versuch
wurde die Resorption der Kohlehydrate nur um 20g verbessert, und diese Menge
dürfte kaum eine Ersparnis von mehr als 1g N bewirken können, besonders wenn
wir uns vergegenwärtigen, daß die sonst resorbierten Kohlehydrate in Nr. IV und
V nicht weniger als etwa 500g betrugen. Außerdem beobachtete Kellner, daß
die Rohfaser in größerem Umfange zersetzt wurde, was eine lebhaftere Tätigkeit
der Darmbakterien anzeigt.
8 5. Der Stoffwechsel bei Zufuhr von einigen N-freien
Verbindungen.
1. Freie Fettsäuren.
Bei der Verdauung zerfällt das Fett, zum größten Teile wenigstens, in Fett-
säuren und Glycerin; aus diesen wird dann das Fett wieder in der Darmschleim-
haut synthetisiert. Welchen Nahrungswert haben aber Fettsäuren und Glycerin,
wenn sie allein für sich genossen werden?
Um diese Frage aufzuklären, brachte I. Munk°) einen Hund in N-Gleich-
gewicht mit 600g Fleisch uud 100g Speck, gab sodann dem Tiere statt des letz-
teren 100 g Hammieltalg und ersetzte endlich diesen durch die aus 100g Hammeltalg
dargestellten Fettsäuren. Das Tier blieb die ganze Zeit im N-Gleichgewicht, wie
aus der folgenden Zusammenstellung hervorgeht.
%) Arch. f. d. ges. Physiol. 49, 483, 1891. — °) Landwirtschaftl. Jahrb. 20,
264, 1891. — ®) Arch. f. path. Anat. 95, 433, 1884.
Der Nährwert des Glycerins. 433
N N im Harn N-Bil
. und Kot „Dilanz
Versuchstag Futter pro Tag im Futter Mittel pro Ära Eee
pro Tag Tag
g g g g
1-3 | 600 Fl. + 100 Sp. 20,4 20,06 +0,34
4— 9 | 600 Fl. + 100 Hammeltalg 20,4 19,91 + 0,49
10—14 | 600 Fl. + Fettsäuren aus 20,4 20,44 — 0,04
| 100 Hammeltalg x
In bezug auf die Ersparnis an N üben also die freien Fettsäuren nahezu den-
selben Einfluß wie die entsprechende Fettmenge aus.
Da Munk') schon früher nachgewiesen hatte, daß freie Fettsäuren aus dem
Darme vorzüglich resorbiert werden, war dieses Resultat eigentlich voraus-
zusehen, denn die Glycerinmenge in 100g Fett beträgt nur 9g, welche 37,6 Kal.
= etwa 4g Fett entsprechen, und es ist, wie Voit bemerkt, nicht gut möglich,
daß eine Differenz der Fettaufnahme von 4g einen deutlich hervortretenden Einfluß
auf den Eiweißumsatz im Körper ausüben könnte.
2. Das Glycerin.
Betreffend das Glycerin an sich geht aus den Arbeiten von I. Munk®),
Lewin®), Tscherwinsky*) und Arnschink°) hervor, daß es beim Hunde in
Dosen von 25 bis 200 g keinen eiweißersparenden Einfluß ausübt, sondern viel-
mehr bei größeren Gaben neben einer Vermehrung der Harnmenge eine Er-
höhung der N-Abgabe in Harn, welche noch an den nach dem Glycerintage
folgenden Tagen fortdauert, bewirkt. Demgegenüber findet Sommer‘) beim
hungernden Kaninchen nach Glyceringabe eine unzweideutige Abnahme der
N Abgabe, z. B. am 3. Hungertage 0,74g N im Harn, am 4. und 5. Hungertage,
wo je 15g Glycerin verabreicht wurden, 0,62 bzw. 0,61g N. Ferner wird es in
einer wesentlichen Menge (beim Hunde nach einer nicht ganz zuverlässigen Me-
thode bestimmt bis zu 37 Proz., Arnschink) unzersetzt im Harn ausgeschieden.
Nach Leo’) finden sich beim Menschen erst nach einer Gabe von 20g Glycerin
Spuren davon im Harn. Nach Aufnahme von 26,8g Glycerin betrug a Menge
des im Harn entleerten Glycerins 0,5 bis 1g.
Bei nicht zu großen Gaben verbrennt also das Glycerin vollständig im Körper.
Dennoch tritt es nicht ganz entsprechend seinem Wärmewerte für das Fett ein,
„denn es wird mehr Glycerin zersetzt, als seinem Wärmewerte nach nötig wäre.
Bei größeren Dosen können bis zu 57 Proz. unnütz verbrennen (Arnschink). Zu
etwa dem gleichen Resultat kam auch I. Munk®°) bei Versuchen an curaresierten
Kaninchen, denen Glycerin intravenös eingespritzt wurde. — Auf der anderen
Seite berichtet aber Sommer über Versuche an Kaninchen, bei welchen der
respiratorische Quotient konstant blieb und sich nicht deutlich in der Richtung
veränderte, wie man zu erwarten hätte, wenn es beim Stoffwechsel angegriffen
worden wäre.
Bei der Nahrung des Menschen spielt das Glycerin an sich nur eine sehr
untergeordnete Rolle. Es ist zwar in allen gegorenen Getränken vertreten, aber
nur in verhältnismäßig geringen Mengen; im Liter Bier werden etwa 1 bis 3, im
Liter Wein etwa 7 bis 14g aufgenommen. In diesen Quantitäten dürfte das
Glycerin sowohl verbrannt als seinem Wärmewerte nach verwertet werden.
Die mit Biertrebern gefütterten Kühe erhalten, nach Soxhlet, nicht un-
beträchtliche Mengen von Glycerin.
!) Arch. £. path. Anat. 95, 407, 1884. — ?) Ebenda 76, 119, 1879. — °) Zeitschr.
f. Biol. 15, 243, 1879. — *) Ebenda 15, 252, 1879. — °) Ebenda 23, 413, 1887. —
©). Festschrift für Fick, Braunschweig 1899, S. 95. — 7) Arch. f. d. ges. Physiol.
93, 269, 1903. — ®) Ebenda 46, 303, 1890.
Nagel, Physiologie des Menschen, I. 28
434 Der Nährwert der Cellulose.
3. Die Cellulose.
Betreffend die Verdauung der Cellulose wissen wir durch Biedermann
und Moritz'), daß sie bei Helix pomatia durch ein im Darminhalt befindliches
Enzym, und zwar unter Bildung von Zucker aufgelöst wird. Sonst ist noch nichts
von einer Enzymwirkung im Tierreich auf die Cellulose bekannt, denn die Angabe von
Knauthe?), daß beim Karpfen ein entsprechendes Enzym im Hepatopankreas und
Dünndarminhalt vorhanden wäre, konnte von E. Müller®) nicht bestätigt werden.
Sonst wird die Lösung der Cellulose, wie von Tappeiner*) zuerst nachgewiesen
wurde, durch einen von Bakterien bewirkten Gärungsprozeß zuwege gebracht.
Bei dem Wiederkäuer findet diese Gärung im Pansen und im Dickdarm statt,
dagegen kann eine wesentliche Beteiligung des Dünndarmes an diesem Vorgange
als ausgeschlossen betrachtet werden. Bei dieser Gärung, an welcher Eiweiß-
körper, Fette und Stärke nicht wesentlich beteiligt sind, werden Kohlensäure,
Sumpfgas, Aldehyd, große Mengen flüchtiger Säuren, und zwar vorwiegend Essig-
säure und eine Säure von der Zusammensetzung der Buttersäure gebildet.
Die durch diese Gärung dem Körper zur Verfügung gestellte Energie wird
von Henneberg und Stohmann’) in folgender Weise berechnet. Aus 100g
Cellulose entstehen etwa 33,5 g CO,, 4,7g Sumpfgas und je 33,6 & Essigsäure und
Buttersäure (wenn es gestattet ist, die flüchtigen Fettsäuren auf beide gleichmäßig
zu verteilen). Die Verbrennungswärme für 100g Cellulose beträgt 414,6 Kal., die
von 4,7 g Sumpfgas, welche in den Darmgasen abgegeben werden und daher dem
Körper nicht zugute kommen, 62,7; es bleibt also als Nutzwert für 100g gegorene
Zellulose 351,9 Kal. Nach Wilsing‘) verlassen (beim Ziegenbock) von den gebil-
deten flüchtigen Säuren etwa 3 Proz. unzersetzt den Körper; unter Berücksichtigung
dieses Verlustes, sowie der Tatsache, daß die Heurohfaser nur zu etwa 60 Proz. im
Darme gelöst wird, würde beim Pflanzenfresser auf 100g gefressene Cellulose ein
Nutzeffekt von 204,8 Kal., d. h. pro 1g 2,048 Kal. kommen.
Daß die Cellulose auch im Darme des Menschen ausgenutzt wird, zeigte
zuerst Weiske’), der bei Darreichung von gekochten Möhren, Sellerie und Kohl
in zwei Versuchen eine Ausnutzung der Rohfaser von 47 bis 63 Proz. beobachtete.
v. Knieriem®), der Versuche mit Scorzonera hispanica und Kopfsalat machte,
fand bei jener eine Ausnutzung von nur 4 Proz., beim Salat mit dessen zarterer
Cellulose dagegen eine von 25 Proz. Bei Versuchen mit kleiehaltigem Brot beob-
achteten Hultgren und Landergren’), daß die N-freie Substanz der Hülsen
mindestens zu 23 Proz. im Darme gelöst wurden.
Durch diese Erfahrungen ist aber noch nichts über den Nährwert der:Zellu-
lose entschieden... Allerdings muß ja die bei dem Gärungsvorgang entwickelte
Wärme, welche nach Henneberg und Stohmanns Berechnungen pro 100g ge-
löste Cellulose nur etwa 44 Kal. beträgt, dem Körper unverkürzt zugute kommen,
es fragt sich aber, ob die bei dieser Gärung gebildeten flüchtigen Fettsäuren in
einem nachweisbaren Grade als Ersparer anderer Nahrungsstoffe dienen können.
Betreffend das Eiweiß gibt v. Knieriem'”) an, daß es beim Kaninchen durch die
Cellulose merkbar erspart wird; demgegenüber findet Weiske'!) sowohl am Kanin-
chen als am Schafe, daß die Cellulose in dieser Hinsicht gar keine Wirkung aus-
übt, und auch v.Wolff'?) ist zu demselben Resultate gekommen. Wegen Einzel-
heiten muß auf die unten zitierten Arbeiten verwiesen werden.
Unter Anwendung des Voitschen Respirationsapparates untersuchte v. Knie-
riem auch den Einfluß der Zellulose auf die Fettzersetzung und fand (beim
!) Arch. f. d. ges. Physiol. 73, 219, 1898. — *) Arch. f. (Anat. u.) Physiol.
1898, 8. 152. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 83, 619, 1901. — *) Zeitschr. f. Biol.
20, 52, 1884; 24, 105, 1888; ®) Ebenda 21, 613, 1885. Vgl. auch Zuntz und
Hagemann, Landwirtschaftl. Jahrbücher, 27. Ergänzungsbd. (3), 8. 241, 1898. —
6) Zeitschr. f. Biol. 21, 625, 1885. — 7) Ebenda 6, 456, 1870. — ®) Ebenda 21, 67,
1885. — °) Skand. Arch. f. Physiol. 5, 129, 1894. — !) Zeitschr. £. Biol. 21, 94,
1885; 24, 293, 1888. — !') Ebenda 22, 373, 1886; 24, 553, 1888. — !?) Vgl. Weiske,
Zeitschr. f. Biol. 24, 560.
Der Nährwert der Pentosen. 435
Kaninchen), daß diese durch 7,47 g zersetzte Rohfaser um etwa 2 bis 3g vermindert
wurde. Zu demselben Schluß führen auch I. Munks') Untersuchungen über den
Einfluß des buttersauren Natrons, wenn es curaresierten Kaninchen intravenös
injiziert wurde; hierbei stellte es sich nämlich heraus, daß die Buttersäure rasch
oxydiert wurde, sowie daß hierbei sonst verbrennendes Körpermaterial, wohl in erster
Reihe Körperfett, obgleich anscheinend nicht in isodynamer Menge erspart wird.
Nach diesem allen würde man doch nicht so weit wie einige Autoren gehen
und der Zellulose allen Nährwert absprechen können. Beim Menschen hat sie
aller Wahrscheinlichkeit nach keine nennenswerte Bedeutung, beim Pflanzenfresser
wird sie aber bis zu einem gewissen Grade am Stoffwechsel wirklich teilnehmen
können.
4. Pentosen?).
Nachdem Ebstein°®) nachgewiesen hatte, daß beim Menschen nach Dar-
reichung von der Arabinose oder Xylose diese im Harn erschienen, stellte Cremer‘)
Versuche an, um die Ausscheidungsverhältnisse verschiedener Kohlehydrate quan-
titativ festzustellen, und fand dabei folgendes:
R Pentose; im En Dauer der
k Pentose Darm, Harn Nase, Beob-
Nr. Tierart x x
und Kot unngesetzi achtung,
g g g Stunden
1 Huhn Aylose...... „144 210,2 2,2 8,0 12
2 | Kaninchen || Arabinose . . . 28,8 13,0 15,8 15
3 Mensch r 9,3 etwa 15 | 41
4 Huhn Rhamnose . . . 10,0 7,4 2,6 | 12
5 || Kaninchen ® EBEN AL 23,2 6,8 | 15
6 R R 30,6 16,9 13,1 | 16
7 a - 28,5 16,5 12,0 | 24
|
Bei Versuchen von Jaksch’°) wurden im Harn von 20g Arabinose im Laufe
von 31 Stunden 43 Proz. ausgeschieden, während dieser Körper im Kote niemals
zu finden war. Nach Darreichung von 10 g Xylose wurden innerhalb 14 Stunden
bis zu 54 Proz. im Harn abgegeben; Kot frei von Xylose. Nach 20 g Rhamnose
fanden sich im Harn bis zu 64 Proz. derselben; auch trat sie in erheblicher Menge
im Kot auf. — Diese Versuche geschahen an Kranken; an sich selber führten
Bendix und Dreger‘) mit 20 bis 50g Xylose Versuche aus. Davon wurden 30
bis 38 Proz. im Harn abgegeben.
Die Pentosen werden also in ziemlich großen Mengen unverändert vom
Körper abgegeben, zum Teil aber doch in ihm verwertet.
Bei Fütterung von Arabinose in Dosen von etwa 10g fand Salkowski’)
beim Kaninchen durchschnittlich 18,4 Proz. davon im Harn wieder (der Kot wurde
nicht untersucht). Unter der Einwirkung der Arabinose war die N-Abgabe im
Harn in drei Fällen geringer als beim Hunger (Hunger 1,40, 0,80, 1,40; Arabinose
1,15, 0,46, 0,77 g), in einem Falle gleichgroß und in einem Falle bedeutend größer
(Hunger 0,61; Arabinose 1,01g).
Beim diabetischen Menschen beobachteten Lindemann und May°) unter
dem Einfluß von 65g verabreichter Rhamnose, von welcher nur 10,1g = 16 Proz.
") Arch. f. d. ges. Physiol. 46, 322, 1890. — *) Vgl. die Zusammenstellung
von Neuberg, Ergebn. d. Physiol. 3 (1), 412, 1904. — °) Zentralbl. f. d. med.
Wiss. 1892,-8. 577. Arch. f. path. Anat. 129, 406, 1892; 132, 368, 1893. Vgl. auch
Salkowski, Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1892, 8. 593; 1893, 8. 193. — *) Zeitschr.
f. Biol. 29, 521, 1892. — °) Zeitschr. f. Heilkunde 20, 195, 1899. — °) Deutsch.
Arch. f. klin. Med. 78, 198, 1903. — 7) Zeitschr. f. physiol. Chemie 32, 393, 1901. —
®) Deutsch. Arch. f. klin. Med. 56, 286, 1896.
28 *
436 Der Nährwert der Pentosen.
wieder ausgeschieden wurden, eine bedeutende Abnahme der N-Abgabe (von 17,0
auf 14,8g). Dagegen fand v. Jaksch!) nach Einführung von Xylose. beim Dia-
betiker eine enorme Steigerung des Eiweißzerfalles, sowie anscheinend auch eine
Steigerung nach Zufuhr von Rhamnose.
Am Kaninchen fanden Neuberg und Wohlgemuth) bei Gaben von ie by%
von l- oder d-Arabinose bei jener etwa 15 und bei dieser 31 bis 39 Proz. der ver-
fütterten Menge im Harn wieder. Bei Fütterung einer r-Arabinose erschienen 22
bis 24 Proz. unverändert und 5 bis 9 Proz. als d-Arabinose im Harn.
Cremer°) ist der einzige, der nähere Versuche über den Nährwert der Pen-
tosen, und zwar der Rhamnose, ausgeführt hat. Seine Resultate, welche sich auf
das Kaninchen beziehen, sind in folgender Tabelle zusammengestellt:
Abgabe
Nr. Futter N Kal.
g g
I, Hunger 1,55 13:55 | 181
Rhamnose | 1,63 | 16,38 178 f u; Bhamnoee ; im Haraı
g s
Hunger 1,67 | 15,52 185 | 2
| |
II. | Hunger 0,90 | 10,7 | 129 | |
| | 5 21g Rhamnose; im Harn
Rhamnose 0,85 | 12,2 | 128 \ und Kot 1,9g
| Hunger 1,07 95 | 113.
| Hunger 1,22 96 | 113
I)
IM. | Hunger 1,62 12,4 146
| Tinet. op. 2,00 12,2 141
f 28,7g Rhamnose; im Harn
| Rhamnose 2,13 12,5 126 und Kot 4,5g
Hunger 2,46 11,1 120
Die kalorischen Werte sind hier unter der Voraussetzung berechnet, daß die
gesamte, im Harn und Kot nicht wiedergefundene Menge von Rhamnose im Körper
verbrannt worden ist (lg Rhamnose = 3,909 Kal... Wenn diese Voraussetzung
richtig ist und wenn die im Harn und Kot nicht nachgewiesenen Mengen der
Rhamnose tatsächlich zugrunde gegangen sind, so folgt aus diesen Versuchen
unbedingt, daß die Rhamnose als ein wirklicher Nahrungsstoff aufzufassen ist. Wie
aber Cremer selber bemerkt, kann es dennoch der Fall sein, daß größere Mengen
Methan gasförmig, sowie größere Mengen unbekannten C-haltigen Materials mit
dem Harn ausgeschieden werden. Hierüber liegen indes keine direkten Erfahrungen
vor. Jedenfalls steht der stringente Beweis für den Nährwert und die Isodynamie der
Pentosen noch aus, wenn es auch sehr wahrscheinlich ist, daß sie als Nahrungsstoffe
bezeichnet werden müssen. In einem gewissen Grade wird diese Annahme durch
die Tatsache unterstützt, daß die Nucleinsäuren in ihrem Molekül Pentosen enthalten.
Betreffend die Pentosane gibt Slowzoff*) für das Xylan an, daß am
Kaninchen 14 bis 62 Proz. im Kot und 1,5 bis 4,6 Proz. im Harn unverändert
ausgeschieden wurden. Nach 24 bis 48 Stunden konnte im Blute etwas, in der
Leber und den Muskeln dagegen größere Mengen desselben nachgewiesen werden.
Nach Stone°’) werden beim Pflanzenfresser die Pentosane bis zu 50 bis
60 Proz., nach Rudzinski‘) zu 47 Proz. ausgenutzt’).
!) Vgl. F.Voit, ebenda 58, 523, 1897. — ?) Zeitschr. f. physiol. Chem. 35,
41, 1902. — °?) Zeitschr. f. Biol. 42, 451, 1901. — *) Zeitschr. f. physiol. Chem. 34,
181, 1901. — °) Zitiert nach Neuberg und Wohlgemuth, ebenda ‘35, 65. —
°) Ebenda 40, 317, 1904. — 7) Vgl. auch betreffend den Menschen König, Zeitschr.
f. Unters. d. Nahrungs- und Genußmittel 5, 110, 1902, sowie Schierbeck, Arch. £.
Hygiene 51, 80, 1904.
|
F
Asa nn a ch A
Der Nährwert anderer Kohlehydrate. 437
5. Andere Kohlehydrate.
Am Kaninchen untersuchte Münch!) das Verhalten der Hexosen Formose
und Methose, sowie des Methylglykosids teils nach Injektion in das Blut, teils nach
Eingabe per os. Seine Hauptresultate sind folgende:
Im Harn erscheint |
| |
Methyl- |
Formose | Methose | glykosi al
Proz. Proz. | Proz. |
| |
Injiziert in die V. jue. . . . 15 | 60,3 | 249 |
Injiziert in die V. mes. an | |
hungernden Tieren . .. . 11,0 12,0 | 0
Injiziert in die V. mes. an ge- | | ER EER
Tütsorten Lieren .- 2.4. | 102,0 826 | 15,6 Zu
Injiziertt in den Magen an |
hungernden Tieren . . . . | 15,7 8.“ 4,7
Injiziert in den Magen an ge | | |
fütterten Tieren . ee Ri 6,9 37 0
| | \
Die im Harn abgegebene Menge dieser Substanzen, wenn sie in die Blutbahn
injiziert werden, ist bei hungernden Tieren wesentlich geringer als bei gefütterten,
während bei Injektion in den Magen das Umgekehrte stattfindet. Betreffend "die
Betrachtungen, die Münch an diesen Sachverhalt knüpft, muß auf das Original
verwiesen werden.
Über die verschiedenen Arten der Mannose berichten Neuberg und
Meyer), daß die d-Mannose im Harn gar nicht erscheint, von 10g der 1-Mannose
treten 1,2g als solche und 4g als l-Glukose im Harn auf. Die i-Mannose wird
partiell zersetzt und in i- und l-Glukose umgewandelt. Bei hungernden Tieren ist
die Verwertung der l- und i-Mannose fast vollständig, bei gefütterten aber nur
sehr mäßig.
Die «-Gluko-Heptose wurde von Wohlgemuth®) am Kaninchen untersucht.
Am gefütterten Tiere erschienen bei Einführung in den Magen 29 Proz., bei subku-
taner Einspritzung 44 Proz. und bei intravenöser Injektion 50 Proz. der Heptose
im Harn wieder. An hungernden Tieren wurden 6g Heptose per os eingegeben
und dabei nur 0,3 bis 0,4g im Harn wiedergefunden (die Fäces wurden nicht
untersucht).
6. Der Alkohol.
Über den Nährwert des Alkohols liegen sehr zahlreiche Untersuchungen vor.
Da diese in der letzten Zeit von Rosemann*), Rosenfeld°’) und Atwater®)
eingehend besprochen worden sind, kann ich mich bei der vorliegenden Darstellung
auf die wichtigsten Arbeiten beschränken und verweise in bezug auf die näheren
Einzelheiten auf die genannten Arbeiten.
In erster Linie muß die Frage beantwortet werden, ob und in welchem Um-
fange der Alkohol im Körper oxydiert wird.
Daß der Alkohol tatsächlich zum größten Teil im Körper verbrannt wird und
nur in geringer Menge unverändert in die Ausscheidungen des Körpers abgegeben
!) Zeitschr. f. physiol. Chem. 29, 493, 1900. — ?) Ebenda 37, 530, 1903. —
®) Ebenda 35, 568, 1902. — *) Arch. f. d. ges. Physiol. 86, 307, 1901. — °) Rosen-
feld, Der Einfluß des Alkohols auf den Organismus. Wiesbaden 1901. — *) The
physiological Aspects of the Liquor Problem: Investigations made by and under the
Direction of Atwater, Billings, Bowditch, Chittenden and Welch. Boston
1903. Part II. p. 149—347.
438 Der Nährwert des Alkohols.
wird, wurde vor allem von Austie, Thudichum und Dupr& festgestellt!). Die
Menge des unverändert abgegebenen Alkohols beträgt beim Menschen nach Versuchen
von Bodländer?) 2,9 Proz, nach Straßmann®) 7,9 Proz., nach Atwater und
Benedict*) dagegen nur 1,9 (1,0 bis 3,7) Proz. des genossenen Alkohols.. Da
die letzteren Versuche nach den genauesten Methoden ausgeführt wurden, dürfte
man schließen können, daß nur ein ganz geringer Teil des Alkohols der Zersetzung
im Körper entgeht.
Auch wenn also der Alkohol im Körper oxydiert wird, ist es dadurch nicht
bewiesen, daß er einen Nährwert besitzt, denn man könnte sich ja denken, daß
der Umsatz der organischen Nahrungsstoffe in gleichem Umfange wie ohne Alkohol.
stattfände, und in diesem Falle würde natürlich der Alkohol ganz unnütz ver-
brennen.
Bei Versuchen hierüber ist es notwendig, nur solche Gaben von Alkohol zu
verabreichen, bei welchen keine ausgesprochenen Vergiftungssymptome erscheinen,
denn während des Excitationsstadiums steigern die dabei auftretenden starken
Muskelbewegungen den Stoffwechsel, und während des folgenden Depressions-
stadiums wird derselbe durch die allgemeine Erschlaffung herabgesetzt. In beiden
Fällen liegen sekundäre Wirkungen des Alkohols vor, welche keine bestimmten
Folgerungen in bezug auf die tatsächliche Bedeutung des Alkohols beim Stoff-
wechsel gestatten. Es ist daher wichtig, daß die Versuche am Menschen aus-
geführt werden, denn nur so können wir den Grad der eventuellen Vergiftung
einigermaßen sicher beurteilen. Auch um Raum zu ersparen, werde ich daher
bei der folgenden Darstellung nur die am Menschen gewonnenen Resultate be-
sprechen.
Nach Genuß von 20 bis 30cem in entsprechendem Grade verdünnten abso-
luten Alkohols zeigte sich in Versuchen von Zuntz und Berdez°): während 1'/,
. bis 2 Stunden nur eine ganz geringe Zunahme (etwa 3,5 Proz.) des respiratorischen
Stoffwechsels. Ebenso fand Geppert‘) bei Gaben von 30 bis 190cem Alkohol
keinen in Betracht kommenden Effekt auf die O-Aufnahme; die CO,-Abgabe war
entweder konstant, oder sie ging etwas herunter. Diese beiden Versuchsreihen
wurden unter Anwendung der Respirationsmaske ausgeführt. Mit dem Stock-
holmer Respirationsapparat machte Bjerre’) einen Versuch, indem er an zwei
aufeinander folgenden Tagen genau die gleiche Kost genoß, am zweiten Tage
aber dazu noch 407 g Kognak mit 166g Alkohol aufnahm. Am 1. Tage schied er
insgesamt 749, am zweiten 780g CO, aus. Wenn der Alkohol bei seiner Ver-
brennung andere Nahrungsstoffe nicht erspart hätte, so hätte die CO,-Abgabe am
2. Tage, unter der Voraussetzung, daß 10 Proz. des Alkohols unzersetzt vom
Körper abgegeben worden wären, statt 780g nicht weniger als 1038g betragen
müssen.
Aus diesen und anderen Versuchen folgt also, daß der Alkohol bei seiner
Verbrennung im Körper tatsächlich N-freie Nahrungsstoffe erspart.
In bezug auf das Verhalten des Eiweißzerfalles unter dem Einfluß von Alko-
hol sind vor allem diejenigen Versuche von Bedeutung, bei welchen in einer genau
' analysierten Standardkost Fett oder Kohlehydrate durch eine isodyname Menge
Alkohol ersetzt wurden. Nach dieser Versuchsmethode fand Miura°), daß je 65g
Alkohol, während 4 Tagen statt 110g Kohlehydrate verabreicht, die N-Abgabe er-
höhen und also keine eiweißersparende Wirkung ‚ausüben.
Bei ähnlicher Versuchsanordnung, wo 77,6 g Fett durch 100 g absoluten Alkohol
ersetzt wurden, erzielte Neumann’) ein wesentlich anderes Resultat, wie aus fol-
gender Zusammenstellung ersichtlich ist. 4
!) Vgl. Atwater, a. a. O. p. 180. — ?) Arch. f. d. ges. Physiol. 32, 398,
1883. — °) Ebenda 49, 314, 1891. — *) Memoirs of the National Academy of
Sciences, Washington. VIII: 6, 258, 393, 1902. — °) Fortschritte der Medizin 5, 1,
1887. — °) Arch. f. exp. Path. 22, 367, 1887. — 7) Skand. Arch. f. Physiol. 9, 323,
1899. — ®) Zeitschr. f. klin. Med. 20, 137, 1892. — °) Arch. f. Hygiene 36, 1,
1899; vgl. die Kritik Rosemanns, Arch. f. d. ges. Physiol. 77, 405, 1899.
a
Der Nährwert des Alkohols. 439
ö Einnahmen, Mittel pro Tag N- Ausgaben N-Bilanz
=] ” Mittel pro Tag r
5 |suchstag | N | Fett | nyärate | hol | Harn | Kot |Summa|| PO Tag
| g g g g ee g
I. 1— 5 | 12,2 | 156,0 224 _ #61 T°18 11,9 +0,3
I.| 6—9 | 123,2 78,4 224 _ 3 a 13,8 — 1,6
II. | 10-13 || 19,2 78,4 224 100 | 13,4 | 1,8 15,2 — 3,0
IV. || 14—19 || 12,2 78,4 224 100 | ı1,1 | 14 12,5 — 0,3
v. || 20-25 | 192 | 156,0 | 224 100 | ua | +8,
VL | 26—29 || 12,2 78,4 224 _ 12,6 | 14 14,0 —18
VI. | 30—35 | 12,2 | 156,0 224 _ | 10,9 | 15 12,4 — 0,2
Aus diesen Versuchen geht hervor, daß die N-Bilanz, welche während der
Periode I positiv war, durch Fortlassen von 77,6g Fett durchschnittlich — 1,6g
beträgt.” Wenn diese Fettmenge durch die isodyname Menge Alkohol ersetzt wird,
tritt während der ersten vier Tage noch ein vermehrter Eiweißzerfall auf (Periode III),
danach aber stellt sich N-Gleichgewicht (Periode IV) ein. Wenn dann (Periode V)
‘ die volle Fettration verabreicht wird, wird die N-Bilanz positiv; diese schlägt in
eine negative um, wenn wiederum 77,6g Fett, jetzt aber ohne Ersatz fortgelassen
werden (Periode VI).
Ganz entsprechende Resultate bekam auch Clopatt') in Versuchen, wo in
der Standardkost etwa 65 bis 70g Fett durch 87,0 Alkohol ersetzt wurden:
u | Einnahmen, Mittel pro Tag | we N-Bilanz
3 NVer- | a a Kr Mittel
© | suchstag | N eis 1 ee Teer ro Ta
nr. 5 | hydrate | hol | Harn | Kot |Summa pP 8
g g g g g g 8 8
I. 1—12 | 16,1 | 132,0 254 we 13,2 | 2,0 15,2 + 0,9
u.| 13-18 | 16,3 60,7 257 87 | 158 | 230 17,8 —15
IH. | 19-24 | 16,3 59,5 257 87.1.1987, | 31 14,8 +1,5
IVv.| 25-31 || 16,0 59,5 | 255 _ 187 1 18 15,5 +05
v.| 32-36 | 16,2 | 124,0 | 355 — 1'189 | 17 15,6 | +0,6
Auch hier tritt während der ersten Tage der Alkoholperiode ein vermehrter
Eiweißzerfall auf (Periode II), welchem dann ein deutlich verminderter (Periode
III) nachfolgt.
Rosemann?) ersetzte in zwei Versuchen 105g Kohlehydrate und 47,4g Fett
bzw. 70 g Kohlehydrate und 53,4 g Fett durch eine an Verbrennungswärme etwas
größere Menge Alkohol und erhielt dabei folgende Resultate:
N ErE i n
ws | Einnahmen, Mittel pro Tag N Ausgaben N-Bilanz
| ; Mittel pro Tag £
=) Ver- || Mittel
g> i Iy Fett Kohle- | Alko- pro Tag
& j suchstag | hydrate | hol | Harn | Kot |Summa .
| 8 g g g g g Bei 8
l |
I.! -1—9 | 16,7 184 287 E= 12,9 2:7 15,6 | +1,1
I. | 10—13 16,9 137 182 144 13,8 2,8 16,6 | + 0,3
IH. | 14-23 || 16,7 | 137 182 144 | 12,9 | 2,8 157 | +10
IV. | 24—29 16,9 184 287 -— 13,3 2,6 15,9 | + 1,0
V.| 30—36 | 15,4 | 137 182 —_— | 145 | 24 | 16,9 | —1,5°)
!) Skand. Arch. f. Physiol. 11, 354, 1901. — ?) Arch. f. d. ges. Physiol. 86,
380, 1901. — °) Vgl. auch Ott, Arch. f. exper. Pathol. 47, 267, 1902; Atwater
u. Benedict, Memoirs of the National Academy of Sciences, Washington, VIII: 6, 264.
440 Der Nährwert des Alkohols.
Andere Versuche sind in der Weise ausgeführt, daß zu einer Normalkost, ohne
irgend welche Veränderung derselben, eine gewisse Quantität Alkohol hinzugefügt
wurde. Durch Zugabe von 80 bis 120g Alkohol zu einer an sich ausreichenden
Kost beobachtete E. Schmidt!) während 4 Tagen nur eine ganz minimale Spar-
wirkung, desgleichen fand auch Schöneseiffen'!) durch Zugabe von 135 g Alkohol
während 6 Tagen zu einer nicht ganz genügenden Kost keine deutliche Wirkung
auf den Eiweißumsatz. Demgegenüber beobachtete Chotzen’), daß die ursprüng-
lich negative N-Bilanz bei Zugabe von 60 bis 120g Alkohol eine positive wurde
und wies in der letzten Reihe einen Ansatz von 1,4g N pro Tag nach.
Nach derselben Methode gelang es auchNeumann’), eine unverkennbare Er-
sparnis von N-Substanz durch den Alkohol nachzuweisen. Zu einer aus 18g N,
116,5 g Fett, 255g Kohlehydraten bestehenden Kost, bei welcher der Verf. gerade
im N-Gleichgewicht war, wurde Alkohol in allmählich steigenden Gaben von 20 bis
zu 100g zugegeben. Dabei betrug die N-Bilanz an den 6 ersten Tagen (20 bis
50g Alkohol) durchschnittlich — 0,02, d. h. das N-Gleichgewicht blieb bestehen
(Periode II). Vom 7. Tage an trat ein entschiedener N-Ansatz auf, und zwar
wurden bis zum 11. Tage durchschnittlich 1,1g N (Periode III) und vom 12. bis
18. Tage (mit 100g Alkohol pro Tag) durchschnittlich 2,08 N im Körper zurück-
gehalten (Periode IV). Am 19. Tage wurden 78,2 g Fett fortgelassen — jetzt trat
kein Ansatz von N mehr auf (Periode V), sondern der Körper setzte von sich selber
noch 0,2g N täglich zu. Als nun der Alkohol vom 26. Tage an fortgelassen und
statt dessen die Fettmenge auf 193,3g erhöht wurde (Periode VI), wodurch die
Gesamtzufuhr ihrem Wärmewerte nach gleich der bei der Alkoholperiode wurde,
setzte der Körper täglich 2,4g N an — also nur ein klein wenig mehr als während
der Periode IV.
Endlich sind die Versuche von Atwater und Benedict*) zu erwähnen,
welche dadurch, daß in ihnen auch die Wärmeabgabe des Körpers kalorimetrisch
bestimmt wurde, für die Frage nach dem Nährwert des Alkohols eine sehr große
Bedeutung haben. Erstens zeigen sie, wie nicht anders zu erwarten ist, daß die
in der früher (8.365) dargestellten Weise aus der Verbrennungswärme der Kost usw.
berechnete Wärmeproduktion auch bei Darreichung von Alkohol mit der direkten
kalorimetrischen Bestimmung der Wärmeabgabe genau übereinstimmt. Ferner ergibt
sich aus denselben, daß der Stoffwechsel bei untereinander vergleichbaren Versuchen,
in welchen die N-freien Nahrungsstoffe in der Kost von einer entsprechenden
Quantität Alkohol ersetzt wurden, ganz derselben Größe ist, sowie daß die Ersparnis
an Fett bei gleicher Kalorienmenge der Kost in beiden Reihen im großen und
ganzen gleichgroß ist, wie z. B.:
a Br | Kalorien Täglicher
E-=| | | 8
Versuch 23 DRS SU, | in Kost mit | Verlust oder
(Siehe 8. 366) 28 £ Abzug des Gewinn an Fett
SA Versuche K |
> otes | g
| |
| | I)
9, 24 E. 0. | Ohne Alhohol, Ruhe 2618 | 39,0 20.
10, 22 PANR | Mit Alkohol, Ruhe 2602 | + 42,0 | — a
11 E. O0. | Ohne Alkohol, Arbeit 3510 | — 39,7 2 -
12 | „ » | Mit Alkohol, Arbeit | 36144 | —322 | 35 E
26,28 | I.F.8. | Ohne Alkohol, Ruhe 2253 | + 23,1 1-2
27 |,» » | Mit Alkohol, Ruhe | 26 | +ı182 | | 433
29, 31, 32,34 | J.F.S. | Ohne Alkohol, Arbeit 3251 — 9,57 7°1 3 02
| | I fi
80,83. 12005 Mit Alkohol, Arbeit | 325500 — m) Be
Il I en
!) Siehe bei Rosemann, Arch. f. d. ges. Physiol. 86, 327, 331, 1901. —
2) Rosenfeld, Therapie der Gegenwart 1900, Nr. 2. — ®) Arch. f. Hygiene 41, 85,
1901; vgl. auch Offer, Zentralbl. £. d. Verdauungskrankheiten 2, 573, 1901. —
*) Memoirs of the National Academy of Sciences, VIII: 6, 231, 1902.
Sr ee ec ae en Ze ae en Be ehe ih. re Bien ech ee Eee ee ee ee eu Bee ee ee
Der Stoffwechsel bei Muskelarbeit. 441
In den Versuchen 22, 23 und 24 bekam die Versuchsperson eine Normalkost von
2290 Kal. (netto). Zu dieser wurden im Versuch 22 500 Kal. in Alkohol, im Ver-
such 24 500 Kal. in Zucker zugegeben; im Versuch 23 fand keine Zugabe: statt.
In diesen Versuchen wurden täglich bzw. 63, 9 und 60g Fett angesetzt, d. h. der
Alkohol hat einen ebenso großen Fettansatz als der Zucker bewirkt.
Aus allen diesen Erfahrungen geht hervor, daß der Alkohol als ein Nahrungs-
stoff zu betrachten ist, denn er vermag bei seiner Oxydation im Körper sowohl die
N-freien Nahrungsstoffe als auch das Eiweiß zu ersparen. Bei .der Berechnung von
Kostmaßen, in welchen Alkohol enthalten ist, sind wir also berechtigt, diesen
seinem vollen Nährwerte nach mitzunehmen.
In bezug auf das Eiweiß ist indes als sehr wichtig hervorzuheben, daß der
Alkohol, wie aus den Versuchen von Miura, Schmidt, Schöneseiffen,
Neumann, Clopatt und Rosemann ersichtlich ist, während der ersten Tage
nach einer alkoholfreien Diät kein eiweißersparendes Vermögen darbietet, sondern
vielmehr den Eiweißumsatz in die Höhe treibt. Diese Erscheinung wird ziemlich
allgemein als Ausdruck irgend einer Giftwirkung aufgefaßt; erst nachdem sich der
Körper an den Alkohol gewöhnt hat, tritt dann seine Fähigkeit, Eiweiß zu ersparen,
in ihrer vollen Deutlichkeit hervor, und gerade in diesem Umstande finden wir die
Erklärung dafür, daß bei nur wenige Tage dauernden Versuchen die Eiweißersparnis
nicht zum Vorschein gekommen ist.
In praktischer Hinsicht kann der Alkohol trotzdem keine große Bedeutung
als Nahrungstoff beanspruchen, denn seine schädlichen Wirkungen, welche auch
beim Gebrauch verhältnismäßig kleiner Dosen, wenn sie täglich wiederholt werden,
auftreten, und welche ein ganzes Heer von Krankheiten und Elend allerlei Art
hervorbringen, kompensieren vollauf seine nährenden Eigenschaften. Daher hat
man trotz der zahlreichen in entgegengesetzter Richtung gehenden Erfahrungen
von mehreren Seiten behauptet, der Alkohol sei kein Nahrungsstoff, denn ein Gift
kann nicht zu gleicher Zeit auch nährende Eigenschaften besitzen!). Meines Er-
achtens kann dennoch dieser Auffassung aus physiologischem Gesichtspunkte gar
nicht beigestimmt werden, denn gerade der Alkohol gibt uns ein Beispiel dafür,
daß eine und dieselbe Substanz zweierlei Wirkungen haben kann. Ebensowenig
ist auch die Annahme begründet, daß der Alkohol wegen seines Nährwertes nützlich
oder sogar notwendig wäre. Die Alkoholfrage ist ein viel zu kompliziertes Problem,
um allein aus dem Gesichtspunkte der Nahrungsphysiologie gelöst zu werden: es
kommen noch so vielerlei andere und wichtigere Umstände hier in Betracht, und
diese sprechen fast sämtlich gegen den Alkohol und für die rigoroseste Mäßigkeit
bzw. totale Enthaltsamkeit.
Fünftes Kapitel.
Der Stoffwechsel bei körperlicher Arbeit.
$ 1. Welche Nahrungsstoffe werden bei der Muskelarbeit
verbrannt? |
Schon aus La voisiers Versuchen über den respiratorischen Gaswechsel
ging hervor, daß der Stoffumsatz durch Muskelarbeit wesentlich ansteigt,
und die seitdem ausgeführten Untersuchungen haben diese Tatsache längst
außer allen Zweifel gestellt.
Als Liebig?) die chemische Zusammensetzung der Nahrungsmittel und
des toten Körpers mit einer vor ihm lange. nicht erreichten Klarheit erkannt
') Vgl. Kassowitz, Deutsche med. Wochenschr. 1900, Nr. 32 bis 34; Arch.
f. d. ges. Physiol. 90, 421, 1902; Rosemann, ebenda 94, 557, 1903; 100, 348,
1903. — *°) Liebig, Die Tierchemie oder die organische Chemie in ihrer An-
wendung auf Physiologie und Pathologie, Braunschweig 1842; vgl. Voit, 8. 267.
442 Der Stoffwechsel bei Muskelarbeit.
hatte, stellte er sich die Frage, welche Nahrungsstoffe bei der körperlichen
Arbeit zugrunde gehen und welche Bedeutung die verschiedenen Gruppen der
organischen Nahrungsstoffe beim Stoffwechsel überhaupt haben.
Weil sich die organisierten Formen vor allem durch ihren Eiweißgehalt
auszeichnen, nahm er an, daß die Tätigkeit des Körpers und insbesondere
die Muskelarbeit durch Zersetzung der lebendigen Gewebe stattfinde; dem-
entsprechend hätte das in der Nahrung aufgenommene Eiweiß die Aufgabe,
die bei der Arbeit zerstörte lebendige Substanz wieder aufzubauen. Die Zer-
setzung des Eiweißes wäre daher allein durch die Tätigkeit der Organe und
Gewebe bedingt. Auf der anderen Seite stellten die N-freien Nahrungsstoffe,
die Fette und die Kohlehydrate die Quelle der Wärmebildung im Körper dar;
ihre Zersetzung würde dadurch bewirkt, daß sie von dem im Blute befind-
lichen Sauerstoff angegriffen würden; zu gleicher Zeit würden sie das Eiweiß
vor dem Sauerstoff schützen.
Der zweite Satz dieser Hypothese ist durch die zahlreichen, seitdem aus-
geführten Untersuchungen längst widerlegt worden, denn wir besitzen die
kräftigsten Beweise dafür, daß die Zersetzung der N-freien Nahrungsstoffe
nicht vom Sauerstoff, sondern von der Tätigkeit der Gewebe eingeleitet wird,
wie dies aus der nahen Abhängigkeit der Wärmebildung im Körper vom
Nervensystem am deutlichsten hervorgeht.
Wenn die Ansicht richtig wäre, daß die lebendige Substanz des Muskels
bei der körperlichen Arbeit selber zerfalle, so hätte man zu erwarten, daß
dabei eine Zunahme der N-Abgabe einträte, und man hat in der Tat sehr
zahlreiche Versuche gemacht, um dies nachzuweisen.
Damit Versuche in dieser Richtung beweiskräftig sein sollen, ist es vor
allem notwendig, daß das Versuchsindividuum auf einen solchen Zustand —
N-Gleichgewicht oder Hunger — gebracht wird, daß seine N-Abgabe ohne
Muskelarbeit Tag für Tag einigermaßen konstant ist, denn es ist nicht mög-
lich, die Einwirkung der Arbeit auf den Stoffumsatz zu bestimmen, wenn auch
andere Variabeln auf den Eiweißzerfall einwirken können.
Unter den Versuchen, welche diese Bedingung erfüllen, sind in erster
Linie einige von Voit!) am Hunde ausgeführte herbeizuziehen:
| N-Auf- N-
a Nr. Datum Bu art et Anmerkungen
g g
I. 1 | 23. "bis 25. Januar 1860. ..%7, | — 5,6 Ruhe
2 || 26. bis 28. Januar 1860 . ... | — 5,7 Laufen
8 29. Januar bis 1. Febr. 1860 . . | — 5,1 Ruhe
I. 1 18. bis 22. Februar 1860... . | 51 51,8 Ruhe
2 23. bis 25. Februar 1860... . 51 55,3 Laufen
3 26. bis 28. Februar 1860. . . | 51 51,9 Ruhe
4 29. Febr. bis 2. März 1860 . . | 51 53,8 “ Laufen
5 3. bis 5. März 1860 ..... | 51 52,2 Ruhe
!) Voit, Untersuchungen über den Einfluß des Kochsalzes, des Kaffees und
der Muskelbewegungen auf den Stoffwechsel, München 1860, 8. 148 ff.; Zeitschr.
f. Biol. 2, 339, 1866.
Der Stoffwechsel bei Muskelarbeit. "443
N-Auf- we
Ver- nahme | Abgabe |
eR Nr. Datum pro Tag | pro Tag | Anmerkungen
|: |
II. ı pri 1864 en — 7,2 | Ruhe
2 SE April 1864 —_ 7,2 Ruhe
3 25. April 1864 ... u. & = 7,4 Laufen, 8 Stunden
+ 26. April 1864 nn ar, — 6,5 Ruhe
IN USE BE 1004 . . _ 5,4 Ruhe
BIT II TR 7 EE nn 5,4 Ruhe
Ba: a BB. = 5,2 Laufen, 8 Stunden
4 | 12. Juli 1864... 0.0.0. —_ 5,8 Ruhe
5 | 13. Juli 1868 ....... _ 5,5 | Ruhe
Während der Arbeitstage hatte das Tier in den zwei ersten Versuchen in
einem großen Tretrad zu laufen. Es währte geraume Zeit, bis es imstande war,
gleichmäßig zu traben, jedoch war es durchaus nicht dahin zu bringen, einen lang-
samen Gang einzuhalten; stets lief es außerordentlich schnell, so daß es zuletzt
etwa 10 Minuten lang, ohne zu ruhen, das Rad treiben konnte. Dies war für das
Tier eine sehr große Anstrengung, denn es wurde dabei am ‚ganzen Körper heiß, der
Atem war keuchend und beschleunigt, und häufig stand ihm schaumiger Speichel
vor dem Munde. Es zitterte nachher an den kxtremitäten, ging langsam und
wankend nach seinem Käfig zurück und legte sich dort ruhig nieder. Voit wagte
es daher nicht, ihm eine größere Anstrengung auf einmal zuzumuten, doch konnte
das Tier nach 1 oder 1'/, Stunden mit erneuten Kräften ans Werk gehen; während
eines Tages lief es so im ganzen meist eine Stunde. Die solcher Art vom Hunde
ausgeführte Arbeit betrug nach Voits Berechnung etwa 150000kgm pro Tag. Über
die Arbeitsweise in den Versuchen III und IV hat Voit nichts Näheres angegeben.
Versuch I zeigt fast gar keine Steigerung bei der Arbeit. Auch wenn
die ganze umgesetzte Eiweißmenge ausschließlich zu mechanischer Leistung
verwendet worden wäre, so könnten dadurch nur etwa 63000 kgm, d.h. etwa
zwei Fünftel der geleisteten Arbeit entstanden sein.
Auch aus den beiden anderen Hungerversuchen geht dasselbe hervor,
denn in Versuch III beträgt die mittlere N-Abgabe bei Ruhe 6,97, bei Arbeit
7,4, Differenz nur 0,43 g; in Versuch IV ist die N-Abgabe bei Ruhe aus Nr. 1,
2 und 5 berechnet 5,4g, bei der Arbeit 5,2g oder, wenn wir dazu noch den
Überschuß am 4. Tage hinzufügen, 5,6 g.
In Versuch II, wo das Tier mit einer sehr reichlichen Fleischmenge im
N-Gleichgewicht war, betrug die N-Abgabe bei Ruhe durchschnittlich 51,9 g,
bei Arbeit durchschnittlich 54,5g. Die Differenz, 2,6g N, entspricht nur
etwa 29000kgm, also kaum ein Fünftel der von Voit berechneten Arbeit.
Dasselbe Resultat geht ferner aus den Bilanzversuchen von Pettenkofer
und Voit!) am Menschen hervor. Die vom Versuchsindividuum auszuführende
Arbeit bestand darin, ein Rad mit einer Kurbel zu treiben. Das Rad wurde
so stark belastet, bis der Widerstand in der Achse nach dem Gefühl des Ar-
beiters ebenso groß war, als er gewöhnlich bei Drehbänken in mechanischen
Werkstätten ist, welche durch ein von der Hand getriebenes Schwungrad be-
wegt werden. Hierzu war ein Gewicht von 25kg nötig, welches um eine
Rolle in einer um das Rad gelegten Kette schwebend hing. Der Mann be-
!) Zeitschr. f. Biol. 2, 537, 1866.
444 Der Stoffwechsel bei Muskelarbeit.
wegte das Rad 9 Stunden lang und machte dabei etwa 7500 Umdrehungen.
Abends wurde die Arbeit beendigt und bald darauf das Bett aufgesucht. Der
Mann fühlte sich zu dieser Zeit ermüdet, wie nach einer anstrengenden Arbeit.
Die Versuche wurden sowohl bei Hunger wie bei mittlerer Kost ausgeführt:
Il |
|
P | N-Abgabe im Harn
© . | r
- Nr Datum Nahrung | RER An
8 | Tag |Nacht Summe | merkungen
| BE g
Tl 11. Dezember 1866 —_ | 7,4 5,1 12,5 Ruhe
14. Dezember 1866 | — 6,7 5,6 12,3 Ruhe
3 | 22. Dezember 1866 | we | 5,6 |. 6,2 11,8 | Arbeit
11.53 18. Dezember 1866 | Mittlere Kost | 8,3 8,2 16,5 Ruhe
2 | 27. Dezember 1866 | * EEE 16,7 Ruhe
3 || 29. Dezember 1866 | “ „1 85 | 84 16,9 Arbeit
4 || 31. Juli 1866 | x E 10,1 | 7,2 17,3 Ruhe
5 3. August 1866 | x TS 17,3 Arbeit
| |
In der Reihe I ist die durchschnittliche N-Abgabe bei Ruhe 12,4 g, bei
Arbeit 11,8 g, also 0,6 g weniger. Bei den Versuchen bei mittlerer Kost
beträgt die durchschnittliche N-Abgabe bei Ruhe 16,8 g, bei Arbeit 17,1g —
also kein Unterschied.
Auch wenn wir die N-Abgabe während der Tageshälfte und der Nacht-
hälfte besonders betrachten, so stellt sich kein bestimmter Unterschied dar.
Bei den Ruheversuchen ist die N-Abgabe durchgehend größer oder gleich
groß am Tage wie während der Nacht; unter den Arbeitsversuchen finden wir
in II. 3 und 5 dasselbe, in I. 3 dagegen das Gegenteil. Aus dem Verhalten
der N-Abgabe während des Tages und der Nacht läßt sich daher keine
Stütze dafür entnehmen, daß die körperliche Arbeit auf Kosten des Eiweibes
stattfände.
An sich selber machten Fick und Wislicenus einen sehr bemerkenswerten
Versuch'). Sie bestiegen den Berg Faulhorn, dessen Spitze 1956 m über der Ober-
fläche des Brienzer Sees liegt. 17 Stunden vorher nahmen sie ihre letzte eiweiß-
haltige Nahrung zu sich; der davon entstammende Stickstoff dürfte nach dem, was
wir schon gesehen haben, schon vor dem Anfange des Versuches zum größten Teile
den Körper verlassen haben. Die Bergbesteigung selbst dauerte etwa 8 Stunden;
erst 7 Stunden später genossen sie eine eiweißhaltige Kost; während der Berg-
besteigung und der danach folgenden 7 Stunden bestand ihre Nahrung nur aus
Stärke, Zucker, Fett und Getränk (Wein). Der während dieser 15 Stunden ge-
sammelte Harn enthielt bei Fick 5,74g und bei Wislicenus 5,55g N und ent-
sprach nach ihrer Berechnung 38,28 bzw. 37 gm zersetztem Eiweiß. Naclı dem von
Rubner aufgestellten Verbrennungswerte des Eiweißes repräsentieren diese N-Mengen
einen Verbrennungswert von 149,1 bzw. 144,2 Wärmeeinheiten. Diese bedingen aber
eine Arbeitsleistung von 63378 (Fick) bzw. 61280kgm (Wislicenus). Die von
denselben tatsächlich ausgeführte nützliche Arbeit bestand darin, den eigenen Körper
1956 m hoch zu erheben. Fick wog 66 und Wislicenus 76kg; die betreffende
Arbeit betrug also 129096. bzw. 148656kgm. Die auf Kosten des zersetzten Ei-
weißes ausgeführte Arbeit wäre also höchstens die Hälfte der tatsächlich ausgeführten.
!) Vierteljahrsschr. d. Züricher naturf. Ges. 10 (1865); Fick, Gesammelte
Schriften 2, 85.
Der Stoffwechsel bei Muskelarbeit. . 445
Und sogar nicht soviel; denn wir müssen noch die Arbeit des Herzens und der
Atemmuskeln, die Arbeit derjenigen Muskeln, welche den Körper in aufrechter
Stellung erhalten, sowie die Arbeit, welche zur Erhebung des’Schwerpunktes des Kör-
pers bei jedem Schritt auch auf. einer ganz ebenen Oberfläche nötig ist, hinzufügen.
Man könnte sich vorstellen, daß die der Arbeit entsprechende N-Menge nicht
am Arbeitstage selbst, sondern später vom Körper abgegeben würde. Diese Annahme,
welche schon Liebig!) aussprach, ist von Argutinsky”?) und Krummacher‘)
an der Hand einiger Selbstversuche geprüft worden. Als Arbeitsleistung wurde
Gehen bergauf gewählt, und zwar betrug die Steigarbeit allein für sich bei Argu-
tinsky 75000 bis 115000 kgm. Infolge dieser Arbeit zeigte sich nun eine be-
deutende Steigerung der N-Abgabe im Harn, die mindestens 3 Tage lang andauerte.
Auch wenn er amı Arbeitstage extra eine Zuckermenge genoß, welche seiner An-
nahme nach zur Leistung einer fast doppelt so großen Arbeit theoretisch genügen
würde, wurde die Steigerung der N-Abgabe dennoch nicht unterdrückt, obgleich
wesentlich herabgesetzt. Nach Argutinskys Berechnung würde diese Mehrzer-
setzung von Eiweiß imstande gewesen sein, gegen 75 bis 100 Proz. der Steigarbeit
zu erklären. Dabei sind aber die Arbeitsleistungen beim Gehen auf einer ebenen Ober-
fläche und bergab, sowie die Mehrarbeit des Herzens usw. nicht berücksichtigt worden.
Schon daraus folgt, daß diese Versuche lange nicht beweisen, daß die Muskel-
arbeit ausschließlich auf Kosten des Eiweißes stattfindet. Es kommt aber, wie
I. Munk‘) bemerkte, noch hinzu, daß die von Argutinsky genossene Kost im
Maximum (bei der Extrazugabe von Zucker) nur etwa 30 Kal. und sonst nur 18,2
bis 23,0 Kal. pro Körperkilo enthielt. Diese Kost genügte sogar während der Ruhe-
tage nicht; auch war Argutinsky nie im N-Gleichgewicht und mußte also so-
wohl bei Ruhe als bei Arbeit an seinem eigenen Körper zehren. Unter solchen
Umständen liegt nichts Sonderbares darin, daß bei den durch die Arbeit gestellten
größeren Ansprüchen auch das Eiweiß in größerer Menge angegriffen wurde.
Die nach demselben Plane ausgeführten Versuche von Krummacher leiden
an demselben Fehler, denn die tägliche Kost enthielt nur etwa 26 Kal. pro Körper-
kilo. Auch war Krummacher während der ganzen Dauer des Versuches keinen
einzigen Tag im N-Gleichgewicht.
Gegen die betreffende Ansicht sprechen ferner die Erfahrungen am Hungerer
Sucei ganz entschieden. Während des 12. Tages seines Fastens führte er ver-
hältnismäßig schwere Arbeitsleistungen aus (vgl. 8. 377). Die N-Abgabe im Harn
betrug am 11. Tage (während desselben lag Succi den ganzen Tag im Bett)
7,888 g; am 12. Tage (Arbeit) 7,162 und an den drei folgenden Tagen bzw. 3,509,
5,336, 5,142 g. Also konnte weder am Arbeitstage, noch während drei folgender
Ruhetage irgend welche Steigerung der N-Abgabe beobachtet werden.
Auch neue Versuche von Krummacher’) ergaben dasselbe.
Ein kräftiger Arbeiter ‘bekam täglich 14,3g N, 175g Fett und 903 g Kohle-
hydrate —= 72Kal. pro Körperkilo. Während drei Ruhetagen schied er im Harn und
Kot 13,5g N aus; dann jolgte ein Arbeitstag, während dessen eine äußere Arbeit
von 402000 kgm geleistet wurde. Dabei betrug die gesamte N-Abgabe 14,1 g, sowie
an den zwei nächstfolgenden Ruhetagen 13,7 bzw. 13,5g. Die ganze Steigerung be-
trägt also kein Gramm Stickstoff. Auch wenn wir annehmen, daß der gesamte
Eiweißumsatz am Arbeitstage, sowie das Plus am folgenden Tage zur Arbeitsleistung
verwendet worden wäre, so würde dies nur etwa 373 Kal. entsprechen, während der
kalorische Wert der tatsächlich geleisteten Arbeit 945 Kal. beträgt.
Als weiteres Beispiel dafür, daß die körperliche Arbeit nicht mit Notwendig-
keit eine Zunahme der Eiweißzersetzung erfordert, seien noch die ausführlichen
Untersuchungen von Wait‘) erwähnt. In einer ersten Reihe waren die Versuche
!) Sitzungsber. d. bayer. Akad. d. Wiss. 2, 443, 1869. — ?) Arch. f. d. ges.
Physiol. 46, 552, 1890. — *) Ebenda 47, 454, 1890; vgl. auch Dunlop, Paton,
Stockman und Maccadam, Journ. of Physiol. 22, 68, 1897. — *) Arch. f. (Anat.
u.) Physiol. 1890, 8. 557; vgl. auch Hirschfeld, Arch. f. pathol. Anat. 121, 501,
1890. — °) Zeitschr. f. Biol. 33, 108, 1896; vgl. auch Oppenheim, Arch. f. d. ges.
Physiol. 23, 484, 1880.— °) U. S. Depart. of Agricult, Off. of exp. Stat., Bull. No. 89
(1901); No. 117 (1902).
446 Der Stoffwechsel bei Muskelarbeit.
in der Weise angeordnet, daß nach einer Ruheperiode von 2 bis 3 Tagen eine Arbeits-
periode von 2 bis 4 Tagen folgte, während welcher die Kalorienzufuhr auch ge-
steigert wurde. In der Regel wurde durch die Muskelarbeit keine erwähnenswerte
Steigerung der N-Abgabe hier bemerkt, obgleich die N-Zufuhr bei den Arbeits-
perioden größer als bei den Ruheperioden war. In einer zweiten Reihe wurde die
N-Zufuhr konstant erhalten und während der Arbeitsperioden, welche 6 Tage lang
dauerten, nur die Fett- und Kohlehydratgaben erhöht. Bei allen diesen Versuchen,
mit nur einer einzigen Ausnahme, war die N-Abgabe während der Arbeitsperioden
geringer als während der Ruheperioden. Man könnte sich indes denken, daß dies
durch das Vermögen der N-freien Nahrungsstoffe, Eiweiß zu ersparen, bedingt wäre.
Daher stellte Wait nun noch einige Versuchsreihen an. Wenn die Versuchsperson
während der Ruheperioden dieselbe reichliche Kost als während der Arbeitsperioden
bekam, so betrug in drei Versuchen die durchschnittliche N-Abgabe bei Ruhe bzw.
19,3, 15,2, 17,0, bei Arbeit bzw. 19,6, 15,8, 17,8. Wenn in den zu vergleichenden
Versuchen die Kost dieselbe war und für die Ruhetage vollständig genügte, für die
Arbeitstage aber etwas zu knapp war, so betrug die N-Abgabe in drei Versuchen
bei Ruhe bzw. 18,4, 14,7, 15,7, bei Arbeit bzw. 17,2, 14,5, 16,2.
“ Frentzel') fütterte einen Hund mit nur 150g Fett. Die N-Abgabe im Harn
betrug bei Ruhe 6,11g pro Tag. Nun folgten 2 Arbeitstage, während welcher das
Tier insgesamt eine Arbeit von 200 974 kgm leistete. Die N-Abgabe war am 1. Tage
7,29, am 2. 6,06, Summe 13,35 = 347 Kal. = 147000 kgm. Die ganze Verbrennungs-
wärme des zersetzten Eiweißes reichte also nicht aus, um mehr als etwa 73 Proz.
der äußeren Arbeit zu decken. Zu bemerken ist, daß die N-Abgabe am folgenden
Tage nicht größer war als während der früheren Ruhetage, 6,21 g. — Ein hungerndes
Tier schied während 2 Ruhetagen durchschnittlich 3,85g N, während 3 Arbeitstagen
bzw. 4,97, 5,02, 5,63, in Summa 15,62 g N, sowie während des danach folgenden
Hungertages noch 5,08g N aus. Im Hungerharn entsprechen 15,62 g N nach
Rubner 389,5 Kal. = 165540 kgm. Die vom Tiere tatsächlich geleistete äußere Arbeit
betrug 217000 kgm.
Endlich läßt sich aus der bei Muskelarbeit stattfindenden Zunahme des Gas-
wechsels, wenn auch indirekt, nachweisen, daß dieselbe in der Regel nicht auf
Kosten des Eiweißes geleistet wird. Das Eiweiß enthält auf 1g N 3,28g C; im
Harn findet sich pro 1g N 0,72g C (siehe 8.346). Also muß für jedes Gramm N,
welches im Harn ausgeschieden wird, 3,28 — 0,72 = 2,56g C durch die Respira-
tion abgegeben werden. Wenn also die Muskelarbeit auf Kosten des Eiweißes statt-
findet, so erhält man die entsprechende N-Menge durch Division der in der Respiration
abgegebenen C-Menge durch 2,56. In einem Versuche am Menschen betrug die
durch einstündiges Klettern bewirkte Zunahme der CO,-Abgabe 104g — 284g 0
= 11,1g N = 688g Eiweiß. Wenn das Eiweiß die ausschließliche Quelle der
Muskelarbeit darstellen würde, so hätte der Eiweißzerfall während dieser einstündigen
Arbeit um 68,8g zugenommen — was aber wider alle unsere Erfahrungen streitet”).
Aus diesen Beobachtungen folgt also, daß die Muskelarbeit ohne ver-
mehrte Eiweißzersetzung ausgeführt werden kann. Doch dürfen wir daraus
nicht den Schluß ziehen, daß nicht auch das Eiweiß als Quelle der Muskel-
arbeit dienen kann. Wenn dem Körper keine genügende Menge von N-freien
Nahrungsstoffen zur Verfügung steht, greift er, wie schon aus den oben mit-
geteilten Versuchen von Argutinsky und Krummacher hervorgeht, zu
dem Eiweiß, und in einem extremen Falle wird er seine Muskelleistungen aus-
schließlich auf Kosten des Eiweißes ausführen können ).
Einen solchen Fall hat Pflüger*) experimentell realisiert. Er fütterte einen
großen, sehr mageren Hund von etwa 30 kg Körpergewicht monatelang mit Fleisch
der ausgesuchtesten Art, dessen Gehalt an Fett und Kohlehydraten so gering als
!) Arch. f. d. ges. Physiol. 68, 212, 1897; vgl. auch Caspari, ebenda 83, 509,
1901. — ?) Vgl. Skand. Arch. f. Physiol. 6, 181, 1895. — °) Voit, 8. 199. —
*) Arch. f. d. ges. Physiol. 50, 98, 1891; 96, 333, 1903.
a ME EV ER, TE
|
r
|
|
|
|
|
Der Stoffwechsel bei Muskelarbeit. 447
möglich war. Die Arbeitsperioden dauerten stets eine Reihe von Tagen, und zwar
ohne daß jemals ein Ruhetag eingeschaltet wurde. Die Arbeit bestand in zwei- bis
dreistündigem Ziehen eines schweren Wagens über eine Strecke von 13,613 km, wo-
bei eine graphische Vorrichtung eine genaue Messung der Zugarbeit gestattete.
In einer ersten Versuchsreihe vom 27. Juli bis 31. August betrug die Arbeit während
22 Tagen 109608kgm pro Tag, während 13 Tagen 73072 kgm. In der zweiten Reihe,
vom 20. Oktober bis zum 30. November, leistete das Tier während 9 Tagen 109 608 kgm,
während 15 Tagen 73072kgm und während 17 Tagen 59117 kgm. Die Versuche sind
in folgender Tabelle konzentriert wiedergegeben:
Körper- Aufnahme pro Tag N:
1 gewicht im Harn
2 | Tag |am Anfange N Fett Kohle- | und Kot Anmerkungen
& der Periode hydrat | pro Tag
kg 5 g g g
Erste Reihe:
1 1— 4 29,65 62,0 12,8 iR 61,5 Ruhe
2 5s—ı11 29,40 62,0 12,8 1,1 65,2 109 608 kgm pro Tag
3 || 12 28,75 62,0.| 19,8 1,1 64,4 th... WU PR EAN
4 | 13—27 28,63 67,2 12,9 1,8 69,1 109 608 „ 5 ”
5 | 28—39 28,10 69,7 | 11,6 1,6 69,4 iS ra A are
6 | 40—50 28,45 69,7 | 121 8,5 66,3 Ruhe
Zweite Reihe:
7| 1-9 30,60 684 | 7,6 | 16,3 67,7 Ruhe
-8 || 10—24 30,40 68,4 7,6 16,3 69,9 73072 kgm pro Tag
9 25—29 | 29,45 68,4 7,6 | 16,3 69,8 .ı Een
10 | 30—46 28,95 68,8 | 84 | 12,2 69,0 TE ER
11 || 47—50 28,60 74,5 9,9 81 75,6 109 608 „ We
12 | 51-59 28,50 63,2 8,4 6,9 62,7 Ruhe
Die größte mittlere Zufuhr von N-freien Nahrungsstoffen während der Arbeits-
perioden finden wir in Reihe 1, Tag 13 bis 27 mit 12,9g Fett und 1,8g Kohle-
hydraten und in der Reihe 2, Tag 10 bis 29 mit 7,6g Fett und 16,3g Kohle-
hydraten. Die Verbrennungswärme ist bzw. 129 und 139 Kal. = 55 000 bzw.
59000 kgm. Die im Futter enthaltenen N-freien Nahrungsstoffe genügten also bei
weitem nicht für die tatsächliche Arbeitsleistung des Tieres.
Damit erledigt sich auch die Ansicht von Chauveau!), daß das Eiweiß bei
der Muskelarbeit nie in Anspruch genommen würde?).
Wenn wir die in der vorstehenden Tabelle enthaltenen Angaben näher durch-
mustern, finden wir, daß der Unterschied der N-Abgabe in den Ruhe- und den
Arbeitsperioden nur verhältnismäßig gering ist. Für alle Ruheperioden beträgt die
N-Abgabe durchschnittlich 64,5g, für die Periode mit 59117 kgm Arbeit 69,0 g,
für diejenigen mit 73072kgm Arbeit 67,9g und für diejenigen mit 109608 kgm
Arbeit 67,4g. Nach einem Verbrennungswerte von rund 26 Kal. pro 1g N ent-
spricht der größten Differenz der Durchschnittszahlen, 4,5g N, 117 Kal. —= 49725 kgm,
reicht also sogar für die geringste äußere Arbeit, 59 117 kgm, nicht aus, selbst wenn
wir voraussetzen, daß die gesamte freigemachte Energie ohne Verlust zu körper-
licher Arbeit verwendet worden ist. Auch wenn wir die nacheinander folgenden
Ruhe- und Arbeitsperioden untereinander vergleichen, stellt sich in der Regel keine
größere Differenz dar: Periode 1 und 2: 3,7g; Periode 5 und 6: 3,1g; Periode 7
und 8: 2,2g. Nur die Perioden 11 und 12 geben eine größere Differenz: 12,9g N
= 335 Kal. = 142375 kgm.
!) Compt. rend. de l’Acad. des sciences (Paris) 122, 429, 504, 1896. — °) Vgl.
auch die Kritik Munks, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1896, S. 372.
448 Der Stoffwechsel bei Muskelarbeit.
Wenn wir nun ferner bedenken, daß zu der äußeren Arbeit noch die Mehr-
arbeit des Herzens und der Respirationsmuskeln usw. hinzukommt, sowie daß
der bei der körperlichen’ Arbeit stattfindende vermehrte Umsatz, soviel sich
die Sache jetzt beurteilen läßt (vgl. unten), wenigstens dreimal größer ist als
die der Arbeit an sich entsprechende Wärmemenge, daß also einer äußeren
Arbeit von 109608 kgm ein Mehrverbrauch von 773 Kal. — etwa 30g N
entspricht, so können wir, auch wenn wir die gleichzeitig aufgenommenen
N-freien Nahrungsstoffe ihrem vollen Verbrennungswerte nach in Betracht
ziehen, nicht die Annahme vermeiden, daß bei (fast) ausschließlicher, zur Er-
haltung des Körpers völlig genügender Eiweißzufuhr die Eiweißzersetzung
durch die körperliche Arbeit in einem nur sehr geringen Grade beeinflußt
wird. Da wir nun wissen, wie der Körper auch ohne Muskelbewegungen
die größten in der Kost zugeführten Eiweißmengen zersetzt, so dürfte aus
den vorliegenden Erfahrungen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ge-
schlossen werden können, daß er die Eiweißmenge, die sonst ganz unnütz
verbrennt, bei der Muskeltätigkeit als Kraftquelle verwendet. Ein analoges
Verhalten findet übrigens auch bei der Wärmeregulation statt, wovon näher
im folgenden Kapitel die Rede sein wird.
Da das Eiweiß in der Regel nicht in vermehrter Menge bei der Muskel-
arbeit zerfällt, müssen die N-freien Nahrungstoffe, wenn sie in genügender
Menge vorhanden sind, dabei als Kraftquelle dienen. Diese Folgerung wird
durch die sehr zahlreichen Untersuchungen über die Veränderungen des
respiratorischen Gaswechsels bei körperlicher Arbeit unzweideutig bewiesen.
: Beispiele davon haben wir in den Bilanzversuchen von Pettenkofer
und Voit!), in vielen, besonders aus dem Laboratorium von Zuntz hervor-
gegangenen Arbeiten über den respiratorischen Gaswechsel, über welche ich
unten näher berichten werde, sowie in den kalorimetrischen Untersuchungen
von Atwater und seinen Mitarbeitern ?).
Aus den letzteren seien hier als Belege einige Angaben zusammengestellt,
welche außerdem in einer überaus durchsichtigen Weise die Tatsache bestätigen, daß
das Eiweiß bei genügendem Zugang an N-freien Nahrungsstoffen bei der Muskel-
arbeit nicht verbraucht wird.
|
|
| 2 Wärme- Wärmemenge Gesamier
Versuchs- | äquivalent der aus zersetztem Stoffwechsel |
nummer Muskelarbeit | Eiweiß |
Kal. | Kal. Kal
35 | Sr 403 2270
37 506 446 | 4764
40 518 446 | 5223
44 | 571 440 | 5199 Kohlehydrat-
47 | 562 418 | 5248 Diät
49 | 515 457 5245
53 | 987 392 5178
Mittel... . | 543 434 | 5137
!) Zeitschr. f. Biol. 2, 459, 1866. — ?) U. 8. Depart. of Agrieult., Off. of exp.
Stations, Bull. No. 136, p. 182, 1903.
. Der Stoffwechsel bei Muskelarbeit. 449
Wärme- Wärmemenge |
Versuchs- | äquivalent der | aus Pre | ei)
nummer | Muskelarbeit . Eiweiß |
Kal. Kal. | Kal.
38 | 495 552 4477
#4 522 543 5242
43 | 548 505 5205
45 577 426 5162 #
46 551 510 5248 Bott-Diät
48 | 550 462 5218
52 | 607 433 5277
54 | 595 "450 5215
Mittel .. . | 550 489 5106 |
Alle diese Versuche sind an einem und demselben Individuum ausgeführt.
Bei Ruhe betrug der Stoffwechsel 2270 Kal., davon etwa 400 aus Eiweiß. Bei einer
äußeren Arbeit, welche durchschnittlich etwa 550 Kal. entsprach, stieg der Stoff-
wechsel im Mittel auf etwa 5100 Kal., davon aus Eiweiß bzw. 434 und 489 Kal.
Nur in zwei Versuchen (Nr. 38 und 41) ist der kalorische Wert der strengen Arbeit
(über 200000 kgm pro. Tag) etwas geringer als der des zersetzten Eiweißes, in allen
‚übrigen findet das entgegengesetzte Verhalten statt. Die bedeutende Steigerung des
Gesamtstoffwechsels ist also von einer beträchtlichen Mehrzersetzung der N-freien
Nahrungsstoffe bedingt.
Auch kann man die Einwirkung der Arbeit auf die Zersetzung der
N-freien Nahrungsstoffe in der Weise demonstrieren, daß man in bestimmten
Perioden Arbeit und Ruhe wechseln läßt und dabei den respiratorischen Gas-
wechsel bestimmt. Wir finden dann, wie die CO,-Abgabe sogleich mit dem
Beginne der Arbeit anfängt anzusteigen und wie sie im Laufe derselben so
hohe Werte erreicht, daß sie unmöglich durch den gleichzeitigen Eiweißzerfall
erklärt werden können (vgl. S.446), wie z. B.):
| CO, pro Stunde
Nr. | Zunahme | Zunahme
Baba beim Gehen | beim Klettern
g g | g
1 27 40 104
-g 22 39 72
3 | 34 15 59
E | 33 21 53
5 36 28 50
6 | 30 | 45 84
1.3 34 41 84
8 | 37 13 80
l
Von verschiedenen Autoren wird die Ansicht vertreten, daß bei der
Arbeit nur Kohlehydrate verwendet werden sollten. Daß dieser Satz in seiner
Allgemeinheit nicht richtig sein kann, folgt schon daraus, daß auch das Ei-
weiß eine Quelle der Muskelkraft darstellt. Man könnte sich aber vorstellen,
}) Skand. Arch. f. Physiol. 6, 80, 1895.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 29
450 Der Stoffwechsel bei Muskelarbeit. ,
daß unter den N-freien Nahrungsstoffen allein die Kohlehydrate zu diesem
Zwecke befähigt wären, und daß das Fett erst nach Verwandlung in Kohle-
hydrat vom Muskel benutzt werden würde. Die zum Beweise dieser Auf-
fassung herbeigezogene Tatsache, daß das Muskelglykogen bei der Arbeit
verschwindet, zeigt nur, daß dasselbe dabei verbraucht wird, nicht aber, daß
es die einzige Quelle der Muskelarbeit darstellt, und daß das Fett, um vom
Muskel verwertet zu werden, erst in ein Kohlehydrat übergehen müßte.
In der letzten Zeit ist diese Ansicht vor allem von Chauveau!) ver-
treten worden, und zwar würde bei dieser Verwandlung der Fette ihr gesamter
Wasserstoff in das Zuckermolekül übergehen, so viel Sauerstoff, wie nötig,
aufgenommen und der überschüssige Kohlenstoff als CO, abgegeben werden.
Die Reaktion würde also nach folgendem Schema erfolgen (Zuntz):
100 Fett = 76,5C + 11,9H + 11,60 = 942,3 Kal.
180,3g Zucker = 72,120 + 11,9H + 96,10 = 665,0 Kal.
Von den 942,3 Kal. des Fettes würden also für die Muskeltätigkeit
277,3 — 29,4 Proz. verloren gehen; auch müßte bei diesem Vorgang der
respiratorische Quotient stark herabsinken (Zuntz?).
Etwas derartiges konnte indes Zuntz bei Versuchen, wo er vorwiegend
Eiweiß oder Fett oder Kohlehydrate fütterte, nicht konstatieren. Es fanden
sich nämlich für 1m Weg beim starken Bergaufsteigen beim Hunde folgende
kalorische Werte, deren Berechnungsweise unten näher dargestellt werden wird:
Besp. Kal. Mittel
| Quotient
1. Ausschließliche Eiweißernährung.. . . 0,78 2,58 2,58
2. Vorwiegend Fettzersetzung. . - . . - 0,74 2,43
3. Vorwiegend Fettzersetzung (Kohlehy- 2,57
drate durch Phlorhizin möglichst
vollständig beseitigt) - . » »... 0,71 2,71
4. Viel Zucker beim eiweißreichgenährten \
BHBrO er ee RE 0,83 2,58 2,61
5. Viel Zucker bei eiweißarmer Kost . . 0,88 2,63 J
Wie ersichtlich sind die Zahlen des letzten Stabes fast absolut gleich.
Wenn Chauveaus Auffassung richtig wäre, hätte der Energieverbrauch,
falls er 2,61 Kal. bei Kohlehydratfütterung betragen hätte, bei ausschließ-
licher Fettzersetzung um 29,4 Proz., d. h. auf 3,38 Kal. ansteigen sollen.
Ein soleher Unterschied liegt doch außer der Größe der Beobachtungsfehler
bei diesen Versuchen.
Auch die oben zitierten Versuche von Atwater und Benedict sprechen
ganz bestimmt gegen diese Ansicht, denn wenn sie richtig wäre, so könnte
es doch nicht zutreffen, daß die Gesamtwärmeabgabe bei strenger Arbeit
genau dieselbe wäre, gleichgültig ob die Kost vorwiegend Fett oder vor-
wiegend Kohlehydrate enthält.
!) Compt. rend. de l’Acad. des sciences 122, 58, 113, 429, 504, 1098, 1163, 1169,
1244, 1303; 123, 151, 283, 1896; 125, 1070, 1897; 126, 795, 1072, 1118, 1898. —
2) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1896, 8. 358, 538; 1898, 8. 267. Vgl. auch Frentzel
und Loeb, ebenda 1894, 8. 541.
>
Der Stoffwechsel bei Muskelarbeit. 451
Die Muskeln können also ihre Leistungen auf Kosten aller drei Haupt-
gruppen. der organischen Nahrungsstoffe ausführen, ziehen aber hierbei die
N-freien vor und benutzen unter diesen, wie es scheint, in erster Linie die
Kohlehydrate. Je nach der Art der Nahrung wird daher die eine oder
andere Gruppe hauptsächlich angegriffen; die spezifischen Fleischfresser leisten
ihre Muskelarbeit auf Kosten des Eiweißes und des Fettes, die Pflanzen-
fresser, wie vor allem unsere landwirtschaftlichen Nutztiere, auf Kosten der
Kohlehydrate. Letzteres dürfte angesichts der großen Menge der vom
Menschen genossenen Kohlehydrate auch bei ihm wesentlich der Fall sein 1).
$ 2. Die Verwertung der Energie bei der Muskelarbeit.
Sowohl für die Physiologie des Stoffwechsels als für die des Muskels an
sich ist es von hervorragender Bedeutung, festzustellen, ein wie großer Teil des
bei der Muskeltätigkeit vermehrten Stoffumsatzes als äußere Arbeit erscheint.
Die am Frosch unter Anwendung thermoelektrischer Methoden direkt
ermittelte Wärmetönung bei der Muskelarbeit kann hier nicht besprochen
werden, da dieselbe in einer anderen Abteilung dieses Handbuches erörtert
werden soll. Ich beschränke mich daher auf die Stoffwechseluntersuchungen,
welche an warmblütigen Tieren ausgeführt worden sind.
Die hierher gehörigen Bestimmungen sind zum großen Teil in Zuntz’
Laboratorium an verschiedenen Tiergattungen unter Anwendung der Re-
spirationsmaske ausgeführt und gründen sich also nur auf Versuche von
verhältnismäßig kurzer Dauer. Über die bei denselben sonst benutzte
Technik vergleiche die unten zitierte Arbeit ?).
In der folgenden Tabelle sind einige am nüchternen Hunde gemachte
Beobachtungen über den Gaswechsel bei verschiedener Arbeit zusammen-
gestellt (Zuntz). Alle Zahlen beziehen sich auf 1 Minute.
O-Ver- 00,- Resp.
Zustand des Tieres brauch | Abgabe :
Quotient
ccm ccm
|
1. Ruhe, liegend ... 174,3 124,7 0,71
2. Ruhe, stehend . . . 245,6 170,2 0,69
3. Gang auf fast hori- Pro Min. 78,566m Weg,
zuntalem Boden . . 725,3 525,2 0,73 13,23 kgm Steigarbeit.
4. Gang bergauf ... 1285,3 990,6 0,77 Pro Min. 79,497 m Weg,
- 365,82 kgm Steigarbeit
5. Zugarbeit ..... 1028,8 798,9 0,77 Pro Min. 70,42m Weg,
22,83 kgm Steigarbeit,
202,91 kgm Zugarbeit
Y) In der letzten Zeit hat auch Pflüger (Arch. f. d. ges. Physiol. 96,.332, 1903)
seinen ursprünglichen Standpunkt verlassen und und gibt nunmehr, auf Grund der
Arbeiten von Zuntz und seinen Schülern, zu, daß die mittelbare Quelle der
Muskelkraft sowohl im Eiweiß wie im Fett und Kohlehydrat liegen kann, und daß
die Art der Ernährung also den Stoff bestimmt, der bei Muskelarbeit verbraucht
wird. Indes hält er noch immer daran fest, daß jede Muskelarbeit, trotz über-
reicher Ernährung‘ mit Fett, eine Steigerung der N-Ausscheidung bedingt. —
2) Lehmann und Zuntz, Landwirtschaftl. Jahrbücher 18, 7, 1889. — °) Arch. f.
d. ges. Physiol. 68, 191, 1897.
29*
452 Der Nutzeffekt bei der Muskelarbeit.
Wenn wir von Nr. 3 und 4 den Ruhewert (Nr. 1) abziehen, so erhalten
wir die der Arbeit entsprechende Zunahme des Gaswechsels: 551,0cem OÖ
und 400,5cem CO,, bzw. 1111,0ccm O und 865,9cem CO,. Die geleistete
Arbeit bestand aus 1. der horizontalen Fortbewegung des Tieres und 2. der
reinen Steigarbeit. Um den Gaswechsel, welcher jedem dieser Faktoren ent-
spricht, feststellen zu können, berechnet Zuntz in erster Linie den Gas-
wechsel und die Arbeit, bezogen auf 1kg Körpergewicht und 1m Weg:
3. 0,006 252 kgm Steigarbeit; 0,260 40 ccm O;'0,189 27 ccm 00,
4. 0,172 512 kgm Steigarbeit; ‘0,523 93 cem O; 0,40835 cem C0,.
Wenn nun der O-Verbrauch für die Horizontalbewegung von 1kg um Im
==/%, der- Tor Leistung von ikgm Arbeit durch Heben des Körpers = y gesetzt
wird, so erhalten wir zur Berechnung von x und y folgende Slsiehungen:
x + 0,172512y = 0,523 93
x + 0,006 252, — 0,260 40
Daraus ergibt sich x, die für die Horizontalbewegung von 1kg Körpergewicht
um: im nötige O-Menge = 0,25049ccem, y, die zur Leistung von 1 Ken äußere
Arbeit nötige O-Menge = 1,585 ccm. ;
Für die CO,-Abgabe sind: die entsprechenden Mengen, x, und y,
x, = 0,181 03ccm
Y, = 1,3178 .cem.
. Für die ‘Zugarbeit berechnet Zuntz den O-Verbrauch pro Kilogrammeter
in der Weise, daß er von dem sub 5 aufgenommenen Werte den Ruhewert (Nr. 1)
abzieht; der Rest bezieht sich auf die Zugarbeit allein = 854,4cem O und
674,2ccm CO,. Nach den soeben berechneten Zahlen hatte die Horizontalbewegung
und die Steigarbeit zusammen 515,55 cem O verbraucht. Also bleiben für 202,91 kgm
Zugarbeit 338,95ccm O, d.h. für TERM 1,6704 cem 0: Für die C0,-Abgabe erhalten
wir 1,467 ccm.
i Nun entspricht nach make 1 Liter O bei Fettverbrennung eine Wärmemenge
von 4,686 Kal. und bei Stärkeverbrennung 5,047 Kal. Im ersten Falle ist der
respiratorische Quotient 0,707, im zweiten 1,000. Solange nur Fett und Kohlehydrate
in Betracht kommen, nimmt also die einem Liter 'verbrauchtem Sauerstöff ent-
sprechende Energiemenge für einen Zuwachs des respiratorischen Quotienten um
"0,293 mit 0,361 Kal., d. h. pro einen Zuwachs um 0,01 mit 0,0123 Kal. zu. Der
kalorische Wert von 1Liter bei Eiweißzersetzung verbrauchtem Sauerstoff ist endlich
nach Zuntz 4,476 Kal.
Bei der Umrechnung des Sauerstoffverbrauches in kalorisches Maß
erhält man also einen Maximalwert, wenn man nur Fett und Glykogen als
Kraftquellen des Muskels in Betracht zieht, einen Minimalwert, wenn man
Eiweiß und Fett als die verbrennenden Substanzen betrachtet. Unter beiden
Annahmen und unter Berücksichtigung des respiratorischen_Quotienten be-
rechnet Zuntz den Energieverbrauch für verschiedene Formen von Muskel-
arbeit beim Hunde und kommt dabei zu folgendem Resultat:
Nr.
1 Zur Fortbewegung von 1 ui um im auf hori-
. zontaler Bahn 0,001 1787 | 0,001 164
5
|
| |
2 Zur Leistung von ikgm Arbeit durch rer
| aufsteigen
0,008 180 0,007 130
0,007 668 1 0,006 950
3 Zur Leistung von 1kgm Zugarbeit .
ı
Der Nutzeffekt bei der Muskelarbeit. 453
Da aber das Eiweiß bei nüchternen Tieren nur einen geringen Anteil
an der durch die Arbeit bewirkten Steigerung des Stoffwechsels hat, ist es
sehr wahrscheinlich, daß die höheren Zahlen die richtigeren sind.
Das Wärmeäquivalent von 1kgm ist gleich 0,002 353 Kal. Aus den
sub 2 und 3 aufgenommenen Zahlen folgt daher, daß die Zunahme der Ver-
brennung bei Bergaufsteigen 3,26, bei Zugarbeit 3,48 mal größer ist als die
tatsächlich ausgeführte äußere Arbeit — also tritt rund etwas weniger als
ein Drittel der aufgewandten chemischen Energie als äußere Arbeit hervor,
der Rest wird in Wärme umgesetzt. (Vgl. auch die oben S. 450 mitgeteilten
Angaben über den Mehrumsatz bei Arbeit und verschiedener Fütterung.)
Für das Pferd haben Zuntz und Hagemann !) folgende Zahlen gefunden:
Nr. Kalorien
1 E j
1 | Zur Fortbewegung von Ikg um im auf hori-
ji
| zontaler' Bahn... ee ee ae 0,000 348 bis 0,000 432
2 | Zur Leistung von Ikgm Arbeit durch Bergauf-
>. ben - ea 1 ER er ah Aa 0,005 44 bis 0,007 17
2 | Zur Leistung von 1kgm Zugarbeit .ı .... | BU PIT AR,
Entsprechende Untersuchungen am Menschen sind seit Lavoisier von
Voit?2), Speck), Hanriot und Richet®), Katzenstein°), Sonden und
Tigerstedt®), Zuntz und Schumburg?), Heineman°), Frentzel und
Reach°) u. a. ausgeführt worden !P). Unter diesen werde ich nur einige
besonders besprechen und verweise in bezug auf die übrigen auf die Original-
abhandlungen.
Die Arbeit bestand teils im Gehen bergauf, teils in Heben von Gewichten
oder in Drehen an geeigneten Apparaten. Versuche mit Heben von Ge-
wichten leiden oft an dem Übelstand, daß das gehobene Gewicht von der
Versuchsperson selber wieder herabgesenkt wird. Zu der positiven Arbeit
der Hebung kommt daher auch die bei der Senkung stattfindende Muskel-
tätigkeit, welche jedenfalls einen Aufwand von Energie beansprucht, aber
doch nicht gleich der entsprechenden positiven Arbeit gesetzt werden darf
(vgl. unten S.457). Dasselbe gilt auch vom Gehen bergauf, wenn es vom
Gehen bergab begleitet wird. Zur Feststellung einer bestimmten Verhältnis-
zahl zwischen Arbeit und Energieentwickelung können also nur solche Ver-
suche benutzt werden, wo ausschließlich positive Arbeit geleistet worden ist,
d. h. Gehen bergauf ohne Hinabsteigen, Dreharbeit, Heben von Gewichten,
welche automatisch oder von einem Gehilfen gesenkt werden.
In Katzensteins Versuchen wurde Raddrehen, sowie reines Gehen
bergauf als Arbeitsleistungen benutzt. Nach derselben Berechnungsweise
wie der oben bei den entsprechenden Versuchen am Hunde benutzten, ergeben
!) Landwirtschaftl. Jahrbücher 27, Ergänzungsband 3, 309, 1898. — ?) Voit,
S. 202. — °) Speck, Physiologie des menschlichen Atmens. Leipzig 1892. —
*) Compt. rend. de l’Acad&mie des sciences 105, 78, 1887. — °) Arch. f. d. ges.
Physiol. 49, 330, 1891. — °) Skand. Arch. f. Physiol. 6, 165, 1895. — 7”) Zuntz
und Schumburg, Studien zu einer Physiologie des Marsches. Berlin 1901, 8. 157
bis 309. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 83, 441, 1901. — °) Ebenda 83, 477. —
10) Vgl. auch Zuntz, ebenda 83, 557, 1901; Arch f. (Anat. u.) Physiol. 1897, 8. 535.
454 Der Nutzeffekt bei der Muskelarbeit.
diese, daß der Sauerstoffverbrauch für den horizontalen Gang pro Kilo Körper-
gewicht und 1m Weg im Maximum 0,1682ccm, im Minimum 0,0858 cem,
sowie pro Kilogramm mechanischer Arbeit bei Steigen bergauf im Maximum
1,5036, im Minimum 1,1871cem, und bei Drehen durchschnittlich 1,957 cem
beträgt. Der Nutzeffekt war also bei Arbeit mit den unteren Extremitäten
wesentlich günstiger als bei Arbeit mit den oberen.
Die Resultate Heinemans über den Mehrverbrauch bei Dreharbeit und
verschieden zusammengesetzter Kost sind in folgender Tabelle zusammen-
gestellt, und zwar, wie aus den Überschriften der verschiedenen Stäbe her-
vorgeht, unter verschiedenen Annahmen berechnet:
k Pro 1ikgm Kal., wenn angenommen, daß
Respira-
Hauptnahrung tionsquo- allein N-freie | der Eiweißum- |das Eiweiß sich
tient bei | Nahrungsstoffe |satz dem O-Ver-| an der Arbeit
der Arbeit verwendet brauch proport.| maximal be-
wurden wächst teiligt hat
|
Fett | 0,724 0,009 39 0,009 35 0,009 27
Kohlehydrate 0,901 0,010 67 001068 | 0,01037
Möglichst viel Ei- | | |
weiß .. | 0,796 | 0,011 40 | 0,011 27 | 0,010 64
Fett und Kohlehy- | | | |
drate | 0,783 | 0,010 98 | = 0,010 85
Fett und Kohlehy- | | |
ärate . u. | 0805 | os | kn 901048
| ı ı
Wie ersichtlich, bewirkt die verschiedene Berechnungsweise keinen
wesentlichen Unterschied. Eine vollständige Übereinstimmung der Zahlen
bei verschiedener Kost hat sich in keiner Reihe erzielen lassen. Wie Zuntz
ausführt, ist dieser Umstand aller Wahrscheinlichkeit nach dadurch bedingt,
daß die Versuchsperson im Laufe der Versuchsreihe allmählich gelernt hatte,
ökonomischer zu arbeiten. Die Versuche mit eiweißreicher Kost sind nämlich
früher als die übrigen ausgeführt worden.
Über die Energieentwickelung pro Ikgm Steigarbeit gibt endlich fol-
gende von Frentzel und Reach zusammengestellte Tabelle Aufschluß; in
derselben sind auch die Berechnungen über den Energieverbrauch bei Hori-
zontalbewegung aufgenommen:
| Kalorien pro | Kalorien a
Versuchs- 2 ee Versuchs- |——— | er Fe
person Horizontal- person | Horizontal- |
bewegung 1kgm bewegung | 1ikgm
ikg um im lkgumıim|
| |
KR; 0,000 786 0,006 72 A.L . 0,000 668 | 0,006 85
pr 0,000 510 0,007 50 J. K \ 0,000779 | 0,006 87
Bi. 0,000 496 0,007 39 L.Z ...| 0000574 | 0,00642
N. Z | 0,000 677 | 0,008 38 N db | 0,000515 | 0,006 46
Dr | 0,000 619 0,008 36 rn | 0,000 706 | 0,006 70
) | Il
Bei der Arbeit mit den oberen Extremitäten betrug der Nutzeffekt in
Heinemans Versuchen etwa 22,6 Proz. Als Durchschnitt für den Mehr-
Der Nutzeffekt bei der Muskelarbeit. 455
verbrauch bei lkgm Arbeit mit den unteren Extremitäten geht aus den
vorstehenden Angaben 0,0072 Kal. hervor. Der Nutzeffekt ist hier 32,6 Proz.
Die Arbeit mit den unteren Gliedmaßen scheint also ökonomischer als die mit
den oberen stattzufinden.
Es ist indes nicht unmöglich, daß dieser Unterschied nur ein scheinbarer ist.
Was bei derartigen Versuchen gemessen wird, ist ja die äußere nützliche Arbeit.
Diejenigen Muskelleistungen, welche zur Fixation der Glieder, zur verstärkten
Atmung und Herztätigkeit usw. nötig sind, werden ihrer Größe nach gar nicht
gemessen, der dabei stattfindende Energieverbrauch macht sich aber bei der Be-
stimmung des Stoffwechsels unverkürzt geltend. Also ist der Nutzeffekt der bei
der Arbeit direkt beteiligten Muskeln ohne Zweifel noch größer, als dies nach den
oben mitgeteilten Zahlenangaben erscheint, und es läßt sich wenigstens denken, daß
die bei der Arbeit mit den oberen Extremitäten notwendigen Extramuskelleistungen
verhältnismäßig größer sind als die bei Arbeit mit den unteren stattfindenden.
Bei seinen kalorimetrischen Untersuchungen hat Atwater!) auch die
vorliegende Frage beachtet. Folgende Tabelle enthält eine Zusammenstellung
seiner hierhergehörigen Beobachtungen.
% |
| Kalorien pro Tag
Lewis - — Kalorisches x tz-
Mehr- Äaui-
Versuchsperson Mittel Mittel Aqui effekt
h zersetzung valent
der Ruhe- | der Arbeits- bei FR RESER,
er i
versuche versuche der Arboh Pros.
E. O0. 2279 3892 1613 | 214 13,3
(42 Tage Ruheversuche, | |
12 Tage Arbeitsversuche) |
J. F. 8. I 2119 3559 1440 15283 16,2
12 Tage Ruheversuche, | |
& I |
18 Tage Arbeitsversuche) | |
I.0.W. | 2857 5143 2786 | 546 19,6
(4 Tage Ruheversuche, |
14 Tage Arbeitsversuche) |
Die Arbeit bestand darin, mit einem stationären Fahrrad einen elektri-
schen Motor zu treiben, dessen Energie in Wärme umgewandelt und so direkt
gemessen wurde (vgl. S.365). Der Nutzeffekt ist hier wesentlich geringer als
in den früher erwähnten Versuchen vom Zuntzschen Laboratorium. Die
Ursache dieser Differenz ist möglicherweise darin zu suchen, daß das Bei-
behalten des Gleichgewichtes auf dem Fahrrad in Atwaters Versuchen eine
gewisse Muskelanstrengung erfordert hat, welche bei der Messung der ge-
leisteten Arbeit nicht zutage getreten ist ?).
Über den Stoffwechsel bei verschiedener Art von Muskelleistung muß
ich noch folgende von Johansson’), teilweise im Verein mit Koraen ausgeführte
Untersuchungen kurz erwähnen‘).
!) U. 8. Depart. of Agricult. Office of exp. Stat. Bull. No. 136, 8. 190, 1903. —
2) Über den Einfluß der Geschwindigkeit der Bewegung auf den Energieverbrauch
bei der Muskelarbeit vgl.Zuntz, Arch. f. d. ges. Physiol. 95, 192, 1903. — °) Skand.
Arch. f. Physiol. 11, 273, 284, 1901; 13, 229, 1902; 14, 60, 1903. — *) Vgl. auch
Speck, Physiologie des menschlichen Atmens, Leipzig 1892, 8. 56, sowie Chau-
veau, Compt. rend. de l’Acad&mie des sciences 121, 26, 91, 1895.
456 Der Nutzeffekt bei der Muskelarbeit.
Der zu diesen Versuchen benutzte Apparat gestattet allein für sich reine
Hebungen und Senkungen eines Gewichtes mit den vorderen Extremitäten auszu-
führen, sowie auch dasselbe auf eine bestimmte Höhe zu tragen und endlich die
Geschwindigkeit und Dauer der Bewegung innerhalb weiter Grenzen zu variieren.
Mit demselben ist es also möglich, die verschiedenartigsten Muskelleistungen näher
zu untersuchen. Bei diesen Versuchen konnte freilich nur die 0O,-Abgabe bestimmt
werden. Da die Versuche aber alle im nüchternen Zustande ausgeführt wurden
und die Ruhewerte außerordentlich konstant waren, sind die dabei beobachteten
Variationen ganz sicher als ein zuverlässiger Ausdruck für die relativen Verände-
rungen des Stoffwechsels zu bezeichnen.
Bei reiner Hebung eines Gewichtes betrug die Mehrabgabe von CO, pro 1kgm
äußere Arbeit 0,0053 bis 0,0058 g; wenn die Leistung aber ermüdend war, stieg sie auf
0,0059 bis 0,0069 g an, was zum Teil wenigstens von der Schwierigkeit bedingt war,
die Bewegungen dabei ruhig und ohne Beteiligung anderer Muskeln auszuführen.
Die CO,-Abgabe nahm während der Dauer der Kontraktion proportional zu, und zwar
betrug die Zunahme für je 1 Sekunde längere Dauer der Bewegung pro Kilogramm
Belastung 0,00042 bis 0,00050g. Bei größerer Belastung und Hubhöhe, d.h. bei
größerer Arbeitsleistung bei jeder Kontraktion stieg diese Zahl auf 0,000 54 bis 0,00067 g.
Durch Elimination dieses Einflusses der Kontraktionsdauer findet man die
CO,-Abgabe, welche einer momentanen Ausführung der Arbeit von 1 kgm entspricht,
gleich 0,0032 bis 0,0042 g.
Die Anfangsstellung der Arme, ob sie zu Beginn der Arbeit gestreckt oder
schon etwas gebeugt sind, übt wenigstens innerhalb der ersten vier Fünftel des
ganzen Bereiches der Bewegung nur einen sehr geringen Einfluß aus, vorausgesetzt,
daß die Bewegung schnell genug ausgeführt wird. Bei langsamen Bewegungen
macht sich dagegen der Einfluß des Verkürzungsgrades der Muskeln sehr merkbar.
Beim Tragen eines Gewichtes, statischer Arbeit, nimmt die CO,-Abgabe bei
gleicher Kontraktionsdauer der Belastung proportional zu, und zwar beträgt sie für
das Beibehalten einer Kontraktion während 1 Sekunde bei 10 kg Belastung rund 0,001 g.
Die Herstellung der Kontraktion beansprucht indes auch eine gewisse Arbeit, welche
etwa 0,0038 CO, für 10kg entspricht. Wenn man also die CO,-Abgabe bei ver-
schiedenen Versuchen mit derselben absoluten Dauer und mit derselben Gesamtdauer
der Kontraktionen vergleicht, so findet man immer eine größere CO,-Abgabe, je
größer die Zahl der Kontraktionen und also je kürzer die Dauer der einzelnen Kon-
traktionen ist, wie z. B. in folgenden Versuchen von !/, Stunde bei 20 kg Belastung:
Zahl der Kontraktionen.. . . . . 900 450 22,5
Dauer jeder Kontraktion . . .. 1" 2 40"
00,-Abgabe :.. 2»... 2 16T hie 10T. 68 0
Bei gleicher Belastung, aber verschiedener Dauer der Kontraktion nimmt die
CO,-Abgabe der letzteren proportional zu. Die vom Herstellen der Kontraktion usw.
unabhängige CO,-Abgabe pro 1” ist von dem Verkürzungsgrade der betreffenden
Muskeln abhängig, und zwar wird sie um so größer, je mehr die betreffenden
Muskeln kontrahiert sind, wie z. B. bei einer Belastung von 20,4kg'):
Entfernung der | 00,-Abgabe für 1” statische Kontraktion
Hände vom er:
distalen Ende Versuchsperson J Versuchsperson K
des Apparates g g
49 0,0129 0,0115
40 | 0,0083 0,0099
30 | 0,0063 | 0,0053
20 | 0,0044 | 0,0050
10 | 0,0036 | 0,0053
0 | 0,0025 | 0,0017
!) Vgl. hierüber auch Bornstein u. Poher, Arch. f.d. ges. Physiol. 95, 146, 1903.
Der Nutzeffekt bei der Muskelarbeit. 457
Wenn die von den Muskeln zu leistende Arbeit darin besteht, ein (automatisch)
gehobenes Gewicht allmählich zu senken, was der Kürze halber als negative
Arbeit bezeichnet werden mag, so wächst auch hier die C O,-Abgabe proportional
der Zahl der Bewegungen und der Zeitdauer der Kontraktion. Für je 1 Sekunde
längere Dauer der Bewegung nimmt die CO,-Abgabe (bei 10 kg Belastung) um
0,0017 bis 0,0080g zu. Ein Vergleich mit der CO,-Abgabe bei statischer Arbeit
ergibt, daß diese bei der negativen Arbeit nicht größer ist, als daß sie gut auf die
stattfindende statische Arbeit bezogen werden kann, wie z. B. pro Sek. und 10 kg:
Be- 00, 00,
Nr. listeng Höhe Negative Statische
Arbeit Arbeit
kg em gefunden berechnet
1 | 20... 50 0,0024 0,0028
2 ı 90 50 0,0030 0,0031
a 50 0,0028 . 0,0028
4 weg 0,0026 0,0023
5 30 5.0 0,0028 0,0023
6 20.55 0,0017 0,0016
Hieraus folgt, daß der willkürliche Nachlaß des Kontraktionszustandes keinen
merkbaren Aufwand von Energie erfordert, daß also die sonst naheliegende Vor-
stellung, nach welcher die Abnahme der Verkürzung mit einem besonderen Prozeß
verbunden ist, während gleichzeitig die mit der Erhaltung der Kontraktion im Zu-
sammenhang stehenden Prozesse vor sich gehen, nicht richtig sein kann.
Folgende Tabelle enthält eine Übersicht über die Zunahme der C0,- Abgabe
für je 1 Sekunde länger dauernde Bewegung, bei positiver, negativer und statischer
Muskelarbeit:
Hebung oder Senkung CO, in 1 Sekunde bei 20kg Belastung
— KENN
von | bis Positive | Negative era aus den ah
: | $ suchen mit statischer
oder umgekehrt Arbeit | Arbeit Arbeit
| |
0) | 10 | 0,0043 _ 0,0028
0) | 20 | 0,0053 0,0034 0,0032
N) 40 | 0,0092 0,0052 0,0046
0 | 50 0,0099 0,0049 | 0,0057
10 | 20 | 0,0068 A | 0,0037
20 | 30 | 0,0068 — | 0,0051
30 40 | 0,0088 - — | 0,0070
40 | 50 | | 0,0102
0,0121 | _
Die Muskeltätigkeit übt also auf den Stoffumsatz einen sehr großen Ein-
fluß aus, und sogar sehr geringe Muskelbewegungen vermögen den Stoff-
wechsel in merkbarem Grade zu erhöhen. Sehr deutlich geht diese Tatsache
unter anderem aus einigen Beobachtungen von Johansson!) hervor. Seine
CO,-Abgabe betrug, wenn er in liegender Stellung nüchtern vorsätzlich die
größtmögliche Muskelruhe beobachtete, 21,4g pro Stunde; lag er im Bette
ruhig wie gewöhnlich, jedoch ohne diese vollständige Ruhe einzuhalten, war
!) Skand. Arch. f. Physiol. 7, 172, 1897.
458 Der Nutzeffekt bei der Muskelarbeıt.
die C0,-Abgabe 28,1g — also eine Steigerung von 31,3 Proz. In einer
späteren Versuchsreihe von ihm!) betrugen die Zahlen bei vorsätzlicher
Muskelruhe 20,7 und bei gewöhnlicher Bettruhe 24,9, d. h. eine Differenz von
20,4 Proz. — Bei einer hysterischen Frau, die 7 Tage lang fast keine Nahrung
genossen hatte, wurde am 7. Tage während 233/, Stunden die 00,-Abgabe
in zweistündigen Perioden bestimmt. Dabei schlief die Patientin die ganze
Zeit hindurch. Dessenungeachtet variierte ihre CO,-Abgabe pro 2 Stunden
zwischen 26,8 und 34,0g, d. h. eine Differenz von 27,7 Proz. Die Varia-
tionen der C0,-Abgabe verliefen ganz unabhängig von den Temperatur-
schwankungen in der Respirationskammer ?).
Unter solchen Umständen ist es leicht einzusehen, wie der Stoffwechsel
am Tage, auch wenn die Versuchsperson keine eigentliche Arbeit leistet, be-
trächtlich größer sein muß als während der Nacht. Auch finden wir in den
Versuchen von Pettenkofer und Voit das Verhältnis zwischen der 60,-
Abgabe während der Nachthälfte und der Tageshälfte beim gesunden Menschen
durchschnittlich wie 100:133 (Grenzwerte: 100:154; 100:107). Während
der Nachthälfte schlief aber die Versuchsperson nicht die ganze Zeit, und der
Unterschied zwischen dem wachen Zustande und dem Schlaf an sich muß
daher noch größer sein. In einer Reihe von 11 Versuchen von Sonden und
mir) verhielt sich die CO,-Abgabe im wachen Zustande und im Schlaf durch-
schnittlich wie 100:145. Die Grenzwerte waren 100:169 bzw. 100: 132.
Als weitere Beispiele davon, wie die Muskelbewegungen und -Spannungen
den Stoffwechsel beeinflussen, seien noch folgende Angaben über die im Laufe
des Tages beim Hungerer J. A. stattgefundenen Variationen der CO,-Abgabe
CO,-Abgabe für 2 Stunden
: | :
Be Letzter Eßtag 5. Hungertag | VEIEE
g | 8 | g
s-10V | — | = -- _ | 31
10—12 73 | 10—1 Lesen 48 | 10—12 Ruhe | 32
12— 2N 86 Frühstück um 53 12—2 Schreiben 35
1 :Uhr’N
2— 4 71 1,30—5,30 Lesen, 58 2—3 Lesen 30
| Spazieren
4— 6 ' 85 Mittagessen um 60 | 3—5 Ruhe, 31
| 5,30 N 5—6 Spazieren
6— 8 | 98 | 6—7,30 Ruhe, 56 6—9 Lesen 34
| ı . 7,30—9 Lesen
8—10 ' 78 | Abendbrod um 61 | 9—10 Schreiben 33
| 10 Uhr N
10-12 | 8 — 45 | Schlaf | 33
12— 2V | © Schlaf 35 ” | 28
2— 4 | 60 " 36 | M | 27
4— 6 ' 60 « BB | . | 30
6— 8 | 92 _ 63 | u | 33
!) Skand. Arch. f. Physiol. 8, 108, 1898. — ?) Nordiskt Medieinskt Ark. 30,
Nr. 37, 1897. — °?) Skand. Arch. f. Physiol. 6, 148, 1895.
re ee u
en
Der Stoffwechsel bei verschiedener Außentemperatur. 459
hier mitgeteilt!). In der Tabelle auf nebenstehender Seite sind die Zahlen
für den letzten Eßtag und den 5. Hungertag, sowie zum Vergleich Angaben
über die CO,-Abgabe bei der oben erwähnten jungen Frau, die sich während
der ganzen Versuchsdauer in hysterischem Schlaf befand, eingetragen.
Während des Eßtages beträgt die Differenz zwischen dem Maximum und
Minimum der CO,-Abgabe im wachen Zustande 29 g, d.h. 40,9 Proz. des kleinsten
Wertes. Die mittlere Abgabe im wachen Zustande beträgt 83 g; von diesem Mittel
weichen die einzelnen Bestimmungen durchschnittlich um 8,9 Proz. ab. Die Grenz-
werte sind aber 18,2 und 3,6 Proz.
Es ist selbstverständlich, daß diese Variationen zum Teil von den Mahlzeiten
bedingt sind. Während des 5. Hungertages begegnen wir aber fast ebenso großen
Variationen, welche hier nur von Variationen der Muskeltätigkeit bedingt sein
können. Im wachen Zustande ist die Differenz zwischen Maximum und Minimum
15g = 31,2 Proz. des kleinsten Wertes. Die mittlere CO,-Abgabe ist hier 57g; die
bei den einzelnen Bestimmungen beobachteten Abweichungen von demselben be-
tragen durchschnittlich 7,1 Proz., mit einem Maximum von 15,6. Bei der hysteri-
schen Frau ist die Differenz zwischen Maximum und Minimum allerdings 8g, also
jedenfalls 29,6 Proz. des Minimums; die mittlere Abweichung der CO,-Abgabe be-
trägt indes nur 5,7 Proz. des Mittels und ist also entschieden geringer als bei J. A.
im wachen Zustande.
Bei der Untersuchung des Einflusses irgend welcher Variabeln auf den
Stoffwechsel muß man daher immer, wenn dies nur möglich ist, den Stoff-
wechsel bei vorsätzlicher Muskelruhe und in nüchternem Zustande als Grund-
lage benutzen.
Sechstes Kapitel.
Der Stoffwechsel bei verschiedener Außentemperatur.
Die frühesten Arbeiten über den Einfluß verschiedener Außentemperatur
auf den Gaswechsel, welche mit Crawford (1788), Lavoisier (1789) und
Spallanzani (1793) begannen und von Delaroche, Treviranus, Letellier,
Vierordt, Lehmann, Moleschott, Liebermeister, Senator u..a. fort-
gesetzt wurden 2), ergaben, daß die Veränderungen der umgebenden Temperatur
in wesentlich verschiedener Richtung auf die poikilothermen und ‘homoio-
thermen Tiere einwirken. Während bei letzteren der Gaswechsel beim Sinken
der Außentemperatur in der Regel anstieg und bei Zunahme derselben herab-
sank, war er bei den ersteren um so größer, je höher die Temperatur der
Umgebung war.
In Ludwigs Laboratorium wurde dann von Sanders-Ezn?) nach-
gewiesen, daß auch beim Warmblüter eine Abnahme des Gaswechsels bei Ab-
nahme der Außentemperatur stattfinden kann, wenn nämlich dabei die Eigen-
temperatur des Tieres abnimmt. Das gewöhnliche Verhalten ist also davon
abhängig, daß das Tier seine Eigentemperatur einigermaßen konstant erhält.
») Skand. Arch. f. Physiol. 7, 74, 1897; vgl. auch ebenda 6, 117, 1895. —
?) Um Raum zu ersparen, verweise ich betreffs derselben auf die Zusammen-
stellungen von Pflüger, Arch. f. d. ges. Physiol. 14, 73, 1877; Voit, Zeitschr. f. Biol.
14, 57, 1878; Voit, 8. 211; Johansson, Skand. Arch. f. Physiol. 7, 123, 1897.
— ®) Ber. d. sächs. Ges. d. Wiss., math.-phys. Kl., 1867, S. 58; vgl. Pflüger, Arch.
f. d. ges. Physiol. 12, 283, 1879, welcher nachweist, daß bei gewissen Versuchen
wenigstens eine Undichtigkeit die Resultate von Sanders-Ezn unsicher gemacht hat.
460 Der Stoffwechsel bei verschiedener Außentemperatur.
Die folgenden Arbeiten bezweckten nun, die unter verschiedenen Um-
ständen bei Kaltblütern und Warmblütern unter dem Einflusse verschiedener
Außentemperatur stattfindenden Veränderungen des Stoffwechsels bestimmt
festzustellen.
Betreffend das Verhalten der Kaltblüter läßt eine Untersuchung von
H. Schulz!) die direkte Proportionalität zwischen der Körpertemperatur und
der Größe des Stoffwechsels aufs deutlichste hervortreten:
00,-Abgabe
Temperatur des Tieres |pro Kilogramm und Stunde
g
1,0— 1,6 0,0084— 0,0147
6,4 0,0672
14,5—15,4 0,0694— 0,0846
25,0—25,3 0,1499 — 0,1706
32,5—33,5 0,5495 —0,6696
34,0 0,6392
Beim nicht arbeitenden Menschen beträgt die CO,-Abgabe pro Kilogramm
und Stunde durchschnittlich 0,5g. Bei einer Temperatur von 32°C ist also der
Stoffwechsel des Frosches etwa ebenso groß als der des Menschen.
Ganz dasselbe Verhalten findet auch, wie die Versuche von Zuntz und
Röhrig?), sowie von Pflüger’) ergaben, am curaresierten Warmblüter statt.
Aus den Versuchen des letzteren ergibt sich:
| O-Verbrauch C0O,-Abgabe
Temperatur pro Kilogramm pro Kilogramm
im Rectum | und Stunde und Stunde
| ccm ccm
33,0 298,8 _
32,4 ee 310,3
39,0 436,2 356,9
41,0 523,8 520,1
Bei einer Steigerung der Körpertemperatur von 39° auf 41°C nimmt also, für
1°C berechnet, der O-Verbrauch um 10 Proz. und die CO,-Abgabe um 22,9 Proz.
zu; bei einer Abnahme der Körpertemperatur von 39° auf 33° nimmt der O-Verbrauch,
für 1°C berechnet, um 5,2 Proz., die CO,-Abgabe um 1,9 Proz. ab.
Auch folgende Versuche an curaresierten Kaninchen von Velten®) sind in
dieser Hinsicht sehr demonstrativ:
O-Verbrauch | CO,-Abgabe Prozentige Veränderung
Temperatur für für pro 1°C
Nr. im Kilogramm Kilogramm I et RT
"Rectum und Stunde und Stunde der der
cem cem O-Aufnahme 6) O,-Abgabe
1 38,3 581 571
2 37,4 557 541 | : — 58
3 31,4 386 383 | — 51 —i: 48
4 26,2 219 202 | —.' #8 — 91
5 23,1 181 178 | — 5,5 — 8,7
6 30,4 211 196 | + 2,2. 1,4
7 36,4 455 | 437 | 19,5 + 20,8
!) Arch. f. d. ges. Physiol. 14, 78, 1877. — ?) Ebenda 4, 57, 1871. — °®) Ebenda 12,
333, 1876; 18, 305, 1878. — *) Ebenda 21, 361, 1880.
Zn
er a Gamer u
Der Stoffwechsel bei verschiedener Außentemperatur.
461
‘Dasselbe Verhalten tritt ferner zum Vorschein, wenn infolge einer hohen
Durchschneidung des Rückenmarkes die Muskeln dem Einfluß Er höheren
Nervenzentren entzogen sind:
O-Verbrauch CO,-Abgabe
Temperatur pro Kilogramm pro Kilogramm
im Rectum und Stunde und Stunde
ccm ccm
38,7 422,7 399,7
41,3 489,3 486,4
Pro 1°C Zunahme der Körpertemperatur nimmt hier der O-Verbrauch um 6,1,
die CO,-Abgabe um 8,3 Proz. zu.
Endlich wies Pflüger nach, daß auch bei unversehrten Säugetieren eine
Steigerung der Körpertemperatur tatsächlich den respiratorischen Stoffwechsel
in die Höhe treibt:
O-Verbrauch C0O,- Abgabe
Temperatur pro Kilogramm pro Kilogramm
im Rectum und Stunde und Stunde
ccm ccm
38,6 676,9 641,3
40,6 754,8 728,2
“- Die-Zunahme des O-Verbrauches, berechnet für eine Steigerung um 1°C
‘der Körpertemperatur, ist hier 5,7, die der 0Ö0;-Abgabe 6,8 Proz., also etwas
geringer als bei Tieren mit hoch durchschnittenem Rückenmark.
Solange die Körpertemperatur des Tieres aber im großen und ganzen
unverändert bleibt, verhält sich der Stoffwechsel ganz anders:
er steigt bei
sinkender und sinkt bei steigender Außentemperatur (Zuntz und Röhrig!),
Colasanti?), Finkler®) und Pflüger). Besonders instruktiv sind in dieser
Hinsicht die von dem letzteren mitgeteilten Versuche, bei welchen das Tier in
Perioden von je etwa 20 Minuten Dauer in einem Bade abgekühlt oder erwärmt
wurde. In folgender Tabelle sind zwei dieser Versuche aufgenommen.
O-Verbrauch CO,-Abgabe
pro Kilogramm pro Kilogramm Temperatur
ie Nr. | “ und Stunde und Stunde im Rectum
‘cem ccm
XXILH. 1 829 859 39,2
2 794
} . 39,2
3 738 von 39,2 auf 38,3
+ 763 \ 38,3 37,8
704 n ’ n ’
5 839 J Zu 87,5
6
888 } dh sat, , 87,6
7 859 a7 5 286
x 608 577 „28,6 „ 24,0
9 457 512 EBEN. 2050
!) Arch. f. d. ges. Physiol. 4, 57, 1871. —
15, 603, 1877. — *) Ebenda 18, 324, 1878.
?) Ebenda 14, 92, 1877. — °) Ebenda
462 Der Stoffwechsel bei verschiedener Außentemperatur.
O-Verbrauch C0,- Abgabe
Versuch | Nr. | Pina Blinde | "und Brände Ani‘ Bectcı
ccm ccm
XXIV. 1 798 704 von 37,8 auf 38,8
2 Ya 634 38,8
3 884 882 A Be
4 588 519 „.25,6 „ 21,4
5 486 539 21,4
6 648 542 „ 214 „ 26,5
7 820 756 „265 „ 39,6
8 707 715 „ 324,6 „35,6
9 667 617 „ 35,6 „ 36,8
Wenn eine Abnahme der Körpertemperatur wegen der Abkühlung droht, stellt
sich eine beträchtliche Zunahme des Gaswechsels ein (Versuch XXIII, Nr.4 bis 7;
Versuch XXIV, Nr. 2 bis 3). Dieser schlägt seinem Zeichen nach in das Um-
gekehrte um, wenn die Körpertemperatur eine entschiedene Abnahme erleidet (Ver-
such XXIIH, Nr. 8 bis 9; Versuch XXIV, Nr. 4 bis 6). Wenn das Bad wieder er-
wärmt wird und die Körpertemperatur sich aufs neue der normalen nähert, so
steigt der Gaswechsel bei einer verhältnismäßig niederen Außentemperatur sehr
bedeutend (Versuch XXIV, Nr. 7 bis 8), um dann bei einer etwas höheren Außen-
temperatur wieder herabzusinken.
Durch diese Versuche war es endgültig festgestellt, daß der Stoffwechsel
beim warmblütigen Tiere unter dem Einflusse der Abkühlung zunimmt: es
kämpft der Körper durch eine vermehrte Wärmebildung gegen den durch
die niedrige Außentemperatur hervorgerufenen großen Wärmeverlust. Hier
liegt also der prinzipielle Unterschied zwischen Kaltblütern und Warm-
blütern vor.
Auf der anderen Seite ruft aber die Erhöhung der Körpertemperatur
auch beim ganz normalen warmblütigen Tiere eine Erhöhung des Stoffwechsels
hervor; also nimmt die Energie der Oxydationsprozesse auch bei diesen Tieren,
unabhängig von dem regulatorischen Einfluß des Nervensystems, mit der
Temperatur der Organe zu. Dies stellt wiederum eine fundamentale Über-
einstimmung in den Grundeigenschaften der lebendigen Gewebe bei allen,
sowohl den poikilothermen als den homoiothermen Tieren dar. Die von der
Abkühlung bewirkte Zunahme des Stoffwechsels, welche für den Warmblüter
so charakteristisch ist, ist daher als etwas später Erworbenes, als etwas, was
sich im Interesse des Beibehaltens einer konstanten Eigentemperatur allmäh-
lich entwickelt hat, aufzufassen (Pflüger).
Unter den übrigen Untersuchungen, welche die gleiche Abhängigkeit des Stoff-
wechsels der Warmblüter von der Außentemperatur erweisen, sind noch folgende
zu erwähnen.
Herzog Karl Theodor in Bayern!) fütterte vom 14. Dezember bis zum
14. Juni eine Katze mit einem und demselben Futter und machte dabei von Zeit
zu Zeit in sechsstündigen Perioden Bestimmungen der CO,-Abgabe. Die Außen-
temperatur schwankte während dieser Zeit zwischen — 5,5 und + 30,8°C. Wenn
man von einer Außentemperatur von 16°C als normaler ausgeht, stieg die CO,-
Abgabe bei niedriger Temperatur an und nahm bei höherer Temperatur ab.
!) Zeitschr. f. Biol. 14, 79, 1878.
Der Stoffwechsel bei verschiedener Außentemperatur. 463
Außerdem nahm das Körpergewicht der Katze während der wärmeren Monate bei
einer Kost zu, welche während der kalten Jahreszeit kaum genügte, um dasselbe
konstant zu erhalten.
Mit einer wie großen Genauigkeit diese von der Außentemperatur ab-
hängigen Veränderungen des Stoffwechsels erfolgen, geht aus zahlreichen
Versuchen von Rubner!), aus welchen folgende Beispiele hier mitgeteilt
werden, hervor:
A. Versuche am hungernden Hunde:
I. 2: IH.
Kalorien Kalorien Kalorien
Außen- pro Kilo- Außen- pro Kilo- Außen- pro Kilo-
temperatur | gramm und | temperatur | gramm und | temperatur | gramm und
Stunde Stunde Stunde
13,8 78,7 11,8 40,6 1a | 39,7
14,9 74,7 12,9 39,1 19,5 | 35,1
17,4 69,8 15,9 36,0 27,4 30,8
18,0 67,1 17,5 35,2 er —
B. Versuche am hungernden Meerschweinchen:
I. Junges Tier II. Erwachsenes Tier
C0,-Abgabe | C0,-Abgabe
Auben- Temperatur | pro Kilo- Adsene Temperatur | pro Kilo-
rare des gramm und asus des gramm und
pP Tieres Stunde pP Tieres Stunde
g g
f) | 38,7 4,500 0 37,0 2,905
10 38,6 3,433 11 37,2 2,151
20 38,6 2,283 2 37,4 1,766
30 38,7 1,778 26 37,0 1,540
35 39,2 2,266 30 37,7 1,317
35 38,2 1,273
40 39,5 1,454
- C. Versuche am gefütterten Meerschweinchen:
I. Junges Tier II. Erwachsenes Tier
C0,-Abgabe | | C0,-Abgabe
EL, Temperatur | pro Kilo- IE Temperatur pro Kilo-
teuinänetn des gramm und Simdesstur des | gramm und
pP Tieres Stunde ar i. Tieres | Stunde
g | | g
f) 38,5 4,94 () 37,9 | 2,987
10 38,4 3,64 10 37,7 2,219
22 38,6 2,72 20 37,9 | 1,779
30 38,7 2,78 25 39,0 | 1,650
30 | 39,0 | 1,430
!) Sitzungsber. d. Akad. d. Wiss. München 1885, 8. 458; Biologische Gesetze,
Marburg 1887; Die Gesetze des Energieverbrauches, 1902, S. 100 ff., 118, 135, 153 ff., 166.
464 Der Stoffwechsel bei verschiedener Außentemperatur.
Ein Vergleich der Versuche am gefütterten und hungernden Meer-
schweinchen läßt erkennen, daß bei niedriger Temperatur der Stoffwechsel
bei beiden etwa gleichgroß, aber bei höherer Temperatur beim gefütterten
Tiere größer als beim hungernden ist.
Diese Tatsache wird durch folgende Versuche vonRubner an einem Hunde
von 3,5 bis 4,5 kg Körpergewicht bei Hunger und bei Fleischzufuhr bestätigt:
Kalorien pro Stunde und Kilspisuin Körpergewicht bei
Außen-
100 g Fleisch 200 & Fleisch 320g Fleisch
VERIDARUNE Hunger | = 24 Kal. = 48 Kal. = 81 Kal.
| pro Kilogramm | pro Kilogramm | pro Kilogramm
7 86,4 er | 77,7 87,9
15 83 = = 86,6
20 55,9 | 55,9 | 57,9 76,3
25 54,2 | 55,5 | 64,9 et
so | 56,2 | 55,6 | 63,4 83,0
Bei genügend großer Fleischzufuhr ist also der Umsatz von der Außen-
temperatur fast unabhängig (Versuch bei 320g Fleisch), ‘während bei einer
geringeren Zufuhr, die sogar bei hoher Außentemperatur ungenügend ist, die
Einwirkung der Temperatur sich in ihrem vollen Umfange geltend macht.
Es läßt sich daher schließen, daß der Stoffwechsel bei Zufuhr von Eiweiß
von einer gewissen Grenze an sowohl bei hoher als bei niedriger Temperatur
ansteigt; ist die dadurch erzielte Wärmebildung genügend, um auch bei tiefer
Temperatur den Bedarf des Körpers zu decken, so ruft die letztere an und
für sich keine weitere Steigerung hervor. Wenn dies nicht der Fall ist, so
treibt die Abnahme der Temperatur wie sonst den Stoffwechsel in die Höhe.
Als weiteres Beispiel sei noch folgender Versuch von Rubner mitgeteilt:
Kalorien pro Stunde Kal. pro Stunde
|
| Kilogr und Kilogramm
Außen- - aan log Ka Außen- e
temperatur | 275 £ "Fleisch temperatur | 550g Fleisch
Hunger = 86,9 Kal. 41,5. 4788-7,
pro Kilogramm | pro Kilogramm
5,3 121,3 121,9 4,2 | 135,5
15,0 | 98,7 96,1 14,5 | 110,9
21,0 | 70,7 83,7 21,9 101,0
30,6 | 61,9 81,7 30,8 | 117,2
Über den Einfluß der Fettzufuhr bei verschiedener Temperatur teilt Rubner
folgenden Versuch mit:
sin pro Btuhds un8 Kilogramm
Körpergewicht
Nr Außen- | —
3 temperatur | 98g Speck
| Hunger | ze"144,3 Kal,
ı pro Kilogramm
1 2,8 (152,1°) | 155,5
2 7,3 119,6 _
3 15.5 83,1 93,4
4 31,0 62,9 | 79,9
!) Von Rubner berechnet.
[Der Stoffwechsel bei verschiedener Außentemperatur. 465
Sowohl bei normaler als bei höherer oder niederer Temperatur bewirkt die
Zufuhr einer sehr großen Fettmenge nur eine mäßige Zunahme des Stoffwechsels.
Aus den oben angeführten Versuchen an curaresierten Tieren geht mit
großer Wahrscheinlichkeit hervor, daß die bei niederer Temperatur statt-
findende Zunahme des Stoffwechsels, welche von Rubner als chemische
Wärmeregulation bezeichnet wird, zum größten Teil wenigstens, in den
Muskeln stattfindet. Die noch zu beantwortende Frage ist aber die, ob hierbei
äußerlich merkbare, grobsinnliche Muskelbewegungen auftreten oder nicht.
Bei kleinen Tieren, wie Mäusen, werden die Körperbewegungen sehr
lebhaft, sobald die Außentemperatur herabsinkt (Pembrey'!). Wenn dieselbe
von 18 bis 10°C abnimmt, so werden die Tiere sehr tätig; sie waschen sich
oder versuchen aus der Kammer zu entfliehen. Damit hängt auch die
außerordentlich kurze Zeit zusammen, innerhalb welcher eine deutliche Zu-
nahme der CO,-Abgabe bei diesen Tieren zum Vorschein kommt, wie z. B.
in folgenden Beobachtungen von Pembrey:
Wächst die
Veränderung der Außen- Innerhalb CO,-Ab-
temperatur Minuten gabe um
Proz.
110. 30 211
105° ee 10 118
BEE 13,8% 0.25.29. 0 5 75
BE Ra 18,00. BE: 2 74
GEH mit 17,00. ren 1 60
Langsamer verlief die umgekehrte Reaktion:
Nimmt die
Veränderung der Außen- Innerhalb CO,-Ab-
temperatur Minuten gabe um
Proz. ab
Ir aut 32H OT er 30 46
0,8 auf 20 0. er 10 28
12,8 auf SE 5 14
18 aut 350 Fe es 2 13
17 auf Sl GA 1 5
Nach Rubner kommen beim Meerschweinchen wie beim Hunde keine
Bewegungen vor, welche von der Wärme oder Kälte eingeleitet worden wären;
indes bemerkt Rubner, daß er an der unteren wie an der oberen Tem-
peraturgrenze gelegentlich Unruhe beobachtet hat?). Auf Grund dessen ist er
der Ansicht, daß die chemische Wärmeregulation nicht von sichtbaren Be-
wegungen herrührt. Auf der anderen Seite bringt aber Richet?) die ge-
steigerte Wärmebildung bei niedriger Außentemperatur gerade mit einem von
ihm beobachteten Kälteschauer in Zusammenhang.
!) Journ. of Physiol. 15, 401,1894.— ?) Vgl. Rubner, Die Gesetze des Energie-
verbrauches, $. 135, 139, 214. — ®) Archives de physiologie 1893, p. 312.
"Nagel, Physiologie des Menschen. I. 30
466 Der Stoffwechsel bei verschiedener Außentemperatur.
Meines Erachtens ist es sehr schwer, vielleicht unmöglich, an Tieren die
Frage nach dem Vorhandensein wirklicher Muskelbewegungen bei der
Wärmeregulation bestimmt zu beantworten, denn auch in dem Falle, daß ein
Zittern oder Frösteln von einem aufmerksamen Beobachter wahrgenommen
werden kann, so wird doch das Vorhandensein etwaiger Muskelspannungen
und dergleichen wohl kaum festgestellt werden können, und dennoch wird
durch solche Bewegungen der Stoffwechsel, wie aus den oben $. 457 an-
geführten Beispielen hervorgeht, in einem sehr erheblichen Grade gesteigert.
In den oben $S. 463 angeführten Versuchen von Rubner am hungernden
Hunde beträgt die Differenz zwischen Maximum und Minimum bzw. 17,3,
15,3 und 28,9 Proz. des Minimums; diese Steigerung kann also trotz
anscheinend vollständiger körperlicher Ruhe infolge von Muskelbewegungen
stattgefunden haben. Bei den Hungerversuchen S. 464 ist dagegen diese
Differenz beträchtlich größer und dürfte daher, wie die ähnlichen, in anderen
Versuchen von Rubner beobachteten Differenzen kaum aus dem hier hervor-
gehobenen Gesichtspunkte erklärt werden können.
Jedenfalls ist es, um zu einer bestimmten Entscheidung zu gelangen,
notwendig, Versuche am Menschen anzustellen, um solcher Art ganz be-
stimmte Angaben über die möglicherweise stattfindenden Muskelbewegungen
zu erhalten.
Bei einem nüchternen erwachsenen Manne, welcher sich während der Ver-
suche in sitzender Stellung befand und sich so ruhig wie möglich hielt, fand
Voit!) in sechsstündigen Versuchen, daß die CO,-Abgabe sowohl bei Zunahme
als bei Abnahme der Außentemperatur, von der gewöhnlichen Zimmertemperatur
gerechnet, erhöht wurde. Als die Außentemperatur von 16,2° auf 4,4° herabsank,
betrug die Zunahme der CO, 53g, d.h. pro 1°C 4,5g, während die Steigerung
bei Zunahme der Außentemperatur von 16,2 auf 30°C nur 13g CO,, d. h. pro
1°C 0,9g betrug.
Die näheren Details dieser Versuche sind folgende:
0 0O,-Abgabe 60,-Abgabe
Temperatur pro 6 Stunden Temperatur pro 6 Stunden
g g
4,4 211 23,7 165
6,5 206 24,2 167
9,0 192 26,7 160
14,3 155 30,0 171
16,2 158
Beim Menschen begegnen wir also ganz demselben Verhalten wie beim
Hunde. Voit gibt aber an, daß sich seine Versuchsperson zwar so ruhig als
nur möglich verhielt, aber am Ende der ersten Kälteversuche stark fror und
vor Frost zitterte. Übrigens beträgt die Differenz zwischen Maximum und
Minimum nur 36 Proz. des Minimums und dürfte zum größten Teil aus den
kleinen Muskelbewegungen erklärt werden können.
Unter Anwendung der Respirationsmaske machte Loewy*) an mehreren Indi-
viduen Versuche in derselben Richtung. Jeder Versuch dauerte durchschnittlich
!) Zeitschr. f. Biol. 14, 79, 1877. — ?) Arch. f. d. ges. Physiol. 46, 189, 1890,
Der Stoffwechsel bei verschiedener Außentemperatur. 467
2!/, bis 3 Stunden; während dieser Zeit brachten die Versuchspersonen 1'/, bis
1'/, Stunde in der Wärme und ebensolange in der Kälte zu. Sie waren nüchtern
oder hatten 3 bis 4 Stunden vor dem Versuche ein leichtes Frühstück genossen.
In 20 Fällen blieb der O-Verbrauch bei Kältewirkung unverändert, in 9 Fällen
nahm er ab und in 26 Fällen zu!). Beim völlig ruhenden Menschen ruft also
eine Abkühlung lange nicht immer eine Zunahme des Stoffwechsels hervor.
Trotzdem bestand in allen diesen Fällen ein mehr oder minder starkes Kältegefühl,
und in der Mehrzahl der Fälle sank die Eigentemperatur des Körpers.
Unter den 26 Versuchen, wo der Stoffwechsel bei der Kälte zunahm, betrug
die Steigerung in je einem Falle 90,8, 53,1, 34,0, 33,3 Proz.; bei den übrigen war
sie kleiner. Unter diesen 26 Versuchen finden sich 13, wo Muskelzittern oder
Muskelspannungen deutlich zum Ausdruck kamen; gerade in denselben hat die
Zunahme des Stoffwechsels ihre höchsten Werte erreicht. Auch wenn bei den
anderen 13 Versuchen keine Muskelspannungen usw. von den Versuchspersonen
angegeben wurden, so schließt dies selbstverständlich ihr Vorhandensein nicht aus,
und in dieser Hinsicht ist es höchst bemerkenswert, daß in allen Fällen, wo von
intelligenten und mit ihren Körperfunktionen vertrauten Individuen völlige
Muskelschlaffheit angegeben wurde, nie eine Zunahme des O-Verbrauches zu kon-
statieren war.
Selbstversuche von Johansson?) tun dasselbe dar. Hier wurde die CO,-
Abgabe in nüchternem Zustande und bei vorsätzlicher Muskelruhe zuerst, wenn die
Versuchsperson wohl bedeckt in warmem Bette lag, dann, wenn sie bei ver-
schiedener Außentemperatur nackt auf einem Stuhle saß, und endlich wenn sie
wieder in warmem Bette lag, bestimmt. In folgender Tabelle ist das Mittel der
CO,-Abgabe während der beiden Wärmeperioden mit der während der Kälteperiode
zusammengestellt. (Die CO,-Abgabe während der ersten Viertelstunde der Kälte-
periode und der ersten der Nachperiode wurde für sich bestimmt und ist hier aus-
geschlossen, weil hierbei ja besondere Muskelbewegungen gemacht wurden.)
Temperatur in CO, pro Stunde CO, pro Stunde
der Respirations- Wärme Kälte
kammer g g
13,7 23,6 20,4
14,6 239 23,8
15,3 22,9 20,4
18,8 23,3 22,1
19,8 23,8 23,6
20,6 23,3 24,9
20,7 22,5 25,7
21,5 22,4 22,8
Mittel 23,2 23,0
Aus den Zahlen des letzten Stabes läßt sich kein Beweis für eine von Muskel-
bewegungen unabhängige Zunahme der CO,-Abgabe bei verschiedener Außen-
temperatur herausfinden, denn dieselben zeigen gar keine direkte Abhängigkeit
von dieser, und die Mittel der beiden Reihen stimmen vollständig überein. Wie bei
Loewy nahm auch bei Johansson die Körpertemperatur während der Kälte-
perioden ab. :
Im großen und ganzen geht dieselbe relative Unabhängigkeit der CO,-Abgabe
beim wirklich ruhenden Menschen- endlich aus mehreren von Rubner und
!) Alle Werte, die nur um 5 Proz. vom Mittelwert in der Wärme abweichen,
werden von Loewy als unverändert betrachtet. — *) Skand. Arch. f. Physiol. 7,
123, 1897. — Vgl. Rubner, Die Gesetze des Energieverbrauches, $S. 216, sowie
Johansson, Skand. Arch. f. Physiol. 16, 88, 1904.
30*
468 Der Stoffwechsel bei verschiedener Außentemperatur.
Lewaschew!) ausgeführten Versuchsreihen hervor. Jeder Versuch dauerte 4 bis
6 Stunden, und die Versuchsperson hatte 2 bis 3 Stunden vorher ein leichtes
Frühstück genossen. Von diesen Versuchen seien die folgenden hier mitgeteilt:
Außen- C0O,-Abgabe Außen- C0,-Abgabe
Versuch pro Stunde Versuch pro Stunde
temperatur temperatur
g g
I 14,1 38,9 III 15 34,0
Sommer- 17,4 32,1 Feuchte Luft 20 28,3
kleidung 23,5 30,5 23 28,6
27 31,4
u 15 32,3 IV 2 29,8
Trockene 20 30,0 Sommer- 10—15 25,1
Luft 23 27,9 kleidung 15—20 24,1
25 31,7 20 —25 25,0
29 32,4 25—30 25,3
30—35 23,7
35—40 21,2
Versuch Außen- CO,-Abgabe pro Stunde
temperatur g
v 12,8 27,9 j
Sommer- 12,4 31,2 } PD
Klanung es ei } Am Schluß Zittern
24,9 23,9
25,8 22,9
27,3— 27,7 24,9; 27,3; 24,3. Zuweilen Schweiß
30,0 23,7 bis 28,2. Fast konstant Schweiß
Aus allen diesen Versuchen scheint mir unzweideutig hervorzugehen,
daß die im Dienste der Wärmeregulation stattfindende Zunahme des Stoff-
wechsels vor allem durch kleinere oder größere Muskelbewegungen hervor-
gebracht wird. Auch Rubner gibt zu, daß eine energische Beeinflussung
durch den Willen für kurze Zeiten die Muskeln ähnlich lähmen kann, wie
dies durch Curare in nachhaltiger Weise geschieht. Gerade darin findet er
einen neuen Beweis dafür, daß auch beim Menschen die Muskeln die Wärme-
regulation mitbesorgen können. Doch betont Rubner, daß er bei länger
dauernden Kälteversuchen am Menschen niemals hochgradige Steigerungen
gesehen hat: Vielfach fehlte trotz Zitterns überhaupt jeder Zuwachs der
CO,-Abgabe 2). Letzteres ist wohl wesentlich durch die Länge der von
‚ Rubner gewählten Versuchsperioden bedingt.
Diese Beteiligung der Muskelbewegungen bei der Zunahme des Stoff-
wechsels infolge einer niedrigen Außentemperatur kann doch unter Umständen
!) Rubner u. Lewaschew, Arch. f. Hygiene 29, 33, 1897; Rubner,
Ebenda 38, 123f., 1900. Vgl. auch Schattenfroh, Ebenda 38, 93, 1900. —
®) Rubner, Die Gesetze des Energieverbrauches, S. 220 f.
Der Stoffwechsel bei verschiedener Körpergröße. 469
in wesentlichem Grade ausgeschlossen werden, nämlich wenn die genossene
Kost, wie in den oben (S.464) angeführten Versuchen, auch bei einer höheren
Außentemperatur eine entsprechende Steigerung des Stoffwechsels hervorruft.
In seiner ersten Mitteilung wollte Rubner den Sitz dieses vermehrten Stoff-
wechsels in den „Drüsenapparat“ verlegen. Später !) spricht er sich weniger
bestimmt aus und -gibt zu, daß sich die betreffende Mehrzersetzung auch auf
andere Organe als die Drüsen erstrecken könnte. Die betreffende Mehrzer-
setzung ist aber, wie aus dem hier Ausgeführten hervorgeht, von der Außen-
temperatur ganz unabhängig.
Siebentes Kapitel.
Der Stoffwechsel bei verschiedener Körpergröße und
verschiedenem Lebensalter.
Es ist selbstverständlich, daß der Stoffwechsel bei verschiedenen Tieren
unter sonst gleichen Umständen um so größer sein muß, je größer das Tier
ist, denn bei einem größeren Tiere ist ja auch die Organmasse, von welcher
der Stoffwechsel in erster Linie abhängt, größer.
Auf die Einheit des Körpergewichtes berechnet ist aber der Stoffwechsel
bei großen Tieren geringer als bei kleinen.
Am deutlichsten läßt sich dieser Satz durch Tarnchie an hungernden
Tieren beweisen, wo der mächtige Einfluß der Nahrungsaufnahme auf den
Stoffwechsel ausgeschlossen ist. Wir finden dann in dieser Hinsicht folgen-
des?) (siehe Tabelle auf Seite 470).
In ihrer vollsten Deutlichkeit geht die betreffende Tatsache aus Rubners
langer Versuchsreihe an Hunden (Nr. 2 bis 8) hervor. Daß bei verschiedenen
Tierarten einige Variationen vorkommen müssen, ist leicht einzusehen, denn
die Art und Weise, wie verschiedene Tiere beim Hunger reagieren, wird doch
einige Verschiedenheiten darbieten, und vor allem wird die Dicke des Pelzes
in dieser Hinsicht eine wesentliche Rolle spielen müssen.
Die Ursache dieser Erscheinung suchte C. Bergmann (1847?) in fol-
gender Weise zu erklären. Je kleiner ein Tier ist, um so größer ist seine
Körperoberfläche im Verhältnis zum Volumen und Gewicht des Körpers. An-
genommen, wir haben zwei Kugeln, die eine von 2, die andere von 4cm
Durchmesser, so ist die Oberfläche der ersten 12,56, die der zweiten 50,24 qem;
ihre Volumina sind bzw. 4,18 und 33,49cem. Die Oberfläche der kleinen
Kugel ist also viermal kleiner als die der großen, ihr Volumen aber achtmal
kleiner: pro l1ccm kommt bei der kleinen Kugel 3 qem, bei der großen nur
1,5 gem.
Nun wissen wir, daß der Tierkörper den größten Teil — etwa vier Fünftel —
seines gesamten Wärmeverlustes durch die Haut erleidet. Der Wärmeverlust
des Körpers wird also, unter sonst gleichen Umständen, vor allem durch die
Y) Rubner, Die Gesetze des Energieverbrauches, 8. 125. — °?) Vgl. auch die
Zusammenstellung von E. Voit, Zeitschr. f. Biol. 41, 113, 1901. — ®) O0. Berg-
mann, Über die Verhältnisse der Wärmeökonomie der Tiere zu ihrer Größe. Ab-
gedruckt aus den Göttinger Studien 1847.
470 Der Stoffwechsel bei verschiedener Körpergröße.
=“ Größe der Körperoberfläche
&% bedingt sein. Damit aber die
a Körpertemperatur auf ihrer
5 u normalen Höhe erhalten wird,
E iR SET = muß die Wärmebildung, d.h.
u nu der Stoffwechsel, dem Wärme-
a a - 3 verlust gleich sein, also sich
u 2 = 2 > etwa proportional der Körper-
oberfläche verhalten. Wenn
a daher ein großes und ein
3 Ei ge leerer mneoon ma kleines warmblütiges Tier,
2598 ER TE EEE . . .
os M| "35573507055 welche alle beide sich in be-
aM®. zug auf die Dichte ihrer
= Haare nicht viel unterschei-
al, den, bei derselben Außen-
EB „| neasaeasnnae temperatur dieselbe Körper-
ABB TIREELEISTIIEE er r
| 55 temperatur haben sollen, muß
& das kleine Tier im Verhält-
ra nis zu seinem Körpergewicht
E 3 ZeaHXtrrRaBS8g mehr Wärme als das große
E 9: are Ss | Tier bilden, der pro Körper-
= N kilo berechnete Stoffwechsel
en muß bei jenem größer als bei
Be: diesem sein.
u ET ERSETITEZETSE | Eine direkte Konsequenz
ee Dr Eee dieser Auffassung ist die, daß
| 4 der Stoffwechsel bei verschie-
den großen Tieren, auf die
iR: ® EEE. > Einheit der Körperoberfläche
E s R>) $ 5 & Sercssdacsc bezogen, gleich groß sein muß.
M &0 Daß dies der Fall ist, wurde
zuerst von Rubner nach-
& Br REN gewiesen, indem er bei den
# PETER” Se in der nebenstehenden Tabelle
Ej sur. nen unter 2 bis 8 aufgenommenen
= Hunden auch die Körperober-
!) Skand. Arch. £f. Physiol.
ö 7, 55, 1896. — ?) Zeitschr. £.
& Biol. 19, 535, 1883; 1g N=
5 ; k A 25,25 Kal., 1g Fett = 9,50 Kal.
= ER: — °) Ebenda 17, 238, 1881;
E i 8% 1gN = 25,25 Kal, 1g Fett
Pr . 354 = 9,50 Kal. — *) Rubner,
eu rceunnen JE Biol. Gesetze, 1887, 8. 15. —
53555555 E 388 5) Journ. of Physiol. 31, 337,
AHEBEHHHBRBM 3 MAR 1904; vgl. auch Richet, Arch.
de physiol. 1890, p. 23; Slowt-
5 man+4oroonoma zoff, Arch. f. d. ges. Physiol.
A Tr 1008
NN
[Der Stoffwechsel bei verschiedener Körpergröße. 471
fläche maß und. den Stoffwechsel pro Quadratmeter berechnete. Es zeigte
sich, daß bei allen diesen Tieren der Kraftwechsel pro Quadratmeter Körper-
oberfläche im großen und ganzen derselben Größe ist. Als Mittelwert er-
halten wir 1088 Kal.; die größten Differenzen sind — 104 bzw. + 103 Kal.
und betragen daher nicht ganz 10 Proz. des Mittels.
Die Ursache des vorliegenden Sachverhaltes liegt indessen nicht allein
in den Bedingungen der Wärmeregulation, denn auch bei einer so hohen
Außentemperatur, daß der Wärmeverlust nunmehr ganz unbedeutend ist,
findet derselbe Unterschied zwischen großen und kleinen Tieren statt, wie
z. B. in folgenden Versuchen am Meerschweinchen bei 30°C (Rubner!):
Hungernde Tiere Gefütterte Tiere
| Kilo- 1. ilo- r
Korper CO, pro 0o-/ CO, pro Qua Kiinen CO, pro Kilo- | CO, pro Qua
wicht gramm und dratmeter rien gramm und dratmeter
® Stunde und Stunde Stunde und Stunde
kg g g kg 5 g
0,617 1,289 12,35 0,670 1,430 14,10
0,568 1,129 10,53 0,520 1,788 16,19
0,223 1,778 12,14 0,360 2,210 17,69
0,206 1,961 13,16 0,221 2,787 18,94
Sogar bei Kaltblütern, wo keine Wärmeregulation stattfindet, begegnen
wir derselben Abhängigkeit des Stoffwechsels von der Körpergröße (Jolyet
und Regnard?), Knauthe?).
v. Hoesslin*) hat diese Frage sehr eingehend erörtert und ist nach vielerlei
Erwägungen zur folgenden Auffassung gekommen. Wenn für ein Tier die für
möglichst große Arbeitsleistung im Kampfe ums Dasein geeignetste Größe einmal
gegeben ist, so kann für ein anderes Tier von ähnlicher Lebensweise der Umsatz
nicht ohne direkten Schaden für das Tier in einem stärkeren Verhältnis als die
dritte Wurzel aus dem Quadrate seines Körpergewichtes (K), d. h. proportional
seiner Körperoberfläche wachsen. Ein Sinken des Umsatzes unter dieses Verhältnis
würde von einem Sinken der Gesamtarbeitsleistung (sowohl der animalen als der
vegetativen Organe) und damit ebenfalls von einer Schädigung des Tieres im Kampfe
ums Dasein notwendig begleitet sein. Wenn bei verschieden großen Tieren die
maximale Arbeitsfähigkeit erreicht werden soll, muß also bei diesen Tieren der
Umsatz sich verhalten wie K%, nur dann kann sowohl die maximale Arbeits-
fähigkeit erreicht, wie die anatomische Ähnlichkeit im Bau bewahrt werden.
Auch Rubner°) scheint sich einer derartigen Auffassung zu nähern; bei der
Besprechung der soeben mitgeteilten Erfahrungen weist er nämlich darauf hin, daß.
die abkühlenden Verhältnisse bei großen und kleinen Tieren in analoger Weise die
Wärmebildung anfachen müssen, also in eben der Oberfläche entsprechender Weise
allmählich entlasten, und daß ein Teil der Arbeit unter keinerlei Lebensbedingungen
unter eine bestimmte Grenze fallen kann, da Atmung, Kreislauf usw. bestimmte
Ansprüche stellen, welche sofort wieder auf die frühere Höhe sich einstellen
müssen, wenn die Temperaturverhältnisse sinken.
Ein Kind, welches pro Kilogramm Körpergewicht mit 90 Kal. als Wärme-
produktion ins Leben tritt, würde in die Haut eines Erwachsenen, die ja nur für
!) Rubner, Biol. Ges., 8. 18, 25. — ?°) Arch. de physiol. 1877, p. 584. —
3) Arch. f. d. ges. Physiol. 73, 490, 1898. — *) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1888,
S. 339. — °) Rubner, Die Gesetze des Energieverbrauches 1902, 8. 175.
479 Der Stoffwechsel in verschiedenem Lebensalter.
weit kleinere Wärmemengen normale Verhältnisse der Wärmeabfuhr zeigt, nicht
hineinpassen.
Bei aufgehobener chemischer Wärmeregulation tritt das Minimum des Hunger-
stoffwechsels ein, und dies findet offenbar seine Erklärung in dem Ablaufe einer
Reihe notwendiger Lebensfunktionen, kleinen Arbeitsleistungen, Herzarbeit, Atmungs-
tätigkeit, die ihrerseits den eigenartigen Verhältnissen jedes Tieres angepaßt sein
müssen, da in jedem Momente dieselben wieder im Sinne der chemischen Regulation
zur Tätigkeit bereit sein müssen.
Wenn der Stoffwechsel pro 1 kg Körpergewicht bei großen und kleinen Tieren
derselbe wäre, so würde unzweifelhaft das größere Tier schon bei niedrigerer Tem-
peratur an der Schwelle der physikalischen Regulation angelangt sein und diese
weiterhin in viel höherem Maße in Anspruch. nehmen müssen als das kleine Tier,
und schließlich auch diesen Regulationsapparat in seiner Leistungsfähigkeit bald
erschöpft haben, noch lange ehe das kleine Tier mit seiner Organisation den ther-
mischen Verhältnissen gegenüber versagt.
Betreffend den Stoffwechsel bei körperlicher Arbeit zeigt sich nach den
Erfahrungen von Zuntz!) und Slowtzof£f?) nur in bezug auf die Horizontal-
bewegung des eigenen Körpers ein Unterschied zwischen großen und kleinen
Tieren derselben Art, indem der Energieverbrauch pro Ikg und Im Weg
um so größer ist, je kleiner das Tier. Auf die Einheit der Körperoberfläche
bezogen ist derselbe bei großen und kleinen Tieren annähernd proportional.
Dagegen findet sich betreffend den Energieverbrauch für 1kgm äußere Arbeit
keine gesetzmäßige Beziehung zur Körpergröße.
Daß der wachsende Organismus pro Kilogramm Körpergewicht einen
größeren Stoffwechsel als der erwachsene haben muß, folgt aus dem schon
Ausgeführten. Es kann aber der Fall sein, daß außerdem noch irgend welche
spezifische Verschiedenheiten für das jüngere Lebensalter charakteristisch
sind; wie der Ansatz von Eiweiß und von lebendiger Substanz beim wachsen-
den Körper leichter als beim erwachsenen erfolgt (vgl. Kapitel VIII), so könnte
es auch der Fall sein, daß der Stoffwechsel bei jenem größeren Umfanges
wäre, als dies der kleineren Körpergröße an sich entspricht.
Um diese Frage zu erörtern, haben wir den Stoffwechsel pro Quadrat-
meter Körperoberfläche bei Individuen verschiedenen Alters zu untersuchen.
Da es nicht möglich ist, an jedem einzelnen Individuum die Messung der
Körperoberfläche vorzunehmen, ist man in den meisten Fällen gezwungen, dieselbe
aus dem Körpergewicht zu berechnen. Um die Grundlagen einer solchen Berech-
nung zu gewinnen, machte Meeh?) eine Anzahl direkte Bestimmungen der Körper-
oberfläche bei Menschen von verschiedenem Alter und stellte auf Grund derselben
ER
folgende Formel auf: O=K Ve, wo O die Körperoberfläche in Quadratcentimeter,
@ das Körpergewicht in Gramm und K eine empirische Konstante darstellt. Die
letztere variiert bei verschiedenem Lebensalter etwas, und zwar beträgt sie
beim.-Neügeborenenräts 4.0 2. 004 0 ee degree EU DBR
im. 1. bis 2 Bebensfahre...n.. ...... 20 an Aa 11,576
im 7. Lebensjahrent Eu)... ©. % STERN ar 508
im 9, bis;12. .Lebensiahre’:.,. :: TFT ER 12,165
im. 18. bis 20, Lebensjahre... ... En 12,847
beim Erwachsenen . .... . N RR A RER ar 12,008
Als durchschnittlichen Wert gibt Meeh 12,312 an.
!) Arch. f. d. ges. Physiol. 68, 209, 1897. — ?) Ebenda 95, 175, 1908. —
®) Zeitschr. f. Biol. 15, 425, 1879.
N EN EN GENDN WE
u Zu ee
m an löh A un Pit
Ba A ee
Der Stoffwechsel in verschiedenem Lebensalter. 473
Unter Anwendung der Meehschen Beobachtungen haben Miwa und
Stoeltzner!) versucht, eine noch genauere Formel zu entwickeln, und finden die
betreffende Konstante, K, gleich
SEEN EEN
RL, Veıtv®
2, ODGR
wo O0 die Körperoberfläche, @ das Körpergewicht, U den Brustumfang und Z die
6
Körperlänge bedeuten. Die Oberfläche wäre demnach, 0 = K Vr@1L. Als
Durchschnittszahl für K erhalten die Verff. 4,5355 und bemerken, daß die nach
ihrer Formel berechneten Resultate besser mit den direkt beobachteten, als die nach
Meehs Formel erhaltenen übereinstimmen. Die Abweichung beträgt nämlich nach
der letzteren + 6,94 und — 10,47 Proz., bei Miwa und Stöltzner nur + 3,2 und
— 5,1 Proz., also etwa die Hälfte.
Da bei den jetzt vorliegenden Untersuchungen Brustumfang und Körperlänge
lange nicht immer angegeben sind, ist die ursprüngliche Formel Meehs wohl bis
auf weiteres zu benutzen.
Nach Rubner‘) beträgt dieKonstante K beim Hunde durchschnittlich 11,16 (10,18
bis 12,51°), beim Kaninchen 12,88, bei der Ratte 9,13 und beim Meerschweinchen 8,885‘).
Vor einigen Jahren untersuchten Sonden und ich’) unter Anwendung
des Stockholmer Respirationsapparates die CO,-Abgabe bei zahlreichen Indivi-
duen von verschiedenem Alter und Geschlecht. Bei jedem einzelnen Ver-
suche wurden 6 bis 12 Iıidividuen in die Respirationskammer aufgenommen.
Alle Versuche, mit Ausnahme von vier, wurden vormittags angestellt. Ein
paar Stunden vor dem Versuche hatten die Versuchspersonen gefrühstückt;
außerdem erhielten sie bei den meisten Versuchen etwas Apfel, Bonbons oder
dergleichen. Sie saßen still und gingen in der Kammer nicht herum. Die
Resultate sind in folgender Tabelle zusammengestellt:
A. Männliche Individuen.
| : Mittleres CO, pro In- co co
= eg; Körper- vlkakın pro Stunde u. | pro Stunde u.
gewicht und Stunde Kilogramm | Quadratmeter
Jahre kg £ £ .£
1 7,86 20,1 23,1 1,149 26,27
2 9,59 27,5 33,2 1,207 29,86
3 10,53 30,2 33,4 1,106 28,22
4 11,39 31,6 33,6 1,063 27,54
5 12,47 34,1 34,0 0,997 26,49
6 13,86 44,5 44,5 1,000 27,58
7 14,54 45,3 43,5 0,960 26,65
8 15,53 51,4 41,8 0,813 23,54
9 17,10 55,5 45,2 0,814 24,18
10 19,51 59,5 42,7 0,718 21,81
11 22,93 65,3 37,8 0,579 18,60
12 | etwa 25 67,5 38,4 0,569 18,48
13 34,72 68,3 35,3 0,517 16,85
14 44,39 76,5 36,7 0,480 | 16,25
15 | 57,57 84,6 34,4 | 0,407 | 14,24
!) Zeitschr. f. Biol. 36, 314, 1898.— *) Ebenda 19, 548, 553, 1883. °) Nach Hecker
ist die Konstante 12,322. — *)Rubner, Biol. Gesetze, 8.17. — °) Skand. Arch. f. Phys.
6, 53, 1895. Daselbst ist auch die ältere Literatur zusammengestellt. Vgl. die Kritik
Rubners, Beiträge zur Ernährung im Knabenalter, Berlin 1902, 8. 47.
474 Der Stoffwechsel in verschiedenem Lebensalter.
Nr. 1 zeigt die geringste CO,-Abgabe pro Individuum, und der Unterschied
zwischen dieser Zahl und den übrigen ist an und für sich sehr beträchtlich. Die
Ursache liegt darin, daß die übrigen Versuche ohne Ausnahme an Individuen der
wohlhabenderen Klassen geschahen, während der betreffende Versuch an Kindern
stattfand, welche sehr schlecht nutriiert, skrofulös und rachitisch waren.
B. Weibliche Individuen.
Mittleres CO, pro In- 00, 00,
N Alter Körper- dividuum pro Stunde u. | pro Stunde u.
gewicht und Stunde Kilogramm | Quadratmeter
Jahre kg g £ | g
1 7,87 21,8 24,7 1,133 26,61
2 9,91 26,6 22,6 0,850 20,78
3 11,16 31,0 26,2 0,845 21,75
4 12,19 36,2 26,9 0,743 20,14
5 13,15 39,5 27,5 0,696 18,46
6 14,04 44,3 29,3 0,661 18,22
7 15,14 48,6 27,8 0,562 15,99
8 15,59 49,9 31,9 0,639 18,32
9 17,69 53,9 27,1 0,503 14,78
10 | etwa 30 53,9 29,1 0,540 : 16,27
11 40-50 67,0 37,1 0,554 17,94
12 65— 79 66,9 26,1 0,390 12,64
Aus diesen Versuchen geht also hervor, daß sowohl männliche als weib-
liche Individuen pro Quadratmeter Körperoberfläche eine um so größere
CG0O,-Abgabe haben, je jünger sie sind. Wir schlossen daraus, daß nicht allein
die Körperoberfläche und der davon abhängige Wärmeverlust usw., sondern
auch das Alter an und für sich für die Größe des Stoffwechsels maßgebend
waren.
Da ferner sämtliche Versuchsindividuen, mit Ausnahme von Nr. 1 der
männlichen Individuen, derselben Klasse der Gesellschaft angehören und im
großen und ganzen sich in derselben Weise ernährten, dürfte die C0,-Abgabe
als relatives Maß des Stoffwechsels gelten können.
Wir bemerkten aber ausdrücklich, daß es von rein theoretischem Gesichts-
punkte zweckmäßiger gewesen wäre, wenn die Versuche frühmorgens nüchtern aus-
geführt worden wären. Wir beabsichtigten aber bei unserer Arbeit ganz besonders,
eine tatsächliche Unterlage zur Berechnung des Ventilationsbedarfes in Öffentlichen
Lokalen, speziell in Schulen zu gewinnen, und wollten daher die Versuche an
Individuen in demselben körperlichen Zustande anstellen, in welchem sie sich in
der Schule befinden.
Betreffend die Körperruhe war sie natürlich keine absolute, in sämtlichen
Versuchen saßen die Versuchspersonen und waren im allgemeinen ganz still. Unsere
Werte für die CO,-Abgabe beziehen sich also nicht auf Menschen in liegender
Stellung, bei welchen die Muskeln so wenig gespannt sind, wie sie es überhaupt
bei einem gesunden Menschen im wachen Zustande sind.
Neue Versuche in derselben Richtung wurden dann von Magnus-Levy
und Falk!) mitgeteilt. Hier wurden die CO,-Abgabe und der O-Verbrauch
unter Anwendung der Gesichtsmaske an nüchternen Individuen bei voll-
!) Arch. f. (Anat. u.) Physiol., Supplbd., 1899, 8. 314.
TEE WER,
Der Stoffwechsel in verschiedenem Lebensalter.
475
ständiger körperlicher Ruhe bestimmt. Die Resultate dieser Beobachtungen
sind in folgenden Tabellen, für die CO, in Gramm, für den O-Verbrauch in
Liter pro Stunde berechnet, zusammengestellt:
A. Männliche Individuen.
C0,, Gramm pro Stunde
O-Verbrauch, Liter
“ pro Stunde
Alter | Gewicht 2 pro Quadrat-
Nr. Kilogramm meter Tri pro Quadrat-
# = Kilogramm BER
Körper- Körper- Körper- meter Körper-
Jahre kg. gewicht oberfläche gewicht oberfläche
1 2),| 115 0,96 17,70 0,585 10,74
2 6 14,5 0,87 17,35 0,552 10,92
3 6 18,4 0,72 15,46 0,457 9,78
4 7 19,2 0,79 17,46 0,476 10,32
5 7 20,8 0,78 17,35 0,478 10,68
6 9 21,8 0,68 15,34 0,407 9,24
7 11 26,5 0,59 14,40 0,374 8,22
8 10 30,6 0,62 - 15,69 0,377 8,52
9 14 36,1 0,52 13,81 0,313 8,40
10 14 36,8 0,50 13,45 0,301 8,10
11 16 39,3 0,48 13,33 0,296 8,22
12 17 40,0 0,51 14,16 0,297 8,28
13 14 43,0 0,49 14,04 0,308 8,76
14 17 44,3 0,53 15,34 0,288 8,28
15 16 57,5 0,39 "12,39 0,251 7,68
16 16 57,5 0,41 12,86 0,253 7,92
17—26 | 22—56 | 43,2—88 0,35 11,16 0,224 7,14
237—30 | 70—77 | 47,8—69,3 0,29 9,18 0,185 5,88
B. Weibliche Individuen.
CO,, Gramm pro Stunde O-Verbrauch, Liter
pro Stunde
Alter | Gewicht pro pro Quadrat-
Nr. Kilogramm meter ‚pro pro Quadrat-
Körper- Körper- ei amm | meter Körper-
örper-
Jahre kg gewicht oberfläche gewicht oberfläche
1 7 15,3 0,78 15,69 0,491 9,90
2 61%, 18,2 0,71 15,22 0,445 9,48
3 12 24,0 0,61 14,28 0,338 7,92
+ 12 25,2 0,52 12,39 0,322 7,68
5 13 31,0 0,58 14,89 0,332 8,46
6 11 35,0 0,53 14,04 0,322 8,52
7 14 35,5 0,51 13,67 0,317 8,46
8 12 40,2 0,45 12,63 0,295 8,22
9 11 42,7 0,48 13,45 0,301 8,52
10—22 | 17—40 | 31,0—68,2 0,38 11,75 0,244 7,26
23—29 | 71—86 | 30,3—59,3 0,33 9,79 0,217 6,24
476 Der Stoffwechsel in verschiedenem Lebensalter.
Auch hier ist der Gaswechsel pro Quadratmeter Oberfläche bei jüngeren
Individuen größer als bei älteren. Indes findet sich, wie zu erwarten, ein
großer quantitativer Unterschied zwischen diesen Zahlen und denen von
Sond&n und mir, indem erstere durchgehend kleiner sind. Ein Vergleich
zwischen den beiden Versuchsreihen ergibt aber, daß sich der Einfluß
der Nahrungsaufnahme und der sitzenden Stellung auf den Gaswechsel
bei den verschiedenen Altersklassen um etwa gleichviel Prozent bei allen
geltend macht.
Dagegen findet sich in bezug auf.die CO,-Abgabe bei männlichen und
weiblichen Individuen desselben Alters ein prinzipieller Unterschied zwischen
Magnus-Levy und Falk einerseits und Sonden und mir andererseits.
Während wir, wie früher Starling, Andralund Gavarret, Speck, fanden,
daß die CO,-Abgabe beim weiblichen Geschlecht wesentlich geringer war als
beim männlichen, konnten Magnus-Levy und Falk keine derartige Differenz
beobachten; sie erklären diesen Umstand aus dem Gesichtspunkte, daß bei
den jüngeren Altersklassen die „Ruhe“ bei den Mädchen eine wesentlich
größere als bei den Knaben gewesen ist, was wir ‚seinerzeit schon mit
der Bemerkung hervorhoben, daß der Muskeltonus bei diesen größer ist als
bei jenen.
Zur weiteren Aufklärung der vorliegenden Frage haben wir noch teils
die bis jetzt nur wenig zahlreichen Ermittelungen über den Gesamtstoffwechsel
bei wachsenden Kindern, teils die Angaben über die Nahrungsaufnahme bei
Menschen von verschiedenem Alter und Geschlecht.
Folgende Tabelle enthält eine Zusammenstellung der betreffenden Be-
obachtungen der ersten Art:
Körper- Kalorien Kalorien
Ne Alter gewicht pro Kilo- | pro Quadrat- Antar
gramm und | meter und
Jahre kg 24 Stunden | 24 Stunden
1 9 23,2 63 1499 Hellström!)
9 u 24,0 —_ 1377 Rubner?)
3 10 26,0 52. 1290 Rubner°)
4 11 32,1 56 1391 Sonde&enu. Tigerstedt‘)
5 11 41,0 44 1321 Rubner°)
6 12 ‚38,0 — 1300 Rubner*)
7 12 38,3 48 1254 Sond&nu. Tigerstedt‘®)
8 || Erwachsener 70,0 32 1071
Durchschnittlich erhalten wir pro Quadratmeter Körperoberfläche und
24 Stunden im Alter von 9 Jahren 1438 Kal., von 10 Jahren 1290 (der Knabe
war nicht im N-Gleichgewicht), von 11 Jahren 1356, von 12 Jahren 1277 Kal.
!) Hellström, Studier öfver mjölken säsom föda, Helsingfors 1900, p. 132.
Der zweite Versuch von Hellström fand an einem 11'/,jährigen Mädchen statt.
Dasselbe bekam aber nicht genügend Nahrung, sondern verlor 2,93 g N, weshalb
dieser Versuch hier nicht aufgenommen wurde. — *) Rubner, Beitr. zur Er-
nährung im Knabenalter, Berlin 1902, 8. 62. .Berechnet von Rubner aus der
CO,-Abgabe. — °) Ebenda, 8. 40. — *) Skand. Arch. f. Physiol. 6, 215, 1895.
Minimum der CO,-Abgabe im Schlaf zeigen dasselbe !):
nährungszustande sind und nicht zu überreichlich essen.
Der Stoffwechsel in verschiedenem Lebensalter. 477
Auch folgende Angaben über das bei zweistündigen Perioden ermittelte
Männliche Individuen.
CO, pro Stunde und Quadrat-
Alter meter Körperoberfläche
Jahre g
11,2 14,09
12,0 13,78
18—20 10,75
22—43 9,74
Wie ersichtlich, stimmen diese Zahlen mit den entsprechenden von
Magnus-Levy und Falk sehr nahe überein.
Die alleinige Untersuchung der Nahrungsaufnahme gibt, wenn sie sich
auf eine genügend lange Periode erstreckt, gute Anhaltspunkte für die Kenntnis
des Stoffwechsels, wenn es sich um Individuen handelt, welche in gutem Er-
Daher sind die
Angaben, welche sich auf die Nahrungsaufnahme bei Menschen von verschiede-
nem Alter und Geschlecht beziehen, zur näheren Aufklärung der vorliegenden
Frage als sehr wertvoll zu erachten.
Folgende Tabelle enthält eine Zusammenstellung der hierher gehörigen
Beobachtungen von Camerer?):
N Alter Körpergewicht Kalorien Kalorien
Es pro Kilogramm | pro Quadratmeter
NE kg und 24 Stunden und 24 Stunden
Männliche Individuen.
Loy 5— 6 18 76,7 1680
2 | 7—10 24 61,7 1440
3 l 11—14 34 47,4 1250
4 | 15—16 52,8 39,8 1220
5 17—18 59,4 87,7 1200
6 I Erwachsener 70 32,0 1071
Weibliche Individuen.
zn 2— 4 12,7 75,3 1470
2 5— 7 16,6 68,7 1460
3 | 8—10 22,3 59,2 1390
4 | 11—14 31,9 51,7 1330
5 | 15--18 41,0 33,2 | 930
6 | 21— 24 44,5 40,0 ı 1150
7 | Erwachsene 56 32 | 999
‚Aus dieser Tabelle folgert Camerer, daß der Nahrungsbedarf (und also der
Stoffwechsel) in jedem Alter im großen und ganzen der absoluten Größe der Körper-
?) Skand. Arch. f. Physiol. 6, 150, 217, 1895. — ?) Camerer, Der Stoffwechsel
des Kindes, Tübingen 1894, S. 108.
Der Stoffwechsel in verschiedenem Lebensalter.
478
oberfläche proportional sei. Die obige Tabelle ergibt indes gerade das Gegenteil,
indem aus derselben so deutlich wie möglich hervorgeht, wie die Nahrungsaufnahme
vom fünften bzw. zweiten Jahre mit zunehmendem Alter ununterbrochen abnimmt,
und zwar beträgt die Differenz für männliche Individuen zwischen -Nr.1 und Nr. 6
etwa 56 Proz. und für weibliche Individuen zwischen Nr. 1 und Nr. 7 47 Proz.
Die einzige Ausnahme von dieser Regel, welche hier zu finden ist, ist Nr. 5
unter den Mädchen. Camerer bemerkt aber, daß hier die Nahrungszufuhr un-
genügend war. |
Dasselbe Resultat geht auch aus den Beobachtungen anderer Autoren
hervor, wie aus der folgenden Zusammenstellung ersichtlich ist.
Körper- Kalorien Kalorien
Nr. | Alter | Geschlecht gewicht | P" Kilo- ; |P5o/Qusärat- Autor
gramm und | meter und
Jahre kg 24 Stunden | 24 Stunden
1 2!/, | männlich 12,2 81 1568
2 4, % 15,2 79 1717 ;
3 | 10%, E 25,0 64 1503 Uttelmann))
4 | 14%, R 42,6 48 1366
5 2, R 15,0 90 1916
6 4Y, g 15,5 87 1822
Bi 2%, x 27,5 68 1673 x
8 | 10%, weiblich 43,2 46 1313 ee,
9 121, A 47,5 41 1219
10 | 14% i 49,9 38 1083 |
Aus diesen Erfahrungen scheint doch ungezwungen der Schluß gezogen
werden zu können, daß der Stoffwechsel des wachsenden Körpers nicht allein
durch die Bedingungen der Wärmeabgabe usw. beherrscht wird, sondern außer-
dem von dem jugendlichen Alter an sich abhängig ist. Durch anderweitige
Beobachtungen wissen wir ja auch, daß im allgemeinen da, wo assimilatorische
Vorgänge stattfinden, diese von lebhaften dissimilatorischen Prozessen be-
gleitet sind; dazu gehört auch die Tatsache, daß bei Muskelarbeit einerseits
der Stoffwechsel gesteigert wird, andererseits die Masse des Muskels zunimmt.
Betreffend den Einfluß des Lebensalters auf den Stoffwechsel müssen
noch das Säuglings- und das Greisenalter insbesondere besprochen werden.
Während des ersteren schläft das Kind meistens, und der Tonus seiner
Muskulatur ist nur wenig entwickelt. Dementsprechend haben die direkten
Beobachtungen von Heubner und Rubner?°) über den Gesamtstoffwechsel,
die Bestimmungen Scherers*) über den respiratorischen Gasaustausch, so-
wie die von Camerer°), Cramer), Schlossmann’), Oppenheimer®),
!) Uffelmann, Die Hygiene des Kindes, 8. 260. — ?) Jahrb. f. Kinderheil-
kunde, N. F., 46, 245, 1898; vgl. auch Hasse, Zeitschr. f. Biol. 18, 553, 1882,
sowie die kalorimetrischen Bestimmungen am Kaninchen von Richet, Arch. de
physiol. 1885 (2), p. 237. — °) Zeitschr. f. Biol. 36, 1,1898; 38, 315, 1899. — *) Jahrb.
f. Kinderheilk., N. F., 43, 471, 1896. — °) Camerer, Der Stoffwechsel des Kindes,
Tübingen 1894, 8. 108; Zeitschr. f. Biol. 33, 521, 1896; 39, 37, 1900. — °) Arch.
f. Kinderheilk. 32, 37, 1901. — 7) Ebenda 33, 338, 1902. — ®) Zeitschr. f. Biol.
42, 160, 1902.
Der Stoffwechsel in verschiedenem Lebensalter. 479
Jaffa!) u. a. ausgeführten Untersuchungen über die Nahrungsaufnahme des
Säuglings ergeben, daß allerdings der Stoffwechsel bei ihm pro Kilogramm
Körpergewicht durchschnittlich etwa 70 bis 100 Kal. beträgt, nicht selten
aber, und zwar trotz stattfindender Zunahme des Körpergewichtes bis auf
etwa 50 Kal. herabsinkt und auf 1 qm Körperoberfläche bezogen, in der
Regel nicht größer und zuweilen sogar geringer ist als beim erwachsenen
Menschen. Letzteres scheint vor allem während der ersten Lebenstage des
Säuglings stattzufinden, was auch daraus ersichtlich ist, daß nach Cramers
Ermittelungen die gasförmigen Ausscheidungen beim Neugeborenen sowohl
absolut als relativ geringer sind als bei älteren Säuglingen.
Da ein eingehenderes Studium des Säuglingsstoffwechsels nicht in diesem
Buche angezeigt ist, beschränke ich mich darauf, nur folgende Beobachtungen als
Beispiel hier mitzuteilen:
R Kalorien Kalorien
Aka Körper- | pro Kilo- | _ Pro
Nr. gewicht | gramm ı Quadrat- | Anmerkungen Autor
und meter u.
Wochen kg 24 St. | 24 St.
1 9 5,2 68 1006 Brustnahrung
2 30 7,6 69 1143 Dasselbe Kind; Heubner und
.8| 30 7,6 75 1233 Nahrung mit Rubner
4 | 30 Le 82 1378 Kuhmilch
5 2 3,2 8 1000
6 4 3,7 89 1150
2 7 4,4 100 1370 nr
8|...10 | 50 84 |. 1200 Tu ne \ Camerer
91 14 5,6 79 1170
ı0| ı7 6,1 75 1150
11 | 20 6,6 71 1120
'# Über den Stoffwechsel im höheren Lebensalter hat Ekholm?) unter
Anwendung des Stockholmer Respirationsapparates eine Versuchsreihe an
zehn Greisen im Alter zwischen 68 und 81 Jahren gemacht. Dazu kommen
noch drei Versuche von Sondön und mir an zwei Männern und einer Frau
im Alter von 69 bis 84 Jahren 3). Der Gesamtstoffwechsel betrug bei diesen
13 Versuchspersonen pro Kilogramm Körpergewicht und 24 Stunden rund
28 Kal. und pro Quadratmeter und 24 Stunden rund 910 Kal. Die Ex-
treme sind 23,7 und 31,0 Kal. pro Kilogramm Körpergewicht, sowie 750
und 1005 pro Quadratmeter Körperoberfläche. Da der Stoffwechsel beim
erwachsenen, nicht arbeitenden Menschen pro Kilogramm und 24 Stunden
durchschnittlich etwa 32 Kal. und pro Quadratmeter Oberfläche etwa 1071 Kal.
beträgt, folgt, daß der Stoffwechsel im höheren Lebensalter kleiner ist als in
früheren Jahren.
Dasselbe geht auch aus den oben mitgeteilten Bestimmungen der CO,-
Abgabe hervor (vgl. die Tabellen S. 475).
!) U. S. Depart. of Agriculture, Off. of exp. Stations. Bull. 84 (1900). —
*) Skand. Arch. f. Physiol. 11, 60, 1900. — °?) Ebenda 6, 209, 1895.
480 Der Ansatz von Eiweiß im Körper.
Aus dem hier dargelegten Material von Beobachtungen und Versuchen
können wir also schließen, daß nicht allein die Körpergröße an und für sich,
sondern auch das Lebensalter einen maßgebenden Einfluß auf den Stoff-
wechsel ausübt. Zum Teil kann dieser Einfluß mit wirklichen Muskel-
bewegungen in Zusammenhang gebracht werden, zum Teil dürfte er aber
von solchen ganz unabhängig zu sein. Hier kommt nun neben anderen Um-
ständen der Grad des Muskeltonus in Betracht, und derselbe spielt hier
möglicherweise die allerwichtigste Rolle.
Achtes Kapitel.
Der Ansatz von Eiweiß im Körper.
Beim Studium der Eiweißzersetzung bei reiner Fleisch(Eiweiß-)-Fütterung
stellte es sich heraus, daß es nur wenige Tage dauert, bis sich der Körper
mit noch so großen Eiweißmengen ins N-Gleichgewicht stellt, daß also die
N-Retention im Körper nur eine kurze Zeit dauert und nie eine bedeutendere.
Größe erreicht, auch wenn wir annehmen dürfen, daß aller im Körper zurück-
gebliebene Stickstoff tatsächlich in Form von (lebendigem oder totem)
Eiweiß angesetzt wurde (vgl. S. 394). Die größte N-Menge, welche Voit?)
bei reiner Fleischfütterung an seinem Hunde zum Ansatz bringen konnte,
betrug 46,4 g oder als Fleisch berechnet 1365 g. Durchschnittlich konnte er
auf diesem Wege keinen größeren Ansatz als 17g N (= 500g Fleisch) be-
kommen. „Man vermag mit Fleisch allein ein Tier zwar auf dem anderswie
erzeugten reichlichen Stande zu erhalten, aber diesen Stand nicht herzustellen,
noch eine Mästung von Fleisch zu bewirken.“
Aus Voits Versuchen mit Fleischfütterung folgt, daß Stickstoff bei fett-
reichem Zustande des Tieres unter sonst gleichen Umständen ungleich mehr
und länger angesetzt wird als bei fettarmem Zustande nach längerer Fütterung
mit größeren Mengen reinen Fleisches?). Bei fetten Tieren spart also das im
Körper angesetzte Fett das Eiweiß und läßt etwas davon zum Ansatz kommen.
Bei fettarmem Körper tritt es sogar ein, daß vom zugeführten Fleisch gar
nichts im Körper angesetzt wird, wie z. B. im folgenden Versuch’). Vom 17. Fe-
bruar bis 5. März 1862 verzehrte Voits Hund täglich 1500g Fleisch (mit 5lg N)
und befand sich damit schließlich im N-Gleichgewicht. Darauf hungerte das Tier
vom 5. bis 15. März und verlor dabei 70,7g N und nicht wenig Fett vom Körper.
Als es nun wieder 1500 g Fleisch bekam, setzte es sich sofort damit in N-Gleich-
gewicht. Darauf erhielt der Hund vom 25. März bis 4. April kein Fleisch, sondern
nur 100g Fett täglich; bei dieser Diät gab er von sich selber 62,8g N. ab. Als
er dann abermals 1500g Fleisch täglich bekam, setzte er bis zum Gleichgewicht
18,49 N. an.
Ganz anders stellt sich die Sache dar, wenn das Tier nebst Eiweiß auch
N-freie Nahrungsstoffe erhält, denn diese sparen, wie schon früher bemerkt
wurde, das Eiweiß. Es liegt uns jetzt ob, zu untersuchen, wie groß und wie
lange dauernd der hierdurch erzielte N-Ansatz tatsächlich ist und welchen
Einfluß verschieden große relative Mengen von Eiweiß und N-freien Nahrungs-
stoffen hierbei ausüben.
!) Zeitschr. f. Biol. 3, 46, 1867. — ?) Ebenda 3, 51, 1867. — °) Ebenda 5,
344, 1869.
u a re er ee ee Be ee
u Bl nn LU Le ll nn lc
Der Ansatz von Eiweiß im Körper. 481
Vollständig bestimmt läßt sich diese Frage kaum beantworten, denn da der-
artige Versuche, um beweiskräftig zu sein, an einem und demselben Tiere gemacht
und dennoch vielfach variiert werden müssen, sowie jede einzelne Reihe eine ge-
raume Zeit erfordert, so wird sich der körperliche Zustand des Tieres im Laufe der
Untersuchung wesentlich verändern, was aber seinerseits, wie aus dem soeben mit-
geteilten Beispiel hervorgeht, die Resultate in wesentlichem Grade beeinflussen kann.
Zur vorläufigen Orientierung möge folgende Zusammenstellung einiger Ver-
suche von Voit!) dienen. In acht verschiedenen Versuchsreihen bekam das
Tier zuerst eine gewisse. Menge Fleisch und dann außerdem wechselnde Mengen
von Fett. >
& Durch das Ersparnis
Futter Mittlerer | Fett bewirk- in Proz.
Nr. Datum en Basar © | des ohne
N | Fett | PFO a8 an N Fett um-
g g £ g gesetzten N
1. 12. bis 14. Januar 1859. | 68,0 | 250 57,7 63 08
15. Januar 1859 . . .. | 680 | — 64,0 , .
2. |28. bis 31. März 1859 . || 61,2 as 60,3 47 SS
1. bis 5. April 1859 . . || 61,2 | 250 55,6 . ’
3. 2. bis 9. März 1863. . \
= 3 51,0 0 50,7
1. bis 10. April 1863 ’ 0,3 0,6
9. bis 17. April 1863 . . | 51,0 30 50,4
17. bis 20. April 1863 . | 51,0 60 50,6 0,1 0,2
20. bis 27. April 1863 . | 51,0 | 100 49,0 1,7 3,3
27. März bis 1. April 1863 51,0 150 48,4 2,3 4,5
4. |19. bis 21. Januar 1862. | 51,0 0 51,4 13 =
22. bis 27. Januar 1862. | 51,0 | 150 50,1 ’ ,
5. 31. Juli u. 3. August 1864 | 34,0 _ 38,7 3.3 85
1. August 1864... . . 34,0 | 100 35,4 s er,
2. August 1864. . . . . || 34,0 | 300 33,0 5,7 14,7
6. |23. u. 25. April 1863 . . || 17,0 —_ 18,9 1% 63
24. April 1863 . ... . 17,0 | 100 17,7 ! .
7. |11. u. 13. Mai 1863. . . || 17,0 —— 18,7
A 2,0 10,7
12. Mai 1863... rs 17,0 | 100 16,7 >
8. 22. bis 25. April 1859 . | 17,0 | 300 15,5 28 189
125. bis 29. April 1859 . | 17,0 | — 17,8 i ?
Die prozentige Ersparnis variiert hier zwischen 0,2 und 14,7, ihre Größe scheint
von der Größe der N-Zufuhr ziemlich unabhängig zu sein, denn bei 34g N und
300 g Fett, sowie bei 17g N und 300g Fett ist sie größer als bei jeder anderen
Kombination von Fleisch und Fett. Und selbst die absolute Ersparnis an Stick-
stoff ist bei reichlichen Fleischmengen nicht durchgehend beträchtlicher als bei
verhältnismäßig geringen. Nur in der Reihe 1 mit 68g N und 250g Fett ist sie
größer als in der Reihe 5 mit 34g N und 300g Fett. Die absolute Kraftzufuhr
zeigt in beiden Reihen nur unwesentliche Unterschiede (3955 bzw. 3721 Kal.).
Obgleich sich aus ‘diesen Zahlen kein bestimmtes ‚Gesetz abstrahieren
läßt, scheint aus den Versuchen indes mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
!) Zeitschr. f. Biol. 5, 334, 1869.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 31
482 Der Ansatz von Eiweiß im Körper.
hervorzugehen, daß eine große tägliche Ersparnis an Stickstoff nicht allein
von der absoluten N-Menge in der Kost bedingt ist, sondern vielmehr am
sichersten erzielt wird, wenn die Fettzufuhr im Verhältnis zur N-Zufuhr
ziemlich groß ist.
Diese Folgerung wird durch die folgende Reihe von Voit!) wesentlich unter-
stützt; bei derselben blieb die Fettzufuhr stets die gleiche, die N-Menge stieg aber
von 15,3 (= 450g Fleisch) auf 5lg (= 1500g Fleisch), ohne daß der Umfang des
N-Ansatzes dabei in einem erheblicheren Grade variierte.
Futter pro Tag Was
Nr. Datum N Fett pro Tag
g g g
1 4, DeZ..1BBT. N. 0 a 15,3 250 3,6
2 5..., 1857 bie 6. Jan. 1888. 4... 17,0 250 1,9
3 6. bis. *9; Jan. 21358 47,0 Wr 25,9 250 3,1
4 9.002 re BEE ar a er 34,0 250 4,3
DB N IB 2 ee 42,5 250 3,2
8: 1-38, 5100, VB En e 51,0 250 4,1
7 ID ER 2 BB A en, 51,0 250 1,8
Bei 25,5 und 42,5g N ist der N-Ansatz der gleiche; bei 34,0 und 51,0g N
(Nr. 6) ebenso. :
Es bleibt aber noch zu untersuchen, wie lange der N-Ansatz unter ver-
schiedenen Nahrungsbedingungen andauert, bis N-Gleichgewicht wieder
eintritt. Es kann ja der Fall sein, daß bei einer gewissen Kombination von
Fleisch und Fett der tägliche N-Ansatz beträchtlich ist, aber nur kurze Zeit
Futter
N Be; Dat pro Tag | Gesamt | on N-Gleich-
T. er atum 2
Tage N Fett N-Ansatz gewicht ?
g g g
1 32 5. Dez. 1857 bis 6. Jan. 1858 | 17,0 250 61,0 Noch nicht
2 3 6. b18::9:-Jan. 1858 . . 25,5 250 9,2 Nahezu
3 5 80. Dez. 1860 bis 4. Jan. 27,2 200 5,2 Gleichgewicht
1861
4 4 22.'bis 26. Nov. 1860 . . 27,2 200 10,2 Noch nicht
5 3 27. bis 30. Nov. 1860 . . 27,2 200 12,9 Noch nicht
6 3 9. bis 12. Jan. 1858 .. 34,0 250 12,8 Nahezu
7 3 12. bis 15. Jan. 1858 . . 42,5 250 10,0 Nahezu
8 4 15. bis 19. Jan. 1858 . . 51,0 250 16,2 Nahezu
9 3 19. bis 22. Jan. 1858 . . 51,0 250 5,4 Nahezu
10 10 22. bis 31. Jan. 1862 . . 51,0 150 3,5 Gleichgewicht
11 23 9. März bis 1. April 1863 51,0 | 30—150 30,2 Nahezu i
12 7 | 1. bis 8. April’ 1859 . . | 61,2 250 29,0 Gleichgewicht
13 3 12. bis 15. Jan. 1859 . . || 68,0 250 12,0 Nahezu
!) Zeitschr. f. Biol. 5, 338, 1869. Vgl. daselbst die Reihe vom 1. bis 24: Fe-
bruar 1858 bei 150g Fett und allmählich abnehmenden Fleischmengen.
483
Der Ansatz von Eiweiß im Körper.
dauert, während bei einer anderen Kombination trotz eines verhältnismäßig
geringen täglichen Ansatzes die Gesamtinenge des im Körper aufgespeicherten
Stickstoffes größer als im ersten Falle ist.
In der vorstehenden Tabelle auf S. 482 unten sind die hierauf bezüglichen
Versuche von Voit!) zusammengestellt.
Bei 61,2& N und 250g Fett trat Gleichgewicht nach 7 Tagen ein, und dabei
waren nur 299 N angesetzt; bei 17g N und 250g Fett stellte sich das N-Gleich-
gewicht sogar nicht nach 32 Tagen ein, und während dieser Tage waren doch
619g N im Körper angesetzt worden. Der N-Ansatz verlief sehr regelmäßig, und
zwar betrug derselbe für die ersten 12 Tage durchschnittlich 2,41 und für die
folgenden Dekaden bzw. 1,47 und 1,77g.
Es scheint also, daß ein reichlicher N-Ansatz am besten bei einer im
Verhältnis zum gefütterten Eiweiß großen Fettzufuhr erzielt wird. Aus
schon angegebenen Gründen lassen sich aber aus dem vorliegenden Material
keine ganz bestimmten Folgerungen ziehen.
Als weiteres Beispiel von der Einwirkung des Fettes auf den N-Ansatz sei
noch folgender Versuch von Pflüger mitgeteilt®). Das Versuchstier bekam
während 5 Tage durchschnittlich 37,1g, 105g Fett und 163g Stärke und dann
Ersparnis
Durch F
Bus PD. Tag Mittlerer Kohlehydrat n- OR
N-Umsatz| bewirkte era
an er Kohle- | yro Tag | mittlere Er-| Kohle-
# hydrat ? " arnisan N Mydrah
y SP umgesetz-
g g g ten N
1 |23. Juni bis 2. Juli 1859 | 17,0 |100—300| 17,1 dr nn
2. bis 5. Juli 1859 - . . | 17,0 == 19,2 4 3
2 2. bis 6. April 1865 17,0 -. 18,6 24 56
6. bis 8. April 1865 17,0 250 16,2 . e
3 |14. bis 20. Juni 1865 . . | 17,0 250 18,2 :2 ‘a.
20. bis 22. Juni 1865 . . | 17,0 _ 20,0 ,
4 \4. bis 10. Juli 1864. . . | 27,2 En 28,1 AR 2%
10. bis 19. Juli 1864 27,2 |100—400 | 25,9 j k
5 |13. bis 17. Februar 1865 || 27,2 _ 26,6 Ag r
17. bis 22. Februar 1865 || 27,2 250 25,3 ! >
6 |23. bis 26. Juli 1864 . . | 34,0 = 35,0 A RR
26. bis 28. Juli 1864 34,0 |100—400| 30,7 r ’
7 29. Juni bis 8. Juli 1863 | 51 = 54,4 IR 5%
8. bis 13. Juli 1868... . | 51 200 49,4 : :
8 |1. Januar 1859... ... 68 —_ 64,4 32 5.0
3. bis 4. Januar 1859. . | 68 |100—200 61,2 2 :
9 6. Januar 1859. .... 68 — 67,7 6.8 10.0
7. bis 11. Januar 1859 68 | 200—300 60,9 ? y
10 |15. Januar 1859 .... 68 — 70,4 6.0 85
16. bis 18. Januar 1859. | 68 200 64,4 ’ ;
!) Zeitschr. f. Biol. 5, 344, 1869. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 52, 61, 1892.
31*
484 Der Ansatz von Eiweiß im Körper.
während 4 Tage 38,1 g N, 126g Fett und 230g Stärke. Der mittlere Ansatz von
Stickstoff betrug im ersten Falle 4,549,‘'im zweiten 5,85g pro Tag, oder für den
ganzen Versuch 46,1g = 288g Eiweiß, was nahe 1,2 Proz. vom Anfangsgewicht
des Tieres (28,3kg) beträgt.
In bezug auf den Eiweißansatz haben die Kohlehydrate prinzipiell. die-
selbe Bedeutung wie das Fett. Zum Vergleich mit der Tabelle S.481 stelle
ich die von Voit!) mitgeteilten Erfahrungen über den N-Ansatz unter der
Einwirkung von Kohlehydraten hier zusammen (siehe Tabelle auf S. 483 unten).
Die prozentige Ersparnis ist hier wie beim Fett nicht von der absoluten Menge
des gefütterten Eiweißes abhängig; der größten Ersparnis (13 Proz.) begegnen wir
bei Zufuhr von 17gN (Nr. 2); etwa von derselben Größe (12,3 Proz.) ist die Ersparnis
bei 349 N; in Nr. 1 und Nr. 9 ist die prozentige Ersparnis trotz der sehr ver-
schiedenen N-Menge etwa gleichgroß (10,9 bzw. 10) usw. Dagegen ist der absolute
Ansatz von N um so größer, je größer die gefütterte N-Menge war. Wie lange er
gedauert hätte und von welchem Betrage er bis zum N-Gleichgewicht gewesen
wäre, darüber geben uns diese Versuche indes keinen Aufschluß.
Hinsichtlich des gegenseitigen Vermögens des Fettes und der Kohlehydrate
N zu ersparen, hat sich aus vielen Versuchen ergeben, daß die letzteren dem
Fett entschieden überlegen sind, wie z. B. in folgendem Versuch von Voit?).
Der Hund bekam vom 19. bis 23. Juni 1859 17g N (= 500g Fleisch)
und 250g Fett; der N-Umsatz betrug dabei 19g. Als statt des Fettes
300g Zucker am 23. bis 26. Juni dargereicht wurden, sank die N-Abgabe
auf 15,8; bei 200g Zucker (26. bis 29. Juni) betrug die N-Abgabe 17,1g
und bei 100g Zucker (29. Juni bis 2. Juli) 18,3g. Obgleich sogar die
größte Zuckermenge kalorisch nur etwa 132g Fett entsprach, übte der
Zucker doch eine auffällig größere eiweißersparende Wirkung als das Fett aus.
Spätere Untersuchungen haben diese Tatsache vielfach bestätigt. Eine mit
42,5g Fleischmehl und 45g Stärke gefütterte Hündin verlor täglich 0,6g N vom
Körper. Durch Zugabe von 5g Fett sank der Verlust auf 0,4g. Als das Fett
durch 14,8g Stärke, wovon 12,5g verdaut wurden, ersetzt wurde, trat N-Gleich-
gewicht ein (Potthast°). — E. Voit und Korkunoff*) gaben einem 27kg
schweren Hunde in direkter Folge je drei Tage Eiweiß allein (5,11g N), Eiweiß mit
134g Fett und Eiweiß mit 269g Stärke. Die N-Abgabe betrug bzw. 9,57, 7,56 und
5,11g; durch das Fett waren also 2,01, durch die Stärke aber 4,46 & N erspart worden,
und dennoch war die Verbrennungswärme der gefütterten Fettmenge (1246 Kal.)
größer als die der gefütterten Kohlehydrate (1103 Kal.).
In besonders prägnanter Weise geht die Überlegenheit der Kohlehydrate
als Eiweißersparer aus Versuchen von Landergren’5) hervor (Mensch). Bei
diesen gab er seinen Versuchspersonen eine möglichst N-arme, aber kohle-
hydratreiche Kost und ersetzte nach einigen Tagen die Kohlehydrate voll-
ständig durch eine isodyname Menge Fett. Hier kommt also das relative
Vermögen des Fettes und der Kohlehydrate, Eiweiß zu ersparen, aufs deut-
lichste zum Ausdruck (siehe Tabelle auf nebenstehender Seite oben).
In Versuch I bekam die Versuchsperson eine in kalorischer Hinsicht völlig
genügende Kost mit bzw. 45 und 44 Kal. pro Körperkilo.. Im Laufe der vier
ersten Tage, wo nur Kohlehydrate genossen wurden, sank die N-Abgabe im Harn
!) Zeitschr. f. Biol. 5, 434, 1869. — °) Ebenda 5, 448, 1869. — °) Arch. £.
(Anat. u.) Physiol. 1898, 8. 269. — *) Zeitschr. f. Biol. 32, 118, 1895. — °) Skand.
Arch. f. Physiol. 14, 133, 1903. Vgl. auch Cedercreutz, Beiträge zur Kenntnis
des Stickstoffwechsels in der Frühperiode der Syphilis. Breslau 1902.
u u Me re ee
Der Ansatz von Eiweiß im Körper. 485
Netto-Einnahmen pro Tag IE N-Abgabe
alorien ro Ta
AR Tag N Fett Ir er Alkohol | pro Tag in Harn
g g g g g
I 1 0,26 _— 738 17 3150 8,91
2 0,26 ur 738 17 3150 5,15
3 0,26 —_— 738 17 3150 4,30
4 0,26 788 17 . 3150 3,76
5 = 304 2 30 3049 4,28
6 — 304 2 30 3049 8,86
7 — 304 2 30 3049 9,64
I 1 0,81 116 350 16 2647 9,29
2 0,81 116 350 16 2647 7,07
3 0,81 116 350 16 2647 5,25
4 0,81 116 350 16 2647 4,95
5 — 326 2 18 3164 4,33
n zn 326 2 18 3164 7,81
III 6 1,09 61 259 16 1771 9,8
7 1,09 61 259 16 1771 7,9
8 1,09 61 259 16 1771 Fi
9 _ 275 4 16 2682 6,5
10 — 275 4 16 2682 8,4
11 1,42 62 270 16 1830 7,5
12 1,42 62 270 16 1830 5,4
13 1,42 +62 270 16 1830 4,9
von 8,91 auf ein Minimum von 3,76g. Als nun die Kohlehydrate ausgeschlossen
und durch eine isodyname Menge Fett ersetzt wurden, stieg die N-Abgabe binnen
drei Tagen auf 9,64g, war also 2,6 mal größer als während der Kohlehydrat-
periode.
Der Versuch II unterscheidet sich vom Versuch I dadurch, daß die Kost
während der Kohlehydratperiode ziemlich knapp war, indes während der folgenden
Periode durch Ersatz der Kohlehydrate durch eine isodynamisch viel größere
Fettmenge beträchtlich erhöht wurde. Dessenungeachtet steigt während der letz-
teren Periode die N-Abgabe am 2. Tage auf 7,81g, 4,95g am 4. Tage der Kohle-
hydratperiode gegenüber.
Der Versuch III, welcher an einer anderen Versuchsperson als die früheren
ausgeführt wurde, beginnt mit einer kohlehydratreichen, aber absolut ungenügenden
- Kost mit nur 22 Kal. pro Körperkilo; dabei sinkt die N-Abgabe in drei Tagen auf
7,1g. Dann werden die Kohlehydrate fortgelassen und statt dessen Fett in reich-
licher Menge (Zufuhr 33,5 Kal. pro Körperkilo) genossen: am 2. Tage steigt die
N-Abgabe auf 8,4g. Beim Rückgang zu der ersteren, kohlehydratreichen, aber
ungenügenden Kost sinkt die N-Abgabe wieder, und zwar am 3. Tage auf den
niedrigen Wert von 4,9g. In diesem Falle hat also 1 Kal. aus Kohlehydraten für
die Eiweißersparnis eine größere Wirkung gehabt als 2 Kal. bei einseitiger Fett-
nahrung.
Zur theoretischen Deutung dieser Tatsache haben E. Voit und Kor-
kunoff!) angenommen, daß die Kohlehydrate dank ihrer Aldehyd- bzw.
Ketongruppe sich in einem labileren Gleichgewicht als das Fett befinden,
!) Zeitschr. f. Biol. 32, 130, 1895.
486 Der Ansatz von Eiweiß im Körper.
deshalb leichter als dieses zersetzt werden und also in höherem Maße eiweiß-
ersparend wirken, während Rubner!) auf die verschiedene Wasserlöslichkeit
und Teilbarkeit dieser Nahrungsstoffe größeres Gewicht legt. Auch würde
das Nahrungsfett rascher angesetzt und dadurch die Zeit verkürzt werden,
während welcher es durch seine Zersetzung eiweißersparend wirken könnte.
Demgegenüber ist aber nach Landergren zu bemerken, daß die Kohle-
hydrate ihre charakteristische, eiweißersparende Wirkung auch dann ent-
falten, wenn sie nicht allein, sondern mit ziemlich viel Fett genossen werden.
So wurde in einem seiner Versuche?) bei einer Nahrungszufuhr (netto) von
1,04g N, 143g Fett und 308g Kohlehydraten und 28g Alkohol mit 45 Kal.
pro Körperkilo die N-Abgabe im Harn am 4. Tage auf 3,0 g herabgedrückt,
und mehrere andere seiner Versuche ergeben dasselbe.
In Versuchen von Tallqvist®) bekam die Versuchsperson täglich 2867 Kal.
mit 16,3 N; in der ersten viertägigen Periode enthielt die Kost noch 44g Fett
und 466g Kohlehydrate, in der zweiten ebenso langen 140g Fett und 250g Kohle-
hydrate. In beiden Perioden stellte sich bald N-Gleichgewicht ein. Bei Ein-
haltung der gleichen N-Menge und bei normalem Kaloriengehalt in der Kost
betrug die N-Bilanz am 4. Tage der 1. Periode + 0,69, am 4. Tage der 2. Periode
—0,14g. Also kann man wohl sagen, daß das N-Gleichgewicht im großen und
ganzen ebensogut erhalten wird durch eine Kost, in der die N-freien Stoffe zu
90 Proz. wie zu 60 Proz. (kalorisch 80 bzw. 40 Proz.) durch Kohlehydrate ver-
treten werden.
Bei Gegenwart eines gewissen Minimums an Kohlehydraten entfaltet
das Fett sowohl bei N-Hunger als bei N-Zufuhr einen fast ebenso kräftigen
N-Schutz als isodyname Mengen von Kohlehydraten. Die leichtere Zersetz-
barkeit usw. der letzteren kann also nicht die Ursache sein, weshalb die
N-Ersparnis bei vollständigem Mangel an Kohlehydraten geringer ist als beim
Vorhandensein einer genügend großen Menge derselben. Vorläufig begnüge
ich mich damit, diese aus den einschlägigen Versuchen direkt hervorgehende
Tatsache zu betonen; im folgenden Kapitel werde ich Gelegenheit haben, ihre
theoretische Bedeutung näher zu erörtern.
Über die Größe des beim erwachsenen Menschen zu erzielenden Ansatzes
von Stickstoff haben u. a. Krug), F. Müller’), Moraczewskit), Sven-
son’), Lüthje®), Dapper°), Kaufmann !P), sowie der letztere und Mohr 1!)
wichtige Beobachtungen mitgeteilt, welche in folgender Tabelle zusammen-
gestellt sind 12). Die Versuche von Krug und Dapper stellen Selbstversuche
an gesunden Individuen dar; die Versuche 10 und 11,16 bis 18 von Lüthje
beziehen sich ebenfalls auf gesunde Individuen; die übrigen Versuche sind -
an Rekonvaleszenten ausgeführt (siehe Tabelle auf nebenstehender Seite).
‚Einen ganz enormen Ansatz von N erzielten White und Spriggs'?) an einer
38 jährigen hysterischen Frau. Der Versuch dauerte 55 Tage, während des-
!) Rubner, Handb. d. Ernährungstherapie 1 (1), 2. Aufl. 1903, 8. 80. —
?2) Skand. Arch. f. Physiol. 14, 120, 1903. — °) Arch. f. Hyg. 41, 177, 1902. —
*) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1893, 8. 374. — °) Zeitschr. f. klin. Med. 16, 552,
1889. — °) Ebenda 39, 44, 1900. — 7) Ebenda 43, 86, 1901. — °) Ebenda 44, 22,
1902. Deutsch. Arch. f. klin. Med. 81, 278, 1904. — °) Dapper, Inaug.-Dissert.
Marburg 1902. — !°) Zentralbl. f. Stoffwechsel- u. Verdauungskrankh. 3, 239, 1902.
— !!) Berliner klin. Wochenschr. 1903, Nr. 8. — !?) Vgl. auch Rosenfeld, Ber-
liner Klinik 1899, Januar. — "?) Journ. of Physiol. 26, 151, 1901.
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Der Ansatz von Eiweiß im Körper. 487
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r 2 2 8| nahme | gabe | satz BR Fa
)
Tage g g g g
x 15 71 15,5 12,1 3,4 49,5 21 Krug
2 7 31 9,9 8,6 1,3 9,1 13 Müller
3 6 = 29,2 21,2 8,0 48,0 27 |: v. Moraczewski
,
44a 9 55 23;1 16,3 6,8 61,2 29
b 5 72 30,7 16,8 | 13,9 69,5 45
5a 6 53 _ 25,8 18,0 | 7,8 | 46,8| 30
b 7 61 29,8 214 | 84 | 58,8| 28
ol 3|.58 292 |230| 62 || 186| 21 Svenson
9 58 15,8 10,1 | 571 51,3| 36
b 9 60 16,7 12,5 4,2 37,8 25
7 7 78 28,2 17,9.) 1038 | 72,1| 37 |]
8a 5 — 48,5 39,7 8,8 43,9 18
b 8 55 22,8 21,9 0,8 6,7 Es
c 7 —_ 62,2 49,2 | 13,0 91,5 21
d 6 — 62,5 55,2 7,3 43,5 11
e 7 — 62,6 58,1 4,5 31,8 7
ga | 12 40 30,8 292 | 16 | 194 5 Lüthje
b | ı10 58 42,1 36,0 | 6,1 | 609 | 14
© 5 70 61,0 47,2 | 13,8 69,2 23
10a | 10 | 6 49,1 344 | 14,7 | 147,0| 30
db| 8 64 46,2 27,6 | 18,6 | 148,6 | 40
c 7 60 40,7 22,1 | 18,6 || 130,5 46
dı 13 70 28,8 2238| 65 | 8345| 23
11a 5 33 20,3 181| 22 | ı32| u
b 12 37 20,1 16,8 3,3 39,6 16 Dapper
e | ‘9 38 24,6 21! 2326| 2334| 1
12 18 | 70—90 | 17,2—24,2| — 3,8 68,4 1 15—26 || Kaufmann und
13 11 |67—96|15,0—17,3| — 5,7 | 62,7 | -34 Mohr
14 10 |63—74|34,6—44,6 | 29,2 | 11,0 |109,9 | 27
15 12 |38—58 || 24,7—31,2| 23,2 5,2 62,0 18 Be
16 7 \72—82|49,6—63,5| 43,2 | 114 | 79,9 | gı |\Lüthje und
17 7 |36—44| 26-40 | 228 | 46 | 319| ı7 Berger
18 10 |55—60|151,9—58,6| 504 | 6,8 | 67,7 | 12
selben bekam die Versuchsperson eine sehr reichliche Kost, an einigen Tagen bis
zu 115 Kal. pro Körperkilo, und ihr Körpergewicht nahm dabei von 39,2 auf
52,5kg zu. Die gesamte Aufnahme von Stickstoff betrug 2142,5, die gesamte Ab-
gabe 1481,5g. Also wären im Körper nicht weniger als 661g N zurückgeblieben.
Da indes 661g N = 19441g Fleisch sind und das Körpergewicht der Versuchs-
person nur um 13,3kg zunahm, muß irgendwo ein Verlust an N stattgefunden
488
haben. Die Autoren ziehen die Menstruation, den Fchweiß usw. in Betracht,
kommen indes schließlich doch zu dem Resultat, daß ein nicht zu erklärender
Verlust von wenigstens 120g N vorgekommen ist.
Der Ansatz von Eiweiß im Körper.
Sogar bei einer ungenügenden Kost kann es zu einem N-Ansatz im
Körper kommen. Dapper') genoß in einem Selbstversuch 125g Eiweiß,
25 bis 45g Kohlehydrate und 65g Fett = 13 bis 14 Kal. pro Körperkilo.
Obgleich er bei dieser absolut unzureichenden Kost täglich etwa 300g an
Gewicht verlor, wurden doch im Laufe von 12 Tagen insgesamt 9,6g N
zurückgehalten. In einem zweiten Versuch mit 180 g Eiweiß, 75 bis 80 g Fett
und 30 bis 40 g Kohlehydrat = 17 Kal.täglich pro Körperkilo war die N-Bilanz
auch positiv, und es wurden bei einem täglichen Gewichtsverlust von 360 g
während 7 Tage im Körper 9,1g N angesetzt.
Dapper war fettleibig, und sein Körpeıfett könnte daher zu einem gewissen
Grade als Eiweißersparer wirken. Indes wurde das gleiche Resultat auch in Selbst-
versuchen von Clopatt?) erzielt, trotzdem dieser nur etwa 76kg wog. Bei einer
Zufuhr (brutto) von etwa 35 Kal. pro Körperkilo, welche an sich ungenügend war
und in 12 Tagen einen Gewichtsverlust von 1,5kg veranlaßte, war die N-Bilanz mit
Ausnahme des 2. Versuchstages positiv, und zwar betrug der gesamte Ansatz
während dieser Tage 11,24 g, also etwa 1g pro Tag.
In welcher Form der im Körper retinierte Stickstoff dort vorkommt —
als lebendige Substanz, als totes Eiweiß oder als andere N-haltigen Ver-
bindungen — darüber lassen sich nur Vermutungen aufstellen. Angesichts
der großen Mengen Stickstoff, die bei vielen der oben $. 487 mitgeteilten
Versuche im Körper zurückgehalten worden sind, ist es indes von vorn-
herein ziemlich wahrscheinlich, daß hier jedenfalls eine gewisse POSHAE
von lebendiger Substanz stattgefunden hat.
Zur Aufklärung dieser Frage sind Untersuchungen über die gleichzeitige
Aschebilanz sehr wertvoll. Wenn nämlich Stickstoff und Phosphor in dem-
selben gegenseitigen Verhältnis angesetzt werden, wie sie im Muskelfleisch
vorkommen, so gewinnt die Annahme von einem wirklichen Fleischansatz
wesentlich an Wahrscheinlichkeit.e. In dieser Hinsicht sind folgende Ver-
suche von Lüthje und Berger) von großem Interesse.
Tägliche Bilanz Pin Pin
Nr Knochen- Rest P Muskel-
„ N P Ca substanz fleisch
g g g g g g
1 2. 10,999 + 1,237 E= 1,215 0,542 0,695 0,665
2 + 5165 | + 0,563 + 0,528 0,240 0,323 0,314
3 + 11,419 | + 0,550 + 0,322 0,144 0,406 0,682
4 + 4,566 — 1,477 + 1,147 0,528 0,949 0,275
5 + 6,768 | + 1,765 + 0,103 0,044 0,721 0,411
Da das Muskelfleisch nur sehr arm an Ca ist, fassen die genannten Autoren
den gesamten Ca-Ansatz als
sprechende P-Menge in die Rechnung. Diese P-Menge ist im 5. Stabe der Tabelle
361, 1901.
Knochensubstanz auf und bringen also eine ent-
!) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1893, 8.375. — ?°) Skand. Arch. £. Physiol. 11,
Vgl. auch Hellesen, Norsk Magaz.
f. Laegevidensk. 1902,
Nr. 9,
sowie Hirschfeld, Berliner klin. Wochenschr. 1894, S. 621; Bornstein, Ebenda
1904, Nr. 46 u. 47. — °) Deutsch. Arch. f. klin. Med. 81, 278, 1904.
Der Ansatz von Eiweiß im Körper. 489
aufgenommen. Die zurückbleibende P-Menge findet sich im 6. Stabe. Im 7. Stabe
ist die P-Menge berechnet, welche notwendig wäre, um mit dem angesetzten
Stickstoff Muskelsubstanz zu bilden (N:P = 1:0,060).
Aus dieser Berechnung folgt, daß in Nr. 1 und 2 Stickstoff und Phosphor
genau in dem Verhältnisse zurückgehalten worden sind, wie ein eventueller Fleisch-
ansatz erfordert. In Nr. 3 ist ein verhältnismäßig größerer Ansatz von Stickstoff
und in Nr. 4 und 5 von Phosphor erfolgt. Hieraus folgt, daß der alleinige Nach-
weis einer N-Retention bei weitem nicht gestattet, von einer Neubildung von Muskel-
substanz zu reden. Es ist sehr wahrscheinlich, daß in Nr. 1 und 2 eine solche
tatsächlich aus der ganzen zurückgehaltenen N-Menge stattgefunden hat. Die Ver-
suche wurden an Rekonvaleszenten gemacht. In Nr. 3 hat nur ein Teil des
Stickstoffs in Fleisch verwandelt werden können. In Nr. 4 und 5 ist ein beträcht-
licher Phosphoransatz ohne entsprechenden N-Ansatz zu verzeichnen.
Wir können also vorläufig nur so viel sagen, daß bei einem umfang-
reicheren N-Ansatz im Körper wahrscheinlich ein Teil dieses Stickstoffs als
lebendige Substanz (Fleisch) abgelagert wird, während ein anderer Teil als
totes Eiweiß oder andere N-haltigen Verbindungen entweder als Einschluß in
der lebendigen Substanz oder gelöst in den Körpersäften vorkommt.
Von alters her ist es bekannt, daß die Muskeln nur durch Arbeit gestärkt
werden; auch die allerreichlichste und am zweckmäßigsten zusammengesetzte
Kost vermag es an und für sich|nicht, eine kräftige Muskulatur zu entwickeln.
Im Zusammenhang hiermit steht nun auch die Tatsache, daß die Arbeit eine
N-Anhäufung im Körper sogar bei einer Kost, die an sich lange nicht als
reichlich bezeichnet werden kann, bewirkt.
Caspari!) gab einem Hunde von 32 kg Körpergewicht ein konstantes Futter
mit 2088 bis 2099 Kal. und 25,11g N pro Tag. Während der sieben ersten Tage
leistete das Tier keine Arbeit; dann folgten vier Arbeitstage, wieder ein Ruhetag und
endlich noch fünf Arbeitstage. Die N-Bilanz und das Körpergewicht sind in folgen-
der Tabelle aufgenommen (die kursivierten Zahlen entsprechen den Arbeitstagen):
N-Bilanz Mittleres N- Bilanz Mittleres
Tag ‚ pro Tag Körpergewicht Tag pro Tag Körpergewicht
g kg g kg
1—4 — 0,46 32,75 12 + 1,27 32,90
5—6 + 1,22 32,70 13 + 2,51 32,60
7 + 1,24 33,00 14 + 3,69 32,35
8 — 1,39 32,68 15 + 2,94 32,45
9 +0,01 32,25 16 + 3,46 32,23
10 + 0,10 32,65 17 + 3,54 32,08
11 + 1,50 32,60
Die tägliche Arbeit bedingte nach Casparis Berechnung 467 bis 597 Kal.
Während der ersten Ruheperiode ist die mittlere N-Bilanz bzw. — 0,46, + 1,22,
+1,24; im Laufe der ersten Arbeitsperiode beträgt sie bzw. — 1,39, + 0,01, + 0,10,
+1,50, sinkt während des nun folgenden Ruhetages auf + 1,27, erhebt sich dann
während der zweiten Arbeitsperiode und erreicht nun sehr hohe Werte, bis auf
+3,69. Und zwar fand dies statt, trotzdem die Kost an und für sich für die
Arbeitsperioden nicht genügend war, Die erste Ruheperiode läßt nämlich das
Körpergewicht von 32,75 auf 33,00 kg steigen; in der ersten Arbeitsperiode sinkt
es dagegen auf 32,60, erhebt sich am folgenden Ruhetage auf 32,90, um dann
während der zweiten Arbeitsperiode auf 32,08 herabzusinken.
?) Arch. f. d. ges. Physiol. 83, 509, 1901; vgl. auch Bornstein, ebenda 83,
540, 1901.
490 Der Ansatz von Eiweiß im Körper.
An sich selber machte Kaup!) einen entsprechenden Versuch. Die Arbeits-
leistung bestand in Bergbesteigen und betrug, ohne Hinzurechnen der bei dem
Absteigen und bei der Horizontalverschiebung ausgeführten Arbeit, 138860 kgm,
was, unter Voraussetzung eines Nutzeffektes von 33 Proz., einem Energieverbrauch
von 924 Kal. entspricht. Die Schweißbildung bei der Arbeit war nur unbedeutend.
Die Kost war während der Ruhetage und des Arbeitstages dieselbe und bestand
aus 22,2 N, 128g Fett, 507g Kohlehydraten und 18g Alkohol = 3969 Kal. Die
N-Bilanz betrug während dreier Ruhetage — 2,2, — 2,7, + 0,2; während des Arbeits-
tages + 3,5, und während der zwei folgenden Ruhetage + 0,2, + 0,5g. Gleichzeitig
mit dem Ansatze von N während des Arbeitstages war auch die Abgabe von
Phosphor vermindert, was seinerseits, wie ähnliche Beobachtungen von Lüthje und
Berger (zit. 8.488), in einem gewissen Grade wenigstens für den Ansatz von
organisierter Substanz spricht.
Unter den jetzt erwähnten Erfahrungen zeigen mehrere, daß keineswegs
immer ein reichlicher Überschuß an Nahrung erforderlich ist, um beim Er-
wachsenen einen N-Ansatz zustande zu bringen. Dagegen geht aus den-
selben noch nicht hervor, ob und auf welche Weise dieser Ansatz geschützt
werden kann. Rosenfeld?), welcher diese Frage eingehend erörtert hat, hebt
im Anschluß an frühere Ausführungen von Voit?) hervor, daß es nicht un-
wahrscheinlich ist, daß dazu eine Kost gehört, welche auf die Dauer vom
Menschen nicht bewältigt werden kann. Ebenso wie bei einer Entfettungs-
kur in den ersten Tagen fast immer Eiweiß abschmilzt, kann sich bei gegen
früher verminderter Kost nur erst nach einem gewissen N-Verlust der Eiweiß-
bestand erhalten; es muß also das Individuum eine dem Mastfutter annähernd
gleiche Nahrungsmenge als Norm genießen.
Diese Auffassung dürfte jedoch kaum richtig sein, wenigstens nicht sofern
es sich um einen wirklichen Ansatz von lebendiger Organmasse handelt. Schon
die Erfahrungen an hungernden Tieren und Menschen haben ja ergeben, daß
nur nach einer an Eiweiß sehr reichen Kost der durch die N-Abgabe ge-
messene Eiweißzerfall während der ersten Hungertage erheblicheren Um-
fanges ist, während das Verhalten der Hungertiere, wenn sie vorher eine
ziemlich N-arme Kost erhalten haben, sowie das nach wenigen Tagen unab-
hängig von der Art des früheren Futters eintretende typische Hungerminimum
so deutlich wie möglich zeigen, daß die lebendige Substanz des Körpers bei
der Karenz nur in verhältnismäßig geringem Umfange der Zersetzung an-
heimfällt. Genau dasselbe Verhalten tritt uns auch in Landergrens*) schon
erwähnten Versuchen über die N-Abgabe bei N-armer, aber kalorisch ge-
nügender Kost entgegen.
Zu voller Evidenz wird aber die betreffende Auffassung durch folgenden Ver-
such von Siv&n?’) widerlegt. Das Versuchsindividuum, ein dreißigjähriger Mann,
genoß in seiner gewöhnlichen Kost täglich etwa 16g N. Dann wurde, unter ent-
sprechender Vermehrung der N-freien Nahrungsstoffe, die tägliche N-Zufuhr auf
6,26 g herabgesetzt. Das Resultat ist in folgender Tabelle auf nebenstehender Seite
oben eingetragen.
Während dieses Versuches hat also die N-Zufuhr von 16,0 auf 6,26, d. h. um
etwa 61 Proz. abgenommen, und trotzdem hat der Körper nicht allein seinen
früheren Eiweißbestand behauptet, sondern ‚außerdem noch insgesamt 19,58 g N
angesetzt. Und doch lag hier kein Nahrungsüberschuß vor, denn das Körpergewicht
nahm im Laufe der 28 Versuchstage von 60,8 auf 59,7kg ab.
!) Zeitschr. f. Biol. 43, 221, 1902. — °) Berliner Klinik, Januar 1899, 8. 11,
22. — °?) Voit, 8. 113. — *) Skand. Arch. f. Physiol. 14, 119, 1903. — °) Ebenda
10, 128, 1899; vgl. auch Hirschfeld, Arch. f. d. ges. Physiol. 44, 454, 1889.
Der Ansatz von Eiweiß im Körper. 491
Gesamter N-Verlust Gesamtansatz
N-Zufuhr | N-Gleich- am Körper während der Periode
} Ei (mit Abzug des Ver-
Nr. | Tage | pro Tag gewicht bis Bintritt des ste rd a
nach Tagen | N-Gleichgewichtes ersten Tage)
it - g g
1 7 12,69 1 0,53 9,73
2 9 10,38 1 0,34 6,04
3 6 8,71 sofort _ 4.39
4 6 6,26 2 2,09 — 0,58
Bei zweckmäßiger Anordnung der Kost kann also die N-Zufuhr sehr
tief herabgedrückt werden, ohne daß der Körper von seinem eigenen Eiweiß
etwas zuzusetzen braucht, was seinerseits zeigt, daß das einmal in organi-
sierter Form angesetzte Eiweiß auch ohne Mastfutter geschützt werden kann.
Als weiteres Beispiel sei noch folgender Versuch von Lüthje und Berger!)
mitgeteilt. Während 10 Tage bekam die Versuchsperson 55 bis 60 Kal. pro kg mit
51,9 bis 58,6g N täglich und setzte dabei insgesamt 67,7g N im Körper an. Dann
wurde die Zufuhr auf 35 bis 36 Kal. mit 20,8 bis 22,4g N herabgesetzt. Während der
ersten sechs Tage dieser Reihe verlor der Körper insgesamt 37,5g N; am siebenten
Tage stellte sich N-Gleichgewicht ein. Vom Ansatz wurden also jedenfalls 30,2g N
trotz der stark verminderten Zufuhr im Körper zurückgehalten.
Trotz allem gilt es indes als eine allgemeine Regel, daß ein lange dauern-
der und umfangreicher Ansatz von Eiweiß beim Erwachsenen nur ausnahnıs-
weise zu erzielen ist, und daß der Ansatz auch unter den günstigsten Be-
dingungen verhältnismäßig bald eine obere Grenze erreicht, die nicht mehr
überschritten wird. In dieser Hinsicht liegt ein prinzipieller Unterschied
zwischen dem Eiweiß und dem Fett vor, dessen Ursachen vor allem von
v.Hoesslin ?) eingehend erörtert worden sind.
Das Eiweiß, das im Körper aufgespeichert wird, kann teils in den Körper-
flüssigkeiten bleiben, teils in lebendige Substanz verwandelt werden, eventuell auch
als toter Einschluß in den Organen vorkommen. Angesichts der großen Konstanz in
der Zusammensetzung der Körperflüssigkeiten kann die in denselben enthaltene
Eiweißmenge nur in dem Falle zunehmen, wenn sie selber an Menge zunehmen.
Hier findet aber die Zunahme bald eine obere Grenze, und ein weiterer Ansatz
daselbst ist daher ausgeschlossen. Über eine etwaige Aufspeicherung von totem
Eiweiß als Zelleinschluß können wir nichts Bestimmtes sagen. Es bleibt also nur
die Möglichkeit, daß das angesetzte Eiweiß sich organisiert und in lebendige Sub-
stanz verwandelt. Aber auch hier wird, wie die Erfahrung zeigt, bald eine obere
Grenze erreicht. Der erwachsene Körper sucht nämlich die für ihn normale Menge
an lebendiger Substanz in möglichst engen Grenzen zu erhalten, weil mit dem
Wachstum der Zelle ein bedeutend größerer Verbrauch verbunden ist und damit
dann auch eine vermehrte Leistungsfähigkeit, wie auch mit einer Abnahme der
lebendigen Substanz eine sehr verminderte. Eine ‚mittlere und sich annähernd
gleich bleibende Leistungsfähigkeit erhält sich der Körper durch die annähernde
Konstanz seiner funktionierenden Massen. Das Gegenteil, eine weitgehende Ab-
hängigkeit des Organismus und seines Bestandes an funktionierendem Protoplasma,
eine rapide Ab- und Zunahme des Körperfleisches, wäre nicht zweckentsprechend,
weniger vorteilhaft, wie die wirkliche Einrichtung. Darum zerstört der Körper
den größten Teil des überschüssig zugeführten Eiweißes.
!) Deutsch. Arch. f. klin. Med. 81, 301, 1904. — °) Arch. f. pathol. Anat. 89,
354, 1882.
492 Der Ansatz von Eiweiß im Körper.
‘Bei dem noch wachsenden Körper sind die Bedingungen für den Eiweiß-
ansatz viel günstiger, was zum Teil von dessen im Verhältnis zur Körper-
größe beträchtlicher Nahrungsaufnahme, zum Teil wohl auch von einer be-
sonderen Fähigkeit der jungen Zellen, das Eiweiß aus den Körperflüssigkeiten
an sich zu ziehen und in lebendiges Protoplasma zu verwandeln, bedingt ist.
Während der erwachsene Körper sogar bei dem größten Überschuß an Nahrung
und Eiweiß binnen einer jedenfalls nicht sehr langen Zeit sich mit diesem
Eiweiß ins Gleichgewicht setzt, so bleibt im Alter des Wachstums, wenn nicht
die Kost an und für sich absolut ungenügend ist, Tag für Tag eine gewisse
Eiweißmenge im Körper zurück und erhöht also ununterbrochen den Eiweiß-
bestand des Körpers, bis dieser seine volle Reife erreicht hat.
Eine wie große Menge Stickstoff in dieser Weise täglich oder wöchent-
lich angesetzt wird, und in welchem Verhältnis diese zur genossenen Eiweiß-
menge bzw. der Gesamtkost überhaupt steht, darüber wissen wir zurzeit nicht
viel. Nur als Beispiele teile ich nach Bendix'), Rubner und Heubner?),
Hellström?°), Cronheim und Möller), Sommerfeld und Caro?) einige
Angaben über den N-Ansatz im Säuglingsalter hier mit. Bei allen diesen
Versuchen waren sowohl die Einnahmen als die Ausgaben an N direkt
analysiert (siehe Tabelle 1 auf 8.493).
Das vorliegende Beobachtungsmaterial ist indes viel zu klein, um irgend
welche allgemein gültigen, bestimmten Schlußfolgerungen zu gestatten. Be-
merkenswert ist jedenfalls die große Ersparnis an N, welche in Nr. 1 bis 3
bzw. 47, 34 und 26, in Nr. 4 bis 7, 24, 9 und 17, sowie in Nr. 8 und 9
13 bzw. 18 Proz. des genossenen Stickstoffs beträgt.
An drei wachsenden Hunden im Alter von 78 Tagen, mit einem Anfangs-
«gewicht von bzw. 1,85, 1,17. und 2,96 kg, bestimmte Rost‘) während 3'/, Monate
den N-Stoffwechsel. Während der ersten Periode von 21 Tagen war das Futter so
zugemessen, daß die Tiere entsprechend ihrer Gewichtszunahme täglich etwa die
gleiche Kalorienzufuhr pro Kilogramm Körpergewicht (etwa 180 Kal.) bekamen.
Im weiteren Verlaufe der Versuchsreihe blieb das Futter konstant und die Zufuhr
pro Körperkilo also immer geringer (bei Hund I von 169 bis 88, bei Hund II von
167 bis 84, bei Hund III von 179 bis 89 Kal.). Tabelle 2 auf 8. 493 enthält ein Resümee
dieser Beobachtungen. Die Zahlen stellen Mittelwerte in Gramm pro Tag dar.
Nach Rost ist, in bezug auf den N-Ansatz, eine Korrektur von etwa 3 Proz.
wegen N-Verlustes anzubringen.
Die neueren Erfahrungen über die Veränderungen des Eiweißes bei der Ver-
dauung haben mit großer Wahrscheinlichkeit ergeben, daß dasselbe dabei zum
großen Teile in verhältnismäßig wenig komplizierte Produkte gespalten wird. Aller-
dings sind die Akten darüber noch nicht geschlossen, ob die Gesamtmenge des Ei-
weißes im Darme und in der Darmschleimhaut so weit zersetzt wird, und es läßt
sich daher denken, daß ein Teil des Eiweißes diesem Zerfall entgeht und etwa in Form
von Albumosen dem Körper zur Verfügung gestellt wird. Zur Aufklärung dieser
Frage, welche die nach einer wirklichen Synthese der Eiweißkörper im Organismus
impliziert, hat in erster Linie Loewi’) Versuche über den Wert der biuretfreien
Spaltprodukte der Pankreasselbstverdauung für den Eiweißhaushalt angestellt,
!) Jahrb. f. Kinderheilk. N. F. 43, 22, 1896. — ?) Zeitschr. f. Biol. 36, 35,
1898; 38, 328, 1899. — °) L’Obstetrique 1900. — *) Jahrb. f. Kinderheilk. N. F. 57,
45, 1903. — ®) Arch. f. Kinderheilk. 33, 161, 1902. In den einschlägigen Versuchen
‚betrug der tägliche P-Ansatz bzw. 0,44 und 0,71g. — °) Arbeiten a. d. Kaiserl.
Gesundheitsamte 18, 206, 1901. — 7) Arch. f. experim. Pathol. 48, 303, 1902.
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494 Der Ansatz von Eiweiß im Körper.
indem er Hunde mit diesen Substanzen und Fett fütterte. Wenn die betreffenden
Verbindungen denselben Nährwert als das Eiweiß besäßen, so sollte durch dieselben
nicht allein N-Gleichgewicht, sondern auch N-Ansatz erzielt werden müssen. Unter
den in dieser Richtung von Loewi gemachten Versuchen scheiterten einige wegen
Erbrechen, Diarrhöe oder Unregelmäßigkeiten der N-Abgabe im Harn. Im folgen-
den Versuche traten aber diese Übelstände nicht ein, weshalb derselbe von Loewi
als besonders beweiskräftig erachtet wird.
Der Hund erhielt nach etwa zehntägigem Hungern 200g Fleisch, 50 g Stärke
und 75g Schmalz mit etwa 7g N und ‚setzte dabei während 5 Tage durchschnitt-
lich 2g N an. Nach dieser Vorbereitung bekam das Tier 300 ccm der Pankreas-
produkte mit 5,80g N, 50g Stärke und 100g Schmalz; die N-Zufuhr betrug ins-
gesamt 5,97 g. Während 11 Tage setzte das Tier bei dieser Diät 9,79g N,
d. h. pro Tag 0,89g N an, welcher Stickstoff nur aus den gefütterten Pankreas-
produkten hat entstammen können. Zu gleicher Zeit wurde auch 0,649 g P,O,
angesetzt.
Auf Grund dieses Versuches zieht nun Loewi die allgemeine Schluß-
- folgerung, daß die Summe der biuretfreien Endprodukte für alle Teile des im
Stoffwechsel zugrunde gehenden Körpereiweißes eintreten, sowie daß das Tier aus
diesen Produkten Eiweiß aufbauen kann.
Die Gültigkeit dieses Satzes dürfte indes nicht über allen Zweifel erhaben sein.
Schon aus Loewis Arbeit entsteht eine Bedenklichkeit. Er setzte nämlich den
oben beschriebenen Versuch weiter fort, aber in der Weise, daß er die Stärke fort-
ließ und durch Fett ersetzte. Die bisher positive Bilanz wurde.nun schwach negativ,
was möglicherweise aus dem geringen Vermögen des Fettes, Eiweiß zu ersparen,
erklärt werden konnte. Als nun aber nach zwei Tagen wieder Stärke verabreicht
wurde, fuhr das Tier fort, N von seinem Körper zu verlieren; der Verlust betrug
während sechs Tage in Summa 5,30 g N und hörte erst auf, wenn Fleisch statt des
Pankreaspräparates gefüttert wurde. Daraus geht, wie Loewi selber bemerkt,
jedenfalls hervor, daß das Fleisch qualitativ mehr leistet als eine an N’ ent-
sprechende Menge biuretfreier Endprodukte der Pankreasverdauung.
Unter Anwendung eines anderen Präparates, und zwar mit Trypsin verdauten
Fibrins, bei welchem die Biuretreaktion eben angedeutet war, kam Lesser!) zu
dem Resultat, daß es unmöglich sei, damit einen Ansatz von Stickstoff am Körper
zu erreichen, vielmehr wurde dabei noch 1,3g N abgegeben, während bei Eiweiß-
fütterung bei derselben Gabe N am ersten Tage schon 2,9g N angesetzt wurden.
Auch Henderson und Dean?) konnten bei einem entsprechenden Versuche
keine Eiweißsynthese nachweisen. In demselben bekam das Versuchstier nebst Fett
"und Stärke die durch lange dauernde Behandlung mit kochender Schwefelsäure aus
Fleisch erhaltenen biuretfreien Endprodukte. Es traten dabei Erbrechen und
Diarrhöe von Zeit zu Zeit auf, indes war der N-Verlust vom Körper endlich nur
0,08g pro Tag. Jedenfalls vermochten also die betreffenden Produkte in einem
sehr hohen Grade das Körpereiweiß zu ersparen.
In der letzten Zeit haben Henriques und Hansen?) entsprechende
Versuche an Ratten mitgeteilt. Dabei stellte es sich heraus, daß die Produkte
einer zweimonatlichen Selbstdigestion von Ochsenpankreas nebst Hundedarm-
schleimhaut, welche keine Spur von Biuretreaktion gaben, tatsächlich imstande
waren, nicht allein das N-Gleichgewicht herzustellen, sondern auch einen
N-Ansatz zu bewirken. So wurden in einem Versuche im Laufe von 14 Tagen
bei einer täglichen Zufuhr von 0,159g N im ganzen 0,129 g N angesetzt.
Auch diejenigen Verbindungen des trypsinverdauten Stoffes, die nicht durch
Phosphorwolframsäure gefällt werden („Monoaminosäuren“), sowie diejenigen,
!) Zeitschr. f. Biol. 45, 497, 1904; vgl. auch die Polemik zwischen Loewi und
Lesser, ebenda 46, 110 u. 113, 1904. — °) American Journ. of Physiol. 9, 386,
1903. — °) Zeitschr. f. physiol. Chemie 43, 417, 1905.
Der Ansatz von Kohlehydraten im Körper. 495
die in 96 proz. warmem Alkohol löslich sind, vermochten die Tiere im N-
Gleichgewicht zu erhalten. Dagegen erlitten die Tiere einen stetigen N-Verlust,
wenn sie mit den Säurespaltungsprodukten des Kaseins gefüttert wurden.
Zu bemerken ist, daß das Futter außer den erwähnten N-haltigen Verbin-
dungen noch Zucker, Schweinefett, Zellulose, sowie NaCl, KCl, Na,00,
und KnochenmeHll enthielt.
Neuntes Kapitel.
Der Ansatz von Kohlehydraten im Körper !).
Nachdem Claude Bernard im Verein mit Barreswill?) 1848 nach-
gewiesen hatte, daß die Leber sich bei jeder Art von Nahrung durch einen
hohen Gehalt an Zucker von allen anderen Organen unterschied, die keinen
Zucker enthalten, gelang es ihm einige Jahre später, das von ihm als Mutter-
substanz des Leberzuckers aufgefaßte Glykogen rein darzustellen®). Etwa
gleichzeitig wurde das Leberglykogen auch von Hensen entdeckt®). Kurz
nachher fand Sanson5) das Glykogen in den Muskeln, der Milz, den Nieren
und sogar im Blute. Wie die zahlreichen seitdem ausgeführten Untersuchun-
gen ergeben haben, findet sich das Glykogen schon in den früheren Stadien
des Embryonallebens, sowie beim wachsenden und erwachsenen Körper fast
in allen Organen vor. Der Gehalt an Glykogen variiert aber bei ver-
schiedenen Körperteilen sehr erheblich, und ein größerer Glykogenansatz
wird nur in der Leber und den Muskeln angetroffen, obgleich die Glykogen-
menge der übrigen Organe bei genaueren Untersuchungen gar nicht zu ver-
nachlässigen ist.
Die Glykogenmenge des Körpers ist vielfachen Variationen unter-
worfen; unter Umständen wird das Glykogen fast vollständig zerstört, um
bei Zufuhr von Glykogenbildnern alsbald, und zwar innerhalb einer sehr
kurzen Zeit, aufs neue gebildet und angesetzt zu werden. Das Glykogen
ist daher in erster Linie als ein Reservenahrungsstoff aufzufassen, und
seine Bedeutung beim Stoffwechsel liegt wohl vor allem darin, daß es den
Körper von Variationen der Kohlehydratzufuhr in einem gewissen Grade
unabhängig macht.
Die Menge Glykogen, die im Körper angesetzt werden kann, ist jeden-
falls sehr begrenzt und kann bei weitem nicht mit der Fettmenge wetteifern,
die unter Umständen im Körper abgelagert wird, was unzweifelhaft davon
bedingt ist, daß das Glykogen nicht wie das Fett in ein besonderes Gewebe,
sondern in den Organen selber aufgespeichert wird.
!) Da diese Frage in der letzten Zeit von Cremer (Ergebnisse der Physio-
logie 1 (1), 803, 1902), Langstein (Ebenda 1 (1), 63, 1902; 3 (1), 453, 1904) und
Pflüger (Arch. f. d. ges. Physiol. 96, 1, 1903) sehr eingehend bearbeitet worden
ist, werde ich mich hier nur auf das Allerwichtigste beschränken und verweise
betreffend alle Einzelheiten auf die genannten monographischen Darstellungen, wo
auch die umfangreicheLiteratur in großer Vollständigkeit verzeichnet ist. — 2) Compt.
rend. de ’Academie des sciences (Paris) 27, 514, 1848. — °) Ebenda (Paris) 44, 578,
1857. — *) Verhandl. d. physikal.-med. Ges. in Würzburg 7, 219, 1856; Arch. f.
pathol. Anat. 11, 395, 1857. — °) Compt. rend. de l’Acade&mie des sciences (Paris)
44, 1159 u. 1323, 1857; Journ. de la physiol. 1, 258, 1858.
496 Der Ansatz von Kohlehydraten im Körper.
Betreffend die obere Grenze des Glykogenbestandes hat Schöndorff!)
beim Hunde nach Fütterung mit Fleisch, Reis, Kartoffeln und Rohrzucker die
in Tabelle1 auf 8.497 aufgenommenen Zahlen gefunden.
Der hier gefundene Maximalwert, 37,87 g Glykogen pro Körperkilo, kann
natürlich nicht als der höchste überhaupt erreichbare Glykogengehalt angesehen
werden. Jedenfalls ist er als sehr hoch zu erachten, wie überhaupt die Zahlen der
Versuche 3 bis 5 alle früheren weit überragen.
Legen wir den Maximalwert einer Berechnung des möglichen Glykogenmaxi-
mums beim Menschen zugrunde, so bekommen wir bei einem Körpergewicht von
70kg als obere Grenze für den Glykogenbestand 2660 g, was ungefähr neunmal
mehr ist als die als Durchschnittszahl gewöhnlich angegebene Menge, 300g. Ob
überhaupt ein so großer Glykogenansatz beim Menschen möglich ist, darüber will
ich keine bestimmte Meinung aussprechen.
Betreffend die Verteilung des Gesamtglykogens auf die verschiedenen
Organe ergibt sich aus den Versuchen Schöndorffs folgendes: >
Glykogen in Prozent des Gesamtglykogens in
Nr.
Blut | Leber | Muskulatur | Knochen |Eingeweiden Fell Herz | Gehirn
1 | 0,03 | 20,06 62,63 5,34 0,37 11,40 | 0,14 | 0,04
2 || 0,01 | 26,37 58,30 10,33 1,08 3,76 | 0,09 | 0,06
3 — 58,55 31,23 6,82 5,21 3,00 0,14 0,07
4 — 56,74 28,99 7,28 4,30 2,48 0,11 0,07
5 Ta 38,92 12,90 5,31 4,02 | 0,29 | 0,06
6 — | 21,93 53,76 11,28 7,30 5,39 | 0,20 | 0,14
7 — | 48,51 35,90 10,85 2,98 1,40 | 0,17 | 0,17
Bei allen Versuchen ist der größte Teil des Glykogens in der Leber und
den Muskeln gefunden worden, und zwar beträgt derselbe im Maximum 85,73
und im Minimum 75,69 Proz. des Gesamtglykogens.
Die Verteilung des Glykogens auf die Muskeln und die Leber ist aber
sehr variierend: während z. B. im Versuch 5 die Glykogenmenge in beiden
gleich groß ist, ist sie in Versuch 2 in der Muskulatur etwa zweimal und im
Versuch 1 sogar dreimal größer als in der Leber. Auf der anderen Seite
ist sie aber in den Versuchen 3, 4 und 7 kleiner in den Muskeln als in
der Leber.
Zur weiteren Aufklärung über die Verteilung des Glykogens im Körper seien
noch folgende Angaben von Cramer?), Pflüger?) und Athanasiu‘) mitgeteilt
(siehe Tabelle 2 auf 8. 497).
Die prozentige Verteilung des Glykogens ist in folgender Tabelle auf 8. 498
oben berechnet worden.
!) Arch. f. d. ges. Physiol. 99, 19, 1903. Ich teile nur diese Bestimmungen
hier mit, weil diese die höchsten Zahlen ergeben haben und nach den zuver-
lässigsten Methoden ausgeführt wurden. Vgl. unter anderen auch Böhm und
F. A. Hofmann (Arch. f. exp. Pathol. 8, 271, 375, 1878), E. Voit (Zeitschr. f. Biol.
25, 543, 1889), Pflüger (Arch. f.d. ges. Physiol. 96, 268, 1903), Gatin-GruZewska
(Ebenda 102, 574, 1904). — ?) Zeitschr. f. Biol. 24, 75, 1888. — °) Arch. f. d. ges.
Physiol. 91, 121, 19802. — *) Ebenda 74, 561, 1899.
497
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Der Ansatz von Kohlehydraten im Körper.
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3 3 3 3 3 3 3 34
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"7 OTogBL,
Nagel, Physiologie des Menschen. I,
498 Der Ansatz von Kohlehydraten im Körper.
Glykogen in Prozent des Gesamtglykogens in
Nr.
Leber | Muskulatur | Knochen |Eingeweiden| Haut Herz Gehirn
8 10,20 89,35 3 0,24 = 0,07 0,10
9, 11,16 81,15 ° — 4,88 2,16 Sn 0,65
10 5,94 89,83 ai 0,94 2,41 0,34 0,60
11 46,21 39,52 11,23 _ 2,66 _ Be
12 44,80 44,38 — 10,85 — — —
Bei einem und demselben Tiere können verschiedene Muskeln einen
sehr verschiedenen Glykogengehalt haben; so fand Cramer!) bei einem
Hunde im rechten M. biceps brachii 0,17, im rechten M. quadriceps femoris
0,53 Proz. Glykogen und Aldehoff?) bei einem Pferde im M. glutaeus
mazximus 2,44, M. latissimus dorsi 1,29, M. obliquus abd. ext. 1,71, M. biceps
brachii 1,48 Proz. :
Dagegen ist der Unterschied des Glykogengehaltes der Muskulatur in den
beiden Körperhälften in der Regel nur gering. Nach Bestimmungen von Cramer)
betrug die größte Differenz des Glykogengehaltes bei drei Tauben 0,08, bei drei
Hühnern 0,02, bei drei Kaninchen 0,03, bei fünf Hunden 0,05 und bei drei Neu-
geborenen 0,08, was in Prozenten des niedrigeren Wertes bzw. 9, 9, 7, 28 und 4
ausmacht. Auch bei gleichnamigen Muskelgruppen der beiden Körperhälften ist
die Differenz des Glykogengehaltes im allgemeinen nicht beträchtlich.
Dementsprechend dürfte nach den Beobachtungen von R. Külz*), Cramer?)
und Schöndorff°) das Glykogen in der Leber ziemlich gleichmäßig verteilt sein.
Aus diesen Erfahrungen folgt die in methodischer Hinsicht äußerst wichtige
Tatsache, daß es bei der Bestimmung der im Körper angesetzten Glykogenmenge
notwendig ist, nebst der Leber wenigstens eine ganze Körperhälfte zu verarbeiten.
Die Untersuchung der Leber allein kann keine Aufschlüsse über die Gesamtmenge
des Glykogens abgeben, die Untersuchung einer einzelnen Muskelgruppe gibt uns
keine sichere Zahl für das Gesamtglykogen in den Muskeln, und bei alleiniger
Untersuchung der Leber und der Muskulatur bleibt in den übrigen Organen noch
eine Glykogenmenge zurück, welche nach den oben mitgeteilten Erfahrungen bis
auf 25 Proz. des totalen Glykogens steigen kann.
Im Körper wird das Glykogen beim Hunger und bei körperlicher
Arbeit allmählich verbraucht. Eine Zeitlang stellte man sich vor, daß das
Glykogen schon nach einigen Hungertagen bis auf Spuren verschwinden
würde; neuere und genauere Untersuchungen haben indes ergeben, daß
diese Auffassung lange nicht begründet ist. Bei einem Hunde, der 28 Tage
lang gehungert hatte, fand Pflüger”) noch insgesamt 52,5g, d. h. pro Kilo-
gramm Körpergewicht 1,56g als Zucker berechnetes Glykogen. Solche
große Mengen dürften jedoch als Ausnahmen zu betrachten sein. Nach
21tägigem Hungern enthielt die Leber eines etwa 18kg schweren Hundes
nur noch 0,48g Glykogen (v. Mering®) und Pugliese?) teilt Versuche
mit, bei welchen nach 18 bis 24tägigem Hungern in der Leber überhaupt
kein Glykogen nachzuweisen war.
!) Zeitschr. f. Biol. 24, 78, 1888. — ?) Ebenda 25, 148, 1889. — °) Ebenda
24, 70, 1888. — *) Ebenda 2%, 183, 1886. — °) Ebenda 24, 85, 1888. — °) Arch.
f£. d. ges. Physiol. 99, 216, 1908. — 7) Ebenda 91, 119, 1902. — °) Ebenda 14,
282, 1877. — °) Journal de physiol. et de pathol. gen. 1903, p. 67.
en Ber A ne Hr ea
[2
Der Ansatz von Kohlehydraten im Körper. 499
Ganz ähnliche Schwankungen finden wir bei anderen Tieren. Beim Huhn
erzielte Hergenhahn!) die in folgender Tabelle eingetragenen Resultate.
Glykogen
N Endgewicht Dauer der AR 8
r. j in der umme
des Tieres Karenz in der Leber Muskulatur
g g
1 792 ö 0,00 0,70 0,70
2: 948 6 0,03 0,52 0,55
3 798 6 0,00 0,04 0,04
= 1172 6 0,01 0,32 0,33
5 1368 6 0,13 1,26 1,39
6 1216 ö 0,12 0,96 1,08
7 1055 8 0,06 1,70 1,76
Hieraus folgt noch die wichtige Tatsache, daß das Glykogen in der Leber
ganz verschwunden oder auf eine sehr geringe Menge reduziert sein kann, während
der übrige Körper, vor allem die Muskeln, noch ganz beträchtliche Mengen davon
enthält. :
Betreffend den Einfluß der körperlichen Arbeit auf den Glykogenver-
brauch machte E. Külz?) Versuche an wohlgenährten Hunden, welche
täglich 5 bis 7 Stunden einen schweren Wagen zu ziehen hatten. Am
eigentlichen Versuchstage blieben sie ohne Nahrung, und unmittelbar nach
der Fahrt wurden sie getötet. Unter fünf Tieren fanden sich bei vier nur
Spuren von Glykogen in der Leber; bei dem fünften Tiere enthielt die Leber
0,8g Glykogen. Die Muskeln halten dabei aber das Glykogen energischer
fest, und bei sehr geringer Glykogenmenge in der Leber können die Muskeln
noch ganz beträchtliche Mengen Glykogen beherbergen, wie z. B. in den
folgenden Versuchen °).
Glykogen
Körper-
Nr. gewicht in der im übrigen |pro Kilogramm
Leber Körper Körpergewicht
kg g g g
1 44,47 0,89 51,16 1,16
2 17,25 0,20 3,21 0,20
3 5,05 1,08 7,16 1,63
4 6,17 0,00 4,06 0,66
Noch tiefer läßt sich der Glykogengehalt des Körpers herabdrücken,
wenn man nach einigen Hungertagen dem Tiere eine anstrengende Arbeit
aufzwingt, insbesondere wenn man vor dem Hungern durch Fütterung mit
kohlehydratarmem Futter die anfängliche Glykogenmenge möglichst herab-
setzt. Nach dieser Methode fand Bendix ) folgendes:
!) Zeitschr. f. Biol. 27, 218, 1890. — ?) Arch. f. d. ges. Physiol. 24, 45, 1881.
— °?) E. Külz, Beiträge zur Kenntnis des Glykogens. Festschrift für Ludwig.
Marburg 1891, 8. 41. — *) Zeitschr. f. physiol. Chemie 32, 484, 1901.
32*
500 Der Ansatz von Kohlehydraten im Körper.
Glykogen
Körper- Dauer des
Nr. gewicht Hungerns : in den pro Kilogramm
iu der Lieber Muskeln Körpergewicht
kg Tage g 8 g
1 8,0 2 Spuren 0,00 0,00
2 7,9 2 0,00 Spuren 0,00
3 4,3 2 urn 0,00 ..—-
4 8,0 2 1,89 0,07 0,25
Ein Vergleich mit den Erfahrungen über den Glykogenschwund beim
Hungern allein läßt ohne weiteres erkennen, daß die Muskelarbeit ein viel
kräftigeres Mittel als der Hunger ist, um den Glykogenbestand des Körpers
sehr tief herabzudrücken.
Wie Rosenbaum!), Demant?), Külz°), Frentzel*) und Simon’) gezeigt
haben, sind die durch das Strychnin hervorgerufenen Krämpfe in einem sehr hohen
Grade dazu geeignet, das Glykogen zum vollständigen Verschwinden zu bringen.
Um den Einfluß einer bestimmten Nahrung oder irgend welcher an-
derer Variablen auf den Glykogenansatz festzustellen, steht keine andere
direkte Methode als die folgende zu unserer Verfügung. Man muß durch
vorgängige Präparierung den Glykogenbestand des Versuchstieres so viel
wie möglich reduzieren, gibt dann die zu untersuchende Kost und tötet
das Tier nach einer bestimmten Zeit. Beim praktischen Durchführen dieser
Methode begegnet uns eine große Schwierigkeit dadurch, daß sogar nach
ziemlich lange dauerndem Hungern der Körper nicht ganz geringe Mengen
Glykogen enthalten kann und daß hierbei, wie schon bemerkt, nicht
unwesentliche individuelle Variationen vorkommen. Dieser Schwierigkeit wird
durch Einschaltung einer strengen Arbeitsleistung wesentlich vorgebeugt.
Indessen beziehen sich die allermeisten hierher gehörigen Untersuchungen
auf Tiere, welche nur gehungert und nicht außerdem gearbeitet haben $).
Es bleibt also die Frage nach der wahrscheinlichen Glykogenmenge bei
einem Tiere, das eine gewisse Zeit lang gehungert hat, zu entscheiden. Mit
Durchschnittszahlen läßt sich hier nicht viel tun, denn solche könnten nur
dann wirklich maßgebend sein, wenn die Zahl der Versuchstiere in den unter-
einander zu vergleichenden Reihen sehr groß wäre, und auch dann könnten
berechtigte Einwendungen gegen die Schlußfolgerungen erhoben werden. Die
statistische Methode wird hier, wie auch sonst, gar zu leicht zu ganz falschen
Resultaten führen.
Da diese Methode indes durch keine andere ersetzt werden kann, ist es
notwendig, ihre Fehler so viel wie möglich zu vermindern, und daher benutzt
') Arch. f. exp. Pathol. 15, 452, 1881. — *) Zeitschr. f. physiol. Chemie 10,
441, 1886. — ®) Külz, Beiträge 1891, 8. 51. — *) Arch. f. d. ges. Physiol. 56, 281,
1894. — °) Zeitschr. f. physiol. Chemie 35, 320, 1902. — °) Bernard hat Versuche
über die Glykogenbildung auch in der Weise gemacht, daß er zuerst ein Stück
der Leber exstirpierte und analysierte, dann das zu untersuchende Futter gab und
die Veränderungen des Glykogens im übriggebliebenen Teile des Organes unter-
- suchte. Wie Bernard selber: (Legons sur le diabäte,. p. 509) bemerkt, ist diese
‘ Methode wegen der durch den Eingriff verursachten Störungen lange nicht exakt;
auch wird nach derselben nicht die gesamte Glykogenmenge des Körpers bestimmt.
Der Ansatz von Kohlehydraten im Körper. ; 501
Pflüger als Vergleichszahl die bei den Kontrollversuchen an Tieren der
gleichen Art beobachtete maximale Glykogenmenge. Hierdurch werden
aber die Bedingungen sehr verschärft, denn es läßt sich ja auch nicht. be-
haupten, daß alle mit der Versuchskost gefütterten Tiere zu Beginn der
Fütterung diesen maximalen Glykogengehalt gehabt hätten; diese Maßregel
ist aber kaum zu vermeiden, damit die Versuchsresultate als wirklich be-
weisend angesehen werden können.
Als Quelle des Glykogens können von vornherein alle drei Gruppen von
organischen Nahrungsstoffen angesehen werden, und nur durch direkte Ver-
suche läßt sich die Frage bestimmt entscheiden. _ Wie man eine lange Zeit
hindurch annahm, daß das Eiweiß die wesentliche Quelle des Körperfettes
darstellte, war man auch der Ansicht, daß das Glykogen in erster Linie dem
Eiweiß entstammte. 'Bernard!) äußerte sich in dieser Hinsicht sehr vor-
sichtig. Nach ihm stellten allerdings die Eiweißkörper eine Quelle des Gly-
kogens dar; in gemischter Kost begünstigten die Kohlehydrate den Glykogen-
ansatz in erheblichem Grade; allein für sich genossen schienen sie sich
wesentlich verschieden zu verhalten, und er kam zu dem Schlusse, daß die
Frage nach dem Ursprunge des Glykogens noch lange nicht als entschieden
aufgefaßt werden könnte. Wolffberg?) betrachtete das Eiweiß als die
einzige Quelle des Glykogens, während auf der anderen Seite Pavy?°), Luch-
singer?) und andere gerade die ON ate als Muttersubstanz des Gly-
kogens auffaßten.
-_ Durch zahlreiche Untersuchungen ist die Berechtigung der letzterwähnten.
Auffassung, wie es scheint, über jeden Zweifel sichergestellt. Ob aber das
Eiweiß auch als Glykogenbildner gelten kann, darüber ist bis in die letzte
Zeit vielfach gestritten worden.
Da es sich von vornherein nicht ausschließen 1aßt, daß Glykogen aus.
Eiweiß entstehen könnte, kann ein völlig einwandfreier Beweis für die Gly-
kogenbildung aus Kohlebydraten nur dadurch geliefert werden, daß man am
Versuchstiere die N-Abgabe bestimmt und dartut, daß die nach derselben
berechnete Glykogenmenge geringer ist als die beim Versuche tatsächlich im
Körper entstandene.
Unter den hierher gehörigen Untersuchungen werde ich hier die im Voitschen
Laboratorium von Otto, Abbot, Lusk und Fr. Voit ausgeführten und von
C. Voit?) mitgeteilten in erster Linie besprechen, weil die Bedeutung der Kohle-
hydrate als Quelle des Körperglykogens aus diesen äußerst deutlich hervorgeht.
Aus verschiedenen Ursachen werde ich nur die an Hühnern ausgeführten Ver-
suche näher erörtern.
Die Versuche fanden in der Weise statt, daß dem Tiere nach vier bis fünf-
tägigem Hungern Lösungen von verschiedenen Zuckerarten beigebracht wurden,
acht Stunden später wurde das Tier getötet und das Glykogen in dessen Organen
bestimmt.
Das Maximum von Glykogen, welches aus dem zersetzten Eiweiß hätte ent-
stehen können, berechnet Voit folgendermaßen. Im Muskeleiweiß treffen auf
1g N 3,295gC; in den Exkrementen hungernder Hühner auf 1g N 1,208g C.
Y) Bernard, Lecons sur le diabäte. Paris 1876, p. 469. — ?) Zeitschr. f.
Biol. 12, 275, 1876. — ®) Pavy, Die Physiologie der Kohlehydrate. Deutsche Aus-
gabe. Wien 1895, 8. 112. — *) Luchsinger, Exp. u. krit. Beiträge zur Physiol.
und Pathol. des Glykogens. Zürich 1875, 8. 45. — °) Zeitschr. f. Biol. 28,
245, 1892.
5023 i Der Ansatz von Kohlehydraten im Körper.
Danach können beim Huhn im Maximum 2,087 g C in Glykogen übergehen und
bilden dann 4,779g Glykogen. Auf 1g N in den Exkreten kommen also 4,779 g
Glykogen.
Nach einigen Kontrollversuchen an hungernden Hühnern nimmt Voit an, daß
die im Körper nach einigen Tagen Hunger noch zurückgebliebenen Glykogen-
mengen so gering sind, daß sie gegen die bei den Fütterungsversuchen beobachteten
gar nicht in Betracht kommen. Demgegenüber läßt sich bemerken, daß (vgl. oben,
8.499) doch nicht ganz unerhebliche Glykogenmengen nach vier bis fünf Tagen
Hunger im Körper zurückgeblieben sind, und zwar beträgt dieses Restglykogen nach
Hergenhahn im Maximum 1,605 pro Kilogramm Anfangsgewicht des Tieres. Bei
seiner Berechnung der Versuchsresultate von Voit und seinen Mitarbeitern hat
Pflüger!) diese Zahl benutzt, und ich werde ihm in dieser Hinsicht folgen, weil
dadurch die Versuche ja noch mehr beweisend werden.
R Glykogen
Körper- Rest I r Glykogen Glykogen Re
N s glykogen | iwejg |Summe aus U0Ker
T. | gewicht Maxi ıwel gefunden ie
aximum | Maximum Zucker zugeführt
kg g 8 g g g
1 1,728 9,77 3,40 6,17 10,35 4,18 50 g Dextrose
2 1,653 2,65 2,57 5,22 9,20 3,38 60g Rohrzucker
3 1,627 2,61 3,29 5,90 7,55 165 |55g Lävulose
4 1,772 2,84 2,08 4,92 7,94 83,02 |60.g Maltose
Aus dieser Zusammenstellung folgt, daß, auch ‚wenn die Versuche so
ungünstig wie irgend möglich berechnet werden, dennoch ein Glykogenansatz
nach Fütterung mit Dextrose, Lävulose, Rohrzucker und Maltose unbedingt
erscheint. ;
Dagegen konnte kein deutlicher Glykogenansatz nach Darreichung von Milch-
zucker nachgewiesen werden.
Zur Deutung dieser sehr merkwürdigen Erscheinung ist es notwendig, das
Verhalten der einzelnen Zuckerarten im ‚Verdauungsrohre und bei intravenöser
oder subeutaner Injektion zu berücksichtigen. Im Verdauungsrohre wird der Rohr-:
zucker invertiert und muß daher in ganz derselben Weise als die genossene Dex-
trose oder Lävulose auf den Glykogenansatz einwirken können. Bei intravenöser
Einspritzung findet keine Invertierung statt, und der Rohrzucker wird, wie schon
Claude Bernard?) fand und später von F. Voit*) bestätigt wurde, unverändert,
und zwar quantitativ im Harn abgegeben.
Auch die Maltose wird teils im Darmrohre, teils im Blute in 2 Mol. Dextrose
gespalten und muß sich daher in bezug auf die Glykogenbildung ganz wie diese
verhalten.
Wesentlich anders stellt sich der Milchzucker dar.
Die Ursache dieser Verschiedenheit muß darin gesucht werden, daß der
Milchzucker beim Huhn im Darme nicht invertiert wird (Weinland‘), wie er
auch nach Dastre°) und Fr. Voit‘) bei subcutaner Einspritzung quantitativ im
Harn erscheint. Wo aber der Milchzucker im Darme gespalten wird, muß
wenigstens aus der Dextrosekomponente desselben Glykogen gebildet werden’), Da
subeutan injizierte Galaktose im Körper verwertet und nicht im Harne aus-
!) Arch. f. d. ges. Physiol. 96, 182, 1903. — ?) Bernard, Lecons sur les
phenomönes de la vie communs aux animaux et aux vegetaux 2, 37, Paris
1879. — ®) Deutsches Arch. f. klin. Med. 58, 244, 1897. — *) Zeitschr. f. Biol.
38, 35, 1899. — ®) Archives de physiol. 1891, p. 178; 1892, p. 103. — °) Deutsch.
Arch. £. klin. Med. 58, 544, 1897. Vgl. auch Weinland, a. a. O. 8.48, 1899. —
7) Weinland, a. a. O., 8.50.
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u u a Ya m a Ze Di
|
|
Der Ansatz von Kohlehydraten im Körper. 503
geschieden wird, dürfte auch dieser Zucker als Glykogenbildner dienen können
(Fr. Voit!). Direkte Versuche von Weinland’) am Kaninchen haben auch er-
geben, daß unter Umständen wenigstens in der Leber aus Galaktose Glykogen
gebildet werden kann, wenn auch in geringerer Menge als aus den übrigen Hexosen.
Die nächste Quelle der Glykogenbildung haben wir also in den Hexosen:
Dextrose, Lävulose und, wenn auch in geringerem Grade, Galaktose. Da
diese Hexosen bei der Verdauung aus Stärke, Dextrin, Rohrzucker und Mal-
tose entstehen, sind die letzterwähnten natürlich auch als Glykogenbildner zu
bezeichnen. .
Da eine nähere Erörterung der mit anderen Kohlehydraten erzielten Resul-
tate angesichts der für diesen Abschnitt festgestellten Grenzen viel zu viel Raum
beanspruchen würde, sehe ich mich gezwungen, auf eine solche hier zu verzichten
und verweise auf die unten zitierte Literatur).
Wie oben bemerkt, wurde schon früh die Ansicht vielfach vertreten, daß
das Glykogen im Körper auch aus Eiweiß gebildet werden würde. Die als
Beweis dafür von Wolffberg‘), v. Mering°), E. Külz‘®) und anderen
mitgeteilten Versuche werden von Pflüger’) sehr abweisend kritisiert, und
es muß, meines Erachtens, Pflüger zugegeben werden, daß dieselben kaum
einen entscheidenden Beweis für den zu beweisenden Satz bringen. Auf
Grund dessen zieht Pflüger den weiteren Schluß, daß aus kohlehydrat-
freiem Eiweiß überhaupt kein Glykogen gebildet wird, und findet eine sehr
wesentliche Stütze dieser Auffassung in einer an Fröschen bei Kaseinfütterung
von Schöndorff°) ausgeführten Versuchsreihe, aus welcher in der Tat her-
vorgeht, daß bei diesen Tieren das kohlehydratfreie Kasein keinen UT
ansatz bewirkt.
Demgegenüber fand aber Bendix°) an Hunden, an welchen er durch
Hunger und strenge körperliche Arbeit die Glykogenmenge auf ein Minimum
reduziert hatte (vgl. S. 499), nach Fütterung mit Kasein einen deutlichen
Glykogenansatz im Körper, welcher sogar größer war als nach Fütterung
mit dem kohlehydrathaltigen Ovalbumin, wie aus der folgenden Zusammen-
stellung hervorgeht (siehe Tabelle auf 8.504 oben).
Von einem anderen Gesichtspunkte aus hat Gruber!°) die Frage nach
der Glykogenbildung aus Eiweiß in Angriff genommen. An einem Hunde
!) Deutsch. Arch. f. klin. Med. 58, 533. — ?) Zeitschr. f. Biol. 40, 374,
1900. — °?) Cremer, Ebenda 28, 483, 1892 (Isomaltose, Mannose, Sorbose,
Xylose, Arabinose, Rhamnose); Salkowski, Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1893,
8. 193 (Arabinose); Derselbe, Zeitschr. f. physiol. Chem. 32, 393, 1901 (Ara-
binose); F. Voit, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 58, 537, 1897 (Arabinose, Xylose,
Rhamnose); Neuburg und Wohlgemuth, Zeitschr. f. physiol. Chem. 35, 31,
1902 (Arabinose); Münch, Ebenda 29, 493, 1900 (Formose, Maltose, Methylglykosid);
Cremer, Zeitschr. f. Biol. 42, 437, 1901; Frentzel, Arch. f. d. ges. Physiol.
56, 284, 1894 (Xylose); Wohlgemuth, Zeitschr. f. physiol. Chem. 35, 568, 1902
(«-Glucoheptose); Pflüger, Arch. f. d. ges. Physiol. 96, 218, 1903. — *) Zeitschr.
£. Biol. 12, 266, 1876. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 14, 280, 1877. — °) Külz,
Beiträge usw., 8. 27. — 7) Arch. f.d. ges. Physiol. 96, 227, 1903. — °) Ebenda 82,
60, 1900; 88, 339, 1901; vgl. auch die Kritik Cremers, Zeitschr. f. Biol. 42
(1901), sowie die Versuche von Blumenthal und Wohlgemuth (Berliner
klin. Wochenschr. 1901, 8. 391), welche die Resultate Schöndorffs unter An-
wendung eines Leimpräparates bestätigen. — °) Zeitschr. f. physiol. Chem. 32, 494,
1901; 34, 545, 1902; vgl. auch die Kritik Schöndorffs, Arch. f. d. ges. Physiol.
88, 339 1901. — !°) Zeitschr. f. Biol. 42, 409, 1901.
504 Der Ansatz von Kohlehydraten im Körper.
Glykogen
Körper- Pro Kil
{ in der | im übrigen ro: A110-
Nr. | gewicht 5 * Summe | gramm Kör- Anmerkung
Leber Körper pergewicht
kg 8 8 g g
1 5,52 6,41 7,96 14,37 2,60 | Casein puriss.
2 6,50 11,54 - 17,92 29,46 4,53 R u
3 3,88 0,31!) 0,34 }) 0,65) 0,17%) Ovalbumin
4 6,40 1,30?) 4,17!) 5,47!) 0,86 !) R
5 5,30 3,221) | 10,71') 13,93!) 2,63!) Eiereiweiß
bestimmte er bei Eiweißfütterung (1500g Fleisch = 5lg N) die gesamten
Einnahmen und Ausgaben an Stickstoff und Kohlenstoff. Es zeigte sich, daß
ein Kohlenstoffrest im Körper zurückblieb, welcher zum Teil wenigstens als
Glykogen angesetzt worden ist. Die Einzelheiten dieser Versuche sind
folgende:
Summe von 5 Versuchstagen
Versuchs-
Nr. dauer N- C- C aus dem zersetzten C-Retention
Abgabe | Abgabe Eiweiß, N + 3,28 aus -Eiweiß
Tage 8 8 Ei g
1 5 237,7 697,8 779,6 81,8
5 254,6 728,4 835,5 107,1
Im Körper sind also 81,8 bzw. 107,1g aus Eiweiß stammender Kohlenstoff
zurückgeblieben. Als Glykogen berechnet, würde dies 184 bzw. 241g betragen.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß ein wesentlicher Teil dieses Kohlenstoffs als Fett
angesetzt worden ist; jedenfalls macht dieser Versuch einen Glykogenansatz aus
Eiweiß sehr wahrscheinlich. ;
Wir können indes noch von einer anderen Seite her diese Frage er-
örtern. Wie bekannt, verliert der Körper nach Exstirpation des Pankreas,
nach Vergiftung mit Phloridzin sowie bei der Zuckerharnruhr (Diabetes mel-
litus) in einem größeren oder geringeren Umfange die Fähigkeit, Zucker
zu zersetzen oder als Glykogen aufzuspeichern, und statt dessen wird der
Zucker im Harn vom Körper abgegeben. Die Untersuchung der Zuckeraus-
scheidung im Harne bei verschiedenen Formen der Zuckerkrankheit wird
uns daher sehr wertvolle Aufschlüsse über die eventuelle Glykogenbildung
aus Eiweiß geben können, denn wenn einmal Dextrose aus dem Eiweiß ent-
steht, so folgt aus dem schon oben Ausgeführten, daß unter normalen Ver-
hältnissen Glykogen daraus gebildet werden muß.
Der bei der Zuckerkrankheit irgend welcher Form im Harn aus-
geschiedene Zucker kann entweder aus dem im Anfang der Krankheit im
Körper noch vorhandenen Glykogen oder auch aus den genossenen Nahrungs-
stoffen bzw. dem Körpereiweiß stammen. Auch bei den hierher gehörigen
Untersuchungen ist es also notwendig, die Glykogenmenge des Körpers
approximativ zu schätzen.
!) Rohglykogen.
Der Ansatz von Kohlehydraten im Körper. 505
Nach der schon oben dargestellten Methode suchte Bendix') seine Versuchstiere
glykogenfrei zu machen, spritzte dann im Laufe von 10 bis 11 Stunden in drei
Dosen Phloridzin ein und gab gleichzeitig dem Tiere Milcheiweiß, Caseinum pu-
rissimum, Ovalbumin oder Leim. Der Harn wurde 20 Stunden lang gesammelt
und an Stickstoff und Zucker analysiert. Mit Abzug des dem Phloridzin ent-
sprechenden Zuckers schieden die Tiere bei Fütterung mit Milcheiweiß 13,5 bis
27,3g (4 Versuche), bei Fütterung mit reinstem Kasein 13,9 bis 17,3g (2 Versuche),
bei Fütterung mit Ovalbumin 4,3 bis 18,3 g (5 Versuche), sowie bei Fütterung mit
Leim 13,9 bis 20,2 g Zucker aus (4 Versuche).
Nach Fütterung mit dem kohlehydrathaltigem Ovalbumin wurde also nicht
mehr Zucker als nach Fütterung mit dem kohlehydratfreien Kasein oder Leim
ausgeschieden. 2
Dementsprechend hat man an Diabeteskranken beobachtet, daß die reich-
lichste Zuckerausscheidung nicht nach dem Genuß von kohlehydrathaltigen Eiweiß-
körpern, sondern beim Kasein erscheint. Als Beispiel verweise ich auf folgende
Beobachtungen von Therman?).
| Versuchs- Zucker im N im Harn
Diät dauer Harn pro Tag pro Tag
Tage g g
Wr Far 4 69,1 22,2
Fleisch 4 74,0 20,3
ET 4 88,9 22,0
Gluton 4 63,2 25,0
Butter + 13,8 4,9
z Eier 4 76,1 21,4
Fleisch . . 4 83,0 20,5
ET 4 140,8 26,6
Durchschnittlich erhalten wir bei Gluton 63,2, bei Eiern 76,2, beim Fleisch
78,5, beim Käse aber 114,9& Zucker.
Aus diesen und anderen gleichlautenden Beobachtungen dürfte wenigstens
so viel geschlossen werden können, daß der in gewissen Eiweißkörpern enthaltene
Kohlehydratkomplex doch nicht in der Regel für die eventuelle Bildung von Zucker
aus Eiweiß maßgebend sein kann; wie auch der Kohlehydratgehalt bei den meisten
Eiweißkörpern so gering ist, daß er hierbei keine wesentliche Einwirkung ausüben
möchte.
Gegen alle diese Beobachtungen läßt sich indes die Einwendung machen,
daß sich der Einfluß des etwa vorhandenen Restglykogens doch nicht mit
Sicherheit ausschließen läßt. -Es könnte der Fall sein, daß die Versuchstiere
von Bendix trotz der vorhergehenden Präparation noch ziemlich große
Glykogenmengen beherbergten; unmöglich wäre es ja auch nicht, daß das
gefütterte Eiweiß durch seine Verbrennung den Zucker des Körpers vor Oxy-
dation schützt, infolgedessen die Zuckerausscheidung bei Eiweißzufuhr zu-
nimmt, ohne daß der Zucker aus den Eiweißkörpern gebildet wird). Um die
Frage zu entscheiden, müssen wir also noch strengere Anforderungen an die
Beweisführung stellen und von der Annahme ausgehen, daß das Versuchs-
individuum beim Beginn des Versuches einen maximalen Glykogengehalt hat.
') Zeitschr. f. physiol. Chem. 32, 487, 1901. — *) Skand. Arch. f. Physiol.
17, 1, 1905. Daselbst auch eine Übersicht der früheren Literatur. — °) Vgl.
Pflüger, Arch. f. d. ges. Physiol. 103, 348, 1904; 106, 170, 1904.
506 Der Ansatz von Kohlehydraten im Körper.
Im Anschluß an die schon erwähnten Untersuchungen von Schöndorff
stellt Pflüger !) in der letzten Zeit 37,9g Glykogen — 41g Zucker als das
Maximum pro Kilogramm Körpergewicht beim Hunde auf. Wenn also ein
phloridzinvergifteter Hund oder ein Hund mit Pankreasdiabetes ohne jede
Zufuhr von Kohlehydraten insgesamt nicht mehr als etwa 41g Zucker pro
Körperkilo abgibt, so wäre es möglich, daß die ganze Zuckermenge nur aus
dem Restglykogen entstammen und also nichts inbezug auf eine eventuelle
Glykogenbildung aus Eiweiß beweisen würde.
Dieser strengen Anforderung gegenüber zeigen sich nicht allein die aller-
meisten klinischen Beobachtungen ?), sondern auch fast sämtliche Ermittelungen
über die.-Zuckerausscheidung bei künstlichem Diabetes bei Tieren für die vor-
liegende Frage ganz wertlos. Es ist allerdings, meiner Ansicht nach, sehr schwer
anzunehmen, daß bei allen einschlägigen -Kranken bzw. Versuchstieren das Rest-
glykogen zu Beginn des Versuches den. von Schöndorff beobachteten enormen
Wert erreicht hätte. Hierin liegt aber kein Beweis vor, und ich beschränke mich
daher darauf, einige der wichtigsten} hierhergehörigen Arbeiten unten zu ver-
zeichnen °).
In der allerletzten Zeit ist indes eine Arbeit von Lüthje *) erschienen,
welche die Zuckerbildung aus kohlehydratfreiem Material über jeden Zweifel
erhebt.
Am 24. Oktober wurde einem Hunde von 5,8g. Körpergewicht das Pankreas
exstirpiert; vom 29. Oktober bis zum 6. November bekam das Tier (kohlehydrat-
freie) Nutrose + Rinderserum, vom 6. bis 19. November Nutrose + etwas Fleisch-
extrakt, vom 19. bis 24. November reines Kasein 4 Butter. Während dieser Zeit
schied es insgesamt 1176g Zucker aus. Unter Zugrundelegung der Pflügerschen
Maximalzahl würde das Tier zu Beginn des Versuches 232g Glykogen (= 257g
Zucker) beherbergt haben. Daher müssen aus anderem Material 919g Zucker ge-
bildet sein.
Im Anschluß an diese Mitteilung gibt Pflüger?) ausdrücklich zu, daß hier
zum erstenmal ein einwandfreier Beweis dafür vorliegt, daß der vom diabetischen
Hunde ausgeschiedene Zucker unmöglich aus dem Glykogenvorrat des Tierkörpers
abgeleitet werden kann, und kommt nach einer, von den möglichst ungünstigen
Annahmen ausgehenden Berechnung zu dem Schluß, daß hier wenigstens 526g
Zucker durch das Restglykogen nicht gedeckt sind.
Dessenungeachtet ist Pflüger nicht gewillt, die Zuckerbildung aus
Eiweiß zuzugeben, sondern bleibt bei seiner kurz vorher ausgesprochenen
Meinung®), daß in Fällen, wie den betreffenden, das Fett, und zwar nicht allein
dessen Glycerinkomponente die Quelle des Zuckers im Körper darstellt. In
dieser Hinsicht stützt er sich wesentlich auf theoretische Überlegungen all-
gemeiner Art, welche hier wegen Mangel an Raum nicht näher erörtert
werden können.
Es stellt sich daher die Frage, ob wirklich das Fett an sich als ein
Glykogenbildner im tierischen Körper aufgefaßt werden kann.
Bis vor wenigen Jahren stellte man sich ziemlich allgemein vor, daß
dies gar nicht der Fall wäre. Seitdem haben sich die Ansichten in einem
!) Vgl. Pflüger, Arch. f. d. ges. Physiol. 103, 7, 1904; vgl. auch ebenda 96,
268, 1903. — ?) Vgl. Lüthje, Arch. f. d. ges. Physiol. 106, 160, 1904. — ®) v.Mering,
Zeitschr. f. klin. Med. 16, 435, 1889; Prausnitz, Zeitschr. f. Biol. 29, 168, 1892;
Lusk, Ebenda 42, 32, 1901; Lüthje, Deutsches Arch. f. klin. Medizin 79, 498,
1904. — *) Arch. f. d. ges. Physiol. 106, 160, 1904. — °) Ebenda 106, 168, 1904. —
°) Ebenda 103, 1, 1904.
Der Ansatz von Kohlehydraten im Körper. 507
gewissen Grade verändert, und es wird von mehreren Seiten die Auffassung
vertreten, daß unter Umständen auch das Fett als eine Quelle des Glykogens
zu betrachten sei.
Als Beweis dafür hat man Fälle herbeigezogen, wo bei kohlehydratfreier
Diät die im Harn abgegebene Zuckermenge so groß gewesen war, daß sie
nicht aus dem gleichzeitig zerfallenen Eiweiß hat erklärt werden können.
In einer Anzahl Versuchen an Hunden mit Pankreasdiabetes fand Min-
kowski') die Menge des ausgeschiedenen Zuckers (D) pro 1g N BEECaCHAHENIEN
gleich 2,8 g.
Man stellte sich nun vielfach vor, daß dieser Quotient die größte Zucker-
bildung angab, welche aus Eiweiß im Körper stattfinden konnte; wenn daher bei
kohlehydratfreier Diät mehr Zucker abgegeben würde, so müßte der Überschuß
aus Fett stammen.
Irgend welcher Beweis für diese Auffassung liegt indessen nicht vor. Wie
schon bemerkt, findet sich bei gewöhnlicher gemischter Kost im Harn etwa 0,72gC
auf 1g N. Da im Eiweiß N und C sich wie 1:3,28 verhalten, bleiben für 1g N
noch 2,56g C zurück; diese C-Menge würde 6,4g Dextrose entsprechen, was also
etwa das theoretische Maximum der Kohlehydratbildung aus Eiweiß angeben würde.
Da 1g N im Eiweiß mit Abzug der Verbrennungswärme des Harns etwa 26,7 Kal.
entsprechen und 6,4g Dextrose gleich 24 Kal. sind, würde eine Zuckerbildung
dieses Umfanges auch aus kalorischem Gesichtspunkte vollständig möglich sein.
Nur wenn in einwandfreien Versuchen der Zuckerquotient größer als 6,4 ist, kann
man daraus mit Bestimmtheit auf eine Zuckerbildung aus Fett schließen.
Es findet sich nun tatsächlich eine Anzahl solcher Beobachtungen,
welche von Rumpf (D/N = 102), Mohr (D/N = 8,14°), Hartogh und
Schumm (D/N = 9,0 *) veröffentlicht wurden. Gegen dieselben sind aber
von Lüthje5), Rosenquist®), F. Müller’) und Landergren°) Anmer-
kungen gemacht worden, welche, meines Erachtens, ihre Beweiskraft in
hohem Grade verringert haben. Auf Grund dieser Kritik, betreffend welche
ich auf die unten zitierten Arbeiten verweise, müssen wir sagen, daß bis
auf den heutigen Tag kein einziger einwandfreier Beweis für eine vitale
Zuckerbildung aus Fett bei den höheren Tieren erbracht worden ist. Als
unmöglich kann eine solche von vornherein nicht angesehen werden, und mit
völliger Bestimmtheit läßt es sich ja nicht behaupten, daß bei den soeben
erwähnten und anderen Versuchen der Zucker zum größeren oder kleineren
Teil nicht auf Kosten des Fettes entstanden ist.
Vom chemischen Standpunkte aus begegnet eine Glykogenbildung aus Gly-
cerin keiner Schwierigkeit, und es liegen auch Versuche von Cremer’), Lüthje ')
und anderen vor, bei welchen eine solche ziemlich bestimmt nachgewiesen wurde.
Da aber das Glycerin nur 9 Proz. des Fettes beträgt, kann demselben an sich
keine größere Bedeutung bei dem Kohlehydratansatz im Körper zuerkannt werden.
Aus den vorliegenden Erfahrungen dürfte also vorläufig der Schluß ge-
zogen werden können, daß der Kohlehydratansatz im Körper in erster Linie
!) Arch. f. exp. Path. 31, 97, 1893. — ?°) Berliner klin. Wochenschr. 1899,
8. 185. — °) Ebenda 1901, 8. 919. — *) Arch. f. exp. Path. 45, 29, 1900; Rumpf,
Arch. f. d. ges. Physiol. 97, 98, 1903. — °) Zeitschr. f. klin. Med. 39, 423, 1900. —
€) Berliner klin. Wochenschr. 1899, 8.614. — 7) Zeitschr. f. Biol. 42, 540, 1901. —
®) Skand. Arch. f. Physiol. 14, 160, 1903. — °) 8. Ergebnisse der Physiol. 1, (1), 889,
1902. — !°) Deutsch. Arch. f. klin. Med. 80, 98, 1904; vgl. auch Pflüger, Arch.
f. d. ges. Physiol. 103, 24, 1904.
508 Der Ansatz von Kohlehydraten im Körper.
durch die in der Kost aufgenommenen Kohlehydrate, in zweiter Linie aus
zerfallenem Eiweiß hervorgebracht wird !).
Damit habe ich gar nicht behaupten wollen, daß Kohlehydrate bei
dem Zerfall des Eiweißes im Körper immer gebildet werden können. Wie
Landergren?) im Anschluß an seine Untersuchungen über den N-Umsatz
bei Kohlehydrathunger entwickelt hat, kann man sich sehr wohl denken,
daß dies nur dann stattfindet, wenn sonst keine Kohlehydrate dem Körper
zur Verfügung stehen. Bei einer Kost, welche allein aus Kohlehydraten
besteht, sinkt die N-Abgabe in einigen Tagen sehr tief, auf weniger als 4 g,
steigt aber schnell wieder an, wenn die Kohlehydrate durch eine isodyname
Fettmenge ersetzt werden, und zwar beträgt diese Zunahme nach drei Tagen
etwa dg. Unter der Voraussetzung, daß der Körper aus Fett keine Kohle-
hydrate zu bilden vermag, wird dies dadurch erklärt, daß der Körper, um
seinen Bedarf an Kohlehydraten zu decken, eine größere Eiweißmenge zer-
setzen muß; daß ein solcher Bedarf tatsächlich sich vorfindet, geht ohne
weiteres aus der Konstanz des Blutzuckers auch bei weit fortgeschrittenem
Hunger hervor.
Man könnte sich nun denken, daß auch bei Kohlehydratzufuhr das Eiweiß in
derselben Weise gespalten würde, daß aber der dabei entstandene Zucker nicht ge-
nügte, um den Bedarf des Körpers zu decken, weshalb bei Ausschaltung der
Kohlehydrate eine größere Eiweißmenge in Anspruch genommen werden müsse.
Gegen diese Auffassung spricht indes ein Versuch von Kayser), bei welchem das
Versuchsindividuum in einer ersten dreitägigen Periode täglich 21g N, 71g Fett
und 338g Kohlehydrate, in einer zweiten ebenso langen 21gN und 220g Fett und
in einer dritten Periode von drei Tagen wieder die erste Versuchskost bekam. Die
N-Abgabe betrug:
während der 1. Periode 18,8 — 19,3 — 20,1,
während der 2. Periode 22,2 — 22,9 — 25,4,
während der 3. Periode 20,8 — 18,4 — 18,8g.
Im Laufe der zweiten Periode, bei welcher die Kohlehydrate vollständig vermieden
und von einer isodynamen Fettmenge ersetzt wurden, stieg die N-Abgabe von
20,1 auf 25,4g, um bei wiederholter Zufuhr von Kohlehydraten auf 18,8g herab-
zusinken.
Da in den Versuchen Landergrens eine N-Umsetzung von etwa 9g dem
Körper vollständig genügte, hätten doch 20g genügen müssen, wenn bei ihrem
Zerfall Zucker gebildet worden wäre. Nichtsdestoweniger steigt die N-Abgabe um
etwa 5g an; diese Mehrzersetzung von Eiweiß diene nach Landergren dazu, den
Bedarf des Körpers an Kohlehydraten zu decken. Es würde daher nur bei ein-
tretendem Glykogenmangel eine Kohlehydratbildung aus Eiweiß stattfinden, um:
den absoluten Bedarf des Körpers an Kohlehydraten zu decken.
Nach Landergrens Erfahrungen würden hierzu etwa 5g N nötig sein; unter
der Voraussetzung, daß im Maximum 6,4 g Zucker pro 1 g Eiweiß-N entstehen können,
würde der tägliche Minimalbedarf an Kohlehydraten beim erwachsenen Menschen
etwa 32g betragen.
Wenn diese in vielerlei Hinsicht sehr ansprechende Auffassung richtig ist, so:
folgt, daß auch beim Hunger eine Glykogenbildung stattfinden könnte. Dann wäre
auch der ziemlich bedeutende Glykogengehalt, den man sogar nach sehr lange
dauerndem Hungern beobachtet hat, leichter erklärlich, als er erscheint, wenn er
!) Betreffend die im ‚letzteren Falle stattfindenden chemischen Vorgänge ver-'
weise ich auf die Zusammenstellungen von Langstein (Ergebn. d. Physiol. 1, (1),
71, 1902; 3, (1), 453, 1904. — ?) Skand. Arch. f. Physiol. 14, 147, 1904. — °) Von
Noordens Beiträge 2, 81, 1894.
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Der Ansatz von Fett im Körper. 509
als Restglykogen aufgefaßt wird. Eine direkte Stütze dieser Auffassung kann
möglicherweise in folgenden Versuchen von Vogelius') und Frentzel?) liegen.
Bei diesen wurden die Tiere durch kräftige Strychninkrämpfe glykogenfrei
gemacht, dann in künstlichem Schlaf (Chloral, Urethan) gehalten und nach 18
bis 45 Stunden getötet. Die Resultate Frentzels sind in folgender Tabelle zu-
sammengestellt.
L er Glykogen
Nr. des Schlafes in der Leber in den Muskeln
Stunden 8 g
1 18 0,35 0,00
2 24 0,21 0,00
3 28 0,26 0,00
4 45 0,51 Spuren
Vogelius fand an seinen Kaninchen, welche nach 48 bis 74 Stunden ge-
tötet wurden, in der Leber, 0,30 bis 0,40g und im übrigen Körper 1,29 bis 1,57 g
Glykogen. Ein Kaninchen, welches nach den Strychninkrämpfen außer dem Nar-
coticum noch Phloridzin erhielt, schied in 33'/, Stunden 1,70g Zucker aus; in
seiner Leber fand sich 0,07 und in der Muskulatur 0,60 Glykogen. Einmal
gelang es, das Tier nach Beendigung des Strychninkrampfes 119 Stunden in Nar-
kose zu erhalten. Es lieferte 5,25g Zucker und enthielt nach dem Tode 1,29g
Glykogen in der Leber und den Muskeln.
Zehntes Kapitel.
Der Ansatz von Fett im Körper’).
Einen vorläufigen Abschluß gewannen die Ansichten über die Quelle der
Fettbildung im Körper durch die Untersuchungen von Pettenkofer und
Voit, aus welchen mit großer Wahrscheinlichkeit hervorging, daß beim
Fleischfresser und Menschen wenigstens ein Fettansatz nur auf Kosten des
Nahrungsfettes und des Eiweißes zustande kommen konnte und daß die
Kohlehydrate nur als Ersparer des Nahrungsfettes, bzw. des aus dem Eiweiß
abgespaltenen Fettes wirkten. Bei dem Pflanzenfresser war indes Voit
geneigt, anzunehmen, daß ein, wenn auch nur geringer, Teil des Fettes den
Kohlehydraten entstammte ).
Ich werde die von den genannten Autoren dargebrachten Beweisgründe
für die Fettbildung aus Eiweiß in erster Linie erörtern. Dabei werde ich
indes die Angaben über die unter der Mitwirkung niederer Pilze statt-
findende Fettbildung nicht berücksichtigen, weil sie für die Frage nach der
Fettbildung im Tierkörper keine Bedeutung beanspruchen können.
Fr. Hofmann?) ließ Eier der Schmeißfliege sich in defibriniertem Blute ent-
wickeln. Das Blut enthielt ursprünglich 0,0535 g Fett, die frischen Fliegeneier
insgesamt 0,0064g, Summa 0,0599g Fett. Bei den erwachsenen Tieren fand
®) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1893, S. 378. — ?) Arch. f. d. ges. Physiol. 56,
282, 1894. — °) Betreffend Einzelheiten, welche hier nicht besprochen werden
können, verweise ich auf Rosenfelds eingehende Darstellung dieser Frage in den
Ergebnissen der Physiol. 1, (1), 651, 1902 und 2, (1), 50, 1903. — *) Voit, 1881,
8. 235. — °) Zeitschr. f. Biol. 8, 159, 1872.
510 Der Ansatz von Fett im Körper.
Hofmann 0,5328 g Fett, es hatte sich also aus dem Bluteiweiß 0,4729g Fett ge-
bildet. Gegen diesen Versuch wendet aber Pflüger!) ein, daß hier unter dem
Einfluß niederer Pilze sowohl Fett als Kohlehydrate aus dem Eiweiß gebildet
werden müßten, wodurch natürlich die Beweiskraft desselben gänzlich aufgehoben
wird. Um diesen Übelstand zu vermeiden, wiederholte 0. Frank?) den Versuch
unter Anwendung von Fleisch, das 14 Tage lang mit Äther extrahiert worden
war. Hierbei konnte er tatsächlich einen nicht geringen Fettansatz konstatieren.
Dessenungeachtet findet er selber den Versuch nicht beweisend, und zwar weil
man nicht sicher sein kann, daß der Äther wirklich alles Fett aus dem als Nähr-
boden dienenden Fleisch entfernt hat.
Unter gewissen pathologischen Zuständen findet eine fettige Metamorphose und
eine Anhäufung von Fett in den Geweben statt, welche nach Voits, Auffassung
nicht dadurch bedingt ist, daß Fett von außen den Geweben zugeführt und von ihnen
aufgenommen wird, sondern vielmehr den Ausdruck einer Umwandlung des Organ-
eiweißes in Fett darstellt.
Ich werde die Frage nach den Vorgängen bei der fettigen Degeneration nicht
in ihrem ganzen Umfange hier erörtern, sondern mich nur auf die bei der Phos-
phorvergiftung auftretende beschränken, da diese für die vorliegende Frage als
besonders bedeutungsvoll aufgefaßt worden ist.
Als Stütze seiner Ansicht, daß die fettige Degeneration bei der Phosphorver-
giftung von einer Umwandlung des Organeiweißes bedingt wäre, führt Voit folgenden
Versuch von Bauer) an. Nach 12tägigem Hungern wurde ein Hund mit Phosphor
vergiftet und starb 7 Tage nachher. Bei der Sektion fand sich in allen Organen
und ganz besonders in den Muskeln und der Leber eine reichliche Anhäufung von
Fett (in den Muskeln 42,4 Proz., in der Leber 30 Proz... Wegen des vorhergehen-
den 12tägigen Hungerns stellt sich Bauer vor, daß das Tier schon zu Beginn der
Vergiftung die größte Menge seines Körperfettes eingebüßt hatte, und daß also das
in den Organen nachgewiesene Fett nur aus dem reichlich zugrunde gegangenen
Eiweiß entstanden sein könnte. Demgegenüber läßt sich aber einwenden, daß der
Körper nach den neueren Erfahrungen (vgl. oben 8.387) auch bei fortgeschrittenem
Hungern doch ziemlich viel Fett enthalten kann, und diese Einwendung muß hier
um so mehr in Betracht gezogen werden, da der Hund Bauers vor dem Versuche
gut genährt war.
Bauers Auffassung gegenüber bemerkte Lebedeff‘), daß das Fett z. B. in
der Phosphorleber nicht daselbst durch Zerfall des Eiweißes entsteht, sondern dort-
hin aus Fett aufgenommen wird, welches den großen Fettdepots des Körpers ent-
stammt und mit dem Blute der Leber zugeführt wird. Er stützt diese Auffassung
darauf, daß das Fett in der Phosphorleber dieselbe Zusammensetzung und Be-
schaffenheit als das subeutane Fett hat; wenn man vor der Phosphorvergiftung die
Versuchstiere mit verschiedenen Fettarten mästet, so hat das bei der Phosphor-
vergiftung in der Leber auftretende Fett eine entsprechende Beschaffenheit, während
man doch erwarten sollte, daß ein durch Zerfall des Leberparenchyms gebildetes
Fett immer einer und derselben Art wäre und in keiner Abhängigkeit von der Art
des subeutanen Fettes stände. Ganz ähnliche Resultate hat später auch Rosen-
feld nach derselben Methode gewonnen °).
Nach der statistischen Methode an Fröschen angestellte Versuche ergaben
wiederum, daß phosphorvergiftete Tiere eine größere Fettmenge enthielten als die
Kontrolltiere (Leo°), Polimanti’). Gegen diese Versuche machte indes Pflüger“)
verschiedene Einwendungen und veranlaßte Athanasiu°), die Frage an der Hand
eines genügend umfangreichen Materials nochmals zu prüfen. Diese Versuche
fanden unter Anwendung der inzwischen durch die Arbeiten aus Pflügers Labora-
!) Arch. f. d. ges. Physiol. 51, 280, 1892. — ?) Zeitschr. f. Biol. 35, 553,
1897. — ®) Ebenda 7, 71, 1871; 14, 527, 1878. — *) Arch. f. d. ges. Physiol. 31,
13, 1883. — °) Ergebn. d. Physiol. 2, (1), 67, 1903; Berl. klin. Wochensehr. 1904,
Nr. 22. — °) Zeitschr. £. physiol. Chemie 9, 469, 1885. — 7) Arch. £.d. ges. Physiol.
70, 349, 1898. — ®) Ebenda 71, 318, 1898. — °) Ebenda 74, 511, 1899. Daselbst.
auch ausführliche Literaturangaben.
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Der Ansatz von Fett im Körper. 511
torium vielfach verbesserten und verfeinerten Fettbestimmungsmethoden an 124
vergifteten und gleich vielen Kontrollfröschen derselben Körpergröße statt und er-
gaben, daß 100g des lebenden Tieres durch die Vergiftung eine Vermehrung des
Fettgehaltes um 0,005 g erfahren hatten; daß dagegen 100 g des anfänglichen Lebend-
gewichtes durch die Phosphorvergiftung 0,093 g Glykogen verloren, während bei
beiden Gruppen die Lecithinmenge und die Stickstoffausscheidung gleich groß waren.
In wesentlicher Übereinstimmung hiermit findet Taylor!) in einer an 14 ver-
gifteten und 14 Kontrollfröschen ausgeführten Versuchsreihe, daß die phosphor-
vergifteten Tiere pro 100g lebende Substanz 0,347g N, 3,00g Troekensubstanz,
0,35 g Fett und 0,099 Glykogen verloren. Der Zerfall ist hier größer als bei den
Versuchen von Athanasiu, was wohl darauf beruht, daß Taylors Tiere im all-
gemeinen 10 bis 12 Tage am Leben blieben, während Athanasius Frösche schon
nach 1 bis 6 Tagen verendeten.
Auch Versuche an warmblütigen Tieren ergaben gleichlautende Resultate.
Kraus und Sommer’) fanden bei phosphorvergifteten Mäusen in der Leber 7,4
bis 37,4 Proz. Fett, während die Leber der Kontrolltiere nur 5,1 bis 11,8 Proz. Fett
enthielt. Dagegen war der gesamte Fettgehalt des Körpers bei jenen 4,1 bis 7,9,
bei diesen aber 13,8 bis 29,3 Proz.
Endlich hat Rosenfeld°) gezeigt, daß die bei der Phosphorvergiftung so
konstant erscheinende Fettanhäufung in der Leber vollständig ausbleibt, wenn der
Versuch an Tieren angestellt wird, welche zu Beginn der Vergiftung schon so fett-
arm wie möglich sind. Als Beispiel seien folgende Angaben an Hühnern mitgeteilt:
Kontrolltiere Phosphorvergiftete Tiere
Nr. Fett Fett Nr. Fett Fett
in der Leber |im ganzen Körper in der Leber im ganzen Körper
2 g g g g
1 0,45 7,37 1 0,20 4,49
0,16 3,40 2 0,35 3,52
3 0,65 4,52
Das Verhalten des Fettes bei der Phosphorvergiftung gibt also der Lehre von
der Fettbildung aus Eiweiß keine Stütze *).
Dasselbe gilt auch von der Fettbildung in der Milchdrüse. Soviel. sich die
Sache jetzt übersehen läßt, kann kein Zweifel darüber walten, daß das Milchfett
teils dem Nahrungsfett, teils den Kohlehydraten entstammt. Ob aber das Eiweiß
hierbei irgend welchen direkten Anteil hat, muß vorläufig als unentschieden an-
gesehen werden, und jedenfalls kann die Fettabsonderung in der Milchdrüse nicht
als Beweis für eine im Körper sonst vorkommende Fettbildung aus Eiweiß herbei-
gezogen werden’).
Als wichtigster Grund für die Annahme einer Fettbildung aus Eiweiß
galten lange die Resultate der von Pettenkofer und Voit am Hunde aus-
geführten Bilanzversuche, laut welchen unter günstigen Umständen bis zu
58g aus Eiweiß stammendes Fett täglich angesetzt werden konnte®). Dieses
Resultat war indes nur durch eine fehlerhafte Annahme, betreffend die elemen-
!) Journ. of experim. Med. 4, 399, 1899. — ?) Beitr. zur chem. Physiol. 2, 86,
1902. — ?) Ergebn. d. Physiol. 2, (1), 67, 1903. — *) Vgl. auch Lindemann, Zeitschr.
f. Biol. 38, 405, 1899; Ribbert, Deutsche med. Wochenschr. 1903, Nr. 44; Rosen-
feld, Berl. klin. Wochenschr. 1904, Nr. 22. — °) Vgl. die Zusammenstellungen von
Rosenfeld (Ergebn. d. Physiol. 1, (1), 664) und K. Basch (Ebenda 2, (1), 366).
Da die Fettbildung in der Milchdrüse am zweckmäßigsten im Zusammenhang mit
der Physiologie dieses Organes behandelt wird, habe ich diese Frage hier nicht
näher besprechen wollen. — °) Ann. d. Chem. u. Pharm., 2. Supplbd., 1863, 8. 52,
361; Zeitschr. f. Biol. 5, 106, 1869; 6, 371, 1870; 7, 489, 1871.
512 Der Ansatz von Fett im Körper.
tare Zusammensetzung des Eiweißes, bedingt, und die eingehende Kritik, die
Pflüger an diesen Versuchen ausübte), ergab, daß sich aus diesen Versuchen
kein Fettansatz nachweisen läßt (vgl. oben, S. 409).
Im Voitschen Institut wurden dann neue Bilanzversuche gemacht, um
die Frage näher aufzuklären. Dabei konnte Cremer?) an einer Katze, die
er mit sehr großen Fleischmengen fütterte, in der Tat eine Retention von
überschüssigem Kohlenstoff konstatieren. Die zurückgebliebene C-Menge
betrug in einer Versuchsreihe bei einer täglichen Zufuhr von 450g Fleisch
7,3g pro Tag, und in einer anderen bei 350 bis 450g Fleisch 4,5 g pro Tag.
Auch gegen diese Versuche machte Pflüger) vielerlei Einwendungen, welche
indes zum großen Teile nicht als berechtigt angesehen werden können, auch
wenn man Pflüger darin beistimmen muß, daß die Cremerschen Versuche,
so wie sie jetzt vorliegen, in einer viel zu kurzen Form mitgeteilt sind.
Zu demselben Resultat wie Cremer kam auch Gruber) in seinen schon
oben (8.503) erwähnten Bilanzversuchen am Hunde bei einer täglichen Zu-
fuhr von 1500 g Fleisch.
Meines.Erachtens kann diesen Versuchen gegenüber die Ansicht nicht
mehr aufrecht erhalten werden, daß im Körper überhaupt keine Fettbildung
aus Eiweiß möglich wäre; dieselbe scheint aber im allgemeinen nur geringen
Umfanges zu sein und bloß bei Zufuhr sehr großer Eiweißmengen vorzu-
kommen, was wohl damit zusammenhängt, daß das Nahrungseiweiß unter
allen Nahrungsstoffen in erster Linie zerfällt. Beim Menschen, der ja nur
eine verhältnismäßig geringe Eiweißmenge zu verdauen vermag, dürfte das
Eiweiß als Fettbildner keine nennenswerte Bedeutung besitzen.
Zu der Zeit, als die Lehre vom Eiweiß als die wesentliche Quelle des Fett-
ansatzes noch in ihrem vollen Umfange allgemein angenommen war, mußte
man, um einen eventuellen Fettansatz aus N-freien Nahrungsstoffen darzu-
tun, in erster Linie beweisen, daß die angesetzte Fettmenge nicht aus dem
zerfallenen Eiweiß hätte entstehen können. Die Beweisführung war daher in
etwa derselben Weise durchzuführen, wie oben in bezug auf die Glykogen-
bildung aus Kohlehydraten dargestellt worden ist (vgl.S. 501). Seitdem die Be-
deutung des Eiweißes als Fettbildner so erheblich reduziert worden ist, kommt
diese Komplikation nicht mehr in Betracht. Wegen des geschichtlichen Inter-
esses, welches die ersten von dem genannten Standpunkte aus einwandfreien
Untersuchungen über Fettbildung aus N-freien Nahrungsstoffen beanspruchen,
finde ich es angezeigt, die betreffenden Versuche auch unter Berücksichtigung
einer eventuellen maximalen Fettbildung aus Eiweiß zu besprechen.
Nach Henneberg?) stellte man sich vor, daß das Eiweiß ohne Eingriff des
atmosphärischen Sauerstoffs zerfalle, und zwar in folgender Weise: Aus 1g Eiweiß
würde nach Abtrennung des Stickstoffs als Harnstoff (0,335 g) zum Reste (0,665 g)
0,123 g Wasser hinzutreten und davon 0,274g CO, austreten: dann blieben 0,514 g
Fett übrig. ‘Da-aber die physiologische Verbrennungswärme von 1g Eiweiß rund
4,1 Kal., die von 0,514 g Fett aber rund 4,8 Kal. beträgt, war die von Henneberg
berechnete Zahl, wie Rubner‘®) bemerkte, entschieden zu groß, denn dem Wärme-
') Arch. f. d. ges. Physiol. 51, 231, 1891; vgl. auch Kumagawa, Mitteil. d.
med. Fakultät zu Tokio 3, 1, 1894. — ?°) Münch. med. Wochenschr. 1897, Nr. 29;
Zeitschr. f. Biol. 38, 309, 1899. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 68, 176, 1877; 77,
521, 1899. — *) Zeitschr. f. Biol. 42, 409, 1901. — °) Voit, 8. 250. — °) Zeitschr.
f. Biol. 21, 355, 1885.
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Der Ansatz von Fett im Körper. 513
werte nach konnte aus 1g Eiweiß höchstens 0,447 g Fett entstehen, und dies nur
in dem Falle, wenn die gesamte potentielle Energie des Eiweißes auf die gebildete
Fettmenge übertragen würde.
Daß das Nahrungsfett im Körper angesetzt wird, geht schon aus den
Bilanzversuchen von Pettenkofer und Voit mit aller wünschenswerten
Klarheit hervor (vgl. 8.412). Viele andere Erfahrungen bestätigen diese
Tatsache.
Fr. Hofmann!) ließ einen Hund von 26,45 kg Körpergewicht 30 Tage lang
hungern, wobei dieser 39,5 Proz. seines Gewichtes verlor, und gab ihm dann während
6 Tage insgesamt 2389 g Fett und 39,7g N. Bei der Sektion wurden im Körper
1353 g Fett aufgefunden, welches zum allergrößten Teile während der foreierten
Fütterung angesetzt worden war. Aus dem zersetzten Eiweiß hätten im Maximum
nur 131g Fett entstehen können. — I. Munk?) ließ einen Hund 33 Tage lang
hungern; währenddessen sank das Körpergewicht von 17,6 auf 11,5 kg herab.
Nun erhielt das Tier während 17 Tage insgesamt 5250 g Fleisch und 2260 g Rüböl;
sein Körpergewicht stieg auf 13kg. Bei der Sektion wurde eine reichliche Fett-
ablagerung konstatiert. Dieses Fett unterschied sich aber wesentlich von dem ge-
wöhnlichen Hundefett, indem wenigstens vier Fünftel davon bei Zimmertemperatur
flüssig waren und sich als ein helles, durchsichtiges, schwach gelblich gefärbtes
Öl darstellten; auf den Boden des Gefäßes setzte sich eine weißliche, körnig kristalli-
nische Masse ab. Das angesetzte Fett zeigte also hinsichtlich seiner Konsistenz
mit dem gefütterten Rüböl eine große Übereinstimmung; in demselben gelang es
außerdem Munk, wie früher bei entsprechenden Versuchen Radziejewski°), die
im normalen Hundefett nicht vorkommende Erucasäure nachzuweisen.
Desgleichen gelang es Lebedeff*), je nachdem er Leinöl oder Hammeltalg
fütterte, ein Fett mit niedrigem oder mit hohem Schmelzpunkte bei Hunden zum
Ansatz zu bringen).
Gegen die letzterwähnten Versuche hat Pflüger‘) allerdings bemerkt, daß
das Hundefett keine konstante Zusammensetzung hat, und daß also die von Munk
beobachtete Abhängigkeit der Beschaffenheit des bei verschiedener Fütterung an-
gesetzten Fettes vom Futter nichts bewiese. Meines Erachtens wird jedoch die
Beweiskraft der soeben erwähnten Beobachtungen nicht durch diese re
aufgehoben.
Noch im Jahre 1881 äußerte Voit’), daß „es nicht mit Sicherheit er-
wiesen sei, daß die Kohlehydrate im fleischfressenden oder pflanzenfressenden
Tier in Fett übergehen, aber auch nicht, daß sie nur das anderweit erzeugte
Fett vor der Verbrennung schützen“. Dennoch lagen schon damals die an
Schweinen durchgeführten Versuchsreihen von Weiske und Wildt®) vor, aus
welchen mit aller Bestimmtheit eine Fettbildung aus Kohlehydraten sich
demonstrieren läßt.
Von drei gleichen, sechs Wochen alten Tieren wurden zwei zur Bestimmung
des am Körper schon vorhandenen Fleisches und Fettes gleich geschlachtet und
das dritte mit Kartoffeln gefüttert. Während 184 Versuchstage setzte das Tier
6,140 kg Fett an; davon entstammten 0,575 aus dem Nahrungsfett; im Körper
wurden also 5,565 kg Fett gebildet. Der Eiweißumsatz betrug 13,082kg. Unter
Anwendung der Reduktionszahl von Henneberg (51,4) hätten aus dem zersetzten
!) Zeitschr. f. Biol. 8, 165, 1872. — ?) Arch. f. pathol. Anat. 95, 407, 1884. —
®) Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1866, $. 351; Arch. f. pathol. Anat. 43, 276,
1868; 56, 211, 1872. — *) Zeitschr. f. physiol. Chem. 6, 139, 1882; Arch. f. d.
ges. Physiol. 31, 47, 1883. — °) Vgl. auch Winternitz, Zeitschr. f. physiol. Chem.
24, 425, 1898. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 82, 331, 1900. — ?) Voit, 8. 262. —
®) Zeitschr. f. Biol. 10, 1, 1874; vgl. auch Lawes und Gilbert, Phil. Trans. 149,
493, 1860.
Nagel, Physiologie des Menschen. I, 33
514 Der Ansatz von Fett im Körper.
Eiweiß 6,724kg Fett entstehen können. Nun findet sich aber vom Stickstoff der
Kartoffeln wenigstens ein Drittel in Form von Asparagin vor; selbst wenn die
Hennebergsche Zahl richtig wäre, so hätten daber aus Eiweiß nur 4,482 kg Fett
entstehen können. Aus Kohlehydraten wären also mindestens 1,083 kg Fett ent-
standen.
Auch Voit gibt bei der Besprechung dieses Versuches zu, daß hier
möglicherweise ein Beispiel vorliegt, bei dem die Kohlehydrate zur Fettbildung
zu Hilfe genommen werden müssen.
In der folgenden Zeit wurden Beispiele dieser Art immer zahlreicher.
An Pflanzenfressern veröffentlichten Soxhlet!), B. Schultze2), Meißl und
Strohmer?), Kühn®), Chaniewski®), Meißl, Strohmer und v. Lorenz®),
Rosenfeld’), Lehmann und E. Voit°®), an Hunden I. Munk’) und
Rubner!°) derartige Untersuchungen.
Die folgende Tabelle enthält eine Zusammenstellung einiger Angaben
betreffend die Pflanzenfresser:
Fettansatz aus
. Eiweiß, nach
Nr. Tierart | Nahrungs- Henneberg Kohle- Autor
g g g
1 Gans 20,4 54,9 193,6 Chaniewski
2 « 31,7 104,9 508,7 a
3 R 8,7 51,4 385,2 s
4 Ochs 86,0 192,0 145 Kühn u. a.
5 x 77,0 153,0 202 BR
6 S 39,0 103,0 561 ee 2
7. Schwein 7,9 33,6 312 Meißl u. Strohmer
8 R 16,4 33,0 363,8 a .
9 R 15,2 45,2 148,4 Eu 5
Munk ließ einen Hund von etwa 37 kg Körpergewicht 31 Tage lang hungern
und fütterte ihn dann während 25 Tage mit 200g Fleisch und verschiedenen Mengen
Kohlehydrat und Leim (mit letzterem nur 10 Tage). Bei der Sektion wurden 1070 g
Fett erhalten; davon waren nach Munk wenigstens neun Zehntel, also 963 g,
während der Fütterungsperiode gebildet. Da der Eiweißumsatz während des ganzen
Versuches 808 g betrug, hätten nach der Hennebergschen Zahl daraus höchstens
415g Fett entstehen können; das Futter enthielt 75g Fett. Es wurden aber noch
insgesamt 797 g trockener Leim verfüttert. Unter der Annahme, daß aus diesem eben-
soviel Fett entstehen konnte wie aus dem Eiweiß, wären aus dem Leim 410g Fett
entstanden. Aus Kohlehydraten wären dann jedenfalls 963 — (415 + 75 + 410)
= 63g Fett gebildet. Diese Rechnung gründet sich aber, wie aus dem früher
Ausgeführten hervorgeht, auf absurde Voraussetzungen; der aus Kohlehydraten
entstammende Fettansatz ist also noch beträchtlich größer.
Bei dem Versuche von Rubner wurden alle Ausgaben des Körpers direkt be-
stimmt. Der Versuchshund von 6,2kg Körpergewicht bekam während zwei Ver-
!) Zeitschr. d. landw. Vereins in Bayern 1881; zit. nach Lehmann und
E. Voit. — ?) Landw. Jahrb. 1, 57, 1882. — °) Sitzungsber. d. Akad. d. Wiss.
(Wien), math.-naturw. Kl., 88, (3), 205, 1883. — *) Landw. Versuchsstat. 44, 370,
443, 505, 560, 1894. — ®) Zeitschr. f. Biol. 20, 179, 1884. — °) Ebenda 22, 141,
1886. — 7) Berl. klin. Wochenschr. 1899, 8. 665. — *) Zeitschr. f. Biol. 42,
619, 1901. — °) Arch. f. pathol. Anat. 101, 91, 1885. — !) Zeitschr. f. Biol. 22,
272, 1886.
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Der Ansatz von Fett im Körper. 515
suchstage insgesamt 200g Rohrzucker, 170g Stärke und 9,4g Fett. Kohlenstoff:
aufgenommen 176,6 g, abgegeben 87,1; im Körper also zurückgeblieben 89,5 g. Aus
dem zersetzten Eiweiß hätten höchstens 5,8g C und aus dem Nahrungsfett 7,2g C
im Körper zurückbleiben können. Also müssen 76,5 g Kohlenstoff aus den ge-
fütterten Kohlehydraten entstammen. Sie können nun entweder als Glykogen oder
Fett im Körper angesetzt worden sein. Als Glykogen berechnet würden sie etwa
173g, d. h. 27,9g pro Kilogramm Körpergewicht betragen; es ist jedoch äußerst
wenig wahrscheinlich, daß hier eine so große Glykogenmenge angesetzt worden ist.
Es ist allerdings wahr, daß sich unter Schöndorffs') Versuchen drei vorfinden,
bei welchen der Glykogengehalt noch größer gewesen. Diese Tiere wurden aber
8 Tage lang gefüttert und bekamen täglich nebst 200g Fleisch 100g Reis, 150g
Kartoffeln und 150 g Rohrzucker, d. h. etwa 250g Kohlehydrate, 185 g Kohle-
hydrate in dem vorliegenden Versuche gegenüber.
Bei dieser Umwandlung der Kohlehydrate in Fett müssen selbstverständ-
lich Reduktionsprozesse stattfinden. Das tierische Fett hat etwa folgende
elementare Zusammensetzung: 76,54 C, 11,94 H, 11,52 O; die Dextrose ent-
hält 40 C, 6,7 H, 53,3 0. Um den nötigen Kohlenstoff für 100 g Fett zu
liefern, sind daher im Minimum 191,35 g Dextrose erforderlich. Denken wir
uns nun, daß C, H und O dieses Kohlehydrates in C, H und O des Fettes
übergehen, so finden wir:
191,35 Dextrose 100 Fett.
Darin 76,54 C . 76,54 C
12,76 H 11,94 H
102,05 OÖ 4,52 0
Die 0,82g H bilden mit 6,56g O zusammen 7,38g Wasser.
Von dem Sauerstoff bleiben noch 83,97 g übrig. Diese können aber
78,71 weiteres Kohlehydrat vollständig verbrennen und liefern dabei 47,23 g
Wasser und 115,45g CO,. Man erhält daher folgende Äquation:
270,06 g Traubenzucker — 100g Fett + 54,61g Wasser
+ 115,45g CO, (Bleibtreu).
Dieser Vorgang verläuft mit einer positiven Wärmetönung, denn 100g
Fett — 950 Kal, 270,06 g Dextrose aber 1010,70; die Differenz beträgt
60,7 Kal.
Ohne Sauerstoff aufzunehmen, scheidet der Körper also bei der Bildung
von 100 g Fett aus Kohlehydraten 115,45 g — etwa 59 Liter CO, aus. Diese
Kohlensäure zu der sonst gebildeten addiert, muß natürlich den respiratori-
schen Quotienten erhöhen.
Die Richtigkeit dieser Konsequenz hat Bleibtreu durch direkte Versuche
an mit Kohlehydrat gemästeten Gänsen bestätigt, und zwar gelang es ihm,
den respiratorischen Quotienten dauernd beträchtlich über die Einheit, bis zu
1,38, hinauszutreiben. Diese hohen Zahlen sind nicht durch Abnehmen des
verbrauchten Sauerstoffs, sondern durch Ansteigen der ausgeschiedenen
. Kohlensäure verursacht).
!) Arch. f. d. ges. Physiol. 99, 213, 1903. — *) Ebenda 56, 464, 1894; 85,
356, 1901. Eine ähnliche Rechnung haben früher auch Meißl (Zeitschr. f. Biol.
22, 142, 1886) und Hanriot (Compt. rend. 114, 371) gemacht. — °) Vgl. auch
die entsprechenden Beobachtungen am Murmeltiere von Pembrey (Journ. of
Physiol. 27, 407, 1901); daselbst ist auch die frühere Literatur besprochen.
33*
516 Der Ansatz von Fett im Körper.
Betreffend das durch Kohlehydrate gebildete Fett gibt Rosenfeld!) nach
Versuchen an Gänsen an, daß es im Vergleich mit dem Fett der Hungergänse fol-
gende Eigentümlichkeiten darbietet. In bezug auf das Gesamtfett findet man bei den
Kartoffelgänsen nur eine 1cm hohe Schicht flüssigen Fettes über den 8 bis 9cm
hohen Mengen von Kristallen aus Palmitin und Stearin, während das Hungerfett
zu neun Zehntel aus der Ölschieht besteht. Während bei den Hungergänsen das
Hautfett zu zwei Drittel bis drei Viertel aus öliger Substanz besteht, an deren
Boden nur ein relativ geringer Niederschlag sich befindet, und bei den Marktgänsen
jenes Fett zu erhalten ist, dessen schwer erstarrende, halbflüssige Art allgemein
bekannt ist, ist das Hautfett der Kartoffelgänse nach 10 Stunden fest geronnen,
von ziemlich derber Konsistenz. Das Kohlehydratfett ist also ein hartes, ölsäure-
. armes Fett.
Im Verdauungsrohre wird das Fett, zum größten Teile wenigstens, in
Fettsäure und Glycerin gespalten. Schon aus dieser Tatsache folgt, daß ge-
fütterte freie Fettsäuren bzw. Seifen für den Fettansatz etwa dieselbe Be-
deutung als das Neutralfett haben müssen. Daß dies wirklich der Fall ist,
wurde von Radziejewski?2) unter Anwendung von Rübölseife, und von
I. Munk?°) unter Anwendung von aus Schaffett freigemachten Fettsäuren
nachgewiesen.
Letzterer gab einem Hunde von 17kg Körpergewicht während 14 Tage nur
500 g Fleisch täglich und ließ ihn dann 19 Tage lang hungern, wobei sein Körper-
gewicht auf 10,8kg herabsank. Dann wurde das Tier während 14 Tage mit mage-
rem Fleisch und großen Mengen der freien Fettsäuren gefüttert. Dabei stieg das
Körpergewicht auf 12,7 kg an. Bei der Sektion wurden etwa 1100 g Fett erhalten;
es enthielt nicht mehr als 1 Proz. freie Fettsäuren und stimmte hinsichtlich
seiner Eigenschaften mit dem Schaffett sehr nahe überein. Die gefütterten Fett-
säuren hatten sich also im Körper mit Glycerin verbunden und waren dann als
Neutralfett im Körper angesetzt worden *).
Elftes Kapitel.
Die mineralischen Nahrungsstoffe.
$ 1. Allgemeine Übersicht.
Für den Unterhalt des Körpers sind gewisse anorganische Verbindungen
ebenso wichtig als die organischen Nahrungsstoffe, weil der Körper immer,
sowohl beim Hungern, als bei der reichlichsten Zufuhr von organischen
Nahrungsstoffen, solche von sich abgibt und, wenn diese durch die Nahrung
nicht ersetzt werden, schwer erkrankt und endlich am „Aschehunger“ stirbt.
Die betreffenden Verbindungen sind Wasser und Aschebestandteile, welche
letztere der Kürze halber oft als Salze bezeichnet werden.
Über die Bedeutung des Wassers können wir uns kurz fassen. Das
Wasser ist dem Körper notwendig, teils um dessen Geweben den normalen
Turgor, ohne welchen die lebendige Substanz nicht leistungsfähig und am Leben _
bleiben kann, zu geben, teils um als Lösungs- und Quellungsmittel für die in
!) Berl. klin. Wochenschr. 1899, 8. 665. — ?) Arch. f. pathol. Anat. 43, 1868;
56, 214, 1872. — °) Ebenda 95, 437, 1884. — *) Vgl. auch Fischlers Versuche
über experimentell erzeugte Fettsynthese aus ölsaurem Natrium und Glycerin in
der überlebenden Niere (Arch. f. pathol. Anat.'174, 338, 1903).
[vd
Die mineralischen Nahrungsstoffe. 517
den Körperflüssigkeiten enthaltenen Verbindungen zu dienen; werden ja diese
gerade durch das Wasser als Vehikel nach allen Teilen des Körpers gebracht.
Durch alle seine Ausscheidungen gibt der Körper ununterbrochen Wasser
von sich ab, und wird dieser Verlust nicht ersetzt, so steigt er früher oder
später zu einem mit dem Bestande des Lebens unvereinbaren Umfange. Hun-
gernde Tiere vertragen besser Wassermangel als Tiere, welche mit trockenem
Futter ernährt werden, was dadurch bedingt ist, daß bei jenen die Organe
selber zugrunde gehen und dabei das in ihnen mit der lebendigen Substanz
innig verbundene Wasser frei machen und also dem Gesamtkörper zur Ver-
fügung stellen. Bei trockenem Futter zerfällt die lebendige Substanz gar
nicht oder jedenfalls in kleinerem Maße als beim Hungern: das in den Ge-
weben enthaltene Wasser wird daher in diesen zurückgehalten, und die Körper-
flüssigkeiten bekommen also von dieser Quelle aus keinen genügenden Ersatz
für die Verluste an Wasser, die sie erleiden. Außerdem sind diese Verluste
bei Fütterung mit trockenem Futter größer als beim Hungern, denn die Ver-
dauung beansprucht jetzt eine gewisse Menge Wasser, und auch die Harn-
abgabe wird wohl größer sein, als bei vollständiger Karenz.
Wenn man ein Tier mit Eiweiß, Fett, Kohlehydraten und Wasser in voll-
kommen genügender Menge füttert, so viel wie möglich aber alle minerali-
schen Bestandteile ausschließt, so treten im Befinden desselben merkwürdige
Störungen auf. Bei allen so gefütterten Tieren (Tauben, Hunden) trat nach
Forster!) bald ein Zustand von Muskelschwäche und Zittern auf, der am
besten durch allgemeine Ermüdung bezeichnet werden kann. Die Schwäche
in den einzelnen Muskeln der Hunde, namentlich der hinteren Extremitäten,
nahm allmählich, schon von der zweiten Versuchswoche an, einen lähmungs-
artigen Charakter an. Auch die Tätigkeit des Gehirns erlitt Störungen, die
sich in dem wachsenden Stumpfsinn und der Teilnahmslosigkeit der Tiere
zu erkennen gaben. Erscheinungen. einer erhöhten Erregbarkeit machten sich
in späterer Zeit oft geltend. So zuckten die Hunde sofort und stets, wie
heftig erschreckt, zusammen, wenn irgend eine rasche Bewegung, auch in
der Entfernung, gegen sie ausgeführt wurde. Unter die Erscheinungen von
seiten der Zentralorgane sind auch Wutanfälle, die sich namentlich durch
tonischen Krampf der Hals- und Kiefermuskulatur äußerten, zu setzen. Bei
Tauben trat endlich der Tod unter allgemeinen Krämpfen und Erstickungs-
erscheinungen ein. Die Versuche an Hunden unterbrach Forster zu einer
Zeit, wo die Störungen nicht die äußerste Grenze erreicht hatten.
Trotz dieser Störungen gingen die Stoffwechselprozesse bis zu späten
Stadien des Salzhungers in etwa normaler Weise vor sich. Auch die Ver-
dauung verlief eine längere Zeit unverändert, endlich zeigten sich aber darin
erhebliche Störungen, das Futter wurde im Magen erst nach längerem Auf-
enthalt verändert, Erbrechen stellte sich ein, und es wurde auch öfters Kot
entleert, der eine weiche, fast diarrhöische Beschaffenheit hatte.
Wenn zu gewöhnlichem, salzhaltigem Futter übergegangen wurde, so
zeigten die Tiere anfänglich nur eine geringe Freßlust; allmählich steigerte
sich dieselbe, so daß das Tier schließlich eine erstaunliche Gefräßigkeit zeigte.
!) Zeitschr. f. Biol. 9, 297, 1873. Daselbst ist auch die ältere Literatur be-
sprochen.
518 Die mineralischen Nahrungsstoffe.
Die Schwäche und das Zittern der Muskeln, der tappende Gang verloren sich |
aber nur allmählich, so daß nach Verlauf eines vollen Monats Spuren davon.
noch bemerkbar waren.
Durch diese Beobachtungen ist es also erwiesen, daß die Aschebestandteile der
Kost für den Unterhalt des Körpers ebenso wichtig sind als die darin enthaltenen
brennbaren Verbindungen, ja aus den soeben angeführten Versuchen scheint sogar
zu folgen, daß der erwachsene Körper leichter eine vollständige Karenz, als den
einseitigen Aschehunger verträgt.
Um die Ursache dieses Sachverhaltes zu erforschen, hat Forster die Aus-
scheidung des Phosphors und des Kochsalzes bei Salzhunger untersucht und ist
dabei zu folgenden, von späteren Autoren bestätigten Resultaten gekommen.
Die Ausscheidung des Phosphors im Harn und Kot hört niemals auf, sie
nimmt nur in einem erheblichen Grade ab, und zwar um so mehr, je größer die
Menge des genossenen salzfreien Futters ist. Für das Kochsalz zeigt sich ganz
dasselbe: im Anfange des Versuches wird dieses in Mengen abgegeben, die sich von
Tag zu Tag verringern. Später ist die Ausscheidung desselben so weit herab-
gedrückt, daß in 200cem Harn nunmehr nur unwägbare Spuren entdeckt werden
können. An den zwei letzten Versuchstagen, an denen der Körper an Substanz
verlor, erschienen wieder, wenn auch ganz geringe Mengen Chlor im Harn. Auch
im Magensafte wurde, selbst in den späteren Stadien des Versuches, Chlor vom
Tiere abgesondert. Im allgemeinen gilt von der Kochsalzausscheidung dasselbe wie
von der Phosphorabgabe, nämlich daß diese um so geringer ist, je größer die Menge
der genossenen aschefreien Kost ist, d. h. je weniger die eigene Substanz des
Körpers am Stoffzerfall teilnimmt.
Forster glaubt diese Resultate verallgemeinern zu dürfen und stellt
daher den Satz auf, daß die Ausscheidung der Aschebestandteile beim Salz-
hunger während des ganzen Versuches, jedoch in erheblichem Grade ver-
mindert, andauert.und gerade bei der reichlichsten Zufuhr von organischen
Nahrungsstoffen am geringsten ist.
Dieses Verhalten ist wahrscheinlich dadurch bedingt, daß bei ungenügen-
der Zufuhr von organischen Nahrungsstoffen die Aschebestandteile aus den
dann zerfallenden Geweben frei werden, in den allgemeinen Saftstrom gelangen
und zum Teil ausgeschieden werden. Bei reichlicherer Aufnahme von organi-
schen Nahrungsstoffen zerstört der Körper nicht seine eigene Substanz, und
die in den Geweben gebundenen mineralischen Bestandteile werden daher
von ihnen möglichst stark festgehalten; daher nimmt die Menge der in den
Körperflüssigkeiten enthaltenen freien Salze ab, und die Ausscheidung wird
geringer.
Sie hört indessen nie vollständig auf, und die Gewebe müssen daher, um
den Anforderungen der Körperflüssigkeiten an Aschebestandteilen zu genügen,
von ihrer eigenen Substanz immer wieder solche abgeben.
Hierin liegt aller Wahrscheinlichkeit nach die Ursache der schweren
Störungen, welche den Aschehunger charakterisieren. Wie Voit!) ausführt,
ist das Leben allerdings noch möglich, wenn auch die Organe einen Teil ihrer
konstituierenden Asche eingebüßt haben; ihr Gehalt an Asche kann innerhalb
gewisser, allerdings sehr enger Grenzen schwanken. Sobald aber der Verlust
über diese Grenze hinausgeht, die von dem normalen Gehalte nicht weit ab-
liegt, sind die normalen Funktionen der Organe so wenig mehr möglich, wie
bei einem großen Verlust an Eiweiß oder Wasser. Es gehen dabei nicht
1) Voit, 8. 358.
Das Wasser. 519
etwa die Zellen zugrunde, sondern es tritt eine das Leben gefährdende Ände-
rung in deren Funktionen ein. Es ist dieses Verhalten analog dem einer
komplizierten chemischen Verbindung, welche ihren individuellen Charakter
noch nicht zu verlieren braucht, wenn auch eine Gruppe von Molekülen daraus
weggenommen wird.
Näher auf diese Fragen einzugehen, verbietet uns der Raum. Auch muß ich
auf eine Zusammenstellung der bisher vorliegenden, übrigens lange nicht genügen-
den Erfahrungen über die Aufgabe der einzelnen Salze bei dem Lebensprozesse
verzichten, da dieselben wohl richtiger in einem anderen Zusammenhange zu be-
handeln sind. Ich werde also meine Aufgabe darauf beschränken, die wichtigsten
Aschebestandteile hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Stoffwechselvorgänge an
sich zu erörtern.
Obgleich ich die große Wichtigkeit der Untersuchungen über den Schwefel-
umsatz im Körper durchaus nicht verkenne, werde ich doch, angesichts unserer
noch sehr mangelhaften hierhergehörigen Kenntnisse, denselben hier übergehen
und werde also nur Wasser, Kochsalz, Phosphor, Calcium, Magnesium und Eisen
hier besprechen.
$ 2. Das Wasser.
Da es kaum möglich ist, einem durstenden Tiere die zum stofflichen
Gleichgewicht notwendige Menge fester Nahrung beizubringen, lassen sich
vollständig reine Durstversuche nicht durchführen, sondern diese sind immer
zu einem gewissen Grade durch gleichzeitig stattfindende Einschmelzung von
Körpersubstanz kompliziert. Nichtsdestoweniger geben uns diese Versuche
die durch Wassermangel bewirkten Störungen in der deutlichsten Weise zu
erkennen.
Tauben, welehe Nothwang') mit luftgetrockneten Erbsen von 10 Proz. Wasser-
gehalt fütterte, zeigten nach 2 bis 3 Tagen eine lebhafte Unruhe; später stellten
sich Störungen der Muskeltätigkeit, Zittern, Struppigwerden des Gefieders usw. ein,
und die Tiere starben innerhalb 2 bis 7 Tage, während Tauben, die auf vollstän-
dige Karenz gestellt waren, 11 bis 12 Tage lang am Leben blieben. Nach den
Ermittelungen Nothwangs hatten die Dursttiere beim Tode etwa 22 Proz. ihrer
Wassermenge verloren; die quergestreiften Muskeln enthielten durchschnittlich nur
71 Proz.,.die Organe im allgemeinen nur 67 Proz. Wasser, während bei normalen
Tauben der Wassergehalt der Muskeln 77 und der der Organe überhaupt 73 Proz.
beträgt. Da bereits in der Mitte der Durstzeit bedrohende Symptome erschienen,
läßt sich schließen, daß schon ein Verlust von 11 Proz. des Wassers sehr ernst-
hafte Störungen hervorruft.
In vollkommener Übereinstimmung mit diesen Erfahrungen gibt Landauer?)
an, daß Mäuse bei Durst zehnmal früher sterben als bei vollständiger Inanition.
Wenn der Wasserverlust etwa 10 Proz. des Körpergewichtes beträgt, wird bei
Hunden das Futter regelmäßig erbrochen (Straub?).
Betreffend die Einwirkung des Wassermangels auf den Stoffwechsel
hat Straub gefunden, daß die Fettzersetzung davon unabhängig ist. Da-
gegen scheint der Eiweißumsatz, wie aus den Arbeiten von Landauer,
Dennig‘), Straub und Spiegler5) hervorgeht, dabei in einem gewissen
Umfange gesteigert zu werden. Als Beispiel sei auf den folgenden Versuch
von Straub verwiesen.
») Arch. f. Hygiene 14, 272. — ?) Ungar. Arch. f. Med. 3, 136, 1895; zit.
nach Straub. — °) Zeitschr. f. Biol. 38, 539, 1899. — *) Zeitschr. f. physik. u.
diätet. Ther. 2, 281, 1898. — °) Zeitschr. f. Biol. 41, 239, 1901.
520 Das Wasser.
Der Versuchshund von etwa 12kg Körpergewicht erhielt täglich 130g luft-
trockenes Fleischpulver mit 16,09 N, dazu 409g Schweinefett. Die durchschnittliche
N-Abgabe im Kot betrug 0,41g N:
Tag N im Harn P im Harn | Harnmenge ein
g g ccm ccm
1 14,71 0,830 305 400
2 14,78 0,856 320 400
3 14,78 0,830 315 400
4 14,78 0,839 335 400
5 14,78 0,839 330 400
6 15,11 0,883 340 400
7 = — — 400
8 16,12 0,944 340 )
9 15,86 0,953 335 0
10 16,49 0,953 335 0
11 16,95 0,961 360 400
12 16.19 0,891 380 400
13 16,03 0,909 370 400
14 15,78 0,865 390 900
15 14,95 0,787 420 900
16 14,47 0,839 470 600
17 14,23 0,865 390 400
Auch nach wieder stattfindender Zufuhr von Wasser bleibt hier die N-Abgabe im
Harn eine Zeitlang erhöht. Diese Erscheinung könnte von einer Ausspülung etwa
zurückgebliebener Zersetzungsprodukte bedingt sein. Dagegen spricht aber die
Tatsache, daß die absolute Harnmenge während der Durstperiode nicht vermindert,
zuweilen sogar erhöht ist, und Straub ist daher gewillt, die Mehrausgabe von N
als Ausdruck einer Mehrzersetzung von Eiweiß aufzufassen, welche so lange an-
hält, als das verlorene Wasser unersetzt bleibt.
Es kommt aber auch vor, daß die N-Abgabe im Harn nicht sogleich am
ersten Tage zunimmt, ja, daß sie anfangs sogar abnimmt, um im späteren Verlaufe
der Durstzeit anzusteigen. Letzteres sucht Landauer dadurch zu erklären, daß
ein Teil der Zersetzungsprodukte noch zurückgehalten wird. Da aber diese
Depression auch in Fällen erscheint, wo keine wesentliche Abnahme der Harnmenge
stattfindet, müssen noch andere Umstände hierbei beteiligt sein, und Spiegler hat
in dieser Hinsicht auf den Einfluß einer verzögerten Resorption aus dem Darme
aufmerksam gemacht; da, wo keine Depression auftritt, sei die Menge. der Ver-
dauungssekrete genügend, um eine Resorption normalen Umfanges zu gestatten,
Auch die nach Ende der Durstperiode vorkommende Steigerung der N-Zersetzung
sei von Eiweißmengen bedingt, die während der Entziehungsperiode der Resorption
entgangen sind, nun aber resorbiert werden. Dabei könnte auch die Retention
N-haltiger Zersetzungsprodukte eine gewisse, wenn auch nur geringe Rolle spielen,
wie Nothwang ja eine Zunahme der Extraktivstoffe bei durstenden Tauben
nachwies.
Bei reichlicher Zufuhr von Wasser hat man oft eine mehr oder minder
erhebliche Zunahme der N-Abgabe im Harn beobachtet. Es liegt selbstver-
ständlich am nächsten, dieselbe als die Folge der Ausspülung im Körper
vorhandener N-haltiger Zersetzungsprodukte aufzufassen, und so ist sie in
der Tat von mehreren Autoren aufgefaßt worden. Andere erblicken darin
den Ausdruck einer größeren Eiweißzersetzung und dafür schien auch die
|
Das Wasser. 521
beträchtliche Steigerung der N-Abgabe bei gewissen Versuchen, wie z. B. im
folgenden von Forster), kräftig zu sprechen.
Der Versuch wurde an einem hungernden Hunde ausgeführt. Während des
5. bis 7. Hungertages schied das Tier durchschnittlich 182cem Harn mit 12,51g
Harnstoff aus. Am 8. Tage wurde dem Tiere sehr reichlich Wasser gegeben;
infolgedessen stieg die Harnmenge auf 2010 ccm und der Harnstoff auf 22,91 g an.
Während des 9. bis 11. Tages betrug die Harnmenge durchschnittlich 323 cem mit
17,30 g Harnstoff”).
Dem gegenüber vertritt Neumann?), auf Selbstversuche gestützt, die
Ansicht, daß hier vor allem eine Ausspülung von Zersetzungsprodukten vor-
liegt. Er findet nämlich, daß die durch reichliche Wasserzufuhr hervor-
gerufene Steigerung der N-Abgabe im Harn nur vorübergehender Art ist und
nach ein oder zwei Tagen, trotz fortdauernder reichlicher Wasseraufnahme,
auf den früheren Wert herabsinkt.
Seine Kost enthielt in einem Versuche von 24 Tagen täglich 12,1g N. Bei
einer Einnahme von 800 bis 1070 cem Wasser betrug die gesamte N-Ausfuhr im
Harn und Kot durchschnittlich 12,09 g mit den Grenzwerten 11,77 und 12,35.
Nun wurde während vier Tage die Wasseraufnahme auf 3000 g und mehr erhöht;
hierbei betrug die N-Abgabe bzw. 15,90, 14,6, 12,3, 12,2g — also eine Steigerung
nur während des ersten und zweiten Tages. In einer dritten Periode mit 600 bis
900g Wasser pro Tag sank die N-Ausgabe auf 9,84, 10,27 und 11,41 g. Jetzt wurde
wiederum Wasser in großer Menge genossen. Bei 3000 bis 3300 eem täglich betrug
die N-Abgabe 16,35, 13,7, 11,60, 11,68, 12,42, 12,00; bei 3500 bis 3700 eem bzw. 11,60,
11,19, 10,96. Eine letzte Periode von vier Tagen mit verminderter Wasserzufuhr
(700 bis 1700 g) ergab für die N-Abgabe bzw. 9,28, 11,47, 11,77, 11,31 g.
Für die betreffende Auffassung spricht auch die Erfahrung Oppenheimers‘),
daß die N-Abgabe bei vermehrter Wasserzufuhr schon nach einigen Stunden ihr
Maximum erreicht und schnell zurückgeht. Während eines Tages trank er 2 Liter
Wasser am Anfange des Versuches; dabei schied er dem Normaltage gegenüber in
4 Stunden etwa 6g Harnstoff mehr aus. Ein weiterer Konsum von 2000 & Wasser
brachte keine Erhöhung mehr zustande.
Normaltag Wassertag
i Aufgenommene
Zeit Harn Harnstoff en BER Harn Harnstoff
ccm g ccm ccm £
1—5 343 7,75 2000 1290 13,28
5—9 238 7,97 1000 1400 7,52
9—6 327 11,47 1000 905 11,66
6—1 270 7,61 — 402 7,23
$3. Das Kochsalz.
Das Kochsalz wird nur zu geringem Teile durch den Kot abgegeben; die
weitaus größte Menge desselben wird im Harn ausgeschieden.
') Zeitschr. f. Biol. 14, 175, 1878. — ?) Vgl. auch Voit, Unters. über den
Einfluß des Kochsalzes usw. auf den Stoffwechsel, München 1860, S. 61; Fränkel,
Arch. f. pathol. Anat. 71, 117, 1877; Salkowski u. I. Munk, ebenda 71, 500,
1877; Voit, 8. 152; Gruber, Zeitschr. f. Biol. 42, 419, 1891; Jacques Mayer,
Zeitschr. f. klin. Med. 2, 34, 1880. — ®) Arch. f. Hygiene 36, 248, 1899; vgl. auch
Dubelir, Zeitschr. f. Biol. 28, 336, 1891. — *) Arch. f. d. ges. Physiol. 23, 468, 1881.
523 Das Kochsalz.
Bei seinen Versuchen über den Einfluß des Kochsalzes auf den Stoff-
wechsel fand Voit!) die in der folgenden Tabelle enthaltenen Zahlen für die
N-Abgabe bei Zufuhr verschiedener Mengen Kochsalz. Das Tier bekam täglich
1500 g Fleisch = 5lg N:
Mittel pro Tag
Reihe || Wasserzufuhr (außer
dem Wasser im Fleisch) NaCl | N-Abgabe | Harnwasser
g g - 8
4% 108 _ 51,12 985
3, 6 233 5 51,50 948
2,5 352 10 51,73 1042
4+ 665 20 53,28 1284
11 _ _ 50,65 828
_ 5 51,92 898
9 = 10 52,95 987
10 — 20 53,97 1124
Wenn das Tier Wasser nach Belieben trinken durfte, wurde die mittlere
N-Abgabe bei Zusatz von 5 oder 10g NaCl fast gar nicht verändert. Bei 20 g NaCl
stieg die N-Abgabe um 4,2 Proz. an. Am durstenden Tiere wurde die N- Abgabe
durch Aufnahme von 5, 10 und 20g um bzw. durchschnittlich 2,5, 4,6 und 5,8 Proz.
erhöht. Daß hier keine vermehrte Ausspülung von N-haltigen Zersetzungspro-
dukten vorliegt, dürfte daraus folgen, daß jede Reihe mehrere Tage lang dauerte.
Aus dieser Versuchsreihe würde man also schließen können, daß das
NaCl, wenn es nicht in zu geringer Menge aufgenommen wird, den Eiweiß-
umsatz erhöht.
Hier kommt aber die wasseranziehende Wirkung des Kochsalzes in
Betracht, denn es ist ja möglich, daß die Wasserzufuhr nicht genügte, um
den vorhandenen Bedarf zu decken. In diesem Falle wäre die Steigerung
der N-Abgabe die Folge des Wassermangels (vgl. oben S. 519).
Auf der anderen Seite wird bei einem kurzdauernden Versuche die Aus-
spülung bei einer reichlicheren Diurese eine scheinbare Steigerung des Eiweiß-
zerfalles vortäuschen können, wie in folgendem Versuche von Feder?).
Die Harnstoffabgabe betrug am 4. Hungertage 24,7, am 5. Tage mit 15g
NaCl 27,4, am 6. Tage (ohne NaCl) aber 19,4 und am 7. Tage wieder 24,4g. Bei
Fütterung und N-Gleichgewicht betrug die Harnstoffabgabe am 5. Tage der Reihe
83,2, am 6. Tage mit 15g NaCl 86,2, am 7. aber (ohne NaCl) 79,3 und am 8. 66,8g.
Dagegen zeigen die Versuche von Dubelir?) eine Herabsetzung der
N-Abgabe unter dem Einflusse des Kochsalzes. Bei einem mit 250g Fleisch
und 50g Speck gefütterten Hunde sank hier die N-Abgabe im Harn bei
3 bis 10g NaCl von 9,12 allmählich auf 7,84g herab, um nach Aussetzung
des Kochsalzes sogleich auf 9,23 g wieder anzusteigen. Hier wurde kein
Wasser zum Trinken gegeben.
!) Voit, Unters. über den Einfluß des Kochsalzes usw. auf den Stoffwechsel,
München 1860, 8. 59. — ?) Zeitschr. f. Biol. 14, 187, 1878, — °) Ebenda 28,
241, 1891.
A ca 1 u
nn u >
Das Kochsalz. 523
Die gleichen Wirkungen wurden dann auch von Gabriel!) am Hammel
sowohl bei kleinen als großen Gaben von Kochsalz, von Pugliese?), Straub?)
und Gruber‘) am Hunde, sowie von Pugliese, Coggi’) und Belli®) am
Menschen nachgewiesen.
Unter diesen Versuchen sei als besonders charakteristisch der folgende von
Straub hier mitgeteilt. Das Tier bekam täglich 600g Fleisch (= 20,56g N) und
40 g Speck, sowie während der Kochsalztage außerdem 700g Wasser:
Tag N im Harn Harnmenge
6 20,18 465
7 20,12 430
8 19,70 1060
9 19,73 1100 Je 12g NaCl
10 19,64 1060
11 19,46 510
12 20,06 490
Aus diesen Beobachtungen dürfte also gefolgert werden können, daß das
Kochsalz bei genügender Zufuhr von Wasser in der Tat Eiweiß erspart.
In den Versuchen von Belli bestand das Cl-Gleichgewicht bei einer Zu-
fuhr von durchschnittlich 6,19 g Cl; bei einer mittleren Zufuhr von 0,543 g Cl
betrug der Verlust durchschnittlich nur 0,113 g. Der erwachsene Mensch
würde also mit etwa 0,7g Cl= etwa 1,2g NaCl im Gleichgewicht sein können.
Unsere hierher gehörigen Erfahrungen sind indes noch viel zu wenig umfang-
reich, um irgend welche bestimmte Schlußfolgerungen, betreffend den absoluten
Cl-Bedarf des Menschen, zu gestatten.
$4. Der Phosphor.
Der Phosphor kommt im Körper und in der Kost nicht allein in anorgani-
schen Verbindungen vor, sondern stellt auch einen integrierenden Teil einer
wichtigen Gruppe von Eiweißstoffen dar, welche sowohl in der Kost als im
Körper enthalten sind. Angesichts dieses Umstandes wäre es vielleicht
richtiger gewesen, das Verhalten des Phosphors im Zusammenhang mit dem
des Eiweißes zu studieren. Da aber der Phosphor auch in anorganischer
Form genossen wird und zum Teil in solcher im Körper vorkommt, habe ich
es vorgezogen, den Phosphorumsatz in diesem Abschnitte zu erörtern.
Ich finde dazu eine besondere Veranlassung, da bis vor wenigen
Jahren ziemlich allgemein angenommen wurde, daß der Phosphor überhaupt
nur in anorganischer Form vom Darme resorbiert wurde, und daß die
organischen Phosphorverbindungen im Verdauungsrohre überhaupt nicht
löslich waren.
Wir haben also in erster Linie zu untersuchen, in welcher Form der
Phosphör vom Darme resorbiert wird.
1). Zeitschr. f. Biol. 29, 554, 1892. — °) Areh. italiennes de biol. 25, 17,
1896. — °) Zeitschr. f. Biol. 37, 527, 1899. — *) Ebenda 41, 425, 1901. — °) Arch.
italiennes de biol. 25, 101, 1896. — °) Zeitschr. f. Biol. 45, 182, 1904.
524 Der Phosphor.
Tereg und Arnold!) bestimmten die P-Abgabe bei Hunden. Nach Fütterung
mit Hundekuchen betrug dieselbe im Harn im Mittel von vier Tagen 1,351 g pro
Tag. Danach fügten sie zu dem Normalfutter in verschiedenen Reihen bzw. 1,472 gP
in tribasischem, 1,883 g P in zweibasischem und 1,228 bis 2,456 g P in einbasischem
Caleiumphosphat und fanden dabei im Harn durchschnittlich bzw. 1,547, 1,967,
2,578g P, also eine Zunahme der Phosphorausscheidung, die nur durch eine statt-
gefundene Resorption der gefütterten Salze erklärt werden kann.
Zadik”*) fütterte einen Hund mit dem P-freien Edestin und gab dazu 1,026gP
in Form von Natrium- und Kaliumphosphat. Die tägliche P-Abgabe betrug im
Harn 1,121 und im Kot 0,140 g — also waren wenigstens 0,886 g P resorbiert
worden. Der Phosphor wird demnach aus anorganischen Verbindungen resorbiert.
Auf Grund der Beobachtung Mieschers°), daß sich die nucleinhaltige Kern-
substanz der Eiterkörperchen im Magensaft nicht löste, wurde die Ansicht ver-
treten, daß Phosphor in organischen Verbindungen überhaupt nicht resorbiert wurde.
Später wurde indes von Popoff*) nachgewiesen, daß der Pankreassaft, sowie das
Pankreatin bei einer Einwirkung während ein bis zwei Stunden etwa '/, bis '/, des
im Thymusnuclein enthaltenen Phosphors lösten, und daß insgesamt etwa die Hälfte
von diesem als Nuclein in der Lösung vorkam.
Auch betreffend die Nucleoalbumine (das Kasein) nahm man an, daß die bei
der Pepsinverdauung entstehenden löslichen Produkte phosphorfrei waren, daß also
auch hier der Phosphor nicht in die Lösung übergeht oder, wie Hoppe-Seyler’)
sagte: bei der Verdauung des Kaseins im Magensaft bleibt der ganze Phosphor-
gehalt in der reichlichen ungelösten Substanz, welche von Liebermann als meta-
phosphorsaure Verbindung eines Eiweißkörpers betrachtet wird.
Die Untersuchungen von Salkowski und Hahn‘) ergaben indessen, daß bei
der Magensaftverdauung 'des Kaseins der größere Teil des Phosphors gelöst wird
und in organischer Form zu finden ist — ob er den Albumosen selbst angehört
oder in einer anderen Verbindung vorkommt, lassen die genannten Autoren vor-
läufig unentschieden.
Nach Sebelien’) geht unter der Einwirkung des Pankreasextraktes fast der
gesamte Kaseinphosphor in die Lösung über. Dieser Phosphor kommt zum größeren
Teile in organischer Verbindung vor, nur ein kleiner Teil wird als Orthophosphor-
säure abgespalten. Dieser Teil nimmt mit der Dauer der Verdauung und der
Menge des Enzyms auf Kosten des organisch gebundenen Phosphors zu; ebenso
kann letzterer wie auch der Phosphor in dem durch Magensaft gebildeten löslichen
Verdauungsprodukte des. Kaseins durch verdünnte Alkalilösungen in anorganische
Form überführt werden (Biffi?).
Durch direkte Versuche an Tieren vergewisserte man sich ferner davon, daß
der Phosphor aus den P-haltigen Eiweißkörpern im Darme tatsächlich resorbiert
wurde. Bei Fütterung eines Hundes mit konstantem Futter wurde in einer Ver-
suchsreihe von Gumlich’) täglich 0,721 bis 0,678g P im Harn ausgeschieden. Am
achten Tage wurden dazu 209g Thymusnucleinsäure mit etwa 1,748g P dem Tiere
gegeben. Infolgedessen stieg die P-Abgabe im Harn am selben Tage auf 1,460 und
betrug am folgenden Tage noch 0,874g. Erst am dritten Tage sank sie wieder
auf 0,730g herab. Der Kot wurde nicht untersucht.
Ein hungernder Hund schied täglich etwa 0,144 g P im Harne aus; bei Zufuhr
von 0,624g P in Paranuclein steigerte sich die P-Ausscheidung auf 0,586 g (Sand-
meyer'!’). Auch hier wurde der Kot-Phosphor nicht berücksichtigt.
Marcuse'') fütterte einen Hund mit Kasein und Phosphaten. Bei Zufuhr von
0,195g P in Kasein und 0,172g P in Phosphaten schied das Tier 0,031 g P im Kot
) Arch. f. d. ges. Physiol. 32, 123, 1883. — ?) Ebenda 77, 5, 1899. —
®) Miescher, Hoppe-Seylers medizinisch-chemische Untersuchungen 4 (1871);
Mieschers Histochemische und physiologische Arbeiten 2, 17. — *) Zeitschr. f.
physiol. Chem. 18, 533, 1894. — °) Hoppe-Seyler, Handb. d. physiol.-chem.
Anal. Ed. 6, 258. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 59, 224, 1894. — 7) Zeitschr. f.
physiol. Chem. 21, 443, 1895. — °) Arch. f. pathol. Anat. 152, 144, 1898. —
®) Zeitschr. f. physiol. Chem. 18, 508, 1894. — !°) Ebenda 21, 87, 1895. — !') Arch.
f. d. ges. Physiol. 67, 379, 1897.
4 m u una n u m Zn
Der Phosphor. 525
aus; bei Zufuhr von 0,321g P in Kasein und 0,189 g in Phosphaten betrug der Kot-
phosphor 0,057; also waren sowohl aus dem Kasein- als aus dem Phosphatphosphor
reichliche Mengen resorbiert worden.
Durch diese Erfahrungen war es also nachgewiesen, daß Phosphor sowohl
aus organischen als aus anorganischen Verbindungen aus dem Darme resor-
biert wird. Damit war indes bei weitem nicht entschieden, inwiefern der
Phosphor in jenem Falle auch in organischer Form ins Blut übergeht. Denn
es könnte angesichts der Leichtigkeit, mit welcher der Phosphor aus den
betreffenden Verbindungen abgespalten werden kann, sehr wohl zutreffen, daß
auch bei Zufuhr von Phosphor in organischen Verbindungen derselbe vor der
Resorption in anorganischer Form überginge.
Zur Entscheidung dieser Frage und der im nahen Zusammenhang damit
stehenden, ob der Tierkörper seine P-haltigen Eiweißverbindungen aus P-freien
Eiweißkörpern und Phosphaten bilden kann, wurden unter Röhmanns Lei-
tung mehrere Versuchsreihen an Hunden ausgeführt. Bei denselben wurde
der P-Umsatz teils bei Zufuhr von P-haltigen Eiweißkörpern, teils bei Zufuhr
von P-freien + Phosphaten untersucht.
Die Versuchsreihe von Steinitz') ergab, daß bei Fütterung mit Kasein oder
Vitellin ein P-Ansatz (0,015 bis 0,181g pro Tag) erreicht werden konnte. Wurde
dagegen das P-freie Myosin + Phosphate in entsprechender Menge gegeben, so
erschien nur ein ganz geringer P-Ansatz (0,008g pro Tag), und dieser könnte sehr
wohl dem gefütterten Fleischextrakt, welches 0,02g P in organischer Bindung ent-
hielt, entstammen.
“ In einer folgenden Reihe von Zadik?) wurde dem Versuchstiere entweder
Kasein bzw. Vitellin oder das P-freie Edestin und Phosphate gegeben. Bei gleicher
Zufuhr an Phosphor (1,01 bis 1,06g pro Tag) wurde im ersten Falle ein Ansatz
von 0,075 bis 0,108 g erzielt, im zweiten Falle verlor der Körper dagegen 0,164 bis
0,179g P, was nur zum Teil von der schlechteren Ausnutzung des Phosphatphosphors
bedingt war.
Auf Grund dieser Beobachtungen folgert Zadik, daß ein P-Ansatz nur durch
Zufuhr von organischen P-Verbindungen zuwege gebracht werden kann.
Dem gegenüber stehen aber Versuche von Leipziger‘), welche nach demselben
Plane wie die soeben genannten ausgeführt wurden, und in welchen bei Fütterung
mit Edestin 4 Phosphaten die Phosphorbilanz positiv war (+ 0,01 bis 0,09 g P
pro Tag). In bezug auf diese. Versuche bemerkt der Autor, daß der Hund vor
derselben ziemlich lange gehungert und daher an Phosphaten eingebüßt hatte,
weshalb die hier stattgefundene P-Retention nur ein Ansatz von Phosphat, nicht
von P-haltigem Eiweiß darstellen würde. Daß diese Annahme keineswegs bewiesen
ist, ist ohne weiteres ersichtlich.
Weitere Beiträge zur Lösung dieser Frage lieferte Loewi‘) in Selbstversuchen.
Zu einer aus 150g Fleisch, 120g Butter, 285g Weißbrot, 6 Eiern, 50 ccm Sahne,
300cem Wasser und 600 cem Bier bestehenden Standardkost fügte er in Zwischen-
perioden verschiedene Nucleinpräparate. Die Resultate der in einer ununter-
brochenen Reihe ausgeführten Versuche sind folgende (siehe Tabelle auf $. 526 oben).
Durch die Zugabe der Nucleine ist hier eine nicht unerhebliche Menge Phos-
phor angesetzt worden. Während der Normalperioden beträgt die tägliche P-Bilanz
durchschnittlich + 0,10 g, während der Perioden mit Zusatz von Nuclein +0,54 g.
Der Überschuß an genossenem Phosphor betrug durchschnittlich 2,71, also sind
davon etwa 25 Proz. im Körper zurückgehalten worden.
Während der Normalperioden schied der Körper im Kote durchschnittlich
0,42g P pro Tag aus, während der Nucleinzufuhr 0,66. Da die N-Menge im Kote
!) Arch. f. d. ges. Physiol. 72, 75, 1898. — ?) Ebenda 77, 1, 1899. — °) Ebenda
78, 402, 1899. — *) Arch. f. exp. Pathol. 45, 158, 1901.
526 Der Phosphor.
t. Phosphor pro Tag
k: Dauer Ein- Ausgaben 1
5 Bilanz
er nahmen | Harn Kot Summe
Tage g g g g g
1 4 1,57 1,08 0,41 1,49 + 0,08
8 1 3,09 1,63 0,61 2,24 + 0,85 30 g Salmnuclein
3 3 1,57 1,09 0,31 1,40 +0,17
4 1 2,35 1,33 0,81 2,14 +0,19 | 20g Pankreasnuclein
5 2 1,57 1,09 0,46 1,55 +0,01
6 1 2,29 1,42 0,45 1,87 +0,42 | 30g Hefenuclein
7 3 1,59 | 1,08 0,40 1,48 +01
8 1 3,11 1,65 0,77 2,42 —- 0,69 20 & Nucleinsäure
9 2 1,62 1,02 0,52 1,54 + 0,08
während der Nucleinperioden gar nicht anstieg, kann der P-Überschuß daselbst
nicht von unresorbiertem Nuclein herrühren, sondern zeigt, daß ein Teil des Nu-
cleins im Darme gespalten -worden ist. Betreffend den resorbierten Phosphor, 2,11g
pro Tag, sucht Loewi rechnerisch zu beweisen, daß derselbe in unzersetztem
Nuclein aus dem Darme aufgenommen und teilweise unverändert angesetzt worden
ist. Das Verhältnis des im Versuche angesetzten Stickstoffs zu dem angesetzten
Phosphor stimmt nämlich mit dem Verhältnis N : P in den genossenen Nucleinen
ziemlich nahe überein. Meinerseits kann ich jedoch keinen zwingenden Beweis darin
finden, und bis auf weiteres muß wohl die Frage, ob die P-haltigen Eiweißstoffe
des Körpers synthetisch gebildet werden können oder nicht, als eine offene auf-
gefaßt werden, obgleich die Möglichkeit einer solchen Synthese sehr plausibel
erscheint.
Der im Kot enthaltene Phosphor stellt ebensowenig als der Kotstickstoff
ausschließlich einen Rückstand der Kost dar, sondern stammt wesentlich aus
dem Körper selbst. Beim Hungerer Cetti fand F. Müller!) im Mittel von
zehn Tagen im Kote 0,091g P, und bei Breithaupt im Mittel von sechs
Tagen 0,062g P pro Tag. Die gleichzeitige P-Abgabe im Harn betrug bei
Cetti durchschnittlich 1,07 g (Grenzwerte 1,43 bis 0,41 g), bei Breithaupt
0,93 g (Grenzwerte 1,10 bis 0,68).
Beim hungernden Hunde sind 0,149 bis 0,028g P pro Tag beobachtet
worden ?). In einem zehntägigen Versuche von I. Munk?) betrug die P-Ab-
gabe im Harn 0,428, im Kote 0,083 g im Mittel pro Tag.
Beim Genuß einer an Phosphor äußerst armen Kost fand C. Tiger-
stedt) im Kote 0,134g P pro Tag, während die gleichzeitige P-Abgabe im
Harn durchschnittlich 0,69 g betrug. An zwei anderen Versuchspersonen
beobachtete Renwall°) im Kot 0,223 bis 0,229g P bei einer P-Ausscheidung
im Harne von 0,76 bzw. 0,749.
Die vorliegenden Bestimmungen über die P-Abgabe im Kote des Men-
schen bei gewöhnlicher, P-haltiger Kost geben höhere Zahlen, welche zwischen
etwa 0,25 (Ehrström®) und 2,9g pro Tag variieren. Diese Schwankungen
können allerdings zum Teil durch die unter verschiedenen Umständen verschie-
!) Arch. f. pathol. Anat. 131, Supplbd., 8.18, 23, 67, 1893. — ?) F. Müller,
Zeitschr. £. Biol. 20, 334, 1884. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 58, 319, 1893. —
*) Skand. Arch. f. Physiol. 16, 68, 1904. — °) Ebenda 16, 129, 1904. — °) Ebenda
14, 91, 1903.
Der Phosphor. 527
_ den große Abgabe von Phosphor in den Verdauungsflüssigkeiten (vgl. S. 350, be-
treffend die entsprechenden Erscheinungen beim Kot-N) bedingt sein, zum Teil
sind sie wohl auch von der Beschaffenheit der Kost bedingt. Endlich ist ein unter
Umständen sehr erheblicher Teil des Kotphosphors als reines Ausscheidungs-
produkt des Körpers zu bezeichnen.. Dafür spricht.vor allem die Tatsache,
daß (bei dem Hunde und der Ziege) die Phosphorausgabe im Harn durch
subeutane Einspritzung von phosphorsaurem Natrium wenig oder gar nicht
zunimmt, sowie daß während der Laktation die P-Abgabe im Kot wesentlich
abnimmt, wie im folgenden Versuche (an einer Ziege) von Paton, Dunlop
und Aitchison!).
Während der Laktation bekam das Tier täglich 2,054g P und schied durch-
schnittlich im Harn 0,022g, in der Milch 0,319 und im Kot 1,582g P aus. Nach
Ende der Laktation betrug bei einer P-Zufuhr von 1,844g die P-Abgabe im Harn
0,09, im Kot aber 1,839 g.
Ganz dasselbe geht übrigens aus der längst bekannten Tatsache hervor,
daß die Pflanzenfresser selbst bei Zufuhr von Kaliumphosphat in großen
Quantitäten im Harn nur ganz geringe Mengen Phosphor abgeben, wie z. B.
im folgenden Versuche von Bertram).
Ein Ziegenbock bekam täglich 5,902 g P, davon 4,324g in K,HPO,; er schied
im Harn nur 0,033 bis 0,097 g P aus, während der Kot 5,504 bis 5,770g P enthielt.
Das Wesentliche hierbei dürften die Lösungsbedingungen der Phosphate
im Harn darstellen: wenn diese die Ausscheidung des Phosphors auf diesem
Wege erschweren, so befreit sich der Körper durch den Darm von über-
schüssigem Phosphor. In dieser Weise würde die Erfahrung, daß Zufuhr von
Caleiumsalzen die P-Abgabe im Harn wesentlich vermindert, zum Teil wenig-
stens erklärt werden können.
In Selbstversuchen von Bertram) betrug die tägliche P-Abgabe im Kot
bei konstanter Kost 0,555 g; nach Zusatz von 10g CaCO, stieg dieselbe auf 0,769g.
In den schon erwähnten Versuchen von Tereg und Arnold‘) am Hunde schied
das Tier bei Zugabe von verschiedenen Phosphaten zum Futter in vier Versuchs-
reihen durchschnittlich 1,351 bis 2,578g P im Harn aus. Nach Zugabe von CaCO,
nahm die P-Ausscheidung aber auf 0,586g ab. z
Dementsprechend findet man beim Menschen, daß bei reichlichem Genuß von
Käse und Milch die P-Abgabe im Kot in der Regel ziemlich groß ist?°).
Daß auch die Aufsaugung des Phosphors aus dem Darme hier erschwert ist,
kann ja nicht verneint werden, es scheint indes, als ob auch eine Erschwerung
der Ausscheidung durch die Nieren eine wesentliche Rolle spielen muß.
Seit der Arbeit von E. Bischoff®) über die P-Ausscheidung bei ver-
schieden großer Fleischzufuhr ist man im allgemeinen geneigt, zwischen dem
N- und dem P-Umsatz einen gewissen Parallelismus vorauszusetzen. Ein solcher
findet indes nicht unbedingt statt, da ja die Zufuhr von Phosphor und Stick-
stoff nicht immer parallel verläuft. Zeigen ja schon die Versuche Feders’)
am Hunde, daß im Laufe des Tages kein Parallelismus zwischen der Stick-
!) Journ. of Physiol. 25, 212, 1900. — ?°) Zeitschr. f. Biol. 14, 335, 1878. —
®) Ebenda 14, 356. — *) Arch. f. d. ges. Physiol. 32, 150, 1883. — °) Vgl. Siven,
Skand. Arch. f. Physiol. 11, 312, 327, 1901; Kaufmann und Mohr, Berl. klin.
Wochenschr. 1903, Nr. 8; Dieselben, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 74, 593, 1903;
Kaufmann, Zentralbl. f. Stoffwechselkrankh. 1902, S. 241. — °) Zeitschr. f. Biol. 3,
309, 1867. — 7) Ebenda 17, 538, 555, 1881.
528 Der Phosphor.
stoff- und der Phosphorausscheidung stattfindet. Für zweistündige Perioden
betrug in einem Hungerversuche das Verhältnis N/P,O, im Maximum 9,2,
im Minimum 2,8; in einem anderen bzw. 11,0 und 3,0. In zwei Versuchen
bei Fleischfütterung war das Maximum 25,7 bzw. 14,2, das Minimum 4,2
bzw. 4,6.
Betreffend die täglichen Bilanzen des Stickstoffes und des Phosphors
findet man, der oben erwähnten Annahme gemäß, allerdings, daß beide in
der Regel parallel verlaufen, d. h. daß bei Ansatz von Stickstoff auch ein
Ansatz von Phosphor stattfindet und umgekehrt. Dies beweist aber nicht
sehr viel; da nämlich in allen gewöhnlichen Nahrungsmitteln, wo Stickstoff
vorkommt, auch Phosphor enthalten ist, und da im allgemeinen bei Ver-
änderungen des Kostmaßes dieselben Nahrungsmittel, aber in verschiedener
Menge genossen werden, so muß es ja sehr oft zutreffen, daß bei ungenügender
N-Zufuhr auch die P-Zufuhr ungenügend ist. Sehr bemerkenswert ist aber
die Tatsache, daß bei den betreffenden Bilanzen das Verhältnis zwischen dem
angesetzten bzw. vom Körper abgegebenen Phosphor und Stickstoff nie ein
konstantes ist. So finden wir in den Bilanzen von Marcuse!) P/N gleich
0,75, 0,10, 0,04, sowie eine, wo 3,25 g N angesetzt wurde, aber 0,04g Phos-
phor abgegeben wurde. Desgleichen finden wir bei Zadik?) bei einem
N-Ansatz von 5,94 g einen P-Verlust von 0,65 g.
Beim Menschen hat Siven?) folgende Bilanzen mitgeteilt:
Gesamtbilanz
Reihe | Tage N pP P/N
g g g
1 13 — 19,99 — 3,29 0,16
2 4 — 1,10 — 0,61 0,55
3a irn + 14,49 + 1,53 0,11
3b 6 | + 6,15 + 1,05 0,17
Aus diesem allen geht also hervor, daß auch bei längeren Zeitperioden
eine gewisse Unabhängigkeit zwischen dem Umsatz des Phosphors und dem
des Stickstoffs stattfindet, und der P-Umsatz dürfte daher, wie besonders
Ehrström*) bemerkt, nicht denselben Gesetzen wie der N-Umsatz folgen.
Unsere tatsächlichen Kenntnisse von den intimen Stoffwechselvorgängen sind
indes noch viel zu gering, um eine befriedigende theoretische Deutung dieses
Sachverhalts zu gestatten.
Wenn der Körper eine längere Zeit an seiner eigenen Substanz zehren muß,
so verlaufen die N- und P-Bilanzen einander im großen und ganzen parallel, wie
z. B. in der Versuchsreihe von Renwall°’), wo in vier Perioden die Verhältniszahl
P/N bzw. 0,094, 0,11, 0,085, 0,12, durchschnittlich 0,102 betrug. Bei den Hunger-
I) Zeitschr. f. d. ges. Physiol. 67, 386, 1897. — *) Arch. f. d. ges. Physiol. 77,
8, 1899. — °) Skand. Arch. f. Physiol. 11, 326, 1901; vgl. in dieser Hinsicht ferner
Jakob und Bergell, Zeitschr. f. klin. Med. 35, 171, 1898; Loewi, Arch. f. exp.
Pathol. 45, 163, 168, 170, 1901; Ehrström, Skand. Arch. f. Physiol. 14, 86, 1903;
C. Tigerstedt, Ebenda 16, 74, 1904. — *) Ebenda 14, 96, 1903; vgl. auch
L. F. Meyer, Zeitschr. f. physiol. Chem. 43, 1, 1904. — °) Skand. Arch. f. Physiol.
16, 108, 1904.
Der Phosphor. 529
versuchen an Cetti und Breithaupt war dieses Verhältnis nach Munk!) wie
Q,1 bzw. 0,085, stimmt also mit dem von Renwall beobachteten ziemlich nahe
überein. Dies scheint zu beweisen, daß die zugrunde gehende Körpersubstanz
nicht allein die Muskulatur, bei welcher P/N = 0,067, hat sein können, sondern
daß auch die Knochen hieran in nachweisbarer Menge teilgenommen haben.
Wie der Stickstoffansatz im Körper durch Fette und Kohlehydrate be-
günstigt wird, so muß auch der Phosphoransatz, wenn dieser in Form von
P-haltigen Eiweißkörpern stattfindet, durch die genannten Sparmittel erleich-
tert werden. Dies scheint nach den Erfahrungen von Pugliese?) in der
Tat der Fall zu sein.
Als Beispiel sei folgender Versuch mitgeteilt. Das Tier (eine Hündin) bekam
täglich 100g gekochtes Fleisch, 250g Brot und 600g Wasser. Die durchschnittliche
Abgabe von N und P betrug dabei 5,38 bzw. 0,407 g. Dann wurden 100g Glukose
zugegeben: Ausscheidung von N und P bzw. 4,42 und 0,236g. Desgleichen wurde
auch bei Zugabe von Fett oder Leim sowohl Stickstoff als Phosphor erspart.
Da uns nicht sicher bekannt ist, ob der Phosphor in genau derselben
Weise verwertet wird, gleichgültig, ob er in anorganischen Verbindungen oder
in phosphorhaltigen Eiweißstoffen genossen wird, ist es zurzeit nicht möglich,
zu bestimmten Resultaten, betreffend den absoluten täglichen Bedarf des
Körpers an Phosphor, zu gelangen. Aus den vorliegenden Untersuchungen
können wir daher nur entnehmen, mit welcher P-Menge das P-Gleichgewicht
in einzelnen Versuchen beim Menschen erzielt worden ist.
Beim natürlich ernährten Säugling beobachtete Blauberg°) eine positive
P-Bilanz von 0,40 g bei einer täglichen Zufuhr von 0,088g. Bei künstlicher Er-
nährung mit verdünnter Kuhmilch mit 0,314 g P betrug die Bilanz + 0,065, bei
unverdünnter Kuhmilch mit 0,894g P war die Bilanz + 0,220. Dagegen erschien
bei Anwendung von Kindermehl mit 0,202g P eine negative Bilanz von — 0,024 g.
Die absolute P-Menge im Kote betrug in diesen vier Versuchsreihen bzw. 0,0095,
0,168, 0,418, 0,149g, woraus folgt, daß der Phosphor bei künstlicher Nahrung
viel schlechter als bei der natürlichen im Darme des Säuglings ausgenutzt wird,
sowie daß der P-Ansatz bei unverdünnter Kuhmilch viel größer ist als bei der
natürlichen Nahrung, was von Blauberg als Zeichen einer Überernährung auf-
gefaßt wird. N
Beim erwachsenen Menschen sind die Grenzen der P-Abgabe im Harn bei
P-Zufuhr etwa 0,43 und 2,74g. Wenn der Körper wegen einer zu geringen P-Zu-
fuhr bei sonst ziemlich genügender Nahrung von seinem eigenen Phosphor zusetzen
muß, so ist die P-Abgabe im Harn sehr gering, z. B. 0,43 bis 0,44 bei Siven, 0,65
bis 0,73 bei C. Tigerstedt. Auch in einer nach absolutem oder relativem P-Mangel
folgenden Periode ist bei stattfindendem P-Ansatz die P-Abgabe sehr gering, bei
Siven 0,88, bei C. Tigerstedt 0,91. Zahlen dieser Größe dürften indes nur das
Bestreben des Körpers ausdrücken, den Phosphor so viel wie möglich zu ersparen
und sind daher für den wirklichen Bedarf nicht maßgebend.
Bei positiver Bilanz hat in den Beobachtungen von Bertram, Siven,
Loewi, Kaufmann und Mohr, Jakob und Bergell, Ehrström, C. Tiger-
stedt und Renwall die P-Abgabe im Harn im allgemeinen zwischen 0,74 und
2,74g — also innerhalb ziemlich weiter Grenzen — variiert. Wenn wir die ein-
zelnen Beobachtungen aber näher durchsehen, so finden wir die niedrigsten Zahlen
(0,74 bis 1,16) bei zwei Kranken, an welchen Kaufmann und Mohr eine sehr
energische Mastkur durchführten; dieselben können daher kaum als Ausdruck des
normalen Bedarfs gelten. Die höchsten Zahlen (1,96 bis 2,74g) sind gleichfalls
') Arch. f. pathol. Anat. 131, Supplbd., 8. 141, 1893; Arch. f. d. ges. Physiol.
63, 330, 1894. — ?) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1897, 8. 474. — °) Zeitschr. f.
Biol. 40, 1, 36, 1900.
Nagel, Physiologie des Menschen. I . 34
530 Der Phosphor.
von den soeben genannten Autoren mitgeteilt und beziehen sich auf einen an
Gicht leidenden Mann bei sehr P-reicher Kost (3,69 bis 5,37 g P täglich). Alle
übrigen mir bekannten Versuche mit positiver P-Bilanz geben Zahlen, welche
zwischen 1,06 und 1,75g pro Tag liegen. Auch die Beobachtungen mit negativer
P-Bilanz bei sonst genügender Nahrung geben Zahlen von etwa der gleichen Größe,
1,04 bis 1,53 g.
Wir dürften daher schließen können, ‘daß bei einer gewöhnlichen Kost,
welcher keine Phosphate extra zugegeben worden sind, die P-Abgabe im
Harn im allgemeinen etwa 1,5g pro Tag beträgt.
Um den tatsächlichen Bedarf des Körpers zu decken, muß hierzu noch
die durch die Darmsekrete usw. abgegebene P-Menge hinzugezählt werden.
Nach den oben mitgeteilten Beobachtungen schwankt diese Menge innerhalb
gewisser Grenzen, dürfte aber durchschnittlich doch nicht mehr als etwa 0,4g
täglich betragen. Der tägliche P-Umsatz des erwachsenen Menschen würde
demnach auf etwa 1,75 bis 2,0 g oder wahrscheinlich etwas weniger geschätzt .
werden können. Die Zufuhr muß indessen wegen der mangelhaften Aus-
nutzung im Darme, wie selbstverständlich, etwas größer sein.
$5. Calcium und Magnesium.
a) Calcium.
Daß sowohl Caleium als Magnesium in anorganischen Verbindungen resorbiert
werden können, geht daraus hervor, daß die Abgabe derselben im Harn nach
Darreichung von Ca- und Mg-Salzen unter geeigneten Umständen ansteigt. So
beobachtete Neubauer') bei vier jungen Leuten nach Darreichung von ver-
schiedenen Ca-Salzen in Mengen von 1g eine Zunahme der Ca-Abgabe im Harn
um 0,04 bis 0,09g. Nach Zugabe von 8 bis 10g CaCO, stieg in zwei Versuchen
von Soborow?) die Ca-Abgabe im Harn von durchschnittlich 0,289 g auf 0,702
bzw. 0,983g an, um während der zwei folgenden Tage wieder auf 0,315 bzw. 0,290
herabzusinken. Nach Aufnahme von 30g CaCO, vermehrte sich in den Versuchen
Bertrams?) die Ca-Ausscheidung von 0,12 auf 0,21g pro Tag.
Bei einem Hunde betrug die durchschnittliche Ca-Abgabe im Harn 0,019 g;
als das Tier dann während drei Tage in allem 7,19g CaCl, bekam, betrug die
Ca-Abgabe im Harn 0,034, 0,063, 0,089 g; während der folgenden drei Tage war
sie wieder durchschnittlich 0, 023g (Perl ge
Noch deutlicher zeigt sich diese Resorption von Kalksalzen in den Versuchen
von E. Voit°’) an zwei zehn Tage alten Hündchen. Er fütterte die Tiere mit der
gleichen Menge Fleisch und Speck, gab aber dem einen dazu nur destilliertes
Wasser, während das andere kalkhaltiges Brunnenwasser und Knochenasche bekam.
Beide Tiere nahmen an Gewicht zu, und selbst bei dem mit dem kalkarmen Futter
ernährten Tiere wuchs das Skelett in allen Dimensionen, es war aber bei diesem,
wie die Sektion ergab, ein viel geringerer Kalkansatz als bei dem Vergleichstiere .
zustande gekommen. Also war Calcium aus dem Brunnenwasser und der Knochen-
asche reichlich resorbiert worden. Aus dem Versuche folgt ferner, daß ein wach-
sender Hund in den genannten Nahrungsmitteln die genügende Ca-Menge nicht
bekommt, während andererseits aus einer 308 Tage langen Versuchsreihe von
Heiss‘) hervorgeht, daß der Kalkgehalt im Fleisch und Speck beim erwachsenen
Tiere vollkommen genügt, um das Ca-Gleichgewicht zu unterhalten.
!) Journ. f. prakt. Chem. 1866, 8. 96. — ?°) Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1872,
S. 609. — °) Zeitschr. f. Biol. 14, 354, 1878. — *) Arch. f. path. Anat. 74, 54,
1878; vgl. auch Tereg und Arnold, Arch. f. d. ges. Physiol. 32, 142, 1883;
Herxheimer, Berl. klin. Wochenschr. 1897, Nr. 20. — °) Zeitschr. f. Biol. 16
74, 1880. — °) Ebenda 12, 151, 1876.
Calcium. 531
Wegen der alkalischen Reaktion des Blutes ist indes eine quantitativ
ausgiebige Resorption von Ca-Salzen nicht möglich, und es ist sehr wahr-
scheinlich, daß der Kalk (in Phosphaten wenigstens) nur in Form einer bei
alkalischer Reaktion nicht fällbaren Eiweißverbindung im Blute vorkommt
(Kühne!), Etzinger?), Fokker’). Man kann sich vorstellen, daß das
Eiweiß seine Affinitäten mit Ca sättigt und nach Bedarf das Calcium abgibt,
wonach wiederum neue Ca-Moleküle eintreten. Bei reichlicher Zufuhr von
Kalk würden Ca-reichere Eiweißverbindungen entstehen.
In Übereinstimmung mit dieser Auffassung steht die Tatsache, daß der
Gehalt des Blutes an Ca ein ziemlich konstanter ist, und zwar beträgt der-
selbe nach Forster) und E. Voit5) bei erwachsenen Tieren etwa 0,05 Proz.
der Trockensubstanz; bei jüngeren Tieren ist er größer, z. ‚Be bei einem eine
Woche alten Hunde dien 0,1 Proz. usw.®).
Wenn es also als erwiesen erachtet werden kann, daß die anorganischen °
Kalkverbindungen resorbiert werden, so geht andererseits aus den vorliegenden
Erfahrungen hervor, daß diese Resorption im großen und ganzen eine ziemlich
geringfügige sein muß. In dieser Richtung sprechen z. B. Etzingers’) Versuche
über Knochenfütterung. Im Laufe von drei Tagen bekam der Versuchshund in
fein geraspelten Knochen 104g Ca und schied in dem entsprechenden Kote
113,6g Ca aus. — Nach Zusatz von 7,199g CaCl, mit 3,2g Ca fand Perl?) in
einem viertägigen Versuch 3,3g Ca im Kote, 0,84g bei gewöhnlicher Fütterung
gegenüber. — In einer langen Versuchsreihe bekamen Tereg und Arnold’)
folgende Resultate, welche tägliche Mittelwerte für die Ca-Abgabe während
Perioden von je vier Tagen darstellen.
Ausgabe
Nr. | Zufuhr Anmerkungen
Harn Kot
0,557 0,032 1,046 Hundekuchen
3,670, 0,072 3,542 3,113 g Ca in dreibasischem Phosphat
3,347 0,038 3,254 2,792g Ca in zweibasischem Phosphat
1,357 0,057 1,328 0,536 bis 1,071g Ca in einbasischem Phosphat
4,552 0,113 3,075 4,000g Ca in Karbonat
0,103 0,014: 0,071 | Fleisch
0,639 0,044 0,528 0,536 g Ca in einbasischem Phosphat
S1outP» XD -
F. Voit!?) gab einem Hunde Milch und dreibasisches Phosphat mit insgesamt
4,152 g Ca und tötete das Tier nach vier Stunden. Im Verdauungsrohre konnten
4,082 g davon nachgewiesen werden. An isolierten Darmschlingen bekam derselbe
Autor bei Injektion von 0,016g Kalk in Kalkalbuminat gar keine Resorption und
bei 0,10g Ca in Kaseinkalk nur eine von weniger als 6 Proz. Nach Einführen
von 0,12g Ca als CaCl, war aber 0,04 g, d. h. etwa 34 Proz. aus der Schlinge ver-
schwünden. Voit bemerkt indes, daß die Darmschleimhaut hier leicht entzündet
war und daß also die benutzte Lösung in einem gewissen Grade den Darm
geätzt hätte.
Es wäre indes im höchsten Grade unrichtig, aus diesen und anderen
Erfahrungen über den Kalkgehalt des Kotes bzw. des Darminhaltes Schluß-
!) Kühne, Lehrb. d. physiol. Chem. 1866, 8. 184. — ?) Zeitschr. f. Biol. 10, 104,
1874. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 7, 274, 1873. — *) Zeitschr. f. Biol. 12, 466,
1876. — °) Ebenda 16, 91, 1880. — °) Vgl. auch F. Voit, Ebenda 29, 386, 1892.
— 7) Zeitschr. f. Biol. 10, 99, 1874. — °) Arch. f. path. Anat. 74, 62, 1878. —
®) Arch. f. d. ges. Physiol. 32, 122, 1883. — !°) Zeitschr. f. Biol. 29, 367, 1892.
34*
532 Calcium.
folgerungen über die quantitativen Verhältnisse der Kalkresorption zu
ziehen, denn es hat sich durch vielerlei Erfahrungen herausgestellt, daß der
Kot die größte Menge des vom Körper selber ausgeschiedenen Kalkes ent-
hält. Der Vergleich zwischen der Kalkzufuhr in der Nahrung und der Kalk-
ausgabe im Kote gibt daher keinen sicheren Aufschluß über die Größe der
tatsächlichen Kalkresorption ab.
Als Beweisgründe für diese Auffassung haben wir in erster Linie die
Tatsache, daß selbst beim Hunger Kalk durch den Darm abgegeben wird.
Beim zehntägigen Hungerversuch an ÖOetti und beim sechstägigen Hunger-
versuch an Breithaupt schieden diese bzw. 0,069 und 0,032g Ca pro Tag
aus (F. Müller!). Beim hungernden Hunde hat man im Kote bis zu
0,308 g Ca?) und bei der hungernden Katze?) 0,011g Ca pro die gefunden.
Ferner hat F. Voit*) bei Hunden mit nach Hermann isolierten Darmring
. (vgl. 8.347) in diesem eine Kalkausscheidung beobachtet, die, pro Tag und
Quadratmeter Darmoberfläche berechnet, 0,09 bis 0,16 g Ca betrug.
Wenn der Kalkgehalt der Nahrung unzureichend ist, um den Bedarf des
Körpers an Ca zu decken, findet man nicht selten, daß die Kalkmenge im Kote
größer ist als die gefütterte Kalkmenge. Beispiele davon sind schon oben mit-
geteilt worden, und ich will nur nach Renwall5) noch folgende Erfahrungen
am Menschen hinzufügen. Die zwei Versuchspersonen genossen täglich 0,121
bzw. 0,090 g Ca und gaben im Kot 0,163 bzw. 0,165g Ca ab. Da die von
diesen Individuen genossene, kalkarme Kost pro Tag etwa 2500 bzw. 2000 Kal.
betrug, dürften diese Zahlen als ein approximatives Maß der vom Körper in
den Darm usw. ausgeschiedenen Kalkmengen aufgefaßt werden können.
Als Quelle dieser Kalkabgabe kommen teils die Verdauungsflüssigkeiten,
teils zugrunde gegangene Darmepithelien, teils eine vom Verdauungsgeschäft
unabhängige Ausscheidung in Betracht. Betreffend die ersteren weiß man,
daß die Galle nur wenig Kalk enthält (Jankau®); auch der Magensaft
ist nicht besonders reich an Kalk, denn nach C. Schmidt?) enthält er nur
0,092g CaCl, pro Liter.
Da wir uns ferner vergegenwärtigen, daß in den Verinshen von F. Voit
der Hungerkot, pro lqm der Darmoberfläche berechnet, nicht mehr Kalk als
die im isolierten Darmring pro Quadratmeter ausgeschiedene Masse enthielt,
so dürfte man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit schließen können, daß
der vom Körper selber stammende, im Kot abgegebene Kalk zum größten Teil
entweder in den Darmsaft sezerniert wird oder ein direktes Ausscheidungs-
produkt darstellt.
Bei verschiedenen Tieren ist der vom Körper ausgeschiedene Kalk, wie
aus folgender Zusammenstellung hervorgeht, in sehr verschiedener Weise
auf den Harn und den Kot verteilt. Ich bemerke, daß hier nur solche Ver-
suche aufgenommen wurden, bei welchen keine Extrazugabe von Kalk zu
der Kost stattgefunden hat.
!) Arch. f. pathol. Anat. 131, Supplbd., S. 18, 67, 1893. — ?) F. Müller,
Zeitschr. f. Biol. 20, 334, 1884; F. Voit, Ebenda 29, 364, 1892; I. Munk, Arch.
f. d. ges. Physiol. 58, 325, 1894. — °) Sedlmair, Zeitschr. f. Biol. 37, 56, 1899.
— *) Ebenda 29, 362, 371, 1892. — °) Skand. Arch. f. Physiol. 16, 129, 1904;
vgl. auch Bertram, Zeitschr. f. Biol. 14, 342, 1878 (Ziege). — °) Arch. f. exp.
Pathol. 29, 237, 1891. — 7) Vgl. Scheteling, Arch. f. path. Anat. 82, 437, 1880.
Caleium. 533
Die prozentige Verteilung
des Kalkes auf
Tierart Autor
Harn Kot
N Re 41,8 58,2 Bertram!)
NER 2 60,9 39,1
RETTEN 64,3 35,7
£ 29,1 70,9 Renwall?)
VRR ERSETZEN 36,1 63,9
A A A 25,4 74,6
Säugling, natürliche Nahrung . 31,9 68,1
5 Kukmich 217.2,3227727% 2,2 97,8 Blanb P
# Kindermehl. ... . 9,5 90,5 auberg‘)
R Kohmilch Au. 1,4 98,6
N 20,6 79,4 Perl‘)
a en Sen 3,0 . 97,0 R
en 0 0:7 18,0 82,0 } FRE EREOIET
ET 29 EIER TE 27,2 72,8 Heiss®)
Biogenhock: =. sets. 4,8 95,2 Bertram’)
Hanna. a. een ae, 4,1 95,9 Henneberg‘)
na ER N 40,3 59,7
NT CE In ale 3 39,2 60,8
n | ’ ’
En | 320 68,0 Tangl')
Re 1: ee | 29,2 | 70,8
Beim erwachsenen Menschen enthält der Harn also etwa 25 bis 64 Proz..,
beim natürlich ernährten Säugling etwa 32 Proz. der gesamten Kalkabgabe,
während sie beim künstlich ernährten Säugling nur etwa 2 bis 10 Proz.
derselben ausmacht. Beim Hunde beträgt die im Harn ausgeschiedene
Ca-Menge etwa 18 bis 27 Proz. (mit Ausnahme einer ganz aus der Reihe
fallenden Zahl). Beim Ziegenbock und Hammel werden nur 4 bis 5 Proz.
des Kalkes durch die Nieren abgegeben. Demgegenüber sind die Zahlen für
die Kalkabgabe im Harn des Pferdes, 29 bis 40 Proz., sehr hoch.
Diese Differenzen sind zum Teil von einer verschieden umfangreichen Re-
sorption im Darme bedingt, wie z. B. daraus hervorgeht, daß der Kot-beim künst-
lich ernährten Säugling 0,41, 0,09 und 0,81g Ca bei einer Zufuhr von bzw. 0,54,
0,07 und 1,44g enthielt, während im Versuche am natürlich ernährten Kinde der
Kot bei einer Zufuhr von.0,19g Ca nur 0,05g enthielt.
Es ist indes nicht möglich, diese Verschiedenheiten allein aus dem Gesichts-
punkte einer verschieden umfangreichen? Resorption zu erklären, denn auch die
Leistungsfähigkeit der Nieren und die Lösungsbedingungen des Harnes für die
Kalksalze müssen hierbei eine große Rolle spielen. Hier wie beim Phosphor muß
der Darm, wenn die Ausscheidung durch die Nieren nicht in genügendem Umfange
stattfinden kann, die Abgabe des Calciums in einem größeren Umfange besorgen.
!) Zeitschr. f. Biol. 14, 354, 1878. — ?) Skand. Arch. f. Physiol. 16, 114, 1904. —
®) Zeitschr. f. Biol. 40, 1, 36, 1900. — *) Arch. f. pathol. Anat. 74, 54, 1878. —
°) Arch. f. d. ges. Physiol. 32, 125, 155, 1883. — °) Zeitschr. f. Biol. 12, 156, 1876. —
7) Ebenda 14, 337, 1878. — ®) Zit. nach Bertram, a. a. O. — °) Arch. f. d. ges.
Physiol. 89, 227, 1902.
534 Magnesium.
b) Magnesium.
Die bis jetzt vorliegenden Angaben über die Resorption und Ausscheidung des
Magnesiums sind noch spärlicher als die über das Calcium.
Die Resorption des Magnesiums scheint, beim Hunde wenigstens, leichter als die
des Calciums zu erfolgen. In dem 308 Tage dauernden Versuch von Heiss!)
schied der Versuchshund bei einer Gesamtaufnahme von 12,4g Mg im Kot nur
4,12g aus, während von 9,81g Ca nicht weniger als 7,14g im Kote wieder er-
schienen.
Übrigens gilt auch vom Magnesium, daß es unabhängig von der Nah-
rung in einer gewissen Menge vom Körper im Darm abgegeben wird. Bei
den Hungerern Cetti und Breithaupt fand F. Müller?) im Kote durch-
schnittlich pro Tag 0,006 bzw. 0,01g Mg. Im Hungerkot des Hundes hat
man im Mittel pro Tag 0,009 bis 0,028g Mg beobachtet?). — Bei einer
Kost, die nur 0,031 bzw. 0,023 g Mg enthielt, schieden zwei Menschen 0,064
bzw. 0,067 g Mg im Kot aus (Renwall®).
Wie sich die Mg-Ausscheidung bei verschiedenen Tierarten auf den Harn
und den Kot verteilt, ist aus folgender Tabelle ersichtlich 5).
Die prozentige Verteilung
Tierart des Magnesiums auf Autor
Harn Kot
Mensch 3.402 Mas, Be 38,6 61,4 Bertram
R ARE E LRRIE 32,7 67,3
EV ER 28,9 71,1
= I ERE TS EORERE Ber 37,0 63,0 7 Benwall
. N NEE 36,3 63,7
e ee RE 36,2 63,8
Säugling, natürliche Nahrung . 47,1%, 52,9
e Kuhmillhn a nr 6,9 93,1 Blauber
Kindermehl.. . . . . 5,3 94,7 Sg
R Kuhmilch ,....% 4 28,3 71,7
HRG en era ee 64,8 35,2 Heiss
FRRKENDOCKT er er ee ee 31,5 68,5 Bertram
Hammel ang: 23,7 76,3 Henneberg
PRO ie 30,0 70,0
a RR 30,3 69,7
en EN 23,7 76,8 Tang]
DR a a 25,1 74,9
Wenn es gestattet ist, aus so wenigen Beobachtungen Schlußfolgerungen
zu ziehen, so würden wir sagen können, daß sich die Ausscheidungsbedin-
gungen des Magnesiums im Harn im großen und ganzen günstiger als die
des Calciums gestalten. Es kommt indes auch vor, daß, wie bei Renwalls
Versuchen am Menschen und Tangls am Pferde, die Ca-Ausscheidung im
Harn in Prozenten der Gesamtausscheidung größer als die des Magnesiums ist.
!) Zeitschr. f. Biol. 12, 164, 1876. — ?) Arch. f. path. Anat. 131, Supplbd., 8. 18,
67, 1893. — ®) F. Müller, Zeitschr. f. Biol. 20, 334, 1884; I. Munk, Arch. f. d.
ges. Physiol. 58, 325, 1894. — *) Skand. Arch. f. Physiol. 16, 129, 1904. —
®) Literatur siehe 8. 533.
en Ka
ee ee ee ee
Calcium und Magnesium. 535
c) Bilanzversuche über Calcium und Magnesium.
Solche liegen überhaupt nur in geringer Zahl vor; unter diesen sind die
mir bekannten, insofern sie sich auf den gesunden erwachsenen Menschen
beziehen, in folgender Tabelle zusammengestellt (siehe Tabelle 1 auf folgen-
der Seite).
An fiebernden Kranken und an Rekonvaleszenten hat ferner Gramatchikow')
viele Bilanzversuche über Ca und Mg ausgeführt, und außerdem liegen ja solche
Versuche betreffend die Rachitis vor. Da indes diese Beobachtungen entschieden
in das Gebiet der Pathologie gehören, so können sie hier nicht erörtert werden.
Irgend welche bestimmte Folgerungen hinsichtlich des tatsächlichen Be-
darfes des erwachsenen Menschen an Calcium und Magnesium lassen sich
kaum aus diesem Material ziehen. Aus den Beobachtungen Bertrams wäre
zu schließen, daß der tägliche Bedarf an Ca etwa 0,3g betragen würde.
Bei Renwall trat aber das Ca-Gleichgewicht erst. bei einer etwa dreimal so
großen Ca-Zufuhr (durchschnittlich 0,860 g) ein. Jedenfalls ist der tägliche
Bedarf nicht größer als 1g Ca; aller Wahrscheinlichkeit nach dürfte er
sogar etwas geringer sein.
Sowohl aus Bertrams als aus Renwalls Bilanzversuchen geht hervor,
daß Mg-Gleichgewicht bei einer Zufuhr von 0,4 bis 0,5g Mg beim erwach-
senen Menschen erreicht wird.
Daß der noch wachsende Körper einen verhältnismäßig größeren Bedarf
an Ca und Mg hat, ist selbstverständlich. Zur Feststellung desselben besitzen
wir folgende Bilanzversuche von Blauberg?) (siehe Tabelle 2 auf folgen-
der Seite).
Aus Nr. 2 und 3 ist ersichtlich, wie schlecht die Kuhmilch im Darme
des Säuglings ausgenutzt wird; daher und aus anderen Gründen muß wohl
die sub 1 aufgenommene Bilanz als die dem Tatbestande am meisten ent-
sprechende aufgefaßt werden. Aus derselben folgt, daß der Ca-Bedarf des
fünfmonatlichen Säuglings, wenn es nur gilt, die Ausgaben zu decken, 0,069 g
beträgt. Hierzu kommt aber noch die zum Ansatz notwendige Ca-Menge.
Diese beträgt im betreffenden Versuche 0,125g pro Tag, d. h. nicht weniger
als 64 Proz. der Gesamtzufuhr.
Über die Ca- und Mg-Abgabe im Harn allein finden sich in der hierher-
gehörigen Literatur noch viele Angaben vor. Da sie indessen keine Aufschlüsse
über den Bedarf des Körpers an diesen Substanzen liefern und also von nahrungs-
physiologischem Gesichtspunkte ohne weitere Bedeutung sind, finde ich es nicht
angezeigt, dieselben hier zu besprechen. Im allgemeinen ‚hat man aus denselben
den Schluß gezogen, daß MgO im Harn reichlicher vorkomme als CaO, und Ham-
marsten faßt in seinem Lehrbuche (4. Aufl., S. 483) die vorliegenden Erfahrungen
dahin zusammen, daß von der Menge der täglich ausgeschiedenen Erdphosphate
annähernd zwei Drittel auf das Magnesium- und ein Drittel auf das Caleiumphos-
phat kommen. Dies ist aber, wie aus den oben mitgeteilten Bilanzversuchen
hervorgeht, keineswegs immer der Fall. Übrigens scheint das gegenseitige Ver-
hältnis des Ca und Mg wesentlich von der Art der Nahrung und deren Gehalt an
Erdmetallen abhängig zu sein. So fand Bunge°) bei Fleischdiät im Harn 0,24 g Ca
und 0,17g Mg, bei vegetabilischer Diät dagegen 0,24g Ca und 0,08g Mg.
!) Zit. nach Atwater und Langworthy, A Digest of metabolism experi-
ments. Washington 1897, p. 189 ff. — ?) Zeitschr. f. Biol. 40, 1, 36, 1900. —
®) Bunge, Lehrb. d. physiol. Chemie, 1. Aufl. Leipzig 1837, 8. 311.
‘5061 '8TI ‘TIT ‘gE TowÄyg F pay "pueyg („ — ‘8281 ‘see ‘FI TOIE 3 Ty0s4R0Z ($
210°0+ | 8200 930°0 %20'0 060°0 | 099°0-+ | 238‘0 a ) 3100 LB# 1 * yaunmp-IoA Jyoru ‘yaprugny 12
sT00— | 3200 890°0 F00°0 2800 | se0°0— | FoT'O #60°0 070°0 BWO. | * "7 99.20 RanapN 18
6100 + | 3700 680°0 £00'0 1900 | oımto-+ | 2zzro L1H0 010°0 Lee‘0 " .°, yaumpıeA ‘yomyny °
010°0-+ | 8100 010°0 800°0 8300 | szr’o+ | 690°0 170°0 3300 #610 rn gOTTWUONeLT I
3 3 3 3 3 FR) 3 3 3 3
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A
3 9g0°0+ | 69«‘0 868°0 1,1°0 sz9‘0 | Too + | 6Trt 038°0 609°0 0L#°T " (on®9 ur ed +0) 9
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Ö 17004 | scro 9380 3g1T'0 66H || 2100 — | 9860 188°0 s64‘0 606°0 ae ae
ö er00 — | «8zr0 983°0 6ET‘0 zır/0 | 82000+ | 2880 g38°0 L208°0 098°0 ee
100°0-+ | zero 683°0 861°0 serio | F6rio+t | 620% 998‘E E18'0 g137 “7. (00% 308) 8
(‚weagıo 21004 | 9370 993'0 09T‘0 ser‘o || 2000 — | 2280 602°0 8900 g13'0 re (REN
N a R soımesusuormz 30F) €
18004 | 210 L33'0 091‘0 ser0 | 0700 — | 870 99T'0 61T‘o g13'0 AT NT
3 3 3 3 3 3 3 3 3 3 odeL
euumng 304 uleH | vowyeu surumg 304 uleH | wwuyeu
zuejtel 2 zuepeg 3 oporıod
IE usgeösny und usgeösny ud 3
-SyOnsIaA I9p Ioneq
«o Se] od SW Se, od eg
Dr) | :
Ne)
EIPTEL
[Das Eisen. 537
Nähere Aufschlüsse über den Ca- und Mg-Stoffwechsel können wir nur dann
erhalten, wenn wir denselben unter Einwirkung einer verschieden zusammen-
gesetzten Diät und unter gleichzeitiger Beachtung der übrigen Asehebestandteile
untersuchen. Die wenigen bis jetzt vorliegenden Angaben gestatten es bei weitem
nicht, tiefer in das Wesen desselben einzudringen.
$6. Das Eisen.
Betreffend die Ausscheidung des Eisens ergeben zahlreiche Erfahrungen,
daß dasselbe nur in sehr geringer Menge durch den Harn abgegeben wird,
und zwar beträgt sie beim gesunden Menschen durchschnittlich nur etwa
0,001 g!).
Andererseits findet sich auch bei vollständigem Meran immer etwas
Eisen im Kot. So fand Müller) bei Cetti durchschnittlich 0,007 und bei
Breithaupt durchschnittlich 0,008g Eisen. Bei Succi betrug die tägliche
Fe-Abgabe bei seinem Wiener Versuch durchschnittlich 0,007g (E. und
0. Freund?).
Ganz entsprechende Resultate hat man auch beim Hunde bekommen.
An einem nach Hermann hergestellten Darmring (vgl. oben S. 347) wurde,
pro Quadratmeter berechnet, täglich 0,006 bis 0,009g Eisen ausgeschieden ;
bei einem hungernden Hunde enthielt der Kot täglich 0,010g Eisen, was
ebenfalls 0,006g pro Quadratmeter Darmoberfläche entspricht (F. Voit®).
— Ein Hund, den Forster’) mit Fleischrückständen fütterte, schied binnen
38 Tagen mit dem Kot allein 2,66g mehr Eisen aus, als er im Futter zu
sich nahm (Einnahme insgesamt 0,93 g Fe, im Kot insgesamt 3,59 g Fe) usw.
Wenn eisenhaltige Nahrung verabreicht wird, steigt die Fe-Menge im
Harn äußerst wenig oder gar nicht an, während die Eisenabgabe im Kot
entsprechend der Zufuhr beträchtlich ansteigt.
.
E. W. Hamburger‘) fütterte einen 8 kg schweren Hund teils mit Fleisch allein,
teils mit Fleisch und Eisensulfat. Vor der Fütterung !mit diesem betrug die täg-
liche Fe-Aufnahme 0,015g, Ausgaben im Harn 0,0035 g, im Kot 0,0114g Fe, also
im Kot dreimal so viel Eisen als im Harn. Bei Zugabe von Eisensulfat war die
tägliche Fe-Aufnahme 0,064g, sowie während einer viertägigen Nachperiode mit
Fleisch allein wiederum 0,015g. Für die ganze Reihe von 13 Tagen wurden durch-
schnittlich 0,00455g Fe im Harn und 0,0422g Fe im Kot ausgeschieden. Die
Fe-Abgabe im Harn war also nur um 0,001 g gestiegen.
Aus diesen Tatsachen folgt entweder, daß das in anorganischen Ver-
bindungen enthaltene Eisen aus der Nahrung nur in sehr geringem Maße
resorbiert wird, oder auch, daß es nach vorgängiger Resorption zum aller-
größten Teil durch den Darm wieder ausgeschieden wird.
Die in erster Linie erwähnte Auffassung wurde besonders von Bunge’)
vertreten, und er suchte nachzuweisen, daß das Eisen nur in Form kompli-
!) Vgl. Stockman u. Greig, Journ. of Physiol. 21, 55, 1897; Neumann,
Zeitschr. f. pbysiol. Chemie 37, 143, 1902; v. Wendt, Skand. Arch. f. Physiol. 17,
131, 1905; Gottlieb, Arch. f. exp. Path. 26, 138, 1889. — ?) Arch. f. path. Anat.
131, Suppibd., S. 18, 67, 1893. — °) Wiener klin. Rundschau 1901, 8. 93. —
*) Zeitschr. f. Biol. 29, 389, 1892; vgl. auch F. Müller, Ebenda 20, 336, 1884. —
®) Ebenda 9, 376, 1873. — *®) Zeitschr. f. physiol. Chem. 2, 191, 1878. Daselbst auch
die ältere Literatur. — 7) Zeitschr. f. physiol. Chemie 9, 49, 1885; vgl. auch
Bunge, Ebenda 26, 36, 1898 und Socin, Ebenda 15, 93, 1891.
538 Das Eisen.
zierter organischer Verbindungen (Hämatogene) resorbiert und assimiliert
wird. Der günstige Erfolg der Eisenmedikation bei der Chlorose sei dadurch
bedingt, daß die anorganischen Eisenverbindungen in irgend einer Weise die
organischen vor der Zersetzung im Darm und vor der Abspaltung ihres
Eisens bewahrten. ;
Bunges Arbeit veranlaßte eine große Menge Untersuchungen, welche
bezweckten, die Frage nach der Resorption und Assimilation des Eisens in
anorganischen Verbindungen näher aufzuklären.
Von vornherein war es ziemlich klar, daß Ausnutzungsversuche nur bei
stattfindender Eisenretention im Körper bestimmte Schlüsse gestatten würden.
Tatsächlich finden sich in der hierher gehörigen Literatur einige Arbeiten,
welche dies dartun.
So beobachtete Marfori!) unter Anwendung eines künstlich dargestellten
Eisenalbuminats, daß etwa 50 Proz. desselben resorbiert wurden. Allerdings konnte
er keine Resorption von Eisenlaktat nachweisen; er bemerkt indessen, daß aus an-
organischen Eisenpräparaten und Eiweiß dem Fe-Albuminat entsprechende Verbin-
dungen im Darme gebildet werden könnten.
An einem Mädchen mit Fistel am Ileum fand Honigmann°) im Darminhalt
bei gewöhnlicher Kost täglich 0,0319g Fe; bei Zugabe von 0,4166g Fe im Ferrum
eitrat. oxydat. betrug die Fe-Menge des Kotes 0,1097 g — also waren vom Eisen-
salz 0,3069 g Fe resorbiert worden.
In der letzten Zeit hat v. Wendt) in Selbstversuchen folgende Bilanzen
erhalten. Am 3. und 4. Tage wurde 0,10 9 bis 0,09 g Fe als Karbonat aufgenommen.
| Eisen in Eisen im Bil
anz
Tag der Kost Ham Kot
g g 8 g
y 1 0,008 0,001 0,008 — 0,001
2 0,011 0,001 0,008 0,002
3 0,111 0,001 0,048 10,062
4 0,100 0,001 0,048 0,051
5 0,010 0,001 0,048 — 0,038
6 0,015 0,001 0,010 40,004
Ferner hat man den Eisengehalt der Organe bei Tieren untersucht,
denen anorganisches Eisen im Futter gegeben worden ist, und denselben mit
dem Eisengehalt solcher Tiere verglichen, die eine eisenarme Nahrung be-
kommen hatten. Bei solchen Versuchen konnte Kunkel) an weißen Mäusen
konstatieren, daß Liquor ferri oxychlorati die Eisenmenge der Organe be-
trächtlich in die Höhe treibt, und zwar sammelt sich das Eisen hierbei ganz
besonders in der Leber. Ganz dasselbe beobachtete Hall’) am gleichen
Versuchsobjekt bei Fütterung mit Carneferrin (ohne Carneferrin 0,420 g Fe,
nach viertägiger Fütterung mit Carneferrin 0,830g Fe pro Kilogramm
Körpergewicht) und Woltering ®) mit Ferrosulfat.
!) Arch. f. exp. Pathol. 29, 212, 1892. — °) Arch. f. pathol. Anat. 152, 191,
1898. — °) Skand. Arch. f. Physiol. 17, 287, 1905. — *) Arch. f. d. ges. Physiol. 50,
1, 1891. — °) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1894, S. 455; daselbst auch eine ausführ-
liche Literaturübersicht. — °) Zeitschr. f. physiol. Chem. 21, 186, 1895.
Das Eisen. : 539
Noch deutlicher stellte sich das Vorhandensein der Eisenresorption durch
den mikrochemischen Nachweis von Eisen in der Schleimhaut des Darmes
dar, wie er von Mac Callum!), Hall?), Hochhaus und Quincke?),
Gaule®), Hofmann’), Swirskie), Abderhalden’'), H. Landau), Tar-
takowsky°) und anderen erbracht wurde.
‘Nunmehr gibt selbst Bunge die Resorption anorganischer Eisenverbin-
dungen, und zwar auch in kleinen, medikamentösen Gaben zu. Auf der
anderen Seite wird aber noch die Ansicht vertreten, daß das Eisen in dieser
Form nicht zur Hämoglobinbildung verwertet werden könne, und daß also
das Hämoglobin nur aus den Hämatogenen entstehen würde.
Die einschlägige Literatur ergibt in dieser Hinsicht unter anderem
folgendes.
Abderhalden!®) fand, daß das in der Normalnahrung, ebenso wie das
in Hämoglobin, Hämatin und in anorganischen Eisenverbindungen enthaltene
Eisen denselben Weg der Resorption einschlägt, an denselben Orten ab-
gelagert wird und denselben Ausscheidungsweg hat, sowie durch dieselben
Reagenzien nachgewiesen wird.
Schon daraus würde man folgern wollen, daß in bezug auf die Assi-
milation die anorganischen Eisenverbindungen;den Hämatogenen gegenüber
keine wesentliche Differenz darbieten, und diese Folgerung wird nur noch
gestützt durch die Bestimmungen Abderhaldens!!) über die gesamte
Hämoglobinmenge bei Zugabe von derartigen Präparaten zu einer eisenarmen
Kost oder zu einer Kost mit normalem Gehalt an organisch gebundenem
Eisen. Hier bewirkte das anorganische Eisen tatsächlich eine Vermehrung
sowohl der absoluten als auch der relativen Hämoglobinmenge.
Das Resultat dieser und anderer Versuche ist von einigen Autoren, unter
anderem von Abderhalden selber, in der Weise aufgefaßt worden, daß das
verabreichte anorganische Eisen nur indirekt eine vermehrte Hämoglobinbildung
bedingt, und selber zu diesem Zwecke untauglich sei. Demgegenüber ist
indes unter anderem in Betracht zu ziehen, daß bei der Normalnahrung die
mikroskopischen Bilder der Resorption denen bei anorganischem Eisen ganz
ähnlich sind, woraus doch folgen dürfte, daß auch in jenem Falle das Eisen
in Form einfacherer Verbindungen resorbiert wird, in denen das Eisen sowohl
mittels Schwefelammonium als mittels es Ar und Salzsäure leicht
zu entdecken ist 12).
Als ein Experimentum erucis empfahl Kunkel!3) folgende Versuchs-
anordnung. Es wird zwei Tieren durch wiederholte Aderlässe von Zeit zu
Zeit Blut entzogen; alle beide bekommen dasselbe eisenarme Futter, das eine
Tier aber mit Zusatz von anorganischem Eisen. Wenn eine Hämoglobin-
bildung auf Kosten des letzteren tatsächlich stattfindet, so muß das Eisentier
die Folgen der Blutentziehung leichter als das andere Tier überstehen.
!) Journ. of Physiol. 16, 268, 1894. — ?) Arch. £.! (Anat. u.) Physiol. 1896,
8.49. — °) Arch. f. exp. Path. 37, 159, 1896. — *) Zeitschr. f. Biol. 35, 377, 1897. —
®) Arch. f. path. Anat. 151, 488, 1898. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 74, 466, 1899. —
7) Zeitschr. f. Biol. 39, 113, 1900. — °) Zeitschr. f. klin. Med. 46, 223, 1902. —
9) Arch. f. d. ges. Physiol. 100, 586, 1904. — !°) Zeitschr. £. Biol. 39, 150, 1900. —
1) Ebenda 39, 193, 483, 1900. — '?) Vgl. Abderhalden, Ebenda 39, 150, 1900;
Tartakowsky, Arch. f. d. ges. Physiol. 100, 609, 1904. — '°) Arch. £. d. ges.
Physiol. 61, 595, 1895. f
540 Das Eisen.
Nach diesem Plane sind Versuche von Kunkel selber, von Wolte-
ring!), F. Müller?) und Tartakowsky?°), und zwar mit vollständigem
Erfolg ausgeführt worden.
Als Beleg diene folgende Zusammenstellung der langen Versuchsreihe des letz-
teren. Die Tiere bekamen als Futter nur Milch, Reis und Quark.
Hämoglobingehalt auf 100 ccm Blut
Nr. zu Anfang der Versuche | _, Ende der Veruahl
(vor dem 1. Aderlaß)
ohne Fe mit Fe ohne Fe mit Fe
1 16,10 14,19 9,85 12,26
2 19,41 15,43 9,66 14,01
3 15,73 11;72 10,62 13,41
4 12,42 su 8,02 “
5 14,47 12,49 9,53 12,24
6 17,54 16,06 10,96 15,52
7 17,87 16,79 7,25 15,36
8 20,87 16,42 7,93 12,55
9 15,37 u 7,76 13,51
Mittel 16.64 14,73 9,02 13,61
Die Differenz des Hämoglobingehaltes am Ende der Versuche (13,61—9,02)
beträgt etwas mehr als 50 Proz. der kleineren Zahl, was bezeugt, daß etwaige Ver-
schiedenheiten der absoluten Blutmenge dieses Resultat nicht erklären können.
Das Eisen wird also sowohl aus organischen als aus anorganischen Ver-
bindungen resorbiert und im Körper verwertet, sowie zum allergrößten Teil
wieder durch den Darm ausgeschieden.
Über die Größe der unter normalen Verhältnissen täglich stattfindenden
Resorption läßt sich zurzeit wohl kaum etwas Bestimmtes sagen. Ebenso-
wenig‘ dürfte es zurzeit möglich sein, den täglichen Bedarf an Eisen in einer
bestimmten Zahl auszudrücken. Nach v. Wendt würde das tägliche Fe-
Quantum in der gewöhnlichen Kost des erwachsenen Menschen etwa 0,020
bis 0,030 g betragen ®).
Zwölftes Kapitel.
Die Ernährung des Menschen.
Es ist nicht möglich, in diesem Handbuche eine ausführliche Besprechung
des Nahrungsbedarfes des Menschen unter verschiedenen Verhältnissen zu
geben, noch eingehend zu erörtern, wie die Kost aus verschiedenen Nahrungs-
mitteln zusammenzusetzen ist, um als befriedigend aufgefaßt werden zu
können. Da aber andererseits eine Darstellung der Physiologie des Stoff-
!) Zeitschr. f. physiol. Chemie 21, 186, 1895. — *?) Arch. f. path. Anat. 164,
436, 1901. — °) Arch. £. d. ges. Physiol. 101, 423, 1904. Daselbst eine ausführliche
Literaturübersicht. — *) Skand. Arch. f. Physiol. 17, 288, 1905.
\
a nn Ze a a u u a
Re
Die qualitative Beschaffenheit der Kost. 541
wechsels doch in einem gewissen Grade die betreffenden Fragen zu berück-
sichtigen hat, willich zum Schlusse einige allgemeine Gesichtspunkte, betreffend
die Ernährung des Menschen, darlegen.
In dieser Beziehung sind zwei Lehrsätze, welche fast axiomatischer Natur
sind, vor allem zu berücksichtigen, nämlich: 1. die Kost muß die Verdauungs-
organe in geeigneter Weise erregen, ohne sie übermäßig anzustrengen oder
sonst schädlich zu beeinflussen; 2. sie muß eine dem Bedarf des betreffenden
Individuums völlig genügende Merige von potentieller Energie, sowie von
anorganischen Bestandteilen enthalten.
Wenn diesen Anforderungen Genüge getan ist, so ist auch die Kost als
in jeder Beziehung zweckmäßig zu erachten; wir haben daher die betreffenden
Lehrsätze an der Hand der vorliegenden Erfahrungen näher zu erörtern.
$ 1. Anforderungen an die qualitative Beschaffenheit
der Kost.
Unter den vielen Verdiensten Voits um die Physiologie des Stoffwechsels
und der Ernährung ist seine Darlegung von der Bedeutung der Gewürz- und
Genußmittel nicht eins der geringsten. Vor der Zeit, als Voit seine Bemer-
kungen hierüber erscheinen ließ, wußte man wohl, daß ein Gemenge aus Ei-
weiß, Fett, Stärke, Wasser und Aschebestandteilen, welches alle Nahrungsstoffe
in gehöriger Quantität darbot, jedoch nicht genügte, gerade weil es an etwas,
was die Eßlust erregte, mangelte. Nur unter dem Einflusse eines gewaltigen
Hungers konnten sich Menschen und Tiere dazu zwingen, ein solches Gemenge
zu verzehren, und selbst dann nur in ungenügender Menge. Man verstand
aber nicht, daß hierin die Äußerung einer physiologischen Notwendigkeit vor-
lag, sondern faßte den Widerwillen gegen eine geschmacklose Kost als Aus-
druck der Genußsucht oder etwas dergleichen auf, wie es sich auf’ das deut-
lichste aus: der damaligen Anordnung der Kost in den Gefängnissen ergibt.
Es zeigte sich indessen immer deutlicher, daß die dort verabreichte fade und
äußerst geschmacklos bereitete Kost, die übrigens in sehr geringer Abwechse-
lung in derselben Gestalt immer wiederkehrte, nicht selten einen solchen Wider-
willen und eine solche Abneigung hervorrief, daß die Gefangenen auch beim
größten Hungergefühl nicht imstande waren, sie zu genießen, ja daß bei vielen
schon der Anblick und der Geruch derselben hinreichte, um Brechreiz und
Würggefühl zu erzeugen !).
Angesichts dieser Umstände war Voits Hervorheben der Bedeutung
der Schmackhaftigkeit der Kost wahrhaft als ein erlösendes Wort zu
begrüßen, und es hat auch überall seinen segensreichen Einfluß ausgeübt.
Wie jede Tätigkeit des Körpers muß auch das Geschäft der Aufnahme
der Speise mit einer angenehmen Empfindung verknüpft sein, so lautet in
seiner größten Allgemeinheit das betreffende Maxim von Voit?).
In erster Linie wird diese Anforderung durch alle diejenigen Stoffe
erfüllt, welche den Speisen den ihnen eigentümlichen, uns angenehm dünkenden
Geschmack und Geruch verleihen. Hierher gehört außerdem noch alles, was
sonst die Aufnahme von. Nahrung angenehm macht, das saubere Auftischen
!) Baer, Handh. d. Hygiene u. d. Gewerbekrankheiten 2 (2), 131, 1882. —
2) Voit, 8. 421; Zeitschr. f. Biol. 12, 17, 1876.
542 Die Genußmittel.
der Speisen, das fröhliche Tischgespräch usw. Alles dieses wird von Voit
unter dem gemeinsamen Namen Genußmittel zusammengefaßt.
Mit wahrem Scharfblick wies Voit nach, daß die Genußmittel unter Ver-
mittelung des Nervensystems ihren günstigen Einfluß auf die Vorgänge der
Verdauung und Ernährung ausüben. Zunächst wirken die schmeckenden und
riechenden Substanzen der Speisen, nachdem sie uns durch Erregung der
Geschmacks- und Geruchsorgane eine angenehme Empfindung ausgelöst, noch
auf viele andere Teile, namentlich des Darmkanals, ein und bereiten letzteren
für die Verdauung auf irgend eine Weise vor. Es wird im ersten Falle
Speichel reichlich abgesondert, was schon durch die Vorstellung oder den
Anblick eines uns zusagenden Gerichtes bedingt wird, so daß uns der Speichel
im Munde zusammenläuft. Das gleiche läßt sich für die Magensaftdrüsen
dartun; man ist imstande, an Hunden mit künstlich angelegten Magenfisteln
zu zeigen, wie plötzlich an der Oberfläche Saft hervorquillt, wenn man den
nüchternen Tieren ein Stück Fleisch vorhält, ohne es ihnen zu geben. Es
setzt sich diese Wirkung wahrscheinlich vom Magen aus auch zu den Drüsen
und Blutgefäßen des Darmes fort. Nur solange es uns schmeckt, ist es
möglich zu essen. Etwas Geschmackloses oder schlecht Schmeckendes und
Ekelhaftes dagegen vermögen wir nicht zu verschlucken; bei einer nicht be-
gehrenswerten und nicht appetitlichen Speise treten in der Tat die angegebenen
Erscheinungen nicht mehr ein, sondern es erfolgen vielmehr durch andere
Übertragungen Zusammenziehungen der Muskeln des Rachens, der Speiseröhre,
des Magens, sowie der Muskeln, welche die Brechbewegungen bedingen, wie
das Würgen und das Abgegessensein der Gefangenen nach längerer Auf-
nahme einer monotonen Kost am deutlichsten zeigt.
Ich habe diese Auseinandersetzungen Voits wörtlich wiedergegeben, um
zu zeigen, wie richtig er die Bedeutung der Genußmittel von Anfang an
erkannte. Später ist diese Anschauung, wie bekannt, durch die vielfach
variierten, außerordentlich bedeutungsvollen, in einem anderen Abschnitte
dieses Handbuches näher zu besprechenden Untersuchungen von Pawlow!)
in weitestem Maße bestätigt und erweitert worden.
Des näheren auf diese Frage einzugehen, verbietet uns der Raum, und
ich muß mich daher darauf beschränken, auf Voits eigene Darstellung des
Gegenstandes zu verweisen.
$ 2. Der Bedarf des Menschen an potentieller Energie).
Angesichts der spärlichen, bis jetzt vorliegenden Ermittelungen über den
Kalorienbedarf wachsender Kinder und Frauen werde ich hier nur den des
erwachsenen Mannes besprechen (vgl. auch Kap. VII). Zu diesem Zwecke sind
in erster Linie die direkten, unter Anwendung von Respirationsapparaten oder
!) Pawlow, Die Arbeit der Verdauungsdrüsen. Wiesbaden 1898; Das Ex-
periment als zeitgemäße und einheitliche Methode medizinischer Forschung. Ebenda
1900. — ?) Da unsere Kenntnisse von dem absoluten Bedarf des Menschen an an-
organischen Nahrungsstoffen gar zu wenig umfassend sind, um bestimmte Zahlen-
angaben zu gestatten, und außerdem die Erfahrung ergeben hat, daß eine Kost,
welche die sonstigen Anforderungen erfüllt, auch Aschebestandteile in genügender
Menge enthält, werde ich bei der folgenden Darstellung diese Substanzen vernach-
lässigen und nur die organischen Nahrungsstoffe berücksichtigen (vgl. Kap. XI).
Der Energiebedarf bei körperlicher Ruhe. 543
Kalorimetern ausgeführten Bestimmungen herbeizuziehen. Die Zahl derartiger
Beobachtungen ist allerdings zurzeit noch ziemlich gering; es scheint mir
jedoch, daß sie zu einer vorläufigen Orientierung einigermaßen genügt, wenn
auch zugegeben werden muß, daß neue Untersuchungen nötig sind, bis diese
Frage in allen Einzelheiten als erledigt angesehen werden kann.
In Anbetracht der Tatsache, daß die Muskelarbeit auf den Stoffwechse
einen so mächtigen Einfluß ausübt, ist es bei der Feststellung des Nahrungs-
bedarfes des Menschen notwendig, deren Größe immer genau zu berück-
sichtigen, und es empfiehlt sich daher, bei der Besprechung der vorliegenden
Frage in erster Linie den Stoffwechsel zu untersuchen, wenn die Muskel-
leistungen auf ein Minimum reduziert sind.
Bei vorsätzlicher Muskelruhe und mindestens 12. Stunden nach der letzten
Nahrungsaufnahme betrug die CO,-Abgabe bei Versuchen von durchschnittlich
2 Stunden Dauer pro Stunde und Kilogramm Körpergewicht 0,283 bis 0,393 g.
Das Mittel aus zahlreichen, an 11 verschiedenen Individuen männlichen Geschlechts
im Alter zwischen 22 und 50 Jahren ausgeführten Bestimmungen beträgt etwa
0,342 g').
Einen ganz exakten kalorischen Ausdruck können wir allerdings nicht aus
diesen Angaben herleiten; wir bekommen aber einen oberen Grenzwert, wenn wir
annehmen, daß die Kohlensäure bei diesen Versuchen nur aus Fett entstammt, und
erhalten dann pro Kilogramm Körpergewicht und Stunde durchschnittlich 1,15 Kal.
Bei neun erwachsenen schlafenden Individuen beobachtete Sonden und ich’)
eine durchschnittliche CO,-Abgabe von 0,339 g pro Kilogramm und Stunde, was
nach derselben Berechnungsweise wie oben 1,14 Kal. entspricht. i
An einer seit 7 Tagen in einem hysterischen Schlafe sich befindenden jungen
Frau, die während dieser Zeit nur eine ganz unbedeutende Nahrung genossen hatte,
wurde am letzten Tage die N- und CO,-Abgabe bestimmt. Unter Berechnung des
aus N-freien Nahrungsstoffen entstammenden Kohlenstoffs als Fett- Kohlenstoff
betrug der Stoffwechsel pro Kilogramm Körpergewicht und Stunde 1,03 Kal. u 5
In ihren kalorimetrischen Untersuchungen stellten Atwater und Benedict*)
die Wärmeabgabe in sechsstündigen Perioden fest. Aus denjenigen Perioden, in
welchen die Versuchspersonen schliefen (1 bis 7 Uhr vorm.), berechnet sich bei den
vier verschiedenen Individuen die durchschnittliche Wärmeentwickelung pro Kilo-
gramm Körpergewicht und Stunde zu 0,93 bis 1,06 oder im Durchschnitt von 115
einzelnen Bestimmungen 1,00 Kal.
Wie ersichtlich, stimmen diese nach verschiedenen Methoden gewonnenen
Zahlen untereinander sehr gut überein, insbesondere wenn wir beachten, daß
die Berechnung des kalorischen Wertes aus der CO,-Abgabe eine etwas zu
hohe Zahl hat geben müssen. Wir können also sagen, daß der minimale
Stoffwechsel bei einem gesunden, nüchternen und ziemlich vollständig ruhen-
den erwachsenen Menschen rund 1 Kal. pro Kilogramm Körpergewicht und
Stunde, d. h. für ein mittleres Körpergewicht von 70kg und 24 Stunden
1680 Kal. beträgt.
Diese Zahl werden wir als Ausgangspunkt für die folgenden Über-
legungen benutzen.
- 4) Vgl. Johansson, Nordiskt Medieinskt Arkiv 30, No. 22, p. 10, 1897;
Skand. Arch. f. Physiol. 8, 108, 1898; 16, 263, 1904. Bergman und Anderson,
Ebenda 8, 342, 1898. Koraen, Ebenda 11, 178, 1901. Widlund, Ebenda 17,
290, 1905. — ?) Ebenda 6, 205, 1895. — ®) Nordiskt Medieinskt Arkiv 30, No. 37,
p- 11, 1897. — ) U. 8. Depart. of agrieulture. Off. of Exper. Stat. Bull. 1903,
No. 136, p. 141.
544 Der Energiebedarf bei körperlicher Ruhe.
Bei dem in gewöhnlichem Sınne ruhenden Menschen kommen eine Menge
kleiner Muskelbewegungen immer vor; auch ist der Stoffwechsel dann merkbar
größer, und zwar sowohl beim Hunger als bei Zufuhr von Nahrung.
Aus den Versuchen von Ranke!), Pettenkofer und Voit?), Sonden und
mir®), Anderson und Bergman‘), Bjerre°), Siven‘), Ekholm’) und Clopatt?),
bei welchen der Energiewechsel aus der N- und C0,-Abgabe hergeleitet wurde,
geht, größtenteils nach der Berechnung von Ekholm, folgendens hierüber hervor:
Beim ersten Hungertage variierte der Stoffwechsel zwischen 1,05 und 1,48 Kal.
pro Kilogramm und Stunde. Im Durchsehnitt von Beobachtungen an neun ver-
schiedenen Individuen betrug derselbe 1,28 Kal. Beim Hungerer J. A. (vgl. oben,
8. 381) war der Stoffwechsel am dritten bis fünften Hungertage fast konstant
1,30 Kal. pro Kilogramm und Stunde.
Über den Stoffwechsel bei Zufuhr von Nahrung ergibt sich als Mittel aus den
Bestimmungen von Ranke, Pettenkofer und Voit, Sond&n und mir, Bjerre,
Siven und Clopatt an zehn verschiedenen Individuen 1,38 Kal. pro Kilogramm
und Stunde; die Grenzwerte sind 1,16 und 1,60 Kal.
In zwei Versuchsreihen an je zehn Studenten und zehn Soldaten bekam
Ekholm durehschnittlich für jene 1,48, für diese 1,54 Kal. pro Kilogramm und
Stunde; Grenzwerte: 1,35 bis 1,80 bzw. 1,25 bis 1,96.
In Atwaters kalorimetrischen Versuchen variierte der Energiewechsel bei
den vier Versuchsindividuen mit insgesamt 49 Versuchstagen durchschnittlich zwischen
1,32 und 1,37 und betrug im Mittel 1,35 pro Kilogramm und Stunde.
Aus diesen Ermittelungen folgt also, daß der Stoffwechsel bei einem in
gewöhnlichem Sinne ruhenden Menschen etwa 1,30 bis 1,50 Kal. pro Kilo-
gramm Körpergewicht und Stunde entspricht. Für einen Menschen von
70 kg Körpergewicht würde dies pro 24 Stunden 2184 bis 2520, durch-
schnittlich 2350 Kal. ausmachen.
Die kleinen Bewegungen, welche ein nicht in vollständiger Muskelruhe
befindlicher Mensch ausführt, und die Nahrung bedingen also eine Erhöhung
‚des Stoffwechsels um etwa 670 Kal. Da die nützliche Arbeit etwa 25 Proz.
der Zunahme der Verbrennung beträgt, würde dies einer Muskeltätigkeit von
etwa 71000 kgm entsprechen.
Bei wirklicher körperlicher Arbeit muß, wie selbstverständlich, der Stoff-
wechsel noch größer sein. Betreffend die Zunahme pro Arbeitseinheit ver-
weise ich auf das im Kap. V schon Ausgeführte und will hier nur diejenigen
Versuche berücksichtigen, bei welchen für wenigstens 24 Stunden der Ge-
samtstoffwechsel oder der Energieumsatz bestimmt worden ist.
Bei der einen ihrer Versuchspersonen machten Pettenkofer und Voit?)
Arbeitsversuche in folgender Weise: Die Person hatte neun Stunden täglich ein
Rad mit einer Kurbel zu treiben; das Rad wurde so stark belastet, daß der Wider-
stand in der Achse nach dem Gefühle des Arbeiters so groß war, wie es gewöhn-
lich bei Drehbänken in mechanischen Werkstätten ist, welche durch ein mit der
Hand getriebenes Schwungrad bewegt werden. Die kalorische Berechnung des
Stoffwechsels für 24 Stunden ergibt bei dem Hungerversuch 2,31 und bei den Ver-
suchen ‘bei mittlerer Kost 2,09 Kal. pro Kilogramm Körpergewicht und Stunde.
Für ein Körpergewieht von 70 kg und 24 Stunden macht dies. durchschnittlich
3696 Kal,
In seinem Respirationskalorimeter ließ Atwater die Versuchspersonen ein
stationäres Fahrrad mit den Beinen treten, welches seinerseits eine Dynamo in Be-
!) Arch. f. Anat. u. Physiol. 1862, 8.311. — °) Zeitschr. f. Biol. 2, 459, 1866.
— °) Skand. Arch. f. Physiol. 6, 205, 1895. — *) Ebenda 8, 326, 1898. — °) Ebenda
9, 323, 1899. — °) Ebenda 10, 21, 1899. — 7) Ebenda 11, 1, 1900. — °) Ebenda 11,
354, 1901. — °) Zeitschr. £. Biol. 2, 537, 1866. ;
Der Energiebedarf bei körperlicher Arbeit. 545
wegung setzte. Die an drei verschiedenen Individuen gemachten Versuche ergaben
(wie oben aus dem Gesamtumsatz pro 24 Stunden berechnet) pro Kilogramm und
Stunde bzw. 2,27, 2,27 und 2,81 Kal., d. h. für ein Körpergewicht von 70kg und
24 Stunden 3814 bzw. 4721 Kal.
Diese Versuche zeigen aufs deutlichste, einen wie großen Einfluß die
Muskelarbeit auf den Stoffumsatz ausübt; eine direkte praktische Bedeutung
besitzen sie indessen nicht, da sie über die in verschiedenen Gewerben tat-
sächlich stattfindende Arbeit keine Aufschlüsse geben können.
Da wir aber gewisse Anhaltspunkte über die Verwertung der Energie
bei der Muskelarbeit besitzen (vgl. Kap. V) und also, von dem Stoffwechsel
eines in gewöhnlichem Sinne ruhenden Menschen ausgehend, den Stoffwechsel
bei einem bestimmten Arbeitsquantum annäherungsweise bestimmen können,
so würden wir den Nahrungsbedarf bei Arbeitern in verschiedenen Gewerben
unschwer ausdrücken können, wenn wir Angaben über die dabei geleistete
Arbeit besäßen.
Leider sind aber unsere diesbezüglichen Kenntnisse noch außerordentlich
gering, und wir besitzen wesentlich nur approximative Schätzungen der maxi-
malen Arbeitsgröße des Menschen.
Als Beispiele seien nach den Zusammenstellungen von Gariel!) und Blix?)
folgende, auf einen achtstündigen Arbeitstag bezogene Angaben hier mitgeteilt.
Treppensteigen oder Gehen bergauf: 302400 (Weisbach), 280000 (Navier),
205000 (Coulomb) kgm; Zieharbeit: 316800 (Weisbach); Arbeit im Tretrad:
259000 (Navier); Ziegeltragen: 282000 (Coignet); an der Winde: 207000 (Navier);
Handkurbel: 173000 (Navier). Kalorisch entsprechen diese Zahlen 407 bis 745 Kal.
oder unter der Voraussetzung, daß die Energie zu ein Viertel als mechanische
Arbeit verwertet wird, 1628 bis 2980 Kal. Unter Voraussetzung, daß der Stoff-
wechsel eines nicht arbeitenden Menschen auf etwa 2350 Kal. veranschlagt werden
kann, würde also der Stoffwechsel hier auf 3978 bzw. 5330 Kal. zu schätzen sein.
Selbst diese Zahlen geben uns keine Aufklärung über die Größe der im täg-
lichen Leben vorkommenden Arbeitsleistungen. Indirekt hat Wolpert*) diese zu
bestimmen versucht, indem er die Zunahme der CO,-Abgabe bei gewerblicher
Arbeit für Perioden von drei bis fünf Stunden bestimmte und daraus unter der
Annahme, daß ein Zuwachs um Img CO, einer Arbeit von 0,3kgm entspricht, die
Größe der ausgeführten Arbeit berechnete. In dieser Weise fand er für einen
Zeichner 4000, für einen mechanisehen Arbeiter 4100, für einen Damenschuhmacher
4500 und für einen Herrenschuhmacher 8000 kgm pro Stunde. Für einen acht-
stündigen Arbeitstag beträgt dies bzw. 32000, 32 800, 36000 und 64000 kgm. Unter
Anwendung der früheren Verhältniszahl zwischen Arbeit und Energieverbrauch
würde der tägliche Stoffwechsel bei diesen Arbeitern bzw. 2651, 2659, 2689, 2952 Kal.
dargestellt haben.
In seinem berühmten Vortrage auf dem Kongreß für die öffentliche Gesund-
heitspflege in München (1875) gab Voit*) als Normalmaß-für die Kost eines
„mittleren Arbeiters“ 118g Eiweiß, 56g Fett und 500g Kohlehydrate an.
Als „mittleren Arbeiter“ bezeichnete er) einen kräftigen Mann von 67 kg
Körpergewicht 6), welcher vermöge seiner Muskelmasse eine mittlere Arbeit zu
leisten vermag und auch während 9 bis 10 Stunden täglich leistet. „Also eine
Arbeit, nicht so leicht wie die des Schneiders, auch nicht so schwer wie die eines
Schmiedes, wohl aber die Arbeit eines Maurers, Zimmermanns oder Schreiners.“
') Trait& de physique biologique 1, 1004, 1901. — *) Skand. Arch. f. Physiol.
15, 122, 1903. — ®) Arch. f. Hygiene 26, 107, 1896. — *) Zeitsehr. f. Biol. 12, 21,
1876. — °) Siehe bei Bowie, Ebenda 15, 466, 1879. — °) Voit, 8. 525.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 35
546 Der Energiebedarf eines mittleren Arbeiters.
Der Wärmewert dieses Normalmaßes beträgt ohne Abzug für den Kot
3055 Kal. Da indes bei den bis jetzt besprochenen direkten Bestimmungen
des Stoffwechsels der Kot gar nicht berücksichtigt, sondern als reines Abfall-
produkt betrachtet worden ist, so müssen wir der Vergleichung halber von
dem Voitschen Kostmaße den Verlust durch den Kot in Abzug bringen.
Unter Berücksichtigung, daß die Kost des Arbeiters, auf welche sich dieses
Kostmaß ganz besonders bezieht, in der Regel ziemlich viel gröbere vegeta-
bilische Nahrungsmittel enthält und also mit einer verhältnismäßig reichlichen
Kotbildung verbunden ist, glaube ich, daß wir denselben nicht zu groß
schätzen, wenn wir ihn auf 10 Proz. der Zufuhr veranschlagen. Der Stoff-
wechsel würde dann netto 2749 Kal., d. h. pro Kilogramm und Stunde etwa
1,71 Kal. betragen. Dies macht für ein Körpergewicht von 70 kg und
24 Stunden 2872 Kal.
Wie ersichtlich, ist der Stoffwechsel pro Kilogramm und Stunde hier
nur 0,31 Kal. größer als der bei einem in gewöhnlichem Sinne ruhenden
Menschen (vgl. S. 544). Und selbst unter den Versuchspersonen Wolperts,
deren Arbeit doch bei weitem nicht der eines mittleren Arbeiters entsprechen
dürfte, beträgt doch der Stoffwechsel beim nur achtstündigen Arbeitstage in
einem Falle 80 Kal. mehr, in den drei anderen Fällen nur etwa 200 Kal.
weniger als der Nettowert des Voitschen Normalkostsatzes.
Darin liegt aber noch kein Beweis gegen die Zweckmäßigkeit desselben.
Wenn wir aber ferner die Ermittelungen über die von Arbeitern in ver-
schiedenen Gewerben bei freier Wahl genossene Kost berücksichtigen (vgl.
unten), so können wir nicht umhin, die von Voit postulierte absolute Zufuhr
als für einen wie oben definierten mittleren Arbeiter etwas zu knapp. zu
bezeichnen.
Ieh bin in der Lage, eine ziemlich beweisende, fast wie ein direkter Ver-
such im großen erseheinende Erfahrung als Stütze dieser Auffassung herbei-
zuziehen. In den Gefängnissen Schwedens wurde im Jahre 1891 für die arbeiten-
den Gefangenen eine Kost eingeführt, die mögliehst nahe mit dem Voitsehen
Normalkostsatz übereinstimmte. Außerdem waren aber die Insassen noch be-
reehtigt, von ihrem Arbeitsverdienst wöehentlich einen gewissen Teil zur Ver-
besserung der Kost anzuwenden, Bei diesem Regime war der Ernährungszustand
in den Gefängnissen vollkommen befriedigend. Dann wurde die Anschaffung von
Extraverpflegung aus verschiedenen gefängnistechnischen Rücksichten zum größten
Teil verboten, und die Gefangenen sollten sich nun fast ausschließlich mit der
im Etat. vorgeschriebenen Kost genügen lassen. Es zeigte sich indessen, daß
diese Kost nieht genügte, und nach kurzer Zeit mußte wieder eine VOEBORMBSE
derselben eingeführt werden.
Übrigens ist Veit schon bei der Begründung seines Normalkostmaßes zu einem
etwas zu geringen Energiewert gekommen, weil er die verschiedene Verbrennungs-
wärme des aus Fett und aus Kohlehydraten entstammenden Kohlenstoffs nicht
berücksichtigt hat. Als Mittelwert aus einer größeren Anzahl von Beobachtungen
hatte er für einen mittleren Arbeiter 118g Eiweiß und 328 g Kohlenstoff, und zwar
bei einer gemisehten, aus Fleisch und Vegetabilien mit Brot bestehenden Nahrung
angegeben. In 118g Eiweiß sind etwa 63g Kohlenstoff enthalten; es sind also
noch 265g durch Fett oder Kohlehydrate zu decken. Aus ökonomischen Gründen
nimmt er dazu eine maximale Menge von Kohlehydraten, 500g; der Rest des
Kohlenstoffs wird dann als Fett genossen. Wenn aber, wie es Voit für die nicht
mit der Kraft ihrer Muskeln Arbeitenden für zweckmäßig hält, nur 350g Kohle-
hydrate aufgenommen werden, so stellt sich das Kostmaß bei der gleichen Zufuhr
von N und C folgendermaßen dar: 118g Eiweiß, 144g Fett und 350g Kohle-
Der. Energiebedarf eines mittleren Arbeiters. 547
hydrate —= 3259 Kal. brutto und nach der oben benutzten Reduktion für ein
Körpergewicht von 70kg 3064 Kal. netto, was etwa 7 Proz. mehr als der Voitsche
Normalkostsatz beträgt.
Es ist hier nicht der Ort, die Größe des absoluten Nahrungsbedarfes eines
mittleren Arbeiters näher zu erörtern. Nur möchte ich bemerken, daß nach
den 8.546 zusammengestellten Erfahrungen eine tägliche Arbeitsleistung von
100 000 kgm nicht als übermäßig groß angesehen werden dürfte. Wenn wir
dann voraussetzen, daß die Energie zu 25 Proz. bei der Muskelarbeit aus-
genutzt wird, so würde dies einer Mehrzersetzung von 941 Kal. entsprechen.
Ist nun der Stoffwechsel beim ruhenden Menschen gleich 2350 Kal., so würde
derselbe bei unserem mittleren Arbeiter netto 3291 Kal. oder unter Berück-
sichtigung des Verlustes durch den Kot 3656 Kal. betragen. Mit dieser Zahl
stimmt der Energiewert des Kostmaßes von Atwater!) für einen mittleren
Arbeiter — netto 3400 Kal. — nahe überein.
Die vorliegenden Erfahrungen über die Ernährung bei frei gewählter
Kost ergeben, daß die Energiezufuhr bei arbeitenden Menschen in zahlreichen
Fällen noch viel größer ist — was ohne Zweifel mit der verschieden strengen
Arbeit in verschiedenen Gewerben aufs engste zusammenhängt. Es ist in-
dessen nicht gestattet, die betreffenden Beobachtungen zu bestimmten Folge-
rungen in betreff des Nahrungsbedarfes in einzelnen Gewerben. zu verwerten,
denn teils sind diese Beobachtungen zu diesem Zwecke noch viel zu spärlich,
teils ist zu beachten, daß selbst in einem und demselben Gewerbe verschiedene
Individuen ein sehr verschiedenes Arbeitsquantum leisten. Man kann also
nicht im allgemeinen sagen, ein Schuhmacher habe x Kalorien, ein Schneider
y Kalorien und ein Tischler z Kalorien nötig, und unter solehen Umständen
können die betreffenden Beobachtungen, hinsichtlich der absoluten Zufuhr von
Kalorien, nur dann ein größeres Interesse beanspruchen, wenn sie im Detail
erörtert werden, was sich hier nicht durchführen läßt).
Aus praktischen Gründen ist man indes gezwungen gewesen, für be-
stimmte Gruppen der Bevölkerung bestimmte Kostmaße festzustellen. Welches
dabei auch als Norm angenommen wird, sind zu gleicher Zeit auch die statt-
findenden individuellen Verschiedenheiten genau zu berücksichtigen, denn es
steht außer allem Zweifel, daß selbst bei einer quantitativ genau gleichen
Arbeitsleistung dennoch der Nahrungsbedarf bei verschiedenen Individuen
sehr verschieden sein kann. Ein durchschnittliches Kostmaß paßt also nicht
für alle Individuen, und in einer öffentlichen Anstalt müssen daher Ver-
anstaltungen getroffen werden, um dieses in zweckmäßiger Weise zu regu-
lieren. Kurz, das Kostmaß muß, wie Atwater sagt, eine Anweisung, nicht
eine Regel sein.
$ 3. Die Verteilung der Zufuhr auf Eiweiß, Fett
und Kohlehydrate.
Betreffend die Verteilung der organischen Nahrungsstoffe ist es zurzeit
kaum möglich, aus Laboratoriumsversuchen bestimmte Folgerungen zu ziehen,
denn solche Versuche können sich nicht über einen genügend langen Zeitraum
!) Report of Storrs (Conneeticut) agrieultural Experiment- Station 1902—1903,
p. 134. — ?) Eine Zusammenstellung dieser Beobachtungen findet sich bei Atwater,
Ebenda, p. 134.
35 *
548 Die Verteilung der Zufuhr auf Eiweiß usw.
erstrecken, wie auch nicht genügend zahlreiche Individuen umfassen, um als
alleinige oder wesentliche Grundlage für die Besprechung der Frage zu dienen.
Wir sind daher in erster Linie auf die Erfahrungen über die Zusammen-
setzung der frei gewählten Kost hingewiesen. Indes ist selbst diesen Er-
fahrungen keine allzu große Bedeutung beizumessen. Im allgemeinen läßt
es sich wohl sagen, daß der Mensch einen gewissen Instinkt in bezug auf die
absolute Nahrungszufuhr besitzt, obgleich dieser nicht immer zuverlässig ist,
wie aus der alltäglichen Erfahrung hervorgeht, daß viele Leute, die eine
stillsitzende Lebensweise führen und verhältnismäßig geringe Muskel-
bewegungen machen, dennoch sehr viel zu sich nehmen und deswegen in
einem zuweilen sehr hohen Grade fettleibig werden. Beim Körperarbeiter
dürfte solches dagegen eine seltene Ausnahme darstellen, und sein Kost-
maß ist daher als ein zuverlässiger Ausdruck seines Nahrungsbedarfes zu
erachten. ö
Was aber den Gehalt der Kost an Eiweiß, Fett und Kohlehydraten
betrifft, so ist derselbe zum größten Teile von der Zusammensetzung der zur
Verfügung stehenden Nahrungsmittel abhängig. Es ist freilich wahr, daß
der Mensch den vollständigen Mangel an dem einen oder anderen Nahrungs-
stoff wahrnimmt und diesem instinktmäßig abzuhelfen versucht. Dagegen
läßt es sich nicht gut denken, daß auch die richtige Proportion der einzelnen
Nahrungsstoffe instinktiv empfunden wird, und wir haben keinen triftigen
Grund zu einer solchen Annahme. Die frei gewählte Kost lehrt uns also, wie-
viel Eiweiß usw. ein Mensch genießt, nicht aber, wieviel er davon genießen
muß. Aus derartigen Erfahrungen kann man daher wohl schließen, daß eine
gewisse Verteilung der organischen Nahrungsstoffe zweckmäßig ist und auf
die Länge vertragen wird, nicht aber, daß sie das überhaupt beste Gemenge
darstellt.
Um eine Vorstellung von der Verteilung der Nahrungsstoffe bei verschiedenen
Individuen zu gewinnen, habe ich in den folgenden Tabellen, ohne Anspruch auf
Vollständigkeit zu erheben, eine größere Anzahl Beobaehtungen über die freigewählte
Kost zusammengestellt'). Dabei sind dieselben, die sich teils auf einzelne Indi-
viduen, teils auf eine größere Zahl beziehen, je nach der Größe der Energiezufuhr
in Gruppen ' von 2000 bis 2500, 2500 bis 3000 Kal. usw. geordnet. Da unter den
einschlägigen Untersuchungen die in den Vereinigten Staaten unter Atwaters
Leitung ausgeführten nach einem streng einheitlichen Plane angeordnet sind — was
mit den anderen keineswegs der Fall ist —, habe ich das Material in zwei Tabellen
geordnet, und zwar enthält die erste die amerikanischen, die zweite die übrigen
Kostmaße. In beiden sind für jede Gruppe das Mittel sowie die Maxima und
Minima angegeben (siehe Tabelle1 auf 8.549 und Tabelle 2 auf 8.550).
Bei der Erörterung über die Zusammensetzung der -Kost hat die Frage
nach dem Bedarfe des erwachsenen Menschen an Eiweiß die wichtigste Rolle
gespielt. Voit?) forderte in seinem Normalkostmaß 118 g Eiweiß, von
welchen 105g resorbiert werden würden. Zur Stütze dieser Forderung wies
er auf zahlreiche, meines Wissens nicht veröffentlichte Beobachtungen über
Arbeiterkost hin; ferner bemerkt er, daß frühere Autoren, wie Wolff, Hildes-
heim und Moleschott, etwa dieselbe Zahl (117 bis 130g) aufgestellt hatten;
!) Kostmaße mit weniger als 2000 Kal. sind hier nicht berücksichtigt, weil
sie doch nur dem Minimalbedarf entsprechen. — *?) Voit, 8. 525; Zeitschr. f. Biol.
25, 249, 1889.
Amerikanische Kostmaße. 549
schließlich zieht er auch die Ergebnisse der in seinem Laboratorium von
Rubner!), Bowie?) und Constantinidi?®) ausgeführten Ausnutzungsver-
suche in Betracht.
Wenn wir diese letzteren Versuche näher durchmustern, so finden wir, daß
bei einigen die absolute Kraftzufuhr für einen mittleren Arbeiter gar zu gering
gewesen ist (1351 bis 2092), weshalb diese keine Aufschlüsse über den Eiweißbedarf
des arbeitenden Menschen bei zureichender Zufuhr von N-freien Nahrungsstoffen
geben können. Ferner sind auch einige andere Versuche auszuschließen, weil bei
ihnen die verabreichte Eiweißmenge den Bedarf entschieden überschritten hat.
Die übrigen Versuche ergeben, daß bei einer Zufuhr von mehr als 90g resorbiertem
Eiweiß in acht unter neun Versuchen das N-Gleichgewicht stattgefunden hat. Bei
einer Zufuhr von weniger als 80g ausgenutztem Eiweiß mit einer Energiezufuhr
von 30 bis 58 Kal. pro Kilogramm Körpergewicht wurde dagegen das N-Gleich-
gewicht während der Versuchsdauer (zwei bis drei Tage) nicht erreicht.
Tabelle 1).
Eiweiß 88
r a Kohle- Pe:
e o5
Gruppe Anti | Vers IE t. hydrate Kal. = E
&
g g g g g SE
I. | 2000— 2500 50 36 56 81 295 2135 18
Maximum 91 60 131 125 395
Minimum 2 18 35 34 181
II. | 2500 - 3000 47 4 88 108 345 2779 23
Maximum 82 62 129 163 458
Minimum 8 24 49 56 255
III. | 3000—3500 56 47 103 125 409 3262 36
Maximum 97 82 152 182 563
Minimum 4 32 52 65 314
IV. | 3500—4000 68 57 125 137 476 3738 19
Maximum 133 107 199 200 701
Minimum — 36 66 71 304
V. | 4000—4500 54 62 116 158 538 4180 16
Maximum 103 81 164 210 649
Minimum 10 48 74 95 412
VI. | 4500—5000 86 59 145 195 557 4692 7
Maximum 111 73 181 269 708
Minimum 25 49 80 118 485
vII. > 5000 71 75 145 235 666 5511 7
Maximum 128 90 204 283 723
Minimum 27 60 93 173 617
!) Zeitschr. f. Biol. 15, 115, 1879; 16, 119, 1880. — ?) Ebenda 15, 475, 1879.
— ?) Ebenda 23, 445, 1886. — *) Die Untersuehungen sind in den vom Ackerbau-
ministerium der Vereinigten Staaten herausgegebenen Bulletins veröffentlicht und
von Atwater, Wait, Gibson, Calvert, May, Stone, Voorhees, Jordan,
Woods, Goss, Bevier, Bryant, Hogan, Blas dale, Frissel, Jaffa, Grindley,
Sammis, Ladd, Sprague, Snyder ausgeführt.
550 - Andere Kostmaße.
Tabelle 21).
Gesamt- Kohle- Zahl der.
Gruppe eiweiß zart hydrate Kal. Beobach-
g gr» g£ tungen -
di 2000—2500 82 . 4 362 2229 13
Maximum 118 85 469
Minimum 57 17 290
I. 2500—3000 104 - 60 464 2889 15
Maximum 160 118 568
Minimum 65 16 254
III. 3000 - 3500 127 85 466 3222 16
Maximum 163 141 730
Minimum 82 27 310
IV. 3500—4000 136 93 556 3702 a
Maximum 152 1692 730
Minimum 112 27 359
V. 4000—4500 162 135 569 4252 7
Maximum 182 205 788
Minimum 133 40 ; 391
VI. 4500—5000 12 - 106 TBl.:H 4752 5
Maximum 225 145 829
Minimum 138 Lies 677
vo. > 5000 166 156 952 6037 9
Maximum 218 309 1328
Minimum 112 25 431
Demgegenüber lassen sich aber die schon früher besprochenen Versuche
von Hirschfeld, Kumagawa, Klemperer, Siven u.a. herbeiziehen, aus
welchen doch ganz bestimmt hervorgeht, daß selbst bei einer beträchtlich
geringeren Eiweißzufuhr das N-Gleichgewicht allmählich eintritt (vgl. S. 406).
!) Die Primärangaben finden sich bei Albertoni und Novi, Arch. f. d. ges.
Physiol. 56, 213, 1894; Boehm, Vierteljahrsschr. £. öffentl. Gesundheitspflege 1,
376; Erismann, Areh. f. Hygiene 9, 32, 1889; Flügge, Beitr. z. Hygiene, Leipzig
1879, 8. 116; Forster, Zeitschr. f. Biol. 9, 386, 1873; Hofmann, Fleischnahrung
u. Fleischkonserven, Leipzig 1880, 8. 63; Hultgren, Arch. f. d. ges. Physiol. 60,
205, 1895; Hultgren u. Landergren, Mitteil. a. d. physiol. Laborat. in Stockholm
6 (1889); Dieselben, Untersuchungen über die Ernährung schwedischer Arbeiter,
Stockholm 1891, 8. 15, 16; Lavonius, Skand. Arch. f. Physiol. 17, 196, 1905;
Lichtenfelt, Arch. f. d. ges. Physiol. 99, 1, 1908; Manfredi, Arch. f. Hygiene
17, 552, 1898; Meinert, Armee- und Volksernährung 2%, 186, 193, 198, 212, 216,
226, 228, 230, 237, Berlin 1880; Ohlmüller, Zeitschr. f. Biol. 20, 393, 1884;
Payen, Preeis des substances alimentaires, Paris 1865, p.505; H. Ranke, Zeitschr.
f. Biol: 40, 288, 1900; J. Ranke, Ebenda 13, 131, 1877; Rechenberg, Die Er-
nährung der Handweber in Zittau, Leipzig 1890, 8.27; Serafini u. Zagato,
Arch. f. Hygiene 29, 141, 1897; Steinheil, Zeitschr. £. Biol. 13, 415, 1877;
Studemund, Arch. f. d. ges, Physiol. 48, 586, 1891; Sundström, Finsk&
Läkaresällskapets handlingar :47, (1), 421, 1905; Voit, Untersuchung der Kost,
München 1877, 8.17, 28, 209; Handb. d. Physiol. 6, (1), 524, 1881, i
Der Bedarf an Eiweiß. 551
Aus diesen Versuchen konnte man also folgern, daß die Zahl von Voit
nicht den kleinsten zulässigen Wert für die Eiweißzufuhr bei einem mittleren
Arbeiter darstellt. Indes kann gegen diese, wie überhaupt gegen alle Labora-
toriumsversuche die Einwendung gemacht werden, daß sie sich nur auf eine
geringe Zahl von Individuen und auch auf eine zu kurze Zeit erstrecken.
Es ist daher notwendig, zu untersuchen, wie sich die frei gewählte Kost in
bezug auf die Eiweißzufuhr gestaltet, denn daraus wird man wenigstens eine
allgemeine Vorstellung, wenn auch keinen exakten Ausdruck vom Eiweiß-
bedarf des erwachsenen Menschen erhalten können.
Betreffend die in den Tabellen I u. II, S.549, 550 verzeichneten Angaben
über die bei freier Wahl genossene Kost ist zu bemerken, daß die in den
Gruppen I und Il aufgenommenen, wegen der geringen absoluten Kraftzufuhr,
brutto 3000 Kal., hier nicht maßgebend sein können, da sie für einen
mittleren Arbeiter nicht genügen können. Diejenigen Kostmaße hingegen,
die in den Gruppen V bis VII zusammengestellt sind, beziehen sich auf eine
Arbeit, die entschieden größer als die eines mittleren Arbeiters erachtet werden
muß. Es bleiben also die Gruppen III und IV als Unterlage der vorliegenden
Betrachtung. Durchschnittlich enthalten diese in den europäischen Kost-
maßen 127 bzw. 136g Eiweiß, in den amerikanischen 103 bzw. 125g Eiweiß
— die Zahlen stimmen also mit der von Voit geforderten ganz gut überein.
Dagegen begegnen wir als Minima in Tabelle I 52 bzw. 66, in Tabelle II
82 bzw. 112g — also größtenteils weniger als das von Voit Postulierte.
Hier ist indes noch nicht die Ausnutzung berücksichtigt worden. Bei
einer Kost wie der vorliegenden, die in den meisten Fällen aus groben vege-
tabilischen Nahrungsmitteln 'besteht, dürfte der Verlust durch den Kot nicht
geringer als auf etwa 25 Proz. veranschlagt werden können. Bei den euro-
päischen Kostmaßen wäre daher die Nettozufuhr durchschnittlich 95 bzw.
102 g, und die Minima 62 bzw. 84g. Bei den amerikanischen Kostmaßen
finden wir unter derselben Voraussetzung die durchschnittliche Nettozufuhr
gleich 77 bzw. 94 g, mit den Minimis 39 bzw. 50g.
Die in diesen Tabellen verzeichneten Kostmaße, wo die Eiweißzufuhr (brutto)
geringer als 100 g gewesen ist, beziehen sich allerdings zum großen Teil auf Menschen
in einer sehr schlechten ökonomischen Lage; es finden sich jedoch unter denselben
auch verhältnismäßig gut situierte Individuen, z. B. in der Gruppe III Studenten
an den Universitäten in Tennessee und Connecticut, Mechaniker in New Yersey, ein
Advokat in Pennsylvania — bei diesen betrug die tägliehe Zufuhr von Eiweiß 91 bis
100g brutto —= etwa 68 bis 75g netto. In der Gruppe IV genossen die Mitglieder
eines Studentenklubs in Tennessee täglich nur 66 g Eiweiß brutto; bei einem anderen
Studentenklub daselbst wurden etwa 80 bis 90g und in einem Studentenklub in
Missouri etwa 91 bis 100g Eiweiß täglich genossen.
Auch die oben (8.407) erwähnten Beobachtungen an Vegetariern tuen dar,
daß ein gesunder Mensch bei einer Eiweißzufuhr aushalten kann, die wesentlieh
geringer ist als die von .Voit als notwendig erachtete.
Selbst bei sehr angestrengter körperlicher Arbeit scheint eine verhältnismäßig
geringe Eiweißzufuhr zu genügen. Vor einigen Jahren hatte ieh!) die Gelegenheit,
ein von Englund im nördlichen Schweden gesammeltes Beobachtungsmaterial über
die von den Holzknechten im Winter bei der Arbeit im Freien genossene Kost
zu bearbeiten. Die Kalorienzufuhr war hier sehr reichlieh, und wir finden. als
Durchschnittszahlen für die verschiedenen Gruppen folgendes:
!) Hygiea (schwedisch) 62, (1), 121, 1900.
552 Der Bedarf an Eiweiß.
BR us
einen | Kohle- a8
Gruppe Fett hydrate Kal. | = =
Anim. | Veget. | Summe 42 Be)
Fe}
g g g g g SICH
V, VI | 4000-5000 29 73 102 210 544 4606 14
Maximum 51 94 121 289 673
Minimum 17 55 88 156 416
VIIa | 5000—6000 44 83 127 251 652 5500 28
Maximum 107 108 195 325 785
Minimum 24 66 97 164 529
VIIb | 6000— 7000 45 100 145 296 1 6502 30
Maximum 87 139 191 385 1044
Minimum 23 73 116 198 560
VIIe | 7000—8000 48 119 167 349 870 4 | 21
Maximum 75 147 190 485 1051
Minimum 30 84 141 253 503
VIld > 8000 48 134 182 390 1008 8506 3
Maximum 55 135 190 415 1145
Minimum 42 132 174 373 936
Ich berechne die Ausnutzung des Eiweißes unter der Annahme, daß das
animalische Eiweiß vollständig, das vegetabilische mit einem Verlust von 25 Proz.
resorbiert wurde. Für die verschiedenen Gruppen erhalten wir dann die Menge
ausgenutzten Eiweißes bzw. 84, 106, 120, 134, 148 g.
Durchschnittlich verzehrten also die 14 Individuen in der V. und VI. Gruppe
während einer Beobachtungsdauer von etwa 63 Tagen entschieden weniger Eiweiß als
die von Voit in seinem Normalkostsatz postulierte Menge. Eine nähere Durchmuste-
rung der von ihnen genossenen Kost und der darin enthaltenen Nahrungsmittel
zeigt uns weder in bezug auf die animalischen, noch auf die vegetabilischen Nahrungs-
mittel irgend welches deutlich ausgesprochene Streben, die Eiweißzufuhr besonders
zu begünstigen. Die gesamten Speisezettel machen vielmehr den Eindruck, daß der
Körper bestrebt gewesen ist, eine genügend große Kraftzufuhr zu bekommen, und
daß die von verschiedenen Individuen etwa benutzten Zugaben wesentlich bezweekten,
den Geschmack der einförmigen, größtenteils aus Speck, hartem Brot, Weißmehl
und Zucker bestehenden Kost zu verbessern, und also der Hauptsache nach als
Genußmittel dienten.
Auch die Kostmaße, die von den sub VIIa bis d aufgenommenen Individuen
genossen wurden, zeigen ziemlich deutlich, daß kein spezifischer Bedarf an einer
reichlicheren Eiweißzufuhr stattgefunden hat. Allerdings ist die genossene Eiweiß-
menge bei diesen Gruppen, ganz wie bei den in den Tabellen 8.549 f. aufgenommenen,
größer, je größer die absolute Kraftzufuhr; dies ist aber in erster Linie davon ab-
hängig, daß gerade die vier schon genannten Nahrungsmittel, unter denen kein
einziges als ein spezifischer Eiweißträger bezeichnet werden kann, in größerer Menge
verzehrt worden sind. Was auch sehr bemerkenswert ist, ist die Tatsache, daß die
absolute Menge der eiweißreicheren Nahrungsstoffe — Fleisch, Wurst, Hering, Käse
— keine deutlich ausgesprochene Steigerung von der einen Gruppe zur anderen zeigt.
Unter Hinweis darauf, daß ein erwachsener Mensch auch bei einer
geringeren Eiweißaufnahme als 118g im N-Gleichgewicht bleiben kann, schlug
Hirschfeld!) als Normalzahl für die Eiweißmenge in einer Normalkost 100 g
!) Arch. f. d. ges. Physiol. 44, 465, 1889.
Der Bedarf an Eiweiß. 553
vor. Seinerseits wollte I. Munk!) auf Grund verschiedener Beobach-
tungen von Pflüger, Bohland und Bleibtreu?2), Nakahama?),
Scheubet) und Eykman, sowie der vielfach erwähnten Erfabrungen
von Hirschfeld, Kumagawa’u. a. die tägliche Eiweißzufuhr auf 100g
(brutto) reduzieren.
Gegen die von diesen Autoren für die betreffende Verminderung der
Eiweißzufuhr herbeigezogenen Gründe lassen sich indes verschiedene Ein-
wendungen machen, und ich kann sie daher nicht als vollständig überzeugend
erachten ’), wenn auch die von Munk vorgeschlagene Reduktion als ziemlich
irrelevant bezeichnet werden muß.
Meinerseits möchte ich, besonders auf Grund der neueren Erfahrungen,
die Frage stellen, ob es überhaupt notwendig ist, eine bestimmte Zahl für
den täglichen Eiweißbedarf anzugeben.
Bei allen Kostmaßen, welcher Art sie sind und für welche Individuen
sie zusammengestellt werden, muß die Kost hinsichtlich der absoluten Kraft-
zufuhr den vom betreffenden Individuum auszuführenden Arbeitsleistungen
entsprechen. Auch muß sie hinsichtlich ihrer Beschaffenheit und Zusammen-
setzung derartig sein, daß sie den geläufigen Anforderungen an Schmack-
haftigkeit genügt. Unter Bezugnahme auf die Bedingungen, auf welchen die
appetiterregenden Eigenschaften der Kost beruhen, muß sie ferner eine ge-
nügende Abwechselung darbieten und nicht zu einförmig sein.
Wenn eine Kost diese Anforderungen hinsichtlich ihrer absoluten Quan-
tität und ihrer qualitativen Beschaffenheit erfüllt, so glaube ich, daß sie auch
genügend Eiweiß enthält. Es ist nämlich der Fall, daß die meisten unserer
gewöhnlichen Nahrungsmittel gar nicht so arm an Eiweiß sind, und, wie
bekannt, begegnet es in der Tat ziemlich großen Schwierigkeiten, bei normaler
Kalorienzufuhr eine einigermaßen genießbare, aber sehr eiweißarme Kost zu-
sammenzustellen. Darin dürfte wesentlich die Ursache davon liegen, daß in
der frei gewählten Kost mit der Kalorienmenge auch die Eiweißmenge in der
Regel zunimmt, wie daß diese Kost im allgemeinen nicht als eiweißarm zu
bezeichnen ist. Kurz, für das Eiweiß dürfte ganz dasselbe wie für die Asche-
bestandteile gelten, nämlich, daß es in genügender Menge vorkommt, wenn
die an die Kost zu stellenden Anforderungen sonst erfüllt sind.
Da es indessen bei der Anordnung der Kost in einer öffentlichen Anstalt
äußerst zweckmäßig ist, von einem Normalkostmaß, das nicht allein die absolute
Energiezufuhr, sondern auch die Zufuhr von Eiweiß, Fett und Kohlehydraten
berücksichtigt, auszugehen, dürfte meines Erachtens die Zahl von Voit fort-
fahrend zu wählen sein, denn die frei gewählte Kost enthält, in Europa und
Amerika wenigstens, in der Regel ebensoviel oder noch mehr Eiweiß. Da-
gegen dürfte seine Forderung auf 105 g ausgenutzten Eiweißes etwas zu hoch
sein, da doch bei zahlreichen Individuen das resorbierte Eiweißquantum ent-
schieden geringer ist.
!) Munk und Uffelmann, Die Ernährung des gesunden und kranken
Menschen, 2. Aufl., Wien 1891, 8. 205, 322. — *) Arch. f. d. ges. Physiol. 36, 164,
1885; 38, 1, 1885. — °) Arch. f. Hygiene 8, 78, 1888. — *) Ebenda 1, 353, 1883;
vgl. auch Mori, Ebenda 5, 334, 1886; Kellner und Mori, Zeitschr. f. Biol. 25,
102, 1888. — °) Vgl. Voit, Ebenda 25, 254, 1888 sowie Tigerstedt, Grundsatser
för utspisningen i allmänna anstalter. Stockholm 1891, 8. 77.
Der Bedarf an Fett und Kohlehydraten.
[ot
Qu
H>
Bei der Aufstellung seines Normalkostmaßes ging Voit in bezug auf die
N-freien organischen Nahrungsstoffe von der Annahme aus, daß die verab-
reichte Menge von Kohlehydraten (Stärke) höchstens 500 g betragen dürfte,
da eine größere Menge im Darme schlecht‘ausgenutzt wird und dabei auch
andere Übelstände bewirkt. Der Rest des Bedarfes würde. dann, im Kostmaß
für einen mittleren Arbeiter, durch 56g Fett zu decken sein.
Gegen diese Auffassung läßt sich indes bemerken, daß Kohlehydrate auch in
größerer Menge als 500g ganz vorzüglich ausgenutzt werden, vorausgesetzt, daß
sie nicht in groben pflanzlichen Nahrungsmitteln enthalten sind. So fand Rubner')
allerdings bei einer täglichen Zufuhr von 659g Kohlehydraten im Schwarzbrot im
Kote 72g und bei 718g Kohlehydraten in Kartoffeln 55 g; bei 670g Kohlehydraten
im Weißbrot betrug die Abgabe im Kot aber nur 5g.
Diese Tatsachen bilden indes keinen Grund gegen die von Voit vorgeschlagene
Begrenzung der Kohlehydratmenge in der Kost, denn es findet, wie zahlreiche Er-
fahrungen ergeben haben, ein nicht. zu verkennender Bedarf an Fett, bei den
‘ Völkern europäischer Herstammung wenigstens, statt. Bei den Gruppen III und IV
beträgt die Fettzufuhr durchschnittlich 125, 137 ne I), bzw. 85, SR (Tab. II);
die Minima sind 65, 71 (Tab. I), bzw. 27 (Tab. II).
Es läßt sich nicht leugnen, daß die Begrenzung der Fettmenge wesentlich
durch ökonomische Ursachen bedingt wird; daher nimmt das Fett auch in der
Kost der wohlhabenderen Klassen einen viel’bedeutenderen Platz als in der
der ärmeren Bevölkerung ein; sobald dies tunlich ist, wird das Fett in größerer
Menge genossen, wie aus den in der Tabelle I.verzeichneten Kostmaßen aus
Amerika hervorgeht und auch daraus ersichtlich ist, daß ‘das Essen an. Feier-
tagen im allgemeinen fettreicher ist als an den Wochentagen (Hultgren und
Landergren).
Zu einem gewissen Teile ist wohl diese Sehnsucht nach Fett darin be-
gründet, daß es der Kost einen angenehmen Geschmack verleiht; es wirkt also
gewissermaßen als Genußmittel und hat schon dadurch eine nicht gering zu
schätzende Bedeutung. Es ist indes sehr wahrscheinlich, daß die Zugabe
von Fett auch in anderer Beziehung wichtig ist, teils wegen der Vorgänge
im Darmrohre, teils auf Grund der in den Geweben stattfindenden Stoff-
wechselvorgänge. Indes wissen wir darüber nichts Sicheres, und wir müssen
uns hier, wie in so vielen anderen Fällen, mit der Bestätigung der Tat-
sache begnügen, ohne ihnen die gebührende theoretische Deutung geben
zu können.
Es dürfte daher die von Voit vorgeschlagene Fettmenge nur als ein
unterer Grenzwert aufzufassen sein, was ja auch Voit selber tut. Wo die
ökonomischen Verhältnisse es gestatten, wird das Fettquantum daher wesent:
lich reichlicher zuzumessen sein.
Ich muß mich hier auf diese allgemeinen Betrachtungen beschränken
und kann also nicht die Herkunft der Nahrungsstoffe aus verschiedenen
Nahrungsmitteln, die Verteilung der Kost auf die einzelnen Mahlzeiten und
andere im Zusammenhang mit der praktischen Ernährungslehre stehende
Fragen besprechen. Nur sei darauf aufmerksam gemacht, daß, wie Forster?)
‘) Zeitschr. f. Biol. 15, 152, 157, 1879; 16, 146, 1880. — ?) Hultgren und
Landergren, Untersuchungen über die Ernährung schwedischer Arbeiter. Stock-
holm 1891, 8. 77. — °?) Forster, Zeitschr. f. Biol. 9, 386, 1873.
Allgemeines über Kostmaße. 555
und Hofmann!) zuerst bemerkten und dann mehrere andere Autoren 2) be-
stätigten, die bei freier Wahl täglich genossene Menge von Eiweiß, Fett und
Kohlehydraten bei einem und demselben Individuum ‘von Tag zu Tag nicht
unwesentliche Schwankungen darbietet. Betreffend die Größe dieser Schwan-
kungen zeigen Erfahrungen, die sich auf 5 bis 16 Tage lang dauernde Beob-
achtungen stützen, daß die mittlere Abweichung des täglichen Quantums von
durchschnittlichen Werte beim Eiweiß 3 bis 28 Proz., beim Fett 7 bis 39 Proz.,
bei den Kohlehydraten 6 bis 20 Proz., sowie bei der totalen Energiezufuhr
5 bis 16 Proz. beträgt. Die Variationen der täglichen Zufuhr scheinen also
für das Fett am größten, für das Eiweiß geringer, für die Kohlehydrate noch
geringer und für die totale Kraftzufuhr am geringsten zu sein. Dies lehrt
uns, daß der Körper vor allem nach einer gewissen Konstanz in bezug auf.die
Zufuhr von Brennmaterial strebt; die Beschaffenheit desselben kommt erst in
zweiter Linie in Betracht. Indes kommt auch bezüglich der letzteren eine be-
stimmte Regel zum Vorschein: die täglich genossene Fettmenge variiert viel
mehr als die des Eiweißes und der Kohlehydrate.. Daß die Kohlehydrate
nur verhältnismäßig kleine Schwankungen darbieten, dürfte wesentlich davon
bedingt sein, daß kohlehydrathaltige Nahrungsmittel, vor allem das Brot,
eine so große Rolle in unserer Kost spielen und einen so wesentlichen Be-
standteil jeder Mahlzeit darstellen.
Die praktische Konsequenz dieses Ergebnisses ist klar: beim Aufstellen
einer Speiseordnung braucht und darf man sich nicht streng daran halten,
daß die Kost täglich die bestimmte Menge von Eiweiß, Fett und Kohle-
hydraten enthalten soll, man kann sich daher bei der Anordnung der Kost
freier bewegen und ist nicht gezwungen, jede Schwankung in der quantita-
tiven Zusammensetzung der Kost peinlichst zu vermeiden. Was erwünscht
ist, ist nur, daß die Kost während einer gewissen Periode durchschnittlich
dem als Norm festgestellten Kostmaß entspricht.
Wie lang eine solche Periode sein muß, ist angesichts unserer zurzeit
noch so geringen hierher gehörigen Erfahrung nicht möglich exakt zu be-
stimmen. Von vornherein läßt sich indes denken, daß sie etwa eine Woche
betragen dürfte; auch zeigen die Angaben von Jürgensen wie von Hult-
gren und Landergren, daß ziemlich genau derselbe Mittelwert erhalten
wird, wenn derselbe in einer 16- oder 10tägigen Versuchsreihe für die ganze
Zeit oder für Perioden von je 8 bzw. 5 Tagen Dauer berechnet wird.
Eine wirkliche Theorie des Stoffwechsels würde eine Theorie der ge-
samten Vorgänge in der lebendigen Substanz darstellen. Von einer solchen
sind wir indes noch weit entfernt, und wenn auch vielerlei theoretische An-
schauungen hierüber im Laufe der Zeit entwickelt worden sind, so können
sie doch kaum Anspruch darauf erheben, den Erscheinungen eine wirklich
befriedigende Deutung gegeben zu haben.
!) Hofmann, Fleischnahrung und Fleischkonserven, Leipzig 1880, 8.16. —
®2) Cramer, Zeitschr. f. physiol. Chem. 6, 355, 1882; Jürgensen, Nordiskt medi-
einskt Arkiv 18 (Nr. 11), p. 3, 1886; Nakahama, Arch. f. Hygiene 8, 88, 1888;
Hultgren und Landergren, Mitteil. a. d. physiol. Laborat. in Stockholm 6 (1889);
Dieselben, Die Ernährung schwedischer Arbeiter, Stockholm 1891, 8. 70.
556 Allgemeines über Kostmaße.
Eine Besprechung dieser Anschauungen würde den zu meiner Ver-
fügung stehenden Raum wesentlich überschreiten. Da außerdem die theo-
retische Erörterung der Stoffwechselvorgänge eine eingehende Würdigung
unserer Erfahrungen über die chemischen Umsetzungen im Körper vor-
aussetzt und eine solche in diesem Abschnitte gar nicht hat in Frage
kommen können, halte ich es für angemessen, auf eine derartige Er-
örterung hier ganz zu verzichten !).
!) Das Manuskript dieses Abschnittes wurde zum größten Teil Ende 1904 ab-
geliefert, weshalb die neueste Literatur hier nicht hat berücksichtigt werden
können.
Die Wärmeökonomie des Körpers
von
R. Tigerstedt.
Zusammenfassende Darstellungen, in denen die ältere Literatur gesammelt ist:
Pembrey, Art. Animal heat in Schäfers Text-Book of Physiology I. Edinburgh
and London 1898, p. 785—867.
Richet, Art. Chaleur. Production de chaleur par les ötres vivants. In Diction-
naire de physiologie III, Paris 1898, p. 81—203.
Rosenthal, Art. Die Physiologie der tierischen Wärme in Hermanns Handbuch
der Physiologie 4 (2), 287 bis 452. Leipzig 1882.
Diese Arbeiten sind im folgenden stets nur mit dem Namen des Autors zitiert.
Erstes Kapitel.
Die Körpertemperatur des Menschen.
Die Vögel und die Säugetiere unterscheiden sich von allen anderen
lebendigen Geschöpfen dadurch, daß sich in ihrem Körper Mechanismen vor-
finden, dank denen ihre Temperatur sich trotz ziemlich großer Schwankungen
der Außentemperatur im großen und ganzen konstant erhält. Sie werden
daher homoiotherme oder, da die Temperatur des umgebenden Mediums in
der Regel. niedriger als die ihres Körpers ist, warmblütige genannt.
Zur Temperaturmessung hat man sowohl das Thermometer als auch die thermo-
elektrische und die bolometrische Methode benutzt'). Wie sie ausgeführt wird,
welche Vorsichtsmaßregeln dabei zu berücksichtigen sind und wie die verschiedenen
Instrumente gebaut sind, kann hier nicht erörtert werden. Dagegen ist es not-
wendig, den Ort der Temperaturmessung etwas näher zu besprechen, da die Resul-
tate derselben davon in hohem Grade abhängig sind.
Wenn wir im allgemeinen von der Temperatur des Körpers sprechen, so
beziehen wir diese auf den Wärmegrad am wärmsten Orte des Körpers. Da
nun der Körper fast immer einem Wärmeverlust durch Leitung, Strahlung
und Wasserverdunstung von der Haut und den Respirationswegen ausgesetzt
ist, so müssen seine oberflächlicheren Teile eine niedrigere Temperatur als
die tieferen haben. Nur bei Versuchen an Tieren ist es indessen möglich,
die Temperaturmessung an jedem beliebigen Orte zu machen; beim Menschen
sind wir darauf beschränkt, dieselbe an einem ohne weiteres zugänglichen,
!) Vgl. Benediet und Snell, Arch. 2.d. ges. Physiol. 88, 492, 1901. Da-
selbst ausführliche Angaben über die einschlägige Literatur.
558 Die Temperaturmessung.
vor Abkühlung möglichst geschützten Orte auszuführen. Zu diesem Zwecke
sind vor allem die Axille, die Mundhöhle unter der Zunge, das Rectum und
die Vagina benutzt worden. Auch hat man seit Hales den aus der Harn-
röhre strömenden Harnstrahl dazu verwendet.
Angesichts der Tatsache, daß die Körpertemperatur des Menschen inner-
halb 24 Stunden nicht unbeträchtliche Variationen darbietet, können Durch-
schnittszahlen für die Temperatur an den genannten Orten keine bestimmten
Aufschlüsse über die daselbst stattfindenden Temperaturdifferenzen liefern,
und nur gleichzeitig gemachte Beobachtungen können hier ausschlaggebend
sein. Aus solchen Beobachtungen sind einige in folgender Tabelle zusammen-
gestellt. Die Temperatur der Axille ist hier gleich 1 gesetzt:
Ort der Temperaturmessung
Autor
Axille Mundhöhle Rectum
1,0 1,2 1,4 Redard!)
1,0 1,24 1,7 Gassot!)
1,0 1,2 1,52 Forel!)
1,0 178... 1,35 Crombie?)
1,0 _ 1,38 Parker u. Wollowicz°)
1,0 — 1,23 Oertmann‘)
—_ 1,0 1,3 Bouvier°)
1,0 == 1,6—1,8 Lorain?)
1,0 — 1,6 Neuhauß®)
1,0 — 1,06—1,38 Benedict und Snell’)
Wie ersichtlich, ist die Temperatur der Mundhöhle nur wenig höher als
die der Axille, weshalb auch Pembrey aus den vergleichenden Temperatur-
messungen das Resultat zieht, daß kein erwähnenswerter Unterschied zwischen
der Mundhöhle und der Axille stattfindet. Dagegen tritt die Differenz
zwischen der Axille und dem Rectum sehr deutlich hervor und kann rund
auf etwa 0,4 bis 0,5°C geschätzt werden.
Merkwürdigerweise scheint beim Affen die Temperatur der Axille um etwa
0,5°C höher als die des Rectums zu sein (Davy°®), Simpson’). Nach Ringer
und Stuart'®) ist beim Menschen die Temperatur ganz dieselbe in der Axille, der
Mundhöhle und dem Rectum; ihre Versuchspersonen lagen im Bette und waren
sehr gut bedeckt.
Betreffend die Temperatur des Harns läßt sich aus den Messungen von
Oertmann!!) und Pembrey'?) entnehmen, daß sie in vielen Fällen der im
Rectum gleichkommt, in anderen Fällen aber etwas niedriger ist; zuweilen
kann sie sogar höher sein. Durchschnittlich fand Pembrey die Rectal-
temperatur etwa 0,34°C höher als die des Harns. |
!) Richet, La chaleur animale, p. 79 und 80. Paris 1889. — °) Pembrey,
p. 825. — °) Proc. of the Royal Society 18, 368, 1869. — *) Arch. f.d. ges. Physiol.
16, 101, 1878. — °) Ebenda 2, 387, 1869. — °) Arch. f. pathol. Anat. 134, 366,
1893. — 7) Arch. f.d.ges. Physiol. 90, 41, 1902. — ®) J.Davy, Researches 1, 181.
London 1839. — °) Journ. of Physiol. 28, proceedings 21, 1902. — !°) Proc. of the
Royal.Society 26, 186,:1877. — '') Arch. f. d. ges. Physiol. 16, 101, 1878. — ER
of Physiol. 23, 386, 1898; Guys hospital Reports 57, 283.
Die Temperatur der Haut. 559
‘ Die Ursache der Verschiedenheit der Temperatur an verschiedenen Körper-
stellen liegt natürlich darin, daß das Rectum vor Wärmeverlust besser ge-
schützt ist als die Mundhöhle und die Axille!), Beim Harn ist die augen-
blicklich erscheinende Verdunstung wohl als Hauptursache seiner geringeren
Temperatur zu erachten, ein Umstand, der sich besonders bei geringen Harn-
mengen fühlbar machen muß. Wie es scheint, dürfte jedoch die Temperatur-
messung im Harn, wenn dabei geeignete Vorsichtsmaßregeln beobachtet
werden, ebenso zuverlässige Resultate geben wie die Temperaturmessung im
Reetum.
Unter den hier erwähnten Orten der Temperaturmessung dürfte die Mund-
höhle am wenigsten zuverlässig sein, indem ihre Temperatur in einem höheren
Grade als die der Axille, des Rectums und des Harns von zufälligen Einflüssen
abhängig ist. So fand Bosanquet*), daß die Mundhöhle nach Aufnahme von
Essen wärmer ist als das Rectum, was teils von der Temperatur der genossenen
Speisen, teils von den Bewegungen der Kaumuskeln und dem Sekretionsvorgang in
den Speicheldrüsen bedingt sein dürfte. Andererseits beobachtete Davy°) eine
Abnahme der Mundhöhlentemperatur nach starker körperlicher Arbeit; gleichzeitig
stieg die Temperatur in der Axille an. Diese Tatsache, die durch eingehende
Untersuchungen von Pembrey und Nicol*) in vollem Umfange bestätigt wurde
— Differenzen um bis zu 2,2°C wurden von ihnen beobachtet —, tritt auch bei
reiner Nasenatmung auf und ist aller Wahrscheinlichkeit nach durch das Schwitzen,
die Gefäßerweiterung in der Gesichtshaut und die kräftigere Luftströmung durch
den Rachen bedingt.
Betreffend die Temperatur anderer Körperteile sei hier nur folgendes
erwähnt. .
Unter Anwendung eines Quecksilberthermometers bekam Davy°) bei
einer Außentemperatur von 20°C für die Hauttemperatur folgende Zahlen:
Fußsohle 32,2, die Mitte der Tibia 33,06, die Kniebeuge 35,0, über dem
Rectus femoris 32,78, die Inguinalfalte 35,84, ein Zoll unter dem Nabel
35,0, über dem Herzen 34,4; die Temperatur der Axille betrug hier 36,67.
Kunkel6) benutzte die thermoelektrische Methode und fand beim still-
sitzenden Menschen an den bekleideten Körperteilen bei einer Zimmertempe-
ratur von 20° © eine Temperatur von 33,8 bis 34,8° C. Auf dicken Muskel-
lagen war die Temperatur etwas höher als über Sehnen und Knochen; die
von der Achse (dem Zentrum) des Körpers weiter abstehenden Teile waren
im allgemeinen kühler. An den unbedeckten Hautstellen traten bei der ge-
nannten Temperatur keine wesentlichen Unterschiede den bedeckten gegen-
über hervor; so war die Temperatur der Stirnhaut 34,1 bis 34,4%, die auf
dem Jochbogen 34,1%, auf dem Handrücken 32,5 bis 33,20, während die
Temperatur der Vola manus etwa dieselbe Höhe wie die der bedeckten
Körperteile erreichte. Dagegen betrug die Temperatur des Ohrläppchens nur
28,80 C. Bei einer Außentemperatur von 10 bis 12° C sank die Temperatur
des Gesichtes nur um etwa einen Grad und selbst bei — 5° © betrug sie
noch 26,7°, während die Bauchhaut 31,6 bis 31,9% C zeigte.
!) Vgl. Oertmann, Arch. f. d. ges. Physiol. 108, 307, 1905. — ?) Lancet
1895 (1), p. 673. — °) J.Davy, Researches 1, 199, 1839. — *) Journ. of Physiol. 23,
386, 1898; Guys hospital Reports 57, 283; vgl. auch Lef&vre, Archives de physiol.
1898, p. 11. — °) J. Davy, Researches 1, 150, 1839. — °) Zeitschr. f. Biol. ‚25,
55, 1889.
560 Die Temperatur der inneren Organe.
Mit diesen Resultaten stimmen die von Stewart!) nach der gleichen
Methode gewonnenen im großen und ganzen gut überein. Bei einer Außen-
temperatur von 17,6 bis 18,2° C betrug die Temperatur an der Stirn, der
rechten Wange, der linken Wange, dem rechten Hypogastrium, sowie an der
Stelle des Spitzenstoßes zwischen 32,6 und 35,16° C; dabei war aber die
Temperatur der Fußsohle und der Handteller nur etwa 31,0°C.
Nach Rubner?) beträgt die Temperatur der unbekleideten Körperteile
durchschnittlich bei 10° C: 29, bei 15°: 29,2, bei 17,5%: 30 und bei 25,6°:
31,7°C. Die bekleidete Haut hatte dabei eine Temperatur von 32 bis 330C,
Wenn die Haut einer größeren Abkühlung, wie in einem kalten Bade,
ausgesetzt wird, so sinkt ihre Temperatur beträchtlich herab; als Beispiel
sei auf folgende Versuchsreihe von Lef&vre®) hingewiesen; in derselben
Tabelle ist auch die an derselben Versuchsperson gleichzeitig bestimmte
Temperatur 2 bzw. 12 mm unterhalb der Hautoberfläche, im subcutanen Ge-
webe und im M. biceps, eingetragen.
Temperatur des Temperatur
Bades
Grad C. der Haut 2 mm tiefer | 12mm tiefer
7,0 17,3 23,2 ee
15,0 20,9 23,4 36,3
20,6 BR Br 35,9
22,5 24,6 26,1 ee
25,9 —_ — 36,9
Trotz der starken Abkühlung der Haut behielten dennoch die Muskeln
ihre normale Temperatur bei.
Wärmer als Rectum sind wenigstens die Organe im oberen Teile der
Bauchhöhle. Nach Quincke?) überragt beim Menschen die Temperatur im
Innern des Magens um durchschnittlich 0,12°C die des Rectums. Beim
hungernden Kaninchen beobachtete Ito’) im Duodenum eine um 0,7 C
höhere Temperatur als im Rectum. Beim Hunde fand Lefövre®) gleich-
zeitig im Rectum 38,5, in der Leber 39,6° C — also 1,1° C mehr. Dem-
entsprechend war in Versuchen von Cavazzani’) an dem gleichen Tiere die
Leber stets um 0,14 bis 0,630 C wärmer als das arterielle Blut. Bei ver-
schiedenen Eingriffen stellte sich die Temperatur im Rectum zuweilen höher
als die in der Leber dar; indessen war die Lebertemperatur im Anfange des
!) Studies from the physiol. Laborat, Owens Coll. Manchester 1, 101, 1891;
zitiert nach dem Jahresbericht; vgl. auch Masje, Arch. f. pathol. Anat. 107, 48,
1887. — °?) Arch. f. Hyg. 23, 13, 1895; vgl. auch Wurster, Zentralbl. f. Physiol. 2,
4, 1888; Josipowiei, Inaug.-Diss. Berlin 1901, 8. 13. — °) Arch. de physiol. 1898,
p- 1; vgl. auch Hirsch, Müller und Rolly, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 75,
264, 1903. — *) Arch. f. exper. Pathol. 25, 374. 1889. — °) Zeitschr. f. Biol. 38,
88, 1899; vgl. Aronsohn, Arch. f. pathol. Anat. 169, 504, 1902. — °) Arch. de
physiol. 1898, p. 258. — 7) Zentralbl. f. Physiol. 8, 73, 1894; vgl. auch die früheren
Beobachtungen von Claude Bernard, Lecons sur les liquides de l’organisme 1,
141, Paris 1859; Lecons sur la chaleur animale, p. 189. Paris 1876; Jacobson
und Leyden, Zeutralbl. f. d. med. Wiss. 1870, 8. 259.
Die Temperatur der inneren Organe. 561
Versuches, oder wenn die allgemeine Temperatur künstlich wieder zur nor-
malen Höhe gebracht worden war, konstant höher als die Temperatur im
Rectum.
Die meisten neueren Untersuchungen ergeben, daß das Blut in der V.
cava inferior oder im rechten Herzen wärmer ist als das Blut im linken
Herzen !). Die beobachteten Differenzen betragen beim Hunde 0,1 bis 0,6°C,
beim Schafe 0,02 bis 0,4°C. Dies kann weder durch die Erwärmung der
eingeatmeten Luft, noch durch die Abgabe von Wasserdampf bedingt sein,
denn Heidenhain und Körner bekamen ganz dieselben Resultate, auch
wenn sie bei künstlicher Atmung eine mit Wasserdampf gesättigte und auf
35 bis 40° C erwärmte Luft benutzten. Sie schlossen daher, daß die be-
treffende Erscheinung durch die Leber bedingt sei, welche das rechte Herz
erwärmen würde; bei künstlicher Abkühlung der Bauchhöhle kehrte sich die
Differenz tatsächlich um, und die linke Kammer wurde nun die wärmere.
Gegen diese Deutung führt indes Bernard eine Beobachtung von Hering?)
an einem Kalbe mit Ectopia cordis an; hier war nämlich die rechte Kammer
etwa 0,6°C wärmer als die linke, obgleich das Herz vollständig außerhalb
des Brustkastens lag und also von der Leber gar nicht beeinflußt werden
konnte. —
Es scheint daher, daß das venöse Blut in der Tat wärmer ist als das von
den Lungen strömende arterielle, was in voller Übereinstimmung damit
steht, daß das Blut während seiner Strömung durch die Organe auf Grund
der daselbst stattfindenden Wärmebildung erwärmt wird. Es bleibt indes
noch zu erklären, wodurch das Blut in den Lungen abgekühlt wird. nz
Gewisse Teile der Lungen, nämlich die der ganzen konvexen Fläche
des Zwerchfelles benachbarten, sowie außerdem die das Herz begrenzenden,
sind in der Mehrzahl der Fälle wärmer als das arterielle Blut. In größerer
Entfernung vom Zwerchfelle nach oben oder vom Herzen nach außen wird
die Temperatur allmählich der des Aortablutes gleich, um in noch größerer
Entfernung unter dieselbe zu sinken. Die Differenz geht aber, abgesehen
von den oberflächlichsten Schichten der Lungen, nicht leicht über 0,1 bis
0,2°G hinaus (Heidenhain und Körner’). ER
ER; ls Zahl für die “mittlere Tagestemperatur (im Rectum) des gesunden
erwachsenen Menschen wird im allgemeinen 37,2 bis 37,5°C angegeben. Es
kommen aber individuelle Variationen um mehrere Zehntel Grad vor).
Bei den meisten warmblütigen Tieren ist die Körpertemperatur (im
Rectum) wesentlich höher als die des Menschen, wie z. B.: Pferd 37,7 bis
37,9, Rind 38,6 bis 38,9, Schaf 40,0 bis 40,6, Hund 37,9 bis 38,8, Katze
38,7, Schwein 38,7 bis 39,6, Kaninchen 38,7 bis 39,2, Meerschweinchen 37,4
bis 39,2, Affe (Macacus rhoesus) 37,8 bis 39,7, verschiedene Vögel 41 bis 44°C).
!) vgl. G. Liebig, Über die Temperaturunterschiede des venösen und arte-
riellen Blutes. Gießen 1853; Claude Bernard, Lecons sur la chaleur animale,
p. 77. Paris 1876. Heidenhain und Körner, Arch. f. d. ges. Physiol. 4, 558,
1871. Dagegen fanden Colin (Ann. sciences nat. Zool. ser. 4, t. 7, p. 83, 1867),
sowie Jacobson und Bernhardt (Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1868, 8. 643), daß
die Temperatur der linken Kammer in der Regel höher war als die in der rechten.
— ?) Arch. f. physiol. Heilkunde 1850, 8. 18. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 4, 563,
1871. — *) Vgl. die Zusammenstellungen bei Pembrey, p. 789, und Richet, p. 91.
— °) Vgl. die Zusammenstellungen bei Pembrey, p. 790, und Richet, p. 86.
Nagel, Physiologie des Menschen. I, 36
562 Die Tagesschwankungen der Körpertemperatur.
Die niedersten Säugetiere, die Monotremata, scheinen eine sehr niedrige und
übrigens zwischen weiten Grenzen schwankende Temperatur zu haben. Bei einem
Echidna war die Temperatur bei 4°C: 25,5, bei 20°: 28,6, bei 30°C: 30,9 und bei
35°C: 34,8. Ahnliche Variationen zeigten zwei andere Individuen dieser Tierart.
Der Ornithorhynchus zeigte dagegen eine fast konstante Temperatur von 31,8 bis
33,6°, wenn die äußere Temperatur von 5 bis 32°C zunahm. Bei den Marsupialia
ist die Temperatur höher und zwischen 5 und 30°C etwa ebenso konstant wie bei
den höheren Wirbeltieren; Dasyrus: 36,6 bis 38,0, Bettongia: 36,0 bis 36,2, Opossum:
36,1 bis 36,6 (C. J. Martin!).
Wenn wir von der konstanten Temperatur eines warmblütigen Tieres
sprechen, so bedeutet dies im Grunde nur, daß dieselbe, dank den regulato-
rischen Vorrichtungen, innerhalb gewisser Grenzen von der umgebenden
Temperatur unabhängig ist. Konstant, d. h. unter normalen Verhältnissen
völlig unverändert, ist sie aber bei weitem nicht, vielmehr schwankt sie im
Laufe von 24 Stunden nicht unbeträchtlich, indem sie um 1°C und mehr
sich verändert. Wollen wir die durchschnittliche Temperatur des Körpers
exakt angeben, so muß diese aus konsequent durchgeführten, genügend zahl-
reichen Messungen zu den verschiedenen Stunden des Tages und der Nacht
hergeleitet werden.
Im Jahre 1843 zeigte Chossat?), daß bei Tieren (Tauben) die Körper-
temperatur eine von Tag zu Tag regelmäßig wiederkommende tägliche
Schwankung von durchschnittlich 0,74° C darbietet; am Mittag betrug die
Temperatur 42,22, um Mitternacht 41,48. Diese Schwankung war nicht von
der Temperatur der Außenluft oder von den Jahreszeiten abhängig, stand
aber in einem gewissen Zusammenhange mit der Respiration, denn die Atem-
frequenz zeigte ganz entsprechende Variationen. ZweiJahre später berichtete
J. Davy?) über gleichlautende Beobachtungen am Menschen. Diese Angaben
wurden im Laufe der Zeit immer wieder bestätigt und an der Hand umfang-
reicher Beobachtungen näher analysiert, so daß ihr Vorhandensein schon
längst außer jedem Zweifel steht. Unter den Autoren, die in dieser Richtung
gearbeitet haben, ist vor allem Jürgensen*), ferner Lichtenfels und
Fröhlich), Liebermeister®), Ringer und Stuart’), Jäger®), Richet),
Pembrey und Nicol!%), Hörmann!!), Benedict und Snell!2) u. a.13) zu
erwähnen.
Im großen und ganzen stimmen die von den genannten und anderen
Autoren beobachteten täglichen Temperaturschwankungen untereinander gut
überein. Daß sie in bezug auf die absolute Zeit des Maximums und Mini-
mums, sowie auf Einzelheiten der Temperaturkurve Verschiedenheiten dar-
bieten, stellt keinen Widerspruch dagegen dar, denn die Lebensweise ver-
') Philos. Transact. of the Roy. Society London 195 B, 1,1902; vgl. auch Semon,
Arch. f. d. ges. Physiol. 58, 229, 1894. — ?) M&moires present. par divers savants
ä l’Acad. des sciences Paris 8, 533, 1843. — °) Philos. Transactions 1845; J.Davy,
Researches 1863, p. 14. — *) Jürgensen, Die Körperwärme des gesunden Menschen.
Leipzig 1873. — °) Denkschr. d. Akad.d. Wiss. Wien, math.-naturw. Kl. 3 (2), 113,
1852. — °) Liebermeister, Pathol. u. Therapie des Fiebers, 8.75. Leipzig 1875.
— 7) Proceedings of the Royal Society 26, 186, 1877. — ®) Deutsch. Arch. f. klin.
Med. 29, 516, 1881. — °) Richet, La chaleur animale, p. 64, 74. Paris 1889. —
1%) Journ. of Physiol. 23, 386, 1898. — !!) Zeitschr. f. Biol. 36, 319, 1898. —
1?) Arch. f. d. ges. Physiol. 90, 33, 1902; Amer. Journ. of Physiol. 11, 145, 1904. —
18) Vgl. Pembrey, p.798, und Richet, p. 91.
Die Tagesschwankungen der Körpertemperatur. 563
schiedener Individuen ist doch nicht ganz übereinstimmend, sie gehen zu
verschiedener Zeit zu Bette und stehen zu verschiedener Zeit auf, wie sie
auch ihr Essen zu verschiedenen Stunden genießen usw.
Als Beispiel der normalen Tagesschwankungen der Körpertemperatur
verweise ich auf die Kurven Fig. 31 bis 33. Die von Benediet und Snell
entlehnte Kurve Fig.31 bezieht sich auf einen 20 jährigen Studenten, der
während der ganzen Beobachtungsdauer im Respirationskalorimeter von At-
water eingeschlossen war. Die Temperatur daselbst betrug konstant 19°C.
Die Messungen der Körper-
temperatur fanden unter An- „m - vM. er aM,
wendung der bolometrischen EA a Ir u zz
Methode statt, und zwar ge- 2. \ Trreon
schahen die Ablesungen jede 1 N 17
dritte oder vierte Minute. In gr Mr
der Kurve, die das Gesamt- Tagesschwankungen der Körpertemperatur, gewöhnliche
R R ze Ruhekurve. Nach Benedict und Snell.
mittel von vier fast aufein- SS De a Pe ta
ander folgenden Tagen bei
nahezu gleichartiger Lebens- 78,98.
x £ v.M. n. M, » v.M.
weise darstellt, sind Durch- am nmı 23a 6 Te Hmm 13345617
. I . . A NN A
schnittszahlen für je 12 Min. 47 NIFRERKT ö
angegeben. 370 E /
36,8
Die Versuchsperson stand 38 Ba
um 7 Uhr vormittags auf, früh- 364
stückte um 7b 45’, nahm um 10h Tagesschwankungen der Körpertemperatur; Fasten.
150g Wasser zu sich; Mittags- Nach Benedict und Snell.
essen um 15 15’ nachmittags; um
3h 30’ 150g Wasser; Abendessen Fig. 33.
um 10h 45’. Geht zu Bette um _
11 Uhr nachts. Während des 4
Versuches wurde keine eigent- ? TI
liche körperliche Arbeit geleistet. ,|_A I £ N
71 N N
Z ; 37.0
Fig. 32 stellt die Tempe- | ® Fa
. 4
raturschwankungen bei der- 3% Bud
« N 4 7
selbenVersuchsperson im nüch- 3 E
2 "218 34 € 10 11 12 4 B, 10 11
ternen Zustande dar. Die letzte vM. 2. M.
Mahlzeit wurde acht Stunden Tagesschwankungen der Körpertemperatur, Bettruhe,
d a ; h nach Jürgensen.
vor dem begınn des Yersuches A bei gewöhnlicher Kost; B beim Hunger.
genossen. Wie ersichtlich, ist
trotz einzelner Abweichungen der Verlauf der Tagesschwankung ganz derselbe
wie in der Fig.31; der Umfang derselben (1,18% C) ist sogar größer als der
in Fig. 31 (0,939 C).
Die betreffenden Variationen können also nicht durch die Mahlzeiten an
und für sich bewirkt werden. Da ferner die Temperatur im Kalorimeter die
ganze Zeit konstant war, können sie auch nicht aus Schwankungen der Außen-
temperatur hergeleitet werden !).
Daß auch grobsinnliche Muskelbewegungen hier nicht maßgebend sind,
folgt aus Jürgensens Beobachtungen, welche sämtlich sich auf Individuen
beziehen, die die ganze Versuchsdauer im Bette blieben, wenn nicht der Ver-
') Vgl. auch Hörmann, Zeitschr. f. Biol. 36, 339, 1898.
36 *
564 Die Tagesschwankungen der Körpertemperatur. .
suchszweck es anders verlangte. Fig. 33 stellt nach Jürgensen!) A die Normal-
kurve eines Menschen bei gewöhnlicher Kost und B die Temperaturkurve
bei einem hungernden Menschen dar. Der Umfang der täglichen Schwankung
beträgt im ersten Falle 0,8, im zweiten 0,6°C. Er ist, wie auch zu erwarten
war, geringer als bei Individuen, die am Tage nicht liegen, auch wenn sie
keine eigentliche körperliche Arbeit leisten.
Die betreffenden Schwankungen, welche auch bei Tieren vorkommen 2),
zeigen, daß die Regulierung der Körpertemperatur selbst bei den höchsten
Warmblütern lange nicht mit derselben Präzision erfolgt, wie man bei ganz
einfachen Thermostaten erzielen kann.
Betreffend ihre Ursachen sind sehr verschiedene Ansichten ausgesprochen
worden. Da sie auch bei hungernden und bettlägerigen Individuen typisch
erschienen, stellte man sich vor, daß sie weder durch die Nahrungsaufnahme,
noch durch die Muskeltätigkeit oder die Außentemperatur bedingt seien, und
nahm daher an, daß der Verlauf der Tageskurve ursprünglich durch die
thermogenen Faktoren (Nahrungsaufnahme, Muskelarbeit) bedingt sei, daß
aber hierzu noch die Gewöhnung hinzugekommen war, wodurch eine in nicht
näher zu erklärender Weise sich herstellende Periodizität eintritt, welche
dann eine gewisse Unabhängigkeit von den ursprünglichen Faktoren erlangt.
Liebermeister), der diese Anschauung entwickelt hat, denkt noch an die
Möglichkeit einer Übertragung der durch Jahrtausende erlangten Gewöhnung
auf die Nachkommen. i
Einen treffenden Ausdruck der in dieser Richtung gehenden früheren Anschau-
ungen haben wir bei Riehet‘). Die Tagessehwankungen der Körpertemperatur sind
hauptsächlich von der Tätigkeit des Nervensystems abhängig. Das Nervensystem
beherrscht die chemischen Vorgänge im Körper; seine Erregung erzeugt also Wärme,
seine Untätigkeit verlangsamt die Wärmebildung. Also müssen sich die Perioden
von Energie und von Schwäche des Nervensystems durch eine starke oder schwache
Wärmebildung kundgeben, und dies unabhängig von allen anderen biologischen oder
mesologischen Bedingungen: Klima, Nahrung, Schlaf, Muskeltätigkeit.
Anläßlich unserer Untersuchungen über die Tagesschwankungen der
Kohlensäureabgabe bemerkten Sond&n und ich’), daß dieselben mit den von
Jürgensen ermittelten Schwankungen der Körpertemperatur eine unver-
kennbare Übereinstimmung darboten. Auf Grund dessen schlossen wir,
daß die Ursache dieser Schwankungen wesentlich und wahrscheinlich vor
allem von den täglichen Schwankungen in der Intensität des Stoffwechsels
bedingt sind.
Dann wies Johansson®) nach, daß Muskelbewegungen unerläßlich sind,
um die Körpertemperatur nach einer durch Abkühlung bewirkten Erniedri-
gung auf den gewöhnlichen Stand zu bringen, und betonte die Bedeutung der
Muskelbewegungen für die Tagesschwankungen der Temperatur. Auch zeigte
er, wie bei gewöhnlicher Bettruhe unabsichtliche Muskelbewegungen vor-
kommen, welche die Verbrennung im Körper zuweilen in einem erheblichen
Grade steigern. Die Bettruhe stellt also keineswegs einen Zustand dar, wo
die Muskelbewegungen ausgeschlossen sind.
!) A.a.0., 8.33, Tab.5; 8.34, Tab. 7. — *) Vgl. hierüber Pembrey, p. 803. —
®) Liebermeister, a. a. O., 8.88. — *) Richet, La chaleur animale, p. 69. Paris
1889. — °) Skand. Arch. f. Physiol. 6, 157, 1895. — °) Ebenda 7, 167, 1897.
u ee
en ee en ee ee
Die Tagesschwankungen der Körpertemperatur. 565
Um diese Frage näher aufzuklären, machte Johansson!) Versuche, wo
er zu den verschiedenen Stunden des Tages, 12 Stunden nach der letzten
Mahlzeit, bei vorsätzlicher Muskelruhe die CO,-Abgabe und die Körper-
temperatur bestimmte. Die folgende Tabelle enthält eine Zusammenstellung
seiner Ermittelungen der CO,-Abgabe, die in Reihe I in zweistündigen, in
Reihe II in einstündigen Perioden bestimmt wurde. Zum Vergleich ist die C0,-
Abgabe bei gewöhnlicher Bettruhe und in nüchternem Zustande angegeben.
CO,-Abgabe pro 2 Stunden
Zeit Vorsätzliche Muskelruhe On wäbalicha
Reihe I Reihe II Bettruhe
g g g
12—2 vormittags 21,3 20,1 23,0
2—4 x 20,5 19,7 22,8
4—6 22,1 20,2 21,0
6—8 r 22,4 19,9 24,4
ET RE 22,9 21,8 27,2
10-12", 23,2 21,4 27,2
12—2 nachmittags 23,3 21,0 24,8
2—4 n 20,6 21,3 25,9
4—6 M 22,9 21,1 24,2
6—8 i 22,5 20,7 26,2
810: 5 22,2 20,2 25,4
108; 22,2 20,8 23,6
Das Mittel beträgt in der Reihe I 22,2g, in der Reihe II 20,72g. Im
ersten Falle nahm die Versuchsperson eine bequeme sitzende Stellung ein, im
zweiten lag sie im Bette. Wie ersichtlich, treten hier nur verhältnismäßig
geringe Schwankungen auf, und diese weichen hinsichtlich ihres Verlaufes
von den bei der gewöhnlichen Fig. 34.
Bettruhe wesentlich ab. Die
1
Schwankungen der CO,-Abgabe, x"
wie sie bei der gewöhnlichen ar i
. N \
Lebensweise auftreten, kommen ||\ JARrIBS FLY
Ä i ; Y
hier gar nicht vor. N TIP
In Fig. 34 sind die ent- ı-\ AH
sprechenden Stundenmittel für ? ö Y
die Körpertemperatur in ‚der: WU ETET, Ex m
Reihe II (I), sowie bei gewöhn- ne un
Tagesschwankungen der Körpertemperatur
licher Bettruhe (II) und bei ge- na Tohannson
wöhnlicher Lebensweise (III) zu- I. Vorsätzliche Muskelruhe; II. gewöhnliche Bett-
e ruhe; III. gewöhnliche Lebensweise.
sammengestellt. Wir sehen, daß
das Minimum bei allen drei Kurven etwa zu derselben Zeit, um 4 Uhr vor-
mittags, erscheint; dasselbe ist auch mit dem Zeitpunkte des Maximums,
um 7 Uhr nachmittags, der Fall. Die Kurve I ist aber entschieden flacher
als die beiden übrigen Kurven, der Umfang der Schwankungen ist hier nur
!) Skand. Arch. f. Physiol. 8, 85, 1898
566 Die Tagesschwankungen der Körpertemperatur.
0,5°C, während er bei gewöhnlicher Lebensweise 1,1 beträgt. Es kann
daher nicht verneint werden, daß die Muskeltätigkeit in einem sehr wesent-
lichen Grade sowohl die Tagesschwankungen der Verbrennung als die der
Körpertemperatur beeinflußt.
Indessen sind die letzteren in der Kurve I, wenn auch erheblich be-
schränkt, dennoch nicht vollständig aufgehoben, und es läßt sich daher
denken, daß beim nüchternen Menschen noch andere Umstände hier beteiligt
sind. Demgegenüber möchte ich jedoch bemerken, daß selbst bei der vor-
sätzlichen Muskelruhe Schwankungen der Muskeltätigkeit vorkommen (vgl.
S.457), und daß am Tage allerlei Einflüsse sich viel stärker geltend machen
als während der Nacht, wo alles still ist. Ich glaube also, daß die Tages-
schwankungen der Körpertemperatur, wenn der Einfluß der Nahrung und der
umgebenden Temperatur ausgeschlossen sind, fast ausschließlich aus Schwan-
kungen der Muskeltätigkeit herzuleiten sind.
Es ist möglich, daß die Variationen der Körpertemperatur in Johanssons
Versuchen zum Teil auch durch entsprechende Schwankungen der umgebenden
Temperatur bedingt waren, denn wir finden in der von ihm') mitgeteilten graphi-
sehen Darstellung seiner Ergebnisse einen nicht zu verkennenden Parallelismus im
Verlaufe der beiden Temperaturen ?).
Es gelingt zuweilen, einen hungernden Hund den ganzen Tag hindurch ganz
ruhig zu halten, wie dies aus den oben (8.417) angeführten Beobachtungen von
Rubner über die stündlichen Variationen der CO,-Abgabe hervorgeht. Bei drei
solchen Tieren hat Raudnitz®) von 9 Uhr vormittags bis 6 Uhr nachmittags
Temperaturbestimmungen gemacht und die Schwankungsbreite gleich 0,4, 0,55 und
0,12°C gefunden. Bei einem über 24 Stunden ausgedehnten Versuche von Praus-
nitz*) war die Schwankungsbreite der Temperatur eines hungernden Hundes nur
0,25 (Maximum 38,30, Minimum 38,05° C).
Für die Bedeutung der Muskeltätigkeit für die Tagesschwankungen
spricht noch die Tatsache, daß die Größe des Temperaturfalles bei vorsätz-
licher Muskelruhe von der Anfangstemperatur in hohem Grade abhängig ist,
und daß sich die Körpertemperatur dabei einem bestimmten Minimum nähert,
welches bei acht einstündigen Versuchen von Johansson durchschnittlich
36,56% C betrug (Maximum 36,72, Minimum 36,37, mittlere Variation + 0,08°C).
Dasselbe geht auch aus späteren Versuchen von v. Wendt) hervor. Nach
diesen wird beim nüchternen, vorsätzlich ruhenden Menschen das Minimum
nach etwa 1!/, Stunden erreicht; nach Aufnahme von Nahrung, insbesondere
von Eiweiß, ist die Sache mehr verwickelt, indem der Temperaturfall lang-
samer und unter verschiedenen Schwankungen erfolgt.
Wenn die hier vertretene Auffassung richtig ist, so würde man erwarten
können, daß bei umgekehrter Lebensweise, wenn die Arbeit während der Nacht
geleistet und der Tag zum Schlafen benutzt wird, auch der Verlauf der Tages-
schwankungen sich umkehren sollte, und daß also die Temperatur am Tage
herabsinken und während der Nacht ansteigen würde. Die am Menschen aus-
geführten hierher gehörigen Versuche scheinen indessen dieser NE keine
sichere Stütze zu geben.
') Skand. Arch. f. Physiol. 8, 142, 1898. — ?) Vgl. auch Hörmann, Zeitschr.
f. Biol. 36, 319, 1898, welcher dieselbe Auffassung wie Johansson vertritt. —
®) Zeitschr. f. Biol. 24, 471, 1888. — *) Ebenda 36, 349, 1898. — °) Finska Läkare-
sällskapets Handlingar 47 (2), 615, 1905.
en
U
“
Die Tagesschwankungen der Körpertemperatur. 567
Allerdings gibt Krieger!) an, daß der typische Gang der Tagesschwankungen
umkehrbar ist, sobald man am Tage schläft, in der Nacht wacht, ißt, trinkt und
arbeitet. Meines Wissens hat er aber seine hierher gehörigen Beobaehtungen nie
veröffentlicht. Auch Debzynski?) findet, daß nächtliche, anhaltende Muskel-
arbeit das Verhältnis der täglichen Temperaturschwankungen umkehrt und den
höchsten Temperaturstand am Morgen (37,8°C), den niedrigsten abends veranlaßt
(35,3°C), sowie daß Nachtwachen ohne Muskelarbeit ebenfalls, jedoch in sehr ge-
ringem Grade die Morgentemperatur steigert (morgens 37,7, abends 37,5°C). Ferner
erwähnt Carter‘), daß ein Ingenieur, der daran gewöhnt war, am Tage zu schlafen
und während der Nacht Arbeit zu leisten, eine Morgentemperatur von 37,25 und
eine Abendtemperatur von 36,8°C hatte. Endlich teilt Jaeger‘) Beobachtungen
an vier Militärbäckern, welche ihre Arbeit während der Nacht ausführten, mit;
ihre Temperatur war, solange sie arbeiteten, hoch und sank während der Ruhe-
zeit, so daß hier gewissermaßen eine Umkehr der Temperatur stattfand. Als aber
einer der Bäcker einen Tag ruhend im Bett zubrachte, verhielt sich sofort seine
Temperatur wie bei gewöhnlichen Menschen, ;
U. Mosso°) untersuchte an sich selber die Temperaturschwankungen während
4 Tage, während welcher er von 11 Uhr vormittags bis 6 Uhr nachmittags
schlief, um 11 Uhr abends frühstückte und um 6 Uhr morgens zu Mittag speiste ;
fast die ganze Zeit des Wachens beschäftigte er sich mit Lesen oder Schreiben.
Hierbei fand tatsächlich von Tag zu Tag eine Verschiebung des Temperatur-
maximums statt, indem dasselbe, welches bei normaler Lebensweise um 4 bis 5 Uhr
nachmittags eintraf, am vierten Tage der umgekehrten Lebensweise um 9 Uhr
vormittags erschien; die Zeit des Minimums verschob sich gleichzeitig von 6 Uhr
vormittags auf 11h 30’ nachmittags. Bei der umgekehrten Lebensweise stieg aber
die Körpertemperatur ununterbrochen; während sie normal durchschnittlich 36,67°
betrug, war sie am vierten Tage der umgekehrten Lebensweise 37,30°; normal war
das Maximum 36,90°, am vierten Tage aber 37,80°; an diesem Tage betrug das Minimum
36,80°, also nur 0,1° weniger als das normale Maximum. Das zu ungewöhnlieher
Zeit auftretende Maximum stellt daher gewissermaßen eine Superposition auf die
normale Temperaturkurve dar; bei Mossos Versuchen wurde also keine wirkliche
Umkehr der Temperaturkurve erzielt.
Nach der schon erwähnten Methode machten Benedict und Snell‘) Ver-
suche an einem jungen Manne, der 10 Nächte lang am Respirationskalorimeter von
Atwater beschäftigt war. Die Arbeit dauerte zwischen 6h 30’ nachmittags und
7h 30’ vormittags; diese Zeit umfaßten auch die Temperaturmessungen; das Mittag-
essen wurde um 1h30’ vormittags genossen. In den an dieser Person erhaltenen
Temperaturkurven läßt sich keine Neigung zu einer stufenweisen Veränderung des
allgemeinen Verlaufes der Kurve erkennen. Vielmehr tritt in der ersten Nacht-
hälfte das Fallen, am Morgen das Steigen deutlich hervor. Während der unmittelbar
auf die letzte Arbeitsnacht folgenden 12 Ruhestunden wurde die Temperaturmessung
noch fortgesetzt. Vergleicht man die gewöhnliche Ruhekurve mit der der letzten
24 Stunden der umgekehrten Lebensweise, so findet man allerdings eine auffallende
Verschiedenheit, aber keine Umkehrung des Verlaufes (Fig. 35 a.f.S.).
Selbst bei einem Manne, der 8 Jahre lang seine Arbeit während der Nacht
verrichtete und am Tage zwischen 12 bis 5 Uhr nachmittags schlief, stellte sich in
der Temperaturkurve, deren ganzer Verlauf übrigens sehr eigentümlich war, am
Abend die Neigung zum Fallen und am Morgen zum Steigen dar (Benedict’).
Dureh diese Erfahrungen würde man betreffend den Einfluß der Muskel-
leistungen auf die Tagesschwankungen der Körpertemperatur zweifelhaft werden,
wenn nicht selbst gegen diese Versuche eine übrigens von den Autoren selber
hervorgehobene Bemerkung gemacht werden könnte. Während des Versuches mit
!) Zeitschr. f. Biol. 5, 479, 1869. — ?) Medycina 1875, No. 8; zit. nach
Jahresber. f. d. ges. Medizin 1875 (1), 8. 248. — °) Journ. of nerv. and ment.
diseases 17, 785, 1890; zit. nach Pembrey, p. 802. — *) Deutsch. Arch. f. klin
Med. 29, 527, 1881. — °) Arch. ital. de biol. 8, 177, 1887. — °) Arch. f. d. ges.
Physiol. 90, 33, 1902. — 7) Amer. Journ. of Physiol. 11, 145, 1904.
568 Körpertemperatur und Muskelarbeit.
umgekehrter Lebensweise schlief die Versuchsperson beträchtlich kürzere Zeit, als
sie sonst gewöhnt war; infolgedessen liegt auch hier keine vollständige Um-
kehrung der Lebensweise vor. Übrigens lehrt uns doch die Erfahrung, daß
der Mensch, der nun einmal daran gewöhnt ist, am Tage zu arbeiten und während
der Nacht zu schlafen, nicht leieht es vermag, am Tage zu schlafen, auch wenn
die Naeht mit strenger Arbeit zugebracht ist. Besonders in den Städten fehlt am
Tage die Stille, die während der Nacht in einem so hohen Grade zum ruhigen
Schlafe beiträgt; auch das Licht läßt
Fig. 35. sich nicht in derselben Weise wie
N onuldaasoreommuatll,,4,5o, Während der Nacht ausschließen, wie
ST III MEIN TANET LA es auch für viele, vielleicht die
37ıl Say An rr PIE IN meisten Menschen, schwer ist, gut
36,9 a | ' einzuschlafen, wenn die gewöhn-
= \ A MEERE liche Zeit zum Schlafengehen sehon
36,3 DM | | vorbei ist.
Durch Versuche am Menschen
n.M. vM. _E _ dürfte also die vorliegende Frage
PM BGH 2: 0° MeSE ak © MORAL S SB. 7 4 7 noch nicht als entschieden erachtet
En "N 7 \ 5 und werden können. Wir besitzen aber
= N NE Beobachtungen an Tieren, die, wie
36,7 I es scheint, mit großer Deutlichkeit
Tagesschwankungen der Körpertemperatur. den Einfluß der körperlichen Tätig-
Nach Benedict und Snell. keit auf die Tagesschwankungen der
Die obere Kurve: gewöhnliche Ruhekurve; dieuntere Temperatur erweisen.
Kurve: am zehnten Tage bei umgekehrter Lebensweise, Beim Affen verhält sich die
Körpertemperatur unter normalen
Verhältnissen ganz wie beim Menschen, nur mit der Ausnahme, daß die Schwankungs-
breite hier etwas größer ist. Galbraith und Simpson!) stellten nun Versuche
in der Weise an, daß die Tiere am Tage im Dunkeln und während der Nacht im
Licht gehalten wurden: Hierbei trat eine Umkehr der Temperaturkurve sehr schön
hervor. Wenn die Tiere die ganze Versuchszeit im Dunkel gehalten wurden, so
verschwand die typische Form, und die Kurve zeigte nur zufällige, unregelmäßige
Variationen. Ganz dasselbe war der Fall, wenn die Tiere bei ununterbrochener
Beleuchtung gehalten wurden. Bemerkenswert ist auch die Beobachtung der ge-
nannten Autoren’), daß die Tagesschwankungen der Körpertemperatur bei den
Nachtvögeln den inversen Typus darbieten.
Daß die Körpertemperatur durch eine stärkere Muskelarbeit in die Höhe
getrieben wird, steht durch die Arbeiten von Davy°), Jürgensen‘), Lieber-
meister), Obernier‘), Bouvier’), Pembrey und Nicol®), Woodhead?),
Benedict und Snell!‘) u. a. außer jedem Zweifel. Beispielsweise sei an-
geführt, daß eine der Versuchspersonen von Jürgensen nach vierstündigem
Holzsägen eine Steigerung der Körpertemperatur um 1,10°C darbot. Eine Berg-
besteigung von 1% 44’ Dauer bewirkte bei Liebermeister einen Temperatur-
anstieg von 1,45°C. Benedict und Snell ließen ihre Versuchsperson während
8 Stunden eine Arbeit von etwa 222000 kgm leisten. Die Arbeit war auf
vier Perioden von je 2 Stunden verteilt. Ihre Wirkung äußerte sich in einer |
sehr rapiden Zunahme der Körpertemperatur, die dann, solange die Arbeit
dauerte, auf einem fast konstanten Niveau blieb. Pro zweistündige Arbeit
betrug die Steigerung bis zu 0,72°C.
!) Journ. of Physiol. 30, proceedings 20, 1903. — ?) Ebenda 33, 225, 1905. —
°) Davy, Researches 1863, p. 9, 16, 47. — *) Jürgensen, a. a. O., 8. 46. —
°) Liebermeister, a. a. O., 8. 81. — °) 8. Pembrey, p. 807. — 7) Arch. 2. d.
ges. Physiol. 2, 386, 1869. — °) Journ. of Physiol. 23, 386, 1898; Guys hospital
Reports 57, 283. — °) Journ. of Physiol. 23, proceedings 15, 1899. — !°) Arch. f.
d. ges. Physiol. 90, 46, 1902.
Körpertemperatur und Nahrungsaufnahme. 569
Auf der anderen Seite sinkt die Körpertemperatur während des Schlafes!),
was wohl vor allem mit der größeren Muskelruhe in Zusammenhang gebracht
werden muß, denn die Temperatur sinkt nicht tiefer im Schlafe, als wenn
die Versuchsperson zu derselben Zeit des Tages in wachem Zustande ganz
still liegt.
Nach Davy?) würde auch die geistige Arbeit die Körpertemperatur
erhöhen. Desgleichen gibt Gley°) an, daß seine Temperatur bei stillem
Lesen um etwa 0,16°C ansteigen konnte. Auch Rumpf) findet, daß durch
angestrengte geistige Arbeit die Temperatur etwas erhöht wird. Albutt5)
konnte aber bei geistiger Arbeit keine Temperatursteigerung beobachten, und
es liegt alle Wahrscheinlichkeit in der Folgerung Specks$6), daß, wenn bei
geistiger Arbeit eine Steigerung des Stoffwechsels (und der Temperatur)
erscheint, diese auf einer gleichzeitigen Muskeltätigkeit beruht, wie es ja eine
allgemeine Erfahrung ist, daß bei stark gespannter Aufmerksamkeit unwill-
kürliche Muskelbewegungen leicht auftreten.
Über die Einwirkung der Nahrungsaufnahme liegen Beobachtungen von
Davy’), Lichtenfels undFröhlich®), Jürgensen®), Ringer und Stuart!P),
Liebermeister!!), Pembrey und Nicol!2), Benedict und Snell!3) u. a. 1)
vor. Aus denselben folgt, daß die Nahrungsaufnahme allerdings eine Tem-
peratursteigerung um etwa 0,1 bis 0,4°C verursachen kann, daß aber der
Gang der Körpertemperatur in der 24stündigen Periode von dem Zeitpunkte
der Nahrungsaufnahme nicht beherrscht wird. Die durchschnittliche Tem-
peratur pro 24 Stunden zeigt beim Hungern eine Abnahme, die aber nur von
geringem Grade ist). Nach Benedict und Snell besteht die Hauptwirkung
des Fastens in einer Verminderung der Schwankungsbreite der Temperatur-
kurve. Wurde nach schwerer Arbeit gefastet, so erniedrigte sich die Schwan-
kung bei langen Perioden von nahezu stetiger Temperatur auf etwa 0,6°C.
An den Fastentagen, nach vorhergegangener schwerer Arbeit sank der
Durchschnittswert der Körpertemperatur nahezu um 1°C.
Angesichts der durch Muskeltätigkeit stattfindenden chemischen Wärme-
regulation (vgl. Stoffwechsel 8.459) ist es nicht leicht, die Einwirkung der
Außentemperatur auf die Körpertemperatur rein zum Ausdruck zu bringen.
Von vornherein ist es indes selbstredend, daß die Körpertemperatur beim
vollständig ruhenden, nüchternen Menschen um so schneller herabsinken
muß, je niedriger die Außentemperatur ist.
Durch später zu erörternde Beobachtungen ist es ein für allemal fest-
gestellt, daß die Körpertemperatur bei den frei lebenden warmblütigen Tieren
trotz sehr hoher, bzw. sehr niedriger Außentemperatur dennoch im großen
und ganzen unverändert bleibt. Innerhalb gewisser, für verschiedene Tier-
') Vgl. Jürgensen, a.a. O.; Liebermeister, a.a.O., 8.87, 92; U. Mosso,
Arch. ital, de biol. 8, 177, 1887. — ?) Davy, Researches 1863, p. 18 (Phil. Transact.
1845). — ?) Richet, La chaleur animale, p. 98. — *) Arch. f. d. ges. Physiol. 33,
601, 1884. — °) Pembrey, p. 808. — °) Arch. f. exper. Pathol. 15, 143, 1881. —
7) J. Davy, Researches 1863, p. 19. — °) Denkschr. d. Akad. d. Wiss. Wien,
math.-naturw. Kl. 3 (2), 113, 1852. — °) Jürgensen, a..a.0., 8. 21. — '°) Proc.
of the Royal Society 26, 194, 1877. — "') Liebermeister, a. a. O., 8. 88. —
2) Journ. of Physiol. 23, 386, 1898. — '?) Arch. f. d. ges. Physiol. 90, 50,
1902. — ') Vgl. Pembrey, p. 809. — '°) S. aueh Skand. Arch. f. Physiol. 7,
36, 1896.
570 Körpertemperatur und Außentemperatur.
arten verschiedener Grenzen übt also die Außentemperatur, wenn die chemische
Wärmeregulation nicht absichtlich gestört wird, nur einen verhältnismäßig
geringen Einfluß auf die Körpertemperatur aus, und es wird sich hier also
nur um Veränderungen ziemlich geringen Umfanges handeln.
Über die dauernde Einwirkung verschieden hoher Temperaturen machte
Davy!) während einer Reise von England nach Ceylon Beobachtungen an vielen
gesunden Individuen. Durchschnittlich betrug die in der Mundhöhle gemessene
Temperatur bei 15,6°C: 36,9, bei 25,6: 37,2°, bei 26,7: 37,60°). Reynard und
Blosville®) fanden bei 26 bis 30° die Temperatur bei acht Männern gleieh 37,58,
bei 12 bis 17° aber nur 37,11°. Rattray*) hatte am Äquator (28,9°C) in. der
Mundhöhle eine Temperatur von 37,25, in England (18,3°C) eine von 36,8%. Bei
acht Individuen beobachtete Brown-Sequard’) eine Temperaturzunahme um
1,35°C, wenn die Außentemperatur von 8 auf 29,5°C anstieg.
Dagegen beobachtete Crombie‘) in Bengalen nur eine Steigerung um 0,23°C
und fügt außerdem hinzu, daß die Differenz der Temperatur im gemäßigten Klima
gegenüber bei längerem Aufenthalt noch mehr abnahm. Neuhauss’) fand die
um 6 Uhr morgens gemessene Rectaltemperatur im gemäßigten Klima, bei einer
Außentemperatur von 8 bis 18°, durehschnittlieh gleich 36,65, in den Tropen, bei
einer Außentemperatur von 22 bis 31°, durchschnittlich 36,9 C.
Endlich geben Boileau, Thornley und Furnell?), auf ein sehr umfang-
reiches Material gestützt, an, daß die Temperatur des gesunden Europäers in der
Axille in den Tropen ganz dieselbe ist wie in England. Boileau spricht sogar
den Gedanken aus, daß die Temperatur in den Tropen wegen der starken Wasser-
verdunstung etwas geringer als im gemäßigten Klima sei. Auch Eykman’) gibt
an, daß die mittlere Temperatur des ruhenden Menschen in den Tropen durchaus
nicht höher ist als in der gemäßigten Zone.
Aus diesen Erfahrungen dürfte folgen, daß sich die Einwirkung eines warmen
Klimas auf verschiedene Individuen etwas verschieden gestaltet, je nachdem die
Fähigkeit derselben, gegen die höhere Außentemperatur zu kämpfen, mehr oder
weniger ausgebildet ist. Bietet es einem Individuum große Schwierigkeit, durch
Veränderungen der Wärmeabgabe sich von der überschüssig gebildeten Wärme zu
befreien, so muß selbstverständlich die Körpertemperatur bei einer Außentemperatur
ansteigen, die von einem anderen Individuum ganz wohl ertragen wird.
Die starken Veränderungen der Wärmeabgabe, die durch verschiedene kalte
oder warme Bäder bewirkt werden, üben auf. die Körpertemperatur eine große
Wirkung aus. Ich muß indes wegen Mangel an Raum unterlassen, diese Erschei-
nungen, welche vor allem aus dem Gesichtspunkte der Hydrotherapie studiert
worden sind, hier näher zu besprechen.
Unter Bezugnahme auf die Erfahrungen über die durch verschiedene
Variablen bewirkten Veränderungen des Stoffwechsels (vgl. Kap. V und VI der
Stöffwechselphysiologie) würden die beim nichtfiebernden, warmblütigen
Tiere auftretenden Temperaturschwankungen etwa in folgender Weise aufzu-
fassen sein.
Das Vermögen des Körpers, seine Temperatur zu regulieren, ist verhältnis-
mäßig beschränkt, vor allem weil seine Wärmebildung nicht ausschließlich
von dem augenblicklichen Bedarf an Wärme bestimmt ist, sondern auch, und
zwar in einem sehr wesentlichen Grade, auf den eigenen Leistungen der
‘) J. Davy, Researches 1, 161, 1839. — °) Vgl. auch derselbe, Researches
1863, p. 15, 45, 50 (Phil. Transact. 1845, 1850). — ®) Pembrey, p. 812. — *) Proe.
of the Royal Soe. 18, 526, 1870. — °) Journ. de la physiol. 2, 549, 1859. — °) Pem-
brey, p. 813. — 7) Arch. f. pathol. Anat. 134, 365, 1893. — °®) Lancet 1873 (2),
23. Aug.; 1878 (1), 413, 554; (2), 110. — °) Arch. f. pathol. Anat. 133, 105, 1893;
140, 125, 1895; vgl. auch Glogner, Ebenda 116, 540, 1889.
nl el ua
a
sn de
Die Tagesschwankungen der Körpertemperatur. 57ıl
Organe beruht. Wenn die Wärmebildung ausschließlich von dem Wärme-
verlust abhängig wäre, so könnte man sich eine wirklich konstante Tem-
peratur wenigstens denken. Als einen solchen Zustand könnte man möglicher-
weise die vorsätzliche Muskelruhe beim nüchternen Körper auffassen, und in
der Tat nähert sich ja die Körpertemperatur hier allmählich einem ziemlich
bestimmten Punkte. Sobald aber eine regere Tätigkeit im Körper entsteht
— Verdauung, Muskelleistung — so steigt die Wärmebildung augenblicklich
an; die Wärmeabgabe kann dieser vermehrten Wärmebildung nicht sogleich
folgen: es muß also die Körpertemperatur zunehmen. Je intensiver die
Arbeit ist, um so mehr steigt ceteris paribus die Temperatur an, obgleich die
gleichzeitig stattfindende verstärkte Wärmeabgabe die Steigerung doch inner-
halb mäßiger Grenzen hält. Wenn sich der Tag zu Ende neigt und die
Muskelbewegungen usw. allmählich kleineren Umfanges werden, beginnt auch
die Körpertemperatur herabzusinken, bis endlich das Minimum im Laufe der
Nacht erreicht wird.
Aus seinen Erfahrungen über die Körpertemperatur und deren Varia-
tionen abstrahierte Jürgensen ein allgemeines Gesetz, welches nach ihm
den ganzen Komplex der Erscheinungen beherrscht. Beim gesunden Menschen
ist unter allen Umständen das Bestreben vorherrschend, ein bestimmtes
Tagesmittel der Temperatur zu erreichen, welches sich mit geringfügigen
Schwankungen um 37,2°C bewegt. Um dieses Mittel zu erreichen, finden
Kompensationen statt. Diese können sich über kürzere oder längere Zeit
erstrecken, und zwar ist die Regel, daß sie sich nicht unmittelbar nach einer
Abweichung von der Norm in voller Stärke zeigen; auch wird dabei eine
bestimmte absolute Zahl nicht überschritten.
Den Beweis für dieses Gesetz findet Jürgensen wesentlich in der Er-
scheinung, daß an einem und demselben Individuum die Mittelzahlen für
eine genügend lange Periode, trotz sehr variierender äußerer Lebensbedin-
gungen, eine merkwürdige Konstanz darbieten: Wärmeentnahme oder Wärme-
zufuhr, Hunger oder reichliche Kost, Arbeit oder Ruhe verändern in dieser
Beziehung nichts, immer kommt bei einer genügend langen Dauer der Be-
obachtung (2 bis 9 Tage) dieselbe Mittelzahl heraus.
Jürgensen machte keinen Versuch, das Kompensationsgesetz näher zu
erklären, und, soviel ich ihn verstehe, scheint er an eine nicht näher zu
definierende Tätigkeit des Körpers zu denken. Meinerseits stelle ich mir
vor, daß sich die Erscheinung aus dem, was wir schon betreffend der Wärme-
ökonomie des Körpers kennen, ziemlich befriedigend erklären läßt. Wir
wissen, wie eine Abkühlung des Körpers, wenn sie nicht zu weit getrieben
wird, eine vermehrte Wärmeproduktion hervorruft, wodurch der Abkühlung
Widerstand geleistet wird. Diese vermehrte Wärmebildung ist indessen nicht
so genau abgepaßt, daß nicht ein Überschuß an Wärme unter Umständen
erzeugt wird, infolgedessen die Temperatur etwas ansteigen muß. Der
weiteren Steigerung wird durch die jetzt eintretende Gegenregulation wieder
entgegengewirkt. Nach einer starken Muskelarbeit ist, wegen der Er-
müdung usw., die Muskelspannung geringer als gewöhnlich beim ruhenden
Menschen: die Wärmebildung ist somit geringer und die Körpertemperatur
sinkt leichter als sonst auf das Minimum. In derselben Weise können wahr-
scheinlich sämtliche Kompensationen aus schon bekannten und sicher fest-
572 Die Körpertemperatur in verschiedenem Alter.
gestellten physiologischen Tatsachen eine befriedigende Deutung finden, ohne
daß wir zur Annahme eines dunkeln Strebens des Körpers, ein bestimmtes
Tagesmittel zu erreichen, gezwungen wären !).
Die Variationen der Körpertemperatur in verschiedenem Alter sind im
großen und ganzen nur wenig erheblich.
Da der Fötus einen gewissen, wenn auch geringen Stoffwechsel hat,
muß seine Körpertemperatur etwas höher als die der Mutter sein, was auch
durch direkte Beobachtungen erwiesen worden ist. In der Regel beträgt die
Differenz indes nur etwa 0,2 bis 0,3°C, obgleich auch viel größere Difte-
renzen beobachtet worden sind ?).
Unmittelbar nach der Geburt beträgt die Temperatur durchschnittlich
nach Bärensprung?) 37,8, nach Schäfer.*) 37,6, nach Eröss) 37,6, nach
Sommer ®) 37,7, nach Förster”) 37,6,
Fig. 36.
nach Wurster) 37,4 und nach Feh-
I SE WW W V W VI VI RTage
verändert, ist aus Fig. 36 ersichtlich,
wo die von Bärensprung (B), Förster
” ling?) 38,10C.
Kl: IS Sofort nach der Geburt erfährt die
SEE ya = Temperatur teils durch die Abkühlung
3 LE u im Bade, teils, und zwar hauptsächlich,
8 NS FE u —- durch die Veränderungen der Wärme-
3 / ! _R > — SF bildung und -abgabe einen Abfall von
TON IE | ZT durchschnittlich etwa 0,6 bis zu 1,90C,
r ! $ > — wonach sie wieder anfängt zu steigen.
BEIN Wie sich die Körpertemperatur dabei
4
I
rm] per
7 (F), Eröss (E), Sommer (S) und Jun-
3o,0LEh dell10) (J) ermittelten Werte übersicht-
lich zusammengestellt sind. Zu bemerken
ist, daß Försters Messungen in der
Die Körpertemperatur während der ersten Axille, die übrigen im Rectum aus-
Lebenstage nach Jundell. Vgl. den Text. geführt sind. Aus den Kurven ist ohne
weiteres ersichtlich, daß die Körpertemperatur nach dem starken Abfallen
bald wieder die Höhe von durchschnittlich etwa 37°C erreicht.
Angesichts der normalen Tagesschwankungen der Körpertemperatur
lassen sich einigermaßen befriedigende Aufschlüsse über die Temperatur in
verschiedenem Alter nur durch konsequent durchgeführte Messungen zu ver-
schiedenen Stunden des Tages erhalten. Solche Messungen hat Jundell!!)
>»
Soo0oO m
u
©
Si
») Vgl. Jundell, Jahrb. f. Kinderheilk., N. F., 59, 608, 1904. — ?) 8. Preyer,
Die spezielle Physiologie des Embryo, Leipzig 1885, 8. 362. — °) Arch. f. (Anat. u.)
Physiol. 1851, 8. 138. — *) Vgl. Preyer, a.a.0., 8. 369£. — °) Jahrb. f. Kinder-
heilk., N.F., 24, 189, 1886. — °) Deutsche med. Wochenschrift 1880, 8. 569, 586,
595, 605, zit. nach Jundell. — 7°) Journ. f. Kinderkrankh. 39 (1862), zit. nach
Jundell. — °) Berl. klin. Wochenschr. 1869, 8. 393. — °) Arch. f. Gynäko-
logie 6, 385, 1874; vgl. auch Vierordt, Physiologie des Kindesalters in Gerhardts
Handb. d. Kinderkrankh., Tübingen 1881, 8. 379. — !) A.a. O., 8.523. —
lı) A. a. O., 8. 614; vgl. Bärensprung, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1851,
8.153; Ringer und Stuart, Proceed. of the Royal Society 26, 194, 1877; Pem-
brey, p. 804.
Die Körpertemperatur in verschiedenem Alter. 573
an Menschen von 5 Tagen bis 22 Jahren neuerdings veröffentlicht. Seine
Resultate sind folgende.
Alter Mittlere Temperatur
b bis 8 Tage: Serena, 36,82
& Dis 5 Wochen. aa nn. 37,183
3'Mohate . 7. or a 37,12
6 Monate : "FETTE EEE NN, 37,15
2 Dis 5 Jahre 36,92
18 bis-22 Jahre FE 36,85
Wie ersichtlich, sind die Variationen nur sehr klein, und die maximale
Differenz beträgt nur 0,33°C.
Im hohen Alter würde, nach mehreren Autoren !), die Körpertemperatur
. (Rectum) ein klein wenig ansteigen, was aber von anderen, unter der Be-
merkung, daß kein Unterschied vorliegt, oder daß die Temperatur sogar
niedriger ist, in Abrede gestellt wird. So gibt z. B. Chelmonski, der die
Temperatur an 54 Greisen zwischen 71 bis 98 Jahr alt untersuchte, an, daß
dieselbe in der Axille am Morgen durchschnittlich 36,3, am Abend 36,11°C
betrug; an 15 Greisen desselben Alters war die Rectaltemperatur durch-
schnittlich am Morgen 36,58, am Abend 36,65°C. Auch Charcot findet,
daß die Rectaltemperatur bei alten Individuen etwa gleich groß wie bei jün-
geren ist, bemerkt aber, daß die Temperatur der Axille um 1°C und mehr
niedriger als diese sein kann, sowie daß sie sich durch eine sehr große
Beweglichkeit auszeichnet.
Die ausführlichsten Beobachtungen über die normalen Tagesschwankungen
bei Menschen in verschiedenem Alter verdanken wir Jundell?2). Seine Re-
sultate, denen mehr als 3000 Einzelbeobachtungen zugrunde liegen, sind. in
Fig. 37 bis 41 (a.f. S.) graphisch dargestellt. Die Kurven stellen Durchschnitts-
zahlen dar, und in denselben sind also alle als zufällig zu betrachtenden Varia-
tionen ausgeglichen. Bei Säuglingen während des 5. bis 8. Lebenstages (Fig. 37)
begegnen wir nur ganz geringfügigen Variationen, und wir haben hier noch
keine Andeutung von dem normalen Verlauf der Tagesschwankungen. Nicht
ohne Grund bemerkt Jundell im Anschluß hierzu, daß dieses Resultat eine
kräftige Stütze der Auffassung erteilt, nach welcher die normalen Tages-
schwankungen vor allem durch die Variationen der Muskeltätigkeit verursacht
sind, denn gerade beim neugeborenen Kinde bietet weder die psychische noch
die körperliche Tätigkeit den ganzen Tag hindurch irgend welche erhebliche
Schwankungen dar.
Schon bei Kindern im Alter von 4 bis 5 Wochen (Fig. 38), bzw. 2 Mo-
naten (Fig. 39) stellen sich die betreffenden Variationen der Körpertemperatur
typisch dar; sie werden bei 6monatigen (Fig. 40) und 2- bis 5jährigen
Kindern (Fig. 41) noch accentuierter und verhalten sich bei denselben ganz
wie bei dem erwachsenen Menschen.
!) Vgl. Davy, Researches 1863, p.4; Bärensprung, a.a.0., 8.154; Char-
cot, Gazette hebd. d. med. 1869, p. 324; Pembrey, p.805; Chelmonski, Deutsch.
Arch. f. klin. Med. 61, 206, 1898. — ?) Jahrb. f. Kinderheilk., N.F., 69, 521, 1904;
über die von Jundell benutzte Methode vgl. das Original.
574 Die Körpertemperatur in verschiedenem Alter.
Um dieses Verhalten zahlenmäßig ausdrücken zu können, hat Jundell
nach dem Vorgange Jürgensens die mittlere Tages- und die mittlere Nacht-
temperatur berechnet. Da indessen eine derartige Trennung doch ziemlich
Fig. 37.
= —— I PT. I
> u I N L—
12-1 2-3 4-5 6-7 8-9 10-11 13-1 2-3 4-5 6-7 8-9 10-11
v.M. D,
Fig. 38.
3
9 KT
1 N N
04
36,8 12-1 2-3 4-5 6-7 8-9 10-11 19-1 2-8 4-5 6-7 8-9 10-11
v.M. n. M.
Fig. 39.
4
; A
: 1 el]
|
1 Fed) N
37,0 A
& Nr
36,8 R
2-1 2-3 4-5 6-7 8-9 10-1 91 2-8 4-5 6-7 8-9 vu
v.M. n.M.
Fig. 40.
4
x LT
1 / \
37,0 /
RT E
“ B
8 N
7 N
36,6
12-1 2-3 4-5 6-7 8-9 10-11 19-1 2-8 4-5 6-7 8-9 0-11
v.M. n. M.
Fig. 41.
; =
2 IT” \
3 \
N
37,0 / \
i \
1 n
6 Pa IR
4
36,3 ==
3 B-1 3-3 4-5 6-7 8-9 W-11 18-1 2-8 4-5 6-7 8-9 ll
v.M. n.M
Tagesschwankungen der Körpertemperatur bei Kindern
von verschiedenem Alter, nach Jundell.
Fig. 37, 5. bis 8. Lebenstag. Fig.38, 1. Monat. Fig.39,
Ende des 2. und Anfang des 3. Monats. Fig. 40, 6. Monat.
Fig. 41, 2. bis 5. Lebensjahr.
willkürlich ist, scheint es mir
einfacher, die Schwankungs-
breite aus der Differenz
zwischen Maximum und Mini-
mum der 24 stündigen Periode
herzuleiten. In dieser Weise
berechnet, ergeben Jundells
Beobachtungen folgendes (8.
Tabelle auf folgender Seite).
Wenn der Körper einer
zu starken Abkühlung oder
Erwärmung ausgesetzt wird,
so vermag er nicht mehr seine
Eigentemperatur zu regu-
lieren, und dieselbe sinkt und
steigt dann mit der Außen-
temperatur. Je mehr sich
die Körpertemperatur unter
solchen Umständen von der
normalen entfernt, um so
größer werden auch die Stö-
. rungen der Körperfunktionen.
Über die bei Abkühlung des
Kaninchens erscheinenden Ver-
änderungen hat Winternitz')
folgende Erfahrungen mitgeteilt.
Eine Abkühlung des Tier-
körpers auf rund 34 bis 31°C
wirkt schädigend auf wärme-
regulatorische Zentren des Groß-
hirns, denn die Zitterbewegung
tritt selbst auf forcierte Ab-
kühlung nicht mehr regelmäßig
ein, und .die Fähigkeit des Tier-
körpers, unter den bestehenden
Verhältnissen bzw. bei mäßiger
Erhöhung der Außentemperatur
die Eigentemperatur wenig-
stens vorübergehend zu steigern,
schwindet; weiter auf einzelne
Teile des Kopfmarkes, denn die
Atemfrequenz sinkt sehr be-
trächtlich ab.
Eine Abkühlung auf "31
bis 29°C beeinflußt weiter vor-
wiegend bestimmte Verriehtungen des Großhirns und des Kopfmarkes. Das Tier
zeigt bedeutende Neigung zum Einschlafen,
die auf bewußte Empfindung zu
beziehende Reaktion auf pathische Reize ist schwächer oder bleibt aus, der
!) Arch. f. exp. Path. 33, 286, 1894.
EEE WERDFLEEN OEREE
..
em -
Die Körpertemperatur bei starker Abkühlung. 575
Maximum Minimum Schwankungsbreite
DB: bis" 8. Tags ern 36,96 86,71 0,25
4. bis 5..Woche . .. . 837,29 36,89 0,40
2. bis 3. Monat . .... 37,37 36,81 0,56
8:Mönateinys Ars 37,41 36,60 0,81
2: bie 8 Jahr... ..-. ag 37,48 36,36 1,12
18.518722. Jahr. „1. 37,36 36,25 1711
Pupillarreflex auf starken Lichtreiz ist kaum mehr vorhanden, die Pupille verbleibt
in mittelweiter Ausdehnung; starke Geräusche schrecken das Tier nicht regel-
mäßig auf.
Bei einer ferneren Abkühlung auf rund 29 bis 26°C wurden unter Zunahme
der erwähnten Störungen die übrigen cerebralen Funktionen und auch solche des
Rückenmarkes in Mitleidenschaft gezogen. Das Tier läßt sich leicht hypnotisieren,
man kann es mit sanfter Hantierung in eine ungewohnte Stellung bringen, worauf
es dieselbe eine geraume Weile beibehält. Es zeigt schon Störungen der Koordi-
nation usw.
Bei Abkühlung auf 26 bis 22°C nehmen diese Störungen erheblich zu; jetzt
ist auch das Vasomotorenzentrum deutlich mitbetroffen. Das Tier liegt soporös
auf der Seite, versucht sich manchmal, besonders auf äußere mechanische Reize
hin, aufzurichten, wobei jedoch die eine oder die andere Extremität nachgeschleppt
wird. Schwächere Hautreize werden weder durch reflektorische Zuckung noch
durch Atmungsveränderung beantwortet. Der Blutdruck beginnt zu sinken.
Abkühlung auf 22 bis 19°C bewirkt terminale Lähmung der lebenswichtigen
Zentren des Kopfmarkes. Das noch schwerer soporöse Tier führt nur einzelne
unvermittelte Bewegungen aus, zeitweilig treten kurzdauernde krampfartige Be-
wegungen auf. Bei tiefem Einstich erscheinen ausgebreitete Reflexe, jedoch nur
schwach und nicht mehr regelmäßig, und auch diese hören allmählich auf. Der
Cornealreflex erlischt vollständig, die Atmung hört auf, der Blutdruck sinkt völlig
ab, das Herz führt jedoch auch jetzt noch auf kurze Zeit Bewegungen aus!').
Bei der Abkühlung leiden also zuerst die höchsten nervösen Zentren,
und nur bei fortgeschrittener Abkühlung werden auch die für die Erhaltung
des Lebens wichtigsten Zentren des Kopfmarkes gelähmt.
Beim Affen (Macacus rhoesus) hat Simpson 2) Wiederbelebungsversuche
nach starker Abkühlung gemacht. Bei einer Körpertemperatur von 14°C
betrug die Atmungsfrequenz nur 2 pro Minute; Herzschlag nicht mehr pal-
pabel. Dann wurde die Abkühlung ausgesetzt und das Tier in eine Um-
gebung von 42°C gebracht. Binnen 5 Stunden stieg die Temperatur auf
37,7°C an, und das Tier erholte sich vollständig. Zu bemerken ist, daß
schon bei einer Körpertemperatur von 25 bis 23°C eine Art von künstlichem
Winterschlaf erschien, bei welchem das Tier blieb und aus welchem es. nur
durch künstliche Mittel geweckt werden ‚konnte.
Entsprechend den Erfahrungen an Tieren hat man bei Menschen, deren
Körpertemperatur wegen starker Wärmeentziehung erheblich gesunken war,
vor allem Störungen der höchsten nervösen Zentren. beobachtet. Die be-
treffenden Individuen waren bewußtlos, kamen aber in mehreren Fällen bei
zweckmäßiger Behandlung wieder zum Bewußtsein und genasen. Die niedrig-
sten Körpertemperaturen, bei welchen noch eine Genesung eingetreten ist,
ı) Ygl. auch,Knoll, Arch, f. exp. Pathol. 36, 305; daselbst Übersicht der
früheren einschlägigen Arbeiten. — ?) Journ. of Physiol. 28, proceedings 37, 1902;
vgl. auch ebenda 32, 305, 1905.
576 Maximale Körpertemperaturen.
sind 22,5° (Janssen!), 24° (Reincke?) bzw. 24,7°C (Nicolaysen’?);
jedoch tritt der Tod nicht selten schon bei einer etwas höheren Körper-
temperatur ein ®).
Die Störungen, welche bei Erhöhung der Körpertemperatur erscheinen,
sind vor allem im Zusammenhang mit der Fieberlehre studiert worden. Eine
Darstellung derselben würde, wenn sie die zu erfüllenden Ansprüche einiger-
maßen befriedigen sollte, gar zu viel Raum beanspruchen, weshalb ich auf
eine solche hier ganz verzichte. Nur betreffend die obere mit dem Leben
noch vereinbare Grenze der Körpertemperatur will ich, nach Richet), einige
Angaben hier zusammenstellen und bemerke, daß sich diese ausschließlich
auf Individuen beziehen, die später genasen: Gehirnsyphilis (?) 43,6°
(Paget); Hystero-Epilepsie 43° (Mierzejewski); Typhoidfieber 42° (Al-
varenga, Thoma); Scharlach 43,6° (Vicente und Bloch); Pyämie 42,20
(Weber); Erysipelas 42° (Hirz); Malaria 43,3° (Mader); akuter Rheuma-
tismus 43,90 (Clinical Society, London), 43,50 (Ord und Ankle).
Es finden sich in der Literatur noch mehrere Angaben über eine noch höhere
Körpertemperatur, 50 bis 60 bis 70° und mehr, trotz welcher die Kranken sogar
genesen sind. Diese Angaben sind unzweifelhaft falsch, und in den meisten Fällen
auf Betrug der Patienten zurückzuführen. Zeigen ja Versuche an’ Säugetieren,
daß eine Körpertemperatur von etwa 45°C ihnen tödlich ist, sowie daß das Tem-
peraturmaximum bei Vögeln höchstens 51 bis 52°C beträgt‘°). Die obere Grenze
dürfte wohl vor allem von der Temperatur abhängen, bei welcher eine beginnende
Gerinnung der Eiweißstoffe auftritt.
Nach dem Tode sollte eigentlich die Körpertemperatur sogleich anfangen zu
sinken. Dies ist indes nicht der Fall: in der Regel behält der tote Körper eine
Zeitlang seine Temperatur unverändert bei, bevor das Sinken erscheint, zuweilen
kommt es auch vor, daß die Körpertemperatur nach dem Tode sogar ansteigt.
Beide Erscheinungen lehren uns, daß mit dem Tode des Gesamtkörpers, d. h. mit
dem letzten Atemzuge, die Verbrennung nicht sogleich aufhört, daß also in den
einzelnen Organen noch eine Lebenstätigkeit stattfindet. Da gleichzeitig die Zir-
kulation und die Schweißabsonderung aufgehört haben, wird die im Inneren des
Körpers gebildete Wärme besser als sonst im Körper zurückgehalten werden, was
natürlich die Abkühlung des Körpers etwas verschieben muß.
Die nach dem Tode erscheinende Steigerung der Temperatur tritt bei den-
jenigen Todesarten auf, wo kurz vor dem Tode eine starke Erregung des Nerven-
systems stattgefunden hat, also bei infektiösen Fieberkrankheiten, bei Verletzungen
des Rückenmarks und des Gehirns usw. In der Tabelle auf nebenstehender Seite
oben sind einige hierher gehörige Angaben zusammengestellt.
Experimentell haben Huppert’) und Richet°) diese Erscheinung an Kanin-
chen verfolgt und dabei in genauer Übereinstimmung mit dem, was man nach den
Erfahrungen am Menschen erwarten konnte, gefunden, daß ein Tier, das plötzlich,
z. B. durch Zerstörung des Kopfmarkes, getötet wird, oder kurz vorher oder
während des Todes lebhafte Bewegungen ausgeführt hat, die postmortale Tem-
peratursteigerung aufweist, während die Temperatur eines durch Chloroform
getöteten Kaninchens nach dem Tode langsam herabsinkt, wie schon vor dem Tode
die Körpertemperatur abnimmt, und zwar kann im letzten Falle das noch lebende
!) Deutsches Arch. f. klin. Med. 53, 249, 1894. — *) Ebenda 16, 15, 1875. —
®) Nordiskt Mediecinskt Arkiv 7, No. 19, p. 4, 1875. — *) Vgl. auch Peter, Gaz.
hebd. de med. 1872, p. 499. — °) Vgl. Richet, p. 121, wo zahlreiche derartige
Angaben zusammengestellt sind. — °) Vgl. Bernard, Lecons sur la’chaleur ani-
male. Paris 1876, p. 349; Rosenthal, Zur Kenntnis der Wärmeregulierung bei
den warmblütigen Tieren. Erlangen 1872, 8.15. — 7) Arch. d. Heilk. 8, 321. —
®) Richet, La chaleur animale, p. 139.
ne
Die Körpertemperatur nach dem Tode. . 577
Temperatur °C
Zeit Ort der
vor nach nach dem Krankheit Temperatur- Autor
dem | dem Tode messung
Tode | Tode
— 1.45,0 1 3%, Bt. Pyämie Linke Kammer | Davy'), 1828
— | 42,2 | 5%, „ || Plötzlicher Tod 5 Davy'), 1828
m DT EEREFN „ Blattern Axille Simon?), 1865
— | 445 _ i u Simon ?), 1865
41,1 | 44,5 — Hitzschlag Pr Levick ?), 1868
44,8 | 45,4 | 57 Min. Tetanus E Wunderlich?°), 1863
43,8 | 42 | 45 „ Tuberkulose - Wunderlich), 1863-
Meningitis
43,2 | 43,6 | 15 „ Erysipelas “ Eulenburg‘*), 1865
41,4 | 42,3 | 20 „ “ a Eulenburg‘*), 1865
36,1 | 38,3 in Gehirnsehlag z De Haen’)
41,6 | 48,0 | 30 „ Tetanus 2 Lehmann’), 1868
43,0 | 44,0 | 60 „ Pyämie Recetum Quincke u. Brieger‘),
1879
42,0 | 43,2 | 60 „ Pneumonie z Quincke u. Brieger‘),
1879
411 | 48,3 115 ,, Rückenmarks- Axille Churchill?)
verletzung
Tier sich schneller abkühlen als der tote Körper nach einem gewaltsamen Tode.
Es ist nieht unmöglich, daß hier auch die schnell eintretende Muskelstarre einen
gewissen Einfluß ausübt.
Zweites Kapitel.
Die Topographie der Wärmebildung.
In der Physiologie des Stoffwechsels habe ich schon die Wärmebildung
im Körper und ihre unter verschiedenen Umständen stattfindenden Variationen
besprochen. Es erübrigt, den Anteil der einzelnen Organe dabei etwas ein-
gehender zu besprechen. Hierbei werde ich in erster Linie die Wärmebildung
bei vollständiger körperlicher Ruhe und in nüchternem Zustande berück-
sichtigen. Diese beträgt bei einem Menschen von 70kg Körpergewicht etwa
1680 Kal.
Über die Wärmebildung bei der Herztätigkeit haben unter anderen
Zuntz wie Loewy und v.Schrötter’) Berechnungen gemacht. Die letzteren
nehmen an, daß bei körperlicher Ruhe das Minutenvolumen des menschlichen
Herzens 3,85 Liter und der mittlere Blutdruck 100mm Hg betragen, und
!) Davy, Researches 1839, I, 228. Der erste Autor, der die Temperatur-
steigerung post mortem nachgewiesen hat, ist Busch (1819, zit. nach Richet,
p. 112). — ?) Nach Pembrey, p. 867. — °) Liebermeister, a. a. O., 8. 70. —
4) Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1865, S. 65. — °) Jahrb. d. ges. Medizin 139, 241, 1868. —
°) Deutsch. Arch: f. klin. Med. 24, 284, 1879; vgl. auch Richet, La chaleur
animale, Paris 1889, p. 135, und die daselbst zitierte Arbeit von Niederkorn, De
la rigidit6 cadaverique de ’homme. These, Paris 1872. — 7) Zeitschr. f. exper.
Pathol. 1, 108, 1905.
Nagel, Physiologie des Menschen, I 37
57 . Die Topographie der Wärmebildung.
finden dann die Arbeit des ganzen Herzens gleich 7,11 kgm pro Minute, d.h.
etwa 10000 kgm pro 24 Stunden. Wenn die Ausnutzung der Energie bei der
Herztätigkeit auf ein Drittel veranschlagt wird, so würde dies etwa 70 Kal.
entsprechen.
Die genannten Autoren nehmen ferner an, daß die Atemgröße pro Mi-
nute beim ruhenden Menschen 4,5 Liter beträgt, und daß pro Liter auf-
genommene Luft 5 ccm Sauerstoff verbraucht werden!). Dann würde die zur
Atmungsarbeit verwendete Sauerstoffmenge pro Minute 22,5ccm und pro
24 Stunden 32,4 Liter betragen, was etwa 150 Kal. entspricht.
Die Herz- und Atmungsarbeit würde beim ruhenden Menschen insgesamt
220 Kal. ausmachen und also nur etwas mehr als ein Achtel der gesamten
Wärmebildung decken können.
Unter den drüsigen Organen können beim Hunger allein die Leber und
die Nieren eine erwähnenswerte Bedeutung haben, denn die Leistungen der
sonstigen Drüsen sind, wie es aus der geringen Kotbildung beim Hunger
hervorgeht, nur ganz unbedeutend, und dasselbe dürfte wohl auch für die
Bewegungen des Verdauungsrohres gelten.
Die Leber hat aber nicht ihre alleinige Anfgabe als ein Verdauungs-
organ. Auch beim Hunger muß eine rege Tätigkeit und also eine nicht ge-
ringe Wärmebildung in ihr stattfinden. Über die Menge der in der Leber
gebildeten Wärme wissen wir allerdings nichts, daß aber Wärme dort entsteht,
geht durch die Messungen von Claude Bernard?) bestimmt hervor, nach
welchen das Pfortaderblut beim Hunde immer um 0,2 bis 0,4°C kälter war
als das Blut der Lebervene. Wenn wir bedenken, eine wie große Blutmenge
durch die Leber strömt, müssen wir die Bedeutung dieser Drüse für die
Wärmebildung im Körper ziemlich hoch veranschlagen. Nehmen wir an, daß
die Leber eines erwachsenen Menschen 1,5kg wiegt, daß sie pro Minute nur
100 Proz. ihres Gewichtes an Blut bekommt, und daß dieses in ihr nur um
0,2°C erwärmt wird, so würde dies bei 0,85 spezifischer Wärme 368 Kal.
betragen. Ich brauche kaum zu bemerken, daß auch dieser Zahl kein größerer
Wert beigemessen werden kann.
Durch gleichzeitige Messung der Temperatur in der Aorta und im Ureter
fand Grijns®), daß der Harn sehr oft wärmer ist als das arterielle Blut; daß
dies nicht immer der Fall war, und daß das Blut nicht selten wärmer war
als der Harn, spricht nicht gegen die Annahme einer bedeutenden Wärme-
bildung in der Niere, denn hier kommt wahrscheinlich die unvermeidliche
Abkühlung des Harnes während dessen Strömung vom Nierenbecken bis zu
dem Orte, wo das Thermometer eingesetzt war, in Betracht. Die Differenz
der Temperatur des Harnes und des Blutes konnte bis zu + 0,4200 steigen.
Die beiden Nieren eines erwachsenen Menschen wiegen rund etwa 300g und
bekommen pro Minute etwa die gleiche Blutmenge, d. h. pro 24 Stunden
432 Liter*). Wenn diese Blutmenge nur um 0,2°C erwärmt wird, beträgt
dies 74 Kal. Die Nieren können also in keinem wesentlicheren Grade bei
der- Wärmebildung. beteiligt sein.
!) Vgl. Zuntz und Hagemann, Der Stoffwechsel des Pferdes, Berlin 1898,
S. 370. — ?) Claude Bernard, Lecons sur la chaleur animale, Paris 1876, p. 190.
— °) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1893, 8. 78.— *) Vgl. Tigerstedt u. Landergren,
Skand. Arch. f. Physiol. 4, 241, 1892.
re
ne
u il) Del u Zn Zn ln dl
a ren
Die Wärmebildung in den Muskeln. 579
Wie Berthelot!) nachgewiesen hat, ist die Sauerstoffbindung des Hämo-
globins mit einer positiven Wärmetönung verbunden, und zwar beträgt diese
pro 32 g Sauerstoff 15,14 Kal., was pro 24 Stunden bei einem Stoffwechsel
von 1680 Kal. etwa 240 Kal. ausmacht. Andererseits findet aber durch den
Übergang der Kohlensäure in Gasform eine Wärmebindung statt, die nach
Berthelot?) pro 44g CO, 5,2 Kal. beträgt. Für 24 Stunden würde dies
72 Kal. entsprechen. Also ein Überschuß von 168 Kal. Diese Wärme wird
aber bei der Dissoziation des Oxyhämoglobins in den Geweben wieder ge-
bunden und kann also bei der Berechnung der Wärmebildung nicht in Betracht
kommen.
Verschiedene Tatsachen, über welche in einem anderen Abschnitte dieses
Handbuches zu berichten ist, zeigen, daß die graue Substanz im zentralen
Nervensystem einen sehr regen Stoffwechsel hat. Indes beträgt das gesamte
zentrale Nervensystem nur etwa 2,4 Proz. des Körpers, und da die graue
Substanz nur einen Bruchteil der weißen, wo der Stoffwechsel sehr gering ist,
darstellt, so kann die. Wärmebildung im Nervensystem für die gesamte Wärme-
bildung des Körpers nur eine’ sehr kleine Rolle spielen.
Wir erhalten also:
Herzarbeit:: 3.28 7.0 20 se: 70 Kal.
Atmunrsarbaitr al een 150 ,„
bebertätigkeit‘ wm are, 368 „
Nierentätigkeit . - - x. :-.».. TA
Summe 662 Kal.
Es bleiben beim ruhenden nüchternen Menschen noch etwa 1000 Kal.
zu decken, welche nur durch die Tätigkeit der Skelettmuskeln (mit Ausnahme
der Atemmuskeln) entstehen können.
Daß die Skelettmuskeln in der Tat als die wichtigste Quelle der Wärme-
bildung im Körper aufgefaßt werden müssen, geht aus zahlreichen Erfahrun-
gen hervor. Wissen wir ja, daß bei jeder Muskelkontraktion etwa drei Viertel
bis zwei Drittel der entwickelten Energie als Wärme erscheint, und daß in
vielen Fällen die der mechanischen Leistung entsprechende Energie dem
Körper als Wärme zurückerstattet wird.
Es läßt sich kaum denken, daß bei scheinbar ruhendem Muskel kein
Stoffumsatz stattfinden würde, denn überall, wo kein latentes Leben vorliegt,
ist ja das Leben mit einer Verbrennung, d. h. Wärmebildung unauflöslich
verbunden. Die Berechtigung dieser Auffassung ist durch die Versuche von
Meade Smith?) an Hunden über allen Zweifel erhoben worden. Nach Ab-
bindung des N.cruralis bestimmte er die Temperatur des Aortablutes und die
der Mm. vastus ext. und prof. teils bei offener Zirkulation, teils nachdem die
Blutzufuhr zum Hinterkörper durch Verstopfung der absteigenden Brustaorta
unterhalb des Abganges der linken A. axillaris aufgehoben worden war. Im
ersten Falle fand er z.B. folgende Zahlen:
!) Berthelot, La chaleur animale, 1, 72, Paris 1899. — ?) Derselbe, Ebenda
2, 50. — °) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1884, S. 261. Vgl. auch die entsprechen-
den Beobachtungen am Frosehmuskel von Blix, Skand. Arch. f. Physiol. 12,
94, 1901.
37*
580 Die Wärmebildung in den Muskeln.
Temperatur :
Differenz
des Muskels des Blutes
38,38° C 37,97° C + 0,41° C
38,41 38,13 + 0,28
38,74 38,21 + 0,53
38,28 37,90 + 0,38
Bei während 5 Minuten aufgehobener Zirkulation durch den Unterkörper
stellte sich folgendes heraus:
Temperatur Differenz
des Muskels des Blutes
am Beginn am Ende am Beginn am Ende am Beginn am Ende
34,63° C 34,64° C 34,59° C 34,50°C + 0,04° C + 0,14°C
39,07 39,11 39,18 39,09 — 0,02 + 0,02
38,21 38,27 38,06 37,95 + 0,15 + 0,32
36,19 36,21 36,10 35,80 + 0,09 + 0,41
39,88 39,96 39,90 39,78 — 0,02 + 0,18
Aus den Zahlen der zwei ersten Spalten finden wir, daß der vom Kreis-
lauf ausgeschaltete Muskel während 5 Minuten um 0,01, 0,04, 0,06, 0,02,
0,08, durchschnittlich um 0,04°C erwärmt wurde. Bei einer spezifischen
Wärme von 0,85 macht dies pro 1kg Muskel eine minutliche Wärmebildung
von 0,0068 Kal., d. h. pro 24 Stunden 9,8 Kal. Beim blutdurchströmten
ruhenden Muskel muß aller Wahrscheinlichkeit nach die Wärmeentwickelung
noch größer sein.
An curaresierten hungernden Hunden, bei welchen bei einer- Außentemperatur
von etwa 25°C die künstliche Atmung unterhalten wurde, fand Frank!) im
Verein mit F. Voit und v. Gebhard, daß die Kohlensäureabgabe ganz derselben
Größe oder nur wenig geringer war als bei denselben Tieren, wenn sie völlig ruhig
bei einer Außentemperatur von 17,5°C im Käfig lagen. Wenn der Körper vor
Wärmeverlust geschützt wird, so setzt also die Lähmung der Muskeln die Ver-
brennung im Körper nicht herab. Auch dies scheint zu bestätigen, daß die an-
scheinend ruhenden Muskeln nicht geringe Wärmemengen bilden.
"ini: Bei körperlicher Arbeit steigt der Stoffwechsel und die Wärmebildung,
wie bekannt, auf das Doppelte und höher an, und diese Zunahme kann nicht
aus einer anderen Ursache als gerade der Muskelleistung hergeleitet werden.
Wo also der Stoffwechsel beim nüchternen Menschen den Minimalwert von
1 Kal. pro Kilo und Stunde übersteigt, ist der Überschuß ohne weiteres auf
die Rechnung der Muskeln zu bringen.
Bei Aufnahme von Nahrung kommen noch die Leistungen der Verdauungs-
organe (Muskeln und Drüsen), sowie die direkte, ohne Beteiligung von Muskel-
tätigkeit stattfindende Einwirkung der resorbierten Nahrungsstoffe auf den
Stoffwechsel in Betracht. Die Tätigkeit der Muskeln des Verdauungsrohres
ist ohne Zweifel mit einer Wärmetönung verbunden, über deren Größe wir
indes nichts wissen.
!) Zeitschr. f. Biol. 42, 308, 1901; 43, 117, 1902.
a ae a SE A nn U nn
3 Bl 1 a FE nal nd in Zu
u nn
Die Wärmebildung in den Drüsen. 581
Ludwig und Spieß!) fanden, daß der Submaxillarisspeichel bis zu
1,5°C wärmer war als das Blut, und schlossen daraus auf eine starke Wärme-
bildung in der Drüse. Desgleichen beobachtete Bernard), daß bei Reizung
der Chorda die Temperatur der Unterkieferdrüse und des aus dieser strömen-
den Blutes zunahm. Demgegenüber sind Bayliss und Hill?) zu dem Re-
sultate gekommen, daß es mit unseren gegenwärtigen Mitteln nicht möglich
ist, bei der genannten Drüse eine Temperatursteigerung nachzuweisen; das
entgegengesetzte Resultat der früheren Autoren sei von verschiedenen Fehler-
quellen bedingt. Da indessen die Submaxillarisdrüse, wie aus den Erfahrun-
gen über ihren Gaswechsel hervorgeht, bei der Tätigkeit einen sehr regen
Stoffwechsel hat, so wird hier jedenfalls eine gewisse Wärmemenge gebildet
werden müssen, obgleich sie bei der während der Tätigkeit stattfindenden
starken Blutströmung nicht thermometrisch nachgewiesen werden kann. Auch
wenn fortgesetzte Arbeiten die Richtigkeit der Ludwigschen Resultate be-
stätigen würden, so kann doch weder die Unterkieferdrüse, noch die anderen
Speicheldrüsen als Quelle der Wärmebildung eine wesentlichere Rolle spielen,
da sämtliche Speicheldrüsen bei einem erwachsenen Menschen nur etwa 100g
‚wiegen und also weniger als 0,2 Proz. der Weichteile des Körpers betragen.
Drittes Kapitel.
Der Wärmeverlust des Körpers ?).
Die Wärmeabgabe des Körpers findet auf folgenden Wegen statt:
1. Ermärmung der genossenen Kost und der eingeatmeten Luft;
2. Abgabe von Kohlensäure und Wasserdampf bei der Atmung;
3. Wärmeverlust durch Leitung und Strahlung von der Körperoberfläche;
4. Abgabe von Wasserdampf von der Körperoberfläche.
Wesentlich im Anschlusse an Helmholtz’) und Rosenthal®) stellt
folgende Tabelle die Verteilung der Wärmeabgabe auf diesen verschiedenen
Wegen bei einem erwachsenen, nicht arbeitenden Manne dar:
A. Erwärmung der genossenen Kost und der eingeatmeten Luft.
1. Getrunken 1500 g Wasser von 15°C, wird auf 37,5° C
erwärzgt; als: um 22,807 34 Kal.
2. Genossen 1500 g Essen von 25°C im Durchschnitt,
wird auf 37,5° erwärmt, also um 12,5°; spezifische
Ware ER RE ee 16.
3. Eingeatmet 15000 g (= 11500 Liter) Luft von
15°C, wird auf 37,5° erwärmt, also um 22,5°;
spezifische Wärme 0,287 ie. u. ee een a Tr RR, 129 Kal.
!) Sitzungsber. d. Akad. d. Wiss. Wien, math.-naturw. Kl. 25, 584, 1857;
Wien. med. Wochenschr. 1860, Nr. 28 bis 29. — ?) Bernard, Lecons sur la chaleur
animale, Paris 1876, p. 179; vgl. auch Morat, Arch. de physiol. 1893, p. 285. —
®) Journ. of Physiol. 16, 350, 1894. — *) Vgl. Rubner, Die Gesetze des Energie-
verbrauchs bei der Ernährung, Leipzig und Wien 1902, Kap. XIII und XIV. —
5) Helmholtz, Artikel Wärme im Enzyklop. Wörterb. d. med. Wiss. 35, 561, 1846;
Wiss. Abhandl. 2, 720. — °) Rosenthal, 8.375.
582 Der Wärmeverlust des Körpers.
B. Abgabe von Wasserdampf und Kohlensäure bei der Atmung.
4. Es wird angenommen, daß die eingeatmete Luft
von 15°C zur Hälfte mit Wasserdampf gesättigt ist,
und daß die ausgeatmete Luft von 37,5° ganz ge-
sättigt ist. Es werden also von den Respirations-
wegen etwa 450 g Wasser in Dampfform abgegeben;
latente Wärme des Wasserdampfes 0,537 Kal... . 242 Kal.
5. Die Wärmebindung beim Entweichen der Kohlen-
säure in den Lungen (800 g); pro 1g 0,118Kal.. . %4 „ 336 Kal.
C. 6. Wärmeabgabe durch Leitung, Strahlung und
“ Wasserverdunstung von der Haut . . .......1935Kal. 2400 Kal.
Unter Annahme eines Gesamtstoffwechsels von 2700 Kal. berechnet
Rubner!) die Wärmeabgabe folgendermaßen:
1. Erwärmung der genossenen Kost und des Getränkes
auf Körpertemperatur . . - ER 42 Kal.
2. Erwärmung der eingeatmeten "Iraber von 17, 5° auf
eine Temperatur von 30°C; Menge 11,6kg. .. . 35 „
3. Abgabe von Wasserdampf "durch die Lungen und
die. Haut: 931 >... 5.00 2 are en OB
4. Wärmeägnivalent der geleitet Bübeten Arbeit . BL-=E
5. Wärmeverlust durch Strahlung.
a) Die strahlende Fläche der Kleidung
1,880 qm; Temperatur der Luft 17,5,
der Kleidung 22,9; Ausstrahlungs-
koeffizient 4,11. Kal. pro 1qm und
1 Stunde; pro 24 Stunden. . . ... . 1001 Kal.
b) Die behaarte Haut, 0,06 qm; Scahlune
wie bei den Kleidern. . . . 832 ,
c) Die unbehaarten und unbekieiädien
Stellen, 0,12 qm; Temperatur 30° O;
Ausstrahlungskoeffizient gleich dein
der Kleider; pro 24 Stunden . ... 148 „ 1181;,..4
6. Wärmeverlust durch Leitung von der Körperober- \
Näche: . =: 0 0 000.00 Sauger ge are ae 6 ORT
An der Hand seiner kalorimetrischen Messungen am Menschen hat
Atwater?) folgende Berechnung entworfen:
I. Ruhender Mensch, Mittel aus 14 Versuchen mit insgesamt 49 Tagen.
1. Wärmeabgabe dureh Leitung und Strahlung . . . 1683 Kal.
2. Wärmeabgabe durch Harn und Kot. ...... 31734
3. Wärmeabgabe durch Wasserverdunstung (Lungen
und,Haut)e.... N en a BE 5
II. Arbeitender Mensch, Mittel aus 20 Versuchen mit insgesamt 66 Tagen.
1. Wärmeabgabe durch Leitung und Strahlung . . . 3340 Kal.
2. Wärmeabgabe durch Harn und Kot. ...... 26 „
3. Wärmeabgabe durch Wasserverdunstung (Lungen
BRITEN NN ea ie een ne ARTEN 859 „ 4225 Kal.
4. Wärmeäquivalent der geleisteten Arbeit : : ... 451Kal. 4676 Kal.
Rubner und Atwater haben die Verteilung des Wasserdampfes auf
Lungen und Haut nicht berechnet. Wenn es gestattet wäre, dieselbe nach
!) Arch. f. Hygiene 27, 69, 1896. — ?) U. 8. Depart. of Agriculture. Off. of
exper. Stat. Bull. No.136, p. 143, 1904.
AZ u
pi a
Br ee te nn
Der Wärmeverlust durch Leitung und Strahlung. 583
der ersten Berechnungsweise auf 450g zu schätzen — was jedenfalls keinen
zu geringen Wert ergibt — so würde die Abgabe von Wasserdampf von der
Haut bei Rubner 481 und bei Atwater (Ruheversuche) 570 g betragen.
Dies entspricht 258 bzw. 306 Kal. Die Wärmeabgabe durch die Haut wäre
demnach nach Rubner 2272Kal. und nach Atwater, wenn von dem totalen
Wärmeverlust durch Leitung und Strahlung 80 Kal. für die Erwärmung
der eingeatmeten Luft in Abzug gebracht werden, 1909 Kal. Sie beträgt
also nach beiden 84, sowie nach der ersten Berechnungsweise 81 Proz. der
gesamten Wärmeabgabe. Wie diese auch berechnet wird, immer stellt sich
die Haut als das allerwichtigste Organ der Wärmeabgabe dar. Daraus erklärt
sich, zum Teil wenigstens, der große Einfluß, den die Haut auf den Umfang
des Stoffwechsels ausübt (vgl. Stoffwechsel, S. 469).
Später hat Rubner') die durch die Respiration (+ der Kopfhaut) abgegebene
Wassermenge bei verschiedenen körperlichen Zuständen direkt bestimmt und dabei,
für 24 Stunden berechnet, bei einer Außentemperatur von 17,5 bis 24,0°C und einer
relativen Feuchtigkeit von 36 bis 60 Proz. folgendes gefunden:
Bube HH 408g
Tiefen. Atmen. ,Eis5cs SH 456g
Lesen. =... 3.72. es ee 6728
Bingen |. 1, Yan Eis Hl 0 Ba aa 816g.
Die Verteilung der Wärmeabgabe durch die Haut auf Leitung, Strahlung
und Wasserverdunstung ist außerordentlich schwankend, je nach der Tem-
peratur und dem Feuchtigkeitsgrade der umgebenden Luft, sowie nach dem
Zustande des Körpers selbst (Hunger oder Nahrungsaufnahme, Ruhe oder
Arbeit). Es läßt sich also diese Verteilung nicht durch eine bestimmte Zahl
ausdrücken, und die oben nach Rubner mitgeteilte Berechnung bezieht sich
daher nur auf einen Spezialfall.
Angesichts der vielen Variablen, die auf die genannte Verteilung ein-.
wirken, ist es vorläufig auch nicht: möglich, in einigen wenigen Sätzen die
bis jetzt darüber vorliegenden Erfahrungen zusammenzufassen, und wir
müssen uns damit begnügen lassen, den Einfluß der betreffenden Variablen
an für und sich zu untersuchen.
Von vornherein ist es klar, daß der Wärmeverlust durch Leitung unter
sonst gleichen Umständen um so größer ausfallen muß, je kälter die um-
gebende Luft, je größer ihr Wärmeleitungsvermögen und je lebhafter ihre
Bewegung ist 2).
Was die Luftbewegung leisten kann, zeigt uns die alltägliche Erfahrung:
im warmen Sommer kühlt sie uns ab und mildert die Wirkung der warmen
Luft. Wenn auch die Wasserverdunstung gleichzeitig begünstigt ist, so hat
doch die Leitung an und für sich hierbei einen wesentlichen Anteil. Eine
niedrige Außentemperatur wird, selbst bei ziemlich dünner Bekleidung, ganz
gut ertragen, wenn die Luft stillsteht; bei bewegter Luft ist dieselbe Tem-
peratur außerordentlich unangenehm, denn die an dem Körper vorbeistreichen-
den Luftschichten nehmen ihm nun sehr viel Wärme. Und hierbei spielt die
Wasserverdunstung nur eine geringe Rolle, da die Abgabe von Wasser durch
die Haut bei niedrigen Temperaturen schon sehr gering ist.
!) Arch. f. Hygiene 33, 151, 1898. — °) Wie früher, sehe ich auch hier von
der Einwirkung von Bädern ganz ab.
584 Der Wärmeverlust durch Leitung und Strahlung.
Selbst wenn die Luftströmung so schwach ist, daß sie gar nicht empfunden
wird, macht sich ıhr abkühlender Einfluß, indes nur bei niederen Temperaturen, doch
geltend, wie aus folgenden Beobachtungen von Rubner!) am Hunde ersichtlich
ist. Die Luftgeschwindigkeit betrug hier nicht mehr als 0,4 bis 1,3 cm pro Sekunde.
Bei 9°C betrug der Stoffwechsel 519 Kal., wenn die stündliche Ventilationsgröße
209 Liter war, 459 Kal. aber bei einer Ventilationsgröße von nur 61 Liter.
Bei einer höheren Temperatur muß die Luftgeschwindigkeit größer sein, um
ihre Einwirkung zu entfalten. Bei einer Umgebungstemperatur von 15° betrug in
Versuchen von Nebelthau?) die Wärmeabgabe beim Kaninchen pro Kilogramm
Körpergewicht und Stunde durchschnittlich 3,51 Kal. bei einer mittleren Venti-
lationsgröße von 1000 Liter, 2,59 Kal. bei einer Ventilationsgröße von 555 Liter.
Bei der stärkeren Ventilation wurden der Ventilationsluft durch Leitung und
Strahlung 22,97 Kal. (= 19,6 Proz. der Gesamtabgabe durch Leitung und Strahlung),
bei der schwächeren 10,86 Kal. (= 11,4 Proz.) abgegeben °).
Unter Anwendung der bolometrischen Methode untersuchte Masje)
den Wärmeverlust durch Strahlung. Nach der Entkleidung nahm die Strahlung
der gewöhnlich bedeckten Körperoberfläche fortwährend, wenn auch oft mit
einigen Schwankungen, zu, und zwar um so schneller, je niedriger die Außen-
temperatur war. Da sich die Oberfläche des entblößten Körpers bei niedriger
Temperatur der Umgebung abkühlt, so hätte man ja das Gegenteil erwartet.
Masje findet die Erklärung der Erscheinung darin, daß die physikalische
Beschaffenheit der Hautoberfläche wegen der unter dem Einfluß der Kälte ein-
tretenden Kontraktion des Arrectores pilorum usw. verändert wird. Für diese
Auffassung spricht auch die Beobachtung, daß bei einer oberflächlichen Ent-
zündung, wo die Hauttemperatur entschieden erhöht war, die Strahlung um
1/, bis 1/, weniger als an normalen, niedriger temperierten Hautstellen betrug.
Körperteile, die gewöhnlich unbedeckt sind, zeigen meistens eine ziemlich
konstante Wärmestrahlung zu jeder Tageszeit.
Wird die Abkühlung weiter getrieben, so nimmt die Strahlung ab. Im
allgemeinen erfolgt die oben erwähnte Zunahme nur dann, wenn die Haut-
temperatur nicht um mehr als 3°C abnimmt.
Bei einer niedrigeren Zimmertemperatur ist die Strahlung in den meisten
Fällen größer, doch kommen viele Abweichungen von dieser Regel vor.
Aus seinen Versuchen hat Masje berechnet, wie groß der Wärmeverlust
durch Strahlung ist, und findet denselben bei einem ruhenden Manne mit
2 qm Körperoberfläche gleich 1728 Kal.
In geradem Gegensatz zu diesen Ergebnissen findet Stewart), daß eine
merkbare Veränderung des Strahlungsvermögens weder durch Erwärmung,
noch durch Abkühlung der Haut erzielt werden kann. Für die Größe der
Strahlung ist also vor allem die Temperaturdifferenz zwischen der Haut und
der Umgebung bestimmend. Die Resultate Masjes seien dadurch bedingt,
daß hier auch die Wärmeleitung ihren Einfluß ausgeübt hätte, und daß der
reichlich vorhandene Wasserdampf die Wärmestrahlen im Anfang der Ver-
suche reichlich absorbiere. |
Die Gesamtstrahlung des bekleideten menschlichen Körpers beträgt nach
Stewarts Berechnung 820 Kal. — also weniger als die Hälfte der von Masje
!) Arch. f. Hygiene 50, 296, 1904. — ?) Zeitschr. f. Biol. 31, 313, 1895. —
®) Vgl. auch Wolpert, Arch. f. Hygiene 33, 206, 1898. — *) Arch. f. path. Anat.
107, 17, 267, 1877. — °) Studies from the physiol. Laboratory of Owens Coll.
Manchester 1, 102, 1891; zit. nach Zentralbl. f. Physiol. 1891, 8. 275.
2 Kuh VE tn an
ARTEN
Der Wärmeverlust durch Verdunstung. 585
berechneten. Der Unterschied hat wohl vor allem seinen Grund darin, daß
sich Masjes Resultate auf den nackten Körper beziehen.
Rubner!) bezeichnet die Zahl von Stewart als zu niedrig, weil dieser
nicht berücksichtigt hat, daß die Oberfläche des bekleideten Körpers größer
als die des nackten Körpers ist, und außerdem unterlassen hat, für die
unbekleideten Teile eine besondere Rechnung durchzuführen 2).
Über den Einfluß der relativen Feuchtigkeit der Luft auf den Wärme-
verlust durch Leitung und Strahlung hat Rubner'’°) festgestellt, daß dieser
durch feuchte Luft stets vermehrt wird. Daher fühlt man sich bei niederer
Temperatur (10 bis 15°C) in trockener Luft behaglicher als in feuchter.
- Beim Hunde würde für jede Änderung der Luftfeuchtigkeit um 1 Proz.
die Wärmeabgabe durch Leitung und Strahlung um 0,32 Proz. verändert
werden. Da nun die totale Wärmeabgabe für das Temperaturintervall 20
bis 7,6°C — 13,4% um 56 Proz. und für 1°C also um 4,1 Proz. zunimmt,
so würde eine Zunahme der Luftfeuchtigkeit um 4,1/0,32 = 12,8 Proz.
dieselbe Wirkung als die Abnahme der Lufttemperatur um 1°C haben ?).
Bemerkenswert ist die Tatsache, daß die Zunahme des Wärmeverlustes durch
Leitung und Strahlung innerhalb des von Rubner untersuchten Bereiches
fast immer durch eine entsprechende Abnahme des Verlustes durch Wasser-
verdunstung kompensiert wird 5).
Zahlreiche Arbeiten aus dem Laboratorium Rubners beschäftigen sich
mit der Frage nach dem Einfluß verschiedener Variablen auf die Abgabe
von Wasserdampf.
Bei verschiedenen Feuchtigkeitsgraden der Luft steigt und sinkt die
gesamte Abgabe von Wasserdampf in umgekehrter Proportion zu der Feuchtig-
keit. Sie ist also bei gleichem körperlichen Zustande und gleicher Außen-
temperatur um so größer, je trockener die Luft ist (Rubner°).
Bei gleichem Feuchtigkeitsgehalt der Luft ist die Abgabe von Wasser-
dampf beim Menschen und Hunde um so größer, je wärmer die Luft ist
[Rubner?), Rubner und Lewaschew °)], wie aus folgender Zusammen-
stellung einiger Beobachtungen am Menschen hervorgeht.
Temperatur Feuchtigkeit Wasserdampf Feuchtigkeit | Wasserdampf
°C Proz. g Proz. g
15,0 8 36 89 9
20,4 5 54 82 15
23,0 7 73 84 19
25,4 6 75 81 24
28,9 6 105 == =
Der Stoffwechsel der Versuchsperson betrug etwa 91 Kal. pro Stunde. Die
bei 28,9°C und fast trockener Luft abgegebene Menge von Wasserdampf deckt
63 Kal., also 70 Proz. des gesamten Wärmeverlustes.
!) Arch. f. Hygiene 27, 77, 1896. — ?) Vgl. auch Waller, Travaux du labora-
toire de Fredericq 4, 227, 1892; Journ. of Physiol. 15, proceedings 25, 1894. —
®) Arch. f. Hygiene 11, 268. — *) Ebenda, S. 291. — °) Ebenda, $. 284. — °) Ebenda,
11, 166, 1890. — 7) Ebenda, $. 193, 199. — °) Ebenda 29, 1, 1897.
586 Der Wärmeverlust durch Verdunstung.
Beim Meerschweinchen tritt das Minimum der Wasserdampfabgabe schon bei
15°C ein; bei 0° wird wesentlich mehr an Wasserdampf ausgeschieden; ebenso
steigt die Abgabe an, wenn die Temperatur erhöht wird. In beiden Fällen handelt
es sich wohl’ um die Wirkung einer stärkeren Atmung.
Bei einer Außentemperatur von 29 bis 30°C ist die Wasserdampfabgabe
beim Menschen zwischen 13 bis 64 Proz. relativer Feuchtigkeit ungefähr die-
selbe (Nuttall!?).
Da durch die Kleidung um den Körper herum eine künstliche Atmosphäre
geschaffen wird, deren Temperatur höher ist als die der umgebenden Luft, muß
unter sonst gleichen Umständen die Abgabe von Wasserdampf beim bekleideten
Körper größer sein als beim nackten. Dementsprechend finden wir z.B. (Rubner),
daß ein ungeschorener Hund bei 20°C 27,7 g Wasser pro Kilogramm Körper-
gewicht und 24 Stunden abschied; nach dem Scheren des Pelzes betrug die Ab-
gabe von Wasserdampf nur 208.
Wenn die Luft sehr feucht ist, ist die Wärmeabgabe durch Verdunstung
sehr erschwert, und dementsprechend ist bei 80 Proz. Feuchtigkeit schon
eine Temperatur von 24°C für den daran nicht gewöhnten Menschen auf die
Dauer unerträglich und der Versuch nur bei vollkommener Muskelruhe mög-
lich. Wenn die Luft aber sehr trocken ist, wird eine Temperatur von 24,
bis 29°C durchaus gut ertragen (Rubner und Lewaschew).
Daß es sich doch selbst bei hoher Temperatur und großem Feuchtig-
keitsgehalt arbeiten läßt, geht aus den Erfahrungen Stapffs?) beim Bau
des Gotthardtunnels hervor, wo die Temperatur im Monat März an der Süd-
seite des Tunnels etwa 31°C betrug und die Luft mit ‚Feuchtigkeit über-
sättigt war. Es traten indessen dabei allerlei Störungen des Befindens auf,
die sich doch allmählich zum größeren oder geringeren Teile ausglichen.
In bezug auf den Einfluß der Luftbewegung auf die Abgabe von Wasser-
dampf beim Menschen gibt Wolpert) an, daß diese bei niedrigen Tempera-
turen bis etwa 20° aufwärts durchschnittlich um etwa 5 bis 10 Proz. im
Vergleich mit der bei ruhender Luft zunimmt. Bei Temperaturen zwischen
25 bis 350 ist sie wesentlich herabgesetzt, zwischen 25 und 30° bis auf die
Hälfte und in einzelnen Fällen ein Drittel des Wertes für ruhende Luft. Bei
extrem hohen Temperaturen von etwa 36° ab aufwärts beträgt die Wasser-
dampfabgabe bei bewegter Luft bis auf das Doppelte und mehr des Wertes
für ruhende Luft.
Die Nahrungszufuhr bewirkt im allgemeinen eine Zunahme der Ver-
brennung (vgl. Stoffwechsel, Kap. IV); wenn hierbei eine eventuelle Zunahme
des Wärmeverlustes durch Leitung und Strahlung nicht genügt, um den
Körper vor Überwärmung zu schützen, so tritt nun eine stärkere Abgabe
von Wasserdampf auf, und zwar wird diese beim reichlich gefütterten Tiere
in einem weit geringeren Verhalten als bei einem nicht oder nur mäßig ge-
fütterten Tiere durch erhöhte Feuchtigkeit eingeschränkt. Auch hier ist die
verstärkte Atmung maßgebend. Wenn aber die Nahrungszufuhr keine be-
merkenswerte Steigerung des Stoffwechsels hervorruft, wie z. B. bei einer
so niedrigen Temperatur, daß schon der Hungerstoffwechsel desselben Betrages
ist wie der Stoffwechsel bei reichlicher Zufuhr von Nahrung, so bleibt die
.!) Arch. f. Hygiene 23, 184, 1895; vgl. auch Rubner, Ebenda 16, 101, 1893. —
?) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1879, Suppl., 8. 72. — °) Arch. f. Hygiene 33,
206, 1898, i
Der Wärmeverlust durch Verdunstung. 587
betreffende Steigerung der Wasserdampfabgabe aus (Rubner!). Als Bei-
spiel sei auf folgende Versuchsreihe am Hunde hingewiesen (alle Zahlen sind
pro 1kg berechnet).
Temperatur 20°C, Temperatur 30° C,
Wärmeabgabe in Kalorien Wärmeabgabe in Kalorien
durch Wasser- | durch Leitung | durch Wasser- | durch Leitung
verdunstung und Strahlung verdunstung und Strahlung
Hunger ... 16,0 37,5 26,2 30,0
100g Fleisch . 15,6 40,3 27,6 28,0
200 * > 18,3 39,6 33,5 29,9
320g = R _ iger 47,6 32,7
350g ä 5 17,2 56,7 = —
Da körperliche Arbeit die Wärmebildung im hohen Grade steigert und
also den Körper der Gefahr einer Überwärmung leicht aussetzt, so bewirkt
dieselbe, selbst bei einer niedrigen Außentemperatur, in der Regel eine
wesentliche Vermehrung der Abgabe von Wasserdampf. Wolpert?) hat
darüber direkte Bestimmungen gemacht und dabei folgendes gefunden.
. Temperatur Feuchtigkeit ae are Be
°C Proz. g
Schlaf: -WREENIHRFETE 19,0 63 37
Ruhe . „Zur 17,3 61 21
Kräftige Arbeit ... . 16,7 59 138
Kräftige Arbeit ... . 25,0 47 230
Bauherr 25,0 trocken 85
Bulle: 30. Ans 23 25,0 feucht 28
In ausführlichen Versuchsreihen untersuchten Zuntz, Schumburg und
Nerking?) den Stoffwechsel bei marschierenden Soldaten. Während eines fünf-
stündigen Marsches wurden durchschnittlich 170 bis 270g Wasser (— 114
bis 145 Kal.) von den Respirationsorganen verdampft. Bei einer Wärme-
produktion von etwa 2000 Kal. entfiel also auf die Lungenverdampfung nur
6 bis 7 Proz. der gesamten Wärmeabgabe. Die gleichzeitige Erwärmung
der eingeatmeten Luft beanspruchte nur 35 Kal. Die gesamte Wasser-
verdunstung betrug bei einer Versuchsperson 1026 bis 2845, bei einer
anderen 820 bis 2057, davon kamen auf die Haut 820 bis 2622 bzw. 584
bis 1786g. Der kalorische Wert des verdampften Wassers betrug insgesamt
596 bis 1652,' bzw. 477 bis 1195 Kal., während die gleichzeitig produzierte
Wärmemenge 1588 bis 2104, bzw. 1498 bis 1936 Kal. entsprach. In extremen
Fällen machte also der Wärmeverlust durch Wasserverdampfung bis zu etwa
95 Proz. der gesamten Wärmeabgabe aus.
lb le ll a ul 4 nn un id az 2
; .
DIET EEE, RN
!) Arch. f. Hygiene 11, 218, 1890. — °) Ebenda 26, 60, 1896; vgl. auch
Wolpert, Ebenda 39, 298, 1901. — °®) Nerking, Inaug.-Diss. Berlin 1896; Zuntz
$ und Schumburg, Die Physiologie des Marsches, Berlin 1901, 8. 309.
588 Der Schutz gegen Wärmeverlust.
Aus den betreffenden Versuchen folgt noch, daß selbst bei einer nahezu
mit Wasserdampf gesättigten Luft, bei welcher die Kleider bald durchnäßt
sind, dennoch die durch das Marschieren bewirkte Luftströmung und: der im
Freien nie ganz fehlende Wind genügen, um eine starke Wasserverdampfung
durch die Kleider zu bewirken.
Viertes Kapitel.
Der Schutz gegen Wärmeverlust.
Daß die warmblütigen Tiere trotz ihrer verhältnismäßig geringen Wärme-
bildung dennoch selbst bei sehr niedriger Außentemperatur ihre Eigen-
temperatur beibehalten können, beruht vor allem darauf, daß der Wärme-
verlust bei ihnen durch besondere Anordnungen wesentlich herabgesetzt wird.
Diese Anordnungen sind: 1. das subcutane Fettgewebe; 2. die Haar- oder
Federbekleidung.
Die in den Muskeln und übrigen inneren Organen entstandene Wärme
kann nur sehr langsam nach der Haut fortgeleitet werden, weil das Fett-
gewebe einen sehr schlechten Wärmeleiter darstellt!.. Während eine 2 mm
dicke Haut bei einer Temperaturdifferenz an ihren beiden Flächen von 18,2°C
in einer Minute 0,00248 Kal. durchließ, wurde von derselben Haut und einer
2 mm starken Fettschicht nur 0,00123 Kal. in derselben Zeit durchgelassen ;
das Leitungsvermögen der Haut sank also um die Hälfte ab. Bei einer
Temperaturdifferenz von 12°C hielt die gleiche Fettschicht fast zwei Drittel
jener Wärmemenge zurück, welche die 2mm dicke Haut durchließ, und bei
einer Temperaturdifferenz von 9°C beinahe acht Zehntel (Klug ?).
Je geringer die Temperaturdifferenz an beiden Seiten der Haut ist, um
so größer ist der schützende Einfluß des Fettes. Bei den meisten warm-
blütigen Tieren ist die Haut von einer mehr oder weniger dicken Haar- und
Federbekleidung bedeckt. Die hier in Betracht kommende Differenz bezieht
sich also nicht auf die Temperatur der Außenluft, sondern auf die in den
tiefsten Schichten der Bekleidung, welche, wie aus folgenden Erfahrungen
von Rubner®) am Menschen hervorgeht, von der Hauttemperatur nur ver-
hältnismäßig wenig abweicht.
Außen- Temperatur Temperatur zwischen
temperatur an der Oberfläche dem Wollhemd
0 der Kleidung und der Haut
C
10,0 19,3 32,7
15,0 21,0 er
17,5 22,9 —
25,6 27,1 n 32,6
Die Fettschicht muß also eine sehr große Ersparnis an Wärme bewirken
können. Auch besitzen vor allem die in den kalten Klimas und ganz be-
sonders die in den Eismeeren lebenden Tiere eine sehr dicke Fettschicht.
') Bergmann, Arch. £. (Anat. u.) Physiol. 1845, 8.310. — ?) Zeitschr. £. Biol.
10, 73, 1874. — °) Arch. f. Hygiene 23, 13, 1895.
a a
RE
Der Schutz gegen Wärmeverlust. 589
Die auf der Erde lebenden Tiere können eine solche entbehren, denn sie
haben jedenfalls in ihrem Pelz ein Mittel, um den Wärmeverlust zu ver-
ringern. Bei den Wassertieren fällt aber dieser Schutz des Pelzes, wenn das
Wasser bis zur Hautoberfläche dringen kann, fast vollständig fort, und nun
bildet das subeutane Fettgewebe den alleinigen Schutz gegen den Wärmeverlust.
Der Panniculus adiposus stellt natürlich keine für Wärme absolut un-
durchdringliche Schicht dar, und ein Teil der in den Muskeln gebildeten
Wärme wird durch sie hindurch der Haut direkt zugeleitet, wie daraus
hervorgeht, daß nach Entblößung eines Körperteiles der Temperaturfall der
Haut um so beträchtlicher ist, je weniger mächtig die darunter liegende
Muskelschicht ist oder wo dieselbe, wie über der Patella und dem Schien-
bein, ganz fehlt.
Welcher Art die Bekleidung auch sei — Haare, Federn oder die künst-
liche Kleidung des Menschen — gilt von ihrem Einfluß im großen und
ganzen ganz dasselbe, und ich brauche also nicht die verschiedenen Arten
derselben hier besonders zu berücksichtigen.
Beim nackten Körper wird die denselben zunächst umgebende Luft-
schicht von der warmen Haut erwärmt; die warme Luft steigt als spezifisch
leichter in die Höhe, und es entsteht selbst bei vollkommen stillstehender Luft
eine Luftströmung um den Körper herum, infolge deren ununterbrochen neue
Luftmengen mit der Körperoberfläche in Berührung kommen und sie der
Wärme berauben. Bei bewegter Luft wird natürlich die Abkühlung noch stärker.
Durch die Bekleidung wird diese Luftströmung wesentlich verringert.
Das Kleid ist und darf nicht für Luft völlig undurchgängig sein, denn
dadurch würde die darin eingeschlossene Luft durch den von der Haut ab-
gegebenen Wasserdampf bald gesättigt werden und also die regulatorische
Einwirkung der Wasserverdunstung wegfallen. Die Bekleidung soll nur die
Luftströmung in einem genügend starken Grade verhindern und die Luft-
bewegung in der Nähe des Körpers wesentlich verlangsamen. Diese verhältnis-
mäßig stillstehende Luft bildet dann um den Körper eine künstlich erwärmte
Atmosphäre, die wesentlich wärmer als die Außenluft ist und also die Wärme-
abgabe von der Haut wesentlich verringern muß.
Nach den Ermittelungen von Schuster!) undRubner?) ist das Wärme-
leitungsvermögen der Grundstoffe der Bekleidungsmaterialien an und für sich
entschieden größer als das Wärmeleitungsvermögen der Luft, und es kommen
also vor allem die in den Poren der Kleidungsstücke, sowie die zwischen den
letzteren eingeschlossenen Luftmengen hier in Betracht.
Die in verschiedenen Stoffen auf 1000 Volumteile vorhandenen Luft-
mengen sind sehr verschieden, wie z. B.:
Wollflenell. .'=:;: :: u 2 923 Glatt gewebtes Leinen . .. . . 489
Baumwollflanell . ....... 888 Leichter Sommerstoff. . . . . .» 818
Trikot, Sealde. „ar ne 832 Sommerkammgarn . ...... 725
a’ WONO Na. ST ee 863 Frühjahrsüberzieher . .. .. . 813
»„ , Baumwolle 200 5 847 Winterkammgarn ....... 817
. + em 733 Winterpaletot"., .=. 2.4. .0% 888
Glatt gewebte Baumwolle. . . . 520
!) Arch. f. Hygiene 8, 46, 1888. — *) Ebenda 24, 265, 346, 1895; 25, 252, 1895.
590 Die Bekleidung.
Von diesen Ermittelungen ausgehend, berechnet Rubner die Luftmenge
in den Kleidern eines erwachsenen Mannes (ohne Überzieher) zu etwa 10 Liter.
Hierzu kommt aber noch die zwischen den einzelnen Kleidungsstücken
und zwischen dem untersten und der Körperoberfläche eingeschlossene Luft.
Dieselbe beträgt etwa 10 bis 20 Liter; die Gesamtmenge der uns umgebenden
verhältnismäßig stillstehenden Luft ist also etwa 20 bis 30 Liter.
Über die Dicke der bei der Winterkleidung benutzten Stoffe hat Rubner 1)
unter anderem folgendes mitgeteilt:
Rumpf: Wollhemd, Trikot . .»........ 2,5 mm
Leinerheman®.!, Sin He 0,5 mm
Weste, göfüttert . . - + eeih.n% 5,0 mm
Rock, gefüttert . : . » 2... 00.00 7,0 mm
Winterüberzieher .: . ...ın. alkenis 14,0mm 29mm
Arm: Wollhemd'” .- +... u... as es 2,5 mm
Deinerihemd .°. % ... SR e 0,5 mm
Anzieher :... 1. „FERRARI 2,0 mm
Überzieher . : SA SR ur 6,0mm 11mm
Bein: Wollhöse:, „1. Fly sn ZU Zu 2,5 mm
Beinkleid.. 15 1. LINSE SIE 15mm -4mm
Auch die Strahlung von der Haut wird durch das Kleid wesentlich
herabgesetzt. Die von der Haut ausstrahlende Wärme wird, wie Petten-
kofer?) bemerkt, von der darüberliegenden Kleidung, wozu kein diathermaner
Stoff verwendet wird, absorbiert. Die Wärme, welche von der Haut aus-
strahlen würde, muß erst durch das Kleid gehen und kann erst von dessen
Oberfläche wieder ausstrahlen. Der Durchgang der Wärme durch diese
künstliche Haut hängt wesentlich von der Wärmeleitungsfähigkeit und der
Masse des Kleidungsstoffes und von dem Grade der Ausstrahlung von diesem
ab. Die strahlende Wärme der Haut verweilt dadurch länger in der Nähe
unseres Körpers, und erwärmt dadurch die den FOR® unmittelbar um-
gebende Luft.
Wenn wir das Bedürfnis fühlen, die Wärme Be langsamer aus der
unmittelbaren Nähe unserer Körperteile zu entlassen, so decken wir über die
Oberfläche unseres Kleides, von welcher die Wärme in den Luftkreis aus-
strahlt, abermals einen Stoff, ein zweites Kleid, welches die von der Ober-
fläche des ersten ausstrahlende Wärme abermals auffängt und durch seine
Masse hindurch nach der Oberfläche leitet. Auf diese Art wirkt ein
Hemd, ein Rock, worüber wir nach Umständen noch einen Überrock und
Mantel usw. ziehen.
Die Wärme bleibt aber nicht in den Kleidern, sie geht nur schneller
oder langsamer durch und verweilt kürzere oder längere Zeit in der unsere
nerven- und gefäßreiche Haut unmittelbar umgebenden und stets wechselnden
Luftschicht. Wir verlieren die Wärme bei Winterkälte aus unseren richtig
gewählten Kleidern ohne jede Empfindung von Frost, weil wir den Ort, wo
sich die große Differenz zwischen unserer Körperwärme und der kalten Luft
ausgleicht, von unserer nervenreichen Haut weg in ein lebloses Stück Zeug
verlegt haben, unsere Kleider werden kalt, sie frieren für uns.
!) Arch. f. Hygiene 9, 51, 1889; 15, 38, 1892. — ?) Zeitschr. £. Biol. 1, 180, 1865.
%
Die Bekleidung. 591
Auch der yon der Haut abgegebene Wasserdampf, wodurch der Sätti-
gungsgrad der Kleiderluft wesentlich erhöht wird, bewirkt wegen seiner
geringen Diathermansie eine Abnahme der Strahlung von der Haut.
Trotz dieser, wie es von vornherein erscheint, bindenden Gründe dafür,
daß die Wärmeabgabe des Körpers durch die Kleidung sehr erheblich herab-
gesetzt werden muß, glaubte jedoch Geigel!) auf Grund kalorimetrischer
Bestimmungen des Wärmeverlustes des Armes den Satz aufstellen zu können,
daß durch die Bekleidung auf die Länge keine Ersparung an. Wärme erzielt
werden kann. Die Aufgabe der Kleidung. bestehe vielmehr darin, die un-
angenehme Empfindung der Kälte aufzuheben und die Vasomotoren der Haut
zu entlasten. Demgegenüber liegen aber zahlreiche Erfahrungen und Ver-
suche vor, welche die Bedeutung der Kleidung als Wärmeersparer über jeden
Zweifel erheben.
Bei einem ruhenden, nackten Menschen kann die normale Temperatur nicht
beibehalten werden, wenn die Außentemperatur geringer ist als etwa 27 bis 28°C
(Senator).
Ein vollständig intaktes Meerschweinchen gab bei einer Körpertemperatur
von 38,3°C durch Leitung und Strahlung 3,37 Kal. pro Stunde ab; nach dem
Scheren sank die Körpertemperatur auf 37,7°C, die Wärmeabgabe durch Leitung
und Strahlung stieg aber auf 4,47 Kal. pro Stunde an (Rumpel?).
Bei einem geschorenen Tiere ist die Wärmeproduktion bei 30°C Außen-
temperatur gleich groß wie bei dem ungeschorenen Tiere bei 20°C (Rubner‘).
Bei Versuchen am Arme des Menschen fanden C. Rosenthal’) und Rumpel°),
daß die Wärmeabgabe durch Leitung und Strahlung vom bekleideten Arme größer
war als die vom unbekleideten, wie z. B. nach einigen Versuchen von Rumpel:
Wärmeverlust durch Leitung und Strahlung
TEOPSRRFOR Kalorien pro Stunde, Kalorien pro Stunde, 2. Differenz
nackt bekleidet '
6,7 14,3 10,7 25
10,6 12,8 8,6 33
15,8 11,1 7,7 30
20,8 2 >, Ba 5,6 28
29,6 4,9 4,2 7 ie
Erst bei einer ziemlich hohen Außentemperatur sinkt die Wärmeabgabe des
nackten Armes etwa auf die des bekleideten herab.
Der Wärmeverlust des nackten Fußes durch Kontakt mit dem Boden ver-
ringerte sich durch einen wollenen Strumpf um etwa 49 Proz.; wenn der Schuh
noch dazukam, sank die Wärmeabgabe auf 10 Proz. (Nothwang’).
Um den Einfluß der Kleidung auf die Wärmeabgabe richtig zu wür-
digen, müssen wir auch die Wasserverdunstung berücksichtigen. Wie wir
schon gesehen haben, ist diese bei höherer Außentemperatur größer als bei
niedrigerer. Da die 'Temperatur an der Hautoberfläche beim. bekleideten
Körper höher ist als beim nackten, so muß im ersten Falle die Abgabe von
!) Arch. f. Hygiene 2, 318, 1884. — ?) Zeitschr. f. klin. Med. 24, 186, 1894. —
>) "Arch. f£. Hygiene 9, 55, 1889; vgl. auch Richet, Archives de physiol. 1885 (2),
8. 281. — *) Arch. f. Hygiene 20, 366, 1894. — °) Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1888,
S.1. — °) Arch. f. Hygiene 9, 76, 1889. — 7) Ebenda 15, 314, 1892.
592 Die Bekleidung.
Wasserdampf größer sein. Der von den Kleidern erzielten Beschränkung des
Wärmeverlustes durch Leitung und Strahlung wird also wegen der vermehrten
Wasserverdunstung etwas entgegengewirkt.
Man könnte sich vorstellen, daß hierdurch eine vollständige Kompen-
sation stattfinden würde. Dies ist jedoch keineswegs der Eall, im Gegenteil
zeigen die Versuche Rumpels!), daß trotz der vermehrten Verdunstung die
gesamte Wärmeabgabe durch die Kleidung entschieden vermindert wird.
Bei kalorimetrischen Versuchen am Unterarm und an der Hand (die letztere
unbekleidet) stellte es sich heraus, daß bei einer Außentemperatur von 15 bis
20°C und sehr trockener Luft der Wärmeverlust dureh Wasserverdunstung etwa
20 Proz. des gesamten Wärmeverlustes betrug. Absolut maehte diese beim nackten
Arme 3,59 g, beim bekleideten 4,39 g — also ein Zuwachs von 22,3 Proz. — aus.
Dieser Zuwachs war indes nieht ausschließlieh durch die vermehrte Wasser-
abgabe von der Haut bedingt, denn auch die Kleidung gab Wasser von sich zu
der durch Chlorealeium getrockneten Luft im Kalorimeter ab. Wir werden jedoch
annehmen, daß der ganze Zuwachs an Wasser von der Haut stamme, und finden
dann folgendes:
Der ganze Wärmeverlust der nackten Haut . . ... 2.2.2 2.2 222.0... 100
davon dureh. Leitung und Strahlung » we. 2 ne. 2 0 el
und"durch Wasserverdunstung "ex. vn Weiner tee Na er ee ae
100
Dureh die Kleidung wird der Wärmeverlust dureh Leitung und Strahlung um
30 Proz. vermindert, also auf . .... BALL):
Dagegen die durch Wasserverdunstung um 92 ‚Prog. erhöht, also auf... 728
80
Die Ersparnis durch die Kleidung beträgt demnach bei gewöhnlicher
Zimmertemperatur etwa 20 Proz. und ist bei niedrigerer Temperatur natür-
lich noch viel größer 2).
Wie der Mensch während der kälteren Jahreszeit durch dickere Kleider,
bzw. erwärmte Wohnungen den Wärmeverlust möglichst zu beschränken
Nr. Tierart UFER Annen: Differenz
temperatur temperatur
1 Polarfuchs: 29. 2°. rare: 38,3 — 35,6 73,9
2 Palarfuchs2 22... wor SaRER 41,1 — 35,6 76,7
3 Bolarfuchs 2.2, 2.2. 20 2. 39,4 — 32,8 72,2
4 WOlE ner 0 en re Fan 40,5 — 32,8 73,3
5 Welßer;Hase, ...%.. 22... en 38,3 — 29,4 67,7
6 Behneekuhn x » 2... nu. dm 42,4 — 19,7 62,1
7 Bchneehuhn. ca u un... at 43,3 — 38,8 82,1
8 Bchneehuhny. cu. ee re 43,3 — 35,8 79,1
!) Areh. f. Hyg. 9, 83, 1889. — ?) Über die physikalischen Eigenschaften der
Kleidung vgl. Linroth, Zeitsehr. f. Biol. 17, 184, 1881; Rubner, Areh. f. Hy-
giene 15, 29, 1892; 16, 105, 353, 1893; 17, 1, 1893; 23, 1, 1895; 24, 265, 346,
1895; 25, 1, 29, 70, 252, 287, 294, 1895; 27, 49, 51, 78,.102, 249,.1896; 29, 269,
1897; 31, 142, 1897; 32, 1, 1898; Müller, Ebenda 2, 1, 1884; Schuster, Ebenda 8,
1, 1888; Rumpel, Ebenda 9, 51, 1889; Cramer, Ebenda 10, 231, 1890; Reichen-
bach, Ebenda 13, 113, 1891; Hartmann, Ebenda 14, 380, 1892; Nothwang,
Ebenda 15, 314, 1892; Sehierbeck, Ebenda 16, 203; Wolpert, Ebenda 27, 291,
1896; 48, 107, 1904; Lewasehew, Ebenda 31, 259, 1897; Spitta, Ebenda 32,
285, 1898; Laschtschenko, Ebenda 33, 193, 1898.
u an a Bun iz
a a ED
Die Regulierung der Körpertemperatur. 593
sucht, so suchen die warmblütigen Tiere durch dickere Haar- oder Feder-
bekleidung dem Einfluß der stärkeren Kälte entgegenzuwirken. Was sie
dabei tatsächlich leisten können, geht am deutlichsten aus vorstehenden von
Parry und Lyon!) (Nr. 1 bis 5), sowie von Back?) (Nr. 6 bis 8) mit-
geteilten Erfahrungen an Polartieren hervor (siehe Tabelle auf nebenstehender
Seite unten).
Diese Widerstandsfähigkeit gegen eine sehr niedrige Außentemperatur
ist um so mehr bemerkenswert, als hier nicht, wie beim Menschen, eine
künstliche Kleidung, sondern eine von der Natur selber hergestellte vorliegt.
Fünftes Kapitel.
Die Regulierung der Körpertemperatur.
Um ihre Temperatur konstant zu erhalten, verändern die warmblütigen
Tiere teils den Stoffwechsel (chemische Wärmeregulation, Rubner), teils
die Bedingungen für die Wärmeabgabe (physikalische Wärmeregulation).
Die chemische Wärmeregulation ist schon bei der Darstellung des Stoff-
wechsels (S.459) besprochen; daselbst haben wir erörtert, wie sich die
Wärmebildung bei verschiedener Außentemperatur verändert, wie die Zufuhr
von Nahrung die Wärmebildung beeinflußt usw. Es stellte sich heraus, daß
der Stoffwechsel bei abnehmender Außentemperatur ansteigt, sowie daß Zufuhr
von Nahrung, und zwar insbesondere von Eiweiß den Stoffwechsel anregt.
Auch die Nahrungsaufnahme kann also bei der Wärmeregulation nicht un-
wesentliche Dienste leisten.
Die hierher gehörigen Erfahrungen haben außerdem ergeben, daß von
einer gewissen oberen Grenze an, die bei verschiedenen Tierarten etwas ver-
schieden sein dürfte, eine Erhöhung der Außentemperatur nicht nur keine
Abnahme, sondern im Gegenteil eine Zunahme des Stoffwechsels und der
Wärmebildung hervorruft. Unter diesen Umständen kann also von einer
chemischen Wärmeregulation im Sinne Rubners keine Rede sein.
Bei einzelnen Individuen findet man allerdings, daß die durch die Kohlen-
säureabgabe gemessene Wärmebildung bei einer Außentemperatur von mehr als 27°C
abnimmt, und man kann also hier von einer chemischen Wärmeregulation sprechen
[Wolpert°®), Rubner‘)]. Dies dürfte aber kaum als Regel aufgestellt werden
können, da die soeben genannten Autoren auch Beispiele davon mitteilen, daß bei
einer hohen Außentemperatur die Kohlensäureabgabe stark ansteigt. !Als Belege
seien folgende Reihen hier mitgeteilt (siehe Tabelle auf folgender Seite).
Aber auch unabhängig von diesen Erfahrungen läßt es sich unschwer
nachweisen, daß bei einer etwas höheren Außentemperatur: die chemische
Wärmeregulation versagen muß. Bei gewöhnlicher Zimmertemperatur beträgt
der Stoffwechsel eines nüchternen Menschen bei vorsätzlicher Muskelruhe
rund 1700 Kal.; dieser genügt, um die Körpertemperatur auf ihrem nor-
malen Stande zu erhalten. Wenn nun der Körper in eine wärmere Umgebung
versetzt wird, so kann dennoch sein Stoffwechsel in keinem erheblicheren
!) Ann. de chimie et de phys. Ser. 2, 28, 223, 1825. — ?) Compt. rend. de
l’Acad. des sciences Paris 2, 621, 1836. — °) Arch. f. Hygiene 33, 206, 1898; 36,
203, 294, 1899; 39, 298, 1901. — *) Rubner, 38, 120, 1900.
Nagel, Physiologie des Menschen. I, 38
594 Die Regulierung der Körpertemperatur.
I ll
{ co, t co,
En a Pr9:Bhünde rk PESRRRRE
g g
2 29,8 9,8!) 42,5
10—15 25,1 13,6?) 37,6
15—20 24,1 14,0 41,5
20—25 25,0 14,8 87,7
25—30 25,3 16,6 36,1
30—35 28,7 17,4 33,2
35—40 21,2 18,1 26,9
21,9 28,4
25,2 32,7
30,5 3) 37,3
37,4) 51,8
Grade abnehmen, da die Arbeit des Herzens und der Atmungsmuskeln ganz
wie früher stattfindet und auch die mit dem Leben unauflöslich verbundenen
Stoffwechselvorgänge der übrigen Organe nie. vollständig aufhören können.
Es ist dem Körper also nicht möglich, seine Wärmebildung unterhalb eines
gewissen Minimums zu reduzieren, auch wenn wir voraussetzen, daß seine
Temperatur nicht ansteigt und also die daraus folgende Steigerung des Stoff-
wechsels (vgl. 8.461) nicht erscheint, sowie noch berücksichtigen, daß bei
sehr hoher Körpertemperatur, wo die Funktionen der nervösen Zentren schon
in hohem Grade gelitten haben, eine ausgeprägte Schlaffheit bei den Muskeln
hervortritt*). Zur Erhaltung der konstanten Körpertemperatur ist also die
physikalische Wärmeregulation hier unbedingt notwendig.
Wenn dem so ist, so gilt dies in einem noch viel höherem Grade, sobald
dem Körper eine Muskelleistung aufgezwungen wird. Dank der dabei statt-
findenden vermehrten Wärmebildung würde der Körper in unmittelbarer
Gefahr der Überwärmung schweben, wenn dieser nicht durch die physika-
lische Wärmeregulation entgegengewirkt würde.
Es liegt also im Grunde nichts Überraschendes in der von H. E. Ranke?)
hervorgehobenen, beim ersten Anblick so merkwürdigen Erscheinung, daß eine
hohe Außentemperatur bei längerer Einwirkung zu einer starken Beein-
trächtigung der instinktiven Nahrungsaufnahme und damit zur Unter-
ernährung führt.
$ 1. Die Regulierung des Wärmeverlustes.
Diese erfolgt teils durch Veränderung der Blutzufuhr zu der Haut, teils
durch Veränderungen der Abgabe von Wasserdampf, teils durch Verände-
rungen der Bekleidung. Hierzu kommen noch Veränderungen der Körper-
Y) Winterkleidung. — ?) Sommerkleidung bis 25,2° einschließlich. — °) Nackt.
— *) Vgl. Rosenthal, Zur Kenntnis der Wärmeregulierung bei den warmblütigen
Tieren, Programm, Erlangen 1872, 8. 16. — °) H. E. Ranke, Über die Einwir-
kung des Tropenklimas auf die Ernährung des Menschen, Berlin 1900; Zeitschr-
f. Biol. 40, 288, 1900; Münch. medizin. Woehenschr. 1905, Nr, 2
Ze 2.
Die Regulierung des Wärmeverlustes. 595
haltung, indem die warmblütigen Tiere bei niedriger Außentemperatur sich
so viel wie möglich zusammenrollen, um derart eine möglichst kleine Körper-
oberfläche der Abkühlung auszusetzen, und umgekehrt bei hoher Außentem-
peratur durch Ausstrecken des Körpers danach streben, die Körperoberfläche
möglichst zu entfalten. Da die Wirkung der beiden letzteren Momente
offen zutage liegt, brauche ich dieselben hier nicht näher zu erörtern.
Der Stoffwechsel der Haut ist nur geringen Umfanges, und die Wärme
der Haut entstammt daher zum allergrößten Teile teils der von den Muskeln
ihr direkt zugeleiteten Wärme, teils und vor allem dem in ihren Gefäßen
strömenden Blute. Je größer diese Blutmenge ist, um so wärmer wird die
Haut. Unter sonst gleichen Umständen wird also die Wärmeabgabe durch
- Leitung und Strahlung mit der Größe der Blutzufuhr zu- und abnehmen.
Während seiner Strömung durch die Haut wird das Blut selber ab-
gekühlt, und auch die von ihm abgegebene Wärmemenge muß zu der Größe
der Blutzufuhr in gerader Proportion stehen. Kurz jede Erweiterung der
Hautgefäße bewirkt, ceteris paribus, eine vermehrte, jede Verengerung eine
verminderte Wärmeabgabe.
Die wechselnde Blutfülle der Hautgefäße stellt also einen wärmeregu-
lierenden Mechanismus dar, der besonders bei niedrigerer SU DURENDEFIIE
eine wesentliche Bedeutung haben muß !).
Wie Nasaroff*) zuerst nachwies und Durig und Lode°) später bestätigen
konnten, zeigen erwachsene, gut genährte Hunde bei wiederholten kalten Bädern
gesetzmäßig eine Anpassung an den Wärmeverlust, so daß dieselben die Fähigkeit
erlangen, an ihrer Eigentemperatur mit großer Zähigkeit festzuhalten, wie z. B.
in folgender Versuchsreihe an einem Hunde von 10,3kg Körpergewicht, bei welchem
die normale CO,-Abgabe für 10 Minuten durchschnittlich 2,74g betrug. Die
Dauer des Bades war in allen Versuchen 10 Minuten.
Temperatur des Tieres Temperatur | CO,
Tag Vor Nach Differenz En Abgabe Bemerkungen
dem Bade |dem Bade RER g
1 38,8 37,3 1,5 14,3 6,87 || Anfangs ruhig, dann
1 Min. Abwehrbewegun-
gen, dann wieder ruhig
2 38,8 35,4 3,4 12,2 9,06 Anfangs ruhig, dann hef-
tige Abwehrbewegungen
3 38,7 37,1 1,6 10,7 B .
4 38,6 38,1 0,5 _ 9,36 | Ruhig
5 38,7 38,1 0,6 10,2 9,73 R
“ 38,6 38,3 0,3 10,5 8,32 >
7 38,7 38,3 0,4 10,5 8,56 x
8 38,6 38,2 0,4 11,0 8,63 Zeitweise Abwehr, sonst
ruhig
Wie zu erwarten, ruft das Bad eine bedeutende Steigerung der Wärme-
bildung (der CO,-Abgabe) hervor. Diese Steigerung läßt sich bei Durigs
!) Über die Innervation der Hautgefäße und die im Dienste der Wärmeregu-
lierung stattfindenden Veränderungen derselben vgl. F. B. Hofmann, dies Hand-
bueh 1, 327. — ?°) Arch. f. path. Anat. 90, 487, 1882. — °) Arch. f. Hygiene
39, 46.
g8*
596 Die Wasserverdunstung.
und Lodes Versuchen in keinerlei Beziehung zu der Erscheinung der Ge-
wöhnung bringen. Vielmehr muß diese nur von einer Anpassung des
Wärmeverlustes hergeleitet werden. Da hier die Abgabe von Wasserdampf
wenigstens keine größere Rolle spielen dürfte, muß die Erscheinung von
einer zweckmäßigeren Wirkungsweise der Gefäßmuskulatur abhängig sein.
Über den hierbei stattfindenden Mechanismus vgl. Durig und Lode.
Da die Wärmebildung im Körper bei noch so hoher Außentemperatur
nicht aufhört, wird es dem Körper von einer gewissen Grenze an nicht mehr
möglich, sich durch Leitung und Strahlung von der in ihm gebildeten Wärme
zu befreien, und er wäre also der Gefahr einer immer mehr zunehmenden
Steigerung seiner Temperatur ausgesetzt, wenn nicht nun die Verdunstung
von Wasser ihn abkühlen würde.
Bis die Bedeutung der Verdunstung in dieser Hinsicht klargelegt wurde,
stellte man sich allgemein vor, daß ein mit Lungen atmendes Tier nicht in
einer Umgebung, die höher temperiert war als sein eigener Körper, leben
könne (Boerhave). Indes beobachtete Benjamin Franklin im Sommer
1750, daß seine Temperatur konstant blieb, obgleich die Außentemperatur
im Schatten 37,8°0C betrug, und wies auf die Verdampfung des Schweißes
als Ursache der Abkühlung des Körpers hin. Während der folgenden Zeit
häuften sich Beobachtungen aus den Tropen über das Konstantbleiben der
Körpertemperatur trotz wesentlich höherer Außentemperatur, und eingehende
Versuche von Tillet, Blagden, Fordyce, Solander, Banks, Dobson,
Changeux, Crawford, Delaroche, Berger u. a. stellten außer jeden
Zweifel, daß der Körper unter geeigneten Umständen selbst sehr hohe Außen-
temperaturen vertragen kann, ohne daß seine Temperatur dadurch in nennens-
wertem Grade anzusteigen braucht !).
Es ist selbstverständlich, daß sich der abkühlende Einfluß der Wasser-
verdunstung nur dann geltend machen kann, wenn die Luft nicht mit
Wasserdampf gesättigt ist; hierbei ist auch die Bekleidung von großer Be-
deutung. Wegen des Hindernisses, welche diese der freien Bewegung der Luft
bereitet, kann die in der Kleidung befindliche Luft bald mit Wasserdampf
gesättigt und also die fortdauernde;Verdunstung von der Körperoberfläche
aufgehoben werden. Große Hitze wird also um so besser vertragen, je dünner
die Bekleidung und je trockener die Luft ist.
Nicht allein wenn die Luft an und für sich zu warm ist, hat der Körper
das Bedürfnis, sich von der übermäßig gebildeten Wärme zu befreien; auch
bei verhältnismäßig niedriger Temperatur kann die Gefahr einer Überhitzung
eintreten, nämlich bei starker körperlicher Arbeit. Unter solchen Umständen
tritt eine reichliche Schweißsekretion selbst bei Temperaturen unterhalb des
Gefrierpunktes des Wassers hervor.
Wenn gleichzeitig eine starke körperliche Arbeit und eine hohe Außen-
temperatur zusammenwirken, sowie besonders wenn die Außenluft feucht ist
und noch eine warme Bekleidung hinzukommt, wird die Gefahr einer Über-
hitzung drohend; in der Tat stellt sich nun sehr leicht eine nicht selten zum
Tode führende Temperatursteigerung (Hitzeschlag) ein. Das Vermögen des
Körpers, seine Temperatur zu regulieren, ist also auch nach oben ziemlich be-
!) Vgl. die eingehende Darstellung bei Rosenthal, 8. 335.
Die Wärmepolypnoe. 597
schränkt, obgleich in dieser Hinsicht keine allgemeine Regeln aufgestellt
werden können.
Beim Menschen wird die in regulatorischer Hinsicht stattfindende Ab-
kühlung des Körpers fast ausschließlich durch den Schweiß!) bewirkt; dıe
Wasserverdampfung aus den Respirationsorganen spielt in dieser Beziehung
bei ihm nur eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle.
Mehrere warmblütige Tiere schwitzen aber nur wenig oder gar nicht.
Bei ihnen tritt statt dessen als regulatorischer Mechanismus eine sehr be-
schleunigte Atmung auf, dank welcher große Mengen Wasser von den Re-
spirationsorganen verdunsten und also den Körper abkühlen.
Ackermann?) zeigte, daß, wenn die Temperatur eines Hundes durch Be-
hinderung seiner Wärmeabgabe gesteigert wird, die Atemfrequenz bedeutend
zunimmt, sowie daß hier keine Dyspnoefvorliegt, denn nach einer raschen Abküh-
lung des Tieres tritt die normale Atemfrequenz ebenso rasch (in wenigen Minuten)
wieder ein, und es war selbst bei der kräftigsten künstlichen Atmung nicht mög-
lich, bei einem solchen Tiere Apnoe zu bewirken.
Zu gleicher Zeit mit der Beschleunigung nimmt die Atmungsgröße zu, die
Atmung ist aber oberflächlicher als sonst (Mertschinsky°).
Daß diese Form der Atmung, welche von Richet als Wärme-Polypnoe, von
Gad als Tachypnoe bezeichnet wird, mit der wegen mangelhafter Ventilation der
Lungen auftretenden respiratorischen Dyspnoe nichts gemeinsam hat, folgt ferner
daraus, daß alles, was den respiratorischen Gasaustausch oder$die Ventilation der
Lungen verhindert, sowie auch die Anreicherung des Blutes mit Kohlensäure dem
Auftreten der Polypnoe vorbeugt (Richet‘).
Wenn die Polypnoe wegen besonderer Eingriffe (Curarevergiftung, Zubinden
des Maules, Röhrendyspnoe, tiefe Chloralnarkose) nicht erscheinen kann, so steigt
die Körpertemperatur an, während sie unter genau denselben Umständen an ihrem
früheren Stande bleibt, wenn die Polypnoe nicht verhindert wird (Richet).
Die Polypnoe kommt auch dann zum Vorschein, wenn nur das in den Caro-
tiden strömende Blut erwärmt wird, während der übrige Körper keiner höheren
Außentemperatur ausgesetzt ist (Goldstein’). Diese Erscheinung im Verein mit
der von Athanasiu und Carvalho°) beobachteten, daß die Erwärmung des
Körpers keine Polypnoe mehr hervorruft, wenn gleichzeitig der Kopf und der Hals
des Tieres abgekühlt werden, zeigen uns, daß eine dureh das erwärmte Blut aus-
gelöste Reizung im Kopfmark als nächste Ursache der Polypnoe aufzufassen ist %
Über die Polypnoe gibt Kahn) in der letzten Zeit noch an, daß bei Erwär-
mung des Carotisblutes das Maximum der Verflachung der Atmung stets früher
erreicht wird als das der Beschleunigung; daß sich die Atmungsreflexe während
derselben wesentlich anders gestalten wie bei der normalen Atmung, sowie daß die
doppelseitige Vagusdurchschneidung die Polypnoe aufhebt und, wenn sie vor der
Erwärmung stattgefunden hat, die Stärke der Polypnoe verringert.
Als begleitende Erscheinungen treten ferner, und zwar auch ohne daß der
Körper (Rectum) selber wärmer wird, Erweiterung der Hautgefäße mit gleich-
zeitiger Kontraktion des Splanehnicusgebietes, Schweißsekretion bei Tieren, welche
schwitzen, und verminderte Harnsekretion auf.
!) Über die Schweißsekretion siehe die Darstellung von Metzner in diesem
Handbuche. — ?) Deutsch. Arch. f. klin. Med. 2, 359, 1867. — °) Verhandl. der
physik.-med. Ges. zu Würzburg, N. F., 16 (1881). — *) Arch. de physiol. 1888, p. 193,
282. — °) Arbeiten aus dem physiol. Laboratorium zu Würzburg 1, 77, 1872; vgl.
aueh Mertschinsky, 2.2.0. — °) Archives de physiologie 1898, p. 95. — ?) "Über
die Polypnoe siehe ferner Riegel, Arch f. path. Anat. 61, 396, 1874; Arch. f. d.
ges. Physiol. 5, 629, 1872; Sihler, Journ. of Physiol. 2, 191, 1880; Senator,
Arch. f. (Anat. u.) Physiol., Suppl., 1883, S. 206; Arnheim, Ebenda 1894, S. 46;
Rubner und Cramer, Arch. f. Hygiene 20, 345, 1894. — ®) Arch. f. (Anat. u.)
Physiol. 1904, Suppl., 8. 81.
598 Die Zentren der Wärmeregulierung.
$ 2. Die Zentren der Wärmeregulierung.
Unsere direkten Erfahrungen, betreffend diejenigen Teile des zentralen
Nervensystems, welche die verschiedenen Organe des Körpers zu gesetz-
mäßigem Zusammenwirken bei der Regulierung der Körpertemperatur koor-
dinieren, sind bis jetzt nur sehr gering. Nicht daß man es unterlassen hätte,
die Einwirkung des Nervensystems auf die Wärmeökonomie zu untersuchen,
vielmehr liegen in dieser Hinsicht nicht wenige Arbeiten vor. Die durch
dieselben erzielten Resultate sind aber bei weitem nicht genügend, um uns
eine befriedigende Vorstellung von dem nervösen Mechanismus der Wärme-
regulierung zu gestatten.
Da wir wissen, eine wie große Rolle die Muskeln bei der Regulierung der
Wärme spielen, ist es von vornherein einleuchtend, daß die Körpertemperatur nach
hoher Durchschneidung des Rückenmarkes, wegen der dabei eintretenden Lähmung
der meisten Skelettmuskeln, bei nicht zu hoher Außentemperatur herabsinken muß,
insbesondere da gleichzeitig auch die Hautgefäße erweitert werden. Beispiele
davon haben wir bei Tscheschiehin'), Bernard’), Naunyn und Quincke°),
Rosenthal), Riegel’), Pflüger‘), Pembrey’) u. a.°).
Wenn die Temperatur der Umgebung hoch ist, so kann die Körpertemperatur
nach hoher Rüekenmarksdurchschneidung ansteigen (Naunyn und Quincke,
Riegel, Schroff°)'u. a.), was wahrscheinlich zum Teil auf dem Wegfallen der
Polypnoe beruht, bei länger dauernden Versuchen wohl auch in dem Eintreten
eines Wundfiebers seine Ursache hat (Rosenthal).
Die Erfahrungen über die Folgen der hohen Durchtrennung des Rüecken-
markes beim Menschen stimmen mit denjenigen an Tieren vollständig überein:
zuweilen begegnet man einem Anstieg, zuweilen einer Abnahme der Körpertem-
peratur. Die Abnahme ist wohl auch hier auf das Ausfallen der Muskeltätigkeit
und die Erweiterung der Hautgefäße zu beziehen. Wenn ein Anstieg erscheint,
dürfte derselbe vor allem davon herrühren, daß der Patient vor Wärmeverlust
stark geschützt gewesen ist und daß die gelähmten Körperteile bald ihr Schwitz-
vermögen verlieren. Außerdem ist die Atmung jetzt diaphragmatisch, also von
ziemlich geringem Umfange, weshalb die durch die Respiration bewirkte Abkühlung
wesentlich vermindert wird !®).
Die Erscheinungen nach Rückenmarksdurchtrennung dürften also aus
allgemeinen physiologischen Erfahrungen erklärt werden können, ohne daß
man Veranlassung hätte, irgend welche speziell für die Wärmeregulierung
eingerichtete Bahnen oder Zentren im Rückenmark anzunehmen.
Betreffend die bei verschiedenen Verletzungen oder Reizungen einzelner
Hirnteile erzielten Resultate ist zu bemerken, daß hierbei gleichzeitig mit einer
Temperatursteigerung nicht selten auch Zwangsbewegungen bzw. Zwangs-
stellungen aufgetreten sind. In solchen Fällen kann die Steigerung der
Körpertemperatur einfach die Folge der abnormen Muskeltätigkeit darstellen
und lehrt uns nichts in bezug auf die eventuelle Beteiligung des betreffenden
Hirnteiles bei der Regulierung der Körperwärme. Dasselbe ist der Fall, wenn
') Areh. f. Anat. u. Physiol. 1866, S. 151. — °?) Bernard, Chaleur animale,
Paris 1876, p. 161. — °) Arch. f. Anat. u. Physiol. 1869, 8. 174, 521. — *) Rosen-
thal, Zur Kenntnis der Wärmeregulierung, Erlangen 1872, 8. 16. — °) Arch. £.
d. ges. Physiol. 5, 629, 1872. — °) Ebenda 18, 321, 1878. — 7) Journ. of Physiol. 17,
proceedings 3, 1895. — ®) Vgl. Pembrey, p.859. — °) Sitzungsber. d. Akad. d.
Wiss. Wien, math.-naturw. Kl. 73 (8), 141, 1876. — !°) Pembrey, p. 860; Journ.
of Physiol. 21, proceedings 13, 1897.
Die Zentren der Wärmeregulierung. 599
der Eingriff Störungen der Gefäßinnervation hervorruft, denn dann können
eventuelle Veränderungen der Körpertemperatur lediglich von diesen be-
dingt sein.
Wenn wir uns nicht damit genügen lassen, jede Erwärmung oder Ab-
kühlung des Körpers bei Muskelkrämpfen bzw. Muskellähmung oder infolge
von einer Gefäßverengerung bzw. Erweiterung als Ausdruck einer Einwirkung
auf ein Wärmezentrum aufzufassen, in welchem Falle die Zahl solcher Zentren
erdrückend groß werden würde, so müssen wir zugeben, daß die zurzeit vor-
liegenden Untersuchungen zum großen Teil nichts anderes als motorische oder
vasomotorische Wirkungen nachweisen und also für die Frage nach dem
Wärmezentrum keine direkte Bedeutung haben können.
Naeh Tscheschichin') würde die Durchschneidung des Gehirns (Kanin-
chen) an der Grenze zwischen Pons und Kopfmark unter Beschleunigung der
Atmung und des Herzschlages und Steigerung der Reflexe eine starke Temperatur-
erhöhung bewirken; diese sei dadurch verursacht, daß durch den Schnitt ein im
Gehirn befindliehes wärmeregulatorisches (hemmendes) Zentrum abgetrennt werden
würde. Bei der gleichen Operation sah indessen Lewitzki”) die Temperatur in
der Mehrzahl der Fälle vom Augenblicke der Operation an bis zum Tode immer
sinken. Nur in zwei Fällen sah er eine kleine Steigerung der Temperatur: hier
hatten sich aber besonders starke Krämpfe entwiekelt, welche allein für sich
die Temperaturzunahme erklären können. Etwa dasselbe fanden Bruck und
Günter°), indem unter vielen Versuchen nur in zweien eine Temperatursteigerung
eintrat. Sawadowski‘) gibt an, daß die Temperatur nur dann ansteigt, wenn
nach der Operation eine sehr heftige, von Krämpfen begleitete Atmung eintritt,
was übrigens nur nach unvollständiger Durchtrennung der Fall ist; bei glatt ver-
laufender Operation sinkt die Temperatur konstant herab.
Unter elf Versuchen, bei welchen die Gegend des hinteren Randes der Brücke
und des vorderen Randes des Kopfmarkes durch einen einfachen Nadelstich ver-
letzt wurde, beobachteten Bruck und Günter fünfmal eine Temperatursteigerung,
dagegen war die Verletzung des vorderen Randes der Brücke nicht mehr wirksam.
Da der letzterwähnte Eingriff jedenfalls sicherer als die vollständige Durchschnei-
dung an der gleichen Stelle wirkte, konnte die von Tscheschichin entwickelte
Deutung nicht berechtigt sein.
Naeh Schreiber°) ruft die Stichverletzung an der Grenze zwischen Kopf-
mark und Pons bedingungslos und konstant eine Steigerung der Körpertemperatur
hervor. Jedoch will er aus diesen Erfahrungen keine bestimmten theoretischen
Schlußfolgerungen ziehen.
Wenn die Tiere durch Einpaekung vor Wärmeverlust geschützt waren,
so bekam Schreiber nach Stichverletzungen der Brücke in allen Teilen, der
Peduneculi cerebri, des Kleinhirns und des Großhirns Steigerung der Körper-
temperatur.
Durch diese Beobachtungen können wir möglicherweise schließen, daß
eine Verletzung an der oberen Grenze des Kopfmarkes in vielen Fällen einen
Temperaturanstieg im Körper verursacht. Ich kann aber nicht finden, daß
diese Erscheinung, auch wenn sie ganz konstant auftritt, irgend welchen
Beweis darstellt, daß sich am betreffenden: Orte ein spezifisches Zentrum der
Wärmebildung vorfindet, bzw. daß durch die Operation ein höher liegendes,
regulatorisches Zentrum ausgeschaltet wäre, denn es ist sehr gut möglich,
!) Arch. f. Anat. u. Physiol. 1866, S. 151. Vgl. auch Wood, Smithson.
Contrib. to Knowl. 1880. — ?) Arch. f. path. Anat. 47, 357, 1869. — °) Arch. f. d.
ges. Physiol. 3, 580, 1870. — *) Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1888, 8. 161, 178. —
®) Arch. f. d. ges. Physiol. 8, 576, 1874.
600 Die Zentren der Wärmeregulierung.
daß diese Verletzung, die wahrscheinlich als ein Reiz wirkt, nur motorische
Bahnen oder Zentren erregt hat, ohne daß das Vorhandensein von Muskel-
bewegungen oder erhöhtem Muskeltonus in allen Versuchsprotokollen aus-
drücklich bemerkt worden ist.
Bei Zerstörung gewisser Abschnitte der Oberfläche des Vorderhirns beim
Hunde, etwa der motorischen Region entsprechend, beobachteten Eulenburg
und Landois!) eine beträchtliche Steigerung der Temperatur in den kontra-
lateralen Extremitäten. Lokalisierte elektrische Reizung der gleichen Stellen
bewirkte eine meist geringe und vorübergehende Abkühlung in den kontra-
lateralen Extremitäten. Entsprechende Beobachtungen sind auch am Men-
schen bei Läsionen der Großhirnrinde gemacht worden 2). Auch in diesen
Erfahrungen scheint kein bindender Beweis für die Existenz eines Wärme-
zentrums zu liegen, denn dieselben dürften wohl mit der Erregung bzw.
Lähmung der Vasomotoren und Skelettmuskeln in Zusammenhang gebracht
werden können.
Nach einem Stich in das Vorderhirn — der Ort wurde nicht genau
lokalisiert — fand Richet?), daß (beim Kaninchen) die Körpertemperatur
wesentlich zunahm, und daß dabei eine Zunahme der kalorimetrisch ge-
messenen Wärmeabgabe um durchschnittlich 24 Proz. eintrat. Gleichzeitig
beobachtete Ott), daß die Durchschneidung der beiden Corpora striata eine
. beträchtliche Temperatursteigerung zuwege brachte. Kurz nachher teilten
Aronsohn und Sachs’) entsprechende Erfahrungen mit. Einstiche in das.
Vorderhirn übten auf die Körpertemperatur keinen Einfluß aus. Wurde
dagegen der mediale Rand des Corpus striatum vom Stiche getroffen und
die Nadel bis zur Basis craniüi geführt, so stieg die Körpertemperatur schon
wenige Stunden nach der Operation bis zu einer enormen Höhe und hielt sich
auf dieser mehrere Tage lang. Die gleiche Temperatursteigerung zeigte sich
' auch dann, wenn die Nadel den Schädelgrund nicht erreichte; nur erfolgte die
Temperatursteigerung langsamer, so daß das Maximum erst nach 24 bis
73 Stunden erreicht wurde, während sie beim tiefen Einstich schon nach
2 bis 7 Stunden die höchste Höhe erstiegen hatte. Dabei nahm die Sauer-
stoffaufnahme bis zu 16 Proz., die Kohlensäureabgabe bis zu 21 Proz., sowie
die Stickstoffabgabe im Harn um mindestens 25 Proz. zu.
Fortgesetzte Untersuchungen von Girard®), Baginsky und Leh-
mann’), Sawadowski°®), White°), Gottlieb 1%), Wittkowsky !!), Ito 12),
Hirsch, Müller und Rolly 3) u. a. bestätigten die Angaben der letzt-
erwähnten Autoren betreffend den Ort des wirksamen Eingriffes, wenn sie
!) Arch. f. path. Anat. 68, 245, 1876; vgl. auch die damit übereinstimmenden
Beobachtungen von Hitzig (Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1876, S. 823) und die
widerstreitenden von Kuessner (Ebenda 1877, 8.821). — °) Vgl. White, British
med. Journ. 1894 (2), 8. 1093; 1897 (1), 8. 1655; Zeitschr. f. klin. Med. 50, 253, 1903. —
®) Compt. rend. de l’Acad. des sciences Paris, 98, 826, 1884; Arch. de physiol. 1885
(2), 463; Arch. f. d. ges. Physiol. 37, 624, 1885.— *) Journ. of nervous and ment.
diseases 11 (1884); zit. nach Aronsohn und Sachs (siehe unten). — °) Arch. f.
(Anat. u.) Physiol. 1885, 8.166; Arch. f. d. ges. Physiol. 37, 232, 1885. — °) Arch.
de physiol. 1886 (2), 281. —' 7) Arch. f. path. Anat. 106, 270, 1886. — °) A. a. O.
— °) Journ. of Physiol. 11, 1, 1890; 12, 233, 1891. — !) Arch. f. exp. Path. 26,
419, 1889; 28, 167, 1891. — '!) Ebenda 28, 283, 1891. — !?) Zeitschr. f. Biol. 38,
63, 1899. — !?) Deutsches Arch. f. klin. Med. 75, 287, 1903.
Die Zentren der Wärmeregulierung. 601
auch in bezug auf die dabei auftretenden Erscheinungen nicht in allen
Einzelheiten übereinstimmten.
Erfahrungen aus der menschlichen Pathologie scheinen dafür zu sprechen,
daß auch beim Menschen eine Hyperthermie durch Läsion des Corpus striatum
eintritt !).
Der Einstich in das Gehirn kann in zweierlei Weise einwirken, entweder
durch Reizung oder durch Zerstörung der betreffenden Stelle.e Da nach
elektrischer Reizung am genannten Orte dieselbe Temperatursteigerung ein-
tritt, darf man wohl schließen, daß auch der Einstich als ein Reiz wirkt.
Die oben angeführten Beobachtungen ergeben, daß hier eine Zunahme
der Wärmebildung vorliegt. Während der ersten Stunden scheint indes,
nach Gottlieb, eine Wärmeretention die wesentliche Ursache der Temperatur-
erhöhung zu sein, da die Erhitzung des Körpers oft um ungefähr diejenige
Wärmemenge erfolgt, welche im Vergleich zur Norm zurückgehalten wird.
Erst im weiteren Verlaufe kommt noch eine Überproduktion hinzu.
Es sind von verschiedenen Autoren noch andere Gehirnstellen angegeben
worden, bei deren irritativer Verletzung eine Zunahme der Körpertemperatur auf-
tritt. So würde nach Ott?) (Kaninchen) und Tangl°) (Pferd) der Sehhügel ein
solches Wärmezentrum enthalten, welches nach Ott nach dem Tuber cinereum ver-
legt wäre; dagegen ist White zu dem Resultat gekommen, daß die Temperatur-
steigerung bei Verletzung des Sehhügels nur bei gleichzeitiger Verletzung des
Corpus striatum erscheint*). Im Tuber cinereum würde sich nach. Ott auch ein
Zentrum vorfinden, welches die Abgabe von Wärme beförderte: Reizung desselben
rufe die Wärmepolypnoe hervor, während dessen Zerstörung das Auftreten der
Polypnoe aufhebe.
Unter allen „Wärmezentren“, die von verschiedenen Autoren erwähnt
worden sind, dürften die im Corpus striatum als am sichersten festgestellt
erachtet werden können. Sind dieselben aber als wirkliche Zentren der
Wärmebildung oder Wärmeregulierung aufzufassen, und haben sie überhaupt
eine direkte Bedeutung bei der Wärmeökonomie des Körpers’?
Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß sie nicht die einzigen nervösen
Zentralorgane für die Wärmebildung darstellen können, da wir doch wissen,
daß diese von der Tätigkeit der Organe abhängig ist, und also von allen
Teilen des zentralen Nervensystems, die überhaupt bei den peripheren Organen
eine dissimilatorische Wirkung hervorrufen, beherrscht wird. Ito hebt
hervor, daß das Wärmezentrum des Corpus striatum in erster Linie die
Tätigkeit des Pankreas erhöht, und daß es im höchsten Grade wahrscheinlich
ist, daß diese Drüse dadurch in höherem Grade Wärme entwickelt als andere
Organe des Tierleibes. Die bedeutende Temperatursteigerung des Körpers
nach dem Wärmestich läßt sich jedoch nicht aus diesem Gesichtspunkte
erklären. Außerdem geht aus Aronsohns°) neuen Versuchen sehr deutlich
hervor, daß der Wärmestich unter Vermittelung der Skelettmuskeln seine
Einwirkung entfaltet, da derselbe bei schwacher Curarevergiftung der Versuchs-
tiere keine Zunahme der Körpertemperatur bewirkt.
!) Vgl. die 8.600 zitierten Arbeiten von White. — *) Ott, Text-Book of
Physiol., Philadelphia 1904, p. 348. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 61, 559, 1895. —
*) Vgl. auch Sawadowsky, a. a. O. — °) Arch. f. pathol. Anat. 169, 501, 1902;
vgl. auch Hirsch, Müller und Rolly, Deutsches Arch. f. klin. Med. 75, 287,
1903, sowie die Kritik Aronsohns, Ebenda 82, 205, 1904. ;
602 Die Zentren der Wärmeregulierung.
Durch den Ausfall des Corpus striatum wird übrigens die Fähigkeit der
Wärmeregulierung nicht aufgehoben, wie aus Goltz’!) Erfahrungen am
Hunde ohne Großhirn, bei welchem von den Streifenkörpern nur noch ein
Teil vorhanden war und dieser sich im Zustande braungelber Erweichung
befand, ersichtlich ist. Ein solcher Hund bietet allerdings verschiedene
Störungen seiner Wärmeökonomie dar, diese können aber ganz einfach als
der Ausdruck der allgemeinen Störungen aller Funktionen, die bei einem
solchen Tiere auftreten, aufgefaßt werden ?).
Die Versuche, im zentralen Nervensystem bestimmte Wärmezentren
nachzuweisen, dürften also kaum zu einem völlig befriedigenden Resultat
geführt haben. Sind wir aber gezwungen, das Vorhandensein besonderer
Wärmezentren anzunehmen, und wäre es nicht möglich, die Wärmeregulierung
der homoiothermen Tiere ohne solche zu erklären ?
Bei der Wärmeregulierung wirkt zwar eine stattliche Zahl verschie-
dener Organe in gesetzmäßiger Weise untereinander zusammen, und dies
stellt der landläufigen Anschauung gemäß einen genügenden Grund für das
Postulat der Wärmezentren dar. Dieses Zusammenwirken ist indes ganz
anderer und einfacherer Art als das, welches bei mehreren anderen kombi-
nierten Verrichtungen stattfindet. Bei den Atembewegungen treten zahl-
reiche Muskeln in einer ganz bestimmten Reihenfolge in Tätigkeit; dieselben
müssen daher in zweckentsprechender Weise miteinander koordiniert werden.
Dasselbe ist mit der Brechbewegung und überhaupt mit allen, einem be-
stimmten Ziele folgenden Muskelkontraktionen der Fall. Ebenso muß sich
bei der Verteilung des Blutes nach den verschiedenen Körperteilen eine feine
Abstufung der Tätigkeit der Gefäßmuskeln in den verschiedenen Organen
vorfinden.
Bei- der Wärmeregulierung verhält sich die Sache wesentlich anders:
wenn die Wärmeabgabe zu groß ist, so wird der Tonus in allen Muskeln
und in allen Hautgefäßen ohne Unterschied erhöht; ist die Wärmebildung
zu groß oder ist die Wärmeabgabe durch Leitung und Strahlung nicht
genügend, so werden alle Schweißdrüsen ohne Unterschied erregt, bzw. es
tritt die Polypnoe, welche keine andere Regulation als die der Atem-
bewegungen erfordert, hervor. Kurz, bei der Wärmeregulation handelt es
sich nicht um ein koordiniertes, wohl abgepaßtes Zusammenwirken einzelner
Organe, sondern die hier tätigen Körperteile werden en bloc erregt.
Unter solchen Umständen liegt, meines Erachtens, gar keine zwingende
Notwendigkeit vor, im zentralen Nervensystem ein bestimmtes Zentrum für
die Wärmeregulierung zu postulieren. Vielmehr dürften sich sämtliche hier-
bei stattfindenden Erscheinungen ohne besondere Schwierigkeit erklären
lassen, wenn wir annehmen, daß die nervösen Zentren, die die Muskeln
und andere wärmebildenden Organe beherrschen, sowie diejenigen, welche die
Hautgefäße, bzw. die Schweißdrüsen und die Atembewegungen beeinflussen,
bei Temperaturveränderungen in einer dem Bedarf der Wärmeregulation
entsprechenden Weise reagieren.
!) Arch. f. d. ges. Physiol. 51, 591, 1892; vgl. auch Christiani, Arch. £.
(Anat. u.) Physiol. 1885, 8.572. — °?) Vgl. Girard, Arch. de physiol. 1888 (1), 312;
U. Mosso, Arch. f. exp. Path. 26, 316, 1889.
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Die Zentren der Wärmeregulierung. 603
Betreffend den hierbei stattfindenden Mechanismus können mehrere
Möglichkeiten stattfinden. Es könnte der Fall sein, daß die Erregung der
Kältenerven reflektorisch den Muskeltonus erhöht, die der Wärmenerven die
Schweißsekretion hervorruft. Auch ist es denkbar, daß eine kleine Steigerung
der Bluttemperatur die Schweißzentren direkt erregt, wie eine Abnahme der-
selben irgend welche motorische Zentren in Tätigkeit versetzt. Endlich ist
es auch möglich, daß gewisse periphere Organe durch die veränderte Tem-
peratur des durch sie strömenden Blutes ihren Stoffwechsel in der einen oder
anderen Richtung verändern können.
Die Erfahrungen, welche wir über die Reaktionsweise des Körpers bei
Temperaturveränderungen besitzen, sprechen wenigstens nicht gegen diese
Auffassung. Die so merkwürdige Anpassung der Wärmeproduktion an
die umgebende Temperatur, die Rubner konstatiert hat (vgl. Stoffwechsel,
8.463), ist ja im Grunde nicht merkwürdiger als die Anpassung der Atem-
bewegungen an den Gasgehalt des Blutes!), und kann wohl mit der Ansicht,
daß gewisse motorische Zentren — möglicherweise im Corpus striatum — auf
selbst geringe Temperaturen reagieren, in Übereinstimmung gebracht werden.
Auch die Tatsache, daß es beim Menschen gelingt, die vermehrte Wärmebildung
bei niederer Außentemperatur zu unterdrücken, zeigt, daß die chemische Wärme-
regulation nicht von einem vom Willen völlig unabhängigen Zentrum be-
herrscht wird, und um ein solches müßte es sich doch handeln, wenn die
Wärmebildung von einem speziellen Wärmezentrum aus reguliert werden würde.
Auch Erfahrungen, welche wir hinsichtlich der Empfindlichkeit unserer
Wärme- und Kältenerven besitzen, sprechen nicht gegen diese Auffassung, denn
da selbst sehr geringe Temperaturdifferenzen unter ihrer Vermittelung bewußt
werden können, so läßt es sich ja nicht von vornherein verneinen, daß sie auch
auf die Zentren des Muskeltonus, der Schweißsekretion usw. einwirken können.
Übrigens haben ja direkte Versuche unzweifelhaft erwiesen, daß eine geringe
Veränderung der Körpertemperatur Veränderungen in bezug auf die bei der Wärme-
regulierung tätigen Mechanismen hervorrufen können.
Hierher gehören folgende Versuche von Stern *), bei welchen (am Menschen)
die Temperatur eines Vollbades von etwa 34 bis 37°C sehr langsam erhöht oder
erniedrigt wurde, bis der Körper durch Bewegung bzw. Schweißsekretion anzeigte,
daß die wärmeregulatorischen Mechanismen in Tätigkeit versetzt worden waren.
Gleichzeitig wurde die Rectaltemperatur gemessen. Es stellte sich heraus, daß die
Schweißsekretion erschien, wenn die Körpertemperatur um durchschnittlich 0,34° C
(Max. 0,8, Min. 0,10°) zugenommen hatte. Muskelzittern trat auf, sobald die
Körpertemperatur um durchschnittlich 0,26°C (Max. 0,8, Min. 0,0°) herabgesunken
war. Wenn infolge starker Hautreizung (mit Senfpulver) die Hautgefäße erweitert
waren, trat die Gegenregulation bei Abkühlung schneller und bei geringerer Ab-
nahme der Körpertemperatur ein. ’
Dementsprechend fand Fredericg‘), daß bei körperlicher Arbeit eine Schweiß-
sekretion erschien, wenn die Körpertemperatur um 0,14 bis 0,49°C zugenommen
hatte. Bei einer Ausgangstemperatur von weniger als 37,2°0C war die Zunahme
der Körpertemperatur, bis Schweiß erschien, durchschnittlich 0,43°C (Max. 0,49,
Min. 0,38%); bei einer Ausgangstemperatur zwischen 37,2 und 37,4°C betrug die
Zunahme nur 0,21°C (Max. 0,28, Min. 0,14°%). Die Zahl der Beobachtungen ist
allerdings nur gering, es scheint indessen aus denselben hervorzugehen, daß die
durch Ausbruch von Schweiß gekennzeichnete Gegenregulation bei Erwärmung des
Körpers um so früher auftritt, je höher die Körpertemperatur schon ist.
!) Vgl. z.B.Miescher, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1885, 8.355. — *) Zeitschr.
f. klin. Med. 20, 63, 1892. — °) Travaux du laboratoire 6, 209, 1901.
604 Die Wärmeregulierung bei Neugeborenen.
Aus diesen und anderen Erfahrungen (vgl. S.597), wie aus dem, was uns
betreffs der Schweißsekretion bekannt ist, dürfte mit einer gewissen Wahr-
scheinlichkeit geschlossen werden können, daß die bei der Wärmeregulation
stattfindende Reizung gewisser Teile des Nervensystems wesentlich durch die
Temperatur des Blutes zustande kommt, und daß im Vergleich dazu die
reflektorischen Wirkungen der Wärme- und Kältenerven von geringerer Be-
deutung sein dürften.
In der letzten Zeit hat Montuori') Versuche mitgeteilt, in welchen er darzu-
tun sucht, daß die Wärmeregulation wesentlich durch den Einfluß besonderer Sub-
stanzen erfolgt, welche bei Erwärmung bzw. Abkühlung des Körpers entstehen.
Die Transfusion des Blutes von einem künstlich erwärmten oder abgekühlten Hunde
an einen anderen Hund würde nämlich bei diesem eine Abnahme bzw. eine Zu-
nahme der Wärmebildung hervorrufen. Nach Transfusion des Blutes eines ab-
gekühlten Tieres wird die Sauerstoffaufnahme und die Kohlensäureabgabe vermehrt;
dagegen tritt bei Transfusion vom Blute eines erwärmten Tieres trotz der ver-
minderten Wärmeabgabe keine Veränderung im respiratorischen Gasaustausch
hervor usw. Wenn sich diese Angaben bestätigen, so würde die Physiologie der
Wärmeregulation in vielerlei Hinsicht ein verändertes Aussehen bekommen. Aber
selbst wenn dem so wäre, würde doch daraus keine Notwendigkeit spezieller
Wärmezentren resultieren.
$ 3. Die Wärmeregulierung bei Neugeborenen.
Bei seinen Untersuchungen über die Körpertemperatur bei Neugeborenen
und jungen Säugetieren von verschiedenem Alter fand Edwards), daß die-
selben, wenn sie von ihrer Mutter fortgenommen wurden, sich wesentlich ver-
schieden verhalten. Einige, welche, wie der Hund, die Katze, das Kaninchen,
blind und hilflos geboren werden, zeigten eine bedeutende Abnahme ihrer Tem-
peratur, und zwar auch dann, wenn sie durch Bedeckung vor Wärmeverlust
geschützt wurden. Im Laufe der ersten zwei Wochen bekamen sie allmählich
das Vermögen, selbständig ihre Temperatur bei gewöhnlicher Zimmertemperatur
zu erhalten. Andere Tiere aber, wie das Meerschweinchen, besaßen vom
Augenblick der Geburt an das Vermögen, bei mittlerer Temperatur ihre Eigen-
temperatur selbständig zu bewahren, ohne von der Mutter erwärmt zu werden.
Wenn die Tiere aber einer niedrigen Außentemperatur ausgesetzt wurden,
so konnten sie ihre Eigentemperatur nicht beibehalten und verhielten sich
dann wie die Tiere der ersten Gruppe.
Dieselben Erscheinungen konnte Edwards auch bei den Vögeln beob-
achten; außerdem bemerkte er, daß das neugeborene Kind allerdings nicht
der Erwärmung durch den mütterlichen Körper bedarf, andererseits aber
gegen stärkere Abkühlung viel empfindlicher ist als etwas ältere Kinder.
Vor der Zeit geborene Kinder konnten überhaupt nicht selbständig ihre
Temperatur bewahren 3).
Am bebrüteten Hühnerei fand Pembrey im Verein mit Gordon und
Warren), daß das Küchlein etwa bis zum Ende der dritten Woche auf
Variationen der Außentemperatur in derselben Weise wie ein Kaltblüter
!) A. Montuori, Ricerche Biotermiche, Napoli 1904; im Auszug in Arch. ital.
de biol. 42, 383, 1904. — ?) W. F. Edwards, De l’influence des agents physiques
sur la vie, Paris 1824, p.132. — °) Derselbe, Ebenda, p.229. — *) Journ. of
Physiol. 17, 331, 1894.
Die Wärmeregulierung bei Neugeborenen. 605
reagiert, d. h. daß die Intensität der Kohlensäurebildung mit der Außen-
temperatur steigt und fällt. Das ausgetragene Küchlein hat aber, wenn es
kräftig ist, das Vermögen, in derselben Weise wie überhaupt die warmblütigen
Tiere durch vermehrte Verbrennung gegen Abkühlung zu reagieren.
Bei fortgesetzten Untersuchungen konstatierte Pembrey!), ebenfalls
durch Studium der Kohlensäurebildung, daß sich neugeborene Mäuse, Ratten
und Tauben bei Veränderungen der Außentemperatur ganz wie Kaltblüter
verhalten, während dagegen das Meerschweinchen und das Küchlein die
Fähigkeit haben, durch vermehrte Wärmebildung ihre Eigentemperatur kon-
stant zu erhalten, vorausgesetzt, daß die Schwankungen der Außentemperatur
nicht zu groß sind. Die Tiere der ersten Gruppe gewannen ein genügendes
Vermögen der Wärmeregulierung 10 bis 15 Tage nach der Geburt.
In wesentlicher Übereinstimmung mit Edwards bemerkt Pembrey,
daß die wesentliche Ursache, weshalb neugeborene Mäuse, Tauben usw. ihre
Eigentemperatur nicht bewahren können, in einer mangelhaften Wärme-
bildung liegt. Bei Temperaturerniedrigung sind ihre Bewegungen zwar im
Anfange lebhafter, bald werden sie aber schwach und von geringer Wirkung.
Das Meerschweinchen und das Küchlein zeigen dagegen bei niedriger Tem-
peratur eine bedeutende Aktivität. Das Vermögen der Wärmeregulierung
scheint also Hand in Hand mit der Entwickelung der neuromotorischen Organe
zu gehen.
Daß das ausgetragene neugeborene Kind selbständig seine Körper-
temperatur auf konstanter Höhe erhalten kann, steht außer jedem Zweifel.
Jedoch zeigt die Erfahrung, daß es noch nicht in derselben Weise wie der
erwachsene Mensch seine Körpertemperatur zu regulieren vermag. Dies
geht vor allem aus den schon oben besprochenen Erfahrungen über den
Temperaturfall während der ersten Tage hervor, welcher ja vom Bade wesent-
lich unabhängig ist und auch an Kindern auftritt, die kein Bad bekommen.
Ferner sind die Temperaturschwankungen, obgleich bei ihnen noch nicht die
gesetzmäßig verlaufende tägliche Variation ausgebildet ist, wesentlich größer
als beim Erwachsenen. Hier liegt also eine gewisse Wärmelabilität vor,
welche, wie Raudnitz?) näher entwickelt, nicht von der geringen Körper-
größe und dem davon bedingten verhältnismäßig größeren Wärmeverlust
abhängen kann, da bei einem und demselben Kinde die Wärmeregulierungs-
fähigkeit mit jedem Lebenstage zunimmt, ohne daß sich das Verhältnis
zwischen Körpergröße und -oberfläche inzwischen wesentlich ändert. Hier
dürfte also, ganz wie beim Meerschweinchen, der Einfluß anfangs nicht völlig
ausgebildeter Regulationsvorrichtungen vorliegen.
Durch Versuche, wo sowohl die Wärmeabgabe (kalorimetrisch) als auch
der respiratorische Gasaustausch bestimmt wurde, kommt Babak?) zu dem
Resultat, daß beim Neugeborenen die physikalische Wärmeregulation mangel-
haft ist, und daß auch die chemische Regulation oft große Unregelmäßig-
keiten aufweist. Wenn die Wärmeabgabe ungenügend geregelt wird, reicht
die gesteigerte Wärmeproduktion nur dann aus, wenn die Außentemperatur
höher oder die Umhüllung mit schlechtem Wärmeleiter besser ist.
!) Journ. of Physiol. 18, 363, 1895. — ?) Zeitschr. f. Biol. 24, 422, 1888; da-
selbst eine eingehende Besprechung der einschlägigen Literatur. — °) Arch. f£. d.
ges. Physiol. 89, 154, 1902.
606 Die Wärmeökonomie der kaltblütigen Wirbeltiere.
Nach Jundell!) sind indessen die bei völlig gesunden Neugeborenen
auftretenden Variationen geringer, als man es sich im allgemeinen vorstellt.
Nach seinen Messungen, die allerdings nur sechsmal täglich gemacht wurden,
und zwar an Kindern am Ende der ersten Lebenswoche, war die Variations-
breite bei zwei- bis dreitägigen Beobachtungen an 47 Kindern (insgesamt
139 Tage) 32 mal 0,3, 27 mal 0,4, 32 mal 0,5 und 16 mal 0,6°C, während
dieselbe bei der Versuchsperson Vogel (Jürgensen) durchschnittlich für
10 Tage 0,86°C (Max. 1,0, Min. 0,6°) betrug. ’
$ 4. Anhang.
Die Wärmeökonomie der kaltblütigen Wirbeltiere?).
Über die Temperatur der kaltblütigen Wirbeltiere liegen sehr zahlreiche An-
gaben von älterer und jüngerer Zeit vor. Aber erst seitdem Berthold°) näher .
die Vorsichtsmaßregeln darstellte, welche bei solchen Untersuchungen beobachtet
werden müssen, sind die hierher gehörigen Untersuchungen im allgemeinen mit
der notwendigen Sorgfalt ausgeführt worden; dem größeren Teile der älteren
Beobachtungen kann daher kein vollständiges Zutrauen beigemessen werden.
Die Frage, die vor allem wichtig ist, ist die, ob die kaltblütigen Wirbeltiere
eine Eigentemperatur haben, d. h. ob sich bei ihnen Vorrichtungen finden, die es
diesen Tieren möglich machen, eine Temperatur zu erzeugen, die nicht allein
momentan, sondern auf die Länge höher ist als die des umgebenden Mediums.
Diese Frage dürfte nunmehr ziemlich sicher beantwortet werden können.
Im Wasser nehmen die kaltblütigen Tiere (Frosch, Krokodil, Schildkröte, Fische)
schnell die Temperatur des Wassers an, und es gelingt mit noch so empfindlichen
Methoden nicht, eine Eigentemperatur bei denselben nachzuweisen [Soetbeer ‘),
Isserlin?)].
Auch wenn sie in der Luft aufbewahrt werden, so nehmen sie die Temperatur
derselben an, wenn der Feuchtigkeitsgehalt ein mittlerer ist und kein zu starker
Luftwechsel stattfindet. In trockener Luft, und besonders wenn gleichzeitig der
Raum stark ventiliert wird, sinkt ihre Temperatur; wenn endlich die Luft mit
Wasser gesättigt ist, so steigt die Körpertemperatur (beim Frosch) um etwa 0,1
bis 0,3°C an.
Diese Erscheinungen sind aus rein physikalischen Gründen leicht zu erklären.
Die Tiere haben keine Fähigkeit, eine Eigentemperatur zu entwickeln und zu
unterhalten. In einem gut wärmeleitenden Medium, wie dem Wasser, wird die
bei ihrem Stoffwechsel gebildete Wärme sogleich fortgeleitet. In trockener Luft
bewirkt die Verdunstung von ihrer Körperoberfläche eine Abnahme :. der Körper-
temperatur; ist die Luft mit Wasser gesättigt, so hört diese Verdunstung auf; da
selbst die feuchte Luft einen schlechten Wärmeleiter darstellt, wird die gebildete
Wärme dem Tiere nicht sogleich entzogen, und infolgedessen entsteht der winzige
Überschuß der Körpertemperatur über die Außentemperatur. Bei einem gewissen
Feuchtigkeitsgehalte genügt die Wärmeabgabe durch Leitung, Strahlung und
Wasserverdampfung gerade, um Temperaturgleichgewicht zwischen dem Tiere
und der Luft herzustellen.
') Jahrb. f. Kinderheilk., N. F., 59, 531, 1904. — ?) Wegen Mangel an Raum,
und da dieses Handbuch vor allem die Physiologie des Menschen zu berücksichtigen
hat, kann der Wärmehaushalt der kaltblütigen Wirbeltiere nur ganz kurz erörtert
werden. Aus derselben Ursache muß die Wärmeökonomie der Wirbellosen hier
ganz ausgeschlossen werden. Betreffend die Winterschläfer verweise ich auf die
Darstellung von Merzbacher in den Ergebnissen der Physiologie 3 (2), 214,
1904. — *) Berthold, Neue Versuche über die Temperatur der kaltblütigen Tiere,
Göttingen 1835. — *) Arch. f. exp. Path. 40, 53, 1898; daselbst eine ausführliche
Zusammenstellung der Angaben über die Temperatur bei den Amphibien und Rep-
tilien. — °) Arch. f. d. ges. Physiol. 90, 472, 1902.
N
ll nu
Die Wärmeökonomie der kaltblütigen Wirbeltiere. 607
Die kaltblütigen Tiere können also nicht selbständig ihre Temperatur wesent-
lich über die des umgebenden Mediums erhöhen, und jede Steigerung derselben ist
also durch eine Wärmezufuhr von außen bedingt.
Bei den Wassertieren ist natürlich die Wärmeleitung hierbei allein bestim-
mend. Bei Tieren, die sich nicht im Wasser aufhalten, wird durch Leitung von
der Luft, wegen deren geringer Wärmekapazität, wahrscheinlich nur sehr wenig
Wärme zugeführt; viel mehr Wärme bekommen diese durch Leitung von dem
Boden, am meisten aber durch die Wärmestrahlung. In bezug auf die letztere
spielt auch die Beschaffenheit der Hautoberfläche, je nachdem sie zur Aufnahme
der strahlenden Wärme mehr oder weniger geeignet ist, eine wesentliche Rolle.
Besonders deutlich geht dies aus den Erfahrungen von Krehl und Soetbeer')
am Uromastix hervor. Wie viele andere Kaltblüter, kann auch dieses Tier die
Farbe seiner Haut verändern. Wird es dem Sonnenlicht ausgesetzt, so färbt sich
die vorher grauweiße Haut dunkel, fast schwarz, was natürlich für die Absorption
der Wärmestrahlung sehr günstig ist. Bei direktem Sonnenlicht erreicht das Tier
in kurzer Zeit eine Körpertemperatur von 41°C. Nun tritt aber wieder ein Farben-
wechsel hervor: das fast schwarze Tier wird hell, fast weiß und vermindert
dadurch in hohem Grade das Absorptionsvermögen der Haut für die strahlende
Wärme. In den Schatten gebracht, wird es bald wieder dunkel.
Bei der Wärmeabgabe ist bei den Kaltblütern, wie schon bemerkt, die Wasser-
verdunstung vor allem: wichtig. Indes finden sich zwischen verschiedenen Spezies
sehr bemerkenswerte Verschiedenheiten in dieser Beziehung. Der soeben erwähnte
Uromastix, der ja in der Wüste lebt, gibt selbst bei sehr erhöhter Temperatur nur
sehr wenig Wasser von sich; Krehl und Soetbeer konnten bei ihm überhaupt
keine Wasserabgabe konstatieren. Langlois?) fand indessen, daß derselbe, wie auch
Varanus, bei direkter Bestrahlung doch etwas Wasser abgibt, obgleich die Menge
desselben nicht mehr als etwa 4g pro Kilogramm Körpergewicht und Stunde be-
trägt. Außerdem tritt hier eine Polypnoe hervor, die mit der beim Hunde beob-
achteten ganz übereinstimmt, sich aber nur dann zeigt, wenn das Tier direkt
bestrahlt wird und wenn es sich in gutem Nahrungszustande befindet. Ein Uro-
mastix, dessen Temperatur auf 42°C angestiegen ist, zeigt keine Polypnoe, wenn
es vor direkter Bestrahlung geschützt wird.
Hieraus folgt, daß sich der Uromastix, wenn einmal seine Temperatur eine
bedeutendere Höhe erreicht hat, nur langsam abkühlen kann, und dementsprechend
bleibt er auch, wenn er in eine schattige und kühle Umgebung gelangt, stunden-
lang wesentlich wärmer als diese.
Bei anderen Kaltblütern, wie dem Frosch, dem Kaiman, dem Alligator, dem
Krokodil und der Riesenschlange Python, findet dagegen eine sehr starke Wasser-
verdampfung statt (bei Rana mugiens 97 bis 104g pro Kilogramm Körpergewicht
und Stunde bei derselben Außentemperatur, bei welcher Uromastix nur etwa 4g
Wasserdampf abgab; Langlois), und zwar würde diese zum Teil eine physiologische
Erscheinung darstellen, indem nach Krehl und Soetbeer ein lebendiges Krokodil
bei denselben äußeren Verhältnissen mehr Wasser abgibt als ein totes.
Hier tritt noch folgende merkwürdige Erscheinung auf. Bei 25°C und 70 Proz.
Feuchtigkeit gibt ein Frosch rund 1,5 Kal. ab; bei mit Wasser gesättigter Luft
von derselben Temperatur ist die Wärmeabgabe nur 0,5 Kal. Ganz entsprechende
Zahlen zeigen auch Versuche am Krokodil. Diese Tiere geben also durch Ver-
dunstung bis etwa zwei- bis dreimal mehr Wärme ab, als sie produzieren, und
müssen zu diesem Zwecke selbstverständlich Wärme von der Umgebung aufnehmen
(Krehl und Soetbeer).
Wir können also mit den soeben erwähnten Autoren sagen, daß die zuletzt
besprochenen kaltblütigen Wirbeltiere, sofern sie ein lebenswertes Dasein führen
wolien, die Aufnahme von Wärme von außen in allerhöchstem Maße brauchen.
Dadurch erhöhen sie ihre Temperatur, die Zersetzungen in ihren Geweben wachsen
an und erreichen eine gewisse Größe. Durch Wasserverdunstung bleibt indes die
!) Arch. f. d. ges. Physiol. 77, 611, 1899. — *) Journ. de la physiol. 1902,
p- 249; Archives des seiences biologiques, 11 Supplement, 1904, p. 172.
608 Die Wärmeökonomie der kaltblütigen Wirbeltiere.
Körpertemperatur stets unter der der Umgebung, und daher kann sich das Tier,
trotz fortwährender Aufnahme von Wärme, vor Überwärmung vollständig schützen
und doch die für seine maximale Leistungsfähigkeit höchste Temperatur erhalten,
die es vertragen kann.
Endlich geben die Untersuchungen über das Verhalten der Kaltblüter bei
verschiedener Außentemperatur gewisse Anhaltspunkte dafür, daß das Temperatur-
optimum, bei welchem die chemischen Zersetzungen für die Unterhaltung des
Lebens am günstigsten sind, für verschiedene Spezies verschieden hoch liegen,
sowie daß bei gleicher Temperatur die Zersetzungen bei den einzelnen Tierarten
nicht gleich, sondern untereinander verschieden sind. So ist eine Temperatur von
37°C für die in gemäßigter Zone lebende Lacerta und Rana mugiens zu hoch, sie
verdoppeln ihre Wärmeproduktion und gehen zugrunde, während die Tropentiere,
wie der Alligator und Uromastix, diese Temperatur gut vertragen, und dabei pro
Kilogramm Körpergewicht einen Stoffwechsel von weniger als der Hälfte der soeben
genannten Tiere haben (Krehl und Soetbeer).
Aus dieser kurzen Übersicht folgt also, daß die kaltblütigen Wirbeltiere
ebensowenig als die warmblütigen in bezug auf die spezielle Anordnung ihres
Wärmehaushalts vollständig übereinstimmen. Bei beiden Gruppen finden sich bei
verschiedenen Arten mehr oder weniger bedeutende Verschiedenheiten, die mit den
allgemeinen Lebensbedingungen aufs engste zusammenhängen.
ine. Sn u SE.
Elemente der Immunitätslehre
von
Carl Oppenheimer.
Die Tatsachen und Gesetze, die den Erscheinungen der Immunität im
weiteren Sinne des Wortes zugrunde liegen, verdienen es wohl, als Grenz-
gebiet der Physiologie eingereiht zu werden. Obzwar Beobachtungen aus
dem Bereich der Bakteriologie erwachsen, ist die Lehre doch längst aus
diesem engen Kreis herausgetreten. Sprechen wir doch heute von Immunität
gegen Gifte, gegen Zellen der verschiedensten Art, gegen Eiweißkörper.
Wenn .also auch die praktischen Konsequenzen: die Ausnutzung der auf
diesem Gebiete gewonnenen Erfahrungen, auch heute noch im überwiegenden
Maße den diagnostischen und therapeutischen Zwecken der Seuchenbekämpfung
zugute kommen, so ist doch die Lehre selbst ein Zweig der Biologie, der vom
Normalen in das Pathologische hinein sich erstreckt. So ist es denn wohl
berechtigt, ein Kapitel über Immunität einem umfassenden Handbuch der
Physiologie anzugliedern. Allerdings gehören eben nur die Haupttatsachen
und Hauptgesetze hinein; die zahllosen, zum Teil noch mangelhaft ein-
geordneten Einzelheiten haben nur fachmännisches Interesse und können hier
nicht behandelt werden. In diesem Sinne bitte ich also meinen Beitrag nur
als das zu würdigen, als was er geplant ist, eine Einführung in das
Gebiet der Immunitätslehre als einer biologischen Anpassung.
Die Immunität ist ein höchst komplexes Phänomen; es sind unter diesem
Sammelbegriff Dinge der verschiedensten Art untergebracht, die auf den
ersten Blick gar nichts miteinander zu tun haben.
Das Gemeinsame ist eine mehr oder weniger vollständige Wider-
standskraft eines lebenden Organismus gegen Schädigungen, die für einen
anderen Organismus sehr bedrohlich sind. Diese Widerstandskraft kann
entweder angeboren sein, dem Individuum oder der Rasse eigentümlich;
dann sprechen wir von natürlicher Immunität. Oder aber sie kann
erworben werden: Es können unter dem Einflusse bestimmter Reize sich
Anpassungen ausbilden, welche zu einer Erhöhung der Widerstandskraft
führen, die sich in vielen Fällen bis zu einer praktisch absoluten Resistenz
steigern läßt. Bei der erworbenen Immunität sind zwei Dinge von vornherein
von prinzipieller Wichtigkeit. Die erworbene Immunität ist eine spezifische,
d. h. die Widerstandskraft ist erhöht nur gegen einen gleichartigen Reiz,
während andere sehr ähnliche mit voller Intensität wirken mögen. Als ein
Beispiel sei hier vorweggenommen, daß man eine Immunität gegen das Gift
der Diphtheriebazillen herbeiführen kann, während das so ähnliche giftige
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 39
610 F Spezifische Bindung.
Prinzip der Tetanusbazillen auf dasselbe Tier noch in voller Kraft wirkt.
Der zweite Punkt ist der, daß man die Art der Anpassung aufklären kann.
Sie beruht nämlich, ganz allgemein gesagt, auf der Anhäufung spezifischer
Schutzstoffe im Organismus, von Antikörpern, die man chemisch nachweisen
kann: lie erworbene Immunität ist in ihrer Hauptsache die Folge einer Kette
von chemischen Korrelationen bestimmter Art. Die Höhe der erworbenen
Widerstandskraft hängt ceteris paribus von der Menge dieser spezifischen
Antikörper ab. Dadurch unterscheidet sich die echte erworbene Immunität
prinzipiell von einer einfachen Resistenzsteigerung, wie sie uns ja häufig in
der „Gewöhnung“ an bestimmte Gifte entgegentritt, wie gegen Alkohol,
Morphin usw. Der Mechanismus solcher Anpassungen ist wohl sehr ver-
schiedenartig, auch noch nicht überall aufgeklärt. Jedenfalls aber ist bisher
kein Fall sicher erwiesen, wo diese erhöhte Resistenz gegen einfache Gifte
auf der Ausbildung von Antikörpern beruht. Man tut deshalb gut, Phänomene
dieser Art gänzlich von dem Begriff der- erworbenen Immunität zu trennen,
und als „Mithridatismus“ zu bezeichnen. Wir werden uns damit nicht.
weiter zu beschäftigen haben.
Dieser Beschränkung folgt nun auch die moderne Terminologie der
Immunitätslehre. Man bezeichnet die auslösenden Stoffe als „Antigene“.
Es ist damit ausgedrückt, daß diese wirksamen Prinzipien, unbeschadet ihrer
sonstigen Art und Natur, die Fähigkeit haben, die Bildung von spezifischen
Antikörpern im lebenden Organismus auszulösen, und dadurch die Erhöhung
der Widerstandskraft zu bewirken. Als erster Hauptsatz der Lehre folgt
also, daß zu jedem Antigen ein spezifischer Antikörper gehört, der seine
Tätigkeit paralysiert. Aufgabe der theoretischen Immunitätslehre ist es nun,
den Mechanismus der Wirkung der Antigene und der Entstehung der Anti-
körper in allen Details zu verfolgen.
Als fundamentales Ergebnis dieser Untersuchungen sei hier voraus-
geschickt, daß wir dabei zur Aufstellung des Prinzips der „spezifischen
Bindung“ gelangen. Dies sagt aus, daß die Antigene nur dort ihre spezi-
fische Wirksamkeit entfalten können, wo sie zu irgendwelchen empfindlichen
Elementen des lebenden Organismus in feste Beziehungen gelangen, die auf
einer chemischen Verwandtschaft beruhen, und irgendwie zu einer Verankerung
des wirksamen Antigens führen. Daraus folgt der negative Schluß, daß dort,
wo eine solche spezifische Bindung nicht erfolgen kann, auch die spezifische _
Wirkung des Antigens ausbleiben muß. Allgemein gesagt, muß also der
spezifischen Wirkung eine spezifische Bindung vorausgehen. Da-
bei sei an dieser Stelle weder über die Art der Bindung, noch der lebenden
Elemente, an die sie erfolgt, irgend etwas ausgesagt; dies muß den speziellen
Erörterungen vorbehalten bleiben. Nur das allgemeine Grundprinzip unserer
Lehre sei vorausgeschickt.
Aus diesen prinzipiellen Grundlagen folgt aber weiter ein Schluß von
ungemeiner Tragweite, der eine Brücke von der erworbenen zur angeborenen
Immunität zu schlagen ermöglicht. Wenn wir als Voraussetzung der spezi-
fischen Wirkung eines Antigens die Möglichkeit einer spezifischen Bindung
annehmen, so läßt sich rein a priori ein Fall konstruieren, bei dem die
Wirkung eines Antigens aus dem Grunde ausbleibt, weil eben die
Möglıchkeit einer spezifischen Bindung entfällt. In der Tat ist es
u ru
A
Antitoxische Immunität. 611
sicher, daß ein Teil der Erscheinungen der angeborenen Immunität -auf die
Unmöglichkeit einer spezifischen Verankerung des Antigens zurückzuführen
ist. Andere Erscheinungen sind aber damit nicht ungezwungen zu erklären.
Wir werden darauf hingedrängt, daß in anderen Fällen die natürliche Re-
sistenz darauf beruht, daß ähnliche Anpassungen, wie sie sonst die Erwerbung
der Immunität mit sich bringt, schon im unberührten Individuum vorhanden
sind, daß also Antikörper natürlich vorkommen. Die natürliche Im-
munität ist überhaupt ein sehr viel komplizierteres und in vielen Einzelheiten
unklareres Phänomen, als die erworbene, die uns heute in fast allen prin-
zipiellen Fragen ein wohlbekanntes Gebiet darstellt.
Wir können also diese prinzipiellen Hauptpunkte folgendermaßen
resümieren. Ein wirksames Agens, das Antigen, wird durch spezifische
Bindung an ein chemisch verwandtes Element des lebenden Organismus, einen
„Receptor“ nach der Terminologie, verankert und löst dadurch eine Korre-
lation aus, die zu der Bildung eines Antikörpers führt, der die Wirkung des
Antigens vermindert oder praktisch aufhebt. Die Punkte, welche also einer
genaueren Aufklärung harren, sind folgende: Natur der Antigene, Mecha-
nismus der spezifischen Bindung, Mechanismus der Anpassung,
welche zu der Produktion der spezifischen Antikörper führt, eingeschlossen
die Bedeutung von Art und Menge des Antigens zu Art und Menge des Anti-
körpers; endlich die Frage, auf welche Weise der Antikörper die Wirkung
des Antigens zu verhindern imstande ist.
Daran schließt sich dann die Frage nach der Natur und den Ursachen
der angeborenen Immunität.
Diese Fragen. in ihren gegenseitigen Verknüpfungen sollen der Inhalt
der folgenden Auseinandersetzungen sein, wenn auch die hier gegebene
Reihenfolge sich nicht streng durchführen lassen wird.
I. Die erworbene antitoxische Immunität.
Das relativ einfachste und am besten durchgearbeitete Gebiet der Im-
munitätslehre ist die erworbene Immunität gegen die spezifischen Giftstoffe
der Bakterien und einige ihnen ähnliche Gifte des Tier- und Pflanzenreiches.
Hier ist der Reiz ein relativ einfacher, ein chemischer, nichtlebender
Stoff, der zu dosieren ist, und die labilere Variable, der lebende Körper, nur
auf einer Seite, während bei der Immunität gegen Zellen zwei lebende an-
passungsfähige Elemente in Wechselbeziehung treten.
So ist es denn kein Wunder, wenn auch die Entwickelung dieser Lehren
zuerst auf diesem Gebiete Fortschritte machte. Dabei müssen wir allerdings
von der allerersten Beobachtung auf dem Felde der erworbenen Immunität
absehen. Die Entdeckung Edward Jenners, daß man mit dem relativ
unschädlichen Virus der Kuhpocken gegen die echten Pocken festmachen
kann, ist die erste Entdeckung dieses Gebietes. So groß aber die praktischen
Konsequenzen aus diesem Funde waren, für die Aufklärung der Phänomene
an sich hat sie gar nichts geleistet. Auch heute noch, eine seltsame Ironie
der Geschichte, wissen wir von den Pocken weder wie die Infektion, noch wie
die Schutzimpfung zustande kommt. Wir müssen also aus der Geschichte der
Lehre diese an sich so eminent wichtige Entdeckung streichen.
39*
612 Toxine.
Unser Wissen konnte sich erst entfalten, als die Mikroorganismen als
Krankheitserreger aus dem Dunkel unsicherer Widersprüche heraustraten,
und durch Robert Koch ihre Rolle bei der Entstehung der Krankheiten
zu einer wissenschaftlichen Tatsache wurde.
Koeh!) selbst hat auch schon wiederholt eindringlich darauf hin-
gewiesen, daß wohl die letzte Ursache der Erkrankung nicht die bloße An-
wesenheit der fremden Keime sein könne, sondern daß hier wohl Gifte
besonderer Art ihre verderbliche Rolle spielen müßten. Auf seine Ver-
anlassung machte man sich nun daran, diese Gifte aus den Bakterienkulturen
zu gewinnen und näher zu studieren. Besonders Brieger war es, der sich
mit diesen Fragen beschäftigt hat. Er stellte zuerst aus Kulturen von Bak-
terien basische Stoffe, die sogenannten Ptomaine her, die er als die spezi-
fischen Gifte ansehen wollte. Diese Phase der Erkenntnis ist heute nur noch
von historischem Interesse: die Ptomaine sind nur zum Teil überhaupt giftig,
jedenfalls aber auf keinen Fall die spezifischen Gifte der Bakterien. Auch
die späterhin aus Bakterien und ihren Kulturen hergestellten eiweißähnlichen
Stoffe, die Toxalbumine, haben nur noch historisches Interesse. Das erste
wirkliche Toxin in Händen gehabt zu haben, ist das bleibende Verdienst von
Roux und Yersin, die im Jahre 1888 aus den Bouillonkulturen der
Diphteriebazillen ein lösliches, von den Leibern der Bazillen völlig abtrenn-
bares Gift auffanden, das bei der Injektion in den Tierkörper fast genau
dieselben Erscheinungen auslöste, wie die lebenden Erreger. Kurz darauf
fand Kitasato das Tetanustoxin. Diese beiden sind nun als die Typen der
echten Bakterientoxine hinzustellen, ihre Eigenschaften und ihr Verhalten im
Tierkörper sind vorbildlich für alle Bakterientoxine. Es muß aber hier
darauf hingewiesen werden, daß nur ein kleiner Teil der pathogenen Mikroben
solche echten Toxine überhaupt zu bilden scheint. Bei einigen, so Milzbrand,
Tuberkulose usw. sind alle Versuche fehlgeschlagen. Bei Typhus und Cholera,
wohl auch bei Pest und einigen anderen liegt die Sache vermutlich so, daß
die Bakterien zwar Gifte bilden, die für die schädliche Wirkung verantwort-
lich sind, aber gegen die es keine Antikörper gibt, Gifte, die fest in der
lebenden Zelle haften, nicht in die Kulturen übergehen, sogenannte Endo-
toxine, die erst beim Zerfall der Zelle frei werden, und, wenn sie in ge-
nügender Menge vorhanden sind, unter allen Umständen tödlich wirken. Wir
werden ihnen bei der antibakteriellen Immunität wieder begegnen, da ihre
noch nicht allseitig geklärte Eigenart bei diesen Prozessen eine sehr große
Rolle spielt.
Echte Toxine sondern wie gesagt nur wenige Bakterien ab, außer den
genannten noch der Pyocyaneus, der Rauschbrandbazillus, der Dysenterie-
bazillus und vielleicht noch einige andere.
Dagegen sind zweifellose echte Toxine enthalten in den Schlangengiften,
sowie im Krötengift, Spinnengift, Aal- und Muränenblut und einigen anderen
tierischen Säften. Im Pflanzenreich finden wir echte Toxine in den Samen
!) Über die Geschichte der Toxine usw. und alle Details sowie die Seiten-
kettentheorie verweise ich auf mein Buch: Toxine und Antitoxine, Jena 1904, sowie
auf Kolle-Wassermanns Handbuch der path. Mikr. 1; ferner Römer, Seitenketten-
theorie, Wien 1904.
Toxine. 613
der Ricinuspflanze ‚ das Ricin, ferner das Abrin aus Abrus precatorius, das
Crotin aus Croton tiglium. Schließlich scheinen auch einige Pilze ein echtes
Toxin zu bilden.
Wir können also bei der Besprechung der antitoxischen Immunität von
den Bakterien schließlich ganz absehen, da sie nur als erzeugender Organismus
des wirkenden Toxins in Betracht kommen. Dabei muß allerdings voraus-
gesetzt werden, daß die experimentelle Vergiftung mit einem Toxin dieselben
Erscheinungen auslöst, wie eine Injektion lebender Keime. Dies ist nun
tatsächlich in genügender Weise der Fall. Sowohl bei der Diphtherie, be-
sonders aber auch beim Tetanus stimmen die Erscheinungen völlig überein,
ob man lebende Erreger oder totes Gift einführt. Bei diesen Bakterien ist
überhaupt die Lebensdauer in den Säften des Organismus eine sehr geringe, sie
halten sich nur an den äußeren Schleimhäuten auf, und senden nur von dort
aus ihre Gifte in den Kreislauf hinein, ganz im Gegensatz zu den eigentlich
infektiösen Mikroben, die sich im Körper vermehren. Infolgedessen sind
auch die bei der spontanen Erkrankung eintretenden Immunitätserscheinungen
normalerweise ausschließlich gegen die Toxine gerichtet, es bildet sich eine
rein antitoxische Resistenzsteigerung aus.
Dies berechtigt uns, die Toxine und ihre Reaktionen im Zusammenhang
zu besprechen, ohne auf ihre Herkunft weiter Rücksicht zu nehmen. In der
Tat sind mehrere der wichtigsten Entdeckungen mit Toxinen nichtbakterieller
Herkunft gemacht worden, so namentlich mit Riein und Schlangentoxinen. _
Wir haben also die Toxine als solche zu charakterisieren. Dafür haben
wir zunächst eine Reihe rein äußerer Merkmale, die hier in großen Zügen
wiedergegeben sein sollen, ohne auf alle Einzelheiten einzugehen.
Die Toxine sind Stoffe bisher unbekannter, aber wohl sicher komplizierter
Natur. Da bisher keines von ihnen in reinem Zustande dargestellt ist, so ist
es unmöglich, wirkliche chemische Untersuchungen an ihnen anzustellen.
Gerade wie die Fermente stellte man sie früher einfach zu den Eiweißkörpern,
doch ist es gelungen, mit unendlicher Mühe Toxinpräparate herzustellen, die
die eigentlichen Eiweißreaktionen nicht mehr geben. Wenn man sie den
Eiweißkörpern an die Seite stellt, so meint man wohl nach den heutigen
Anschauungen, daß sie kolloidaler Natur sind, und dies ist bis zu einem
gewissen Grade sicher richtig. Sie diffundieren schwer durch Membranen,
zeigen die üblichen Fällungsreaktionen durch Schwermetalle usw. Sie werden
auch von fallenden Niederschlägen mitgerissen und lassen sich durch Neutral-
salze, wie Ammonsulfat, aussalzen, so Riein bei 50 Proz. (Jacoby !).
Schon diese Angaben zeigen, daß sie in diesen Beziehungen große Ähnlich-
keiten mit den Enzymen haben. Die Analogien gehen aber noch weiter. Sie
teilen mit ihnen die außerordentliche Empfindlichkeit gegen Erwärmen. Die
meisten Toxine gehen schon bei 60 Grad bald zugrunde, 80 Grad ver-
nichtet die meisten schnell, doch sind allerdings einige, wie die Schlangen-
gifte, erheblich resistenter. Auch Licht wirkt sehr energisch schädlich. Nach
Kitasato 2) vernichtet direktes Sonnenlicht Tetanusgift in 18 Stunden. Sauer-
stoff, wie überhaupt alle Oxydationsmittel haben eine äußerst energische
I) Jacoby, Über die chem, Natur d. Ricins, Arch. exp. Path. 46, 28. —
®) Kitasato, Exp. Untersuch. über d. Tetanusgift, Zeitschr. f. Hyg. 10, 287, 1891.
614 Inkubationszeit.
Wirkung auf die Toxine, wie vor allem Sieber!) festgestellt hat. Schließ-
lich sei erwähnt, daß sie von den Enzymen des Verdauungstraktes vernichtet
werden (Nencki und Schoumow-Simanowski?), Carriere3), und daß
diese Tatsache die Unwirksamkeit der Toxine bei Einführung vom Munde
aus erklärt. Nur Riein und Botulismustoxin zeigen per os eine Wirkung.
Die Toxine entfalten ihre Wirkungen also nur, wenn sie mit Umgehung
des Verdauungstraktes eingeführt werden, also meist subcutan oder intravenös.
Daneben sind bei experimentellen Studien gelegentlich intramuskuläre, intra-
peritoneale und intranervöse Injektionen ausgeführt worden. Die Unter-
suchung der physiologischen Wirkung der Toxine auf diesem Wege führt zu
sehr wesentlichen Resultaten. Die Veränderungen erstrecken sich in erster Linie
auf das Nervensystem. Speziell das Tetanusgift ist monotrop nach Ehr-
lich, d. h. es richtet seine deletäre Wirkung ausschließlich auf das Zentral-
nervensystem und erzeugt dort dieselben Krämpfe .usw., wie sie im Verlaufe
der spontanen Infektion mit den Bakterien eintreten. Die spezielle Art der
Schädigung ist indessen bei den einzelnen Toxinen verschieden, wodurch eben
ihre Spezifizität in dieser Hinsicht ins Licht gerückt wird. Daneben werden
aber von den verschiedenen Toxinen die verschiedenen. Organe, wie Leber,
Nebennieren angegriffen, es besteht Fieber und rapider Kräfteverfall. Ferner
treten sehr häufig lokale Erscheinungen an der Injektionsstelle, Nekrosen,
Hämorrhagien usw. auf, die aber meist auf Beimengungen, nicht auf die
eigentlichen Toxine zurückzuführen sind. Endlich zeigen eine Reihe von
Toxinen spezifische Blutwirkungen, indem sie die Erythrocyten agglutinieren
und in Hämolyse bringen. Dies sind immer besondere Toxine, die von den
Nervengiften verschieden sind, wie dies mit aller Sicherheit beim Tetanus-
gift und bei den Schlangengiften erwiesen worden ist. Bei einigen Giften,
auch bei einigen Bakteriengiften, tritt diese hämolytische Komponente durch-
aus in den Vordergrund gegenüber der toxischen. Wir werden auf diese
Fragen noch gelegentlich zurückkommen.
Neben diesen pharmakologischen Wirkungen der Toxine sind es aber
nun vor allem zwei Dinge, die ihre Sonderstellung begründen und theoretisch
von grundlegender Bedeutung sind.
Das eine Phänomen ist die Inkubationszeit. Alle Toxine, mit fast
alleiniger Ausnahme des Schlangengiftes, lassen eine deutliche Zeitdifferenz
zwischen Einfuhr und Beginn der Wirkung erkennen. Diese Zeit schwankt mit der
Natur des Giftes und der zugeführten Menge, läßt sich aber auch durch die
größten Dosen nicht unter ein Minimum herabdrücken. So beträgt nach
Courmont und Doyon die Inkubationszeit des Di-Toxins bei Meer-
schweinchen bei einer letalen Dosis 15 Stunden, läßt sich aber auch durch
90000 tödliche Dosen nicht unter 12 Stunden herunterdrücken. Ähnlich ist
es in anderen Fällen.
Auf die theoretische Bedeutung dieser interessanten Erscheinung, sowie
auf einige Versuche, die etwas Licht auf das Problem überhaupt werfen,
können wir erst später eingehen.
!) Sieber, Über die Entgiftung d. Toxine usw., Zeitschr. f. phys. Chem. 32,
573, 1901. -— °) Nencki u. Schoumow-Simanowski, Über die Entgiftung d.
Toxine, Zentralbl. f. Bakt. 23, 840. — °) Carriere, Toxines et digestion, Ann. Past.
13, 435, 1899.
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A et nr
Spezifität. 615
Die zweite wichtige Eigenschaft der Toxine ist ihre Artspezifität, die
wir von der Spezifität der Wirkung trennen müssen. Der Inhalt dieses Begriffes
ist der, daß die Toxine nur auf Tiere bestimmter Art wirken, anderen, unter
Umständen sogar sehr nahe verwandten, gar nichts schaden. Derartige
Resistenzsteigerungen finden wir ja auch bei anderen, einfacheren Giften, aber
hier handelt es sich eben nur um meist recht geringfügige quantitative Ver-
schiebungen, während wir bei den Toxinen Resistenzen finden, die einer
absoluten Unempfindlichkeit praktisch gleichkommen. So ist das Kaninchen
bei subcutaner Einführung 2000 mal, das Huhn 200000 mal resistenter gegen
Tetanusgift als das Meerschweinchen (Knorr!). Andererseits ist z. B. die
Maus gegen Diphtheriegift sehr wenig empfindlich. Wenn man dagegen nimmt,
eine wie ungeheure Wirkung die Toxine bei hochempfindlichen Tieren ent-
falten, so müssen wir zu der Vorstellung kommen, daß hier fundamentale
Gründe vorliegen. Das Tetanusgift z. B. ist nach Brieger und Cohn in
einer Dosis von 5millionstel Gramm für eine Maus, zu 0,00023 für einen
Menschen tödlich, auf ein sicher noch nicht reines Trockentoxin berechnet.
In der Tat ist es die Frage dieser aufs höchste gesteigerten Spezifität,
die zur theoretischen Begründung der Toxinlehre führt. Sie führt zu dem
Prinzip der spezifischen Bindung, wie wir es schon in den einleitenden Worten
formuliert haben. Nur dort, wo das Gift einen spezifisch bindenden Angriffs-
punkt, einen Receptor nach der Ehrlichschen Terminologie, findet, wird es
überhaupt gebunden, und bekommt dadurch Gelegenheit, einen Einfluß aus-
zuüben. Wo aber kein Receptor vorhanden ist, hat das Gift überhaupt keine
physiologische Wirkung. Daß ein solcher Mangel an Receptoren es bewirken
kann, daß das Gift im Körper eines hochresistenten Tieres gar nicht ver-
ankert wird, läßt sich experimentell beweisen. Wenn man einer Schildkröte
viele hundert für ein Meerschweinchen tödliche Gaben infiziert, bleibt das
Tier anscheinend reaktionslos. Wohl aber enthält sein Blut noch tagelang
so reichliche Mengen Toxin, daß man mit wenigen Cubikcentimetern empfind-
liche Tiere tödlich vergiften kann. Das in empfänglichen Organismen
so enorme Wirkungen auslösende Gift ist dem refraktären Tiere so gleich-
gültig, daß es sich nicht einmal die Mühe gibt, den fremden Stoff möglichst
bald auszuscheiden oder zu zerstören. Damit ist denn auch gleichzeitig die
Möglichkeit widerlegt, daß etwa die erhöhte Resistenz auf einer gesteigerten
Verbrennungsenergie der Zellen gegenüber dem Toxin beruhen könnte. Genau
das Umgekehrte beobachtet man bei empfänglichen Tieren. Bei ihnen ver-
schwindet das Gift außerordentlich schnell von der Injektionsstelle und auch
aus dem Blute, und wird zu den Organen hingeführt, wo es Receptoren findet.
Es geht auch nur bei massiven Dosen in den Harn über. Croly?) fand
nach zwei Stunden höchstens die Hälfte des injizierten Toxins noch in der
Blutbahn, und ähnliche Resultate gibt Bomstein °).
Noch präziser ergibt sich die Bindung des Toxins an die Körperzellen
und sein Verschwinden aus der Blutbahn aus den Versuchen von Dönitz ®).
‘) Knorr, Tetanusgift, Münch. M. W. 1898, 321. — ?) Croly, Disparition
d. 1. tox. dipth., Arch. int. de pharm. III. — ®) Bomstein, Über d. Schicksal d.
Di-Toxins, Zentralbl. f. Bakt. 23, 785, 1898. — *) Dönitz, Über d. Tetanusantit.,
Deutsche med. Wochenschr. 1897, 428.
616 Spezifische Bindung.
Dieser injizierte einem Kaninchen die zehnfache dos.. let. Tetanusgift. Aus
den Gewichtsverhältnissen und der relativen Empfindlichkeit, sowie aus der
bekannten Blutmenge eines Kaninchens kann man nun berechnen, eine wie
hohe Toxizität jeder Cubikcentimeter Blut dieses Kaninchens für Meer-
schweinchen haben müßte, wenn man eine gleichmäßige Verteilung der ge-
samten Toxinmenge im Blut voraussetzt. Dönitz kam.dabei zu dem Schluß,
daß ein Cubikcentimeter etwa 40 Meerschweinchen töten müßte. Nach
16 Stunden indessen ergab der Versuch, daß 2,5ccm nötig waren, um ein
einziges Meerschweinchen zu töten. Es hatte also sich die Giftigkeit des
Blutes um 2,5 mal 40, also das Hundertfache verringert, es war also nur
noch ein Prozent des Toxins frei in der Blutbahn.
Auch durch den direkten Versuch kann man die Bindung der Toxine
demonstrieren. Wassermann!) gelang es, die Bindung beträchtlicher
Mengen Tetanusgiftes an die Zellen des Gehirnes von Meerschweinchen direkt
nachzuweisen. Und zwar sind es nicht etwa lösliche chemische Stoffe, die
das Toxin binden, sondern die Zellen selbst, wie Milchner) noch speziell
festgestellt hat. Daß nur die Gehirnzellen empfänglicher Tiere wesentliche
Mengen binden, entspricht durchaus der theoretischen Forderung. Welche
Bedeutung dieser Befund für die Theorie der Antikörper hat, darauf werden
wir noch zurückkommen, hier soll er nur als Beweis für die spezifische
Bindung angeführt werden.
Die Rezeptoren können entweder ausschließlich oder vorwiegend an einem
bestimmten Organ sitzen. Dies ist bei den meisten Tieren für das Tetanus-
toxin der Fall, das bei ihnen nur die Zellen des Zentralnervensystems an-
greift. Dann bezeichnet man das Gift als monotrop nach der Ehrlichschen
Nomenklatur. In anderen Fällen aber können die Receptoren auch in anderen
Geweben sich verteilen, wie dies z. B. beim Kaninchen der Fall ist, bei dem
sich das Tetanusgift auch an anderen Stellen verankert. Wassermann
konnte zeigen, daß Leber und Milz Tetanustoxin binden. So kann beim
‘Kaninchen eine Vergiftung mit diesem Toxin zustande kommen, bei der die
Symptome des Zentralnervensystems nicht in den Vordergrund treten, ein
Tetanus sine tetano, wie ihn Dönitz beschrieben hat. Die Folge ist dann
eine verminderte Empfänglichkeit, wie wir sie ja beim Kaninchen beobachten.
Diese Annahme ist für das Zustandekommen der antitoxischen Immunität
von Bedeutung, wie wir später sehen werden.
Hier soll auf diese Verankerung nur ganz im allgemeinen hingewiesen
werden, um die Bedeutung der spezifischen Bindung ins Licht zu rücken.
Weitere instruktive Beispiele finden wir beim Studium der Hämotoxine.
Bei ihnen geht Empfindlichkeit der roten Blutkörper und Bindungsfähigkeit
völlig parallel. Das Arachnolysin der Kreuzspinne löst Kaninchenerythrocyten,
nicht Hundeerythrocyten. Dementsprechend wird das Gift auch nur durch
Kaninchenblut aus seinen Lösungen entfernt, nicht durch Hundeblut. Die
Körper neugeborener Hühnchen sind gegen das Gift resistent, die älterer
!) Wassermann u. Takaki, Über tetanusantitox. Eig. des C. N. 8., Berl. klin.
Wochenschr. 1898, 8. 5, 209. — ?) Milchner, Nachw. d. chem. Bindung von
Tetanusgift durch Nervensubstanz, Ber]. klin. Wochenschr. 1898, 8. 369.
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Toxoide; Hämolysine.
617
Tiere empfindlich (Sachs!) 2). Dem ganz parallel bindet das Blut auch das
Gift. Ähnliche Befunde ließen sich häufen.
Diese Eigenschaft wird also geradezu zum Definitionsmoment des
Begriffes Toxin und wird in der Nomenklatur folgendermaßen ausgedrückt:
Die Toxine haben eine Bindungsgruppe in chemischer Vorstellung, die zu ent-
sprechenden Bindungsgruppen, den Receptoren, eine spezifische Verwandtschaft
hat. Diese Gruppen bezeichnen wir nach Ehrlich als Haptophoren. Außer-
dem hat aber das Toxin noch eine andere Gruppe, die die eigentliche Wirkung
ausübt, eine Giftgruppe, Toxophore. Diese Gruppe kann unter Umständen
auch eine andere Wirkung ausüben, als gerade eine giftige, wenn es nämlich
Stoffe ähnlicher Natur gibt, wie die Toxine, aber anderer Wirkung, wir wollen
sie also zunächst allgemeiner als Ergophore, als Leistungsgruppe bezeichnen.
Wir werden erst später sehen, von welcher Bedeutung diese Prinzipien auch
bei den anderen Immunitätserscheinungen sind.
Diese Ansicht, die man als den ersten Hauptsatz der Ehrlichschen
Seitenkettentheorie ansehen kann, läßt nun a priori die Annahme
von Stoffen zu, die zwar durch eine Haptophore die spezifische Bindung
an Körperzellen ermöglichen, die aber der Toxophoren ermangeln. Solche
Stoffe existieren nun tatsächlich, Toxine ohne Giftgruppe, die Ehrlichschen
Toxoide und eine große Reihe ähnlicher Substanzen, denen wir nachher
begegnen werden.
Im engsten Anschluß an die eigentlichen Toxine müssen wir einiger
Stoffe gedenken, die nur in der Art ihrer Wirkung sich etwas von ihnen
unterscheiden, in ihrer ganzen Struktur und als Antigene dagegen völlig
analog sind. Es sind dies die Hämolysine einiger Bakterien und anderer
Herkunft. Einige von ihnen, so das Hämagglutinin des Rieins, sind so eng
mit der eigentlichen toxischen Wirkung verknüpft, daß man die Gesamt-
struktur des Giftes noch nicht völlig aufgeklärt hat. Es sprechen gute
Gründe dafür, in dem Ricin eine einheitliche Haptophore: mit zwei differenten
Ergophoren anzunehmen (Jacoby ’°), indessen sind dies Einzelheiten, die hier
ohne Belang sind. Eine andere Reihe von Hämolysinen bleibt aus dem Grunde
hier fort, weil sie eine komplexe Struktur besitzen, ganz analog den Immun-
hämolysinen und denen der Normalsera, die wir erst im zweiten Hauptteil
unserer Arbeit erwähnen werden. Außerdem aber gibt es eine ganze Reihe
blutlösender Gifte, die einfach wie die Toxine gebaut sind, das heißt eine
Haptophore und eine Toxophore besitzen, und in der Art ihrer Antitoxin-
erzeugung völlig mit ihnen parallel gehen. Nur ihre Wirkung erstreckt sich
eben vor allem auf die Erythrocyten, die sie in der Art verändern, daß der
Blutfarbstoff austritt. Von Bakterienhämolysinen seien die des Staphylokokkus
und des Tetanusbazillus als die beststudierten erwähnt, daneben produziert
eine ganze Reihe anderer Bakterien ebenfalls Hämolysine. Aus der Tierreihe
finden wir einfache Hämolysine im Spinnengift und Krötengift, während
sämtliche Schlangentoxine komplex gebaut sind. Auf Details in betreff dieser
Hämolysine kann ich hier verzichten, weil sie theoretisch nichts wesentlich
!) Hans Sachs, Z. K. des Kreuzspinnengiftes, Hofmeisters Beitr. II, 125,
1902. — ?) Derselbe, Über Diff. der Blutbeschaffenheit usw., Zentralbl. f. Bakt.
34, 686, 1903. — ®) Jacoby, Über Rieinimmunität, Zofmeisters Beitr. I u. IH, so-
wie Sammelref. im Biochem. Zentralbl. 1.
618 Seitenkettentheorie.
Neues ergeben würden. Erwähnt sei nur noch das Leukocidin der
Staphylokokken, das nur auf weiße Blutkörper wirkt, und vielleicht mit der
Phagocytose und den Aggressinen in Beziehungen steht (s. d.).
Die Seitenkettentheorie!), auf die wir nun in ihren Grundzügen ein-
gehen wollen, bezweckt, die Tatsache der spezifischen Bindung biologisch zu
erläutern und außerdem ihre Verknüpfung mit dem Problem der Antikörper-
bildung zu begründen.
Ehrlich geht dabei von der Grundeigenschaft des lebenden Protoplasmas
aus, sich aus einem Gemisch von Stoffen bestimmte auszuwählen, die ihr ent-
weder als Nährstoffe nützlich sind, oder die eine giftige Wirkung auf die
Zelle besitzen.
Die Zelle besitzt einen Leistungskern, der ihre eigentliche Individualität _
aufrecht erhält, sich bei allen Umsetzungen und Neuformungen konstant erhält,
und eine große Menge sehr labiler Seitenketten, die zerstört werden und sich
neu bilden, und bei diesen destruktiven und TOBERWERIUFRDIEN Prozessen den
Stoffwechsel der Zelle erhalten.
Diese Seitenketten sind es nun, die die Träger der Haptophoren, d. h. be-
stimmter chemischer Atomgruppierungen darstellen, die zu den entsprechenden
Atomgruppierungen der Antigene eine spezifische Affinität besitzen. Nur dann
also, wenn eine solche Verwandtschaft der beiderseitigen Haptophoren besteht,
wird das Antigen an die Zelle üherhaupt gebunden, und zwar durch eine
Absättigung der beiderseitigen Haptophoren. Durch diese Bindung erst, die
also den wirkenden Stoff in unmittelbare Nähe des Leistungskernes bringt,
wird der ergophoren Gruppe Gelegenheit gegeben, ihre Tätigkeit zu entfalten.
Wenn aber eine Affinität der beiderseitigen Haptophoren nicht besteht, wenn
also keine Receptoren für das Antigen vorhanden sind, so tritt keine Bindung,
und damit keine Möglichkeit der Wirkung der ergophoren Gruppe ein.
Man sieht, daß diese Vorstellungsart eine chemische ist, und sich wohl
von der Idee des Benzolkernes ableiten läßt, bei dem ja ebenfalls der unver-
änderliche Sechsring die Grundeigenschaften der Verbindungen repräsentiert,
während die zahlreichen Umsetzungen, die zu den einzelnen Körpern der
aromatischen Reihe führen, sich an den Seitenketten vollziehen. Es sei hier
weiter bemerkt, daß die Vorstellung der Haptophoren und Ergophoren sich
aus der Farbstoffchemie herleitet, wo wir ja ebenfalls gewohnt sind, einer
Gruppe die Verankerung an das zu färbende Gewebe, einer anderen die
eigentliche Färbung zuzumessen.
So ist also diese Vorstellung zweifellos eine chemisch gedachte, wenn wir
auch noch nicht so weit sind, um an Stelle des chemisch nicht faßbaren Begriffes
der Seitenketten eine bestimmte Konstitution der Haptophoren setzen zu können.
Um groben Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier aber gleich darauf
hingewiesen, daß diese ganze Anschauungsform nur für die hochkomplexen
Stoffe zu gelten hat, als welche wir die Antigene aufzufassen haben. Schon
!) Als die wichtigsten Originalarbeiten Ehrlichs seien erwähnt: Das Sauer-
stoffbedürfnis des Organismus, Berlin 1886; Die Wertbemessung des Di-Heilserums,
Klin. Jahrb. VI; Exper. Untersuch. über Immunität, Deutsche med. Wochenschr.
1891, 8. 976, 1218; Zur Kenntnis d. Antitoxinwirkung, Fortschritte d. Med. 1897,
8. 41; Über d. Konst. des Di-Giftes, Deutsche med. Wochenschr. 1898, 8. 597; Über
d. Beziehungen v. chem. Konst. u. pharmak. Wirkung, Festschrift f. Leyden 1902.
ee ie ee ee ee
Seitenkettentheorie. 619
bevor die moderne physikalische Chemie der Zelle begonnen hat, die Gesetze
der Verteilung und Wirkung einfacher kristalloider Stoffe auf das lebende
Protoplasma aufzudecken, hat Ehrlich immer betont, daß seine ganze An-
schauungsform eben nur für Körper mit großen Molekülen gilt, also für
Kolloide. Er unterschied von jeher zwischen einfachen Substanzen und
seinen „Haptinen“, eben solchen Stoffen, die der spezifischen Bindung im
eigentlichen Sinne fähig sind. Wo wir Spezifitäten bei der Wirkung ein-
facherer Stoffe begegnen, da liegen Gründe anderer Art vor, die ja eben jetzt
das Arbeitsfeld bilden, auf dem die Lehren von der Permeabilität der Plasma-
haut und die Verteilungsgesetze ihre Triumphe feiern.
Wenn wir dies auf dem Boden der Seitenkettentheorie ganz grob ver-
sinnbildlichen wollen, so können wir etwa sagen, daß die kleinen Moleküle
jener einfachen Stoffe sich sozusagen frei zwischen den Seitenketten bewegen
können, also direkt auf den Leistungskern wirken können, wenn sie überhaupt
nach den physikalisch-chemischen Gesetzen in die Zelle eindringen können.
Nun beginnt ja heute die Chemie der Kolloide einen gewaltigen Auf-
schwung zu nehmen, wir fangen allmählich an, auch die Gesetze, die die
gegenseitige Wirkung dieser Substanzen. beherrschen, zu erkennen. Schon
heute haben die neugewonnenen Anschauungen an vielen Stellen die Lehre
von den Immunitätsreaktionen tiefgreifend beeinflußt, worauf wir mehrfach
zurückkommen werden. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß bei einer
genaueren Erkenntnis dieser Reaktionen sich auch ein chemisches Verständnis
für die Tatsachen der spezifischen Bindung ergeben wird, die dem vorläufigen
Bild, das uns die Seitenkettentheorie über diesen Punkt gibt, zu einem neuen
Inhalt verhelfen werden. Deshalb wäre es aber nicht angebracht, heute schon
auf diese Anschauung in ihrer ursprünglichen Form zu verzichten, die immer
noch den einzigen Leitfaden darbietet, um sich in dem verwickelten Gebiet
der Immunitätsreaktionen zurechtzufinden. Wir werden also in unserer Dar-
stellung an dem Prinzip der spezifischen Bindung, wie es die Ehrlichsche
Theorie versinnbildlicht, festhalten, und am geeigneten Orte auf die AUMENTROR EL
Anschauungen zurückgreifen.
Die Seitenkettentheorie ist nun durchaus imstande, die Er-
scheinungen zu erläutern. Erklärt sie einerseits ohne weiteres die
spezifische Wirkung der Toxine auf empfängliche Wesen, die eben geeignete
Receptoren haben, so erklärt sie auch die natürliche antitoxische Immunität
als einen Receptorenmangel. Dieser Mangel braucht nicht absolut zu sein,
und ist es auch in den seltensten Fällen. Auch das Huhn ist schließlich
gegen Tetanus empfindlich, wenn man genügend große Dosen anwendet.
Zwischen diesem Tier und dem höchstempfindlichen Meerschweinchen gibt es
alle Übergänge. Die Receptoren sind nur eben spärlicher vorhanden. So
hat das Hühnergehirn nicht so überwiegend viele Receptoren, um das Toxin
aus dem Blute auszuschütteln, deswegen kommt eben auf das Gehirn nur ein
aliquoter Teil, der zu einer ernstlichen Erkrankung nicht genügt. Gibt man
aber einem Huhn das Tetanustoxin direkt ins Gehirn, so erkrankt es auch an
Tetanus, weil dann die gesamte Giftmenge an die spärlichen Receptoren ver-
ankert wird (Marie !).
!) Marie, Ann. Past. 11, 12, 16, 17.
620 Entstehung der Antitoxine.
Ferner ist es nach der Theorie absolut nicht notwendig, daß die Recep-
toren gerade an Organen sitzen, deren Schädigung eine Gefahr für den
Gesamtorganismus mit sich bringen muß. Das Gift kann also auch z. B. im
Unterhautzellgewebe gebunden werden, und dort eine Reihe von Zellen ver-
nichten, obne daß eine ernstliche Erkrankung erfolgt-
Die wesentlichste Konsequenz der Theorie ist aber, daß sie über die Art
der ergophoren Gruppe gar nichts aussagt. Sie stellt nur die spezifische
Bindung durch Haptophoren in den Vordergrund. Diese Haptophoren können
aber gerade so gut an einem Toxin sitzen, wie an einem beliebigen anderen
Kolloid, sei es nun ein Eiweißkörper oder ein Enzym, sei es schließlich eine
andere Zelle. In der Tat werden wir sehen, daß die Theorie für alle diese
Fälle in Anwendung gezogen wird.
Für die antitoxische Immunität aber ist das Wichtigste, daß die Theorie
auch die Entstehung der spezifischen Antitoxine zu erklären sucht.
Was sich an diesem einfachsten Fall ergeben hat, werden wir dann auf alle’
anderen Antikörper, auf die Präzipitine, Antifermente, Hämolysine und anti-
bakteriellen Stoffe übertragen.
Die Entstehung der Antitoxine vollzieht sich nach der Theorie in
folgender Weise:
Wenn durch ein Antigen ein Receptor der Zelle besetzt wird, so wird
damit eine Seitenkette der Zelle in Anspruch genommen, also ausgeschaltet.
Da nun nach unseren allgemeinen Erwägungen diese Seitenkette eine an sich
gleichgültige physiologische Funktion zu erfüllen hatte, so entsteht dadurch
ein biologischer Defekt, den die Zelle auszugleichen bestrebt ist. Nun gilt
es aber nach Weigert als ein Grundsatz, daß jedem Defekt einer lebenden
Zelle nicht nur eine Ausgleichung, sondern eine Überkompensation folgt. Es
wird also ein Reiz gesetzt, diese Seitenkette nicht nur neu zu bilden, sondern
ähnliche Seitenketten im Überschuß zu produzieren. Es findet also eine
Neubildung von analogen Seitenketten statt, bis schließlich so viele erzeugt
sind, daß die Zelle den Überschuß nicht mehr tragen kann, sondern abgibt.
Die so neu gebildeten Seitenketten werden also in die Blutbahn abgegeben
und zirkulieren dort. Nun sind aber diese abgestoßenen Seitenketten nach
demselben Typus gebaut wie die ursprünglich von dem Antigen besetzte, d.h.
sie besitzen alle noch dieselbe Haptophore wie die erste. Mit dieser Hapto-
phore sind sie aber imstande, gerade wie der an der Zelle sitzende Receptor,
das Toxin zu verankern. Sie wirken also genau wie ein Zellreceptor, nur
mit dem prinzipiellen Unterschied, daß sie eben außerhalb der Zelle sitzen.
Sie können also Toxin binden, aber ohne es an die Zelle heranzubringen.
Sie lenken es also geradezu von der Zelle bzw. ihrem Leistungskern
ab. Dieselbe Atomgruppe, die, in der Zelle haftend, durch ihre Affinität das
Toxin in bedrohliche Nähe des Leistungskernes bringt, ist, wenn sie außer-
halb der Zelle, frei, in der Blutbahn kreisend sich befindet, in der Lage,
Toxin abzufassen und von der Zelle fernzuhalten. Ehrlich vergleicht diese
Funktion sehr plastisch mit der eines Blitzableiters. Wenn die spezifisch
bindende Atomgruppe in der Zelle sitzt, so lenkt sie die Wirkung des Toxins
gerade auf die Zelle zu; wenn sie sich aber außerhalb der Zelle befindet, so
lenkt sie die Wirkung ab. Diese frei kreisenden abgestoßenen Receptoren
der Zelle also sind es nach der Theorie, die die Antitoxine darstellen. Da
%
Entstehung der Antitoxine. 621
sie körpereigene Elemente sind, so werden sie von den abbauenden Kräften
des Organismus nicht schnell angegriffen, sondern bleiben lange erhalten, und
können so die Funktionen eines Antitoxins erfüllen, so lange sie in der Blut-
bahn kreisen.
Weil die Antitoxine nur die Haptophore enthalten, die zu dem Toxin
paßt, das ihre Bildung ausgelöst hat, so sind sie spezifisch, d. h. sie wirken
eben nur auf das Toxin, das die passende Haptophore enthält. So erklärt
die Theorie ohne weiteres die Spezifität der Antitoxine, die eben nur
auf das Toxin wirken, das sie erzeugt hat. Welcher Art diese Wirkung ist,
darauf werden wir erst später eingehen können.
Die Theorie erklärt ferner, warum sich bei der Einführung von Toxin
in natürlich immune Tiere keine Antitoxine bilden. Wo eben keine passenden
Receptoren vorhanden sind, da kann auch keine Abstoßung eintreten, es tritt
also auch kein Antitoxin auf. Auch dies ist cum grano salis zu verstehen.
Denn bei einigen scheinbar völlig immunen Tieren treten doch geringe Mengen
von Antitoxinen auf. So gibt der Alligator, der selbst bei großen Dosen
Tetanusgiftes keinerlei Krankheitserscheinungen zeigt, geringe Mengen Anti-
toxin, wohl aus dem Grunde, weil er Receptoren in lebensunwichtigen Ge-
weben hat, die abgestoßen werden können. Wir müssen die Idee festhalten,
daß durchaus nicht immer nur die besonders empfindlichen Gewebe Antitoxine
zu liefern imstande sind. Es kommt ja ausschließlich darauf an, ob Recep-
toren vorhanden sind; wo diese sitzen, wo also sich die Antitoxine bilden, ist
an sich gänzlich ohne Belang.
Andererseits scheint es auch Fälle zu geben, wo von empfindlichen Ge-
weben keine freien Seitenketten abgestoßen werden. Das gegen Tetanus
empfindliche Kaninchen gibt z. B. keine Spur von Antitoxin. Wir haben
schon oben darauf hingewiesen, daß bei diesem Tiere die Receptoren durchaus
nicht nur im Gehirn sitzen, sondern auch an anderen Stellen des Körpers
weit zerstreut, und diese Gewebe scheinen also ihre Receptoren energisch
festzuhalten, es sind sessile Receptoren im Sinne Ehrlichs.
Aber alle diese Dinge sind Ausnahmen. Im allgemeinen sind die
spezifisch giftempfindlichen Gewebe auch die Produktionsstätten
der Antitoxine.
Wir müssen hier nochmals auf den Wassermannschen Versuch zurück-
kommen, Wassermann zeigte, daß die Gehirnsubstanz des gegen Tetanus
besonders empfindlichen Meerschweinchens große Mengen Tetanusgiftes zu
binden und zu entgiften imstande ist, so daß diese Mischung im Tierversuch
die spezifischen Wirkungen des Toxins nicht mehr zeigt. Diese Deutung
für die Ehrlichsche Theorie ist vielfach angefochten worden. Es ist aber
nach der sorgfältigen Arbeit von Marx!) gar kein Zweifel mehr möglich,
daß diese „Seitenkettenimmunität“, wie sie Wassermann bezeichnet
hat, wirklich existiert, und daß sie an die giftempfindlichen Zellen gebunden
ist. Die Zellen des Gehirnes wirken hier geradezu als Antitoxine;
wie sie im Leben das Gift an sich reißen, so tun sie es auch im Versuch,
aber nur dann, wenn die Receptoren noch erhalten sind, also im frischen
!) Marx, Die Tetanusgift neutralisierende Eigenschaft des Gehirns. Zeitschr.
f. Hygiene 40, 231, 1902.
622 Schicksale der Toxine im Körper.
Gehirn. Gekochte Hirnsubstanz hat keine größere giftbindende Kraft, als sie
rein chemisch durch ihren Cholesteringehalt zustande kommt. Denn manche
Lipoide, vor allem eben Cholesterin, haben eine gewisse bindende und.
schwächende Kraft auf Toxine.
Ganz im allgemeinen können wir uns also die Vergiftung bzw. die Im-
munisierung eines Tieres mit Toxinen in der Weise vorstellen, daß aus der
Injektionsstelle das Gift zuerst in die Blutbahn bzw. in die Lymphbahnen,
gelangt. Finden sich nun keine Receptoren in den vom Blut durchströmten,
Organen, so kreist das Gift bis zu seiner Zerstörung in der Blutbahn. In
selteneren Fällen wird es auch durch gewisse Organe ausgeschüttelt, analog
der Aufnahme anderer nicht haptophorer Gifte. So findet man in den Organen
des völlig unempfindlichen Skorpions sehr reichlich Tetanusgift gegenüber-
dem strömenden Blute. Aber dies Toxin ist nicht durch Bindung unschädlich.
gemacht, sondern die Organe selbst enthalten das Gift in wirksamem, also
freiem Zustande (vor allem Leber, Metschnikoff!), also wohl in einer Art.
physikalischer Bindung, sozusagen gespeichert, wie es Straub bei einigen.
Alkaloiden fand.
Ganz anders vollzieht sich, wie erwähnt, bei empfänglichen Tieren die
Sache. Sehr schnell wird aus der Blutbahn das Gift von den Organen ab-
sorbiert und dort spezifisch gebunden, entgiftet.
Auf eine sehr interessante Besonderheit beim Tetanusgift müssen wir
an dieser Stelle noch hinweisen. Wie Meyer und Ransom’?) fanden, wird
das Tetanusgift bei .subcutaner Einverleibung sofort von den peripherischen.
Nerven abgefangen und wandert dann innerhalb der Nervenbahnen zum
Zentralorgan. Morax und Marie?) erwiesen, daß diese Leitung abhängig
von der Integrität des Achsenzylinders und im degenerierten Nerven beseitigt
ist. Meyer zeigte weiter, daß man durch Durchschneiden der Nerven oder
auch Einspritzung von Antitoxin in die Nervenbahn das Gift vom Rücken-
mark absperren kann, und durch Durchschneidung des letzteren vom Gehirn,
und zwar häufig auch dann, wenn man das Gift intravenös gibt. Daraus schließen
Meyer und Ransom, daß das Gift überhaupt nicht durch die Blutbahn zum
Gehirn usw. gelangt, sondern eben ausschließlich durch die Nerven-
leitung, womit für das Tetanusgift eine ganz exzessive Affinität zur nervösen.
Substanz sich ergibt. Es sei dabei bemerkt, daß diese Erscheinung es uns
plausibel erscheinen läßt, warum das Tetanusantitoxin in vivo so wenig auf
die einmal eingetretene Vergiftung wirkt. Denn wenn das Toxin in den
Nerven wandert, das Antitoxin ihm dort aber nicht folgen kann, sondern ihm
erst im Zentralorgan wieder begegnet, wohin es in der Blutbahn gelangt ist,
so wird das seine Wirksamkeit noch verzögern und damit erschweren, die
schon dadurch verringert ist, daß sich eben das Toxin ausschließlich an die
Receptoren des Zentralorgans bindet und diese angreift, während vom Anti-
toxin nicht mehr auf dem Kampfplatze erscheint, als nach der allgemeinen
Blutverteilung eben auf das Zentralorgan entfällt. Aus allen diesen Dingen
wird auch die rein praktische Bedeutung dieser Bindungsgesetze klar ersichtlich.
!) Metschnikoff, Immunität, deutsch von Meyer, Jena 1902. — ?) Meyer
und Ransom, Untersuchungen über den Tetanus, Arch. f. exp. Pathol. 49, 369,
1903. — °) Marie, Ann. Past. 11, 12, 16, 17.
NN
Inkubationszeit. 623
Mit diesen Problemen der Leitung, Ausschüttelung und spezifischen Bin-
dung der Toxine hängt auch sicherlich eines der dunkelsten Probleme der
Wirkung zusammen, nämlich die Inkubationszeit. Fast alle Toxine,
eigentlich nur die Schlangengifte nicht, zeigen eine sehr erhebliche Zeit-
differenz zwischen Einführung und Manifestwerden der Wirkung, die zwar
durch Vergrößern der Dosis verkleinert werden kann, aber selbst bei den
riesenhaftesten Gaben nie unter eine Minimalgrenze herabzudrücken ist.
Zweifellos wird ein Teil der Zeit dazu in Anspruch genommen, daß die Re-
ceptoren der Organe das Gift aus der Blutbahn allmählich an sich ziehen,
kleine Mengen fixieren, und wenn dann die Schwelle des Giftreizes über-
schritten ist, die Symptome offenbar werden lassen. Speziell beim Tetanus
käme noch die Wanderungszeit in der Nervenbahn hinzu. Das wird durch
die vielen Versuche erwiesen, die Abkürzung der Inkubationszeit bei direkter
Einbringung des Giftes in die empfindlichen Organe zu zeigen. Aber außer-
dem muß doch wohl noch eine Zeitdifferenz zwischen erfolgter Bindung
und manifester Wirkung anzunehmen sein. Das kann man an einem Falle
studieren, wo wir die Wirkung der toxophoren Gruppe nach Belieben regeln
können.
Morgenroth'!) machte nämlich die Beobachtung, daß Frösche zwar bei
Eisschranktemperatur gegen Tetanus unempfindlich sind, daß aber trotzdem
die Bindung an die Receptoren erfolge. Erwärmte er die Frösche auf 25°,
so bekamen sie typischen Tetanus. Das Eigentümlichste dabei war nun, daß
die sonst bei Fröschen übliche Inkubationszeit durch den Aufenthalt im Eis-
schrankı einfach unterbrochen wurde. Ließ man die Tiere erst einige Tage
in der Wärme, brachte sie dann auf Eis und nahm sie nach einigen Tagen _
wieder heraus, so trat immer nach Ablauf der Inkubationszeit. nach Abzug
der im Eis zugebrachten Tage der Tetanus auf. Läßt man sie dauernd im
Eis, so tritt nur bei sehr großen Dosen und nach sehr langer Zeit der Tetanus
ein. Auch dies spricht also für eine enorme Verzögerung der Wirkung
seitens der Toxophore, wenn man nicht andererseits im Meyerschen Sinne
eine Verlangsamung der Nervenleitung in der Kälte annehmen will.
In neuester Zeit hat das Inkubationsproblem eine neue Beleuchtung
erfahren durch Beobachtungen von Morgenroth?) über labile, unwirksame
Toxinmodifikationen, die leicht wieder in die wirksame Form zurückgebracht
werden können. So geht Kobragift durch Kochen mit !/„nHCl in eine
solche ungiftige Modifikation über, die beim Stehen in neutralisierter Lösung
allmählich wieder giftig wird. Nun ist gerade das Kobragift an sich ohne
Inkubationszeit, während diese Säuremodifikation bei ihrer Einwirkung auf
Blutkörper Verzögerungen zeigt, die eben darauf beruhen, daß erst die wahr-
haft giftige Form wieder hergestellt wird. Es hat nun gar keine Schwierig-
keit, anzunehmen, daß das, was wir als Toxine kennen, ebensolche ungiftigen
Formen sind, die erst im Körper langsam umgelagert werden, und in
dem Maße giftig wirken, wie sie umgelagert werden. Diese Ansicht könnte
für die Theorie der Inkubationszeit von großer Bedeutung werden.
!) Morgenroth, Tetanus des Frosches. Arch. intern. de pharm. 7, 265,
1900. — ?) Morgenroth und Pane, Über Beobachtungen reversibler Verände-
rungen an Toxinen. Biochem. Zeitschr. 1, 354, 1906.
624 Antitoxine.
Antitoxine und ihr Verhältnis zu den Toxinen.
Die Antitoxine sind nach unseren soeben entwickelten Anschauungen
normale Körperbestandteile, losgerissene Zellsplitter. Sie rufen also im Körper
des Tieres an sich keine Reaktion hervor. Sie können in den Säften sehr
lange erhalten bleiben. Dabei gilt aber das Gesetz, daß nur die körper-
eigenen Antitoxine, die also durch aktive Immunisierung entstanden sind,
und allenfalls noch die in Tieren derselben Spezies gebildeten bei der In-
jektion diese Beständigkeit zeigen. Spritzt man aber einem Tiere Antitoxine
in Körperfremdem Serum ein, so werden sie, wie z. B. Knorr zeigte, schnell
ausgeschieden. Es ist ja bekannt, daß fremde Sera durchaus nicht immer
als gleichgültige Substanzen anzusehen sind. Dies erkennt man ja schon
aus der Ausbildung der spezifischen Präzipitinreaktion, man hat aber auch
vielfach beobachtet, daß die Einführung körperfremden Serums sogar Krank-
heitserscheinungen, die sogenannte Serumkrankheit, herbeiführen kann
(v. Pirquet u. a.!).
Andererseits hat diese Beständigkeit der körpereigenen Antitoxine eine
große biologische Bedeutung für die Dauer der Immunität. Sie kann sich
durch den Übergang der Schutzstoffe durch die Placenta auf den Fötus direkt‘
und durch die Milch indirekt auf die Deszendenz vererben. Besonders die
Milch ist häufig so reich an Antitoxin, daß man es mit Vorteil daraus ge-
winnen konnte.
Daraus ist wohl auch zu erklären, daß man sehr häufig in dem Serum
Neugeborener Diphtherieantitoxin aufgefunden hat (Wassermann ?), Fischl
und v. Wunschheim).
Infolge ihres engen Zusammenhanges mit den Körperzellen tragen die
Antitoxine einen sehr eiweißähnlichen Charakter. Eine Reindarstellung und
nähere Charakterisierung ist noch in keinem Falle gelungen. _ Allerdings
zeigen sie auch gewisse Abweichungen von den Eiweißkörpern, so besonders
eine ziemlich weitgehende Resistenz gegen Trypsin, während sie allerdings
von Pepsinsalzsäure schnell zerstört werden. Mit diesen Vorbehalten kann
man sie aber doch als Eiweißstoffe ansehen oder wenigstens als Kolloide, die
diesen sehr nahestehen.
Daß die Antitoxine ein noch größeres Molekulargewicht zeigen als die
Toxine, geht aus verschiedenen Beobachtungen ihrer Diffusionsfähigkeit
hervor, wie sie von Martin und Cherry *) an Gelatinefiltern und von van
Calcar’) an tierischen Membranen aufgestellt worden sind. Sie zeigen auch
die üblichen Fällungsreaktionen, z. B. mit Schwermetallsalzen, sind auch mit
Ammonsulfat aussalzbar. Man hat früher diese. Reaktionen vielfach dazu
benutzt, um zu festen Präparaten zu gelangen, wie dies vor allem Brieger
') v. Pirquet und Schick, Die Serumkrankheit. Leipzig u. Wien, 1905. —
®) Wassermann, Über die persönliche Prophylaxe gegen Diphtherie. Zeit-
schrift f. Hygiene 19, 408, 1895. — °) Fischl und v. Wunschheim, Über Schutz-
körper im Blute der Neugeborenen. Prager med. Wochenschr. 1895, Nr. 45. —
*) Martin und. Cherry, The nature of antagonism between toxins and antitoxins.
Proc. Roy. Soe. 63, 420. — °) van Calcar, Über die Konstitution des Di-Giftes usw.
Berl. klin. Wochenschr. 1904, 8. 1028.
er
Antitoxine. 625
und Boer!), ferner Brieger und Ehrlich 2), sowie Wassermann?) ver-
sucht haben, doch haben diese Bestrebungen kein praktisches Interesse mehr,
da man es jetzt vorzieht, die Sera sehr hoch immunisierter Tiere in unver-
ändertem Zustande zu verwerten. Man ist jetzt nur noch aus rein theore-
tischen Interessen bemüht, das Antitoxin von den anderen Eiweißstoffen des
Serums zu trennen, vor allem, um festzustellen, ob es ein eigener Eiweißstoff
ist, oder ob es an einen der Serumkörper gebunden ist. Die erstere Frage
ist bisher nicht zu beantworten gewesen, die Reaktionen sind einander zu
ähnlich, um eine Trennung mit Erfolg vornehmen zu können. Indessen ist
durch die sorgfältigen Arbeiten von Freund und Sternberg), Pick) usw.
wenigstens bekannt geworden, daß die Antitoxine mit der Globulinfraktion
der Sera zusammengehen. Und zwar findet es sich nach Pick beim Pferde
in der Pseudoglobulinfraktion, die erst bei einer Sättigung mit mehr als
30 Proz. Ammonsulfat ausfällt, bei der Ziege dagegen in der Euglobulin-
fraktion.
Irgend welche sicheren chemischen Unterächiede zwischen den antitoxin-
haltigen und normalen Seren sind bisher nicht aufgefunden worden.
Die Antitoxine sind also bisher ausschließlich an ihrer Wirkung auf die
zugehörigen Toxine zu erkennen. Diese Wirkung ist eine durchaus spezi-
fische, sie wird nur auf das Toxin ausgeübt, das den Reiz zur Ausbildung
des Schutzstoffes gesetzt hat. Als Typus ist dabei die gegenseitige Beein-
flussung von Diphtheriegift und Gegengift anzusehen, an denen auch fast
alle Beobachtungen zur Aufklärung des Verhältnisses angestellt worden sind.
In der ersten Zeit nahm man vorläufig an, daß das Antitoxin eine zer-
störende Wirkung auf das zugehörige Toxin haben sollte; allerdings war
sich Behring damals schon darüber klar, daß dies eben nur eine unsichere
Annahme war, die nur bis zur besseren Erkenntnis Geltung haben sollte. In
der Tat ergaben sich bald Befunde, die diese Annahme ausschließen konnten.
Zuerst war es Calmette‘), der am Schlangengift nachwies, daß
zwischen Gift und Gegengift nur solche Beziehungen obwalten, wie sie
bei der Entstehung einer neutralen Verbindung, etwa wie zwischen einer Base
und einer Säure, bestehen. Er zeigte nämlich, daß man aus der an-
scheinend neutralen Verbindung von Toxin und Antitoxin durch Erwärmen
das Antitoxin entfernen konnte, so daß die ursprüngliche Giftwirkung wieder
hervortrat. Ganz ähnliche Verhältnisse fand Wassermann’) bei dem Toxin
des Pyocyaneus. Dann beobachteten Martin und Cherry), daß aus einer
scheinbar unwirksamen Verbindung von Toxin und Antitoxin das Toxin
durch ein Gelatinefilter hindurchpassiert, während das Antitoxin zurück-
gehalten wird. Daraus geht hervor, daß es sich bei der Absättigung zwischen
!) Brieger u. Boer, Über Antitoxine u. Toxine, Zeitschr. f. Hygiene 21,
259. — *) Brieger u. Ehrlich, Beiträge zur Kenntnis der Milch immuner Tiere,
ebenda 13, 336, 1893. — °) Wassöru ann, Konzentration der Antitoxine aus Milch,
ebenda 18, 236, 1894. — *) Freund u. Sternberg, Über Darstellung des Heil-
körpers aus Diphtherie-Heilserum, ebenda 31, 429, 1899. — °) Pick, Zur Kenntnis
der Immunkörper, Hofm. Beitr. 1 (1902). — °) Calmette, Contrib. & l’&tude des
venins, Ann. Past. 9, 225, 1895. — 7) Wassermann, Über einige. theoretische
Punkte der Immunitätslehre, Zeitschr. f. Hygiene 22, 263, 1896. — °) Knorr,
Tetanusgift und seine Beziehungen zum tierischen Organismus. Münch. med.
Wochenschr. 1898, 8.321, 362.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 40
626 Antitoxine.
beiden Komponenten nicht um eine Vernichtung der einen handeln kann. Es
entsteht eine lose Verbindung, die anfangs noch durch die eben erwähnten
einfachen Eingriffe zu trennen ist. Bald aber tritt eine sich immer ‚mehr
steigernde Festigung dieser Verbindung ein, so daß nach Verlauf einiger
Stunden diese Maßnahmen versagen. Die Schnelligkeit, mit der sich diese
Festigung ausbildet, ist nach der Natur des Giftes und anderen Einflüssen
sehr verschieden. So vereinigt sich Diphtheriegift viel schneller als Tetanus-
gift. Mit Erhöhung der Temperatur und größerer Konzentration nimmt auch
die Reaktionsgeschwindigkeit dieser Vereinigung zu (Knorr!). Daß man
aber auch später noch diese Kombination wieder trennen kann, zeigen neuere
Versuche von Morgenroth?), der mit Hilfe von !/3un- Salzsäure die Verbin-
dung Schlangentoxin + Antitoxin zerlegen konnte.
Es scheint also aus allen diesen Befunden hervorzugehen, daß zwischen
dem Toxin und seinem zugehörigen Antitoxin eine‘ chemische Reaktion vor
sich geht, die nach stöchiometrischen Gesetzen zu verfolgen ist. Dann müssen
aber auch bestimmte Proportionen vorhanden sein, d.h. wenn n Teile Toxin
p Teile Antitoxin zur Sättigung brauchen, so müssen xn Teile Toxin xp Teile
Antitoxin verbrauchen. Daß dies beim Diphtheriegift tatsächlich der Fall
ist, zeigten gegenüber mehreren Anzweiflungen Cobbett und Kanthack).
Die Ansicht, daß die Wirkung zwischen Toxin und Antitoxin auf einer
rein chemischen beruht, wurde besonders von Hans Buchner zuerst nicht
geteilt. Dieser war vielmehr der Meinung, daß die Antitoxine eine rein
biologische Wirkung hätten insofern, als sie einen stimulierenden Einfluß auf
die Körperzellen ausüben sollten, der sie zur Bekämpfung des Giftes geeig-
neter machen sollte. An den komplizierten Verhältnissen des lebenden Körpers
war diese Frage sehr schwer zu entscheiden. So ging denn Ehrlich dazu
über, ein Reagens zu suchen, bei dem er diese schwer zu übersehenden Ver-
hältnisse der lebenden Zellen ausschließen konnte.
Dieses Mittel fand er in der Wirkung des Ricins auf die Erythro-
cyten. Das Riein ist ein Gift aus den Samen der Ricinuspflanze, das in
allen Eigenschaften, vor allem auch in der, ein echtes Antitoxin zu geben,
den Toxinen angehört. Außer seiner allgemeinen Giftigkeit hat es noch die
Eigenschaft, die roten Blutscheiben in charakteristischer Weise zu verklumpen
und zu hämolysieren. Diese Eigenschaft benutzte nun Ehrlich als Reagens.
Es liegt auf der Hand, daß man eine geeignete Mischung von Ricin und
Antiricin gewinnen kann, die auf Blutkörper nicht mehr wirkt, wenn eben
der Neutralisationsvorgang zwischen beiden Komponenten ein rein chemischer
ist. Dies zeigt nun in der Tat der Versuch. Die Rosafärbung der über den
Blutkörpern stehenden Flüssigkeit infolge der Hämolyse ist dabei ein äußerst
empfindlicher Gradmesser für feinere Unterschiede in der Wirkung. Bei
diesen Neutralisationsversuchen ist nun aber tatsächlich jede Intervention
des lebenden Organismus ausgeschaltet, um so sicherer, als Ehrlich zeigen
konnte, daß das Resultat dasselbe bleibt, wenn man die Flüssigkeit mit
‘) Knorr, Tetanusgift und seine Beziehungen zum tierischen Organismus,
Münch. med. Wochenschr. 1898, 8. 321, 362. — °) Morgenroth, Wiedergewinn.
von Toxin aus seiner Antitoxinverb., Berl. Klin. Wochenschr. 1905, Nr. 50. —
®) Cobbett u. Kanthack, Über das Schicksal des Di-Toxins im Tierorganismus,
Zentralbl. f. Bakt. 24, 129, 1898.
EEE
en
Konstitution der Toxine. 627
Giften, wie Salpeter usw., sättigt. Da nun aber bei Beseitigung der hämo-
iytischen Wirkung durch die Bindung an das Antiricin sich streng zahlen-
mäßige Verhältnisse auffinden lassen, so war damit der Beweis für eine
gegenseitige Absättigung beider Faktoren ohne Intervention
lebender Zellen geführt. Daß ferner diese Wirkung nicht auf einer Zer-
störung der hämolytischen Gruppe des Ricins beruhen kann, zeigt der Um-
stand, daß mit der Neutralisierung auch gleichzeitig die toxische Wirkung
des Ricins im Tierversuch aufgehoben war.
Ergänzt und bestätigt wurden diese Befunde von Römer!), der an
Stelle der unübersichtlichen Verhältnisse im Tierkörper sich ein leicht kon-
trollierbares Operationsfeld in der Conjunctiva des Kaninchens schuf.
Ein dem Ricin sehr ähnliches Toxin, das Abrin, aus Abrus precatorius, hat
eine äußerst markante Wirkung auf die Bindehaut, indem es heftige Eite-
rungen erzeugt. Diese lassen sich nun als Reagens für die mehr oder minder
komplette Absättigung von Abrin und Antiabrin benutzen, und es ergaben
sich dabei genau dieselben Resultate.
Wir dürfen nach alledem wohl als einen gesicherten Besitz annehmen,
daß tatsächlich zwischen Toxin und Antitoxin rein chemische Be-
ziehungen obwalten, daß die Haptophore des Toxins vom Antitoxin ab-
gesättigt wird, und dies dadurch zu einer spezifischen Bindung an die Zellen
des Körpers unfähig wird.
Welcher Art aber diese chemischen Bedchuüzen sind, dies festzustellen
hat unendliche Mühe gemacht. Und als endlich Ehrlich durch eine Serie
von ungemein mühsamen Arbeiten Licht in die Beziehungen zwischen beiden
Faktoren gebracht hatte, trat die moderne physikalische Chemie, an ihrer
Spitze Arrhenius?), auf den Plan, um diese Verhältnisse und ihre Erklärung
für sich in Anspruch zu nehmen. Wenn es auch den Anschein hat, als sei
vorläufig dieser Sturm abgewiesen, so müssen wir doch auch auf diese Frage
eingehen, um so mehr, als in letzter Zeit der jüngste Sproß der physikalischen
Chemie, die der Kolloide, einen immer breiteren Raum auch in der Immuni-
tätslehre beansprucht, und es noch gar nicht abzusehen ist, wohin diese Be-
wegung schließlich steuert.
Zunächst aber wollen wir jedenfalls die Ehrlichschen und Bien:
schen ?) Arbeiten über die Konstitution der Toxine im Zusammenhang geben.
Ausgegangen sind. diese Arbeiten aus praktischen Notwendigkeiten.
Man mußte zu den Zwecken der Heilserumprüfung feste Maßstäbe haben,
nach denen man die Absättigung jedes einzelnen antitoxischen Serums mit
seinem Toxin bzw. den einzelnen Lösungen des Giftes messen konnte, um
dem Serum für die Praxis seinen Wert aufdrücken zu können.
Hätten wir das Toxin als eine chemische Substanz, so wäre dies natürlich
sehr einfach. Wir hätten nur jedes Serum an einer bekannten Menge Toxin
zu prüfen, und die Sache wäre erledigt. Wir kennen aber weder Toxine noch
Antitoxine in chemisch reinem Zustande. Das einzige Maß, das wir an die
Gifte legen können, ist die physiologische Maßeinheit. Wir können nur
!) Römer, Über Abrinimmunität, Arch. f. Ophthalm. 52, 90, 1901. —
?2) Arrhenius, Immunochemie, Leipzig 1907 (dort Lit.). S. a. Michaelis, Sammel-
Ref. Biochem. Zentralbl. 3. — °) Behring, s. vor allem: Die Blutserumtherapie,
Leipzig 1892; Die Diphtherie, Berlin 1901.
40*
628 Konstitution der Toxine.
in tödlichen Dosen für ein Meerschweinchen von bestimmtem Gewicht
rechnen. Bei den Hämolysinen tritt an dessen Stelle die Messung der lösen-
den Kraft. .
Aber dieser Übelstand wäre so schwerwiegend nicht, wenn sonst kon-
stante "Beziehungen aufzufinden wären. Würden sich bei den einzelnen
Proben des Giftes bestimmte Verhältnisse zwischen der Giftigkeit und der
Fähigkeit, Antitoxin zu binden, zeigen, entspräche also jeder Gifteinheit
eine Antitoxineinheit, so ließe sich durch empirische Einstellungen noch
die Stärke eines Serums relativ leicht normieren.
Aber auch dies ist nicht der Fall. Die Giftlösungen enthalten nicht
nur das Toxin, sondern noch andere Stoffe, die ebenfalls mit dem Antitoxin
reagieren, Stoffe, die man nicht mitzählt, wenn man die tödliche Dosis
feststellt, auf die man aber sofort stößt, wenn man die Bindung durch
das Antitoxin mißt. Diese Modifikationen des Toxins haben, um es in der
Sprache der Theorie auszudrücken, zwar die passende Haptophore, um das
Antitoxin zu binden, aber ihre toxophore Gruppe ist verschwunden oder
so weit verändert, daß sie bei der Feststellung der Giftwirkung nicht mehr
mitrechnet. Diese Stoffe nehmen also. um so mehr Antitoxin in Anspruch,
je reichlicher sie im Verhältnis zum reinen Toxin in der Giftlösung vorhanden
sind, und da ihre Menge nach den Umständen wechselt, so schwanken eben
die Zahlenverhältnisse zwischen der Messung des Toxins in letalen Dosen
und der verbrauchten Menge Antitoxin. Behring fand zuerst. beim Tetanus-
toxin solche Unterschiede zwischen dem direkten Giftwert und dem sogenannten
indirekten, d. h. dem aus dem Antitoxinverbrauch berechneten. Aber erst
Ehrlich gelang es, die hier obwaltenden Verhältnisse einigermaßen aufzu-
klären und so für eine sichere Bewertung der Heilsera die Grundlagen zu
schaffen. Die dazu nötigen Maßeinheiten sind folgende: Als einfache
letale Dosis bezeichnet man die Giftmenge, die ein Meerschweinchen von
250g gerade noch in drei bis vier Tagen tötet. Als Normalgift nahm
Behring ein solches an, bei dem lccem 100 letale Dosen enthalten sollte.
Auf diese Einheit ist nun die sogenannte Immunitätseinheit eingestellt,
in dem Sinne, daß ein einfaches Serum ein solches ist, von dem lccm gerade
100 Gifteinheiten, also 1 ccm des Norwalgiftes neutralisiert. Diese Immunitäts-
einheit ist in Form eines sehr hochwertigen Serums als empirische Maß-
einheit unter allen Kautelen aufbewahrt worden, um zur erneuten Prüfung
der Toxinlösungen und event. Herstellung neuer Testsera zu dienen.
Wie aus den vorangegangenen Ausführungen ersichtlich, bleibt die nötige
Serummenge ‘zur Absättigung ein und derselben Giftlösung stets relativ die
gleiche, d.h. jeder letalen Dosis entspricht eine ganz bestimmte Menge Serum,
ausgedrückt in Immunitätseinheiten. Dies ist aber nur der Fall, wenn man
die Proben gleichzeitig anstellt. Läßt man das Gift lagern, so gehen in
ihm Veränderungen vor sich, die zu einer totalen Verschiebung dieser
Bindungsverhältnisse führen.
Prüft man z. B. ein Gift nach mehreren Monaten wieder, so findet man
folgendes: Zwar ist das Verhältnis zwischen Serummenge und Cubikcenti-
metern der Giftlösung dasselbe geblieben. Aber in dieser absoluten Menge
ist weniger wirksames Gift enthalten. Nimmt man also nicht die Menge,
sondern die Gifteinheit als Maßstab, so findet man, daß nun dieselbe Gift-
Konstitution der Toxine» Toxoide. 629
menge eine größere Menge Antitoxin zur Sättigung braucht, als bei dem
frischen Gift. Daraus folgt, daß beim Ablagern zwar das Gift schwächer
geworden ist, daß nicht mehr derselben Anzahl von Cubikcentimetern die-
selbe Menge von Toxineinheiten entspricht, daß aber die aus dem Toxin neu
gebildeten Stoffe nach wie vor eine Avidität zum Antitoxin besitzen. Diese Stoffe,
bei denen also die Haptophore intakt geblieben, die Toxophore sich verändert
hat, nennt man nach Ehrlich Toxoide. Später fand dann Ehrlich, daß
solche Stoffe, die, mit der passenden Haptophore begabt, eine veränderte Toxo-
phore besitzen, auch schon in den frischen Giftlösungen vorhanden sind, und
daß sie es bedingen, warum sich schon an diesen Differenzen zwischen dem Gift-
wert und der Antitoxinbindung vorfinden. Sie führen den Namen Toxone.
Um zu einer Klarstellung der hier vorliegenden Verhältnisse zu gelangen,
hat Ehrlich zwei Grenzwerte eingeführt, die er als ZL, (limes Null) und als
L;+ (limes Tod) bezeichnet. Ihre Bedeutung ist folgende:
L, ist diejenige Menge einer zu prüfenden Giftlösung, aus-
gedrückt in letalen Dosen, die, mit einer Immunitätseinheit ver-
mischt, eben noch gar keine Wirkung auf ein Versuchstier ausübt.
Dieses Gemisch ist also physiologisch neutral.
L; dagegen gibt die Menge einer Giftlösung an, ebenfalls in
. letalen Dosen gemessen, die, mit einer Immunitätseinheit vermischt,
eben hinreicht, um ein Meerschweinchen von 250g in vier bis fünf
Tagen zu töten, bei der also nach der Mischung gerade noch eine letale
Dosis im Überschuß bleibt. Die Differenz beider Werte L+—L, nennt man
„D“. Sie sollte also bei reinen Giftlösungen gleich einer dos. let. also — 1
sein. Daß sie diesen Wert fast nie hat, führt eben zur Annahme und
schließlich zur Aufklärung der komplizierten Gemische, die wir als Gift-
lösungen zu untersuchen haben.
Bei dem Behringschen Normalgift soll der Cubikcentimeter 100 dos.
let. enthalten. Da darauf die Immunitätseinheit eingestellt ist, so muß bei
Normalgiften die Grenze L, bei 100 liegen. Dies ist nun tatsächlich bei
frischen Giften sehr häufig der Fall, d.h. sie sind wirklich nach dem
Typus des Behringschen Normalgiftes gebaut. Der Umstand aber, daß es
doch Gifte gibt, in denen schon in frischem Zustande L, einen anderen Wert
hat als 100, führt zu der Annahme, daß auch in diesen schon Gemische von
reinem Toxin und anderen das Antitoxin bindenden Körpern vorhanden sein
müssen, die die Verschiebungen zwischen dem Giftwert und dem Bindungs-
wert bedingen. Wir stoßen also schon bei dieser Überlegung auf die Exi-
stenz der Toxone.
Läßt man nun die Gifte lagern, so treten neue Veränderungen ein. Der
Giftwert eines Cubikcentimeters sinkt, ohne daß sich der Bindungswert
ändert, damit sinkt also IL.
Es sei gleich vorweggenommen, daß dieser Zerfall der Gifte sich nach
bestimmten Gesetzen vollzieht. ZL, nimmt nicht regellos ab, sondern es fällt
auf 50 oder auf 66,6 oder auf andere einfache mit 100 zusammenhängende Werte.
Die Toxine scheinen also diechotomisch oder trichotomisch zu zerfallen.
Diese entstehenden Toxoide haben also einen ausschlaggebenden
Einfluß auf die Größe L,. Auf die Größe L; dagegen sind sie nicht ohne
weiteres von bestimmendem Werte, wie folgende Überlegung zeigen mag:
630°; . Toxone.
Rein a priori betrachtet, kann man die Toxoide einteilen in solche, die
dieselbe Affinität zum Antitoxin haben wie das reine Toxin, die Syn-
toxoide, solche, die eine größere haben, die Protoxoide,und endlich solche
von geringerer Affinität, die Epitoxoide. Letztere sind, wie sich später
herausstellte, mit den Toxonen identisch.
Da das Toxin eine einmal eingetretene Bindung zwischen dem Antitoxin
einerseits, einem Protoxoid oder Syntoxoid andererseits wegen der erwähnten
Affinitätsverhältnisse nicht weiter beeinflussen kann, so kann ein Vorhanden-
sein. dieser Formen von Toxoiden auf ZL; nicht von Einfluß sein. Setzt man
zu einem physiologisch neutralen Gemisch, also bei Lo, ein solches Gemisch
von Toxin und diesen Toxoiden zu, so wird eine einzige dos. let. aus-
reichen, um L;+ herbeizuführen, d. b. D ist tatsächlich gleich „Eins*.
In der Formelsprache würden diese Dinge so aussehen:
9%9T—A+W0WMd—A=L.
99 T—A + 10Tidd— A + 1Toxin = L;.
Sowohl Protoxoide als auch Syntoxoide sind also auf L; ohne Einfluß,
also alle sich erst sekundär bildenden Toxoide.
Ganz anders verhalten sich die Epitoxoide oder Toxone. Ein Gemisch
von Toxin und Toxon + Antitoxin bei L, können wir z. B. so schreiben:
PR KT—A+IWNT—A—L..
Setzen wir nun eine Toxineinheit zu, so läßt dieses seine größere Affinität
wirken und verdrängt das Toxon aus seiner Verbindung mit dem Anti-
toxin. Nach Zusatz von 1 dos. let. ist also die Formel:
91 li —A +9 To— A + 1Toxon (frei!) = L,.
So geht es bei erneutem Toxinzusatz, bis sämtliche Toxone in Freiheit
gesetzt sind. Dann erst bewirkt Zusatz einer dos. let. das Vorhandensein
einer freien Toxindosis, also L+}. Formel:
100 TE — A + 10 freie Toxone = L,
100% —A+107To +1Toxin=L,.
Wir hätten also bei einem Schema wie oben nicht eine freie Toxineinheit
zuzusetzen, sondern 11, ehe ZL,; erreicht ist. Die so häufig gefundene Er-
höhung der Größe D über die bei reinen Giften geforderte Einheit kommt
also auf Rechnung ausschließlich der Toxone, sie ist also geradezu
ein Maß dafür. D schwankt sehr erheblich. Ehrlich fand bei elf Giften
Werte von 1,7 bis 28 Gifteinheiten.
Die Toxone sind also schon in der frischen Bouillon der Diphtherie-
kulturen vorkommende Antigene, die nicht die typische Wirksamkeit des
echten Toxins zeigen und sich von ihm durch eine geringere Affinität zum
Antitoxin unterscheiden. Sie sind aber nicht gänzlich ungiftig, sondern
zeigen spezifische vom Toxin verschiedene Wirkungen. Es ist so gut wie
sicher, daß die Spätlähmungen bei Diphtherie auf ihr Konto zu setzen sind.
Man kann ihre spezifischen Wirkungen in der Weise studieren, daß man
Giftlösungen mit einem Zusatz von Antitoxin in einer Höhe verwendet, daß
das Gemisch der Zwischenzone zwischen L, und L; entspricht. Dann sind
ja, wie unsere Überlegung gezeigt hat, freie Toxone in der Mischung vor-
handen. In dieser sogenannten Differentialzone haben nun die Mischungen
a a a
Die Zahl „200°. 631
eben eigenartige Wirkungen, die durchaus von der Wirkung etwa sehr
schwacher Toxinwirkungen zu unterscheiden sind. Madsen und Dreyer!)
haben auch eine weitere Konsequenz der Theorie praktisch verwirklicht.
Wenn tatsächlich die Toxone Antigene sind, die dieselbe Haptophore haben
wie das echte Toxin, so muß man mit ihnen gegen das Toxin immunisieren
können. Daß dies möglich ist, ergibt sich aus den Versuchen der ge-
nannten Autoren.
Es geht also aus den bisherigen Betrachtungen über .die Konstitution
der Lösungen des Diphtheriegiftes etwa folgendes hervor: Die Gifte bestehen
bereits von Anfang an aus einem wechselnden Gemisch zweier Gifte, eines
starken und eines schwachen, von denen das eine als das echte Toxin an-
gesprochen wird. Beide haben eine identische oder sehr ähnliche Haptophore,
so daß sie beide das Antitoxin binden, wenn auch nicht mit gleich starker
Avidität. Läßt man die Gifte lagern, so zerfällt auch ein Teil des Toxins
weiter in ungiftige Modifikationen, die ebenfalls eine verschiedene Affinität
zum Antitoxin haben, die Toxoide. Gewöhnlich macht dieser Zerfall nach
einigen Monaten Halt, so daß dann L, konstant bleibt; es sind aber z. B.
von Madsen auch Gifte beschrieben worden, bei denen dieser Zerfall immer
weiter fortschritt. Schließlich sei kurz erwähnt, daß man auch an Zerfalls-
prozesse bei den Toxonen denken muß, doch wollen wir auf diese nicht sehr
wichtigen Dinge hier nicht näher eingehen.
Dagegen müssen wir noch in aller Kürze der anderen Methode gedenken,
mit der Ehrlich weiterhin in die Rätsel der Giftgemische einzudringen be-
strebt war.
Aus dem Umstande, den wir schon kurz erwähnt haben, daß nämlich
der Zerfall der Toxine nach einfachen Zahlen zu erfolgen scheint, die mit
100 in Beziehungen stehen, aus dem ferneren Umstande, daß tatsächlich bei
vielen Giften in frischem Zustande eine Immunitätseinheit gerade 100 letale
Dosen bindet, ZL, also = 100 ist, schloß er, daß die gesamte Zahl der sich
an Antitoxin bindenden Einheiten, der Sättigungseinheiten, also sowohl
des echten Toxins, wie aller Beimengungen, im ganzen — 200 sein möge.
Dann würde also ein solches nach dem Normaltypus gebautes Gift neben
100 Toxineinheiten noch gerade 100 Toxoneinheiten enthalten, d.h. die Pro-
duktion beider Antigene würde parallel verlaufen. Geht dann das Toxin in
Toxoide über, so bleibt die Gesamtzahl der Bindungsgruppen erhalten. Hätten
wir ein absolut reines Toxin, so müßte davon eine Immunitätseinheit 200
letale Dosen gerade noch absättigen, bei 201 müßte L; erreicht sein. Es
läßt sich aber auch die Zusammensetzung anderer Giftlösungen nunmehr
unter Annahme der 200 Sättigungseinheiten bestimmen. Wir können den
Toxinanteil direkt messen durch Feststellung der dos. let. Wir haben
für die Toxone das Maß in der Größe D bzw. D— 1 als Bezeichnung des
Wertes, bei dem zwar alle Toxone frei sind, aber die eine schließlich L; herbei-
führende Dos. let. noch nicht zugesetzt ist. Ehrlich nennt die Toxin-
größe &, die Größe D— 1 ß, und findet dann mit Hilfe einer leicht abzu-
200 } .
- Die Ableitung der Formel
“+ß
!) Madsen und Dreyer, Iinmunität mit den Toxonen des Di-Giftes. Zeitschr.
f. Hygiene 37, 249, 1901.
leitenden Formel für die Toxone 2 —=
632 Giftspectra.
selbst dürfte uns hier zu weit führen. Die Hauptsache ist, daß mit Hilfe
dieser Berechnung Ehrlich für jedes Gift den Toxonanteil und damit bei
frischen Giften die gesamte Konstitution klarlegen kann. Dadurch wird aus
der vorher rein empirisch festgelegten Immunitätseinheit eine theoretisch
erkannte Größe, die nunmehr jederzeit reproduzierbar ist. Ehrlich fand
auch für den Toxongehalt der Giftlösungen Werte, die mit 100 in engem
Zusammenhang stehen, wie 50, 33 usw.
Ehrlich hat ferner diese Ergebnisse mit Hilfe einer anderen Unter-
suchungsart bestätigt und veranschaulicht. Wenn man von der Annahme
ausgeht, daß die Avidität der einzelnen Bestandteile der Giftgemische zum
Antitoxin eine ungleiche ist, so müssen diese Unterschiede bei der fraktio-
nierten Absättigung von derselben Menge Giftlösung mit sinkenden Mengen
Antitoxin hervortreten. Es werden, wenn man die zu einer bestimmten
Giftmenge, z. B. 100 letalen Dosen, zugesetzte Antitoxinmenge vermindert,
zuerst diejenigen Elemente nicht mehr an das Antitoxin gebunden werden,
die die kleinste Avidität haben, also die Toxone, dann die eigentlichen
Toxinanteile, und schließlich werden auch die ungiftigen Toxoidanteile kein
Antitoxin mehr bekommen, die eine noch größere Avidität dazu haben als
das Toxin, also die Protoxoide. Durch graphische Darstellung dieser Ver-
hältnisse, die die Regelmäßigkeiten der Verschiebung der Giftwerte bei Zusatz
sinkender Mengen Antitoxin demonstrieren sollen, der sogenannten Gift-
spektra Ehrlichs, erhält man ein vollständiges Bild der Konstitution der
einzelnen Giftlösungen und ihrer Änderung mit der Zeit. Ich kann hier auf
diese Dinge nicht in den Einzelheiten eingehen, weil sie an sich mit dem
Immunitätsproblem in einem zu losen Zusammenhang stehen. Ich verweise
wegen dieser Details auf mein Buch: „Toxine und Antitoxine* !). Ich will
nur kurz resümieren, daß man tatsächlich sich mit Hilfe dieser Darstellungen
die Konstitution der meisten Gifte versinnbildlichen kann, und daß ihre Er-
gebnisse in erfreulicher Weise mit den Zahlen der Berechnung nach der
‚ersten Methode stimmen. Ähnliche Verhältnisse wie beim Diphtherietoxin
fand man auch bei anderen untersuchten Giften. Spezielle Abweichungen
in der Konstitution sind überall vorhanden, aber für unsere Arbeit ohne
Belang. Für das Tetanusgift, das viel empfindlicher ist als das der Di-
phtherie, sind Toxoide und Toxone nicht mit Sicherheit nachgewiesen, wohl
aber für das zweite Gift der Tetanuskulturen, das hämolytisch wirkende
Tetanolysin. Auch das Staphylolysin scheint eine dem Diphtherietoxin ähn-
liche Konstitution zu besitzen. Sehr viel einfacher scheinen aber die
Schlangentoxine gebaut zu sein, bei denen anscheinend ungiftige Antigene
in frischen Giften fehlen.
Wir sind bisher durchaus den Wegen gefolgt, die Ehrlich in seinen
großartigen Arbeiten über die Konstitution der Toxine gewiesen hat. Seine
Lehre stellt ein völlig geschlossenes Gebäude dar, das bisher alle Erscheinungen
dieses komplizierten Gebietes hat erklären können. Aber freilich bedarf sie
dazu eines sehr großen Aufwandes von Hypothesen und Hilfshypothesen, und
aus diesem Grunde ist seine Lehre von Anfang an vielfach bekämpft worden,
um sie durch eine einfachere Anschauung zu ersetzen. Die Existenz der
E08
Physikalische Chemie. 633
Pluralität der Gifte, wie man den Hauptinhalt kurz resümieren kann, ist
vielfach geleugnet worden. Die allermeisten Angriffe waren aber weder
experimentell, noch theoretisch genügend gestützt, so daß man sie heute als
erledigt ansehen kann. Von größerer Bedeutung sind eigentlich nur die
Ideen Bordets!), aber vor allem wegen der Persönlichkeit, von der sie aus-
gehen. Ein Mann, wie Bordet, dem wir einen großen Teil des geltenden
Tatsachenmaterials verdanken, muß immer gehört werden. Seine Anschauung
ist aber in kurzen Worten nicht wiederzugeben. Im wesentlichen sucht er
an Stelle der Pluralität der Gifte eine Vorstellung zu setzen, die mit teilweisen
Sättigungen der Toxinaffinitäten durch das Antitoxin arbeitet. Dadurch
sollen die verschiedenen Giftqualitäten und die Sättigungsverschiedenheiten
zustande kommen. Die Ansicht Bordets, die die Existenz der Toxone
leugnet, ist aber mindestens so kompliziert, wie die Ehrlichs, und ent-
scheidende Tatsachen kann sie auch nicht aufweisen. Man kann ihr also
kaum größere Bedeutung zuschreiben, und wir wollen hier nicht weiter
darauf eingehen. Sie ist vor allem deshalb interessant, weil sie überhaupt
die konstante Zusammensetzung der Toxin-Antitoxinverbindung in Abrede
stellt und deshalb in genetischem Zusammenhang mit der mederuuten Theorie
der kolloidalen Adsorption steht.
Um so wichtiger, weil sie die Fundamente der Ehrlichschen Theorien
angreifen, sind die Einwände, die von Arrhenius und Madsen?) geltend
gemacht worden sind.
Sie gehen von den Grundlehren der Stöchiometrie, dem Massengesetz
aus. Sie nehmen nur zwei einheitliche Stoffe an, das Antitoxin und das Toxin,
die zu einer Verbindung zusammentreten. Diese Verbindung soll aber keine
sehr feste sein, sondern eine reversible, so daß sich je nach den äußeren Be-
dingungen Gleichgewichte der verschiedensten Arten ausbilden können, die
die Pluralität der Gifte vortäuschen.
Wenn man die Absättigungskurven zwischen Toxinen und Antitoxinen
konstruiert, so erhält man ganz analoge Kurven, als wenn man die Ab-
sättigung zwischen einer schwachen Base und einer schwachen Säure, z. B.
zwischen Ammoniak und Borsäure, graphisch darstellt. Bei solchen Ab-
sättigungen wird nie eine Komponente restlos verbraucht, es bleiben immer
gewisse Mengen beider Substanzen frei in der Lösung, es tritt also ein Gleich-
gewichtszustand ein. Demgegenüber verläuft die Kurve der Absättigung
zwischen einer starken Base und einer starken Säure, z. B. Salzsäure und
Kali, in einer geraden Linie.
Madsen und Arrhenius leugnen also die Existenz fast aller der
sekundären und andersartigen Stoffe der Kulturen, wie sie Ehrlich in den
Toxoiden und Toxonen angenommen hatte. Nur die Annahme der Protoxoide,
also der Komponenten der Giftlösungen, die eine sehr große Affinität zum
Antitoxin haben, ohne giftig zu sein, können auch sie bei ihren Deduktionen
schwer entbehren.
Wenn diese Ansichten, au deren Detail ich hier nicht weiter eingehen
kann, alle Tatsachen erklären könnten, so würden sie, das ist nicht zu be-
zweifeln, eine einfachere Erklärung der Phänomene geben.
') Bordet, Sur le mode de l’action des antitoxines sur les toxines, Ann. Past.
17, 161, 1903. — °) Arrhenius, Immunochemie, Arch. von A. Finkelstein 1907.
654 Physikalische Chemie.
Daß solche Gleichgewichte in physikalisch-chemischem Sinne bei den
Reaktionen zwischen Toxinen und Antitoxinen nicht gänzlich ausgeschlossen
sind, läßt sich nicht leugnen. Bei einigen Toxinen, die eine nur schwache
Affinität zu ihrem Antitoxin haben, sind Erscheinungen, die darauf schließen
lassen, schon früher beobachtet worden, so z. B. beim Ricin von Danyscz!).
In einer Mischung von Ricin und Antiriein, die sich ungefähr in der Neutra-
litätszone befindet, sind geringe Mengen sowohl freien Ricins, als auch freien
Antiricins vorhanden.
Aber die Anhänger der Pluralität der Gifte wehren sich mit Recht
dagegen, daß nun alles auf solche Gleichgewichte zurückgeführt werden soll.
Speziell für das Diphtheriegift, an dem doch alle die Beobachtungen über
Toxone gemacht worden sind, steht Ehrlich?) unerschüttert auf seinem
Standpunkt, daß die Vereinigung des reinen Toxins mit dem Antitoxin eine
Kurve liefert, wie es die Verbindung zwischen einer starken Base und einer
starken Säure gibt, also eineG@erade, und daß die beobachteten Abweichungen
eben auf die Gegenwart anderer bindender Stoffe zurückzuführen sind. Von
den mannigfachen Gegengründen gegen die Arrheniusschen Angriffe, die
man in den Originalarbeiten nachlesen muß, seien nur die allerwichtigsten
angedeutet. Abgesehen davon, daß die Arrheniusschen Kurven für Di-Gift
nicht genau genug mit den Gleichgewichtskurven reiner Stoffe überein-
stimmen, um daraus so gewichtige Angriffe ableiten zu können, so ist es
auch nicht nötig, für ihre Erklärung unbedingt Gleichgewichte reiner Stoffe
anzunehmen. Ehrlich konnte zeigen, daß auch bei der Mischung einfacher
Alkaloide und nachfolgender Absättigung mit Salzsäure sich ganz ähnliche
Kurven konstruieren lassen. Ein fernerer Gegengrund sind die Verhältnisse
beim Kobragift. Hier liegen die Verhältnisse besonders einfach, es scheint
keinerlei Toxone zu enthalten. Dementsprechend verläuft auch die Ab-
sättigungskurve mit seinem Antitoxin in einer Geraden. Hier ist also von
reversiblen Gleichgewichten keine Rede. Das reine Kobragift verbindet sich
also mit seinem Antitoxin wie eine starke Base mit einer starken Säure,
es ist also sehr wahrscheinlich, daß das reine Di-Gift sich ebenso verhält.
Ein sehr wichtiger Versuch spricht ferner gegen die Existenz von Gleich-
gewichtszuständen. v. Dungern zeigte®), daß dieselbe Giftlösung durch eine
geringere Menge Antitoxin neutralisiert wird, wenn man die Antitoxindosis
auf einmal zugibt, als wenn man die eine Hälfte erst 24 Stunden später
zufügt. Ganz Ähnliches fand H. Sachs) beim Tetanolysin. Das ist aber mit der
Annahme reversibler Gleichgewichtsreaktionen schlechterdings unvereinbar,
denn in diesem Falle müßte es völlig gleichgültig sein, ob man die eine Kompo-
nente auf einmal oder fraktioniert zusetzt. Dieses Dungernsche Phänomen ist
tatsächlich nur dadurch zu erklären, daß in dem Falle der fraktionierten Bei-
mischung feste, irreversible Bindungen zwischen dem Antitoxin und einer
Komponente der Giftlösungen eingetreten sind, die bei einmaligem Zusatz in-
folge der anderen Verteilung eben nicht in demselben Verhältnis eintreten.
!) Danyscz, Contr. ä .l’et. des propr. des melanges des toxines avee leurs anti-
toxines, Ann. Past. 16 (1902). — °) Ehrlich, Über d. Giftkomp. des Di-To, Berl.
klin. Woch. 1903, Nr.35. — °) v. Dungern, Bindungsverh. bei d. Verein. von
Di-Gift und Antiserum, Deutsch. M. W. 1904, H.8/9. — *) Sachs, Über d. Konst.
des Tetanolysins, Berl. klin. Wochenschr. 1904, Nr. 16.
u m tiefere
Kolloide als Antigene. 635
So verlockend es also ist, die Lehren der physikalischen Chemie auf die
Reaktion zwischen Toxinen und ihren Antitoxinen zu übertragen, und alles auf
eine einheitliche Reaktion zwischen nur zwei Stoffen zurückzuführen: es stimmt
eben vorläufig nicht; nach allem, was wir an Tatsachen ohne Vorurteil prüfen
können, haben wir hier Reaktionen vor uns, die zwar anfangs den Charakter
der Reversibilität zeigen, bald aber zu festen Verbindungen werden, auf die die
Massengesetzkurven nicht stimmen. Und so müssen wir vorläufig den Versuch
von Arrhenius und Madsen als gescheitert ansehen. Noch haben wir keine
bessere Erklärung, als die komplizierten Ehrlichschen Strukturformeln.
Zu alledem kommt aber noch, daß sich gegen die Grundanschauung von
Arrhenius aus dem eigenen Lager heftiger Widerspruch erhoben hat. Man
hat ihm, Nernst ander Spitze, geradezu däs Recht abgesprochen, die Massen-
gesetze auf solche Stoffe, wie die Toxine usw. anzuwenden. Hier handelt es
sich nämlich um Kolloide, und für diese scheinen doch andere Reaktions-
gesetze zu gelten. Jedenfalls aber darf man nicht ohne Kritik die Disso-
ziationsgesetze auf solche Stoffe übertragen. Es fehlt also auch in dieser
Beziehung den Ideen von Arrhenius das sichere Fundament.
Der Gesichtspunkt, die Reaktionen zwischen diesen wirksamen Substanzen
vom Standpunkt der Kolloidchemie aus anzusehen, hat nun überhaupt in der
letzten Zeit eine große Wichtigkeit angenommen. Je mehr wir in das
ungemein schwierige Gebiet der Kolloide eindringen, desto mehr Analogien
drängen sich auf. Es hat allerdings den Anschein, als ob sich ein Teil der
Eigentümlichkeiten aller dieser Vorgänge auf den kolloidalen Charakter der
in Reaktion tretenden Substanzen zurückführen ließe, doch ist es mir leider
an dieser Stelle unmöglich, auf Details einzugehen. Natürlich macht sich
auch hierbei, wie stets bei solchen jungen Bewegungen, eine enorme Über-
schätzung des neugewonnenen Fundamentes breit: es soll nun einfach alles
durch die Grundeigenschaften der Kolloide erklärt‘ werden, was vorläufig
wenigstens mehr Phantasie als wissenschaftliche Anschauung ist. Neben der
Kolloidnatur sind doch immer noch rein chemische Spezifitäten am Werke,
und eine recht scharfe Kritik gegenüber den Kolloidschwärmern wohl am
Platze. Das ganze Gebiet der Beziehungen zwischen Toxin und Antitoxin
ist also, wie wir sehen, in vollstem Fluß, die Physiko-Chemiker von der einen,
die Kolloidpropheten von der anderen Seite wollen neue Werte schaffen, und
man kann begierig sein, was aus diesem fleißigen und mühseligen Ringen
schließlich herausschauen wird. Für die Theorie der gesamten Immunität
sind diese Dinge deswegen von Belang, weil sie, und nicht nur bei den
Toxinen, dem Begriff der Spezifität zu Leibe gehen wollen.
Auf nähere Details können und wollen wir aber an dieser Stelle nicht
eingehen, weil doch noch gar zu wenig an positiven Ergebnissen vorliegt.
Die engen Beziehungen zwischen der Lehre von den Kolloiden und der
Antikörperbildung, die allem Anschein nach für beide Fragen von großer
Bedeutung sind, zeigen sich auch in dem Umstande, daß die Eigenschaft,
Antikörper zu bilden, unter den Kolloiden auch abgesehen von den Toxinen‘
weit verbreitet ist. Sehen wir die Toxine als kolloidal gelöste Stoffe an, so
ist die Eigenschaft anderer Sole, als Antigene aufzutreten, keine so ver-
wunderliche mehr. Zuerst beobachtet wurde diese Tatsache bei den Eiweiß-
körpern in der sogenannten Präzipitinreaktion.
636 Präzipitine.
Kraus machte die Beobachtung, daß die Kulturfiltrate einiger Bakterien
mit den entsprechenden Immunseris einen Niederschlag ergeben, und daß
diese Reaktion spezifisch ist. Wesentlich erweitert wurden diese Befunde
durch Bordet, der zeigte, daß diese Eigenschaft allen Eiweißkörpern in
Lösung zukommt. Es ergab sich dann ferner besonders durch die Arbeiten
von Myers, Wassermann, Uhlenhut, Michaelis und Oppenheimer,
Pick, v. Dungern und anderen !), daß dieser Reaktion eine ziemlich weit-
gehende Spezifität zukommt. Und zwar vor allem eine Spezifität der Art.
Das Eiweiß jeder Art von Lebewesen erzeugt bei der Einführung in die Blut-
bahn eines Tieres einen Antikörper, der ganz oder fast ganz ausschließlich
mit dem Eiweiß derselben Art die Niederschlagsbildung zeigt. Dagegen ist
die Reaktion für die einzelnen Eiweißarten desselben Lebewesens nur sehr
wenig spezifisch. Daß sie demnach zur Unterscheidung der Eiweißarten
verschiedener Tiere mit großem Erfolg verwendet wird, ist eine bekannte
Tatsache, die näher zu schildern hier nicht der Ort ist. Dagegen ist sie zur
Unterscheidung einzelner Eiweißarten so gut wie gar nicht zu verwenden.
Auf dem Gebiete der Präzipitinreaktion sind noch sehr viele Rätsel zu
lösen. Zunächst wissen wir nicht einmal die fundamentale Frage mit Sicher-
heit zu beantworten, ob es die Eiweißstoffe an sich sind, die die Reaktion
auslösen oder ob ihnen besondere spezifische Antigene beigemengt sind. Wir
wissen nur das eine sicher, daß durch eine einigermaßen energische Verdauung
mit Pepsin und Salzsäure die Fähigkeit, ein Präzipitin zu erzeugen, den
Eiweißkörpern ebensowohl genommen wird, wie die präzipitinhaltigen Immun-
sera dadurch die Fähigkeit der Niederschlagsbildung mit dem unveränderten
Eiweißstoff einbüßen. Sonst aber ist die Frage, welche Eingriffe am intakten
Eiweißmolekül vorgenommen werden dürfen, ehe die Antigeneigenschaft
verloren geht, noch durchaus nicht zur Zufriedenheit aufgeklärt. Am
resistentesten ist die Antigennatur gegen eine tryptische Verdauung, die
ziemlich weit gehen darf, ehe die Präzipitinbildung erlischt. Sie ist also
jedenfalls nicht an das absolut intakte Molekül gebunden. In bezug auf
Einzelheiten sei auf die Arbeiten von Michaelis und Oppenheimer!),
sowie Obermayer und Pick?) verwiesen.
Ebensowenig ist die Natur der Antikörper gegen kolloidales Eiweiß
aufgeklärt. Während man früher annahm, daß es sich um einfache Uniceptoren
handeln möge, um Antikörper mit nur einer bindenden Gruppe, analog den
Antitoxinen, haben sich neuerdings Tatsachen ergeben, die die Vermutung
auftauchen lassen, als seien die Präzipitine Antikörper mit zwei Haptophoren,
entsprechend denen gegen Zellen, wie wir sie im zweiten Teile unserer Arbeit
kennen lernen werden. Man schließt dies daraus, daß in gewissen Fällen
bei der Vereinigung von Eiweißantigen und Antikörper noch ein drittes
Agens, nämlich das Komplement der Sera, in die Verbindung eintritt, eine
Erscheinung, die man als Komplementbindung bezeichnet, und die heute in
der praktischen Immunitätslehre eine große Rolle spielt. Wir werden ihr im
zweiten Teile noch begegnen.
') Literatur bei Michaelis und Oppenheimer, Immunität gegen Eiweiß-
körper, Engelmanns Archiv 1902 und Michaelis, Sammelreferat im Bioch.
Zentralbl. 3. — ?) Obermayer und Pick, Über die chemischen Grundlagen der
Arteigenschaften d. Eiweißkörper, Wien. klin. Wochenschr. 1906, Nr. 12.
ß
Präzipitine. 637
Über die biologische Bedeutung der ganzen Erscheinung wissen wir
so gut wie gar nichts. Es hat sogar den Anschein, als ob die sichtbare Phase,
die Niederschlagsbildung, im lebenden Körper überhaupt nicht zustande
kommt. Allerdings können wir trotzdem wohl sicher annehmen, daß die
Hauptsache, nämlich die Bindung des Antigens mit dem Antikörper, sich
auch im lebenden Organismus vollzieht. Wir können uns wohl vorstellen, daß
diese spezifische Bindung irgendwie eine Rolle bei der Assimilation körper-
fremden Eiweißes im Stoffwechsel spielt, aber Genaueres können wir darüber
nicht aussagen. Ein Versuch, quantitative Beziehungen zwischen der
Resorption :körperfremden Eiweißes und der Präzipitinreaktion seien,
ist fehlgeschlagen (Oppenheim er!).
Einen Fingerzeig in dieser Richtung geben vielleicht die Resultate von
Wassermann und Citrom?). Sie fanden normale Antikörper auch gegen
andere kolloidale Nahrungsmittel, so gegen Albumosen und vor allen auch
Glykogen, und zwar mit der oben erwähnten Methode der Komplement-
bindung. Speziell gegen das Glykogen scheint sich eine richtige Immunität
durch Bildung von Amboceptoren erreichen zu JaBisn. Peptone haben die
Antigennatur nicht mehr.
Diese Befunde sind also eine Stütze der naheliegenden Ansicht, daß die
Ausbildung von Antikörpern auch gegen natives Eiweiß im engen Zusammen-
hang mit der Aufnahme dieser körperfremden Nährstoffe steht (Michaelis
und Oppenheimer), und greifen somit auf die allererste Konzeption der
Ehrlichschen Seitenkettentheorie zurück, die ja auch eine spezifische Bindung
gerade der Nährstoffe annimmt. Es wäre zu wünschen, daß man mit der
sehr empfindlichen Methode der Komplementbindung näher in diese bisher
sehr rätselhaften Vorgänge eindringen könnte.
Nicht viel besser steht es schließlich mit der Aufklärung des chemischen
Vorganges. Aus den zahlreichen, mühseligen Arbeiten, die sich mit der
genaueren Durchforschung der quantitativen Verhältnisse befaßt haben, geht
nur wenig Sicheres hervor. Es ist sicher keine Fermentreaktion, vielmehr
treten beide Komponenten, die präzipitable Substanz des Eiweißesund das
Präzipitin des Immunserums, nach stöchiometrischen Gesetzen zusammen.
Dabei zeigen sich nun höchst interessante Gleichgewichte, deren Störung die
Ausbildung eines Niederschlages verhindert. So sei erwähnt, daß sich meist
der Niederschlag nicht bildet, wenn sich die präzipitable Substanz im Über-
schuß befindet.
Gerade beim Studium dieser Gleichgewichte zeigt sich nun der enge
Zusammenhang, den die Präzipitinreaktion mit anderen, allgemeineren
Reaktionen zwischen Kolloiden hat. Die noch so wenig geklärten Phänomene
der Ausflockung von Kolloiden untereinander und unter dem Einfluß ver-
schiedener Elektrolyte sind gerade auf Grund dieser eigenartigen Erscheinungen
erneut mit großem Eifer in Angriff genommen worden, und haben interessante
Zusammenhänge aufgedeckt. Leider kann ich auf Details auch an dieser
Stelle nicht eingehen, weil dazu die Aufrollung der Grundlagen der Kolloid-
!) Oppenheimer, Über das Schicksal des unter Umgehung des Darmkanals
eingeführten Eiweißes im Tierkörper, Hofm. Beitr. 4, 263, 1903. — ?) Wasser-
mann u. Citron, Über d. Bez. d. Serums zu gewissen Nährstoffen, Z. exp. Path.
4, 273, 1907.
638 Antienzyme.
chemie gehörte. Zur Orientierung verweise ich ‚unter anderem. auf die
Sammelreferate von Hans Aron und von Leonor Michaelis im Arien,
Bande des Biochemischen Zentralblattes.
Eine weitere Reihe von: kolloidal gelösten Substanzen, die zur Bildung
eigenartiger Antikörper Anlaß geben, sind die Enzyme. Zuerst wurde eine
Resistenzsteigerung gegen Emulsin von Hildebrandt beobachtet, später,
aber gelang es, gegen eine Reihe von Enzymen wirkliche Antikörper dar-
zustellen. Am besten untersucht ist das Antilab und zwar von Morgen-
roth!). Das Serum einer mit Lab vorbehandelten Ziege hemmt in zahlen-
mäßig erkennbaren Verhältnissen die Wirkung des Labfermentes, und zwar
ist diese Hemmung so spezifisch, daß der Antikörper gegen pflanzliches Lab
die Labung durch tierisches nicht beeinflußt. Später hat man dann eine
ganze Reihe solcher Antienzyme aufgefunden, wenn sie auch nicht alle eine
so klare Wirkung haben, wie gerade das Antilab. Am spärlichsten sind die,
Ergebnisse bei den saccharifizierenden Fermenten, wo im wesentlichen nur die
Ergebnisse von Schütze?) auf die Existenz einer Antiamylase hinweisen.
Am wichtigsten in physiologischer Beziehung sind die Antikörper gegen
Proteasen. Man hat sie sowohl immunisatorisch herstellen können, und zwar
Sachs?) gegen das Pepsin, Achalme) gegen Trypsin, als auch vor allem
in normalen Säften und Geweben nachweisen können. Sie scheinen sehr
wichtige Funktionen im normalen Stoffwechsel zu erfüllen. Wenigstens
spricht vieles dafür, daß die Beständigkeit der lebenden Magenschleimhaut
gegen die peptische Verdauung zum Teil sicher auf der Existenz eines solchen
Hemmungskörpers beruht, und die schönen Versuche von Weinland?)
erweisen, daß die Nichtangreifbarkeit der Eingeweidewürmer im Darme auf
einer Antiprotease beruht. Dabei ist es an dieser Stelle gleichgültig,. daß
nach Annahme einiger Forscher es sich in diesem Falle nicht um einen
eigentlichen Antikörper gegen das Trypsin, sondern um eine Antikinase
handelt, welche die das Trypsin aktivierende Kinase des Darmes neutralisiert.
Man hat ja bekanntlich versucht, die Wirkung des Pankreassaftes als eine
kombinierte hinzustellen, bei der ein an sich unwirksamer Körper, das
Trypsin, durch einen ebenfalls an sich unwirksamen, die Kinase, zu einer
wirksamen Verbindung komplettiert wird. Es läge also hier eine gewisse
Analogie mit der Immunität gegen komplexe Antigene vor, wie wir sie bei
der gegen Zellen finden werden. Das ist aber, wie gesagt, hier prinzipiell
gleichgültig. Es handelt sich jedenfalls um einen Antikörper gegen ein
enzymatisch wirksames Agens. Auf die Details dieser Befunde kann ich hier
nicht eingehen, ich will nur erwähnen, daß man weiterhin Antikörper
gefunden hat gegen Oxydasen, gegen Lipase, Urease und gegen Fibrin-
ferment 6). |
Wir haben hier also sowohl normal vorhandene, als auch immunisatorisch
zu erhaltende Antikörper gegen kolloidale Lösungen, ganz vergleichbar den
Toxinen. Mutatis mutandis müssen wir also auch nach einer ähnlichen
)) Morgenroth, Zur Kenntnis d. Labenzyme, Z. f. Bakt. 27, 721, 1900. —
?2) Braun u. Schütze, Über Antidiastase, Med. Klin. 1907, Nr.19. — °) Sachs,
Über Antipepsin, Fortschr. d. Med. 20, 425. — *) Achalme, Propr. path. de la
trypsine, Ann. Past. 15, 737, 1901. — °?) Weinland, Antifermente, Zeitschr. f. Biol.
44 (1902). — °, Lit. b. Oppenheimer, Fermente II. Aufl., 1903.
ER EEG PEN
jr
Antienzyme. 639
Erklärung suchen, die auch hier wohl in einer spezifischen Bindung und Los-
lösung von Receptoren beruht. Wir kommen also dabei zu einer Beziehung
zwischen Fermenten und Toxinen, bei der die spezifische Bindung das
Tertium comparationis ist, und zwar nur diese, wie ich auch an dieser Stelle
betonen möchte, um mehrfachen mißverständlichen Auffassungen meiner
früheren Äußerungen über diese Zusammenhänge entgegenzutreten. In der
Wirkung von Fermenten und Toxinen irgendwelche Analogien zu suchen,
haben wir bisher keine Berechtigung.
Die Rolle, die man solchen Antifermenten im Zellstoffwechsel, im Ablauf
sowohl der normaleh, wie der pathologisch veränderten Funktionen zuschreibt,
ist anscheinend noch immer im Wachsen; man neigt dazu, anzunehmen, daß
sie ganz allgemein die fermentativen Vorgänge innerhalb der Gewebe in den
normalen Grenzen zu halten haben, und daß mit ihrer Ausschaltung sich
durch übermäßige Steigerung abnorme Prozesse ausbilden. In erster Linie
gilt dies wohl für die autolytischen Enzyme. Doch können wir diesen Faden
hier nicht weiter ausspinnen, weil dies Gebiet nicht eigentlich zum Kapitel
Immunität gehört. i
Diese Vorgänge sind aber an sich in doppeltem Sinne interessant,
chemisch, weil sie die weite Verbreitung der Antikörperbildung durch Kolloide
zeigen, biologisch, weil sie die spezifische Bindung und dementsprechende
Bildung von Antikörpern als einen auch im normalen Haushalt des Organis-
mus wichtigen Vorgang aufdecken, und nicht, wie man zuerst anzunehmen
geneigt war, als einen nur auf sehr fremdartige Reize, nämlich Toxine, hin
wirksamen.
Es ist indessen die Fähigkeit der Kolloide, als Antigene zu fungieren,,
damit nicht erschöpft. Wir finden noch weiter, daß auch die Kolloide, die als
Antikörper fungieren, wiederum als Antigene benutzt werden können, und
nun ihrerseits neue Antikörper bilden. Dies gilt in erster Linie von den
Amboceptoren der Immunsubstanzen, vielleicht auch von den Komplementen.
Die spezifischen Immunsubstänzen, die bei der Immunität gegen Zellen
die wichtigste Rolle spielen, die Agglutinine, die hämolytischen Ambo-
ceptoren usw., sie-sind fast alle befähigt, bei ihrer Einführung in den leben-
den Organismus wiederum als Antigene zu fungieren, und Antiagglutinine und
Antiamboceptoren zu bilden.
Es scheint auch allen diesen Kolloidsubstanzen, die spezifische Wirkungen
entfalten, eine weitere Antigeneigenschaft nicht zu mangeln, die wir bei den
Toxinen gefunden haben, nämlich die Eigentümlichkeit der Toxoidbildung,
die Veränderung zu Stoffen, bei denen zwar die spezifische Wirksamkeit
erloschen oder. erheblich verändert ist, bei denen aber die Antigennatur
erhalten ist, die also noch Antikörper bilden können. Die Existenz von
Fermentoiden ist wahrscheinlich (Cramer!), die von Präzipitoiden, Agglu-
tinoiden noch sicherer, und sogar für die Existenz von Amboceptoiden sprieht
manches.
Wir sehen also einen ausgesprochenen Zusammenhang aller dieser Sub-
stanzen mit Antigennatur, einen Zusammenhang, der auf die allen gemein-
same Eigenschaft der spezifischen Bindung zurückgeht, und damit diese
!) Bearn u. Cramer, On Zymoids, Biochem. Journ. 2, H.4, 1907.
640 Immunität gegen Zellen.
Fähigkeit als eine außerordentlich wichtige biologische Anpassung doku-
mentiert.
So außerordentlich kompliziert, wie wir gleich sehen werden, die Er-
scheinungen der Immunität gegen Zellen sind, die noch viele Rätsel darbietet,
so geht doch dieses biologische Grundprinzip wie ein roter Faden hindurch
und erleichtert auch die ganz aphoristische Orientierung, die wir im Rahmen
dieses Werkes allein geben können.
II. . Die Immunität gegen Zellen.
Die Erforschung der Immunität gegen Zellen ist ausgegangen von den
praktischen Bedürfnissen der Bakteriologie.e Nachdem man die Entdeckung
gemacht hatte, daß das Überstehen einer bakteriellen Erkrankung oft eine
zeitliche oder dauernde Resistenz gegen eine erneute Infektion gewährt, nach-
dem man dann gelernt hatte, unter gewissen Bedingungen durch eine experi-
mentelle Einführung von Keimen diesen Schutz absichtlich zu bewirken, ferner
in dem Bestreben, die angeborene Resistenz gewisser Lebewesen gegen eine
bakterielle Erkrankung aufzuklären, hat man sich Mühe gegeben, die Ursachen
dieser Anpassungen zu finden. Mit fortschreitender Erkenntnis teilte sich
bald das scheinbar einheitliche Problem in mehrere differente Teile. Man
lernte einerseits, daß ein Teil der Fälle auf der Ausbildung von Antitoxinen
beruht, lernte ferner, daß bei der angeborenen Immunität häufig ganz andere
Mechanismen vorhanden sind als bei der erworbenen. So wurde schon die
Problemstellung eine immer kompliziertere.. Diese Schwierigkeit wuchs aber
leider immer mehr an, je mehr man in die Einzelheiten der Immunitätsvor-
gänge hineinleuchten konnte. Wie dies so häufig geschieht, wuchsen zwar
aus der Fülle der Beobachtungen gewisse große Hauptzüge immer deutlicher
heraus, so daß man sie als Grundmerkmale der Einzelheiten ansehen konnte,
aber diese Schemata passen eben nicht absolut, es gibt Übergänge und
Schwierigkeiten, wo man anfaßt. Dazu kommt, daß gewisse Fragen auch
rein experimentell noch ungenügend geklärt sind, daß man außerdem über
sichergestellte tatsächliche Befunde sehr geteilter Meinung ist usw. Eine so
kurze, einführende Darstellung, wie ich sie hier geben darf, muß nun natürlich
die großen Hauptcharaktere als etwas Sicheres ansehen, muß sie als Leit-
faden benutzen, immer mit dem Vorbehalt, daß die Dinge eben nicht so ein-
fach liegen, wie ich sie hier zeigen werde. Auf einige der wichtigsten Spezial-
fragen werde ich indessen doch gelegentlich hinzuweisen haben.
Der erste große Schnitt, den man durch das Immunitätsproblem gemacht
hat, führte zur Abtrennung der antitoxischen Immunität, wie wir sie in
den vorangegangenen Zeilen geschildert haben. Wo die Bakterien nur mit
Hilfe löslicher Giftstoffe wirken, an sich betrachtet aber harmlose Schmarotzer
sind, da ist auch die Ausbildung einer solchen Giftfestigkeit eine genügende
Anpassung.
Hier liegen also die Sachen hübsch klar: gegen einen toten chemischen
Giftstoff, ob nun von Bakterien oder sonst woher stammend, wird ein Gegen-
mittel erzeugt, und damit ist die Sache für das Tier erledigt.
Dem gegenüber steht nun die eigentliche antibakterielle Immunität,
die ein Teilproblem der Immunität gegen Zellen überhaupt ist. Sie richtet
Endotoxine. 641
sich gegen die Mikroben, welche die Fähigkeit haben, sich im Körper zu ver-
mehren. Allerdings wirken auch sie schließlich duıch Ausbildung von
Giftstoffen. Aber selbst wenn es gegen diese Giftstoffe eine Antitoxin-
bildung gibt, so würde diese nicht genügen, denn so lange die Bakterien sich
die Kıaft bewahren, im Körper weiter zu wuchern, so lange sind sie nicht
unschädlich gemacht. Der einfachste Fall wäre also der, daß der Körper
Schutzkräfte ausbildet, die weiter keine Funktion haben, als die eingedrungenen
Leiber der Bakterien zu vernichten und schließlich zum Verschwinden zu
bringen. Das wäre ein reinlich gestelltes Problem, dessen Mechanismus auf-
zuklären dann die Aufgabe wäre.
In der Tat hat man sich eine Zeitlang damit begnügt. Zwar hat man
sich von Anfang an klar gemacht, daß wenigstens einige der wichtigsten
infektiösen Bazillen schließlich auch durch Gifte wirken. Aber die Bemühungen,
diese Gifte in Beziehungen zum Immunitätsproblem insofern zu bringen, als
man Antikörper dagegen gewinnen könnte, schlugen fehl, oder gaben wenig-
stens geringfügige Resultate. Zwar konnte man aus den Leibern der Erreger
bei Cholera und Typhus Gifte isolieren, aber diese erweckten keine oder
eine ganz unbedeutende Antitoxinbildung, wenn man sie in den
Körper einführte.
Man folgte deshalb dem Beispiel Pfeiffers!), der diese Leibesgifte der
Bakterien, die Endotoxine, als solche ansprach, die keine Antigennatur
besäßen. Er vertritt die Meinung, daß selbst ein hoch immunes Tier unter
dem Einfluß der Gifte zugrunde geht, wenn man ihm genügende Dosen
gibt, und daß eine Immunität gegen diese Giftwirkung mit keinem
Mittel zu erzielen ist. Diese Lehre legte also den Schwerpunkt der Im-
munität gegen diese infektiösen Keime ganz auf das Gebiet der Bakterizidie
und vereinfachte es damit. Wenn wir die Immunität gegen Cholera und
Typhus, sowie gegen einige andere untersuchen wollen, so hätten wir eben
nur die Erscheinungen zu verfolgen, die zur Abtötung und Vernichtung der
Zellen führen. Diese Mechanismen hat man denn auch einigermaßen auf-
geklärt, wie wir unten sehen werden. Wir wollen noch hinzufügen, daß die
praktische Konsequenz dieser Lehre die war, die Immunität.gegen die lebenden
Zellen so schnell und so wirksam herbeizuführen, daß eine Vernichtung der
Zellen erfolgen konnte, ehe die Giftproduktion eine bedrohliche Höhe erreicht
hatte. Denn wenn einmal eine genügend große Menge von Keimen den
Organismus überschwemmt hatte, so konnte ein bakterizides Schutzvermögen
nicht nur nicht gegen die Giftwirkung helfen, sondern durch die angenommene
Auflösung der Leiber in größerem Maßstabe wurde sogar ein erhöhtes Frei-
werden von Giftstoffen bewirkt, die den Tod noch schneller herbeiführten.
Durch diese Theorie wurde also eine reinliche Scheidung zwischen der
antitoxischen und antibakteriellen Immunität herbeigeführt, die die Unter-
suchung natürlich erleichterte.
Jedoch blieb diese Theorie nicht ohne Widerspruch. Seit DEE hatte
die französische Schule, insbesondere Metschnikoff 2), die Ansicht verfochten,
daß auch Cholera- und Typhusbazillen Toxine bilden, die zwar sich von den
!) Pfeiffer in zahlreichen Arbeiten, Zeitschr. f. Hyg. 11 u. ff., siehe auch das
Sammelreferat von A. Wolff, Biochem. Zentralbl. 2. — ?) Metschnikoff, Im-
munität bei Infektionskrankheiten, Deutsch von .J. Meyer, Jena 1902.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 41
642 Virulenz.
eigentlichen Toxinen unterschieden, aber immerhin die Antigennatur besaßen,
also Antitoxine bilden konnten, wenn auch nicht in dem Maßstabe wie
der Diphtheriebazillus. In jüngster Zeit ist diese Annahme insbesondere von
Kraus!) mit Eifer aufgenommen worden, der der Pfeifferschen Lehre von
den Endotoxinen ohne Antigennatur Fehde angesagt hat. Allerdings hat
Pfeiffer noch durchaus nicht kapituliert, im Gegenteil ist die Erage noch
im vollen Fluß. Jedenfalls also müssen wir eventuell damit rechnen, daß
sich die Frage der Immunität gegen diese Keime wesentlich kompliziert.
Andererseits wissen wir, daß die Fähigkeit jeder Zelle, im Organismus eine
Antikörperreaktion auszulösen, durchaus nicht etwa vor den reinen Toxin-
bildnern Halt macht. Wenn wir giftfrei gemachte Diphtheriebazillen in den
Körper einführen, so bildet sich auch hier eine antibakterielle Reaktion aus,
die zur Entstehung von spezifischen Immunkörpern führt. Nur spielt hier
diese Erscheinung praktisch eine sehr geringe Rolle, weil die Stoßkraft der
Diphtheriebazillen eben ganz eng mit ihrer Toxinwirkung verknüpft ist, sie
ohne diese Waffe harmlose Schmarotzer werden. Auf dem anderen Ende
stehen Bakterien, bei denen es überhaupt noch nicht gelungen ist, irgend
welche Giftstoffe spezifischer Natur aufzufinden, bei denen also die Immunität
sich ausschließlich gegen die Leiber selbst wendet. Hierzu gehört vor allem
der Milzbrand, wahrscheinlich auch .die Tuberkulose.
Bei diesen wären also die Mechanismen der rein antibakteriellen
Immunität am leichtesten zu studieren, wenn sich hier nicht wieder
andere Hindernisse in den Weg stellten, die auf Abweichungen anderer Art
schließen lassen.
Theoretisch könnten wir also eine scharfe Grenzlinie ziehen zwischen
toxischen Bakterien, gegen die sich eine antitoxische, und rein infek-
tiösen Bakterien, gegen die sich eine nur auf die Vernichtung der Leiber
gerichtete Immunität ausbildet. In Wirklichkeit scheint es aber allerlei
Übergänge zu geben, die von einem Pol zum anderen führen. Man hätte
dann mit wechselnden Verhältnissen von Stoßkraft durch Toxinwirkung und
Infektiosität, von antitoxischer und antibakterieller Immunität zu rechnen.
Wir stoßen bei allen diesen Betrachtungen immer wieder auf den Begriff
der Virulenz der Bakterien, den wir nun etwas genauer definieren müssen.
Zunächst wurde dieser Begriff eingeführt, um einen präzisen Ausdruck für
eine nicht näher zu bestimmende Größe zu haben. In dem Kampfe zweier
Lebewesen, der sich entspinnt, sobald eine Infektion des Tieres stattgehabt
hat, müssen wir von vornherein mit zwei Variablen rechnen: Die eine
ist die Gesamtheit der Widerstandskräfte des Tieres, seine Resistenz,
die andere die Gesamtheit der schädlichen Kräfte des Bakteriums,
seine Virulenz. Beide Werte können in den weitesten Grenzen schwanken.
Wir wissen, daß die Resistenz gegenüber einer Infektion mit bestimmten
Keimen so weit gehen kann, daß wir von einer angeborenen Immunität
sprechen dürfen, und daß diese Resistenz sowohl von der Tierart wie von
allen möglichen individuellen Faktoren abhängig ist. Ebenso wissen wir,
!) Kraus, Gifte des Choleravibrio, Wien. klin. Wochenschr. 22 (1906), sowie
Vortrag in Sektion I des Internat. Hyg.-Kongr. Berlin 1907; Zentralbl. f. Bakt.
45 (1907).
ee
Infektion. 643
daß auch die Virulenz nicht nur bei verschiedenen Mikroben total verschieden
sein, sondern auch bei derselben Art innerhalb einzelner Rassen und Stämme
außerordentlich schwanken kann, daß sogar dieselbe Kultur ihre kLigenschaften
tiefgreifend verändern kann, wenn sie altert oder ihr Milieu künstlich ge-
ändert wird, besonders durch Tierpassage bzw. Nährbodenkultur. Der Begriff
der Virulenz umfaßte also eine Gesamtheit von verschiedenen Eigenschaften,
die in ihrem Wirken den Erfolg hatten, eine Erkrankung des Tieres herbei-
zuführen. Die beiden Hauptsachen waren dabei die Toxizität und die Ver-
mehrungsfähigkeit im lebenden Organismus. Beide brauchen absolut nicht
parallel zu gehen. Die Toxizität läßt sich, wie wir gesehen haben, auf die
Produktion bestimmter Stoffe seitens der lebenden Bakterienzelle zurück-
führen. Der Vermehrung innerhalb des lebenden Gewebes schrieb man zu-
nächst einen rein vitalen Charakter zu. Während wir sonst wissen, daß
die Gewebe des lebenden Organismus an sich absolut steril sind, daß jedes
fremde zellige Element in ihnen durch die Schutzkräfte des Organismus ab-
getötet und vernichtet wird, mußte man eben den schädlichen Bakterien die
Sonderheit zuschreiben, diesen Schutzkräften gewachsen zu sein.. Das ergab
die einfache Beobachtung, die es erzwang, den sogenannten infektiösen Bak-
terien eine ganz andere Kraft zuzuschreiben als den harmlosen oder rein
toxischen Bakterien, die in den Säften des lebenden Körpers schnell ver-
nichtet werden, wie z.B. Bacillus subtilis und Bacillus telani. Weil nun meist
auf das Eindringen lebender Keime eine Erkrankung erfolgt, so setzte man
schon das Eindringen selbst als den Beginn der Erkrankung an und identifi-
zierte die Begriffe Infektion und Infektionskrankheit fast ab-
solut. A priori ist das unberechtigt. Es fehlt ein Zwischenglied. Denn
es könnten sich wohl Bakterien finden, die zwar Infektiosität besitzen, also
im lebenden Gewebe gedeihen können, ohne aber ihrem Wirte irgendwie zu
schaden. Bekanntlich sind solche Fälle dort realisiert, wo Bakterien nach
überstandener Erkrankung noch lange Zeit im Körper erhalten blieben, wie
z. B. beim Typhus in der Gallenblase usw. Diese Schädigung wäre der zweite
Akt, bedingt wohl meist durch die Wirkung von Giften, sei es nun von
Antigennatur oder anderweitigen. Doch gibt es auch noch andere Möglich-
keiten. Es ist wohl denkbar, daß die Ansiedelung von Bakterien im lebenden
Gewebe einfach dadurch schädlich wirkt, daß sie dort Kolonien bilden, die
Gewebe des Körpers angreifen und verdauen, dadurch die Funktion schwer
schädigen, und daß dann vielleicht erst beim Zerfall dieser angegriffenen Ge-
webe ganz sekundär toxische oder pyrogene Stoffe entstehen, die weiter schädlich
wirken. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß solche Verhältnisse bei
der Infektion mit Milzbrand, ferner auch mit Tuberkulose, Aktinomykose usw.
eine Rolle spielen. Es sei an dieser Stelle noch auf eine andere Möglichkeit
hingewiesen, auf die Grassberger und Schattenfroh!) bei ihren Studien
über den Rauschbrand der Rinder aufmerksam gemacht haben. Sie sind zu
der Überzeugung gekommen, daß hier die Annahme eines Giftes nicht aus-
reicht, sondern daß die Bakterien dadurch schädlich wirken, daß sie wichtige
Stoffwechselsubstanzen, wohl vergleichbar den Hormonen Starlings,
!) Grassberger u. Schattenfroh, Antitoxische u. antiinfektiöse Immunität,
Akad. Wien, Abt. III, 114, 1905.
41*
644 Aggressine.
verbrauchen und damit die Harmonie des Haushaltes tiefgreifend stören. Eine
weitere Verfolgung dieser interessanten Anregung wird vielleicht neue Auf-
schlüsse bringen.
Uns interessieren diese Dinge hier vor allem. aus dem Grunde, weil sie
darauf hindeuten, daß die Fähigkeit der Bakterien, sich innerhalb des lebenden
Gewebes zu vermehren, eine Fähigkeit an sich zu sein scheint, die mit allen
anderen, so auch mit der Giftproduktion in keinen unmittelbaren Konnex zu
setzen wäre. Dann kommen wir auch leicht zu der Idee, daß diese Fähigkeit,
die die virulenten Bakterien von den harmlosen scheidet, auf besonderen
Kräften beruhen möge, die wir nun wieder bestimmten Sekretionsprodukten
der Mikroben zuzuschreiben hätten. Und damit kommen wir auf ein ganz
modernes, sehr heftig umstrittenes Gebiet, nämlich die Aggressine !). Bail?)
hat in Verfolgung solcher Ideen die Annahme gemacht, daß die pathogenen
Mikroben chemische Stoffe sezernieren, die die Fähigkeit haben, die Angriffs-
kräfte des Organismus, speziell die Phagocyten, zu lähmen, und die dadurch
die Verbreitung der Keime erst ermöglichen. Er nimmt an, daß nach der
primären Ansiedelung der Keime an der Einbruchsstelle zuerst die Abschei-
dung dieser Aggressine beginnt, die nunmehr erst das umliegende Gewebe
so weit bearbeiten, daß hier die Bakterien sich vermehren können. Dann
dringen sie in die Säfte ein und bahnen auch hier den Weg für die nach-
drängenden lebenden Keime. Der Nachweis dieser Stoffe gelingt dadurch,
daß sie Antigennatur besitzen, daß sie also bei der Einführung von sterilen
Exsudaten, Ödemen usw., die Aggressine ‘enthalten, in frischen Individuen
Antiaggressine erzeugen, die nun wiederum als Schutzstoffe gegen die
Wirkung der Aggressine bei einem dritten Tiere wirken können; indem sie
die primären Bedingungen für die Entwickelung der Keime verschlechtern,
wirken sie schützend: die Infektion kann nicht haften, der Keim wird im
letzten Schluß auf das Niveau eines harmlosen Schmarotzers herabgedrückt.
Die Aggressine sind nach Bails Ansicht keine Gifte. Er konnte den
sterilen Gewebssaft einer Stelle, wo sich Bakterien entwickelt hatten, in
großen Mengen einem Versuchstier injizieren, ohne daß sich irgend welche
toxischen Wirkungen zeigten, nur die Entstehung der Antiaggressine bewies,
daß hier überhaupt ein aktives Agens in den Tierkörper eingeführt worden
war. Er tritt also der Auslegung, daß seine Aggressine identisch mit den
Endotoxinen der Leiber sind, entgegen. Dagegen kann er durch Mischung
von Äggressin mit einer untertödlichen Dosis von lebenden Bakterien eine
schnelle Verbreitung und den Tod herbeiführen, bei etwas größeren Dosen
entschieden den tödlichen Ausgang beschleunigen. Daß es sich hier nicht
etwa um Körperstoffe handelt, die unter dem Einfluß der Bakterien’ entstehen,
sondern um Sekretionsprodukte der Keime selbst, zeigen die Versuche von
Citron®), der den Bailschen Aggressinen analoge Körper auch in vitro aus
Bakterienkulturen verschiedener Art erhalten konnte. Interessant sind ferner
‘) Die sehr große Literatur pro und contra Aggressine s. bei Levaditi im
Handbuch der Technik der Immunitätslehre von Kraus und Levaditi 1, Jena
1907. — ?) Bail z. B.: Natürliche und künstliche Milzbrandimmunität, Zentralbl.
f. Bakt. 36, 266, 1904. Vortrag auf dem Internat. Hygiene-Kongreß Berlin 1907,
dazwischen eine ganze Reihe von Arbeiten. — ®) Citron in einer Reihe von Ar-
beiten, z. B. Zentralbl. f. Bakt. 41, 230, 1906; Zeitschr. £. Hyg. 53, 515, 1906.
Bactericidie. 645
die Beziehungen, die man neuerdings zwischen Aggressivität und Kapsel-
bildung pathogener Bazillen aufgefunden hat.
Wenn diese Ansichten, die noch in starker Polemik stehen, sich be-
stätigen, so wäre den Mechanismen der Immunität gegen bakterielle Infektion
ein ganz neuer angegliedert, nämlich die antiaggressive Immunität. Die
Antiaggressine, die Bail immunisatorisch erzeugen konnte, sind ja weder
Antitoxine noch bakterizide Substanzen, sie neutralisieren weder die Gifte
noch vernichten sie die Leiber der Bakterien. Sie beseitigen nur die Möglich-
keit, daß der Keim sich zunächst an der Einbruchsstelle lebhaft verbreitet,
und später, daß er seine Vermehrung im Körper energisch fortsetzt. So kann
man ihre Wirkung sehr leicht in der Praxis mit der bakteriziden verwechseln,
da sie wie diese machtlos ist, wenn erst eine sehr erhebliche Vermehrung
einmal eingetreten ist. Ob dann die bakteriziden Kräfte die Vernichtung
der Zellen besorgen oder ein Antiaggressin ihre Vermehrung ausschaltet:
wenn keine antitoxische Immunität dazu kommt, so sterben eben die Tiere
an der Giftwirkung trotz aller hoch getriebener antibakterieller Immunität.
Und das macht die Aggressinfrage für uns so wesentlich. Sie bedeutet
wieder eine neue Komplikation auf dem Gebiete der Immunität gegen die
lebenden Erreger, mit der wir zu rechnen haben, wollen wir im Einzelfalle
die Mechanismen der Anpassung, die einzelnen Phasen im Kampfe zwischen
Tier und Bakterium studieren. Schon diese aphoristischen Andeutungen geben
uns ein Bild, das uns zeigt, wie wenig bei der antibakteriellen Immunität
ein Schematisieren am Platze ist. In sehr vielen praktischen Fällen gehen
alle drei Möglichkeiten nebeneinander her, die gewonnenen Immunsera können
antitoxische, bakterizide und antiaggressive Stoffe enthalten.
Und doch ist es nötig, wenn wir überhaupt und speziell von unserem
schließlich doch rein biologischen Standpunkte aus ein Bild von dem Zu-
standekommen der antıbakteriellen Immunität bekommen wollen, hier alle
Nebenreaktionen auszuschalten und uns ausschließlich mit der bakteriziden
Immunität zu befassen. Die bei der antiinfektiösen Immunität etwa mit-
spielenden Antitoxine werden sich in prinzipiellen Dingen nicht anders ver-
halten wie ‘die gegen die echten, von uns ausführlich beschriebenen Toxine,
und von den Antiaggressinen als solchen wissen wir zunächst noch gar nichts,
können aber wohl annehmen, daß sie auch in den Rahmen der Antikörper-
bildung durch Kolloide fallen, wie wir sie gekennzeichnet haben. Es bleibt
also für die theoretische Betrachtung hier nur noch der Mechanismus der
Abwehr gegen die Bakterienzelle, der prinzipiell nur einen Sonderfall der
allgemeinen Abwehr gegen jede fremde Zelle darstellt.
Der Mechanismus der bakteriziden Immunität.
Wenn wir also nach den vorangegangenen Darlegungen von den Kompli-
kationen, die mit der Immunität im ganzen verknüpft sind, absehen und die
reine bakterizide Immunität untersuchen, so stoßen wir auf zwei Grund-
anschauungen, beide seit Jahren von vielen Forschern verteidigt, zwischen
denen eine definitive Entscheidung noch nicht zu treffen ist. Vieles ist in
den zwei Dezennien von den trennenden Mauern abgetragen worden, manche
Diskordanzen haben sich geklärt, aber im Prinzip bestehen beide neben-
einander und müssen beide geschildert werden.
646 Phagocytentheorie.
Zeitlich die ältere ist die Metschnikoffsche Phagocytenlehre!), die
in ihrer ursprünglichen Form alle Immunitätserscheinungen auf die aktive
Tätigkeit der Leukocyten zurückführen wollte, die lebende, noch voll-
virulente Bakterien fressen und damit unschädlich machen sollten. Metschni-
koff und seine Schüler haben in zahlreichen. Arbeiten ein unermeßliches
Material für seine Anschauung zusammengetragen, das keinesfalls vernach-
lässigt werden darf. An der Fähigkeit dieser Zellen, geformte Elemente
aufzunehmen und zu verdauen, darf obnehin nicht gezweifelt werden, ihre
Rolle bei der Verdauung besonders der niederen Tiere ist über jeden Zweifel
erhaben und speziell von Metschnikoff selbst an unzähligen Beispielen
demonstriert worden. Auch das ist sicher, daß man bei jeder bakteriellen
Invasion Keime im Innern von Phagocyten auffindet. Die Frage spitzt sich
vielmehr dahin zu: Nehmen die Leukocyten tatsächlich lebende voll-
virulente Keime auf und können sie sie vernichten, und wenn dies der Fall,
ist diese Tätigkeit quantitativ für eine Erklärung der Immunitätserschei-
nungen ausreichend? In dieser Form gestellt, ist nun die Frage tatsächlich
mit Sicherheit negativ zu beantworten. Metschnikoff selbst hält seine An-
sprüche in dieser Totalität wohl kaum noch aufrecht. Wohl hat er Fälle
beschrieben, wo ihm der Nachweis gelang, daß lebende Keime, so die Spirillen
der Gänseseptikämie, tatsächlich in lebendem Zustande von Phagocyten
aufgenommen wurden. Es sind besonders die polymorphkernigen Leuko-
cyten, denen er spezielle Fähigkeiten zur Bakterienvernichtung zuschreibt,
seine Mikrophagen, während den Lymphocyten, seinen Makrophagen,
mehr die Fähigkeit zur Vernichtung anderer zelliger Elemente, z. B. Blut-
körper, zukommen soll. Er hat ferner in sehr vielen Fällen den Nachweis
geführt, daß der günstige Ausgang einer Infektion in engem Zusammenhang
mit einer erheblichen Anhäufung von Phagocyten steht, daß sie andererseits
bei einem letalen Ausgange nur in geringer Zahl vorhanden waren. Alle
diese zahllosen Beobachtungen hat er in seinem großartigen Werke über
Immunität niedergelegt.
Und doch ist es, wie gesagt, sicher, daß die Theorie sich in der ur-
sprünglichen Fassung nicht aufrecht erhalten läßt. Einerseits ist es mehr
als bloß wahrscheinlich, daß die Phagocyten nur gelegentlich vollvirulente
lebende Erreger nicht nur aufnehmen, sondern wirklich vernichten, daß sie
vielmehr häufig selbst nach der Aufnahme solcher Keime zugrunde.
gehen und nur für die Weiterverschleppung sorgen. Ferner, daß ihre Haupt-
tätigkeit darin besteht, abgestorbene oder wenigstens stark abgeschwächte
Keime aufzunehmen und definitiv zu beseitigen. Außerdem aber sind die
Ergebnisse der Forschung über die spezifischen bakterienfeindlichen Stoffe,
auf die wir unten eingehen werden, so sicherer Besitz geworden, daß sich
auch Metschnikoff ihnen nicht verschließen kann. Der Streit hat sich also
jetzt viel mehr auf die Frage hinübergespielt, ob die definitive Vernichtung
der mit Immunkörper beladenen Bakterien sich innerhalb der Leukocyten
oder frei in den Säften vollzieht, und ob die bakterienfeindlichen Komplemente
Produkte der Phagocyten sind. Damit bekommt sie also ein ganz anderes
!) Metschnikoff, Immunität bei Infektionskrankheiten, Deutsch von J. Meyer,
Jena 1902.
Rn
a
: Opsonine. 647
Gesicht, denn wenn man einmal zugibt, daß die aktive Tätigkeit der Freß-
zellen es nicht oder nur zum kleinsten Teile ist, die’die Bakterien vernichtet,
so ist der Kern der alten Phagocytenlehre gefallen und es bleiben nur Diffe-
renzpunkte zweiten Ranges übrig. Wir können uns also kurz dahin resü-
mieren, daß ohne Zweifel die Leukocyten eine wichtige Rolle in den ver-
schiedenen Phasen der meisten Bakterien vernichtenden Prozesse spielen, daß
sie aber eine alleinige oder ausschlaggebende Rolle nicht besitzen. Wie weit
dies in jedem einzelnen Falle geht, ist teils überhaupt noch mangelhaft
erforscht, teils noch Gegenstand der Kontroverse. Es hängt auch wahr-
scheinlich noch von allerlei Nebenumständen ab. Jedenfalls würde uns ein
weiteres Eingehen auf Details in keiner Weise über die Schwierigkeiten hin-
weghelfen, daß eine absolute Entscheidung bislang nicht zu treffen ist, denn
die meisten Versuche, die angestellt sind, lassen je nach dem Standpunkt
eine. verschiedene Beurteilung zu. Auf die Frage, welche Bedeutung die
Leukocyten als Träger gewisser chemischer Wirkungen innerhalb der Theorie
der spezifischen Immunkörper spielen, werden wir besser erst bei der Erörte-
rung dieser Ansicht eingehen. Nur das eine sei erwähnt, daß nach den
Beobachtungen Bails die Leukocyten in erster Linie der Angriffspunkt seiner
Aggressine sind und umgekehrt eine Rolle bei der Antiaggressinimmunität
spielen. Da, wie wir oben sahen, Bail diesen Vorgang als einen von der
rein bakteriziden Immunität verschiedenen ansieht, so würden die phagocytären
Prozesse eventuell auf beiden Gebieten mitspielen, und dadurch würden die
Verhältnisse noch unklarer werden, als sie ohnehin schon sind. Denn da bei
der -Immunisierung in der Praxis alle diese Beziehungen durcheinandergehen,
so müßte man nun wieder die Rolle der Phagocyten für die einzelnen Phasen
dieser Prozesse auseinanderzuspinnen suchen.
Eine wesentliche Bereicherung und Neubelebung hat die Piiägöeyten-
lehre abgesehen von der, wie gesagt, stark bestrittenen Aggressintheorie
Bails durch die Lehre von den Opsoninen gefunden, die auch praktisch
eine große Wichtigkeit zu besitzen scheinen. Wright!) fand im normalen
und im Immunserum gegen verschiedene Bakterien Substanzen, die die-eigen-
tümliche Fähigkeit haben, die Bakterien anzugreifen und sie damit der
phagocytären Einwirkung zugänglich zu machen. Während ohne diese Op-
sonine die Phagocytose lebender Keime, wie wir erwähnten, ein unsicherer
und in seiner wirklichen Bedeutung nicht leicht abzuschätzender Vorgang
ist, sollen die Opsonine je nach der Menge ihres Vorhandenseins den Prozeß
stabilisieren und verstärken. Im normalen Serum kommen nur thermolabile
Öpsonine vor, während in Immunseris auch thermostabile vorkommen, die mit
den von Neufeld2) beschriebenen bakteriotropen Substanzen völlig
identisch zu sein scheinen.
Der „opsonische Index“, den man dadurch findet, daß man im Blut-
präparat eines Patienten die Zahl der von 100 Leukocyten gefressenen
Bakterien zählt und dann auf die Durchschnittsmenge der Leukocyten um-
rechnet, spielt heute in der Diagnose der Infektionskrankheiten und der
') Wright and Douglas, On the action upon the Staphyl, by human
blood ete. Proc. Roy. Soc. 74, 147, 1904 ete. — ?) Neufeld und Rimpau, Antik.
des Streptok.- und Pneumok.-Immunserums, Deutsche med. Wochenschr. 1904, Nr. 40.
648 Alexine.
Prognosenstellung eine immer größere Rolle. Für die Therapie ist die Beob-
achtung nutzbar gemacht worden, daß mehrfache Injektionen von abgetöteten
Kulturen zwar zuerst durch Verbrauch der Normalopsonine den Index herab-
setzen, dann aber durch Bildung von spezifischen Immunopsoninen sehr
erheblich steigern und dadurch die Phagocytose zu einer therapeutisch in
Betracht kommenden Höhe bringen. Man will namentlich bei Staphylokokken
und Tuberkulose Erfolge erzielt haben. Diese Seite der Frage interessiert
bier weniger, wohl aber die rein theoretische Seite. Wenn sowohl die Ag-
gressine als auch die Opsonine zu Recht bestehen, so haben wir für jede der
beiden Phasen der Phagocytose eine chemische Substanz verantwortlich ge-
macht: Die Aggressine hindern die Leukocyten, zu fressen, die
Opsonine schwächen die Keime so, daß. sie den Angriffskräften
keinen-energischen Widerstand mehr entgegensetzen können. Ein
sehr schönes Bild, nur leider noch nicht in allen seinen Teilen exakt erwiesen.
So steckt die ganze Phagocytenlehre noch voller ungeklärter Fragen.
Eine Bedeutung haben sie zweifellos, aber wie weit die intracelluläre Ver-
nichtung in jeder Form von ausschlaggebender Wichtigkeit ist, können wir
auch heute noch, nach 20 jähriger Arbeit, nicht sagen.
Mit der Entscheidung über diese Frage schwankt aber auch die reziproke
Wichtigkeit der anderen Anschauung, nämlich der Lehre von der extra-
cellulären Vernichtung, auf die wir nun genauer eingehen müssen.
Diese Theorie geht auf eine Beobachtung von Fodor zurück, der zuerst
eine schädliche Wirkung eines Serums auf lebende Keime beobachten konnte.
Bedeutung erlangte sie jedoch erst, als Hans Buchner!) seine klassischen
Versuche über die Auflösung bzw. Wachstumsverhinderung von Bakterien im
Serum normaler Tiere und nach der Immunisierung machte. Die grund-
legende Tatsache ist die, daß das Blutserum eine energisch keimtötende Kraft
besitzt, die für jedes einzelne Tier und jedes einzelne Bakterium sehr ver-
schieden sein kann. Schließlich aber erlischt sie, und nun bilden die Sera
einen guten Nährboden für die Keime. Buchner schloß aus seinen Ver-
suchen auf die Existenz besonderer bakterienfeindlicher Stoffe im Blute, die
er als Alexine bezeichnet hat. Obwohl zuerst von verschiedenen Seiten die
Existenz dieser Körper stark in Zweifel gezogen wurde und besonders von
Baumgarten und A. Fischer alle Schädigungen der Keime auf osmotische
Erscheinungen und Veränderungen der Nährböden zurückgeführt wurde, so
ist diese Anzweiflung sicher nicht zu Recht bestehend, die Existenz bestimmter
Stoffe sichergestellt. Trotzdem kam man damit nicht recht weiter: Diese
Stoffe waren ja auch in normalen Seren vorhanden, sie konnten wohl einen
Fingerzeig geben, warum der Körper gewisse Resistenzen zeigen kann, sie
waren aber niemals imstande, die verwickelten Verhältnisse, die der Spezifität
der Schutzwirkungen zugrunde liegen mußten, in befriedigender Weise aufzu-
klären. Außerdem erschien die Wirkung so vorübergehend, so labil, daß sie
nicht viel besagen konnte. Dies wurde erst anders, als Pfeiffer?) seine
denkwürdigen Versuche machte, in denen er ein ganz neues Licht auf die
Hauptfrage, die Spezifität der Erscheinungen, warf. Daß Meerschweinchen-
'!) Hans Buchner, Münch. med. Wochenschr. 1899 u. 1900. — ?) Pfeiffer,
Ein neues Grundgesetz der Immunität, Deutsehe med. Wochenschr. 1896, Heft 7 u. 8.
Pfeiffersches Phänomen. 649
serum von immunisierten Tieren eine schädliche, schnell erlöschende Wirkung
auf Choleravibrionen hatte, war bekannt. Pfeiffer zeigte nun aber, daß,
wenn man Üholeravibrionen, gemischt mit einem solchen unwirksam gewor-
denen Immunserum, in die Bauchhöhle von Meerschweinchen einführte, daß
dann die Wirksamkeit wiederkehrte, daß die Vibrionen hier schnell Absterbe-
erscheinungen zeigten, die zur Granulabildung und Auflösung führten: das
sogenannte Pfeiffersche Phänomen. - Pfeiffer selbst beschrieb, daß auch
Ziegenimmunserum in der Bauchhöhle des Meerschweinchens seine Aktivität
wiedererlangt, und Moxter!) erreichte dasselbe durch Zusatz von Bauch-
höhlenexsudat eines Meerschweinchens zum Immunserum. Den wichtigsten
weiteren Schritt tat dann Bordet ?), der zeigte, daß auch einfaches frisches
Serum dieselben Dienste leistet, und zwar kann man für die meisten Fälle
jedes beliebige frische Serum verwenden. Die Reaktion an sich erwies sich
als spezifisch, d. h. das vorher durch Immunisierung mit Cholera erlangte
Immunserum, das seine bakteriziden Wirkungen allmählich verloren hatte,
war nach dem Zusatz frischen Serums wieder nur gegen Cholera wirksam.
Bordet zeigte ferner, daß man die allmähliche Abnahme der Wirksamkeit
sofort erzielen konnte, wenn man das noch wirksame Immunserum auf 55°
erwärmt. Immerhin waren die Versuche mit lebenden Mikroben zu kompli-
ziert, als daß man an ihnen ohne viele Schwierigkeiten die leitenden Gesetze
dieser Erscheinungen hätte abstrahieren können. Dafür brauchte man ein
leichter übersichtliches Operationsfeld, und dies fand man im Studium der
Erscheinungen der Hämolyse.
Bordet hatte zuerst gesehen, daß das Serum einiger Tierarten imstande
ist, die roten Blutkörper anderer Tiere so zu verändern, daß der Farbstoff
austreten kann. Man bezeichnet heute diesen Vorgang etwas inkorrekt, aber
präzis als Hämolyse.
Bei der engen Beziehung, die diese Schädigung einer fremden Zelle durch
das Serum zu den Wirkungen der Alexine offenbar zu haben schien, begannen
Bordet und Ehrlich ?) nun die Gesetze der Hämolyse genau zu erforschen.
Der Umstand, daß der Beginn des Austritts des roten Farbstoffs ein sehr
- leicht sichtbares und auch meßbares Reagens auf eingetretene Wirkung war.
mußte dieses Objekt als ein sehr geeignetes erscheinen lassen. In der Tat
gelang es, diesen Komplex von Erscheinungen bis in seine feinsten Details
aufzuklären, und man fand dabei Anpassungen von äußerster Mannigfaltigkeit,
auf die wir hier nur zum kleinsten Teile eingehen können.
Zwar enthalten, wie gesagt, auch schon normale Sera jene blutlösenden
Prinzipien, aber entwirren ließen sich die Verhältnisse erst dann, als man
anfing, die Reaktionen in den hämolytischen Immunseris genauer zu er-
forschen. Die grundlegenden Tatsachen, die von Ehrlich und Morgenroth,
sowie von Bordet übereinstimmend gefunden sind, sind folgende: Wenn
man einer Ziege Hammelblutkörperchen injiziert, so erlangt das Serum dieser
Ziege die Eigenschaft, Hammelblut zu hämolysieren. Diese Eigenschaft läßt
sich durch Erwärmen auf 55° vernichten, durch frisches Hammelserum da-
gegen wiederherstellen. Der Nachweis, daß es sich hier um zwei verschiedene
!) Moxter, Zentralbl. f. Bakt. 26 (1899). — ?) Bordet, Ann. Past. 1% ff. —
®) Ehrlich, Ges. Abhandlungen über Immunität, Berlin 1904.
650 Hämolyse.
Substanzen handelt, von denen die eine beim Erwärmen auf 55° vernichtet
und mit frischem Serum wieder neu zugefügt wird, wird durch Versuche mit
spezifischer Bindung erbracht. Bringt man nämlich gewaschene Blutkörper
des Hammels mit dem unwirksam gemachten Immunserum der Ziege zu-
sammen und zentrifugiert ab, so nehmen die Blutkörper etwas aus dieser
Flüssigkeit mit. Denn wenn man nun diese abzentrifugierten Erythrocyten
mit einem einfachen frischen Ziegenserum versetzt, so werden sie energisch
hämolysiert. Wenn man andererseits die Blutkörper nur in frisches Serum
hineinbringt und nach dem Zentrifugieren mit inaktivem Immunserum mischt,
so bleiben sie unverändert, und dementsprechend ist der Gehalt des Serums
an jener thermolabilen Substanz nach der Berührung mit den Blutkörpern
unverändert, denn es kann wieder jedes Immunserum aktivieren, d. h. die
Erythrocyten binden ausschließlich die thermostabile Substanz, nicht
die thermolabile. Ganz anders aber verhält sich die Sache, wenn wir in ein
Serum Blutkörper bringen, die mit der thermostabilen Substanz beladen sind.
Wenn dann die Hämolyse eingetreten ist, so ist auch die thermolabile Sub-
stanz aus dem Serum verschwunden und kann nun mit neu zugesetzten Blut-
körpern nicht wiederholt dasselbe Phänomen auslösen. Wenn also die Blut-
körper aus dem Immunserum die thermostabile Substanz gebunden haben, so
binden sie auch durch deren Vermittelung die thermolabile mit.
Die einfachste Erklärung dieses Vorgänges ist die von Ehrlich gegebene.
Die Blutkörper binden spezifisch die thermostabile Substanz, der Ehrlich
den Namen Amboceptor gegeben hat. Dieser Amboceptor bindet nun
seinerseits wieder die thermolabile Substanz, das Komplement. Das letztere
ist das eigentlich wirksame Prinzip der Hämolyse, es kann aber auf die
Erythrocyten im allgemeinen nicht wirken, weil es keine passende Haptophore
hat. Diese finden wir nur am Amboceptor. Der muß also nach dieser
Anschauung zwei Haptophoren haben, eine cytophile, mit der er sich an die
Zelle spezifisch bindet, und eine komplementophile, mit der er das Komplement
mit Hilfe einer passenden Haptophore an sich fesselt. Weil also der Ambo-
ceptor zwei Haftgruppen enthalten soll, hat er seinen Namen erhalten. Die
Amboceptoren sind die Träger der Spezifität, denn ein durch Immunisierung '
von Ziegen gegen Hammelblut erhaltenes Serum löst nur Hammelblut und
allenfalls noch das sehr nahe verwandter Tiere. Das Komplement ist dagegen
nur in sehr beschränktem Maße spezifisch, insofern als man für viele Ambo-
ceptoren immer dasselbe Serum benutzen kann, und andererseits dasselbe
System Blutkörper—Amboceptor durch eine Reihe von normalen Seris akti-
vieren kann. Das Komplement hat man vielfach mit den Enzymen verglichen,
doch ist dieser.Vergleich sehr vorsichtig aufzufassen, da in der Wirkung, vor
allem aber in der Tatsache, daß die Komplemente bei ihrer Wirkung völlig
verbraucht werden, sehr bedeutende Unterschiede aufzufinden sind.
Die Ehrlichsche Theorie steht, wie leicht erkenntlich, in engem Zu-
sammenhang mit seiner Gesamtauffassung der Immunitätsprobleme, mit seiner _
Seitenkettentheorie. Der Amboceptor entspricht dem einfachen Antitoxin.
Auf den Reiz der fremden Zelle hin wird er als normale Seitenkette los-
gerissen, genau wie jene. Aber er ist kein einfacher Uniceptor wie die
Antitoxine, sondern er ist komplizierter gebaut, er trägt noch eine zweite
Haptophore, an die er erst das eigentliche Werkzeug der Vernichtung, das
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Cytotoxine. 651
Komplement, bindet. Nur wenn durch diese spezifische Bindung das Komplement
direkt auf das Antigen, also die fremde Zelle, konzentriert wird, kann es auf
sie wirken, es kommt zur Hämolyse. Als solche Antigene wirken im all-
gemeinen nur fremde Zellen, jedoch brauchen es nicht unbedingt Blutkörper
anderer Tierarten zu sein. Wenigstens bilden sich in vielen Fällen auch
gegen das Blut anderer Individuen derselben Art sogenannte Isolysine aus,
doch ist dieses Phänomen sehr inkonstant. Für das Auftreten von Auto-
lysinen, die also beim Injizieren des eigenen Blutes entstehen sollten, ist ein
schlüssiger Beweis noch nicht erbracht. Auf diese Details können wir hier
indessen nicht eingehen.
In der Tat erklärt nun diese Ehrlichsche Anschauung bisher alle die
mannigfaltigen Erscheinungen, die man beim näheren Studium der hämolyti-
schen Probleme gefunden hat. Zunächst lassen sich auch in den normalen
Seren, die hämolytisch wirken, ganz analoge Amboceptoren auffinden wie in
den Immunseris, wenn auch diese Phänomene wegen ihrer weitaus geringeren
Intensität schwerer zu verfolgen sind. Komplemente sind ohnedies meist im
Überschuß vorhanden. Indessen stoßen wir dabei auf die wichtige Tatsache,
daß doch durchaus nicht überall die passenden Komplemente für jedes System
Amboceptor—Blutkörper zu finden sind. Wir müssen also mit einer Vielheit
von Komplementen rechnen.
Vor allem wichtig aber ist, daß die Blutkörper nur ein Paradigma dar-
stellen, das am bequemsten zu beobachten ist, weil wir eben in der Hämolyse
ein einfaches Reagens haben. In Wirklichkeit scheint die Eigenschaft, Anti-
körper in Amboceptorenform: zu bilden, die durch geeignete Komplemente zu
aktivieren sind, eine Eigenschaft aller fremden Zellen zu sein. Man hat
in neuerer Zeit gegen eine ganze Reihe von Zellgebilden, so Flimmerepithel,
Spermatozoen, Leber-, Nieren-, Nervengewebe, Epithel- und Krebszellen usw.
spezifische Antikörper gefunden, die nach demselben Schema wirken und auf
das entsprechende Antigen bestimmte Schädigungen entfalten. Diese Cyto-
toxine scheinen also ein ganz allgemeines Reaktionsprodukt des Protoplasmas
auf solche Reize zu sein. Allerdings sind im einzelnen viele Befunde noch
widerspruchsvoll, insbesondere die Frage nach der Spezifität der Cytotoxine
noch unklar. Im übrigen mögen diese Fragen vielleicht noch für die Patho-
logie bedeutungsvoll werden, für die einfache Lehre von den Gesetzen der
Immunität bringen sie wenig Neues, und dieses gehört nicht in unseren engen
Rahmen. Ich verweise betreffs der Einzelheiten auf die Sammelreferate von
Hans Sachs im Biochem. Zentralblatt, Bd. I und in Lubarsch-Ostertags
Ergebnissen 1904 und 1907.
Das Wichtigste aber ist, daß man diese Befunde ohne Änderung auf
die bakteriziden Wirkungen übertragen darf. Nicht als ob man damit nun
jede Form der Immunität gegen Bakterien erklären könnte, davon sind wir
noch weit. Wo aber eine bakterizide Wirkung nachzuweisen ist, da verläuft
sie nach genau demselben Schema, daß die Bakterienzelle das Antigen ist,
gegen die sich ein Amboceptor im normalen Serum vorfindet, im Immunserum
gebildet wird, und die schließlich durch ein passendes Komplement vernichtet
bzw. in anderen Fällen so abgeschwächt wird, daß sie den Leukocyten zur
Beute wird, denn auch die bakteriotropen Substanzen scheinen Amboceptoren-
charakter zu haben. Wie diese Antikörper wirken, ist vor allem je nach der
652 Bordets Theorie.
Bakterienart verschieden, so z. B. wird bei Kokken eine echte Bakteriolyse
kaum beobachtet, sondern immer treten dabei die Leukocyten mit in Funktion.
Aber die Grundtatsache ist immer dieselbe, daß die Bakterien die spezifische
Immunsubstanz aus dem Serum binden, und dann die Komplemente wirken.
Eine andere Ansicht für die Wirkung der beiden Elemente aktiver Sera
hat Bordet aufgestellt. Nach ihm beruht die Wirkung der thermostabilen
Substanz nur darauf, daß sie die Zelle für die nachfolgende Wirkung des
Komplements empfindlich macht, ähnlich wie eine Beize eine Aufnahme des
Farbstoffs vorbereitet.
Es ist an dieser Stelle unmöglich, auf die jahrelang mit einem großen
Aufwand von Scharfsinn und geschickt ausgeführten Versuchen geführte
Polemik zwischen der Ehrlichschen und der Bordetschen Schule einzu-
gehen. Sie ist schon in der Namengebung ausgedrückt. Bordet nenui die
thermostabile Substanz nicht Amboceptor, sondern Substance sensibilatrice,
und hält für das Komplement an dem alten Namen Alexin fest. Damit ist
zugleich gesagt, daß das Alexin eine einheitliche und unspezifische Substanz
sein müßte, und gerade an dieser Stelle haben die Ehrlichschen Arbeiten
immer wieder den Hebel angesetzt, um- die Vielheit der Komplemente in den
Seris nachzuweisen, was ihnen denn anscheinend auch gelungen ist. In der
Tat neigen alle deutschen Untersucher dazu, die Existenz der doppelbindenden
Amboceptoren im Sinne Ehrlichs anzunehmen. (Näheres s.b. HansSachs,l.c.)
Von den vielen Beweisen, die dafür vorliegen, sei nur ein Phänomen
erwähnt, die sogenannte Komplementablenkung, auf die zuerst Neisser
und Wechsberg!) aufmerksam gemacht haben. Sie zeigt das auf den ersten
Blick äußerst verblüffende Phänomen, daß unter Umständen ein Überschuß
an Immunkörper die Wirkung der Sera auf die Bakterien stören kann. So-
bald der Zusatz von Immunserum ein gewisses Maximum überschritten hat,
sinkt seine Wirksamkeit wieder, und bei sehr großen Mengen kann unter
Umständen ein ungestörtes Wachstum der Bakterien eintreten. Dies ist mit
der Bordetschen Ansicht unvereinbar, denn ein Überschuß einer rein sensi-
bilisierenden Substanz könnte nie ein Versagen der Wirkung bedingen.
Wohl aber kann die Ehrlichsche Theorie dieser Erscheinung gerecht werden.
Das vorhandene Komplement muß sich ja unter die zur Verfügung stehenden
Amboceptoren verteilen. Wenn nun eine sehr große Anzahl solcher Ambo-
ceptoren vorhanden sind, von denen aber nur ein Bruchteil sich an die
Bakterienleiber spezifisch binden kann, während die anderen frei bleiben, so
wird eben ein Teil der gebundenen Amboceptoren kein Komplement mehr be-
kommen können, also auch nicht mehr wirksam sein können, denn das Komple-
ment, das sich an freie Amboceptoren bindet, kann keine Wirkung auf die
Bakterien ausüben. Es wirken dann die freien Amboceptoren durch diese
Komplementablenkung geradezu schützend auf die Bakterien. |
Die Lehre von den Amboceptoren und Komplementen hat in den letzten
Jahren eine sehr lebhafte Entwickelung durchgemacht, die sich noch in
vollem Fluß befindet, von der wir hier aber doch wenigstens die allerwichtigsten
Dinge kurz streifen wollen.
') Neisser und Wechsberg, Über die Wirkungsart bakterizider Sera, Münch.
med. Wochenschr. 1901, NTr.218;
rn n
Komplemente. 653
Als erste Frage erhob sich sehr bald die nach der Herkunft der beiden
Immunität auslösenden Stoffe. Über die Herkunft der Amboceptoren wissen
wir nicht viele Metschnikoff möchte sie gern, wie es ja seiner Gesamt-
anschauung entspricht, aus den Leukocyten herleiten, ohne dafür aber rechte
Gründe aufweisen zu können, und dementsprechend obne großen Nachdruck.
Es ist nach den Versuchen von Pfeiffer mehr als nur wahrscheinlich, daß
sie in reichlichem Maße von den blutbildenden Organen, speziell also Milz
und Knochenmark erzeugt werden, doch können sie theoretisch als normale
Seitenketten schließlich wohl überall entstehen.
Dagegen hat sich über die Entstehung der Komplemente ein heftiger
Streit erhoben, der im engsten Zusammenhang mit der Phagocytenlehre steht.
Deren Anhänger wollen nämlich, wenn sie schon die Möglichkeit einer extra-
cellulären Vernichtung der Keime zugeben, wenigstens den Phagocyten damit
einen Löwenanteil sichern, daß sie sie als Bildungsstätte der Komplemente
ansprechen. Nach Metschnikoff finden sich in den weißen Blutzellen, je
nach ihrer Art, zwei Enzyme, die Mikrocytase, die besonders bei der
Bakterienimmunität, und die Makrocytase, die vor allem bei der Hämolyse
wirksam sein soll. Diese Enzyme sollen erst beim Tode der Zelle frei werden.
Es steht also mit dieser Polemik die Frage im engsten Zusammenhang, ob
schon das strömende Blut Komplemente enthält oder ob sie sich nur im post-
mortalen Serum finden, entstanden aus zerfallenen Leukoeyten. Diese Frage
ist nun absolut nicht sicher entschieden, heute wie vor 20 Jahren steht hier
Meinung gegen Meinung, Versuch gegen Versuch. Pfeiffer besonders und
seine Schule halten unentwegt an der Gleichgültigkeit der Leukocyten für
die Komplementbildung fest, während die französischen Autoren sie als die
Hauptquelle ansehen. Die neue Vorwärtsentwickelung der Phagocytenlehre,
wie wir sie oben gestreift haben, macht es wahrscheinlich, daß ihnen bzw.
ihren Zellsubstanzen eine nicht zu vernachlässigende Rolle bei der Bakterien-
vernichtung zuzuweisen ist. Sie sind wohl zwar nicht die Quelle, aber eine
Quelle der aktiven Substanzen.
Theoretisch und, wie es scheint, auch praktisch von größtem Interesse
sind die Befunde, die zu einer immer steigenden Bedeutung des Prinzips der
spezifischen Bindung in der Lehre von den Amboceptoren geführt haben.
Nach der Theorie besitzen sowohl die Amboceptoren als auch die Komple-
mente haptophore Gruppen, sie haben die Fähigkeit der spezifischen Bindung,
d. h. sie können ihrerseits als Antigene auftreten. Das ist denn auch in der
mannigfachsten Weise verwirklicht worden. Es können sich also Antikörper
gegen diese Antikörper bilden. Theoretisch gäbe es folgende: Antikörper
erzeugt von der cytophilen Gruppe des Amboceptors, von der komplemento-
philen Gruppe des Amboceptors, sowie von der Haptophore des Komplements.
Sehr subtile Versuche haben dargetan, daß alle diese Formen von Antikörpern
tatsächlich existieren. Zum wenigsten bei den hämolytischen Immunkörpern,
bei denen diese Arbeiten wegen des bequemen Reagens der Hämolyse bisher
fast ausschließlich ausgeführt worden sind. Antikomplemente z. B. entstehen
durch Einspritzung jedes normalen Serums, das immer Komplemente enthält,
sie sind also einem Studium leicht zugänglich. Dabei zeigte es sich, dab
auch inaktivierte Sera noch Antikomplementbildung veranlassen können. Es
ist also durch das Erwärmen nicht das ganze Komplement vernichtet, sondern
654 Antiamboceptoren usw.
anscheinend nur seine ergophore Gruppe, während die Haptophore unver-
ändert bleibt und durch spezifische Bindung noch Antikörper erzeugen kann.
Wir stoßen also damit auf die Existenz von Komplementoiden, ganz
analog den Toxoiden, die wir bei den Toxinen kennen gelernt haben. Diese
Haptcphore, die im Organismus also Antikomplementbildung auslöst, ist aber
dieselbe, die sich an die komplementophile Gruppe des Amboceptors binden
kann. Daraus folgt, daß auch die Komplementoide sich noch an den Ambo-
ceptor binden können. Da sie aber keine ergophore Gruppe mehr haben, so
kann dieses System nicht mehr wirksam sein, ein Serum, das solche spezifisch
bindenden Antikomplemente enthält, wirkt also geradezu hemmend .auf die,
sagen wir hämolytische, Wirkung des Immunserums. Ein solches Komple-
mentoid, das also gleichzeitig den entsprechenden Antikörper gegen die
komplementophile Gruppe des Amboceptors darstellt, ist eine der Mög-
lichkeiten, wie ein hämolytisches System gehemmt werden kann, indem infolge _
Besetzung dieser Gruppe kein wirksames Komplement mehr an den Ambo-
ceptor heran kann. Eine weitere Möglichkeit wäre die Bildung eines Anti-
körpers gegen die cytophile oder wie man sie im Hinblick auf die Erweiterung
des Amboceptorenbegriffes besser allgemeiner nennt, antigenophile Gruppe,
so daß also eine Bindung von Amboceptor und Antigen nicht mehr erfolgen
kann. Eine dritte Möglichkeit wäre das Vorhandensein eines Amboceptoids,
d. h. eines zum Zellreceptor passenden Gebildes, das ihn besetzt, das aber
keine Komplement bindende Gruppe besitzt. Auch dann wäre das System
natürlich unwirksam. Wenn eine an sich empfindliche Zelle aus einer ambo-
ceptorhaltigen Flüssigkeit keinen solchen wegnimmt, d. h. auf nachherigen
Komplementzusatz nicht reagiert, so war eben der Receptor durch ein Ambo-
ceptoid besetzt. Nimmt es aber den Amboceptor aus der Flüssigkeit, so daß
dieselbe inaktiv wird, und hat trotzdem frisches Komplement keine Wirkung,
so ist eben die Leitung zwischen der komplementophilen Gruppe des Ambo-
ceptors und dem Komplement selbst unterbrochen. Wenn schließlich die
Zellen aus dem Immunserum nichts herausnehmen, gegen ein anderes Immun-
serum aber voll empfindlich bleiben, wenn man sie von diesem abzentrifugiert,
so war der Amboceptor des unwirksamen Serums durch einen Antiambo-
ceptor an der cytophilen Gruppe lahmgelegt.
Wenn wir diese Dinge, die absolut nicht nur theoretische Spielereien
sind, sondern in der praktischen Immunitätslehre eine Rolle spielen, betrachten,
so sehen wir einerseits, wie ungeheuer kompliziert sich diese Systeme von
aktiven Substanzen aufbauen, wie glänzend aber auch bisher unsere Arbeits-
hypothese uns durch dieses Gewirr hindurchzuführen imstande ist. Die
Schwierigkeiten liegen immer wieder vor allem in der Abgrenzung zwischen
intracellulären und humoralen Vorgängen; sobald wir es aber einmal mit
einfachen Kräften der Sera zu tun haben, gliedern sich die Dinge an der
Hand der Seitenkettentheorie ohne jede logische Schwierigkeit. Von den
ungeheuren experimentellen Schwierigkeiten allerdings, die sich bei diesen
Versuchen oft auftürmen, ehe man reine oder wenigstens erkennbare Be-
dingungen geschaffen hat, was in den komplizierten Serumgemengen eigentlich
vor sich geht, kann diese aphoristische Darstellung gar kein Bild geben, die
ja schon die fertige Deutung der Befunde benutzt. Ich will nur erwähnen,
daß man in jüngster Zeit anfängt, das Vorhandensein von Antikomplementen
Agglutinine. 655
überhaupt zu bezweifeln, und die entsprechenden Wirkungen auf Amboceptoide
zurückführen will. Es laufen ja bei diesen Experimenten fast stets die
mannigfachsten Erscheinungen nebeneinander her, weil alle die Antigene eben
immer ihre entsprechenden Antikörper bilden. Wenn Toxine vorhanden sind,
entstehen Antitoxine, die Eiweißstoffe geben ihre Präzipitine usw. Ferner
läuft gewöhnlich noch eine Erscheinung dabei mit, die zwar praktisch sehr
wichtig werden kann, aber uns theoretisch sehr wenig weiter gebracht hat
und deshalb hier von geringem Interesse ist, nämlich die Ausbildung von
Agglutininen, jenen eigenartigen, die Bakterien bzw. Blutzellen verklebenden
Substanzen. Sie haben mit der Immunitätsreaktion als solcher wahrscheinlich
nichts zu tun, sondern sind andere Antikörper, vermutlich den Präzipitinen
sehr nahe verwandt, wenn nicht mit ihnen identisch. Sie haben eine äußerst
wichtige Rolle bei der praktischen Differenzierung der Bakterien, sind aber,
wie gesagt, an dieser Stelle ohne Belang.
Ebenso muß ich es mir versagen, auf das Studium der Bindungsverhält-
nisse zwischen Agglutininen und Zellen, speziell Bakterien, des genaueren
einzugehen. Neben den Antitoxinen sind nämlich gerade diese Substanzen
wegen der relativ leichten quantitativen Verfolgbarkeit der Phänomene zu
messenden Versuchen benutzt worden. Man ist dabei wieder zu sehr inter-
essanten und vielleicht wesenswichtigen Analogien mit den Ausflockungs-
erscheinungen der Kolloide gelangt’ und andererseits. auch zu Versuchen, die
physikalisch-chemischen Gleichgewichtsgesetze auch auf diese Dinge zu über-
tragen. Insofern können also auch die Agglutinine indirekt wieder Wichtig-
keit für die Theorie der Immunität gewinnen, doch sind alle diese Dinge
noch ganz unreif.
Eine sehr wichtige Erweiterung haben alle diese Lehren gewonnen, als
man lernte, daß die spezifischen Antigene der Bakterienleiber nicht untrennbar
mit der morphologischen Intaktheit verknüpft sind, daß man sie vielmehr in
wirksamer Form aus den Leibern gewinnen kann. Zuerst von Buchner
wurden Plasmine erhalten, Preßsäfte aus Bakterienleibern, die wirksame
Substanzen mitführten, ohne giftig zu sein. Das erste wichtige, auf diesem
Wege freigemachte Antigen war das Kochsche Tuberkulin, von dem Koch
bei seinen späteren Arbeiten aussagte, daß es nicht als ein Toxin, sondern
als ein bakterizides Antigen anzusprechen sei. War dieses Antigen durch
gewaltsame Zertrümmerung der Zellen erhalten, so hat man neuerdings
weniger eingreifende Methoden kennen gelernt, die wenigstens bei empfind-
licheren Gebilden als den zähen Tuberkelbazillen zum Ziele führten. Con-
radi!) gab seine Methode der aseptischen Autolyse, Macfadyen seine Zer-
reibung von Bakterien bei der Temperatur der flüssigen Luft bekannt, die
alle wirksame Schutzstoffe liefern.
Die modernste und, wie es scheint, beste Methode ist die von Brieger?)
inaugurierte, durch Schütteln mit destilliertem Wasser usw. den Leibern ihre
wirksamen Substanzen zu entziehen.
Auf diesem Wege gelang es ihm und seinen Mitarbeitern, wirksame
Stoffe gegen Typhus usw. zu erzielen, die immer im wesentlichen eine
!) Conradi, Über Giftstoffe von Ruhr- und Typhusbazillen, Deutsche med-
Wochenschr. 1908, Nr. 2. — ?) Brieger, Deutsche med. Wochenschr. 1903 ff.
656 Freie Antigene, Komplementbindung.
antibakterielle Immunität auslösen. Allerdings wird hier die Sache wieder da-
durch kompliziert, daß dann auch die Endotoxine austreten, und wir stoßen
hier zum zweitenmal auf die schon oben erörterte Streitfrage, wie weit diese
Toxine bzw. ihre Antikörper bei der erworbenen Immunität gegen die Keime
mitspielen, wobei es sich immer vor allem um Typhus und Cholera handelt.
Davon aber hier abgesehen, werden jedenfalls wirksame Stoffe frei, die
eine Immunität bewirken. Diese Agentien an sich sind nun aber wieder,
speziell nach der Ansicht von Wassermann und Citron, identisch mit den .
Bailschen Aggressinen und die Immunität, die sie erzeugen, identisch mit
einer Aggressinimmunität. Oder wenigstens werden dabei auch Substanzen
frei, die den Bailschen Aggressinen zum Verwechseln ähnlich sehen. Es
können also beim Zerfall der Bakterienleiber in vitro, der dem Zerfall im
Organismus einigermaßen gleich zu sein scheint, wenn wir von den Antigenen
der Agglutinine als hier nicht wesentlich -absehen, drei Antigene entstehen:
Endotoxine, Aggressine und schließlich die eigentlich bakteriolytischen
Antigene. Welche von diesen dreien nun selbständig existieren und welche
Gruppen identisch sind, das eben steht noch in voller Polemik, so daß wir
hier nicht näher darauf eingehen können. Für uns ist hier das einzig Wich-
tige, daß es nicht der Einführung intakter Leiber bedarf, um die spezifische
Bindung und Antikörperbildung auszulösen, sondern daß es Möglichkeiten
gibt, die Antigene in freier Form, als gelöste Substanzen einzuführen. Mit
diesem Erfolg haben wir die Basis, die Phänomene quantitativ zu studieren,
ohne die unkontrollierbaren Verhältnisse bei Einführung lebender Keime in
den Körper in Rechnung stellen zu müssen, und auch vor der Einführung
der toten, aber unverletzten Leiber hat diese rein chemische Methode viel
voraus. Von den praktischen Vorteilen, die diese Stoffe zur Herbeiführung
eines Impfschutzes vor den bisher geübten haben können, sehe ich hier ganz
ab, da es noch nicht abzusehen ist, wie diese Erfolge sich gegenüber den
bisher sehr zweifelhaften jeder bakteriolytischen Schutzimpfung stellen werden.
Derartige Antigene bilden sich nun im Körper bei jeder bakteriellen
Erkrankung. Die Aggressine Bails hätten wir als solche anzusehen, aber
auch sonst finden sie sich im lebenden Gewebe vor. In neuester Zeit hat
man sich nun sehr eifrig mit der Aufsuchung solcher Antigene befaßt, und
zwar mit Hilfe einer höchst eigenartigen, außerordentlich empfindlichen Me-
thode. Diese geht von. der Idee aus, daß jeder Amboceptor, der sich mit
seinem Antigen bindet, auch Komplement verbrauchen muß, solange solches
vorhanden ist. Tritt nun eine solche spezifische Bindung ein, so nimmt das
System alles Komplement auf. Wenn man dann ein inaktiviertes hämolyti-
sches Immunserum nebst seinem empfindlichen Blut zuführt, so kann keine
Hämolyse eintreten, weil kein freies Komplement mehr da ist. Diese Methode
der Komplementbindung von Bordet und Gengou!) hat eine ganz her-
vorragende theoretische und praktische Bedeutung gewonnen, theoretisch,
weil sie eine sehr erhebliche Erweiterung des Vorkommens von echten Ambo-
ceptoren wahrscheinlich gemacht hat. Sogar für die Bildung der einfachen
Antikörper gegen Eiweiß, ja sogar, wenn wir Wassermann und Citron?)
....) Bordet und Gengou, Ann. Past. 16 ff. — °?) Wassermann und Citron,
Über die Beziehungen des Serums zu gewissen Nährstoffen, Zeitschr. f. exp.
Path. 4, 273, 1907.
RN.
PREVENT
ur Zen er ee ee see
BE En
ne.
Komplemente. 657
glauben dürfen, gegen Albumosen und Glykogen treten Amboceptoren auf,
die durch die Komplementbindung als solche erkennbar werden. Wenn diese
Dinge sich so weiter entwickeln, so stehen wir erst im Anfange eines für die
Physiologie hochbedeutenden Ausbaues des Antikörperbegriffes, und zugleich
feierte die Ehrlichsche Theorie einen großen Triumph. Ging sie doch ur-
sprünglich aus von der Verankerung von Nährstoffen durch spezifische Bin-
dung an Receptoren des Protoplasmas und entwickelte erst daraus die Theorie
‚der Immunität gegen schädliche Stoffe. Mit diesen Feststellungen ginge also
die Lehre wieder auf ihren Ausgangspunkt zurück, und die Antikörperbildung
gegen einfache Nährstoffe unter Entstehung von Amboceptoren aus los-
gerissenen Seitenketten der Zelle wäre ihr letzter Schluß.
Praktisch von ungemeiner Wichtigkeit scheinen diese Dinge in diagnosti-
scher Hinsicht zu werden, indem man mit Hilfe dieser Komplementbindung
die Spuren von Infektionen mit äußerster Schärfe durch den Nachweis der
spezifischen Antigene führen kann. Dies ist Wassermann bei der Tuber-
kulose gelungen; vor allem interessant aber ist der Nachweis luetischer
Antikörper im Serum von Luetikern nicht nur, sondern auch von Tabikern
und Paralytikern, womit die alte Lehre von dem Zusammenhang dieser Er-
krankungen aufs neue gestützt erscheint. Auf Methodik und Details kann
ich hier natürlich nicht eingehen, sondern muß auf die Originalarbeiten ver-
weisen ).
Neben diesen Arbeiten, die den theoretischen Ausbau der Lehre von den
Antikörpern förderten, hat man natürlich auch die Frage nicht vernachlässigt,
welcher Natur in chemischem Sinne die dabei agierenden Körper wohl sein
könnten. Wird es doch immer wieder der Immunitätslehre zum Vorwurf
gemacht, daß sie mit chemisch undefinierbaren Größen rechnet.
Was nun die Amboceptoren anbetrifft, so wissen wir über ihren chemi-
schen Aufbau absolut nichts. Sie werden als normale Seitenketten angesehen,
man schreibt ihnen also von vornherein die ungemein komplizierte Struktur
des Protoplasmas zu und verzichtet auf eine weitere chemische Präzisierung
mit leichtem Herzen, wie immer, wenn es sich um Protoplasma handelt.
Anders steht es mit den Komplementen. Sie finden sich in den normalen
Seris und haben dasselbe Anrecht, chemisch untersucht zu werden wie die
anderen Serumbestandteile, sei es eiweißartiger oder anderer Natur. Zuerst
sah man allgemein die Komplemente als Enzyme an. Einerseits der äußeren
Ähnlichkeiten halber, vor allem der Empfindlichkeit gegen Wärme. Dann
aber sah man die Alteration der Blutkörper als einen Enzymvorgang an,
etwa einen proteolytischen. Nun ist das aber sehr mit Vorsicht aufzunehmen.
Vor allem muß man bedenken, daß die Komplemente quantitativ bei der
Wirkung absorbiert werden, nach stöchiometrischen Gesetzen, während dies
bei den Fermenten doch nur in sehr beschränktem Maße der Fall ist: werden
sie doch als Katalysatoren angesprochen, wobei das Nichtverbrauchtwerden
ja geradezu ein Definitionsmoment ist. Ganz scharf ist ja diese Trennung
nicht, denn auch bei echten Enzymen, wie dem Lab, werden Fermentverluste
bei der Wirkung beobachtet?2). Aber im großen und ganzen spricht doch
!) Citron, Deutsche med. Wochenschr. 1907, Nr. 29 (Vereinsbeil.); Michaelis,
ebenda 1907, u. v. a. — *) Reichel und Spiro, Fermentwirkung und Ferment-
verlust, Hofm. Beitr. 6 u. 7.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 49
658 Lecithide, Lipolyse.
der Umstand der völligen Bindung gegen einen Fermentcharakter der Komple-
mente. Von einer wirklichen Proteolyse hat man ohnehin nie etwas beob-
achten können. Im Gegenteil scheinen sich durch die Arbeiten der letzten
Zeit viel eher Beziehungen zwischen den Komplementen und den lipolytischen
Prozessen anzubahnen. Die erste Grundlage dieses Ideenganges war die
Aufklärung der chemischen Natur eines bestimmten Komplements. Wie
nämlich Kyes und Sachs!) gefunden haben, ist das Komplement, das das
Hämolysin des Cobragiftes aktiviert, nichts anderes als Lecithin. Es kann
sowohl das freie Leeithin als auch unter Umständen das noch in den roten
Blutkörpern gebundene die Funktion eines Komplements erfüllen. Den
Autoren gelang es sogar, auf rein chemischem Wege die Verbindung des
hämolytischen Cobragiftamboceptors mit dem Leeithin als reine chemische
Verbindung, als Lecithid, darzustellen und es einer weiteren chemischen
Untersuchung zu unterziehen. Wir haben hier also eins der fundamentalen
Postulate der Ehrlichschen Theorie verwirklicht, die Bindung von Ambo-
ceptor und Komplement in vitro realisiert. Haben wir hier also ein Komple-
ment von einfacher Natur, so ist auch der Antikörper oder besser ein Anti-
körper hier als ein chemischer Stoff erkannt worden: Cholesterin hemmt die
Hämolyse durch Cobragift und sein Lecithid in charakteristischer Weise.
Bei der Untersuchung des Lecithids stellte es sich nun heraus, daß dabei
eine freie Fettsäure abgespalten wird, und an diese Beobachtung knüpfen
die modernen Arbeiten über die Beziehungen zwischen Hämolyse und Fett-
spaltung an. Neuberg und Rosenberg?) fanden zuerst, daß eine Reihe
von Amboceptoren aus Lecithin Fettsäure abspaltet. Sie fanden diese Eigen-
schaft bei mehreren Schlangengiften und auch beim Ricin. In späteren
Untersuchungen von Neuberg und Reicher’°) erwiesen sich dann noch
weitere Amboceptoren, wie z. B. Cholerahämolysin und Meningokokkenserum,
als lipolytisch. Für den engen Zusammenhang beider Erscheinungen sprach
die Beobachtung, daß Antiriein ebensowohl die lipolytische wie die eigentliche
Ricinwirkung hemmt.
Ein weiterer Befund, der in diesem Sinne zu verwerten ist, ist die Auf-
findung eines echten, durch Lecithin aktivierbaren Hämolysinamboceptors im
Pankreassaft durch Friedemann). Diese Toxolecithide, denen sich unter
anderen noch das von Morgenroth’) beschriebene des Bienengiftes anreiht,
scheinen also ganz allgemein mit der Produktion und Wirkung lipasischer
Enzyme in einem Zusammenhang zu stehen. Wie bei so vielen Vorgängen
scheint auch hier das Lecithin eine höchst wichtige, wenn auch durchaus
noch nicht klare Rolle in den biologischen Vorgängen zu spielen. Indessen
ist das Arbeitsgebiet noch ganz jung, und unsere positiven Kenntnisse
sind noch zu gering, um schon wirklich sagen zu können, was denn
eigentlich für Zusammenhänge zwischen den Lipoiden, den Lipasen und den
Hämolysinen obwalten.
') Kyes u. Sachs, Berl. klin. Wochenschr. 1902ff. — ?) Neuberg u. Rosen-
berg, Lipolyse usw., Berl. klin. Wochenschr. 1907. — °?) Neuberg u. Reicher,
Lipolyse, Agglutination u. Hämolyse, Biochem. Zeitschr. 4, 281; Münch. med. Woch,
1907, Nr. 35. — *) Friedemann, Über ein komplexes Hämolysin der Bauchspeichel-
drüse, Deutsche med. Wochenschr. 1907, Nr.15. — °) Morgenroth, Toxoleeithid
des Bienengiftes, Berl. klin. Wochenschr. 1906, Nr. 44.
Natürliche Immunität. 659
Die natürliche Immunität.
Wenn wir auch in den vorangegangenen Zeilen die meisten der Mecha-
nismen, die das Wesen der natürlichen Immunität bedingen, schon erwähnt
haben, so erscheint es doch angebracht, in aller Kürze diese Momente noch
einmal zusammenzustellen.
Die natürliche Immunität ist ein äußerst kompliziertes Problem, viel
schwieriger als die erworbene, und durchaus noch nicht in allen Fällen be-
friedigend aufgeklärt. Wir haben uns nur gewisse Schemata gebildet, in die
die einzelnen Fälle mehr oder minder gut hineinpassen.
Wir unterscheiden einerseits nach den Formen die Immunität der Art
als die sicherste, um so sicherer, je weiter die betreffenden Tiere in der
Systematik auseinanderstehen. Die allermeisten Infektionen der Warmblüter
sind für die Kaltblüter indifferent und vice versa. Ähnlich verhalten sich
noch Säugetiere und Vögel, obwohl hier die Differenzen schon viel weniger
scharf sind. Noch unsicherer sind die Grenzen bei den einzelnen Säugetieren,
und auf ein ganz unsicheres Terrain begeben wir uns, wenn wir auf die
individuelle Verschiedenheit der Resistenz zu sprechen kommen. Hier
spielen alle möglichen Faktoren eine Rolle, die wir nur zum kleinsten Teile
erst übersehen und auf die hier einzugehen unmöglich ist. Es sei nur er-
wähnt, daß alle Änderungen, die im allgemeinen die Vitalität schwächen, wie
Hunger, Kälte, Gifte, ferner jugendliches Alter, eine größere Empfänglichkeit
bedingen, während es andererseits Momente gibt, die die Resistenz erhöhen.
Hier kommen auch Einflüsse in Betracht, die die Leukocyten mobil machen,
wie Injektionen von Serum oder Bouillon usw., so daß wir hier wieder auf
die oben erörterte Phagocytose stoßen. Die Dinge sind vor allem deshalb
so schwer zu entwirren, weil bei allen Infektionen mit lebenden Keimen neben
der Resistenz des Organismus auch die wechselnde Virulenz der Keime eine
ausschlaggebende Rolle spielt. So ist die natürliche Immunität oder ihr
reziproker Wert, die Disposition, eine äußerst schwer festzustellende Größe.
Die natürliche Immunität ist entweder bedingt durch einen Receptoren-
mangel. Wir haben bei der antitoxischen Immunität Fälle angegeben, wo
es sicher ist, daß das Gift eben überhaupt keinen Angriffspunkt findet und
deshalb völlig unschädlich bleibt. So ist es z. B. beim Tetanus der Schild-
kröte und auch des Huhnes, so bei der Resistenz gewisser Blutkörper gegen
bestimmte Hämolysine. Ob daneben Fälle vorkommen, wo trotz stattgehabter
spezifischer Bindung die haptophore Gruppe versagt, ist nicht sicher, der
Tetanus des Frosches scheint ein solcher Fall zu sein, wenigstens in der Kälte.
Der andere Fall ist das natürliche Vorhandensein von Anti-
körpern, sei es Antitoxinen, sei es bakteriziden Substanzen, eventuell auch
Antiaggressinen. Das natürliche Vorhandensein von Antikörpern ist sicher-
gestellt. Einerseits können sie durch Vererbung auf placentarem Wege oder
durch die Milch von der Mutter auf die Nachkommenschaft übergehen, wie
bei Kindern gegen Diphtherie, bei denen sich sehr häufig im Säuglingsalter
Diphtherieantitoxine im Blute vorfinden. Es kommen aber auch natürliche
Antitoxine da vor, wo sie unmöglich durch ererbte Immunität hingelangt sein
können. Es können also zufällig passende Haptophoren gegen Toxine sich
normal vorfinden, wie ein Antikörper gegen Tetanolysin im Pferdeserum.
660 Natürliche Immunität.
Ganz weit verbreitet ist aber das Vorkommen solcher Antikörper gegen
Bakterien und andere Zellen in normalen Seris, die zum Teil wenigstens
sicher dieselbe Konstitution besitzen wie die Immunkörper, nämlich aus einem
Amboceptor und den stets im Serum vorhandenen Komplementen bestehen.
Am genauesten in dieser Hinsicht sind die normalen Hämolysine der Sera
untersucht, bei denen ebenfalls solche Verhältnisse obwalten. Neben diesen
einigermaßen festgestellten Mechanismen spielen aber sicher auch noch andere,
uns bisher sehr ungenügend bekannt gewordene eine Rolle.
In erster Linie stehen dabei natürlich wieder die Leukocyten. Ihre
Tätigkeit bei der natürlichen Immunität gegen Zellen, speziell gegen Bak-
terien, ist ohne Frage eine sehr wesentliche, wenn wir auch, wie oben aus-
führlicher gezeigt, ihre Inanspruchnahme als einzige oder auch nur vorzüg-
lichste Waffe ablehnen müssen. Aber zweifellos spielt der Umstand, in
welchem Maße sich die Leukocyten an den Ort der Infektion begeben, in
welchem Maße sie tüchtig sind, die Bakterien aufzunehmen und unschädlich
zu machen, eine gewichtige Rolle im Kampfe zwischen dem lebenden Tier
und dem Bakterium. Wahrscheinlich wird auch dieser Streit weniger direkt
durch vitale Kräfte beider Gegner geführt, als durch Absonderung bestimmter
chemischer Stoffe, von denen, wie oben auseinandergesetzt, die Aggressine
als Waffen der Erreger gegen die Leukocyten, die Opsonine des Normalserums
als die Abwehrstoffe der Phagocyten in erster Stelle zu stehen scheinen.
Dies wären in kurzen Worten die wichtigsten Mechanismen der an-
geborenen Immunität, in die sich nun eine große Reihe der beobachteten
Resistenzerscheinungen einordnen lassen. Es darf aber nicht verschwiegen
werden, daß es eine ganze Reihe anderer Fälle gibt, wo alle diese Ansichten
nur eine ungenügende Erklärung der natürlichen Immunität geben können,
wo wir also annehmen müssen, daß noch weitere, von uns noch nicht klar
erkannte Möglichkeiten vorliegen, die natürliche Immunität zu erklären. Das
ganze Gebiet ist noch ziemlich im Fluß, fortwährend treten neue Komplika-
tionen und neue Erklärungsversuche auf, von denen viele nur ein sehr kurzes
Leben haben, während andere schon seit Jahren in der Diskussion stehen,
ohne daß eine sichere Entscheidung möglich ist.
Was die Sache eben immer so ungemein erschwert, ist einerseits der
Umstand, daß wir stets mit zwei Variablen zu rechnen haben, die wir beide
unabhängig voneinander gar nicht bestimmen können, der Virulenz der Mi-
kroben und der absolut genommenen Resistenz der Tiere. Wir können immer
nur die Resultante beobachten, und auch dabei schieben sich immer wieder
die so schwer in ihrer Bedeutung abzuschätzenden Phagocyten dazwischen.
Ich muß es mir also versagen, auf die hochinteressanten Details dieser Fragen
an dieser Stelle genauer einzugehen.
Die Mechanik des Kreislaufs’)
von
Georg Fr. Nicolai.
Erstes Kapitel.
Der Kreislauf als Ganzes.
Das Verteilungssystem in der Tierreihe.
81.
Die Bedeutung eines Verteilungssystems.
Der Kreislauf des Blutes ist nicht um seiner selbst willen da; wie alle
Prozesse im tierischen und pflanzlichen Körper dient auch er nur der Er-
haltung und Weiterbildung des Lebens. Das immer nachweisbare Äqui-
valent des Lebens ist der Stoffwechsel, und so ist es nicht wunderbar, wenn
auch der Kreislauf des Blutes — wie alle anderen Funktionen — im Grunde
nur eine Einrichtung vorzustellen scheint: Wie der Stoffwechsel in
einem Organismus möglich ist.
Und gerade hier ist dieser Zusammenhang leicht zu erkennen, denn
nicht alle Tiere haben einen Blutkreislauf: nur diejenigen, bei denen die Be-
dingungen des Stoffwechsels dies erheischen.
Solange der Körper nur aus einer einzigen Zelle besteht, ist ein Kreislauf im
eigentlichen Sinne unmöglich und auch überflüssig, denn die Einzelzelle kann so
wie so nur durch Osmose ihre Nahrung in sich aufnehmen und ihre Abfall-
produkte ausscheiden. Auch bei einem Organismus, der aus zwei dünnen Epithel-
lagen, dem Ektoderm und dem Entoderm, besteht, bedarf es keiner besonderen
Einrichtungen, damit der von außen her aufgenommene Sauerstoff und die in der
Gastrulahöhle verdauten Nahrungsbestandteile zu allen Gewebselementen hin-
gelangen. Auch hierfür genügt noch die einfache Durchtränkung.
!) Zusammenfassende Darstellungen des Gegenstandes finden sich vor allem
bei: Rollet, Physiologie der Blutbewegung in Hermanns Handb. 1, 146 bis 340,
1880; Tigerstedt, Lehrbuch der Physiologie des Kreislaufes, Leipzig 1893. Diese
beiden klassischen Werke der Physiologie will die folgende Zusammenstellung nicht
ersetzen, nur ergänzen, deshalb sind Probleme, die dort ausführlich diskutiert sind,
hier zum Teil nur gestreift. Auch die specielle Physiologie des kleinen Kreis-
laufes, die Tigerstedt in den „Ergebnissen der Physiologie“ erst kürzlich behandelt
hat, konnte aus diesem Grunde weggelassen werden.
662 Die Bedeutung eines Verteilungssystems.
Sobald aber das Mesoderm sich dazwischen schiebt und der Körper volumi-
nöser wird, d. h. eine für uns etwa an der Grenze der Sichtbarkeit liegende Größe
überschreitet, vermag er im allgemeinen nicht mehr alle seine Teile durch eine
von Zelle zu Zelle dringende Endosmose zu ernähren. — Ebensowenig vermag er
auf diese Weise verbrauchte Stoffe fortzuschaffen. Nur unter besonders günstigen
Bedingungen, bei parasitärer Lebensweise, dürfte dies möglich sein; hier sind denn
auch die Kreislauforgane häufig vollkommen zurückgebildet.
Abgesehen von diesen Ausnahmefällen wird aber immer, falls überhaupt
eine weitere Größenentwickelung möglich sein soll, die Ausbildung eines Ver-
teilungssystems notwendig.
Ein solches Verteilungssystem hat die Aufgabe, den ursprünglichen
Kontakt der einzelnen Zelle mit der Umgebung aufrecht zu erhalten. Das
Protozoon empfängt von seiner Umgebung Sauerstoff und die notwendigen
Nahrungsmittel und gibt Kohlensäure und die überflüssigen Stoffe der regres-
siven Metamorphose ab. Die Aufgabe des Verteilungssystems besteht auch
bei den Metazoen darin, die an bestimmten Stellen aufgenommene Nahrung
(inkl. des Sauerstoffs) im ganzen Körper zu verteilen und die Abfallsprodukte
aus allen Teilen des Körpers nach gewissen Stellen zu führen, an denen sie
dann ausgeschieden werden. Diese Aufgabe wird durchaus nicht immer von
demjenigen Apparat geleistet, welchen wir beim Menschen als Kreislaufsystem
zu bezeichnen gewohnt sind. Luftwege, Verdauungswege und Harnwege
können unter Umständen wenigstens teilweise da:selbe leisten, und die ver-
gleichende Physiologie zeigt uns, daß die gedachten Möglichkeiten in der
Tat alle verwirklicht sind.
Außerdem aber hat das Blutgefäßsystem im Laufe der Entwickelung
noch eine andere, uns erst in den letzten Jahren deutlicher zum Bewußtsein
gekommene Bedeutung gewonnen: Es ist der Vermittler einer wohl vor-
läufig kaum geahnten Menge von Regulationsvorgängen im Körper.
Zwar, daß Art und Menge der Blutgase ein Regulator der Atmung ist, wissen
wir längst, aber das Studium der inneren Sekretion macht es von Tag zu Tag
gewisser, daß außerdem noch unzählige Stoffe im Blute kreisen, welche, vom
Organismus selbst produziert, die Funktionen des Körpers in ganz anderen,
von den Bildungsstellen weit entfernten Gebieten regulieren.
In diesem Sinn kommen dem Blute Eigenschaften zu, die man lange
für eine ausschließliche Domäne des Nervensystems hielt.
8.2.
Das Verteilungssystem bei Wirbellosen.
Die sehr große Literatur über die Morphologie der Kreislaufsysteme in der
Tierreihe kann nicht berücksichtigt werden. Im folgenden sollen einige neuere
physiologische Arbeiten über die vergleichende Physiologie des Kreislaufes zusammen-
gestellt werden. Hier findet man auch meist die ältere Literatur. Die sehr zahl-
reichen Arbeiten von Carlson, der fast alle Stämme der Wirbellosen in bezug auf
ihr Zirkulationssystem untersucht hat, sind nicht einzeln aufgeführt. Sie finden
sich alle im Am. Journ. of Physiol.
Würmer: Johnston und Johnson, The course of the blood flow in Lum-
brieus, Proc. Amer. Phys. Soc. in Am. Journ. of Physiol. 12, 6,1902. — Schnecken:
Schönlein, Über das Herz von Aplysia limacina, Zeitschr. f. Biol. 30, 187, 1893;
Straub, Zur Physiologie des Aplysienherzens, Pflügers Arch. 86, 504, 1901.
Muscheln: Athing, Untersuchungen über das Bojanasche Organ, Rostocker
Dissertation 1901. — Tunicaten (vgl. auch die Literaturangaben auf 8.666);
Das Verteilungssystem bei Wirbellosen. 663
Pizon, Physiologie du coeur chez les colonies de Diplosomes, Compt. rend. de
l’Acad. 135, 1528, 1902; G. W. Hunter, Notes on the heart action of Molgula
manhattensis, Amer. Journ. of Physiol. 10, 1, 1903; Heine, Bau und Entwickelung
des Herzens der Salpen, Zeitschr. f. wiss. Zool. 73, 429, 1908; Carlson, The
response of the hearts of certain Molluscs, Decapods and Tunicates to electrical
Stimulation, Science New York 17, 548, 1903; Enriques, Della circulazione
sanguinea nei tunicati, Archivio zool. 2, 11, 1904. — Crustaceen: Bandler,
Wirkung des elektrischen Stromes und der Herzgifte auf das Daphnienherz, Arch.
f. experim. Pathol. 34, 392, 1894; Fischel, Nachtrag hierzu ebenda 36, 325, 1895;
Deaborn, Hunt Bookmann und Tierney, Einige allgemeine Eigenschaften des
Herzmuskels vom amerikanischen Hummer, Zentralbl. f. Physiol. 11, 274, 1897;
Robertson, Note on the influence of temperature on the rate of the heart beat in
a erustaceen, Biol. Bull. 10, 242, 1906. — Insekten: L. Arnhardt, Die Bedeu-
tung der Aortaschlangenwindungen des Bienenherzens, Zool. Anz. 30, 721, 1906. —
Fische: K. Schönlein, Beobachtungen über Blutkreislauf und Respiration bei
einigen Fischen nebst einigen Bemerkungen über die Vivisektionstechnik bei Fischen,
Zeitschr. f. Biol. 32, 511, 1895; vgl. auch Schönlein und Willem, Bull. scientif.
de la France et de la Belg. 26 (1895); Brünings, Zur Physiologie des Kreislaufes
der Fische, Pflügers Arch. 75, 599, 1899; Grützner, Nachträglicher Zusatz ebenda,
S. 641, 1899; Botazzi, Über die Innervation des Herzens von Scyllium canicula und
Maja squinado, Zentralbl. f. Physiol. 14, 665; Greene, Contributions to the physio-
logy of the California hagfish (Polistotema Stouti), I. The anatomy and phys. of the
caudal heart, Amer. Journ. of Physiol. 3, 366, 1900, II. The absence of regulative
nerves, ebenda 6, 318, 1901. — Coelenteraten: Cremer, Über das Elektrocardio-
gramm der Medusen, Sitzungsber. d. Ges. f. Morph. u. Physiol., München 1906.
Das einfachste Verteilungssystem findet sich bei den Schwämmen.
Hier wird der Körper einfach porös.. Durch unzählige Dermalporen
tritt das umgebende Wasser mit den in ihm enthaltenen Nahrungsstoffen
in das Körpergewebe hinein und wird hier durch die Geißeln besonderer
Zellen, die teilweise in sogenannten Geißelkammern angebracht sind, um-
getrieben. Dadurch werden auch die innen liegenden Körperzellen von der
Umgebungsflüssigkeit direkt umspült, sie nehmen aus ihr — fast wie frei
lebende Zellen — die notwendigen Nahrungsstoffe auf und geben auch ihre
Exkrete an das umspülende Wasser ab, das weiter gewirbelt den Körper
endlich durch ein oder mehrere „Oscula“ verläßt.
Wenn sich bei den höheren CGölenteraten (Quallen, Medusen und
Korallen) ein eigentlicher Darm zu entwickeln beginnt, so ist dieser anfangs
noch durchaus Verdauungs- und Verteilungsorgan zugleich.
Das wird dadurch erreicht, daß der Darm die Beschaffenheit eines ein-
fachen Rohres aufgibt und — sich mehr oder minder stark verästelnd —
mit seinen Verzweigungen die einzelnen Körperregionen selbst aufsucht. Da
hier die Ausstülpungen des Magens (yx6rno) die Form und das Geschäft
von Gefäßen (vascula) übernehmen, so. spricht man von einem Gastro-
vascularsystem. Durch Kontraktionen des Zentralmagens sowie durch
allgemeine Körperbewegungen wird der Inhalt in die blindsackförmig endigen-
den Gefäße hinein und aus ihnen wieder heraus bewegt. Diese Art des
„Zirkulationssystems“, die eine recht hohe Vollkommenheit erlangen kann,
und die sich auch noch bei vielen niederen Würmern findet, ist eben die
allein mögliche, solange noch der Darm die einzige vorhandene Körperhöhle
ist. Wenn sich aber im Laufe der Entwickelung der Darm von der Leibes-
höhle sondert, so tritt eine Arbeitsteilung ein; der Darm übernimmt die
Funktion des Aufsaugens, die Leibeshöhle die Funktion der Verteilung.
\
664 Verteilungssystem bei Würmern und Echinodermen.
Man kann diesen Vorgang auch so beschreiben, daß man sagt, die Gastral-
taschen der Cölenteraten schnüren sich ab und behalten dann nur noch die
Funktion von Verteilungsorganen. (Ob der Vorgang sich auch morphologisch
in dieser Weise abspielt, ist zum mindesten fraglich.)
Bei den Würmern finden wir alle Stadien dieser allmählich fortschreiten-
den Entwickelung. Die ursprünglichsten Zustände finden sich wohl bei den
Nematoden und Acanthocephalen. Bei ihnen ist das Cölom, die Leibes-
höhle, von einer Art Lymphe, einer Eiweiß, manchmal auch geformte Bestand-
teile enthaltenden Flüssigkeit angefüllt. Diese Lymphe empfängt die resor-
bierte Nahrung aus dem Darm und gibt sie weiter an die Gewebe. Als
treibende Kraft für die Fortbewegung der Lymphe kommen im wesentlichen
die allgemeinen Körperbewegungen in Betracht.
Allmählich sondert sich nun das Cölom in einzelne Abschnitte, in
Lacunen, wie sie Milne-Edwards nennt, und dieses lacunäre Gefäßsystem
wird in seinem einen Abschnitt von immer zahlreicheren Septen durch-
zogen und somit immer engmaschiger; in seinem anderen Abschnitt reckt
und streckt es sich und wird immer röhrenförmiger und glattwandiger, so
daß sich im Laufe der Entwickelungsreihe daraus das Capillarsystem einer-
seits und das zu- und abführende arterielle und venöse System andererseits
entwickelt. Aber lacunäre Räume erhalten sich noch weit hinauf in der
Tierreihe, und vollkommen abgeschlossene Systeme besitzen immer nur die
höchsten Entwickelungsformen.
In den einzelnen Klassen des Würmerstammes sehen wir diese Ent-
wickelung in allen Stadien: aber erst bei manchen Anneliden (wie bei den
Regenwürmern) finden wir ein geschlossenes Gefäßsystem, das rot gefärbtes
Blut führt. Der dorsale Stamm liegt hier auf dem Darme, der ventrale in
einiger Entfernung unter demselben. Verbunden sind diese beiden Stämme
durch segmental angeordnete seitliche Anastomosen, welche bei den Regen-
würmern pulsieren (laterale Herzen), während meist der dorsale Gefäßstamm
kontraktionsfähig ist; manchmal kommt es hier auch zur Bildung eines wirk-
lichen Herzens, wie bei Arenicola, die ein zweikammeriges Herz in der
vorderen Hälfte des Rückengefäßes besitzt.
Neben diesem vom Darm abstammenden Verteilungssystem finden wir bei
manchen Würmern noch ein zweites Verteilungs- bzw. Ableitungssystem. Besonders
bei den parenchymatösen Würmern sind die Exkretionsorgane (die sogenannten
Protonephridien oder Wassergefäßsysteme) äußerst dicht verzweigt, wobei sie häufig
ein an Blutcapillaren erinnerndes Netzwerk bilden. Diese Tiere haben also
einen überall hin verzweigten Darm, der zugleich mit der Nahrungs-
aufnahme und Verteilung auch die Atmung besorgt und eine überall
hin verzweigte Niere. — Eines dazwischen liegenden Gefäßsystems bedürfen
sie also nicht. Das spätere abgeschlossene Blutsystem hat sich dann, daran sei
nochmals erinnert, durch Abschnürung der Gastralfortsätze ausgebildet. Eine
Weiterbildung der im Protonephridiensystem ausgesprochenen Tendenz findet sich
in der Natur nicht. ’
Bei den Eehinodermen tritt das Gefäßsystem, das die Nahrungs-
verteilung zu besorgen hat, in innige Beziehung zu dem mit der Außenwelt
direkt in Verbindung stehenden Wasser- oder Ambulacralsystem, von dem
man früher glaubte, daß es nur zur Lokomotion diente Wenn man auch
heute, nachdem man das sogenannte „Herz des Wassersystems“ als eine Art
Verteilungssystem bei Mollusken und Anthropoden. 665
Lymphdrüse erkannt hat, weiß, daß auch dies System zur Nahrungsaufnahme
und mehr noch zur Atmung in Beziehung steht, so ist doch unsere Kenntnis
von diesen Funktionen so gering, und die Verbindung mit TLokomotions-
organen bedingt so eigenartige Verhältnisse, daß es hier, wo doch schließlich
alles im Hinblick auf den Menschen abgehandelt wird, mit der Erwähnung
genug sein mag.
Bei den Mollusken ist ständig ein dorsales arterielles Herz vor-
handen, das aus einer Kammer und aus ein oder zwei Vorkammern be-
steht. Das Herz empfängt das Blut direkt von den Kiemen (bzw. Lungen).
Vom Herzen wird das Blut in Arterien den einzelnen Körperregionen zu-
geführt, dann wird es von lacunären Räumen aufgenommen, teilweise auch,
besonders bei den Muscheln, von der allgemeinen Leibeshöhle. Von hier
führen wieder eigentliche Gefäße, und zwar venöse Bahnen zu den Respirations-
organen. Ein Capillarsystem ist nur bei den höchstentwickelten Mollusken,
bei den Cephalopoden, vorhanden, aber auch sie haben kein völlig ge-
schlossenes Blutsystem.
Bei den Arthropoden ist die Anordnung die Gefäßsystems ähnlich wie
bei den Mollusken, auch hier findet sich ein dorsales, entsprechend dem
ganzen Charakter der Arthropoden meist segmental gebautes Herz, das aber
keine zuführenden Venen besitzt, sondern durch mehr oder weniger zahlreiche
„Ostien“ sich aus dem umspülenden Blute vollschöpft. Weiter findet sich
ein mehr oder weniger (niemals ganz) geschlossenes Gefäßsystem, in das zum
mindesten der den Herzbeutel darstellende Teil der Leibeshöhle als lacunäre
Bildung einbezogen ist.
Bei den fast mikroskopisch kleinen niederen Krustern (Copepoden), deren
dünnhäutige Oberfläche eine diffuse Atmung erlaubt, ebenso wie bei den ähnlich
gebauten kleinen Spinnen (viele Milben) und bei kleinen Insekten (viele Blattläuse),
ist ein ausgebildetes Gefäßsystem kaum notwendig: hier findet man daher auch nur
die allgemeine Körperhöhle mit einer Iymphartigen Flüssigkeit angefüllt wie. bei
niederen Würmern. Manchmal ist noch ein Herz vorhanden, das diese Lymphe
umtreibt, manchmal schwindet auch dies, und die Zirkulation im Cölom wird nur
durch die allgemeinen Körperbewegungen aufrecht erhalten. Auch abgesehen von
diesen extremsten Fällen der Rückbildung kann man bei vergleichender Betrach-
tung der einzelnen Insektenfamilien erkennen, daß Venen, Arterien und Capillaren
desto besser ausgebildet sind, je mehr sich die Atmung in bestimmten
Punkten des Körpers lokalisiert, und zwar kommt es nur auf die Lokali-
sation an, die Art der Atmung ist völlig gleichgültig, denn die durch Kiemen
atmenden großen Kruster haben ein ebenso vollkommen ausgebildetes Blutgefäß-
system wie die ausschließlich durch Lungen atmenden Skorpione.
Je mehr aber bei den Spinnen die Lungenatmung gegenüber der Luftversor-
gung durch Tracheensysteme zurücktritt, desto schlechter sind die Blutgefäße aus-
gebildet, und bei den ausschließlich durch Tracheen atmenden Insekten ist das
Blutgefäßsystem äußerst rudimentär, denn hier ist neben dem Blutgefäßsystem ein
anderes Verteilungssystem — nämlich das der Tracheen — entstanden, das den
Gefäßen einen Teil ihrer Arbeit abnimmt. [Die Tracheen sind bekanntlich lufthaltige
Röhren, die, äußerst fein verzweigt, den ganzen Körper mit einem engen Netz
durchziehen und so die Zu- und Abfuhr der gasförmigen Substanzen (im wesent-
lichen Sauerstoff und Kohlensäure) selbständig besorgen.]
Der Umstand, daß selbst bei so hoch entwickelten Tieren, wie es doch manche
Insekten sind, der Ausfall der einen Funktion des Gefäßsystems (der Transport der
gasförmigen Stoffe) die fast völlige Atrophie der Gefäße zur Folge hat, zeigt
deutlich, daß die Sauerstoffverteilung (bzw. die CO,-Wegführung) die
wesentlichste Aufgabe des Blutgefäßsystems ist; wie denn die klassische
42*
666 Verteilungssystem bei Tunicaten.
Einteilung in venöses und arterielles Blut durchaus sachgemäß erscheint, eine Ein-
teilung aber in nahrunghaltiges und abfallproduktehaltiges Blut unangebracht wäre.
Allerdings ist bei den Insekten der entodermale Mitteldarm häufig mit zahlreichen
Blindsäcken versehen und die in den ektodermalen Enddarm mündenden Vasa
Malpighii sind sehr lang, so daß diese Bildungen nach Art eines Gastrovasculär-
systems und eines Protonephridiensystems die eigentlichen Zirkulationsorgane ent-
lasten.
Die Tuniecaten endlich sind außer den Wirbeltieren die einzigen, welche
ein ventral gelegenes Herz haben. Ihr Gefäßsystem ist ziemlich ausgebildet,
nur in der Umgebung des Darmes finden sich einige lacunäre Bildungen.
Das Tunicatenherz hat außerdem eine sonst nie vorkommende Eigentümlich-
keit. Es ist nämlich imstande, das Blut abwechselnd bald in der einen, bald
in der anderen Richtung durch sich hindurch zu pumpen. Wenn das Herz
z. B. eine Weile als arterielles Herz tätig gewesen ist, d. h. wie bei den
Mollusken mit Sauerstoff gesättigtes Blut von den Respirationsorganen auf-
genommen und dann in den Körper getrieben hat, steht es plötzlich still, um
nach einem Weilchen, ähnlich einem Fischherz, das Blut aus dem Körper
aufzunehmen und in die Kiemen zu treiben. Also auch in bezug auf ihr
Herz und ihr Gefäßsystem nehmen die Tunicaten eine vermittelnde Stellung
zwischen diesen beiden Tierstämmen ein. Genaueres über die Bedeutung
dieses Mechanismus siehe in meiner !) Arbeit über das Salpenherz.
Dieser periodische Wechsel der Kontraktionsrichtung, der von van Hasselt”)
und von Eschscholtz®) entdeckt wurde, ist in neuerer Zeit von L. 8. Schultze‘)
eingehend untersucht worden, bei dem auch die einschlägige Literatur in ausführ-
licher Weise zu finden ist. Da Klappen immer nur so gebaut sein können, daß sie
bei einer bestimmten Richtung des Blutstromes wirksam sind, so kann das, was
Schultze als Rudiment einer Zipfelklappe beschreibt, kaum eine wesentliche funk-
tionelle Bedeutung haben. Das Blut kann hier nur durch eine peristaltische Welle
in der Muskulatur vorwärts getrieben werden. Dadurch, daß dabei die eine Seite
des Schlauches ganz oder fast vollständig verschlossen wird, ist das Blut ge-
zwungen, nach der anderen Seite auszuweichen. Das Ungünstige liegt vor allem
darin, daß der Rückfluß des Blutes nicht durch einen Mechanismus verhindert
wird, der ohne die Tätigkeit von Muskelzellen zustande kommt. Hier ist vielmehr
alles die Wirkung von Muskelkraft, und dies scheint in der Tat eine überflüssige
Vergeudung von Kraft zu sein.
8 3.
Das Verteilungssystem bei den Wirbeltieren.
Die Wirbeltiere) haben (mit Ausnahme des Amphioxus) ein ventral
gelegenes Herz und ein geschlossenes Blutgefäßsystem. Die Lymph-
gefäße hingegen verlaufen zwar auch in geschlossenen Bahnen, allein diese
kommunizieren mit allen offenen Spalten, Lücken und Hohlräumen des
Körpers.
') Nicolai, Beiträge zur Anatomie und Physiologie des Salpenherzens, Arch.
f. Anat. u. Physiol. (Physiolog. Abt.) 1909. — °?) van Hasselt, Lettre sur les
Bisphores, Annal. de soc. natur. 3, 1824. — °) Eschscholtz, Bericht über die
Reise von Kronstadt bis St. Peter und Paul. Isis 1825. — *) Schultze, Unter-
suchungen über den Herzschlag der Salpen, in Zeitschr. f. Naturw. 35, N. F. 28,
221, 1901. — °) Die Wirbeltiere sind im Gegensatz zu den anderen Stämmen ver-
hältnismäßig kurz behandelt, weil Tigerstedt ihnen in seinem Lehrbuch ein lesens-
wertes Kapitel gewidmet, den Kreislauf der Wirbellosen aber nicht behandelt hat-
Das Verteilungssystem bei den Wirbeltieren. 667
Das Herz ist in einem aus einer serösen Membran bestehenden Herzbeutel
eingeschlossen, an dem man ein parietales und ein viscerales Blatt unterscheiden
kann. Das letztere überzieht das Herz und ist mit ihm verwachsen, zwischen den
beiden Blättern findet sich ein häufig mit ziemlich viel Liquor pericardii gefüllter
Lymphraum, der nur bei den Selachiern mit dem Cölom, von dem er stammt, in
Verbindung steht; seine Aufgabe ist es, bei den Formveränderungen des Herzens
das leichte Gleiten desselben an seiner Umgebung zu ermöglichen und gleichzeitig
infolge der straffsehnigen Beschaffenheit extreme Herzbewegungen zu verhindern '!).
Das Herz, das immer ventral gelegen ist, besteht bei den Selachiern und
Amphibien aus einer einheitlichen, bei allen anderen Tieren aus einer paarigen
Anlage. Die Wand des Herzens differenziert sich in das Endocard, das Myocard
und das Pericard. Bei den Gefäßen entspricht diesen drei Schichten die epitheliale
Intima, die muskulöse und elastische Media und die bindegewebige Adventitia.
Das gesamte Schema des Fischkreislaufes schließt sich noch eng an
die bei Anneliden bestehenden Verhältnisse an, nur ist das Herz an dem ven-
tralen Gefäß entwickelt und nicht an dem dorsalen; diesem entspricht die
bei Vertebraten in ihrem oberen Abschnitt paarig angelegte Aorta descendens
(vgl. die Fig. 42a). Das ventrale und das dorsale Gefäß — die Aorta ascendens
und descendens — hängen auch hier’ noch durch Gefäßschlingen zusammen,
die den Darm umgreifen.
In diesen Ästen liegen die Kiemen, welche das Blut von dem dicht
daneben liegenden Kopfherzen empfangen. Dasselbe ist also ein venöses
Herz; das in den Kiemen arterialisierte Blut fließt dann in das Dorsalgefäß,
in diesem caudalwärts, versorgt den Körper mit Blut und ergießt sich in das
große ventrale venöse Gefäß, das das Blut zum Herzen zurückführt (Fig. 42a).
In der Klasse der Amphibien haben die Kaulquappen noch fast ganz
die geschilderte Anordnung der Kreislauforgane. Wenn aber ihre Kiemen
atrophieren und ihre Schwimmblase sich zur Lunge entwickelt, so
tritt eine tiefgreifende Umgestaltung des gesamten Kreislaufes ein. Mit den
Kiemen schwinden die Kiemencapillaren, und der ganze Kiemenkreislauf wird
auf direkte Verbindungen zwischen Aorta ascendens und descendens reduziert.
Vor allem aber hat die Umwandlung der Schwimmblase zur Lunge zur Folge,
daß der nunmehrige Lungenkreislauf in einen funktionellen Gegensatz
zum Körperkreislauf tritt, von dem er bis dahin einen Teil bildete. . Dieser
Gegensatz hat auch morphologische Konsequenzen; die Lungenvenen, welche
im Gegensatz zu allen anderen Venen arterielles Blut führen, bekommen
eine eigene Einmündung in das Herz, und infolgedessen kommt es zur Aus-
bildung eines rechten und linken Vorhofs. In den rechten Vorhof münden
nach wie vor die Körpervenen (das rechte Herz entspricht also ‘dem gesamten
Fischherzen). In den linken Vorhof aber ergießt sich das arterielle Blut, das
aus den Lungen stammt. Damit ist der Unterschied zwischen dem rechten
venösen und dem linken arteriellen Herzen angebahnt. Zwar mischt
sich noch das in den Vorhöfen getrennte helle und dunkle Blut in der einen
gemeinsamen Kammer, von der sowohl die Lungenarterien als auch die
Körperaorten (denn der Frosch hat noch zwei Aorten) entspringen. Trotz-
dem findet keine völlige Mischung statt; beim Frosch gibt es eine besondere
!) Über die Anatomie des Pericards vgl. auch die von den üblichen Angaben
etwas abweichende Darstellung bei Debierre und Tramblin, Journ. de l’Anat,
et Phys. 44, 174, 1908,
Entwickelungsschema des Kreislaufsystems.
668
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Aufgabe des Verteilungssystems. 669
Klappe im Aortenbulbus (Spiralklappe, Brückesche Klappe), welche nach
Suchard!) vornehmlich im ersten Stadium der Kammersystole das venöse
Blut von der Aorta abhält und in die Arteria laryngea ablenkt, deren Gefäß-
gebiet zum respiratorischen Bezirk gehört. Aber die Scheidewand, welche
von der Einmündungsstelle der nunmehr getrennten Venen in das Herz vor-
ragt, wächst weiter. Bei den Tritonen ist die Vorhofscheidewand noch durch-
löchert, bei den Fröschen dagegen ist sie schon solid, und durch zahlreiche
Muskellamellen und Balken im Innern des Ventrikels wird wenigstens bis zu
einem gewissen Grade eine Mischung der beiden Blutarten verhindert.
In der Klasse der Reptilien wächst dann allmählich das Ventrikel-
septum, Eidechsen, Schlangen und Schildkröten haben immer vollkommenere
Septen; bei den Krokodilen ist die Scheidung vollendet (vgl. Fig. 42 c).
Aber die Reptilien zeigen trotzdem keine völlige Trennung in einen arteriellen
und venösen Kreislauf, weil hier zwei Aorten vorhanden sind, welche aus je einer
Herzhälfte entspringen und sich dann kreuzen. Die linke Aorta, welche aus dem
rechten Herzen stammt, enthält daher, fälls die Scheidewand vollkommen ist, rein
venöses Blut (sonst gemischtes), während die rechte Aorta (aus dem linken Ven-
trikel) auf alle Fälle — auch wenn die Ventrikelscheidewand nicht vollkommen
ist — ein vollständiger arterialisiertes Blut erhält. Da, wie aus der Figur hervor-
geht, von dieser Aorta Kopf und Gehirn versorgt werden, erscheint diese Ein-
richtung, welche gerade die lebenswichtigsten Organe am besten versorgt, äußerst
zweckmäßig.
Funktionell vollendet ist die Trennung erst bei den Warmblütern, von
denen in Fig. 42d das Vogelschema gezeichnet ist; das Säugetierschema (vgl. Fig. 43)
unterscheidet sich nur dadurch, daß hier statt der rechten die linke Aorta er-
halten bleibt.
Neben dieser funktionell wichtigen Trennung in ein rechtes und linkes Herz
gehen andere Veränderungen einher. Der Sinusteil des Herzens, d. h. die Ein-
mündungsstelle der Venen, der bei den Fischen einen ganz gesonderten Herzabschnitt
bildet und auch bei den Amphibien noch deutlich zu erkennen ist, wird allmählich
ganz in den rechten Vorhof hineingezogen, so daß er bei den erwachsenen Säugern
überhaupt nicht mehr als gesonderter Teil wahrgenommen werden-kann. In bezug
auf die allmähliche Ausbildung der Klappen, der Papillarmuskeln usw. muß auf ein
Lehrbuch der Zoologie bzw. der Entwickelungsgeschichte verwiesen werden.
Das Schema des Kreislaufs der Säugetiere.
$ 4.
Die methodische Entwickelung der Kenntnis des Schemas.
Das Verteilungssystem bildet bei den Säugetieren — wie überhaupt in
der Tierreihe — im Grunde doch immer noch die Vermittelung zwischen
dem Körper und der Außenwelt, wenn auch durch Einschaltung von
Intermediärstadien und Zwischenstationen häufig genug nur eine Vermitte-
lung zwischen einzelnen Körperstellen stattzufinden scheint.
Man kann also Zufuhr- und Abfuhrwege unterscheiden. Beiden Zufuhr-
wegen ist anzugeben, an welcher Stelle und in welcher Weise die einzelnen
Stoffe von der Außenwelt in das Verteilungssystem aufgenommen und dann
an die einzelnen Körperregionen wieder abgegeben werden. Bei den Ab-
fuhrwegen ist anzugeben, an welcher Stelle und in welcher Weise der
!) E. Suchard, Observations nouvelles sur la structure de la valvule de
Brücke et sur son röle, Compt. rend. d. 1. Soc. de biol. 1901, p. 1179.
670 Schema des Verteilungssystems.
Körper die einzelnen Stoffe an das Verteilungssystem abgibt, und an welcher
Stelle das Verteilungssystem sie dann wiederum an die Außenwelt abgibt.
Die Zufuhr- oder Abfuhrstoffe müssen erstens an ihren Bestimmungsort ge-
bracht werden und zweitens mit dem umgebenden Gewebe in Wechselwirkung
treten: so zerfällt das Verteilungssystem funktionell in zwei vollkommen verschiedene
Gebiete — in das Transport- und in das Umsatz- (Aufnahme- und Abgabe-)System.
In dem Transportsystem müssen Bahnen vorhanden sein, auf denen die
verschiedenen Stoffe von einem zum anderen Körperteil transportiert werden. Hier-
für sind möglichst glatte, starkwandige und weite Gefäße in geringer Zahl
geeignet. Glatt: um überflüssige Reibung zu vermeiden, starkwandig: um einen
möglichst hohen Druck und dadurch bedingte schnelle Fortpflanzungsgeschwindig-
keit zu erlauben (denn die Fortpflanzungsgeschwindigkeit ist proportional dem
Drucke) und weit: weil die Reibung eben im wesentlichen nur an der Wand
stattfindet und bekanntlich der Umfang gegenüber dem Querschnitt bei größeren
Gefäßen verhältnismäßig kleiner ist (denn der Umfang ist proportional dem Durch-
messer, der Querschnitt aber proportional dem Quadrat des Durchmessers). Die
Weite ermöglicht die geringe Zahl. Für das Umsatzsystem aber sind möglichst
dünnwandige, verzweigte und enge Gefäße in großer Zahl geeignet. Dünn-
wandige: um den Austausch zu ermöglichen, verzweigte: um allen Zellen
möglichst nahe zu kommen, und enge: eben weil hier im Gegensatz zu den
Transportgefäßen eine möglichst große Oberfläche erwünscht scheint. Die große
Zahl der Gefäße kompensiert nicht nur den Einfluß der Enge des einzelnen
Gefäßes, sondern bedingt eine enorme Erweiterung des Gesamtquerschnittes und
infolgedessen eine enorme Verlangsamung der Strömungsgeschwindigkeit, was not-
wendig erscheint, um zum Austausch der Stoffwechselprodukte in den kurzen
Capillaren Zeit zu gewähren. (Mit Aortengeschwindigkeit würde das Blut die ganze
Capillare in ein Tausendstel Sekunde passieren.)
Gemäß dieser doppelten Aufgabe zerfällt nun auch strukturell das Gefäß-
system in zwei in einem gewissen Gegensatz stehende Systeme, in das Transport-
system (Arterien und Venen) und in das Umsatzsystem (Capillaren). Ein
genaueres Zusehen zeigt, daß beide Systeme ihren Aufgaben in ausgezeichneter
Weise angepaßt sind. |
An Capillargebieten haben wir im einzelnen folgende zu berücksichtigen,
die in der folgenden Tabelle zusammengestellt sind; die Pfeile geben die
Richtung an, in der die betreffenden Stoffe befördert werden:
ERDE VON SERIDBER Körper Beförderte Produkte Capillaren
welt system
Bauerstoft !... . .. 2.0022 7,700 1.. Dunpane
— Nahru Kohlehydrate usw. | 2. Darm-
AAFUNE | Fette usw... .. | 8. Chylus-
| _— Sauerstoff und Nahrung. . . | 4. Körper-
| —— Kohlensäure und Abfall. . | (siehe YrSEEEE
| 5. Lymphspalten
| Kohlensäure... 5,0 Saar (siehe Nr. 1)
. | Abkell.-. 00.0000 snscce 20 PRSANSETOZE
Außer diesen sechs Capillargebieten unterscheidet man dann noch meist
als gesondertes System die Lebercapillaren (7), weil sie morphologisch eine
singuläre Stellung einnehmen und in eine bereits venöse Bahn eingeschaltet
sind. Ein ähnliches Verhalten im kleinen zeigen die Glomeruluscapillaren.
Der große und kleine „Kreislauf“. 671
Dies ergibt somit sieben voneinander verschiedene Austauschgebiete,
davon sind fünf eigentliche Capillargebiete, die Lungen-, Darm-, Nieren-,
Leber- und Körpercapillaren. Dazu kommen noch die beiden Ursprungs-
gebiete des Lymphstromes, die in den Körpergeweben gelegene, nicht capillare,
sondern lacunäre parenchymatöse Quelle und die im Darm gelegene Chylusquelle.
Diese sieben Capillargebiete greifen vielfach ineinander über, und es
hängt von der anatomischen Beschaffenheit der einzelnen Gebiete ab, ob in
ihnen außer den spezifischen, austauschenden Capillaren auch noch ernährende
Capillaren vorhanden sind, und in welche Beziehung diese zueinander treten.
In der Leber ist dabei das Verhältnis so, daß außer der Vena portae,
welche das venöse Blut vom Darm zuführt, eine Leberarterie vorhanden ist,
und daß deren Capillargebiet mit dem portalen Capillargebiet zu einem ein-
heitlichen System verbunden ist, das sein Blut in gemeinschaftliche Venen
ergießt. Das Blut der Vena portae ist vorher schon durch das Capillargebiet
des Darmes gegangen. (Vgl. auch die ausführliche etwas abweichende Dar-
stellung bei Looten !).
Ähnlich liegen die Verhältnisse bei der Niere. Hier gehen von den kleinen
Nierenarterien (Rindenarterien) Gefäße teils zu den Glomerulis, teils zu den
Gewebscapillaren. In dies Netz lösen sich auch die efferenten Glomeruligefäße
von neuem auf, deren Blut also zwei Capillarsysteme hintereinander passiert.
Die Anordnung des Motors (Herz), der in zwei Gruppen (Arterien und
Venen) geteilten Verbindungszweige und der sieben Umsatzgebiete (Capillaren)
zeigt besser als jede Beschreibung die Fig. 43a auf folgender Seite. Dabei ist,
wie üblich, das sauerstoffreiche (arterielle) Blut rot, das CO,-reiche (venöse)
dagegen blau gezeichnet. Man hat dabei mit Recht die Einteilung nach dem
wichtigsten Erhaltungsmittel des Körpers, dem Sauerstoff, vorgenommen,
ohne den der Körper auch nicht einmal wenige Minuten leben kann. Gelb
gezeichnet ist das Lymphsystem ohne Rücksicht auf den Inhalt, denn von III
aus sind es zuführende, von V aus abführende Bahnen des Körpers.
Dies Schema wird meist — abgesehen vom Lymphsystem — das Schema
vom großen und kleinen Kreislauf genannt, wobei man unter kleinem
Kreislauf Lungenarterie, Lungencapillaren und Lungenvene versteht, unter
großem Kreislauf alles übrige, wovon man dann häufig noch den Pfort-
aderkreislauf absondert, den man früher „kleinsten Kreislauf“ nannte (vgl.
J. Müller in Burdachs Physiologie, Leipzig 1832).
Im Grunde aber existieren nicht mehrere Kreise, sondern nur einer,
der allerdings eine Achtertour bildet; besonders deutlich wird dies in der
Fig. 44, S. 673. Man sieht sehr deutlich, daß der Lungenkreislauf erst durch
den Körperkreislauf zu einem vollen Kreis ergänzt wird und weiter, daß
diese Ergänzung aus sehr vielen parallel geschalteten Kreissegmenten be-
steht: Das Blut kann auf tausend verschiedenen Wegen von der Aorta
in die Vena cava gelangen (z. B. durch das Gehirn, das Gesicht, die Leber
oder die Nieren, durch das rechte Bein oder durch den linken Arm). Noch
einen, dem Körperkreislauf parallelen Kreislauf gibt es, der in gewissem Sinne
viel selbständiger ist als alle die genannten: das ist der Kreislauf des Herzens
!) Looten: Contribution & P’6tude de l’ind6pendance vasculaire du foie droit
et du foie gauche, Journ. de l’Anat. et Physiol. 44, 2, 1908.
672 Schemata des Blutkreislaufes.
Schema des Blutkreislaufes. a) nach Harvey (modifiziert), b) nach Galenos (rekonstruiert).
Es sind: die Herzwandung schraffiert, die Arterienwandung stark konturiert, die Venenwandung
doppelt konturiert, die Capillärwandung schwach konturiert, arterielles Blut rot, venöses Blut blau,
Lymph- und Chylusgefäße (bzw. Nahrung) gelb. I Lungencapillaren, II Darmcapillaren, III Chylus-
capillaren, IV Körpercapillaren, V Lymphspalten, VI Nierencapillaren, VIa Glomeruluscapillaren,
VII Lebercapillaren.
Übersicht der Parallelbahnen. 673
selbst. Aus dem Bulbus aortae durch die Coronargefäße entspringend,
kehrt er durch die Sinus coronarii und Foramina venarum minimarum in
den rechten Vorhof zurück,
berührt also weder die
Aorta noch eine Vena cava.
Wenn man häufig die
Pfortaderbahn als geson- er \
y %
Fig. 44.
derten Kreislauf schildert,
so liegt hierzu kaum eine
Veranlassung vor. Trotz
dem Gesagten werden wir
die alt eingebürgerten Aus-
drücke beibehalten.
DieVerhältnisse des Pfort-
aderkreislaufs liegen bei den
verschiedenen Wirbeltierklas-
sen etwas verschieden. Bei
den Säugern bilden die Venen
des Verdauungstraktes (also
des Magens, des Darmkanals,
der Milz, des Pankreas, des
Mesenteriums und der Gallen-
blase) die Pfortader, welche
sich dann wieder in der
Leber nach Art einer Arterie
von neuem verzweigt. Bei
den Vögeln kommen außer
den genannten Venen, welche
das Ursprungsgebiet der Pfort-
ader bilden, auch noch einige
Venen der hinteren Extremi-
täten, des Schwanzes und
des Beckens hinzu, wie schon
Nicolai (Isis 1826) gezeigt
hat. Bei den niederen Tieren
wird der Anteil des nicht
dem Eingeweidetrakt ent-
stammenden Pfortaderblutes
immer größer. Bei den Am-
phibien und Fischen kommt
dann noch, wie ebenfalls
Nicolai erwiesen hat, das Schema der Blutverteilung im Körper
. zeigt, daß der große und der kleine Kreislauf erst gegenseitig
Pfortadersy stem der Nieren sich zu einem Kreise ergänzen, und daß im großen Kreislauf
hinzu. viele einzelne „Kreisläufe“ einander parallel geschaltet sind.
$ 5.
Historische Entwickelung der Kenntnis des Schemas.
Vor Harvey.
Heute findet man dies Schema mehr oder weniger übersichtlich in allen
Schulbüchern und. es erscheint fast unbegreiflich, warum man die einfachsten
Versuche nicht angestellt und die scheinbar so offensichtliche Wahrheit nicht
gefunden. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß das Mikroskop erst in
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 43
674 Schwierigkeit des Kreislaufproblems.
den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts erfunden ist, und daß mithin
vorher niemand die capillare Verbindung zwischen Arterien und Venen
gesehen haben kann. Da ist es dann eher erklärlich, wie man es an sich
für ebenso wahrscheinlich halten konnte, eine Verbindung durch das schmale
Ventrikelseptum anzunehmen, als durch die zum Teil doch sehr viel mäch-
tigeren peripheren Fleischmassen. Alles, was wir vor der Erfindung des
Mikroskops über die wahre Natur des Kreislaufs wissen konnten, war nur
indirekt erschlossen aus physiologischen Experimenten, und es wird ein
ewiges Ruhmesblatt in der Geschichte der Experimentierkunst bleiben, daß
unsere Kenntnis vom Blutkreislauf vollkommen fest und sicher begründet
war, ehe irgend jemand den Kreislauf wirklich gesehen hatte.
Es existiert eben — wie Bethe') sehr richtig in anderem Zusammenhange
bemerkt — nicht nur das, was direkt gesehen werden kann, und es ist ein trauriges
Zeichen, daß man heute oft den für einen Fabulanten hält, der einen logischen
Schluß aus den Tatsachen ziehen kann. Es war ja zweifellos ganz erfreulich, daß
Malpighi?) vier Jahre nach Harveys Tode die Blutströmung in den Capillaren
demonstrieren konnte, aber ihn deshalb den Entdecker des Blutkreislaufes nennen
zu wollen, wie manche getan, wäre ebenso töricht, als wenn man das Verdienst
um die Auffindung des Neptuns nicht den genialen Berechnungen Leverriers,
sondern der tüchtigen Technik Galles zuschreiben wollte. Denn das ist ja gerade
der höchste Triumph des menschlichen Geistes, sagte Mädler®) schon im Jahre 1840,
daß das geistige Auge der Analysis Entdeckungen in Regionen machen wird, in
die das körperliche Auge bis dahin einzudringen nicht vermochte. Für die Astrono-
mie war dies ein prophetisches Wort, aber für die Physiologie hatte einer ihrer
genialsten Vertreter, William Harvey, schon über 200 Jahre früher etwas dureh-
aus Entsprechendes geleistet.
Auf die an sich richtige Beobachtung, daß an der Leiche die Arterien
leer sind, stützte sich offenbar der uralte, für die Erkenntnis der Wahrheit so
verhängnisvoll gewordene Irrtum, daß auch beim Lebenden die Arterien nur
Luft führen. Ob allerdings dieser Irrtum so alt ist wie das Wort selbst, ob
also die Bezeichnung Arterie von &n0 (Luft) und 7ng8iv (enthalten) herzu-
leiten ist, haben neuere Forscher bezweifelt. Jedenfalls haben Hippokrates
(um 400 v. Chr.) und Aristoteles (um 300 v. Chr.) beide die Vorstellung,
daß einzig die Venen Blut, die Arterien aber nur Luft transportieren. Mag
man sich über die Frage streiten, ob Aristoteles seziert hat, jedenfalls hat
er nicht experimentiert, und seine Angaben sind in dieser Beziehung nur
Konstruktionen und Reflexionen. Der erste, der über den Kreislauf experi-
mentiert zu haben scheint, ist Erasistratos (um 300 v. Chr.). Wenigstens
gibt Galenos von ihm an, daß er die wellenförmige Ausbreitung des Pulses
beobachtet und scheinbar auch die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Pulses
in den Arterien experimentell zu bestimmen gesucht hat, weshalb ihn aller-
dings Galenos tadelt, denn es sei „evident“, meint er, „omnes partes eodem
distendi tempore“. Also auch hier hat die „autoritative Evidenz“ die junge
Wahrheit erschlagen. Und diese Autorität aus den Tagen des verfallenden Roms
herrschte dann fast anderthalb Jahrtausende bis zu den Zeiten der Renaissance.
Es darf hier vielleicht an eine fast genau übereinstimmende chronologische
Analogie erinnert werden. Denn die Autorität des Ptolemäus (eines Zeitgenossen
!) Bethe, Allg. Anat. u. Physiol. d. Nervensystems, Leipzig 1908, 8. 76. —
J
”) Malpighi, De pulmonibus epistola 2 Kanen). ®) Mädler, Der Wunderbau
i% '
des Weltalls, I. Aufl., 1840,
ED \ ER u VG.
ee
Altertum: Galens Schema. 675
des Galen) hat die Vorstellung desAristarch (eines Zeitgenossen des Erasistratos),
daß die Erde sich um die Sonne dreht, fast anderthalb Jahrtausende zurückgedrängt
bis in die Tage Galileis hinein, der ein Zeitgenosse war von Harvey.
Immerhin gründete Galen?!) seine Behauptungen auf Experimente, leider
manchmal auf falsch angestellte oder doch falsch interpretierte Experimente.
Bekannt ist in dieser Beziehung, daß er in den Verlauf einer lebenden Arterie
eine kleine Kanüle einband. Dann sollte angeblich der Puls peripher von
der Kanüle verschwinden.
Der Erfolg des Experimentes ist nur erklärlich, wenn entweder die Kanülen
so eng waren, daß der dadurch bedingte Widerstand die Pulswelle zum Erlöschen
brachte oder wenn eventuell Gerinnung in der Kanüle auftrat. Daß Gerinnung
leicht vorkommen kann, ist ja nicht wunderbar und wird auch von Daremberg)
besonders hervorgehoben.
Daraus schloß dann Galenos — scheinbar mit Recht —, daß die Puls-
bewegungen nicht in der Weise zustande kommen, daß die Röhre durch das Blut passiv
ausgedehnt wird, sondern daß umgekehrt der Sitz der pulsatorischen Bewegung in
der Gefäßwand liegt, daß also für das Zustandekommen des Pulses die intakte
Verbindung mit dem Herzen notwendig ist. Da nun das Blut eben scheinbar nicht
durch das Herz, sondern durch die peristaltische Bewegung der Arterienwand in
Bewegung gesetzt wird, so leugnet Galenos ganz folgerichtig die Wirkung des
Herzens als Druckpumpe und sieht seine Wirksamkeit hauptsächlich in der diasto-
lischen Ansaugung des von den Lungen aufgenommenen Pneuma. [Da also die
Galensche Anschauung von der aktiven Diastole nachweislich auf einem falschen
Experiment beruht, sollten die modernen Vertreter dieser Ansicht zum mindesten
aufhören, den alten Galenos als Kronzeugen anzuführen.]
Sehr wertvoll sind demgegenüber die positiven Weiterführungen des
Galen, vor allem seine klassischen Arbeiten über den Puls. Doch mehr als
diese für den Praktiker so wichtigen Angaben, welche Landois?) in seiner
Monographie über den Puls gebührend preist, interessiert uns der von Galen
experimentell erbrachte Nachweis, daß die Arterien Blut und nicht Luft
enthalten: Er schnitt ein vorher auf beiden Seiten abgebundenes Arterienstück
heraus und fand es mit Blut gefüllt, aber niemals lufthaltig, und er zeigte,
daß ein Tier auch aus einer Arterie völlig verbluten kann.
Die von nun ab geltende Vorstellung des Galen von der Blutbewegung
ist folgende:' Das Blut wird aus der Nahrung erzeugt, geht von hier durch
die Pfortader zur Leber und dann in den gesamten Körper. Wenn der
Verdauungstrakt leer ist, fließt das Blut umgekehrt von der Leber zum Darm.
Es ist also angeblich derselbe Vorgang wie in der Ven. pulm. Auch hier fließt
das Blut rhythmisch hin und her, um sich jedesmal Nahrung (bzw. Pneuma)
zu holen; aber während in der Ven. pulm. der Rhythmus sehr frequent ist
(synchron mit den Herzschlägen), erfolgt er in der Portalvene nur synchron
mit der Nahrungsaufnahme. Wenn das Nahrungsblut aber vom Darm weg-
strömt, so fließt es durch die Hohlvenen in den Körper, wo die Gefäße blind
enden und das Blut als Nahrung verbraucht wird. Ein Teil dieses Blutes
geht durch das rechte Herz und durch die daraus entspringende Art. pulmo-
nalis in die Lunge, wo die Gefäße ebenfalls blind endigen. Dies Blut er-
nährt die Lunge, wie alle anderen Körperteile auch ernährt werden. [Allerdings
soll nach einigen Interpreten Galen einen Teil des Blutes aus der Art. pulmo-
!) Galen, De causis puls. 2, cap. 8. — °) Daremberg, Histoire des sciences
medieales 2, Paris 1870. — °) Landois, Die Lehre vom Arterienpuls, Berlin 1872,
676 Galens Schema.
nalis durch die Lunge in die Ven. pulmonalis übergehen lassen; danach hätte
also Galen wenigstens teilweise den kleinen Kreislauf gekannt (vgl. G. Cera-
dini).] Aber alles von der Leber stammende Blut geht nicht direkt als Nah-
rung zum Körper; ein Teil desselben zweigt aus dem rechten Herzen durch die
Ventrikelscheidewand hindurch in das linke Herz ab und wird hier mit dem
aus den Lungen stammenden und durch die Ven. pulmonales (welche mit den
Bronchien kommunizieren) transportierten Pneuma innig gemischt und zwar
holt sich das Blut das Pneuma selbst, indem es in der Lungenvene hin- und
herfließt. Dies so gemischte, pneumahaltige Blut wird durch Aorta und Arterien
den einzelnen Körperteilen zugeführt, in denen die Arterien ebenfalls blind
endigen. Jedoch existieren zwischen den Arterien und Venen Anastomosen, die
zum großen Teil erst das Verbluten aus den Arterien erklären sollen, denn die
Vorstellung von dem Pneuma in den Arterien war noch so mächtig, daß Galen
unwillkürlich den Arterien nur den Transport von wenig Blut und viel Luft
zuschrieb. Nur aus dieser Vorstellung heraus erklärt sich z. B., daß Galen
Wert darauf legt, daß das auf beiden Seiten zugebundene Arterienstück Blut
enthält, für unsere Vorstellungen würde doch der Beweis von dem aus der
Arterie verblutenden Tiere vollständig genügen; er aber meint offenbar, aus
der aufgeschnittenen Arterie entweicht das Pneuma, und dafür dringt dann
aus den Venen Blut nach, und hierdurch verblutet das Tier.
Die Fig.43b auf 8.672 mag eine schematische Vorstellung geben von
der Art und Weise, wie sich Galen die Blutversorgung des Körpers dachte.
8 6.
Seit Harvey.
Anderthalb Jahrtausende blieb diese Lehre bestehen. Dann aber, um
die Zeit des Wiedererwachens der Wissenschaften, erwuchs plötzlich die Oppo-
sition, vornehmlich wohl deshalb, weil man damals zum erstenmal überhaupt
mit unermüdlichem Eifer Sektionen zu machen begann. So ist es nicht
wunderbar, daß fast gleichzeitig überall Entdeckungen auftauchten, die mit
der klassischen Lehre in Widerspruch standen, und ebenso wenig wunderbar
ist es, daß heute ein Streit tobt, wem für jedes einzelne Faktum die Priorität
gebührt. Wir begnügen uns, kurz anzuführen, in welcher Reihenfolge und von
wem die einzelnen Irrtümer des Galen widerlegt wurden, und geben unten-
stehend nur die Literatur!) über die genannte Polemik und möchten hervor-.
!) Flourens, Hist. de la decouverte de la circul. du sang, Paris 1854;
Tollin, Die Entdeekung des Blutkreislaufs durch Micael Servet, Jena 1876;
Biol. Zentralbl. 1885, 8. 474; derselbe, Ein italienisches Urteil über den ersten
Entdecker des Blutkreislaufs, Pflüg. Arch. 33, 482; derselbe, Robert Willis,
Neuer William Harvey, ebenda, 34, 1; derselbe, Andreas Caesalpin,
ebenda, 35, 295, 1885; Milne Edwards, Lec. sur la physiol. et l’anat. comp.
III, Paris 1858; Luciani, Physiologie des Menschen 1, 116 bis 136, Jena 1904;
G. Ceradini, Ricerehe storico-critiche intorno alla scoperta della circulazione del
Sangue, Milano 1876; Difesa della mia Memoria etc., Genova 1876; Sprengel, Ge-
schichte der Arzneikunde 3, 3 bis 112, Halle 1810; M. Forster (Lectures on the
history of Physiology, Cambridge University Press) tritt besonders energisch für
Harveyein; Chapman (History of the Discovery of the Circulation of the blood,
Philadelphia 1884, 8. 54), der die Verdienste von Erasistratus, Galen, Servetus,
Caesalpinus, Harvey und Malpighi annähernd gleich einschätzt.
Vorläufer Harveys. 677
heben, daß besonders bei Luciani, der mit großer Wärme seine Landsleute
Colombo, Cesalpino, Sarpi und Fabricio gegen den Spanier Serveto,
den Holländer Vesal und den Engländer Harvey verteidigt, sich eine von
dem Folgenden abweichende, aber trotz der Wärme sehr objektive Darstellung
der betreffenden Verhältnisse findet.
Die Vorstellung Galens, daß das Herz keinen Druck auf das Blut aus-
übe, widerlegte als erster Vesal?!), der den Versuch mit dem eingebundenen
Röhrchen wiederholte und auch peripherwärts von der Kanüle die pulsatori-
schen Bewegungen fortdauern sah. Vor allem aber schuf er durch seine
anatomischen exakten Studien die Basis für die spätere Physiologie und hat
somit auch dieser Entdeckung vorgearbeitet, wenn es auch richtig ist, daß
er sich hier in keiner Weise bemüht hat, wirklich weitgehende physiologische
Konsequenzen aus seinen anatomischen Studien zu ziehen.
Die irrtümliche Vorstellung des Galen über die Durchlässigkeit des
Ventrikelseptums widerlegten wohl unabhängig voneinander zuerst der
spanische Arzt und Theologe Michele Reves, genannt Serveto 2), und der
CGremonenser Prosektor Realdo Colombo?°). Beide treten zugleich nach-
drücklich für das Vorhandensein des kleinen Kreislaufes ein: nicht durch das
Septum der Ventrikel gelange das Blut vom rechten Herzen ins linke, sondern
auf einem sehr künstlichen Umwege über die Lunge.
Die Strömung des Blutes in den Venen in zentrifugaler Richtung ist
eigentlich derjenige Teil der Galenschen Lehre, von dem man hätte er-
warten sollen, daß er zuerst bekämpft werden würde. Denn jede Abschnürung
einer Extremität zwecks einer Venaesectio hätte doch dem Arzte zeigen
müssen, daß die Venen von der Peripherie her anschwellen und nicht, wie
es Galenos’ Lehre verlangt, vom Herzen her. Außerdem waren seit der
Mitte des 16. Jahrhunderts die venösen Klappen bekannt, ebenso der Um-
stand, daß ihre Konkavität gegen das Herz gerichtet ist.
Doch wurde diese anatomische Tatsache in bezug auf ihre physiologischen
Konsequenzen offenbar nicht genügend gewürdigt. Der einzige, der das
getan haben soll, Paolo Sarpi aus Venedig, hat seine Manuskripte nicht
veröffentlicht.‘ Bei einem Klosterbrande sind sie — 100 Jahre nach seinem
Tode — vernichtet worden, und nun versucht Ceradini — nach wiederum
200 Jahren — sie zu rekonstruieren.
Es war Cesalpino®), Arzt und Philosoph aus Arezzo, der zuerst 1571
und dann nochmals 1583 gerade auf Grund seiner Beobachtungen an Venen
die Lehre von dem allgemeinen Kreislauf systematisch aufgestellt und später im
Jahre 1693 auf Grund sorgfältiger Experimente zu beweisen versucht hat. Vor
allem hat er eben als erster wirklich exakt beobachtet, was eigentlich vor
sich geht, wenn man um den Arm eine Aderlaßbinde legt. Auf Grund seiner
Beobachtungen sagt er dann ausdrücklich: Das Blut wird durch die Venen
zum Herzen gebracht ... und vom Herzen aus durch die Arterien in dem
ganzen Körper verteilt.
!) Vesal, De humani corporis fabrica, p. 14 u. 20, Basel 1543. — *) Serveto,
Christianismi restitutio, Viennae Allobrogum 1553. — *) Realdus Colombus, De
re anatomica libri XV, p. 177, Venedig 1559. — *) Cesalpino, Peripateticarum
quaestionum libri V, 1571; De plantis, 1583; Quaestionum medicarum libri II, 1593.
678 Harvey.
So blieb denn kaum noch etwas zu sagen übrig, und es könnte scheinen,
als hätte Harvey!) nur das zerstreute Material gesammelt, um dann eine zu-
sammenfassende Beschreibung von dem — nicht doppelten, sondern ein-
fachen — Ringe des großen und kleinen Kreislaufs zu geben. Aber wenn
auch alles schon gesagt war, bewiesen war noch nicht alles. Das aber ist der
gewaltige Vorzug des kleinen, nur 72 Seiten starken Büchleins, das 1628 zu
Frankfurt erschien, daß darin alle Fragen des Kreislaufs erörtert sind, daß darin
jede aufgestellte Behauptung zu beweisen versucht ist, und daß endlich so gut
wie nichts darin steht, das nicht auch heute noch nach fast drei Jahrhunderten
als richtig gilt. Vor Harvey war eine Diskussion möglich, nach Harvey
nicht mehr. Es ist das erste Mal, daß eine physiologische Tatsache nach
unseren modernen Anschauungen mit Hilfe wissenschaftlicher Methodik be-
wiesen worden ist. So darf man Harvey als den ersten modernen Physio-
logen, als den Begründer unserer wissenschaftlichen Technik bezeichnen. Von
keinem seiner Vorgänger läßt sich etwas Ähnliches sagen. Dazu kommt, daß
alle seine Beweise sich auf genau beschriebene Vivisektionen an den ver-
schiedenartigsten Tieren stützen. Er beschreibt die Freilegung des Herzens
am lebenden Tier, beschreibt den Herzschlag und die zeitlichen Verhältnisse
am normalen und absterbenden Herzen recht gut. Er begründet die Wirkung
des Herzens als Druckpumpe und widerlegt die Annahme einer saugenden
Kraft während der Diastole.
Er mißt die Kapazität der rechten Herzkammer an menschlichen Leichen
(nach ihm etwa 125 g) und benutzt auch dies zu einer Stütze für seine Lehre
vom Kreislauf, denn wenn hiervon auch nur ein kleiner Teil bei jeder Kon-
traktion hinausgetrieben wird — aber ganz offensichtlich sei der Volum-
unterschied des erschlafften und kontrahierten Herzens ziemlich beträchtlich
— gleichviel, wenn auch nur ein Fingerhut voll herausgetrieben würde,
so mache das an einem Tage (bei etwa 100000 Pulsschlägen) eine Menge,
die etwa dem gesamten Körpergewicht gleichkomme und die also nicht von
der eingeführten Nahrung herstammen könne. Es muß also, schließt Harvey,
in dieser Zeit dasselbe Blut mehrmals das Herz passiert haben.
Daneben variierte er die Versuche Cesalpinos und führte sie weiter aus.
Doch mag das Gesagte genügen. Wer Genaueres wissen will, lese die kleine
Schrift, von der leider kein deutscher leicht zugänglicher Neudruck existiert.
Die Lücken, die seiner Lehre noch anhafteten, bekannte er freimütig: „Mit
der größten Sorgfalt habe ich nach einem Übergange zwischen Arterien und
Venen gesucht, doch ist es mir nie gelungen, zwei Gefäße, eine Arterie und
eine Vene, zu finden, welche sich unmittelbar miteinander vereinigt hätten.“
Solche genaue Abgrenzung des Bewiesenen kann ihm nur zur Ehre ge-
reichen. Und wenn Luciani!) ihm die Worte vorwirft: „prius in confesso
esse debet quod sit, antequam propter quid inquirendum...“, so kann man
auch im Gegenteil — und vielleicht mit mehr Recht — behaupten: gerade
darum ist Harvey einer jener Männer des 16. Jahrhunderts, die an der
Schwelle unserer modernen, exakten Wissenschaft stehen, weil für ihn die
Konstatierung einer Tatsache wichtiger schien als die Frage nach dem Warum.
!) Luciani, l.e., p.128; Harvey, Exereitatio anatomica de motu cordis et
sanguinis in animalibus, Frankfurt 1628.
ee ee en ei ee Te ia a Um
Nach Harvey. 679
Die Lehre Harveys ist nicht ohne Gegner geblieben, Jean Riolani
und Kaspar Hoffmann, Zeitgenossen Harveys, danken die Berühmtheit
ihres sonst wohl vergessenen Namens dieser Opposition; wenigstens dürfte
dies eher zutreffen als die Behauptung Ceradinis, „daß Harvey seinen
Ruhm dem Riolani verdanke!)“.
Die Lehre Harveys war ein fertiges Ganzes. Aber sie umfaßte nur
den Blutkreislauf, die Lymphgefäße waren damals noch so gut wie unbekannt,
jedenfalls durchaus unbeachtet, wenn sich auch einzelne vage Andeutungen
von Chylusgefäßen bei älteren Autoren finden, und obgleich Caspare Aselli
schon 1622 im Mesenterium des Hundes die Chylusgefäße beschrieben hatte,
von deren Funktion er sich aber nicht die geringste Vorstellung machen
konnte. Doch noch bei seinen Lebzeiten hätte Harvey die Freude erleben
können, sein Werk ergänzt zu sehen: Schon 1652 beschrieb Thomas
Bartholin ziemlich ausführlich die Lymph- und Chylusgefäße des Körpers
und ihr Zusammenfließen im Ductus thoracicus. Aber Harvey erkannte
diese wertvolle Arbeit nicht an und starb 1658, ohne sich überzeugt zu haben.
Die andere wichtige Ergänzung seiner Lehre, „Die Demonstration der
Capillaren unter dem Mikroskop“, erlebte er nicht mehr. Malpighi zeigte
1661 die Blutbewegung in der Froschlunge. 100 Jahre später beobachtete
Spallanzani die Blutbewegung am Warmblüter, und zwar in den Vasa um-
bilicalia des angebrüteten Hühnereies. (Vgl. hierzu $ 48, 8.761.)
Durch diese Entdeckungen war die Tatsache des Kreislaufs bewiesen.
Spätere Forscher konnten an die Frage des Warum herangehen — allerdings
wäre es erwünscht, wenn sie auch hier Harvey folgten, nach der Causa
effieiens fragten und niemals nach der Causa finalis, wie es heute gar manche tun.
Zweites Kapitel.
Allgemeine Mechanik des Blutdrucks.
8 7.
Übersicht und Erklärung.
Eine Bewegung kann man beobachten ohne Rücksicht auf die Kräfte,
welche diese Bewegung hervorrufen, indem man einfach die Dislokationen
einzelner Teile, also hier des Blutes, studiert und beschreibt, man spricht
dann von einer kinematischen Betrachtungsweise. Man kann aber auch die
Wirkungen der Körper aufeinander in Betracht ziehen und vor allem die
Bewegung auf eine Kraft als Ursache zurückführen, man spricht dann von
Kinetik oder Dynamik. Alle Bewegungen von Flüssigkeiten im Körper lassen
sich nun auf Druckkräfte zurückführen. Die dynamische Betrachtung
!) Doch auch heute noch tauchen von Zeit zu Zeit Schriften auf, die im
Gewande wissenschaftlicher Forschung den Blutkreislauf bestreiten. So sei an
das Büchlein von JeZek oder das von Krüger erinnert. F. JeZech, Umsturz
der Harveyschen Lehre und Erklärung der natürlichen Blutbewegung, Leipzig
1892. F. Krüger, Beitrag zum Umsturz der Lehre vom Kreislauf des Blutes und
Erklärung der wichtigsten Lebensvorgänge ohne Blutkreislauf, Stuttgart 1897, mit
14 Abbildungen.
680 Verschiedene Betrachtung des Blutdruckes.
der Blutbewegung wird also in einer allgemeinen Mechanik des
Blutdruckes bestehen.
Die Frage nach der Fortbewegung des Blutes in den Gefäßen wird meistens
mit einer physikalischen Betrachtung über die Bewegung von Flüssigkeiten in
starren und elastischen Röhren eingeleitet. Und gewiß ist ohne solche Kenntnisse
eine auch nur angenäherte Beschreibung der in Betracht kommenden Phänomene
ganz unmöglich.
Wir müssen wissen, was es bedeutet, daß Blut, wie alle Flüssigkeiten, nahezu
inkompressibel ist, daß sich der Druck in Flüssigkeiten — abgesehen von der Ein-
wirkung der Schwere — nach allen Richtungen gleichmäßig ausbreitet und daher
überall derselbe sein muß, solange die Flüssigkeit ruht, daß aber im Gegensatz
hierzu in einer bewegten Flüssigkeit der Druck an den verschiedenen Stellen der
Bahn ungleich sein muß und vieles andere mehr. Aber um von diesen Dingen eine,
wenn auch nur oberflächliche, wirkliche Kenntnis zu geben, wäre ein Lehrbuch
der Hydrostatik und Hydrodynamik notwendig, und auf solche Bücher mögen
denn auch diejenigen hingewiesen werden, die eine genauere Kenntnis dieser Dinge
erstreben. Einen in usum physiologi zurechtgestutzten Abriß der Hydrodynamik
vorauszuschicken, soll aber deshalb vermieden werden, weil die ja doch für die
Hämodynamik herausgesuchten Einzeltatsachen der Physik besser im Zusammen-
hang mit den jeweiligen Erscheinungen behandelt werden.
Außerdem ist eine derartige Darstellung unnötig, weil sich in dieser Beziehung
unser Wissen in den letzten 20 Jahren kaum vermehrt hat. Es wäre daher nichts
anderes möglich, als die betreffenden Kapitel in Hermanns Handbuch!) oder in
Tigerstedts?) Lehre vom Kreislauf entweder zu verkürzen oder zu verlängern.
Endlich aber scheint eine kurze zusammenhängende Darstellung sogar schädlich
zu sein, weil sie gar zu leicht zu der Meinung verführt, als würde dadurch
ein physikalisches Wissen vermittelt, das in Wirklichkeit ganz unbedingt nur durch
ein Spezialstudium erworben werden kann.
Unter dem in einer Flüssigkeit herrschenden Druck verstehen wir im
allgemeinen den Druck (in Grammen gemessen), welcher an einer bestimmten
Stelle der Flüssigkeit auf ein Quadratcentimeter ausgeübt wird.
Nach den verursachenden Kräften kann man praktischerweise den Druck
in drei Komponenten zerlegen bzw. in dreifacher Weise betrachten.
1. Der durch die eigene Schwere der Flüssigkeit bedingte Druck (hydro-
statischer Druck);
2. Der durch Einwirkung von außen erzeugte Druck (hydraulischer
Druck);
3. Der durch Bewegungen erzeugte Druck (hydrodynamischer Druck).
Der hydrostatische Druck.
8
Verteilung von Blutdruck und Blutmenge infolge der Schwere.
Weil Flüssigkeiten schwer sind, werden die unteren Schichten natur-
gemäß von den oberen gedrückt werden. So lastet an der Oberfläche der
Erde über jedem Quadratcentimeter eine Luftsäule, die 1033 g schwer ist und
einen dementsprechenden Druck ausübt. Diesen Druck von rund 1kg pro gem
nennt man den Druck einer Atmosphäre. Er wird balanciert durch jede
') Rollet, Hydraulische Einleitung zur Lehre vom Blutstrom, Hermanns
Handb. 1, 199, 1880. — *) Tigerstedt, Über die Strömung einer Flüssigkeit in
Röhren, Lehrbuch 1893, 8. 304.
Der hydrostatische Druck. 681
Kraft, die denselben Druck erzeugt, insonderheit durch jede Flüssigkeitssäule,
die bei gleichem Durchmesser ebenfalls 1033 g wiegt; nimmt man Wasser vom
spezifischen Gewicht 1, so braucht man eine Säule von 1033 em Länge, nimmt
man das 13,6 mal schwerere Quecksilber, so braucht man nur eine Säule von
1033/13,6 —= 76cm Länge. Man mißt nun den Druck praktisch meist nicht
in Grammen, sondern in Längen von Wasser oder Quecksilber. Wir werden
im folgenden als Maßeinheit immer lcm Quecksilber wählen.
Im allgemeinen wird als Nullpunkt des Blutdruckes nicht jener Zustand
angesehen, bei dem überhaupt kein Druck vorhanden ist, sondern jener, bei
dem der Druck gleich dem jeweiligen Barometerdruck ist. Denn dieser
Druck, welcher etwa 1kg pro qem beträgt, wird aus bekannten, hier nicht
näher zu erörternden Gründen von uns Menschen nicht empfunden. Nur
partielle Abweichungen von dem uns umgebenden Barometerdruck ist der
Mensch imstande zu empfinden, daher spricht man von positivem Druck,
wenn eine Vermehrung, von negativem Druck, wenn eine Verminderung
des Druckes vorhanden ist. Einen wirklichen absolut-negativen Druck gibt
es nicht.
Ein derartig verminderter Druck kommt im Körper praktisch nur im Brust-
raum vor. Sein Einfluß auf den Blutdruck und Blutstrom wird in dem Abschnitt
über den Dondersschen Druck (vgl. $ 96 auf S. 852) genauer abgehandelt werden.
Hier soll nur jener positive hydrostatische Druck abgehandelt werden, der durch
die Schwere des Blutes selbst bedingt ist.
Ganz abgesehen von allen sonstigen Druckverhältnissen im Körper
lastet auf jeder Blutschicht die Masse des in vertikaler Richtung darüber
befindlichen Blutes. Das ist für das Blut in den Füßen eines erwachsenen,
stehenden Menschen eine Säule von etwa 165 cm Blut (175 cm Wasser oder 13 cm
Quecksilber); ein Druck, der fast so groß ist wie der durch die Herzarbeit
erzeugte Aortendruck. Ebenso muß das Venenblut, wenn es von den Füßen
zum Herzen aufsteigt, einen Druck überwinden, der der jeweiligen Höhe des
Herzens über den Füßen entspricht, also bei einem stehenden Menschen etwa
120 cm Blut —= 9,3 cm Quecksilber, während für das in den Venen des Ober-
körpers zum Herzen hinströmende Blut — bei einer Differenz von etwa
3.5 cm Quecksilber — die Verhältnisse umgekehrt liegen.
Es könnte scheinen, als ob durch diesen nicht unerheblichen Gegen-
druck der Rückfluß in den Venen der unteren Extremität erheblich erschwert
und umgekehrt in den Venen des ÖOberkörpers erleichtert wird. Doch ist
dem nicht ganz so. Das Blut in der unteren Extremität z. B. befindet sich
doch gleichsam in einer U-Röhre, deren Schenkel durch die Arterien bzw.
Venen, deren Verbindungsstück durch die Capillaren gebildet wird. Die
arterielle und die venöse Blutsäule balancieren sich gegenseitig, d. h. es ist
gar keine Herzkraft notwendig, um das Blut in den Venen von den Füßen
bis zum Herzen zu treiben. Die Schwere der Blutsäule im arteriellen System
würde hierfür gerade genügen. Eine ähnliche Betrachtung können wir für
sämtliche Regionen und Gliedmaßen bei allen Stellungen und Lagen des
jeweils ruhenden Körpers durchführen. Immer werden wir finden, daß der
hydrostatische Druck zwar nichts zur Fortbewegung beiträgt, sie aber auch
nirgends direkt hindert. Damit ist allerdings nicht gesagt, daß die hydro-
statischen Verhältnisse ohne Einfluß auf den Kreislauf sind.
43*
682 Hydrostatischer Einfluß der Körperlage.
Hermann hat als erster in einer Arbeit seines Schülers Wagner!),
allerdings ohne theoretische Diskussion, betont, daß der Rückfluß zum
Herzen unzweifelhaft durch die Schwere beeinflußt wird, und zwar so,
daß derselbe bei der Horizontallage des Tieres leichter vonstatten geht
als in aufrechter (menschenähnlicher) Stellung. Es ist dies experimentell
nachweisbar und rührt offenbar daher, daß von der Steigkraft des Blutes in
jedem Falle proportionale Teile durch die Reibung vernichtet werden. Dieser
proportionale Teil ist aber der absoluten Größe nach natürlich sehr viel
kleiner, wenn die Schenkel der gedachten U-Röhre kurz sind. Und da eben
der durch Reibung verloren gegangene Teil der Steigkraft vom Herzen als
Mehrarbeit zu leisten ist, so ist in der Tat für die Bewegung des Blutes
ein Einfluß der Lage vorhanden, der allerdings rein statisch nicht erklärt
werden kann. Gerade der Umstand, daß man meinte, die Blutbewegung, die
uns im Grunde allein interessiert, werde vom hydrostatischen Druck nicht
beeinflußt, hat es offensichtlich bewirkt, daß’ man demselben nur geringe
Aufmerksamkeit schenkte, und daß eine Behandlung desselben in den Lehr-
büchern der Physiologie meist fehlt.
Die Schwerkraft erzeugt eine solche Verteilung einer F nach. daß
deren Schwerpunkt so tief liegt, als mit der Beschaffenheit des Systems
vereinbar ist. Ist dieser Zustand einmal erreicht, so ist kein weiterer An-
trieb zur Bewegung mehr vorhanden, d. h. der Schwerpunkt kann nicht noch
tiefer gelegt werden. Ist daher nicht, wie bei einem Fluß, ein unerschöpf-
liches, hochgelegenes Reservoir (der Regen) und ein unausfüllbares
tief gelegenes (das Meer) vorhanden, so wird jede durch Schwerkrafts-
wirkungen bedingte Bewegung nach mehr oder weniger kurzer Zeit zu
einem Gleichgewichtszustand führen und damit aufhören. Eine Strömung
kann nur noch zustande kommen durch eine Bewegung des ganzen Systems.
So ist es auch im menschlichen Körper. In jeder Lage desselben führt
die Schwerkraft zu einer ganz bestimmten stationären Blutverteilung. Da
nun meistens die Beine tiefer liegen als Kopf und Rumpf, so wird im all-
gemeinen mehr Blut in die unteren Extremitäten zu strömen tendieren.
Wenn die Gefäße sehr schlaff wären, so würde das sehr viel ausmachen,
da aber die Gefäße, und zwar gerade die des Beines, eine verhältnis-
mäßig geringe Ausdehnbarkeit besitzen, so wird sehr bald ein Moment er-
reicht sein, in dem der durch die Ausdehnung des Gefäßes hervorgerufene
Gegendruck so groß wird, daß er ein weiteres Eindringen von Blut verhindert.
Das Blut in den unteren Extremitäten wird sich also unter höherem
Druck befinden, dementsprechend wird die Ausdehnung der Gefäße eine
größere sein, aber damit ist nicht gesagt, daß sich nun auch verhältnismäßig
mehr Blut in den Gefäßen der Beine befindet. Das hängt eben durchaus von
der Kapazität, der Elastizität und dem Gefäßtonus der in Betracht
kommenden Gefäße ab.
Wenn der Körper seine Stellung ändert oder künstlich in eine abnorme
Lage gebracht wird, so wird Blutdruck und Blutverteilung überall geändert
werden. An einer Leiche werden also immer die jeweils tiefer gelegenen
!) Ernst Wagner, Fortgesetzte Untersuchungen über den Einfluß der Schwere
auf den Kreislauf, Pflügers Arch. 39, 385, 1886.
ö
ö
Kompensierende Einflüsse. 683
Partien mehr Blut und einen höheren Druck aufweisen, so wie es die physi-
kalischen Gesetze verlangen. Anders aber ist es beim lebenden Körper, der
alle physikalischen Voraussagungen — nicht etwa auch die physikalischen
Gesetze — durch Innervationsvorgänge illusorisch machen kann.
Aber selbst bei der Leiche ist es nicht so ganz einfach. Dreht man
den Körper z. B. von der vertikalen Stellung mit Kopf oben in die verti-
kale Stellung mit Kopf unten, so sollte man meinen, daß Druck und Blut-
menge im Kopfe steigen, in den Beinen abnehmen, und daß daher irgendwo
in der Mitte eine Region liegt, in der sich nichts ändert. Im allgemeinen
ist das nun auch richtig, doch hat Hermann (in der Arbeit von Wagner!)
sowohl experimentell als auch theoretisch gezeigt, daß für das kompliziert,
gebaute tierische Gefäßsystem mehrere Indifferenzpunkte bestehen, die jedoch,
wie Wagner aus seinen Versuchen schließen zu können meint, nahe beiein-
ander, und zwar in der Gegend der Herzspitze liegen. Dagegen wendet
Hill?) ein, daß diese Bestimmung an der Leiche auf das Leben nicht über-
tragen werden könnte, weil hierbei die Elastizitätsverhältnisse, auf die alles
ankomme, durchaus geändert seien. Im übrigen komme es, was auch Her-
mann nicht leugnet, in physiologischer Beziehung auf diese hydrostatischen
Verhältnisse gar nicht an, jedenfalls seien sie leicht zu übersehen. Viel wich-
tiger seien die indirekten Einflüsse der Stellungsänderung auf alle einzelnen
Komponenten der Blutverteilung und des Blutdruckes selbst (Herzschlag,
Füllung des Herzens, Gefäßnerven usw.).
89.
Die Kompensation des Einflusses der Schwere.
Diese Einflüsse wirken im allgemeinen als kompensatorische Regu-
lationsmechanismen. Steht der Mensch z. B. auf dem Kopfe, so wird
natürlich der Druck im Kopfe entsprechend höher sein als in den Beinen, das
Blut wird dahin tendieren, sich im Hirn bzw. im Thoraxraum ansammeln. —
Das Verhältnis des Blutdruckes in den Arterien muß sich der Lage entsprechend
ändern. Aber das, worauf es ankommt, der Blutdruck im Capillargebiet,
kann durch Kontraktionen der kleinen Arterien reguliert werden, und ebenso
kann vor allem die Blutverteilung im Organismus durch partielle Kontrak-
tionen einzelner Gefäßgebiete beliebig variiert werden. Außerdem hat der
Körper die Möglichkeit, den gesamten Blutdruck zu ändern, sei es durch
eine Änderung der Frequenz, sei-es durch eine Änderung der Stärke des
Herzschlages. Alle diese Regulationsmechanismen kommen im Leben vor.
In bezug auf den allgemeinen Blutdruck wird von Zybulski?°) unter
Tarchanoff und von Friedmann) angegeben, daß derselbe bei einer Tief-
lage des Kopfes steigt. Wagner’) konnte ebenso, wie vorher Blumberg),
!) E. Wagner, l. ce. 8.372, 1886. — ?) L. Hill, The influence of the force of
gravity on the circulation, Proceed. Roy. Soc. 57, 192, 1894; Influence of the force
of gravity cn the circulation of the blood, Journ. of Physiol. 18, 15—53, 1895. —
®) Zybulski, St. Petersburger mediz. Wochenschr. 1878, Nr. 11. — *) Fried-
mann, Mediz. Jahrb. d. Ges. d. Ärzte in Wien 1882, 8. 197. — °) Wagner, l. c.,
1886. — °) Blumberg, Über den Einfluß der Schwere auf Kreislauf und Atmung.
Dissert. Königsberg 1885. Bericht von Hermann in Pflügers Arch. 37, 467, 1885.
684 Die kompensatorische Wirkung
dies nur bei curarisierten Tieren beobachten, während er bei nicht curari-
sierten Tieren den höchsten Blutdruck bei der horizontalen Stellung der
Quadrupeden fand, doch sind diese Bestimmungen der Hermannschen Schule
deshalb nicht durchaus einwandfrei, weil ihnen der Indifferenzpunkt zugrunde
gelegt ist, der nach Hills (l. c., S. 19) Auseinandersetzungen eben nur für
die Leiche gilt. Da aber andere Untersuchungen über diesen Punkt nicht
vorliegen, so muß diese Frage vorläufig in suspenso bleiben. Dies gilt ent-
sprechend auch von der Hermannschen Erklärung (bei Wagner, S. 385),
wonach das Sinken des Blutdruckes darauf zurückzuführen wäre, daß hierbei
der Rückfluß der Venen erschwert sei (vgl. $ 4) und das Herz sich daher
weniger gut fülle.e. Hermann scheint also in der Blutdruckänderung kein
regulatorisches Moment zu sehen, sondern deutet es als eine indirekte Folge
statischer Einflüsse.
Die meisten anderen Untersucher wollten vornehmlich die kompen-
satorische Wirkung auf den Hirndruck erklären, Brissaud und
Frangois-Franck!) nahmen zu diesem Zweck eine kompensatorische
Ansaugung der Üerebrospinalflüssigkeit an, während Schapiro?), der an
Soldaten experimentierte, besonders auf die Druckerhöhung infolge vermehrter
Pulsfrequenz im Stehen hinwies.
Hill selbst hat dann hauptsächlich die eintretenden Kompensations-
vorgänge untersucht und hebt hervor, daß dieselben im wesentlichen durch
die Gefäßnerven der Eingeweide zustande kommen, also eine Splanchnicus-
wirkung sind. Vornehmlich scheint es darauf anzukommen, den Hirndruck
konstant zu halten; gerade in dieser Beziehung sind die Kompensations-
einrichtungen bei den verschiedenen Tieren sehr verschieden leistungsfähig,
und zwar sind sie bei aufrecht gehenden Tieren (Affen und Menschen)
sehr viel vollkommener als bei Hunden, Katzen und Kaninchen. Bei Affen
kommt selbst Überkompensation vor, was ja nicht weiter wunderbar erscheinen
kann, wenn man bedenkt, wie mannigfache Körperstellungen bei den Kletter-
übungen der Affen eingenommen werden. Weiter fand Hill, daß bei allen
Tieren, welche nicht aufrecht gehen, die vertikale Stellung mit Kopf oben
eine stärkere Kompensationsanstrengung erfordert als die Tieflagerung des
Kopfes. Daß die Hochstellung des Kopfes bei allen Vierfüßlern leicht schwere
Zufälle bewirkt, war schon Piorry (1826°) bekannt, der mit Hunden
arbeitete. Wenn man denselben bei erhobenem Kopfe so viel Blut abzapfte,
daß sie ohnmächtig wurden, so kamen sie sofort wieder zur Besinnung, wenn
der Kopf gesenkt wurde, anderseits steht die Blutung aus einer angeschnittenen
Hundearterie oft, ehe das Tier stirbt; man kann es aber sofort (durch Hirn-
anämie) töten, wenn man es im Genick packt und hochhebt. Zu ähnlichen
Resultaten kam Marshall Hall®). Reynard?°) und Salath&6) fanden dann
!) Brissaud et Frangois-Franck, Mouvements du cerveau, Trav. du lab.
d. Marey 3, 137, 1877. — ?) Schapiro, zitiert nach Jahrb. f. Anat. u. Phys. 10,
60, 1881 (russisch). — ?) Piorry, Recherches sur l’influence de la pesanteur sur le
cours du sang, Arch. gen. de med. 12, 527, 1826. — *) Marshall Hall, Exp. res.
on the effects of loss of blood, Med. Chirurg. Trans. 17, 250, 1832. — °) Reynard,
Recherches sur la congestion cer&brale, Thöse de Straßbourg 1868. — °) Salathe,
Influenee de l’attitude vertical sur la eirculation cerebrale, Trav. du lab. de Marey
3, 251—272, 1877; vgl. auch Compt. rend. Acad. d. sciences 20, aoüt 1877.
®
auf den Hirndruck beim Menschen. 685
an Kaninchen, daß diese Tiere meist nach 10 bis 20 Minuten sterben, wenn
man sie nur in vertikaler Stellung mit dem Kopfe nach oben festhält. Hill!)
bestätigte dies, konnte aber gleichzeitig konstatieren, daß die Tiere leben
bleiben, wenn man das Abdomen bandagiert, d.h. wenn man dem Blutdruck
nicht erlaubt, die leicht ausdehnbaren Gefäße des Bauches zu erweitern. Wilde
Kaninchen und andere Säuger, deren Bauchmuskeln mehr Tonus haben,
sterben erst nach Stunden, ein Beweis, daß im wesentlichen das Versagen der
natürlichen Regulationsmechanismen die Zirkulationsstörungen zur Folge hat,
und daß diese Regulationsmechanismen im wesentlichen im Splanchnicus-
gebiet liegen.
Vom Menschen behauptet Hill, daß seine Regulationsmechanismen wahr-
scheinlich ähnlich denen des Affen seien; Oliver?) hat in der Tat mit seinem
Arteriometer auch beim Menschen sehr weitgehende Kompensationsvorgänge
bei Lageveränderungen feststellen können. Er macht besonders darauf auf-
merksam, daß man leicht beobachten kann, daß bei einer Lageveränderung
zuerst ganz ausgesprochen die rein hydrostatische Wirkung auftritt und daß
sich dann erst allmählich der Regulations- bzw. Kompensationsvorgang geltend
macht, den Hill als dynamische Wirkung bezeichnet, ein Ausdruck, der
jedoch wegen seiner Unbestimmtheit nicht nachahmungswert erscheint. Doch
ist kaum anzunehmen, daß die Regulationsvorgänge wirklich so vollkommen
sind wie beim Affen. Sehen wir doch, daß ein Aufhängen des Körpers an
den Beinen für die meisten Menschen recht unangenehm ist, ja bei so-
genannten vollblütigen Menschen selbst die übelsten Zufälle zur Folge haben
kann. Andererseits tritt bei einigen praedisponierten Menschen ohne weiteres,
bei den meisten allerdings erst unter dem Einfluß besonderer Schädigungen
(nach sehr langem Liegen, Blutverlust usw.), eine bis zur Synkope führende
Hirnanämie auf, wenn sich dieselben plötzlich aus der liegenden Stellung
aufrichten.
- Anderseits ist der Körper jedoch imstande, durch geeignetes Training
seine Regulationsmechanismen diesen veränderten Bedingungen anzupassen,
und so sehen wir im Zirkus häufig Menschen — an den Beinen aufgehängt
— längere Zeit agieren und schwierige Kunststücke vollführen, ohne daß die-
selben. auch nur einen merklich roten Kopf bekommen. Gerdy macht dar-
auf aufmerksam, daß auch manche Latrinenreiniger daran gewöhnt seien, den
ganzen Tag mit hängendem Kopf zu arbeiten.
Es ist bekannt, daß manche Menschen nur imstande sind, in horizontaler
Lage geistige Arbeit zu verrichten, und daß manche Patienten in aufrechter
Stellung ihr Gedächtnis verlieren (Hill). Daß selbst geringe Hämorrhagien
infolge der Blutleere im Gehirn zum Tode führen können, wenn der Mensch
nicht sofort hingelegt wird, darauf hat Piorry wohl zuerst aufmerksam
gemacht.
Hill bespricht dann ausführlich die Gründe, welche seiner Meinung nach
zu Ohnmachtsanfällen führen, er sieht den Hauptgrund in einer plötzlichen
Erschlaffung der Bauchgefäße; diese nehmen eine zu große Blutmenge auf,
und das Gehirn wird leer aus hydrostatischen Gründen, deshalb nützt in
'!) L. Hill, Syneope produced in rabbits, Journ. of Physiol. 22, 53, 1898; On
cerebral anaemia, Proc. Roy. Soc. 66, 486, 1898. — ?) Oliver, Pulse Gauging,
London 1895.
686 Einfluß der Schwere unter pathologischen Bedingungen,
solchen Fällen horizontale Lage. Aber wenn die Hillsche Ansicht richtig
ist, muß auch Kompression des Bauches eine günstige Wirkung ausüben; in
der Tat berichtet Sayer von ermutigenden Resultaten bei dieser Behandlung,
Daß Patienten, die lange im Bett gelegen haben, die Fähigkeit, sich an
die aufrechte Lage zu adaptieren, verlieren, ist bekannt; schon Salath& hat
hervorgehoben, daß in dieser Beziehung sich Rekonvaleszenten wie Vierfüßler
verhalten. Auch dies hält Hill für eine mangelhafte Wirkung der erschlafften
Bauchmuskulatur und erinnert als weiteres Beispiel des Zusammenhanges
zwischen Hirnanämie und Blutzufluß zu den Baucheingeweiden an die Tat-
sache, daß in Angstzuständen gleichzeitig eine vermehrte Peristaltik und eine
Verminderung der Hirntätigkeit (vor allem Gedächtnisschwund) auftritt.
Auf die Beziehungen zwischen Hirn und Abdomen in bezug auf die
Blutverteilung hat in neuerer Zeit, allerdings von anderen Gesichtspunkten
aus, ganz besonders E. Weber!) in mehrfachen Arbeiten hingewiesen, aus
denen hervorzugehen scheint, daß infolge von Innervationseinflüssen die Ver-
hältnisse sehr viel komplizierter liegen.
Zusammenfassend kann man sagen: je höher das Herz über einem Teil
des Körpers, also insonderheit über den Füßen liegt, desto schwerer ist es
für das Venenblut, das Herz genügend zu füllen; je höher der Kopf über
dem Herzen liegt, desto leichter tritt Hirnanämie ein. Bei Tieren, die an
die horizontale Lage angepaßt sind, kann man dies leicht konstatieren, beim
Menschen, bei dem die aufrechte Lage die normale ist, sind die Regulations-
mechanismen notwendigerweise der Vertikalstellung angepaßt, so daß üble
Folgen erst bei Aufrichtung und bei gleichzeitigem Einfluß bestimmter Schäd-
lichkeiten (vor allem Blutmangel und Erschlaffung der Bauchgefäßmuskulatur)
eintreten. Beim Menschen ist umgekehrt wie bei den Tieren die Lage mit
dem Kopf nach unten die ungewohnteste und darum schädlichste. Also auch
in dieser Beziehung genaueste Anpassung der verschiedenen Tiere an die
normalen Bedingungen des Lebens!
Vgl. auch die Kurve über den Einfluß der Schwere auf den Capillar-
druck in $ 58 (8.779).
$ 10.
Der hydraulische Druck.
Von hydraulischem Druck spricht man, wenn irgendwie von außen ein
Druck auf eine Flüssigkeit ausgeübt wird. Dieser Druck kann durch das
Gewicht einer anderen, spezifisch leichteren Flüssigkeit erzeugt werden (z.B.
wenn Öl auf Wasser oder Wasser auf Quecksilber drückt), er kann auf
mechanische Weise erzeugt werden (z. B. durch den Stempel einer Spritze
oder in einer hydraulischen Pumpe); er kann endlich durch eine gespannte
Membran erzeugt werden (wie der hohe Luftdruck in einem Pneumatik).
Voraussetzung ist jedoch immer, daß die Flüssigkeit, welche gedrückt wird,
entweder allseitig abgeschlossen ist, oder doch nur so enge Ausflußöffnungen
zur Verfügung hat, daß sie im Verhältnis zur Steilheit des Druckzuwachses
!) E. Weber, Über die Ursache der Blutverschiebung im Körper bei ver-
schiedenen physischen Zuständen, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1907, 8. 293.
Vorteil elastischer Röhren. 687
nur langsam ausweichen kann. Ist dies nicht der Fall, und der Druck wächst
an einer Stelle, so kommt eine Strömung, aber keine nennenswerte Druck-
erhöhung zustande (z.B. beim langsamen Einstoßen eines Spritzenstempels).
Drückt man dagegen kräftig, so kann das Wasser nicht entsprechend rasch
entweichen, und falls keine beliebig große Kraft zur Verfügung steht, staut
sich die Flüssigkeit und man kann den Spritzenstempel nicht so schnell be-
wegen, wie z. B. bei weiterer Öffnung. Infolge der Stauung erhöht sich der
Druck in der Spritze; infolgedessen strömt nun mehr durch die Kanüle und
es tritt ein Gleichgewichtszustand ein, bedingt durch die Weite der Ausfluß-
öffnung und den angewandten kontinuierlichen Druck. So ist es beim Herzen.
Der Stempel der Druckpumpe ist durch das Herz, die enge Kanüle ist durch
die Capillaren repräsentiert.
. Wesentlich ist aber der Umstand, daß die Wege zwischen Kraft und Widerstand
(die Arterien) nicht starrwandig, sondern beweglich und elastisch sind. Dadurch,
daß die Arterie sich erweitern kann, ist gleichsam ein neuer Ausweg geschaffen.
Das bei jeder Herzsystole in die Arterien geworfene Blut braucht nicht mehr in
derselben Zeit, in der es in die Aorta hineingeworfen wird (also während der
Systole), nun auch in toto durch die Capillaren abzuströmen, sondern kann auch an
jenen Platz strömen, um den das Arteriensystem durch die Erweiterung der Gefäße
größer geworden ist; also der Ausweg ist enorm vergrößert, und dementsprechend
kann bei einer Systole mehr Blut mit geringerem Druck befördert werden, als wenn
nur der Ausweg der Capillaren zur Verfügung stände. Auf die Dauer würde das
aber nichts nützen; wenn der Druck kontinuierlich wirkte, würde sehr bald das
Gefäßsystem so weit ausgedehnt werden, daß der durch die Ausdehnung erzeugte
Gegendruck in der Arterienwand dem Einströmungsdruck an jeder Stelle gleich
wäre; von nun ab könnte das Gefäßsystem nicht mehr ausgedehnt werden und
müßte daher als ein starrwandiges betrachtet werden, es böte also keinen Vorteil.
Da aber der Druck diskontinuierlich wirkt, kann in der Zwischenzeit zwischen
zwei Systolen jedesmal eine gewisse Quantität Blut durch die Capillaren abfließen,
getrieben von dem in der Arterienwand erzeugten bzw. aufgespeicherten Gegen-
druck. So ist denn beim Einsetzen der neuen Systole jedesmal wieder Platz ge-
schaffen, in den hinein das Blut strömen kann.
So wird durch die Elastizität der Arterienwand wenigstens teilweise der Nach-
teil wieder gut gemacht, der aus der Diskontinuität des Druckes resultiert; ganz
ist das allerdings nicht möglich, weil bei der Bewegung der Arterienwand ein Teil
der Energie in. Wärme umgesetzt wird — und dieser Teil ist natürlich unwieder-
bringlich verloren. Von verschiedenen Seiten ist versucht worden, zahlenmäßig
anzugeben, wieviel Herzarbeit durch die genannten Einrichtungen gespart wird,
doch ist diesen Versuchen bis jetzt keine Bedeutung beizumessen.
Der hydraulische Druck wird, wie erwähnt, vom Herzen erzeugt. Wir hatten
gesehen, daß er sich in einem allseitig abgeschlossenen Gefäßsystem nach allen
Richtungen hin gleichmäßig ausbreitet. Ein derartig abgeschlossenes Gefäßsystem
ist das Blutsystem jedoch höchstens mit Ausschluß des Venensystems. Wie aus der
Spritze die Flüssigkeit durch die Kanüle ins Freie fließt, so fließt das Blut aus dem
Arteriensystem durch die Capillaren in das schlaffe Venensystem, das ein stets auf-
nahmefähiges, auf niedrigem Druek gehaltenes Reservoir darstellt. Der Druck in
den Arterien wird also wie in einer Spritze annähernd überall gleich sein, oder
doch nur allmählich abnehmen, in den Capillaren wird er dann sehr schnell auf den
niedrigen Venendruck herabsinken. Hierüber findet man das Genauere in jedem
Lehrbuch der Hydromechanik (vgl. auch das Kapitel über den Puls).
Wenn das Herz nun aber still steht, so sollte man meinen, daß — un-
abhängig von der Tatsache, daß die Arterien nach dem Tode sehr eng, also
auch fast blutleer sind — allmählich eine Ausgleichung des Druckes im
ganzen Gefäßsystem eintritt, und zwar müßte, da die Gefäßwände in einer
688 Der dynamische Druck.
gewissen Spannung sind, ein (hydraulischer) Mitteldruck zurückbleiben, dessen
eventuell vorhandene lokale Verschiedenheiten dann nur noch durch hydro-
statische Einflüsse bestimmt sein könnten. .Hill!) weist jedoch darauf hin,
daß ein derartiger positiver Mitteldruck im Gefäßsystem nicht existiert, oder
zum mindesten nicht ohne weiteres von der Spannung der Gefäßwände,
sondern vielmehr vom osmotischen Druck des Blutes oder irgend einer
Selektivkraft des Capillarepithels herrührt. In bezug auf Einzelheiten über
diesen eigenartigen Gesichtspunkt muß auf das Original verwiesen werden;
vgl. auch die Arbeiten von Hasebroek?), Volhard?) und Matthes).
8.21:
Der dynamische Druck.
Jede bewegte Masse, also auch eine bewegte Flüssigkeitsmasse, besitzt
kinetische Energie, bewegt sich also auch dann noch weiter, wenn keine äußere
Kraft mehr auf sie einwirkt, und vermag gleichzeitig einen Druck auf andere
Massen auszuüben. Dieser dynamische, d.h. aus der Bewegung resultierende
Druck bietet bei der Lehre vom Puls die bedeutendsten Schwierigkeiten. Die
hierhergehörigen Probleme sind zum Teil überhaupt nicht einer exakten
Darstellung fähig, zum Teil erfordern sie eine rein mathematische Be-
handlung; wir werden sie hier kaum berücksichtigen. Die in der Strömungs-
geschwindigkeit des Blutes steckende Arbeit ist zudem meist nur gering,
nur bei exzessiver Arbeit, bei der die Strömungsgeschwindigkeit sehr groß
wird, macht sie etwa ein Drittel der Hubarbeit aus (nach Zuntz). Von
praktischer Bedeutung werden die im Blut vorkommenden dynamischen Kräfte
vor allen Dingen in manchen Einzelfragen — Erklärung der Pulskurve,
Klappenschluß, Herzspitzenstoß u. a. —; das Notwendigste darüber ist an den
betreffenden Stellen gesagt.
$ 12.
Die Bedingungen des Blutdruckes im Körper.
Aus diesen drei Komponenten setzt sich der Blutdruck zusammen.
Wesentlich ist die hydraulische Druckkomponente. Die Voraussetzungen
dazu sind gegeben: Das Blut befindet sich in dem relativ abgeschlossenen
System der Arterien; der Druck wird ausgeübt durch den vom Herzen ge-
bildeten Teil der Wandungen, die Herzklappen verhindern, daß die Strömung
und damit der Druck sich in die Venen direkt fortpflanzt, es strömt also
Blut in die Arterien.
Denken wir uns für einen Augenblick das Arteriensystem fast leer; nun
erfolgt eine Systole und das Herz treibt unter beliebigem, aber größerem als
in der Aorta herrschendem Druck Blut in das Arteriensystem und dehnt
dasselbe aus. Nun fließt Blut heraus, aber weniger als hineingetrieben wird.
!) L. Hill, On the residual pressures in the vascular system, when the
eirculation is arrested, Journ. of Physiol. 28, 122—136, 1904. — ?) Hasebroek,
Versuch einer Theorie ... auf Grund einer neuen Darstellung des Kreislaufs,
Arch. f. klin. Med. 77, 350, 1903. — ®) Volhard, Über Leberpulse usw., Berl. klin.
Wochenschr. 1904, Nr. 21, 8. 567”. — *) Matthes, Kreislauf in der Peripherie,
Deutsch. Arch. f. klin. Med. 89, 5 bis 6, 1907.
Die Bedingungen des Blutdrucks. 689
Wären die Capillaren so weit oder das Herz so kräftig!), daß gleich so viel
abflösse wie zuflösse, so könnte es niemals zu einer Stauung, niemals zu einer
Wandspannung und mithin niemals zu einem (stationären) mittleren Blut-
druck kommen. Die Capillaren sind aber eng und jeder folgende Puls-
schlag erhöht den Inhalt, die Spannung und den Druck in den Arterien und
damit auch die Menge des durch den Engpaß der Capillaren ausfließenden
Blutes. Aber anderseits wird die Menge des einfließenden Blutes
immer kleiner, weil das Herz gegen den erhöhten Aortendruck nicht mehr so
viel Blut fördern kann als früher. Es muß also ein Augenblick kommen,
von dem in der Zeiteinheit ebensoviel Blut herausfließt, wie hineingeworfen
wird. Und dieser Zustand des Gleichgewichts ist der normalerweise vor-
handene. — Das Resultat aber ist der mittlere Blutdruck.
Sehr schön sieht man dieses Phänomen auch realiter zustande kommen,
wenn infolge längerer Vagusreizung und dadurch bedingten Herzstillstandes
der Blutdruck sehr stark gesunken ist und sich nun allmählich durch jeden
Herzschlag hebt (vgl. Fig. 45).
Das, was wir Blutdruck nennen, ist also die vom Herzen erzeugte und
durch das Blut übertragene Wandspannung der Arterien (bzw. in geringem
Fig. 45.
Blutdruck in der
Carotis
Markierung der
Vagusreizung\
Zeit in Sekunden— —Null-Linie
Vagusreizung beim Kaninchen.
Absinken des Blutdruckes in Form einer Exponentialkurve, allmähliches Ansteigen des}Druckes durch
die einzelnen Pulse.
Grade der Venen). Die Spannung einer Wandung ist aber nur abhängig
von der ihr zukommenden Elastizität und der auf sie einwirkenden
dehnenden' Kraft. Bei den Arterien liegen die Verhältnisse folgender-
maßen:
Die Elastizität der Gefäßwandung hängt ab:
von ihrer Elastizität sensu strietiori (1),
von dem Tonus der Gefäßmuskulatur (2).
Die dehnende Kräft hängt lediglich von dem Füllungszustand der
Arterie ab und dieser wiederum
von der Menge des vorhandenen Blutes (3)
und von dem Verhältnis des Zuflusses zum Abfluß.
Der Zufluß hängt ab
vom Schlagvolum (4),
von der Frequenz des Herzschlages (5).
') Ein kräftiges Herz könnte allerdings nur bei starren Arterienwandungen
diese Wirkung haben.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 44
690 Methoden der Kreislaufuntersuchung.
Der Abfluß hängt ab von dem Widerstan de im System, insonderheit
also von dem Widerstande in den
kleinen Arterien und Capillaren (6),
sowie von der
Konsistenz des Blutes (7).
Diese sieben Faktoren bedingen den Druck in den Arterien (für die
Venen ist Zu- und Abfluß entsprechend zu ändern). Der jeweilige Blutdruck
ist der jedesmalige 'Gleichgewichtszustand zwischen allen diesen Faktoren.
Bevor wir jedoch die tatsächlichen Verhältnisse schildern, sollen kurz die
für die Lehre vom Kreislauf wichtigsten Methoden im Zusammenhange
besprochen werden.
Drittes Kapitel.
Methodisches über Kreislaufexperimente.
$ 13.
Es sind im wesentlichen vier Fragen, durch deren experimentelle Be-
antwortung man das Problem des Blutkreislaufs zu fördern gesucht hat:
die Messung des Druckes, Kymographik,
der Geschwindigkeit, Tachographik,
des Pulses, Sphygmographik (Cardiographik, Herz-
töne),
des Volumens blutgefüllter Organe, Plethysmographik.
”
”
n ”n
Die Untersuchung dieser Fragen an den Gefäßen ist im wesentlichen
abhängig von der Güte des benutzten Instrumentariums, mit dessen Vervoll-
kommnung sie Hand in Hand geht. Die Freilegung und Isolierung der Ge-
fäße bietet meist keine größere Schwierigkeit.
Anders ist es mit dem Herzen; Druck, Geschwindigkeit und Volum
werden in ähnlicher Weise bestimmt wie an den Gefäßen, aber von ihm will
man gerade die Lebenseigenschaften kennen lernen, und da es zudem in
der Brusthöhle eingeschlossen liegt, die ohne Störung lebenswichtiger Be-
dingungen kaum geöffnet werden kann, so sind besondere Maßnahmen nötig
und auch ausgebildet worden, um das Herz frei zu legen und um das über-
lebende Herz zu konservieren. Diese sollen daher im ersten Abschnitt der
Methodik wenigstens kurz besprochen werden.
Arbeiten am Herzen.
$ 14.
Freilegung und Konservierung des überlebenden Herzens.
Die Freilegung des Herzens bei den Kaltblütern und speziell beim Frosch
ist deshalb verhältnismäßig leicht, weil diese Tiere eine derartig entwickelte
Hautatmung besitzen, daß selbst der Ausfall der Lungenatmung keine wesent-
liche Schädigung hervorrufen würde. Zudem hindert die Eröffnung der
a
Freilegung und Isolierung des Herzens. 691
Leibeshöhle bei Fröschen gar nicht die Atmung, weil diese Tiere durch Ver-
schlucken der Luft atmen. Man spannt den Frosch auf einem geeigneten
Brettchen in Rückenlage fest, spaltet die Haut über dem Sternum und schneidet
dieses in mehr oder weniger großer Ausdehnung heraus. Damit ist die Auf-
gabe gelöst.
Beim Warmblüter wird bei den meisten Tieren notwendigerweise bei
der Freilegung des Herzens auch die Pleura eröffnet. Da ein Warmblüter
das Kollabieren der Lunge ohne weiteres nicht zu überleben vermag, ist für
künstliche Atmung zu sorgen. Ein wesentliches Hilfsmittel ist es dann
weiter, das Pericard an den Wundrändern anzunähen, dadurch wird das
Herz in toto gehoben und liegt sehr bequem wie auf einem Kissen zur Unter-
suchung bereit. Nur beim Kaninchen ist, wie Gad wohl zuerst angegeben
hat, der Zwischenraum zwischen den beiden mediastinalen Pleurablättern so
groß, daß man in vorsichtiger Weise das Sternum dazwischen herausschneiden
kann, ohne die Pleura zu eröffnen, auch liegen hier die beiden Mammar-
gefäße so weit auseinander, daß man für ihre Unterbindung keine Sorge zu
tragen braucht. Wenn demgegenüber Heinz!) sagt, daß die Herzfreilegung
ohne Pleuraöffnung am Hundeherzen viel leichter gelinge als beim Kanin-
chen, wo die serösen Häute sehr dünn und daher außerordentlich zerreißlich
seien, so muß ich dem auch aus eigener Erfahrung aufs entschiedenste wider-
sprechen, und ich habe bis jetzt auch keine Angaben in der Literatur
finden können, auf welche Heinz seine Behauptung stützen könnte. Sollte
es sich daher um eigene Methodik handeln, so wäre deren Mitteilung sehr
wünschenswert.
Mit dem so frei gelegten Herzen kann man beim Warmblüter stunden-
lang, beim Frosch tagelang, bei der Schildkröte selbst wochenlang experi-
mentieren. Häufig aber macht sich das Bedürfnis geltend, das Herz unter
einfacheren Bedingungen, als sie im Körper statthaben, zu untersuchen; eine
Entnervung des in situ gelassenen Herzens (Friedenthal?) ist zwar möglich,
aber äußerst schwierig, außerdem kann man Kraft und Geschwindigkeit des
Herzens zum Teil sehr viel besser beurteilen, wenn man das Herz sein Blut
nicht in das komplizierte Gefäßsystem, sondern in einen einfachen und vor
allem methodisch konstruierten Apparat treiben läßt. Zu diesem Zwecke sind
die Methoden am überlebenden Herzen herausgebildet worden.
Gerade beim Herzen sind die Methoden für die Erhaltung heraus-
geschnittener überlebender Organe ausgebildet worden, weil das Herz durch
das Erlöschen der Pulsationen ein sichtbares Zeichen seines Absterbens
bietet, und in der Abnahme der Frequenz bereits die ersten Anzeichen hier-
von deutlicher als bei allen anderen Organen sichtbar sind.
Ein herausgeschnittenes Froschherz, das man in einer feuchten Kammer
aufbewahrt, schlägt zwar noch einige Stunden, aber doch nicht ohne Ände-
rung von Frequenz und Stärke. Um die durch die Herzschläge verbrauchte
Energie zu ersetzen, muß man das Herz mit einer Nährflüssigkeit durch-
spülen. Man nimmt dazu entweder defibriniertes Blut, Serum, oder aber
künstliche Lösungen, die in ihrer Zusammensetzung dem Serum "mehr
') Heinz, Handb. d. experim. Pathol. u. Pharmakol. 1 (2. Hälfte), 819, 1905. —
®) Friedenthal, Die Entfernung aller extracardialer Herznerven, Arch!f. (Anat. u.)
Physiol. 1902.
44 *
692 Nährflüssigkeiten für das Herz.
oder weniger nachgebildet sind. Derartige Lösungen müssen, um längere
Zeit das Herz zu ernähren, verschiedene Eigenschaften aufweisen, die in
folgendem je nach ihrer Wichtigkeit zusammengestellt sind; sie müssen
1. isotonisch sein — physiologische Kochsalzlösung,
bei Fröschen = 0,6 bis 0,7 Proz., bei Warmblütern = 0,8 bis 1,0 Proz.;
2. O, enthalten;
3. möglichst dieselbe Zusammensetzung zeigen wie Serum (zuerst von
Ringer!) betont);
4. organisches Arbeitsmaterial (Traubenzucker) enthalten (zuerst von
Locke?) betont);
5. dem Blute isoviskös sein (zu dem Zwecke setzte Albanese?°) der
Salzlösung 2 Proz. Gummi arabicum zu, das allerdings nach Locke nur in-
folge seines Ka- und Ca-Gehaltes günstig wirken soll).
Ich gebe im folgenden die Rezepte für zwei der gebräuchlichsten Lösungen,
für Warmblüter, die nach Ringer!) und Locke?) genannt etwas verschieden
von den Originalangaben der Autoren sind.
Ringer Locke
NEUE 8,0 9—10
COLE TR. I 0,1 0,24
KO BAHl 0,075 0,42
NSH0O, ie 0,1 0,1—0,3
Traubenzucker . . — 1
WBESET/- na her epie 1 Liter 1 Liter
Genauere Angaben über die Zusammensetzung des Serums bei Hunden,
Katzen und Kaninchen finden sich bei Abderhalden®).
Benutzt man defibriniertes Blut, so nimmt man es am besten von der-
selben Spezies und kann es bis auf das Dreifache seines Volums mit physio-
logischer Kochsalzlösung oder besser einer der angeführten Nährflüssigkeiten
verdünnen. Für Versuche am Froschherzen kann man auch sehr gut Säuge-
tierblut verwenden, das man mit Kochsalzlösung verdünnt.
Apparate für das Froschherz.
Der erste Apparat zur Durchspülung und manometrischen Registrierung
der Tätigkeit des isolierten Froschherzens ist von Ludwig angegeben und
von Coats5) beschrieben worden. Es fließt hierbei das Blut bzw. die Nähr-
flüssigkeit durch eine in die Hohlvene eingebundene Kanüle in das Herz
!) Ringer, Regarding the influence of the saline ingredients of the blood
on the contraction of the heart, Brit. med. Journ. 1885, p. 730; pilory, früher an-
gegeben in Journ. of- Physiol. 3, 380, 1882. — ?) Locke, Towards the ideal arti-
ficial eireulating fluid for the isolated frogs heart, Journ. of Physiol. 18, 332,
1895. — ?) Albanese, Über den Einfluß der Zusammensetzung der Ernährungs-
flüssigkeiten auf die Tätigkeit des Froschherzens, Arch. f. exper. Pathol. u. Pharm.
32, 297, 1893. — *) Abderhalden, Zur quantitativen vergleichenden Analyse des
Blutes, Zeitschr. f. physiol. Chemie 24, 545, 1898. — °) Coats, Wie ändern sich
durch die Erregung des N. vagus die Arbeit und die inneren Reize des Herzens?
Ber. d. Verh. d. Sächs. Ges. d. Wissensch. zu Leipzig 1869, math.-physik. Klasse, 8. 360.
Künstliche Herzdurchblutung bei Kalt- und Warmblütern. 693
hinein und durch eine zweite, in die Aorta eingebundene Kanüle heraus, alle
übrigen Gefäße sind abgebunden. Bei dem Kroneckerschen !) Herzmano-
meter wird eine eigenartige doppelläufige Perfusionskanüle durch den an-
geschnittenen Venensinus in den Ventrikel eingeführt. Hier fließt also das
Blut in die venösen Ostien des Herzens hinein und aus ihnen auch wieder
heraus. Der natürliche Weg ist also nicht mehr gewahrt, doch ist der Ge-
brauch dieser Kanüle sehr leicht und bequem, wird daher häufig angewandt,
doch meist in der Modifikation, welche ihr Williams?) gegeben.
Auch bei der Williamsschen Doppelwegkanüle, welche in die Aorta
eingebunden wird, ist der normale Weg des Blutes nicht gewahrt. Die
Williamssche Apparatur zeichnet sich dann noch besonders dadurch aus,
daß sie künstliche, aus feinstem Schafmesenterium gefertige Ventile enthält,
wodurch es ermöglicht ist, das Herz dauernd zu untersuchen. Der
Williamssche Apparat ist dann später von Perles?®) vervollkommnet
worden.
Santesson®), Jacobj’) und O0. Frank®) sind wieder zu der Ludwig-
schen Methode, zwei Kanülen in die Aorta und Vena cava einzubinden, zu-
rückgekehrt, O0. Frank verwendet auch manchmal eine der Williamsschen
ähnliche Kanüle.
Eine weitere Methode, bei der das Herz mit seinen natürlichen Klappen
arbeiten und plethysmographisch verzeichnet wird, siehe bei Santesson®).
Camus’?) hat einen einfachen und brauchbaren Apparat für Froschherzen
mit äußerer Volumschreibung angegeben. Einen zweckmäßigen Apparat, der,
sich selbst überlassen, bis zu 36 Stunden arbeitet, hat auch Hoffmann®)
konstruiert (vgl. auch Cyon?).
Apparate für das Säugetierherz.
Da das Froschherz durch kleine Gefäße von seiner inneren Wand aus
ernährt wird, genügt es, das Herz in irgend einer Weise zu durchspülen,
beim Säugetierherzen dagegen, das durch die Coronargefäße ernährt wird,
kommt es darauf an, diese zu durchspülen. Der erste, der dies mit Erfolg
getan hat, ist Langendorff!P), der die Methode zu höchster Vollendung aus-
‘) Beiträge zur Anatomie u. Physiologie, ©. Ludwig gewidmet, Leipzig 1875.
— ?) Williams, Über die Ursache der Blutdrucksteigerung bei der Digitalin-
Sag: Arch. f. experim. Pharmakol. 13. — °?) Perles, Beiträge zur Wirkung des
Solanins und Solanidins, Arch. f. experim. Pharmakol. 26, 94. — *) C.G.Santesson,
Eine Methode für künstliche Zirkulation durch das isolierte Froschherz (Physiol.
Inst. Stockholm), Zentralbl. f. Physiol. 11, 265 bis 271, 1897. — °) Jacobj, Zur
Physiologie des Herzens unter Berücksichtigung der Digitaliswirkung, Arch. f.
experim. Pathol. 44, 368 bis 395, 1900; vgl. auch die frühere Arbeit: Derselbe,
Ein Beitrag zur Technik der künstlichen Durchblutung überlebender Organe, ebenda
36, 330 bis 348, 1895. — °) O. Frank, Zur Dynamik des Herzmuskels, Zeitschr.
f.- Biol. 32, 370, 1895. — 7) L. Camus, Nouveau dispositif experimental pour
eirculation artificielle dans le coeur isol& (Physiol. Labor. Paris), Arch. de physiol.
et de pathol. gener. 1901, p. 921—925. — °) W. Hoffmann, Apparat zur Erhal-
tung der Zirkulation am überlebenden Froschherzen, Pflügers Arch. 100, 249, 1903.
— °) E.deCyon, Sur les möthodes de la circulation artificielle dans le coeur isole,
Compt. rend. de la soc. de biol. 1901, p. 513—515. — '°) Langendorff, Unter-
suchungen am überlebenden Säugetierherzen, Pflügers Arch. 61, 291, 1895.
694 Teilweise Isolierungsmethoden.
gebildet hat. Das Herz wird aus dem frisch getöteten Tiere herausgeschnitten,
eine Kanüle wird in die Aorta gebunden, und nun wird es mit der betreffenden
Nährflüssigkeit (?/; Ringerlösung und !/, defibriniertes Blut), die konstant
erwärmt und mit Sauerstoff gesättigt wird, unter einem Druck von etwa
10.cmHg durchspült. Diese Methode hat im Laufe der Zeiten mannigfache
Abänderung erfahren. Wir erwähnen hier nur die Apparate von Gott-
lieb undMagnus!). Brodie2), W.Hoffmann?°), Locke und Rosenheim)
haben dann ferner Apparate angegeben, die bei der Ernährung anderer
Organe das Blut rhythmisch durchpumpen und somit die Pulsationen künst-
lich nachahmen. Bezüglich weiterer Einzelheiten über die Zusammensetzung
der Ringerlösung sei auf die unter H. E. Hering’) angestellte Arbeit von
Gross®) verwiesen. Eine zusammenfassende Darstellung findet sich bei
Langendorff?).
Eine teilweise Isolierung des Herzens erstreben H. E. Hering) und
Bock®); hierbei wird das Herz in Verbindung mit dem Lungenkreislauf ge-
lassen, während alle arteriellen Abflüsse bis auf eine Carotis unterbunden
werden; das Blut aus dieser Carotis wird — unter Einschaltung von
Apparaten oder Widerständen — direkt in die Vena jugularis geleitet. So-
mit wird also der ganze Körperkreislauf ausgeschaltet, und das Blut fließt
vom linken Herzen durch Carotis, Schlauch und Jugularis zum rechten
Herzen und von hier durch die Lunge wieder zum linken Herzen. Das
Herz ist bei dieser Methode, worauf es yor allem ankommt, nervös völlig
isoliert, da ja die Hirnzirkulation völlig unterbunden.
Eigenartige Methoden der Herzisolierung, zum Teil ohne Eröffnung des
Brustraumes, sind angegeben von Martin?) und Heinz !).
$ 15.
Die Speisung des Herzens.
(Vgl. hierzu auch $ 91.)
Langendorff!!) hat zuerst darauf hingewiesen und experimentell ge-
zeigt, daß das stillstehende Säugetierherz durch die Blutspeisung der Coronar-
gefäße allein zu anhaltendem und kräftigem Schlagen gebracht werden kann,
') Gottlieb und Magnus, Digitalis und Herzarbeit, Arch. f. exp. Pharmak.
51, 30. — ?) Brodie, On recording variations in volume by air transmission,
a new form of volume recorder, Journal of Physiology 29, 473. — ®) W. Hoff-
mann, Zirkulations- und Pulsationsapparat zur Durchströmung überlebender
Organe, Pflügers Arch. 100, 242. — *) Locke and Rosenheim, Oontributions
to the physiology of the isolated heart, Journ. of Physiol. 36, 205, 1907. —
°) H. E. Hering, Methode zur Isolierung des Herz- Lungen - Coronarkreislaufes,
ebenda 72, 163. — °) Gross, Bedeutung der Salze der Ringerschen Lösung für
das isolierte Säugetierherz, Pflügers Arch. 99, 264, 1903. — 7) Langendorff,
Herzmuskel und intrakardiale Innervation, Ergebnisse der Physiol. 1, Abt. II, 263, 1902.
— °®) Bock, Über die Wirkung verschiedener Gifte auf das isolierte Säugetierherz,
Arch. f. experim. Pharmakol. 41, 151.— °) Martin, The direct influence of gradual
variations of temperature upon the rate of the heat of the dogs heart, Philos.
transact. 174, 666. — '°) Heinz, Experimentelle Untersuchungen über Digitalis-
wirkung, Verhandl. des XVIII. Kongr. f. innere Medizin Wiesbaden 1900, 8. 531.
— "!) Langendorff, Untersuchungen am überlebenden Säugetierherzen, Pflügers
Arch. 61, 291, 1895.
Einfluß der Kranzarterien. 695
während die Füllung der Ventrikel dazu nieht genügt, und damit die Ansicht
widerlegt, daß der Blutgehalt in den Kammerhöhlen auch das Säugetierherz
genügend ernähren könne, wenn schon dies bei dem dünnwandigen Frosch-
herzen der Fall sein mag. Bohr und Henriques!) haben dann die durch
die Coronargefäße strömende Blutmenge an Kälbern direkt zu bestimmen
gesucht und dabei gefunden, daß der Herzmuskel durch die Coronargefäße .
etwa in derselben Weise mit Blut versorgt wird, wie auch die Skelettmuskeln
nach den Bestimmungen von Chauveau und Kaufmann. Schirr-
macher?) konnte dann zeigen, daß die Stärke der Herzschläge durchaus
mit der Geschwindigkeit der Strömung steigt und sinkt, während die Frequenz
nur wenig beeinflußt wird.
Daß das Aufhören der Durchströmung nach einiger Zeit zum Stillstand
führen muß, kann nicht wundernehmen, es ist aber zuerst von Cohnheim
und Schulthess-Rechberg?) betont worden, daß der durch Sistierung
und Unterbindung von Coronargefäßen hervorgerufene Stillstand von Flim-
mern und Herzwühlen eingeleitet wird. Michaelis*) (unter Leyden) hat
die Cohnheimschen Befunde bestätigt. Dagegen behaupten v. Frey’) und
Tigerstedt$) (beide auch schon in früheren Arbeiten), daß dies Flimmern
eine sekundäre Erscheinung sei, hervorgerufen durch unvermeidbare Neben-
verletzungen bei der Unterbindung. Porter’) schließt sich an Cohnheim
an, trotzdem er im Grunde nur zeigt, daß ebensowenig infolge sehr ausgedehnter
Nebenverletzungen allein Flimmern eintritt wie dann, wenn er eine Coronar-
arterie vom Sinus Valsalvae aus durch Einführung eines geknöpften Glasstabes
— aber ohne jede Nebenverletzung — verschloß. Auf eine Polemik Tiger-
stedts®) hiergegen betont Porter °) denn auch, daß für ihn Flimmern und
Herzstillstand dasselbe seien, oder wenigstens gehöre Flimmern zu den nach
Aufhören der Koordination stets auftretenden Erscheinungen. Eine Meinung,
der diejenigen kaum beipflichten werden, die gesehen haben, daß das Herz
meistens ohne Flimmern langsam abstirbt. Daß der Verschluß der Kranz-
arterien allein Flimmern nicht hervorrufen kann, zeigen mit Sicherheit die
Versuche Langendorffs, der bei Unterbrechung der künstlich eingeleiteten
Coronarzirkulation niemals Flimmern auftreten sah.
Auf die Beziehungen gewisser Medikamente (Kampher und Kalle)
sowie des elektrischen Stromes zum Herzflimmern kann hier nicht ein-
gegangen werden; auch nicht auf die neueren Arbeiten, wonach das Herz-
') Chr. Bohr und V. Henriques, Über die Blutmenge, welche den Herz-
muskel durchströmt, Skand. Arch. 5, 232, 1895. — *) L. Schirrmacher, Über den
Einfluß der Strömungsgesehwindigkeit in den Kranzarterien des isolierten Säuge-
tierherzens auf Stärke und Frequenz des Herzschlages. Dissert. Rostock 1901. —
®) Cohnheim und Schulthess-Rechberg, Über die Folgen der Kranzarterien-
verschließung für das Herz,‘ Arch. f. pathol. Anat. u. Physiol. 85, 503, 1881.
*) Michaelis, Ergebnisse bei Ligatur der Kranzarterien, Dissert. Berlin 1893. — —
°) v. Frey, Die Folgen der Verschließung von Kranzarterien, Zeitschr. f. klin.
Med. 25, 158, 1894. — °) R. Tigerstedt, Der Verschluß der Kranzarterien des
Herzens, Zentralbl. f. Physiol. 9, 545—546, 1895. — 7) W. T. Porter, Der Verschluß
der Coronararterien ohne mechanische Verletzung, ebenda 9, 481—483, 1895. —
®) Derselbe, Further researches on the closure of the coronary arteries, Journ.
of exper. med. (New York) 1, 46—70, 1896. Weiteres über den Verschluß der
Coronararterien ohne mechanische Verletzung Zentralbl. f. Physiol. 9, 641—647, 1896.
696 Die blutige Druckmessung
fliimmern in Zusammenhang mit .nervösen (Hemmungs-) Erscheinungen ge-
bracht wird [(vgl. hierüber die Literatur bei Busch (1905)].
Wir müssen aus den zum Teil widersprechenden Befunden schließen,
daß wir die eigentliche Ursache des so verhängnisvollen Herzflimmerns nicht
kennen. Weder sind es Nebenverletzungen, noch ist es mangelhafte Er-
nährung an sich. Es scheint vielmehr, als ob beide Faktoren beim Zustande-
kommen des Flimmerns eine gewisse Rolle spielen. Vgl. den $ 91 auf
S. 844 über die Selbststeuerung des Herzens.
Kymographik.
(Über die Resultate der Kymographik vgl. $ 55 bis 59.)
$ 16.
a) Direkte Messung unter Eröffnung des Kreislaufs.
Beim Tier kann man die Blutbahn eröffnen und den Blutdruck direkt
bestimmen. Handelt es sich um eine Druckbestimmung in den Gefäßen, so
verwendet man eine kleine Kanüle, die in ein angeschnittenes Blutgefäß ein-
geführt wird und mit der ein Manometer ver-
bunden ist. Man verwendet zwei Arten von Ka-
nülen. Die eine (Fig.46a) ist T-förmig gestaltet
und wird so in das Gefäß eingeführt, daß der
Querbalken des T in der Richtung des Gefäßes
liegt, der dritte Schenkel aber wie ein rechtwinke-
liger Ast des Gefäßes absteht. In diesem Falle
mißt man den Druck, welcher in dem abzweigen-
den (Glas-)Schenkel statthat, d. h. jenen Druck,
welcher auf die ursprüngliche Wand des Gefäßes
ah ee senkrecht gerichtet ist. Wenn man dagegen eine
Kanüle. einfache gerade (sogenannte endständige) Kanüle
(Fig. 46b) mit dem einen Ende eines durchschnit-
tenen Gefäßes verbindet, dann verschließt man dasselbe völlig und registriert
Fig. 46.
daher den in dem Gefäße selbst statthabenden Druck bzw. den senkrecht
auf die Wand jenes größeren Gefäßes ausgeübten Druck, von welchem das
zur Messung benutzte Gefäß, wie der 3. Schenkel eines T-Rohres, abgeht.
Wenn man länger dauernde Versuche ausführen will, muß man, um Gerinnung
zu verhindern, sowohl die Kanüle, wie eventuell das ganze dazu gehörige
Manometer mit einer die Gerinnung hindernden Flüssigkeit anfüllen.
Poiseuille?) wandte dazu eine gesättigte Lösung von Na,C0, an.
Meist nimmt man heute andere Salze, am häufigsten eine gesättigte Lösung
von Natrium- oder Magnesiumsulfat; da dies ein Herzgift ist, hat man
nach dem Vorgange von Heidenhain und Doyon Totaldefibrinierung oder
nach Haycraft Zusatz von Blutegelextrakt bzw. Hirudin angewandt; das
von Franz3) hergestellte Hirudin empfiehlt Tigerstedt*) in Mengen
von l mg pro Cubikcentimeter (berechneten) Blutes einzuspritzen; Thun-
!) Busch, Les pulsations et les tr&mulations fibrillaires du coeur de chien,
Arch. internat. de Physiol. 2, p. 223, 1905. — °) Poiseuille, Recherches sur la
force du coeur aortique, Thöse de Paris 1828. — °) Franz, Arch. f. experim.
Pathol. 49, 342, 1903. — *) Tigerstedt, Skand. Arch. 19, 2, 1907.
ee a ba ae Fi
mit Quecksilbermanometern. 697 °
berg!) hat die Einschaltung einer 1- bis 2proz. Lösung von neutralem
Kaliumoxalat empfohlen.
Um tunlichst zu verhindern, daß das spezifisch schwerere Magnesium-
sulfat infolge seiner Schwere in die Gefäße hineinfließt, hat schon Fick die
Zwischenschaltung einer U-Röhre empfohlen, eine Vorschrift, die
leider fast niemals beachtet wird. Da trotzdem leicht Gerinnungen vorkommen,
muß man oft den Versuch unterbrechen, um die Kanüle zu reinigen. Bardier?)
hat eine Modifikation vorgeschlagen, bei der eine Seitenröhre das Füllen,
lteinigen und Auswaschen während des Versuches erlaubt.
Wenn man den Blutdruck des Herzens bestimmen will, so kann man
ebenfalls Kanülen — die naturgemäß hier eine den speziellen Verhältnissen an-
gepaßte Form haben müssen — benutzen. Man kann z. B. sehr gut Kanülen in
den Vorhof binden und damit den Druck im Vorhof, oder wenn man sie länger
macht, auch im Ventrikel messen. Da hier das Ende der Kanüle nicht in einem
dieselbe gleichsam verlängernden Gefäße steckt, sondern mitten im strömenden
Blute, so wird bei jeder Drucksenkung die Manometerflüssigkeit sofort in den all-
gemeinen Kreislauf kommen, und umgekehrt wird bei jeder Druckerhöhung frisches
Blut in die Kanüle dringen; so wird verhältnismäßig.schnell in der Kanüle die meist
giftige Flüssigkeit durch Blut ersetzt sein; es kommt daher zu Vergiftungserschei-
nungen einerseits, zu Gerinnungen andererseits. Derartige offene Kanülen werden
auch deshalb selten angewandt, weil für die Methoden, bei denen man das Blut bei
uneröffnetem Thorax untersuchen kann, sich diese offenen Kanülen schlechter
eignen. Die hierbei verwendeten Instrumente sollen auf S. 701 beschrieben werden.
$ 17. \
Messung des mittleren Blutdrucks mit Flüssigkeits-
(Quecksilber-)Manometern.
Um nun die Kraft zu bestimmen, mit der das Blut in die Kanüle hinein-
zudringen sucht, muß man dieser Kraft durch irgend eine andere leicht meß-
bare Kraft das Gleichgewicht halten. Man kann dazu eine Flüssigkeitssäule
oder eine elastische Kraft verwenden. Der erste Apparat, mit dem der arterielle
Druck schon im Jahre 1733 von Stephan Hales?) ziemlich richtig gemessen
wurde, war ein Flüssigkeitsmanometer. Er setzte bei einem 14 Jahre
alten, in Rückenlage festgebundenen Pferde die Art. femoralis mittels eines
kupfernen Troikarts mit einem langen, aufrecht stehenden, 0,4cm weiten
Glasrohre in Verbindung und sah dann das Blut darin so hoch steigen, daß
es 8 Fuß 3 Zoll (d. i. 252cm) über dem linken Herzen stand. Da Blut ein
spezifisches Gewicht von 1,06 und Quecksilber ein solches von 13,6 hat, ent-
spricht dies einem Hg-Druck von 19,6cm. Handlicher und brauchbarer
wurde dieses Instrument erst, ala Poiseuille*) nicht das Blut selbst in das
Manometer dringen ließ, sondern statt dessen Quecksilber verwandte, in-
folgedessen er auch nur ein etwa 13mal kürzeres Rohr gebrauchte, denn
Quecksilber ist ja etwa 13 mal so schwer als Blut. Hiermit konnte man den
!) T. Thunberg, Zur Methodik der Blutdruckversuche (Physiol. Labor.
Upsala), Zentralbl. f. Physiol. 12, 73, 1898. (Einschaltung einer 1- bis 2proz.
Lösung von neutralem Kaliumoxalat.) — *) E. Bardier, Nouveau modele de ca-
nule & pression arterielle, Compt. rend. de la soc. de biol. 1897, p. 1025—1027. —
®) St. Hales, Statical Essays 1733 und Statik des Geblütes, Halle 1748 (übersetzt
aus dem Englischen). — *). Poiseuille, Recherches sur la force du coeur aortique,
These de Paris 1828.
698 Mittlerer Blutdruck.
mittleren Blutdruck recht gut bestimmen, und die diesbezüglichen Messungen
Poiseuilles lassen denn auch an Genauigkeit wenig zu wünschen übrig;
jedoch war es äußerst schwer, den einzelnen sehr schnell aufeinanderfolgenden
Bewegungen, welche infolge der Herzkontraktionen statthaben, im einzelnen
zu folgen. Ludwigs!) Einrichtung, welche bewirkte, daß das sich be-
wegende Quecksilber selber seine Bewegungen aufschrieb, ist
bekanntlich deshalb für die gesamte Physiologie so bedeutungsvoll geworden,
weil es das erste Beispiel der graphischen Methode war, welche seit-
dem in tausendfältiger Variation die physiologische Methodik beherrscht hat
und der wir eine große Zahl der wertvollsten Errungenschaften der letzten
Jahrzehnte verdanken. Vielleicht ist sogar die Wertschätzung zu groß. Die
eigentliche Beobachtung leidet manchmal darunter, daß viele glauben: wenn
man nur eine Kurve zeichnet, so müßte sich damit auch etwas machen lassen.
Dies gilt hauptsächlich für Puls- und Blutdruckkurven.
Die Ludwigsche Einrichtung bestand darin, daß auf dem Quecksilber
ein leichter Schwimmer schwamm, auf dem ein langer, vertikaler, oben um-
gebogener Glasfaden befestigt war, der seine Bewegungen auf die sich drehende
Trommel eines Kymographions aufschrieb. Der Stiel dss Schwimmers muß
natürlich in einer Führung laufen, und es ist oft nicht leicht, Reibung zu
vermeiden.
Eine Modifikation der Methode, die wohl von Chauveau zuerst angegeben
ist, hat sich mir bei ähnlichen Versuchen gut bewährt. Der Schwimmer, der aus
einem etwa 2cm langen starken. Eisendraht besteht, greift mittels eines Fadens
an einem zweiarmigen Hebel an, dessen andere Seite leicht belastet ist, um den
Faden immer gespannt zu halten.
Mit dieser Methode sind die hauptsächlichsten Bestimmungen a mitt-
leren Blutdruckes angestellt, und zu diesem Zweck ist sie auch heute noch die
brauchbarste und exakteste, wie seinerzeit schon Landois?) beim Vergleich
mit dem Fickschen Blutwellenschreiber hervorhob. Es empfiehlt sich nach
dem Vorschlag Setschenows?°), das Manometerrohr an einem tiefsten
Punkte einzuengen. Durch die hierdurch gesetzte größere Reibung kann
man die Ausschläge des Manometers so weit verlangsamen, daß sich das
Manometerniveau zwischen zwei Pulsen gar nicht merklich verschiebt. Das
Manometer stellt sich dann genau auf den mittleren Blutdruck ein ®).
$ 18.
Messung des maximalen und minimalen Druckes
mit Ventilmanometer.
Statt der einfachen Verengerung kann man nun auch ein Ventil an-
wenden. Wenn man dasselbe so anbringt, daß es den Zustrom in das
Manometer erlaubt, den Rückstrom dagegen verhindert, dann erhält man ein
') Ludwig, Beiträge zur Kenntnis des Einflusses der Respirationsbewegungen
auf den Blutlauf im Aortensystem, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1847, 8. 243, s. 8. 261.
— ?) L. Landois, Die Lehre vom Arterienpuls, S. 24. Berlin, Aug. Hirschwald,
1872.— °) I. Setschenow, Eine neue Methode, die mittlere Größe des Blutdruckes
in den Arterien zu bestimmen, Zeitschr. f. rat. Mediz. 12, 170. — *) In Analogie
mit der sonst gebräuchlichen Terminologie müßte man allerdings richtiger von dem
„Durchschnittsblutdruck“ sprechen (vgl. das auf 8. 726 über Durchschnittsgeschwin-
digkeit Gesagte).
Be an an ana n
Ventilmanometer. 699
Maximummanometer. Der höchste Druck, welchen das Blut vielleicht
nur während eines ganz kurzen Zeitintervalls ausübt, gibt dem Manometer
zwar einen Anstoß, vermag das Quecksilber aber nicht bis zu der entsprechen-
den Höhe zu heben, weil die Masse desselben zu groß ist. Dadurch, daß das
Ventil den Rückfluß nicht gestattet, bleibt das Quecksilber nach jedem Puls-
schlag in der erreichten Höhe, ohne während der Diastole herabzusinken.
Die folgende Herzkontraktion findet also einen Teil der notwendigen Arbeit
schon geleistet und vermag das Quecksilber daher ein Stückchen höher zu
treiben. So geht es fort, bis endlich das Manometer eine Stellung einnimmt,
welche dem höchsten überhaupt vorhandenen Blutdruck entspricht.
Ist das Ventil umgekehrt eingeschaltet, so hat man ein Minimum-
manometer, das den niedrigsten überhaupt vorkommenden Druck ver-
zeichnet. Meist sind derartige Instrumente nur zur Bestimmung des Blut-
druckes im Herzen angewandt. Die ersten, die dies taten, waren Goltz und
Gaule!), welche Kegelventile verwendeten; später hat auch Hürthle?)
ein Hg- Maximum- und -Minimummanometer angegeben.
Diese Instrumente, welche dazu dienen, den jeweilig niedrigsten und höchsten
Druck zu verzeichnen, sind als einwandfrei zu betrachten, solange von dem Gefäß
bis zum Ventil sich nichts als Flüssigkeit befindet und die Verbindungsröhre un-
elastisch ist. Sobald aber Membranen oder gar Gummiballons zwischengeschaltet
sind, ist der Druck nicht mehr in allen Teilen des Systems notwendigerweise der-
selbe, sondern lokale Zerrungen können vorübergehend den Druck in dem durch
die Membran abgeschlossenen Teile sehr viel höher bzw. sehr viel niedriger werden
lassen, als es in dem Gefäße jemals der Fall ist. Derartige Membran - Minimum-
manometer haben, besonders bei der Bestimmung des minimalen Druckes im Herzen,
häufig zu Fehlern Anlaß gegeben.
$ 19.
Messung der Blutdruckschwankungen (mit elastischen Manometern).
Infolge von Schleuderungen gibt das Ludwigsche Instrument den zeit-
lichen Ablauf der Druckschwankungen sehr fehlerhaft wieder; um
einen Schwimmer verwenden zu können, braucht man Röhren von mindestens
0,2 bis 0,3cm lichtem Durchmesser. Das bedingt zur Füllung 15 bis 20g
Quecksilber.
Wenn eine derartige Masse sich mit einer Geschwindigkeit von beiläufig
2 bis 3cm in der Sekunde bewegt, so wird sie eine nicht unbeträchtliche
Energie besitzen (etwa 300 g/em) und sich also (wie ein in Fahrt befindlicher
Eisenbahnwagen) auch dann noch weiter bewegen, wenn die treibende Kraft
zu wirken aufgehört hat.
Dadurch werden, wie sich auch rechnerisch zeigen läßt, die Kurven durch-
aus entstellt, vor allem werden alle Einzelheiten verwischt.
Um brauchbare Resultate zu erzielen, muß man die Entwickelung von
kinetischer Energie in dem registrierenden Instrument beschränken.
Zu dem Zwecke hat Porter?) eine eigenartige Kombination von Hähnen
angegeben, welche automatisch durch den Blutdruck selbst — aber nicht
») Goltz und Gaule, Über die Druckverhältnisse im Innern des Herzens,
Pflügers Arch. 17, 100—120, 1878. — ?) K. Hürthle, Pflügers Arch. 43, 426, 1888.
— °®) W. T. Porter, A new method for the study of the intra-cardiac pressure
curve, Journ. of exper. med. (New York) 1, 296—303, 1896.
700 Schnell reagierende Manometer.
direkt, sondern durch Vermittelung von Elektrizität — geöffnet werden. Diese
Methode erlaubt, das Stück der Kurve, das einen höheren als den eingestellten
Blutdruck repräsentiert, ohne anfängliche Schleuderwirkung zu schreiben.
Einen ähnlichen, aber einfacheren Apparat hat O0. Frank!) im folgenden
Jahre angegeben.
Will man aber möglichst genau die ganze Kurve schreiben, dann muß man
die Masse des in Bewegung gesetzten Systems möglichst gering wählen und
— da die Energie proportional mv? ist — dafür sorgen, daß die Geschwindig-
keiten möglichst gering bleiben.
Diese einfachen und klaren Gesichtspunkte sind von allen Konstrukteuren
mehr oder weniger bewußt befolgt worden. Seit dem Jahre 1903 hat O. Frank,
der früher!) ebenfalls experimentelle Kritik anwandte, eine Reihe von Arbeiten
publiziert, in denen er versucht, durch Rechnung weiter zu kommen. Die an sich
exakte, analytisch-mathematische Methode kann jedoch deshalb zu keinem Resultat
führen, weil wir das Trägheitsmoment komplizierter Körper nicht berechnen, sondern
nur experimentell ausprobieren können; ebenso ist es überall dort, wo elastische
Kräfte ins Spiel kommen. Wer sich für diese, meiner Meinung nach auch dort, wo
sie richtig sind, nicht notwendigen Rechnungen interessiert, sei auf die
Frankschen Originalarbeiten verwiesen ?).
Man kann nun, wie zuerst Cybulski gezeigt hat, auch Capillaren ver-
wenden; wenn in beiden Schenkeln Quecksilberoberflächen vorhanden sind,
hebt sich die Capillardepression fast heraus®), auf photographischem Wege
wird dann die Bewegung des Quecksilbers registriert. Auch Bayliss und
Starling*) haben ein Capillarmanometer angewendet, das eine kleine Luft-
blase enthielt, deren Bewegung photographisch registriert wurde.
‚Die elastischen Manometer.
Meist aber hat man die gedachten Schwierigkeiten im Prinzip dadurch
zu überwinden gesucht, daß man das Blut gegen eine nur sehr wenig beweg-
liche Fläche drücken ließ. Wenn schon eine geringe Verschiebung dieser
Fläche einen verhältnismäßig großen Energieaufwand erfordert, so braucht
das Blut bzw. die in Betracht kommenden Teile des Registrierapparates nur
minimale (also auch verhältnismäßig langsame) Bewegungen auszuführen.
Neben dem Vorteil in bezug auf die Genauigkeit der Registrierung geht hier-
!) O0. Frank, Ein experimentelles Hilfsmittel für eine Kritik der Kammerdruck-
kurven, Zeitschr. f. Biol. 35, 478, 1897. — ?) O.Frank, Kritik der elastischen Mano-
meter, Zeitschr. f. Biol. 44, 445, 1903; Theorie des Kolbenmanometers, ebenda
45, 464, 1903; Prinzipien der Konstruktion von Schreibhebeln, ebenda 45, 480,
1903; Die Registrierung des Pulses durch einen Spiegelsphygmographen, Münch.
med. Wochenschr. 1904, Nr. 42; Konstruktion und Durchrechnung von Registrier-
spiegeln, Zeitschr. f. Biol. 46, 421, 1905; Der Puls in den Arterien, ebenda 46,
441, 1905; Derselbe und Petter, Statik der Membranmanometer und der Luft-
transmission, ebenda 48, 489, 1906; vgl. jedoch auch die Kritik der Frankschen
Methode bei Nicolai und Schlick, Die Gestalt einer deformierten Manometer-
membran experimentell bestimmt, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1907, 8. 135. sowie
Nicolai, Noch einmal die Franksche Paraboloidmembran, Zeitschr. f. Biol. 50,
456. — °®) Nicht ganz, weil auf der einen Seite das Hg direkt oder indirekt gegen
Blut, auf der anderen Seite direkt oder indirekt gegen Luft angrenzen muß. —
*) W. M. Bayliss and E. H. Starling, On the form of the intraventricular and
aortic pressure curves obtained by a new method, Intern. Monatsschr. £. Anat. u.
Physiol. 1894.
Elastische Manometer. 701
mit Hand in Hand der Vorteil, daß nur sehr wenig Blut in die Kanüle ein-
dringt und infolgedessen leichter Gerinnung vermieden werden kann.
Das Prinzip der geringen Beweglichkeit der Flächen verwirklichen bis
zu einem gewissen Grade auch die von Chauveau und Marey!) zuerst an-
gegebenen cardiographischen Sonden; dieselben stellen gefensterte Sonden
dar, die ins Herz eingeführt werden. Die Fenster sind mit Kautschuk über-
spannt und bilden eben die bewegliche Fläche. Diese Bewegung wird durch
Luftübertragung einem Mareyschen „Tambour ä levier“ zugeführt. Derartige
Sonden sind für die einzelnen Ventrikel und Vorhöfe angegeben. Eine neue
cardiographische Sonde beschreiben z. B. Gley?) und Meyer?°). Eine eigen-
artige Modifikation hat Grünbaum ) angegeben; hier ist die in der Sonde
angebrachte bewegliche Membran mit einer Zinkplatte armiert, die einer
anderen festen parallel gegenübersteht. Zwischen den Platten befindet sich
Zinksulfat. Die Druckänderungen erzeugen Schwankungen des Widerstandes
in einem elektrischen Stromkreis, welche man mittels eines Capillarelektro-
meters registriert.
Bei allen anderen Manometern (mit Ausnahme des ersten Fickschen)
ist die zu bewegende Fläche immer die Membran des nach dem Prinzip der
Mareyschen Kapsel gebauten Apparates. Wesentlich ist dabei, daß die Aus-
buchtung bei der Blutdruckschwankung die Membran nicht gar zu sehr
deformiert, weil nur unter diesen Bedingungen Proportionalität zwischen
Druckänderung und Membranverschiebung herrscht (vgl. Athanasiu5) sowie
Nicolai und Schlick ®), die notwendige Vergrößerung muß man dann durch
Hebelübertragung erzielen, am exaktesten natürlich durch den masselosen
Hebel des Lichtstrahles.
Fick”) hat eine sehr kleine Gummimembran genommen, deren Exkur-
sionen er durch eine Stahlfeder minderte. Ähnlich im Prinzip ist das Mano-
meter von Frey und Krehl°), Hürthle°) und Gad!%). Doch werden die
letzteren Apparate heute mit einer (nach Art einer Aneroidbarometerkapsel)
gewellten Blechmembran geliefert. Alle diese Instrumente müssen empirisch
mit einem Quecksilbermanometer verglichen und geeicht werden und zwar
muß diese Eichung wegen der leider wechselnden Spannung vor und nach
jedem Versuch vorgenommen werden.
Einen etwas anderen Weg hat Fick !!) bei seinem ersten Modell gewählt;
er hat einen Apparat konstruiert, der auf dem Prinzip des Bourdonschen
!) Chauveau und Marey 1863; Nicolai und Schlick, Die Gestalt
einer deformierten Manometermembran experimentell bestimmt, Arch. f. (Anat.
u.) Physiol. 1907, 8.129. — *) Gley, Sonde cardiographique, Compt. rend. de la
soc. de biol. 1894, p. 445—446. — °?) E. Meyer, Sonde cardiographique pour la
pression intra-ventrieulaire chez le chien., Compt. rend. de la soc. de biol. 1894,
p. 443—445. — *) O.F.F. Grünbaum, On a new method of recording alterations
of pressure, (Physiol. Soc.) Journ. of Physiol. 22, 43—51.— °) Athanasiu-Methode
graphique, Traveaux de l’Ass. de l’Inst. Marey, Paris 1905, p. 77ff. — °) Nicolai
und Schlick, Die Gestalt einer deformierten Manometermembran experimentell
bestimmt, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1907, S. 135£. — 7°) Fick, Pflügers Areh.
30, 597, 1883. — ®) Frey und Krehl, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1890, S. 31. —
®) Hürthle, Pflügers Arch. 43, 399, 1888. — '°) Gad, Zentralbl. f. Physiol. 1889,
8. 318. — "') A. Fick, Ein neuer Blutwellenzeichner, Arch. f. (Anat. u.) Physiol.
1864, 8. 583.
702 Experimentelle Prüfung der Manometer.
Metallmanometers beruht: es ist das eine hohle Messingfeder von flach
elliptischem Querschnitt, die kreisförmig gekrümmt ist und deren eines Ende
fest, das andere frei ist. Bekanntlich streckt sich eine solche Feder, wenn
in ihrem Innern der Druck steigt. Die minimalen Bewegungen des freien
Endes wurden durch ein aus Rohr gefertigtes Hebelwerk (einer sogenannten
Gradfächerung) in 30facher Vergrößerung auf das Kymographion übertragen.
Einen sehr vereinfachten Apparat nach denselben Prinzipien hat
Schenck!) angegeben, der auf Grund einer Untersuchung von Ishihara?)
den Apparaten von Hürthle und von v. Frey nicht nachstehen soll.
In den letzten Jahren sind die Apparate mehrfach experimentell unter-
sucht worden.
Schilina?®) vergleicht die Leistungen des Ludwigschen Kymographen
und des Hürthleschen Tonographen. Letzterer soll sowohl den mittleren
Blutdruck als den relativen Betrag der Pulsschwankungen zu hoch angeben —
das alte Instrument sei daher vorzuziehen, eine Meinung, die Kronecker *)
noch 1901 teilweise vertrat. Zu günstigeren Resultaten in bezug auf die
Membranmanometer kommen Tschuewsky’) und Hürthle®).
In bezug auf die sehr ausgedehnte Literatur über die Prüfung der ein-
zelnen Instrumente sei auf die unten angegebene Literatur verwiesen, wo
sich zum Teil weitere Literaturhinweise finden.
Hürthle, Kritik des Lufttransmissionsverfahrens, Pflügers Arch. 53, 2831,
1892.— Ansiaux, Rech. crit. et exper. sur le sphygmoscope de Chauveau-Marey,
Bull. de l’Acad. d. Belg. 23, 377 und Arch. de biol. 12, 611. — K. Hürthle, Vgl.
Prüfung des Tonographen von Frey und Hürthle, Pflügers Arch. 55, 319, 1893.
— M. von Frey, Der Tonograph mit Luftfüllung, Zentralbl. f. Physiol. 7, 453,
1893; Zur Theorie des Lufttonographen, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1893, 8. 204;
Ein Verfahren zur Bestimmung des Trägheitsmomentes von Schreibhebeln, ebenda
S.485; Die Ermittelung absoluter Werte für die Leistung von Pulsschreibern, ebenda
S. 17; Binet und Courtier, Seconde note sur la correction des traces au moyen
d’un orifice capillaire, Compt. rend. de la soc. d. Biol. 1895, 8. 295; Un regulateur
graphique, ebenda '8. 322. — Harris, A note upon the vibrational rate of the
membranes of recording tambours, Journ. of anat. and physiol. 31, 29, 1896. —
Weiss, Sur la comparaison des trac6s obtenus, & l’aide d’appereils enregistreurs
differents, Compt. rend. de la soc. biol.: 1897, 8.’ 359.
$ 20.
Unblutige Druckmessung.
Die besprochenen Methoden gestatten, den Blutdruck in einer eröffneten
Arterie zu messen, sind also nur bei Tieren und in den seltenen Fällen
von Amputationen beim Menschen anwendbar; auch hierfür mußten sich
!) F.Schenck, Beschreibung einiger Apparate für das physiologische Prak-
tikum, Pflügers Arch. 97, 421, 1903. — ?) M. Ishihara, Über einen für Unter-
richtszwecke vereinfachten Gimnaligätigiaphen (Physiol. Inst. Marburg), Arch. f.
d. ges. Physiol. 1897, 8. 429—437. — °) L. Schilina, Vergleich von Ludwigs
Kymograph mit Hürthles Tonographen (Physiol. Ges. Berlin), Arch. f. (Anat. u.)
Physiol. 1898, 8. 526. — *) H. Kroneeker, Über die Leistungen von Hürthles
Tonographen, Zentralbl. f. Physiol. 15, 401, 1901. — °) J. A. Tschuewsky, Ver-
gleichende Bestimmung der Angaben des Quecksilber- und des Federmanometers
in bezug auf den mittleren Blutdruck, Arch. f. d. ges. Physiol. 72, 585, 1898. —
°) K. Hürthle, Über die Leistungen des Tonographen, ebenda 82, 515, 1900.
sr
Unblutige Druckmessung. 703
die Experimentatoren den Tadel mancher ihrer Fachgenossen !) gefallen
lassen, die ein derartiges Experiment in keiner Weise für berechtigt halten.
Es war daher nicht wunderbar, daß man sich frühzeitig bemühte, Instru-
mente zu ersinnen, welche an der uneröffneten Arterie sowohl den Blutdruck
als auch die Schwankungen desselben zu messen gestatten. Umgekehrt wie
bei der eröffneten Arterie, bei der die Messung des mittleren Blutdruckes eine
verhältnismäßig leichte, schon von dem ersten Untersucher Stephan Hales
gelöste Aufgabe ist und nur die Bestimmung der Druckschwankungen ernst-
liche Schwierigkeiten bietet, ist bei der uneröffneten Arterie eine wenig-
stens annähernd richtige Verzeichnung der pulsatorischen Schwankungen
verhältnismäßig leicht, falls man nicht etwa eine größere Genauigkeit als an
der eröffneten Arterie erwarte. Dagegen besitzen wir auch heute
noch keine Methode, welche am Lebenden einwandfrei den Blut-
druck zu bestimmen gestattet. Der Grund ist leicht einzusehen; ist
doch das Blut in der Arterie von der Außenwelt durch die Arterienwand,
durch die Haut, das Bindegewebe und andere Schichten abgeschlossen; wenn
wir durch diese Schichten hindurch den Blutdruck bestimmen wollen, so
müßten wir eine mehr oder weniger genaue Kenntnis des elastischen Verhaltens
dieser Schichten besitzen. Da diese aber bei den verschiedenen Individuen
sehr verschieden sind — man denke nur an die elastische Arterienwand
jugendlicher Personen und an das verkalkte Gefäß von Arteriosklerotikern —,
so wird man einwandfreie Resultate niemals erwarten können. Bei der Regi-
strierung von Pulsschwankungen sind zwar die deckenden Schichten auch
störend, aber sie bleiben doch während der ganzen Schwankung dieselben;
die Druckschwankung hat also während ihres ganzen Ablaufes dieselben
Widerstände zu besiegen, und es resultiert eine der idealen Kurve immerhin
ähnliche Gestalt. Freilich, nur eine ähnliche, denn die zwischengeschalteten
elastischen Teile müssen mit Notwendigkeit die Form der Kurve verändern.
Prinzipiell gibt es drei Methoden, nach denen man es versucht hat, den
Blutdruck am Lebenden zu bestimmen:
1. die Methode des völligen Verschlusses (von Vierordt 1855),
2. die Methode der entspannten Arterienwand (Marey 1876),
3. die Methode des übertragenen Druckes (Hürthle 1896).
v. Reeklinghausen (1906) hat die Methoden zur unblutigen Blutdruckmessung
in fünf Kategorien eingeteilt. Seine erste Methode, die er als palpatorische
bezeichnet, ist die Methode des völligen Verschlusses, in der von Riva-Rocei aus-
gebildeten Form, seine letzte erubeszitorische Methode ist dieselbe Methode in der
von Gaertner angegebenen Form (s. unten), seine anderen drei Methoden beruhen
auf dem Prinzip der erschlafften Arterienwand und unterscheiden sich nur dadurch
voneinander, daß- bei der oszillatorischen Methode die Schwankungen abgelesen,
bei der Methode der Treppenkurven graphisch verzeichnet und bei der
sensatorischen Methode vom Untersuchten selbst durch das Gefühl wahr-
genommen werden. Die Einteilung ist also ohne ein einheitliches Prineipium divi-
sionis vorgenommen, erscheint daher schon rein formal verworren und kann nicht
acceptiert werden. Die von v. Recklinghausen verschieden benannten Methoden
sind also teils identisch, teils gehören sie nur dadurch zueinander, daß sie mit dem-
selben Apparat angestellt werden; sie sind daher in folgendem einzeln in den drei
Rubriken behandelt.
') Tigerstedt, Physiologie des Kreislaufs, S. 329, Leipzig 1893.
704 Methode des völligen Verschlusses (nach Traube).
8 21.
Methode des völligen Verschlusses.
Um eine blutgefüllte Arterie zusammenzudrücken, braucht man die Kraft,.
welche nötig ist, um die Arterie im leeren Zustande zusammenzudrücken
plus jener Kraft, durch welche die Arterie von innen auseinandergetrieben
wird (d. i. eben die Kraft des Blutdruckes). Man hat also nur nötig, die
Arterie mit einer jederzeit meßbaren Kraft zu komprimieren. In dem Augen-
blick, in dem das Blut gerade zu fließen aufhört, in dem also peripher von
der Druckstelle der Puls verschwindet, ist der ausgeübte Druck zu notieren.
Diese Methode ist sehr alt und wurde schon von den Ärzten im Anfang des
19. Jahrhunderts angewandt, wenn sie mit drei Fingern den Puls fühlten. Der
erste proximal gelegene Finger tastete den Puls und der mittlere Finger drückte
so lange, bis für den dritten Finger der Puls verschwand. Aus der zum Drücken
aufgewandten ‚Kraft konnte man sich eine Vorstellung über den in der Arterie
vorhandenen Druck machen. Häufig wird das „dynamische Verfahren des Puls-
fühlens“ auch in anderer Weise ausgeübt. Der peripherste Finger komprimiert die
Arterie vollständig, so daß von der Peripherie keine rückläufige Pulswelle in die
Arterie gelangen kann. Der mittlere palpiert nun, indem er bloß leise aufgesetzt
wird, während der zentralste Finger einen allmählich immer stärkeren Druck auf
die Arterie ausübt, bis der mittlere Finger die Welle nicht mehr fühlt.. Traube
hat angegeben, mit dieser Methode sehr brauchbare Resultate zu erhalten.
Aber abgesehen von der Ungenauigkeit, die dieser Methode wie jeder anderen
subjektiven Methode anhaftet, kommt hierbei ein psychologiseher Grund in Be-
tracht. Wir können zwar ziemlich fein Druck und Druckveränderungen erkennen,
haben aber nür ein sehr schlechtes absolutes Druckgedächtnis, die Druckschwan-
kungen werden also immer im Vordergrunde unserer Empfindungen stehen und
unbewußt unsere Schätzung beeinflussen. Man hat daher sowohl den drückenden
wie auch später den tastenden Finger durch Apparate ersetzt.
Die Fehlerquellen der Methode des völligen Verschlusses sind zwei-
facher Art, einmal kennen wir die Widerstände nicht, welche sich außer dem
Blutdruck der Zusammendrückung entgegenstellen, und zweitens können wir den
Moment des Pulsverschwindens nicht richtig bestimmen (vgl. hierzu auch den Ein-
wand 8.711).
Die Fehlerquellen der ersten Art hat vor allem Basch untersucht; er hat
gezeigt, daß zum Verschließen der normalen ungefüllten Arterie nur ein sehr ge-
ringer Druck (0,1cmHg) notwendig ist und selbst sklerosierte Arterien nur das
Fünffache dieses Druckes benötigen. Basch hat auch gezeigt, daß die Kompression
der in situ befindlichen Art. radialis einen um 0,6 bis 0,8em höheren Druck er-
fordert, als zur Kompression der frei liegenden Arterie nötig ist. Hiernach wäre
also der von außen zur Anwendung kommende Druck um 0,7 bis 1,3cmHg größer
als der in der Arterie herrschende Druck. Wenn wir daher jedesmal im Mittel
1cmHg abziehen würden, so machten wir höchstens den kaum in Betracht kom-
menden Fehler von 0,3 cm Hg. ;
Viel wesentlicher ist es aber, in welcher Weise wir den Druck ausüben. Es
ist klar, daß, wenn die Arterie Platz findet, auszuweichen, wir unter Umständen
sehr stark drücken können, ohne daß wir die in die Tiefe gleitende Arterie zu
komprimieren vermögen. Die hierdurch bedingten Fehler betragen nach Basch
bis zu 6cmHg. Ausweichen kann aber die Arterie, wenn der Druck, sei es durch
den Finger, sei es durch die Pelotte eines Instrumentes, einseitig von einer Stelle
ausgeübt wird. Nicht ausweichen aber kann die Arterie, wenn der Druck
von allen Seiten gleichmäßig auf das Glied ausgeübt wird. Auf diesen
Gesichtspunkt hat zuerst Marey bei der Konstruktion seines im nächsten Para-
graphen zu erwähnenden Sphygmomanometers Rücksicht genommen. Die modernen,
hierauf basierenden Methoden, bei denen ein ganzes Glied (Finger oder Arm)
Die älteren Instrumente, insonderheit das von Basch. 705
"ERREER UNO wird, sind unbedingt dem alten Verfahren vorzuziehen, bei dem eine
Pelotte auf die Arterie mit allmählich wachsender Kraft aufgedrückt wurde. Dieser
in Fig. 47 abgebildete Apparat ist eine mit Wasser gefüllte Kapsel C’. Die Flüssigkeit,
welche komprimiert werden kann, überträgt den Druck gleichmäßig auf das
ganze in die Kapsel gesteckte Glied. Im Prinzip leistet die Riva-Rocci-Binde
das gleiche.
Vierordt!) hat zuerst das Gewicht bestimmt, das gerade imstande ist,
die Pulsationen aufzuheben. Waldenburg?), Potain®) und Basch‘) nebst
vielen anderen konstruierten ähnliche Instrumente, von denen besonders
das Baschsche eine weite Verbreitung gefunden hat. Der Baschsche
Apparat ist oft verbessert und modifiziert worden, 1896 hat ihm Beer’) eine
solche Form gegeben, daß das Instrument auch zur graphischen Registrierung
benutzt werden kann. Ganz neuerdings hat Stillmark®) einen Apparat
Fig. 47.
(a a a a a a a a a a a =
Jg
=
|
Unblutige Blutdruckmessung nach Marey und Riva-Rocci.
A Apparat, der den Druck erzeugt, B Apparat, der den Druck mißt, C Apparat, der den Druck auf
die Arterie überträgt, und zwar C’ Fingerplethysmograph nach Marey, C’ Riva-Rocci-Binde (schmales
Modell für den Arm).
beschrieben, der dem alten Waldenburgschen ähnelt, aber das Prinzip der
römischen Wage verwendet.
Heute sind diese mit Pelotten arbeitenden Instrumente wohl als veraltet
zu bezeichnen. Gerade aus den eigenen mit so außerordentlich großer Sorg-
falt angestellten Untersuchungen von v. Basch geht die Überlegenheit der
neueren Instrumente deutlich hervor. Eine gute Literaturzusammenstellung
») Vierordt, Die Lehre vom Arterienpuls im gesunden’und kranken Zustande.
Braunschweig 1855. — ?) Waldenburg, Die Messung des Pulses und des Blut-
druckes, Berlin 1880; Arch. f. pathol. Anat. 90, 33, 1882. — °®) Potain, Arch. de
physiol. 89, 556, 1889; 90, 300, 681, 1889. — *) Basch, Zeitschr. f. klin. Med. 2,
79, 1880. — °) Beer, Neuer geeichter Apparat zur Messung und graphischen Regi-
strierung des Blutdruckes, Zentralbl. f. Physiol. 10, 329, 1896. — °) Stillmark,
Ein neuer Blutdruckmesser, Berl. klin. Wochenschr. 1907, Nr. 22.
Nagel, Physiologie des Menschen. I, 45
706 Die Instrumente von Riva-Rocei, Gärtner, Hallion und Comte.
über die Verwendung des Baschschen Sphygmomanometers ist in der Disser-
tation von Rosen!) zu finden.
Riva-Rocci?) hat dann den sehr glücklichen Gedanken gehabt, die
Kompression durch einen mit Luft aufzublasenden Gummischlauch vorzu-
nehmen, und dies Verfahren ist fast unverändert von allen späteren Konstruk-
teuren einfach übernommen worden. Die Fig. 47 zeigt in 0” diese Riva-
Rocci-Binde, welche statt des Mareyschen Plethysmographengefäßes an die
T-Kanüle angesetzt wird und in einem hohlen, durch einen Tuchüberzug auf
der Außenseite unausdehnbar gemachten Gummiring, der um den Oberarm
gelegt wird, besteht. Daß Riva-Rocci den Mareyschen Kompressator durch
ein Gebläse, wie es an Parfümzerstäubern üblich ist, ersetzt hat, ist eine un-
wesentliche, vielleicht nicht einmal glückliche Abänderung. Mittels dieses
Gebläses kann der hohle Gummiring ©’ aufgeblasen werden, und der in ihm
erzeugte Druck überträgt sich einmal auf ein Manometer ‘und zweitens auf
den umschlossenen Arm, der in toto zusammengepreßt wird. Sobald der Druck
so groß geworden ist, daß der Radialispuls verschwindet, ist nach dem Prinzip
des Apparates der Druck in der Art. brachialis bestimmt.
Vereinfacht ist das Instrument von Gärtner?°), der zum Kompressator
zurückkehrt und den „pneumatischen Ring“ nur um. einen Finger legt. Er
verwendet nicht den Moment, in dem der Puls verschwindet, sondern den,
in dem er wieder auftritt, als Indikator, was ja an sich dasselbe wäre. Da
man jedoch am Finger den Puls nicht fühlen kann, benutzt Gärtner die
durch das einströmende Blut hervorgerufene Farbenänderung. Zu dem Zwecke
wird der Finger zuerst mittels eines heraufgerollten soliden Gummiringes —
also nach dem Prinzip der Esmarchschen Methode — anämisch gemacht,
dann der pneumatische Ring umgelegt und so weit aufgeblasen, daß sicher
die Arterien zusammengedrückt sind. Nach Entfernung des soliden Gummi-
ringes wird der Druck im pneumatischen Ring allmählich verringert und der
Moment notiert, in dem das Blut hineinströmt und den vorher weißen Finger
plötzlich rot färbt. Der dann herrschende Druck soll dem Arteriendruck
entsprechen.
Martin‘) hat den Ring auch bei dem Gärtnerschen Apparat durch eine ver-
stellbare Manschette ersetzt, wodurch dasselbe Instrument für dicke und dünne
Finger gebraucht werden kann. v. Recklinghausen’) hat für die Methode den
Namen erubescitorisch erfunden und auf die unterschiedliche Bedeutung verschie-
dener auftretender Färbungen hingewiesen. Ein anderes Kriterium verwenden
Hallion und Comte‘°), die gleichzeitig mit dem den Vorderarm umgebenden
Druckring einen Plethysmographen anlegen; das gemessene Fingervolum nimmt
von dem Augenblick, in dem die Venen komprimiert werden und damit der Rückfluß
aufhört, bis zu dem Augenblick, in dem auch die Arterien komprimiert sind,
!) Rosen, Über die Verwendbarkeit des v. Baschschen Sphygmomanometers
zu Blutdruckmessungen an Tieren, Dorpater Dissertation 1831; vgl. auch die Lite-
ratur bei Tigerstedt, Lehrbuch, 8. 330. — ?) Riva-Rocci, Un nuovo Sphygmo-
manometro, Gazeta medie. di Torino, No. 50, referiert in Schmidts Jahrb. 1906, S. 244.
— °) Gärtner, Neuer Blutdruckmesser, Wien. med. Wochenschr. 1899, 8. 1412.
Derselbe, Münch. med. Wochenschr. 1900, 8.1195. — *) Martin, Münch. med.
Wochenschr. 1903. — °) v. Recklinghausen, Über Blutdruckmessungen beim Men-
sehen, Arch. f. experim. Pathol. 46, 78, 1901; Derselbe, Unblutige Blutdruck-
messungen; ebenda 55, 463, 1906. — °) Hallion und Comte, Procede d’&valuation
de la pression arterielle chez l’homme, Intermed. des biol. et des med. 1899, p. 302.
RR U ee VER
“
Andere Modifikationen. 707
dauernd zu. Wenn also die Vergrößerung aufhört, soll im Druckring derselbe
Druck wie in der Arterie herrschen.
Eine kaum wesentliche Abänderung an dem Riva-Roeci-Apparat ist von
v.Recklinghausen!) angegeben worden, der (auch theoretisch) nachgewiesen hat,
daß man bessere Werte erhält, wenn man die Manschette, welche bei dem Riva-
Roceisehen Originalmodell nur 6cm breit ist, möglichst breit macht; er selbst
wählte eine Breite von 13cm, die er als genügend und passend ansieht. In der
Tat erhielt denn auch Janevay°) mit einer 5em breiten Manschette einen um
6cm höheren Blutdruck, als mit einer 12cm breiten.
Beiden Ansichten gegenüber heben Fellner und Rudinger®) hervor, es sei
gleichgültig, eine wie breite Manschette man benutze, da die Werte doch nur
relative Bedeutung haben, und dies dürfte richtig sein.
Weiter hat Recklinghausen *) dann dem Apparat statt des Gummigebläses
eine Metallpumpe beigefügt, von der er angibt, sie sei praktischer. Ebenso soll die,
Güte des Manometers — das tatsächlich sehr gut zu sein scheint — den hohen
Preis des Apparates rechtfertigen.
Die Instrumente sind vielfach ausprobiert worden, doch sollen nur die neueren
Publikationen erwähnt werden. Das Riva-Roccische Sphygmomanometer’ist von
Gumprecht°) experimentell geprüft und für gut befunden, das Gärtnersche In-
strument von Gärtner selbst®) an Tieren ausprobiert, außerdem haben Schlei-
siek’) und Sasaparell°®) es in günstigstem Sinne rezensiert, jedoch. wollen wir
erwähnen, daß noch Hirsch’) dem Baschschen Instrument den Vorzug gegeben
hat. Eine sehr gute Kritik des Anwendungsbereiches der Blutdruckmesser sowie
ein experimenteller und literar-kritischer Vergleich zwischen dem Riva-Rocei-
schen und dem Gärtnerschen Instrument, findet sich in den beiden Arbeiten von
Martin!®). — Weitere Prüfungen, z. T. von klinischem Gesichtspunkt, finden sich
bei Hensen'"), Schnele'?), Masing"), Neu’), Martin®), Fellner und
Rudinger'*), Geisbock 7), Fellner?) u. a., vor allem in der ausgezeichneten
Arbeit von Müller und Blauel'?) (dort auch Kritik der Literatur).
) v. Recklinghausen, Über Blutmessungen beim Menschen, Arch. f. ex-
perim. Pathol. 46, 78, 1901; Derselbe, Unblutige Blutdruckmessungen, ebenda 55,
463, 1906.— ?) Janevay, The clinical study of blood-pressure, New York and London
1904, p.58.— *) Fellner und Rudinger, Über Blutdruckmessungen, Münch. med.
Wochenschrift 1906, Nr.30. — *) Recklinghausen, Unblutige Blutdruckmessung,
Iu.H, Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmak. 55, 375 bis 462, 1906. — °) Gumprecht
1900. — °) Gärtner, Über das Tonometer, II, Münch. med. Wochenschr. 1900, Nr. 35.
— 7) B. Schleisiek, Untersuchungen mit dem Gärtnerschen Tonometer. Dissert.
Rostock 1901.—®) L.Sasaparell, Vergleichende Schätzung der klinischen Methoden
der Blutdruckbestimmung. Petersburger Dissertation 1902. — °) L. Hirsch, Blut-
druckmessungen mit dem Sphygmomanometer von Basch und Gärtner; Deutsches
Arch. f. klin. Med. 70, 219, 1901. — !') Martin, Technisches über das Riva-
Roccische Sphygmomanometer und Gärtners Tonometer, Münch. med. Wochenschr.,
Nr. 24 u. 25, 1903; Derselbe, Über Blutdruck und Blutdruckmessung, Korresp.-
Blatt f. Schweizer Ärste 1905, Nr. 4.— '') Hensen, Beiträge zur Physiologie und
Pathologie des Blutdruckes, ebenda 67, 436 bis 530, 1900. — '?) Schnele, Über
die Blutdruckmessungen mit dem Tonometer von Gärtner, Berl. klin. Wochenschr.
1900, 8. 726. — "?) Masing, Über das Verhalten des Blutdrucks des jungen und
bejahrten Menschen bei Muskelarbeit, Deutsches Arch. f. klin. Med 74, 253, 1902;
75, 493, 1902. — '*) M.Neu, Experimentelle und klinische Bintdruckunlersnchunsen
mit Gärtners Tonometer, Heidelberger Dissertation von 1902. — "”) Martin, On
the determination of arterial blood pressure in clinical practice, Brit. med. Journ.
22. April 1905, p. 865. — '") Fellner und Rudinger, Tierexperimentelle Studien
. über Blutdruckmessungen, Zeitschr. f. klin. Med. 57, 125, 1905. — '”) F. Geisbock,
Die Bedeutung des Blutdruckes für die Praxis, Deutsches Arch. f. klin. Med. 83,
363, 1905. — '?) Fellner, Beitrag zur Funktionsprüfung des Herzens, Berl. klin.
Wochenschr. 1907, Nr. 15. — ") Müller u. Blauel, Zur Kritik des Riva-Rocecischen
und Gärtnerschen Sphygmomanometers, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 92, 517, 1907.
\ 45*
708 Die Methode der entspannten Arterienwand (nach Marey).
Ähnliche Apparate haben dann weiter noch konstruiert: L. Hill und H. Bar-
nard!). Eine sehr einfache Modifikation des Riva-Roceischen und Gärtner-
schen Blutdruckmessers hat Schenck”*?) angegeben. Brüg°®) meint, mit zwei.
Manschetter den Blutdruck besser messen zu können als mit einer.
Als Manometer kann man jedes beliebige Instrument verwenden, für physio-
logische Zwecke dürfte — wenn es sich nur um eine Bestimmung des mittleren
Druckes und nicht um die Oszillationen handelt — ein Quecksilbermanometer das
passendste sein, während für den Arzt auch dann ein Tascheninstrument (am
besten das v. Recklinghausensche) vorzuziehen ist. Eventuell kann man aller-
dings das zerlegbare Sahlische Quecksilbermanometer verwenden. Wenn man
gleichzeitig Oszillationen beobachten will, ist das v. Recklinghausensche Tono-
meter empfehlenswert; der Physiologe kann statt dessen Mareysche Kapseln, die
er selbst eicht, verwenden.
g 22.
Die Methode der entspannten Arterienwand.
Marey*) machte zuerst darauf aufmerksam, daß theoretisch die Gefäß-
wand bei jeder Pulswelle dann die größten Exkursionen ausführen müßte, wenn
sie möglichst wenig gespannt sei. Normalerweise würde die Arterie durch den
Innendruck des Blutes in Spannung gehalten ;wäre aber nun von außen ein ebenso
großer Druck ausgeübt, dann flottieren, wie Marey sich ausdrückt, die Arterien-
wände sozusagen frei zwischen dem Innendruck des Blutes und dem künstlich
erzeugten Außendruck der Gewebe. Bei der Methode der entspannten Ar-
terienwand drückt man also die Arterie zusammen und beobachtet nicht wie
bei der vorigen Methode den peripher davon fühlbaren Puls, sondern die-
jenigen Schwankungen, welche von den pulsierenden Gefäßen auf das kom-
primierende Medium direkt übertragen werden. Wenn diese Schwankungen
am größten sind, dann herrscht nach Marey auch in der Umgebung des
Gefäßes der mittlere Blutdruck, und den gilt es zu bestimmen.
Diese Betrachtung wäre für elastische Membranen einwandfrei, doch ist
die lebende Arterienwand dem normalen Druck insofern angepaßt, als ihre
Dehnbarkeit bei diesem Drucke die größtmögliche ist. Wenn nun auch diese
Tatsache den Mareyschen Schluß nicht obne weiteres umstößt, so wäre
doch im einzelnen zu prüfen, inwieweit dadurch etwa der Moment der größten
Ausschläge verschoben wird (vgl. es 712 die v. Recklinghausenschen An-
schauungen hierüber).
Das Maximum der Oszillationen auf graphischem Wege oder durch Beob-
achtung zu bestimmen, ist nicht schwer. Der erste, der dies tat, war Marey >).
Er schloß, um die Arterien unter variablem Druck pulsieren zu lassen, zuerst
den ganzen Arm und später nur einen Finger in eine Art von Pletbysmo-
graphen ein, in dessen Innerem er den Druck beliebig verändern konnte (vgl.
Fig. 47 auf 8.705). Die Größe der Pulsationen beobachtete er an einem mit
dem Plethysmographen verbundenen capillaren Hg-Manometer. Mosso®)
') L.HillandH.Barnard, A simple pocket sphygmomanometer for estimating
arterial pressure in man, (Physiol. Soc.) Journ. of Physiol. 23, 4—5, 1898. —
?) 8. Schenck, Beschreibung einiger Apparate für das physiologische Praktikum,
Pflügers Arch. 97, 421, 1903. — °) Brüg, Apparat zur Messung des Blutdrucks _
beim Menschen, Berl. klin. Wochenschr. 1907, Nr. 22. — *) Marey, Pression et
vitesse du sang, Trav. du labor. Marey 2, 307, 1876, l.c. — °) Derselbe 1876,
l.e. — °) Mosso, Sphygmomanomötre pour mesurer la pression du sang chez
l’homme, Arch. ital. de biol. 23, 177, 1895.
Die Methode des übertragenen Druckes (nach Hürthle). 709
nahm statt eines Fingers vier, um die Ausschläge zu vergrößern und ein
weiteres Manometer anwenden zu können, dessen Exkursionen er nach
Ludwigscher Methode aufschrieb.
Oliver?!) hat nach demselben Prinzip einen Pulsdruckmesser konstruiert,
bei dem ein durch eine Gummimembran abgeschlossener, mit Flüssigkeit ge-
füllter kleiner Zylinder stark auf die Radialis gedrückt wird, bis — nicht
wie bei den alten Instrumenten des vorigen Paragraphen — der Radialpuls
verschwindet, sondern bis die vom Instrument ebenfalls angezeigten Pulse
maximal werden.
Die neueren Instrumente, insonderheit die von v. Recklinghausen’) und
von Erlanger), benutzen die eventuell modifizierte Riva-Roccische Manschette;.
die in dieser Manschette auftretenden Schwankungen werden entweder beobachtet
oder graphisch registriert. Da diese Instrumente jedoch angeblich nicht nur den
mittleren Blutdruck, sondern den sogenannten systolischen und diastolischen Druck
messen sollen, werden wir dieselben erst in $ 24 besprechen.
Eine eigenartige Modifikation der Methode der entspannten Arterien-
wand liegt dem Verfahren von v. Frey) zugrunde. Wenn man die Hand
bzw. den Arm in Quecksilber taucht, so fühlt man den Puls — je nachdem
wie tief man die Hand eingetaucht hat — an einer der Phalangen bzw. am
Daumenballen oder am Handgelenk. Man fühlt ihn dort, wo gerade ein solcher
Druck herrscht, daß die erwähnten großen ÖOszillationen zustande kommen
(über die Resultate siehe S.777). Die Tiefe, bis zu der die betreffende Stelle
in das Quecksilber eintaucht, entspricht also dem an dieser Stelle herrschenden
Blutdruck. Die Methode ist dann später in Verbindung mit einer Riva-
Roccischen Manschette von Erlanger’) und v. Recklinghausen ®) weiter
ausgebildet und von letzterem sensatorische Messung benannt worden.
$ 23.
Die Methode des übertragenen Druckes.
Hürthle’) versucht möglichst in derselben Weise am unverletzten Tier
den Blutdruck zu bestimmen, wie man dies mit einer in ein Gefäß eingebun-
denen endständigen Kanüle tut. Er geht dabei von dem Gedanken aus, daß
in einem Gliede, in dem man die Zirkulation völlig unterbricht, das Blut
denselben Druck, den eine endständige Kanüle registrieren würde, auf die
ganze Wandung, die in diesem Falle von der Gesamtmasse des Gliedes ge-
bildet wird, überträgt. Diesen Druck kann man messen, indem man das ganze
Glied in eine unnachgiebige, mit inkompressibler Flüssigkeit gefüllte Kapsel
einführt, in welcher der ausgeübte Druck durch ein Federmanometer (d.h. so
gut wie isovolumetrisch) bestimmt werden kann. Diese Überlegungen sind
‘) G. Oliver, A simple pulse pressure gauge, Journ. of Physiol. 22, 51; A
-contribution to the study of the blood and blood pressure, London 1901. —
®) v. Recklinghausen, 1. c., 1906. — °) S. Erlanger, A new instrument for
determining systolic and diastolic blood-pressure in man, Amer. Journ. of Physiol. 6,
20—23, 1901. — *) M. v. Frey, Eine einfache Methode, den Blutdruck am Menschen
zu messen, Festschrift für B. Schmidt. Leipzig 1896, 8.79. — °) Erlanger, A new
instrument for determining the minimum and maximum blood pressures in man.
John Hopkins Hosp. Rep. 12, 94, 1904. — °) v. Recklinghausen, 1. c., 1906,
8. 404. — 7) Hürthle, Über eine Methode zur Registrierung des arteriellen Blut-
drucks beim Menschen, Deutsche med. Wochenschr. 1896, Heft 36. Separatabdruck.
710 Maximal- und Minimaldruck.
durchaus einwandfrei, und das Prinzip ist neuartig und keineswegs, wie
Luciani sagt, eine Weiterbildung der Mareyschen Methode. Praktisch
ergibt sich aber die große Schwierigkeit, einmal die Zirkulation in einem
Gliede wirklich aufzuheben, ohne das Glied abzubinden, und zweitens das
Glied in eine absolut starre Kapsel einzuschließen (zwei Bedingungen, die
prinzipiell identisch sind).
Hürthle verfährt folgendermaßen: Er macht den Arm mit Esmarch-
scher Binde blutleer, umschnürt den Oberarm und steckt den Unterarm dann
in einen mit Wasser gefüllten Glaszylinder, der mit einem Federmanometer
in Verbindung steht und mit einer gut sitzenden Gummimanschette wasser-
dicht den Unterarm in der Nähe des Ellbogengelenkes umschließt. Löst
man jetzt die Oberarmbinde, so strömt das Blut in den Arm, könnte aber,
falls die Kapsel wirklich starr wäre (da das Manometer als isovolumetrisch
angenommen ist), die Arterien nicht eröffnen, und daher drückt das Blut
gegen die geschlossenen Gefäße und durch deren Wand hindurch auf das
Wasser und das Manometer. Nun ist aber zum mindesten an der Gummi-
manschette die Kapsel nicht absolut starr, es kann etwas Blut in den Arm
strömen, und der Beweis ist noch nicht erbracht, daß dies Minimum von Blut
nicht doch eine Zirkulation ermöglicht. Um dies tunlichst zu verhindern,
stellt man nach Hürthles Vorschrift vor Abnahme der Oberarmbinde einen
Überdruck von etwa 5cmHg her. In gewissem Sinne eine Modifikation der
Hürthleschen Methode ist die Sphygmobolometrie von Sahli!), mit welcher
er die vom Puls geleistete Arbeit messen will.
$ 24.
Maximal- und Minimaldruck (sog. systolischer und
* diastolischer Druck).
Man versteht unter diastolischem Druck das Minimum, unter systolischem
Druck das Maximum des Arterieninnendruckes. Diese Ausdrücke sind un-
glücklich gewählt; der sogenannte „systolische Druck“ herrscht in der aus-
gedehnten (also der diastolischen) Arterie und ist ein anderer als etwa der
systolische Herzdruck, vollends steht der „diastolische Druck“ (der in der
„systolischen Arterie“ herrscht) in gar keiner Beziehung zum diastolischen
Herzdruck. Wir werden uns daher der nichts präjudizierenden Namen
Maximaldruck und Minimaldruck bedienen. Die Differenz zweier auf-
einanderfolgender Maxima und Minima bezeichnet man neuerdings als Puls-
druck. Janevay?) hat zuerst darauf hingewiesen, daß bei der Methode
des völligen Verschlusses der Verschluß nicht plötzlich auftritt, sondern daß,
wenn der Druck in der Manschette auch nur zeitweilig das Minimum des
Blutdruckes übersteigt, der Radialispuls kleiner werden müsse. Er ver-
zeichnete also den Puls an der Art. radialis graphisch und meinte den Druck
in der Manschette, bei welchem die Ausschläge kleiner wurden, als Minimal-
druck, den Druck, bei dem die Pulse verschwanden, als Maximaldruck an-
sprechen zu können.
') Sahli, Die Sphygmobolometrie, neue Untersuchungsmethode der Zirkulation,
Deutsche med. Wochenschr. Nr. 16 u. 17, 1907. — ?) Th. C. Janeway, Estimation of
Blood pressure in man. New York Univ. Bull. of Med. Se. 1, 253, 1901.
Ausbau der Methode. 7ıı
Nun kann der Puls aber unmerklich werden, wenn noch sehr viel Blut
durch die Arterie fließt. Wenn man die Arterie verengert, werden die Puls-
wellen an diesem Widerstande gebrochen und eventuell amortisiert; von da
ab strömt das Blut gleichmäßig; der palpierende Finger merkt demnach nichts
davon, für ihn ist mit dem Puls die Strömung erloschen. Katzenstein
machte mich darauf aufmerksam, wovon ich mich dann in eigenen Versuchen
überzeugt habe, daß nach Kompression eines Gefäßes der Puls in der Femo-
ralis schon bei einem Blutdruck von 5,0cm völlig verschwindet.
Also derartige Fehler begeht man möglicherweise bei dieser Methode.
Die Janevaysche Methode wurde dann von Masing!) und Sahli?)
weiter ausgebaut und von Strassburger’) dahin modifiziert, daß er ohne
Zuhilfenahme graphischer Registrierung nur durch sorgfältige Palpation des
Radialpulses Maximal- und Minimaldruck bestimmen zu können meint. Ganz
kürzlich hat Strassburger*) darauf hingewiesen, daß bei einer Kompression,
die stärker als der Minimaldruck und schwächer als der Maximaldruck ist,
in der Nähe der Druckstelle (offenbar durch die Wirbel, die bei der Eröffnung
und Verschließung des Gefäßes auftreten), ein Ton hörbar wird, durch dessen
Auskultation man daher ebenso sicher wie mit der „graphischen“ Methode
und ebenso bequem wie mit der „palpatorischen* Methode den Maximal- und
Minimaldruck bestimmen kann. Auch Fellner5) empfiehlt den schon von
Marey als bruit de souffle beschriebenen Ton zur Messung des „systolischen“
und „diastolischen“ Druckes zu benutzen. Man soll ihn genau während der
Zeit hören, in der auch die großen Oszillationen im Recklinghausenschen
Apparat auftreten.
Meist aber hat man nicht aus dem Kleinerwerden des Pulses an der
Radialis, sondern aus dem Größerwerden der Oszillationen des mit der Man-
schette verbundenen Manometers auf das Vorhandensein des Minimaldruckes,
nicht aus dem Verschwinden des Pulses, sondern aus dem Wiederkleiner-
werden der Manschetten - Oszillationen auf das Vorhandensein des Maximal-
“druckes geschlossen. |
Zuerst Rat wohl v. Recklinghausen) dies behauptet. Der Apparat
von Erlanger unterscheidet sich nicht wesentlich von dem v. Reckling-
hausenschen; daß er außer dem Tonometer gleichzeitig immer noch ein
Quecksilbermanometer zur ständigen Kontrolle verbindet, kann nur wünschens-
wert sein. Ob diese Komplikation für den praktischen Gebrauch nötig ist,
bleibe dahingestellt.
Zu bemerken ist, daß alle diese Instrumente wesentlich klinischen Be-
(dürfnissen ihre Entstehung verdanken. Ihre Brauchbarkeit für physiologische
Untersuchungen kommt erst in zweiter Reihe. Der Physiologe hat vor allem
') E.Masing, Blutdruck des jungen und bejahrten Mensehen bei Muskelarbeit,
Deutsch. Arch. f. klin. Med. 74, 253, 1902. — °) Sahli, Über das absolute Sphygmo-
gramm (nebst kritischen Bemerkungen), ebenda 81, 493, 1904. — *) Strassburger,
Verfahren zur Messung des diastolischen Blutdrucks und seine Bedeutung für die
Klinik, Zeitschr. f. klin. Med. 54, 373, 1904. — *) Derselbe, Uber Blutdruck,
Gefäßtonus und Herzarbeit usw., Deutsch. Arch. f. klin. Med. 1907, 8. 459. —
°) Fellner, Neuerung zur Messung des systolischen und diastolischen Druckes,
Verh. d. Kongr. f. innere Med. 1907, 8. 405. — °) Fellner und Rudinger, Tier-
experimentelle Studien über Blutdruckmessungen, Zeitschr. f. klin. Med. 57, 125.
712 Einwände gegen die oscillatorische Methode.
diese Instrumente daraufhin zu prüfen, ob sie wirklich das angeben, was sie
bezeichnen, den „systolischen“ und den „diastolischen“ Druck. In dieser Be-
ziehung ist allein das Tierexperiment entscheidend. Was bisher in dieser
Beziehung vorliegt [vgl. vor allem die Untersuchungen von Fellner und
Rudinger!)], ist in keiner Weise ermutigend. Man kann aber nicht, wie
v. Recklinghausen es tut, diese Untersuchungen damit abtun, daß man
sagt: „Es müssen also bei diesen Tierversuchen besonders ungünstige und
von den Verhältnissen beim Menschen wesentlich abweichende Umstände im
Spiel gewesen sein. Ich halte es nicht für zulässig, aus diesen unstimmigen
Zahlen Schlüsse für die Messung am Menschen zu ziehen.“
Mummery?) fand bei Hunden angeblich gute Übereinstimmung zwischen
den Angaben des Hg-Manometers und des Riva-Rocciapparates, Fellner
und Rudinger!) fanden wenigstens für die relativen Werte Übereinstim-
mung. i
Am entscheidendsten dürften wohl die neueren Untersuchungen von
Müller und Blauel?) sein, die bei Amputationen direkt auf blutigem Wege
den Blutdruck maßen und hiermit die Resultate der Blutdruckmessung von
Riva-Rocci (in der Recklinghausenschen Modifikation) und Gärtner
verglichen. Sie fanden, daß der systolische Druck von beiden Apparaten mit
einem Fehler von bis zu 20 Proz. angezeigt wird, wenn eine breite Binde
verwendet, während bei einer schmalen Binde der angezeigte Blutdruck um
40 Proz. zu hoch ist.
Alle die modernen Blutdruckuntersucher rechnen mit dem Größerwerden
der Oszillationen, ohne Marey zu erwähnen, der dies Größerwerden zuerst
beschrieben hat; sie brauchen zum Teil den Ausdruck „flottieren“, ohne zu
bedenken, daß dies ein Mareyscher Terminus technicus ist. Marey sagt:
die Pulse werden größer, weil die entspannte Arterienwand freier
flottiert. v. Recklinghausen) sagt, daß bei einem äußeren Druck, der
zwischen dem minimalen und maximalen liegt, die Arterie zeitweise ganz
zusammengedrückt wird, und ihr Volum also in viel höherem Maße schwankt,
als sonst, Recklinghausen unterläßt die notwendige Auseinandersetzung
mit den von ihm nicht erwähnten Anschauungen von Marey und seinen
Nachfolgern, vor allem den Italienern; und doch läßt der Umstand, daß
hier mehrere Bedingungen zusammentreffen, welche eine Vergrößerung bzw.
Verkleinerung der Oszillationen zur Folge haben können, es von vorn-
herein als zweifelhaft erscheinen, ob wirklich, wie v. Recklinghausen
will, das erste „plötzliche Größerwerden“ des Druckes genau dem Minimum, das
„plötzliche Wiederkleinerwerden“ dem Maximum des Blutdruckes entspricht.
Wie richtig die Mareyschen Ansichten sind, geht aus folgendem Ver-
such hervor: wenn man die Aorta ganz leise berührt, fühlt man kaum den
Puls, da die Aortenwand so stark gespannt ist, daß die pulsatorische Druck-
erhöhung kaum merkbar wird; erst wenn man fester zufaßt, und einen Teil
!) Fellner und Rudinger, Tierexperimentelle Studien über Blutdruck-
messungen, Zeitschr. f. klin. Med. 57, 125. — ?) Mummery, A comparison of
blood-pressure readings ete., Journ. of Phys. 32, XXIH, 1905. — °) Müller und
Blauel, Zur Kritik des Riva-Rocceischen und Gärtnerschen Sphygmomano-
meters, Deutsch. Arch. f£. klin. Med. 91, 1907. — *) v. Recklinghausen, l.c.,
1906, S. 392 ff.
Bis na
Pulsschreibung. 713
der großen Spannung paralysiert — ohne aber dabei etwa die Aorta zeit-
weilig zu verschließen — werden die Pulse deutlicher!). Auch beim Sphygmo-
graphen ist es ja bekannt, daß man durch die Federkraft einen gewissen
Druck ausüben muß, ehe man deutliche Pulse erhält.
25.
Sphygmographik (Pulsschreibung).
(Vgl. hierzu auch das Kapitel über die Pulswelle, $ 60 bis 68.)
Unter Pulsen versteht man nach der Definition von v. Frey?) solche
Bewegungen von regelmäßig wiederkehrender Art, welche mit dem Herzstoß
stets gleiche Perioden innehalten. Diese Pulse kann man am Herzen und an
den größeren Gefäßen meist sehen und fühlen. Am Herzen — und nach
Weil®) auch meist an den großen Gefäßen — kann man die pulsatorische
Bewegung außerdem noch mit dem Ohre (d. h. auskultatorisch) beobachten.
Die Palpation kann man durch registrierende Instrumente ersetzen, die
man Sphygmographen, bzw. wenn sie die Bewegung am Herzen selbst regi-
strieren, Cardiographen nennt. Auch das Ohr hat man in letzter Zeit durch
ein Mikrophon ersetzt und die Herztöne graphisch registriert.
Die Sphygmographie (im engeren Sinne).
Das Sphygmogramm kann auf verschiedene Weise geschrieben werden.
Wir unterscheiden nach dem Vorschlag von v. Kries®t) Druckpülse,
Volumpulse und Strompulse, je nachdem, ob wir den Druck oder das
Volum der Arterie oder die Geschwindigkeit des Blutstromes als abhängig
von der Zeit untersuchen. Dazu kommen als besondere Form der Druck-
pulse die sogenannten Längenpulse (Landois).
Die Volumpulse werden in dem Abschnitt über Plethysmographie (vgl.
$ 281.), die Strompulse in dem über Tachograph (vgl. $ 32f.) abgehandelt
werden. Zu den Druckpulsen gehören in erster Reihe die mit Manometern
' oder besser mit Tonometern gewonnenen Tonogramme, welche im $ 19 ab-
gehandelt sind. Hier sollen nur diejenigen Methoden geschildert werden,
welche die Pulsbewegung am unverletzten Körper zu eruieren suchen.
Zu diesem Zweck hat man auf die Arterie einen gewissen Druck aus-
geübt und dann die Bewegungen des drückenden Gegenstandes, meist war
es eine Pelotte, registriert. Am Schlusse des vorigen Paragraphen haben wir
gesehen, daß die Größe der Bewegungen der Arterienwand von dem aus-
geübten Druck abhängig ist. Der Druck ist also wesentlich und ein Sphyg-
mograph muß einen Druck auf die Arterie ausüben und gleichzeitig die Be-
wegungen der Wandung registrieren.
!) Wenn man die Arterien mit dem Finger eindrückt, empfängt der Finger
allerdings nicht nur den senkrecht zur Wand wirkenden Stoß wie bei leichter Be-
rührung, sondern auch den viel mächtigeren Stoß in der Richtung der Strömung.
— ?) M.v.Frey, Die Untersuchung des Pulses, 8.1 u.2, Berlin 1892. — °).A. Weil,
Auskultation der Arterien und Venen, Leipzig 1875. — *) v. Kries, Über ein
neues Verfahren zur Beobachtung der Wellenbewegung des Blutes, Arch. f. (Anat. u.)
Physiol. 1887, 8.255 u. 258.
714 Mareys Federsphygmograph.
Der einzige, der ohne jeden Druck gearbeitet hat, war Bernstein!), der,
nach einem auf Czermak zurückzuführenden Prinzip, einen kleinen Spiegel
über die Arterie legte und die Bewegungen eines von diesem Spiegel reflek-
tierten Lichtstrahles photographisch registrierte. Die auf diese Weise her-
gestellten Kurven unterscheiden sich also prinzipiell von den auf andere
Weise gewonnenen, weil sie ohne jeden Druck geschrieben sind. Alle übrigen
Sphygmographen aber arbeiten „mit Druck“, die älteren Apparate: Heris-
sons „Röhrensphygmometer“*, Chelius „Pulsmesser“, Alisons „Sphyg-
moskop“, Vierordts „Sphygmograph“, Naumanns „Hämodynamometer“
und andere besitzen nur noch historisches Interesse. Die heute gebräuch-
lichen Instrumente beruhen fast alle auf dem von Marey im Jahre 1863
eingeführten Prinzip, dessen
Fig.48: Schema und Theorie die bei-
en achiar Ze stehende Figur illustriert.
Die feststehende Schiene wird
il ul: auf irgend eine Weise gegen-
über dem Arm (bzw. der Arterie)
fixiert. Die Stahlfeder drückt
mit ihrer Pelotte die Arterie ein
nina zsuneinndndssandhnnddendnnn
Prinzip des Federsphygmographen mit den drei wenig zusammen und dieser
ee Teilen. 3
lo si
A ur A)
Ts Arteria
1. die Fixationsschiene, die druckausübende Feder, Druck kann bei allen neueren
3. die Schreib- und FD chemie re Instrumenten auf irgend eine Art
(in der Figur durch die Stell-
schraube) reguliert werden. Man variiert so lange, bis die Ausschläge gut er-
scheinen. Leider herrscht Uneinigkeit darüber, was unter „gut“ zu verstehen ist.
Der eine sagt: möglichst kleine, der andere: möglichst große, ein Dritter: mög-
lichst zackenreiche Kurven.
Je nach dem angewandten Druck pulsiert die Arterie mehr oder weniger
stark (vgl. $ 24) und diese mehr oder weniger verstärkte (und veränderte!)
Bewegung der Arterienwand wird auf die Pelotte und von dieser durch
einen Übertragungsmechanismus (in der Fig.48 durch das Stäbchen reprä-
sentiert) auf den Hebel übertragen.
An dem Übertragungsapparat ist nun hauptsächlich herumkorrigiert
worden. Marey hatte. ursprünglich das Zwischenstäbchen mit der Pelotte
‚und mit dem Hebel durch Gelenke verbunden; dies erwies sich in
mancher Hinsicht als unpraktisch, und B&hier?) gab eine eigenartige
lockere Verbindung an, die dann von Marey acceptiert wurde. Doch
ändert dies wenig, das Wesentlichste ist, wie Frey?) hervorhebt ‚(auch
!) Bernstein, Fortschritte d. Med. 1880, 8.130; Czermak, -Sitzungsber. d.
Wien. Akad., math.-naturw. Kl., 47 (II), 438, 1863; Herisson, vide Piorry Trait&
de diagnostic et de semiologie, Paris 1837, p. 238; Chelius, Prager Vierteljahrs-
schrift 21, 100, 1850; Vierordt, Die Lehre vom Arterienpuls in gesunden und
kranken Zuständen, Braunschweig 1855, 8.21f.; Alison, A description of a new
Sphygmoscope, Philos. magaz. and Journ. of science 12, No.80; Naumann, Bei-
träge zur Lehre vom Puls, Zeitschr. f. rationelle Med. 18 (1863); weitere Literatur
über ältere Sphygmographen siehe bei Landois, Die Lehre vom Arterienpuls,
Berlin 1872, 8. 14 bis 72. — ?) B&hier, Bull. de l’Acad. de "med. 33, 176. —
°) Frey, Untersuchung des Pulses, 1892, 8.21; Schliep, Der Dudgeonsche Sphyg-
mograph, Berl. klin. Wochenschr. 1880.
Modifikation von Dudgeon und Membransphygmograph. 715
0. Frank!) wiederholt im Grunde dasselbe], daß man mit kleinen Träg-
heitsmomenten und kleinen Winkeldrehungen arbeiten müsse. Dies ist bei
dem sehr handlichen und brauchbaren Apparat von Dudgeon zum Teil
erreicht. In höherem Maße bei dem Apparat von 0. Frank!), der den oben
schon erwähnten Bernsteinschen Versuch, Pulskurven mittels eines Spiegels
zu erhalten, in modifizierter Weise wiederholt und angibt, damit sehr gute
Resultate erhalten zu haben.
Nachdem Petter?) schon früher einen Versuch, die Entwickelung des
Sphygmographen vom Standpunkte der theoretischen Mechanik aus zu be-
leuchten, unternommen hat, konstruierte er?) mit Frank zusammen ein
neues Instrument, das im wesentlichen jedoch durchaus nach Dudgeons
Prinzipien gebaut ist. Kurven, die einen Vergleich erlaubten, sind nicht bei-
gegeben. >
Die anderen sehr zahlreichen Modifikationen können nicht alle genannt
werden.
In den Arbeiten von Philadelphian ), Bloch), Coop), Guillain ”) sind
einige der Apparate beschrieben, zum Teil findet man auch dort weitere Literatur.
Die Apparate von Marey und Dudgeon sind oft in ihren Leistungen
verglichen worden, und meist kam man dabei zu dem Resultat °), daß der
Dudgeonsche Apparat der bessere ist (vgl. z. B. 0. Frank).
Eine Superiorität des Mareyschen Apparates behauptet dagegen Weiss’).
Auch Bätke!0), derdas Dudgeonsche Übertragungsprinzip an einem Jaquet-
schen Apparat prüfte, hält die damit gewonnenen Kurven für unzuverlässig..
Eine weitere Verschiedenheit der üblichen Instrumente beruht in der
Art und Weise der Schreibung. Marey und v. Frey schreiben mit tangen-
tialen Hebeln, Dudgeon mit Stirnhebeln. Als Schreibfläche nimmt Marey
kleine berußte Glasstreifen, Dudgeon Papierstreifen, während v. Frey, um
längere Kurven zu erhalten, ein Miniaturkymographion auf den Arm mit
aufbindet. Viel resoluter löst die Frage Marey, der den Sphygmographen
gegen eine Mareysche Kapsel arbeiten läßt und nun mittels Luftübertragung
an einem beliebig aufgestellten Kymographion registrieren kann. (Dies ist
etwas anderes als der oben beschriebene gebräuchliche Mareysche Sphyg-
mograph.),
Es lag nahe, dann überhaupt den alten Federsphygmographen fortzu-
lassen und den nötigen Druck auf die Arterie direkt durch die Aufnahme-
!) 0. Frank, Die Registrierung des Pulses durch einen Spiegelsphygmo-
graphen, Münch. med. Wochenschr. 1907, Nr. 42. — ?) Petter, Kritische
Studie zur Entwickelung des Sphygmographen, Gießener Dissertation 1906. —
®) Frank u. Petter, Ein neuer Sphygmograph, Zeitschr. f. Biol. 49, 70, 1907. —
*) Philadelphian, Le sphygmomätrograph construit par Ch. Verdain, Compt.
rend. de la soc. de biol. 1896, p.199. — °) Bloch, Un perfectionnement apporte &
mon sphygmomeötre, Compt. rend. de la soc. de biol. 1896, p. 745. — *) Coop,
Nouveau polygraphe clinigque muni de mö&tronome et de petits tambours enscripteur
trös sensible, Arch. de phys. norm. et path. 1896, p. 509. — 7) G. Guillain et
N. Vaschide, Du choix d’un sphygmomi£tre, des causes d’erreur dans la mesure de
la pression sanguine, Compt. rend. de la soc. de biol. 1900, p.71. — °®) L. Urban,
Analyse des sphygmogrammes, Journ. de physiol. et de pathol. 8, 398, 1906. —
°) Weiss, Sur la comparaison des traces obtenus & l’aide d’appareils enregistreurs
differents, Compt. rend. de la soc. de biol. 1897, p. 359. — '") J. Bätke, Experimentelle
Prüfung des Jaquetschen Sphygmochronographen, Rostocker Dissertation 1901.
716 Onychographen und Längenpulse.
kapsel auszuüben. Zwei Modelle sind in dieser Richtung ausgebildet; bei
dem einen, von Marey angegebenen, wird der Druck durch eine im Innern
der Kapsel angespannte Metallfeder ausgeübt, bei dem anderen Modell, das,
A Fig. 49.
Prinzip der Membransphygmographen. — A nach Marey, B nach Kagenaer.
soviel ich weiß, zuerst von Kagenaer angefertigt ist, ist die Membran
doppelwandig, und kann durch Dazwischenblasen von Luft beliebig gespannt
werden. Diese Instrumente sind besonders für die Registrierung an anderen
Arterien als an der Radiasis geeignet.
$ 26.
Onychographen, Längenpulsschreibung und Cardiographie.
a) Onychographen.
Die Pulswelle wird jetzt manchmal mit sogenannten Onychographen registriert;
es sind das Instrumente, welche halb Sphygmometer, halb Plethysmographen sind,
und welche dazu dienen, entweder die Volumschwankungen des ganzen Fingers
oder die Volumschwankungen des Nägels, speziell den sogenannten Nagelpuls zu
registrieren. Solche Apparate, die mehr Plethysmographen sind, haben angegeben
Laulani&'!) und Postma°). Eigentliche Onychographen, d.h. Apparate, die
mittels einer Klemmvorrichtung oder auf ähnliche Weise auf den Fingernagel
gepreßt werden und dessen Bewegungen in sehr vergrößertem Maßstabe registrieren,
sind angegeben worden von Herz°®) und Kreidl*), Bloch’) und anderen.
b) Längenpulse.
Im allgemeinen mißt man die Verdickung, welche die Arterie infolge des
erhöhten Blutdruckes erleidet; man kann jedoch die gleichzeitig eintretende pulsa-
torische Verlängerung mittels eines die isolierte Arterie emporziehenden Häkchens,
das an einen Hebel greift, messen. Landois‘) hat gezeigt, daß die so gewonnenen
Kurven den Dickenkurven analog sind; eine ähnliche Methode hat dann im folgen-
!) Laulanie, Sur un sphygmographe digital. Compt. rend. de la soc. de
biol. 1898, p. 961—962. — ?) H. Postma, Neue Methode zur Registrierung der
Pulswelle, Zentralbl. f. Physiol. 18, 495—498, 1904. — °) M. Herz, Ein Onycho-
graph, ebenda 10, 143—144, 1896; Derselbe, Der Puls der kleinsten Gefäße;
Onychographische Untersuchungen. — *) A. Kreidl, Ein neuer Apparat zur Auf-
nahme von Nagelpulsen, Zentralbl. f. Physiol. 16, 257—261, 1902. — ®) A.M.Bloch,
Production et mesure du pouls sous-ungu6al. Sphygmometre ungu6al, Compt.
rend. de la soc. de biol. 2, 30—32, 1904. Un nouveau mode&le de mon sphygmo-
metre, p. 32—33. — °) Landois, Beiträge zur Pulslehre, Pflügers Arch. 91,
509, 1902.
Cardiographie. 717
den Jahre Ducceschi') angegeben. Ein Hinweis, in welcher Beziehung diese
neue Methode der alten überlegen sein soll, findet sich bei keinem der Autoren.
c) Cardiographie.
(Vgl. $ 88.) ;
Ähnliche Instrumente, besonders solche nach dem Prinzip der Membran-
sphygmographen, hat man nun auch zur Registrierung des Spitzenstoßes angebracht,
der meist nur dann gut registrierbar ist, wenn der Mensch liegt; es kommt im
wesentlichen darauf an, den Apparat so zu befestigen, daß er sich bei den Atem-
bewegungen nicht gegen das Herz verschiebt.
Die Herzstoßkurve erlaubt jedoch kaum etwas anderes zu erkennen, als die
Tatsache, daß das Herz sich überhaupt bewegt hat. Dies merkt man aber auch
bei der schlechtesten Methode, und so ist es daher völlig gleichgültig, in welcher
Weise der Apparat konstruiert ist. Wir übergehen daher die vielfachen in dieser
Beziehung konstruierten Apparate und verweisen auf die Arbeiten von Clarke’),
Cowl?), Damsch‘*), Jaquet°), Jarotzki°), Martius’), Pachon®) und vieler
anderer; besonders interessant sind darunter diejenigen Untersuchungen, die an
Mißgeburten oder nach Verletzungen an dem mehr oder weniger frei liegenden
Herzen aufgenommen sind.
Von Wert kann die Registrierung des Spitzenstoßes nur sein, wenn Herz-
kontraktionen stattfinden, die keinen Puls in den Körperarterien zur Folge haben.
Dies findet unter pathologischen Umständen bei den Extrasystolen statt. Zum
Studium dieser Erscheinungen kann der Cardiograph in Verbindung mit einem
Sphygmographen verwendet werden; in allen anderen Fällen ist die Pulsregistrierung
der Herzstoßregistrierung vorzuziehen.
Neuerdings hat Minkowski (1906°) die Registrierung der Her2bewegungen, ins-
besondere des linken Vorhofes, yon der Speiseröhre aus, als ösophageales Cardio-
gramm beschrieben, ähnlich auch Rautenberg'°). (Vgl. hierüber auch $ 96.)
$ 27.
Die Registrierung der Herztöne.
(Vgl. $ 93.)
* Mit Recht sagen Einthoven und Geluk!!): „Wenn wir erwägen, daß
unser Gehörorgan ein außerordentlich empfindliches Sinneswerkzeug ist, mit
welchem wir tatsächlich das Gras wachsen hören könnten — wenn nur seine
chemische Energie als Schall aufträte — und daß wir ungeachtet dieser
!) V.Ducceschi, Un nuovo metodo di sfigmografia (Phys. Inst. Rom.), Arch. di
fisiol. 1, 79—91, 1903. — ?) A. V.Clarke and J. 8. C. Douglas, Some cardiographis
tracings from the base of the human heart, Journ. of Anat. and Physiol. 37, 41—45;
(von einem Kinde mit Bifurcatio sterni). — °) W. Cowl, Über Cardiögraphie,
Physiol. Gesellsch. Berlin, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1895, 8.197. — *) O.Damsch,
Über die Bewegungsvorgänge am menschlichen Herzen, 8, 69, Leipzig u. Wien 1897,
Deutike. — °) A. Jaquet u. R. Metzner, Cardiographische Untersuchungen an
einem Falle von Fissura sterni, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 70, 57 bis 80. —
°) A. Jarotzky, Ein unmittelbar vom Herzen aufgenommenes Cardiogramm,
Zeitschr. f. klin. Med. 35, 301 bis 314. — 7) F. Martius, Der Herzstoß des ge-
sunden und kranken Menschen, (Sammlung klin. Vorträge), 8, 113, Leipzig 1895,
Breitkopf u. Härtel. — °) V. Pachon, De l’exploration cardiographique chez
l’homme pratiquee systömatiquement dans le decubitus lateral ganche, Arch. des
seiences biol. de St. Petersbourg, 11.Suppl., (Festschr. f. Pawlow), p. 211—221. —
®) Minkowski, Die Registrierung der Herzbewegungen am linken Vorhof, Deutsche
med. Wochenschr. 1906, Nr.31; derselbe, Zur Deutung von Herzarrhythmien
mittels des ösophagealen Cardiogramms, Zeitschr. f. klin. Med. 62, 371, 1907. —
1%) Rautenberg, Die Registrierung der Vorhofpulsation von der Speiseröhre aus,
Deutsch. Arch. f. klin Med. 91 (3/4), 1907. — "') W.Einthoven u. M.A. J. Geluk,
Die Registrierung der Herztöne, Pflügers Arch. 57, 617.
718 Die Registrierung der Herztöne.
großen Empfindlichkeit die Herztöne in der Regel nur dann hören können,
wenn wir entweder das Ohr unmittelbar gegen den Thorax halten oder
spezielle Werkzeuge wie das Stethoskop anwenden, so wird es uns klar sein,
wie große praktische Schwierigkeiten mit der direkten Registrierung AnIne:
schwachen Schälle verbunden sein werden.“
Die Versuche datieren denn auch alle erst aus jüngster Zeit: Als erste
Notiz über einen Versuch, die Herztöne graphisch zu registrieren, erscheint
eine beiläufige Bemerkung von L. Fredericq (1892), doch hat Hürthle
(18932) als erster die Resultate seiner Untersuchungen publiziert. Er hat
die Ströme einer kleinen Batterie durch ein Mikrophon gehen lassen, das er
auf die Brustwand aufsetzte. Diese Ströme wurden in einen Induktions-
apparat transformiert, und diese Induktionsströme einem empfindlichen Nerv-
muskelapparat zugeleitet, der jedesmal, wenn das Mikrophon ansprach, zuckte.
Einthoven und Geluk?) haben dann das Froschpräparat durch ein Capillar-
elektrometer ersetzt, was in technischer Beziehung zweifellos ein Vorzug ist,
da der Muskel ja doch bestenfalls den Moment des Tonbeginns anzeigen kann,
während das Elektrometer auch den Verlauf, eventuell die Tonhöhe usw. be-
zeichnet. In neuester Zeit hat Einthoven*) das Capillarelektrometer durch
das von ihm konstruierte Saitengalvanometer ersetzt. In ähnlicher Weise,
wie auch dies, unabhängig von ihm, Edelmann’) getan hat.
Holowinski®) hatte schon früher die Registrierung dadurch vor-
genommen, daß er den Mikrophonstrom durch ein sogenanntes optisches
Telephon hindurchschickte, bei dem er die Verschiebung Newtonscher Ringe
photographisch registrierte. O0. Frank’) hat die Herztöne, ohne sie in elek-
trische Energie umzuformen, direkt zu registrieren versucht, indem er sie auf
eine sehr leichte, mit einem Spiegel armierte Membran wirken ließ, deren
Bewegungen er in üblicher Weise registrierte. Auch Hürthle®) hat einen .
auf ähnlichem Prinzip beruhenden Apparat konstruiert, wobei er eine mög-
lichst weitgehende Analogie mit dem Gehörorgan anstrebt. Kurven gibt er
ebensowenig wie Frank.
!) L. Frederieq, Über die Zeit der Öffnung und Schließung der Semilunar-
klappen, Zentralbl. f. Physiol. 6, 260, 1892. — °) Hürthle, Über die Erklärung
des Cardiogramms mit Hilfe der Herztonmarkierung und über eine Methode zur
mechanischen Registrierung der Töne, Deutsche med. Wochenschr. 1893, Nr. 4;
Über die Verbesserungen der Methode zur mechanischen Registrierung der Herz-
töne und ihre Ergebnisse, Jahresber. d. schles. ‘Ges. f. vaterländ. Kultur 1895. —
®) Einthoven u. Geluk, l.c. u. Het registreeren der hartstonen, Onderz. Physiol.
Labor. Leyden (2) 2, 1—29, 1896. — *) Einthoven, Die Registrierung der
‚menschlichen Herztöne mittels des Saitengalvanometers, Pflügers Arch. 117, 461,
1907. — °) Edelmann beschreibt den Apparat in den Mitteil. 4. Phys. mechan.
Inst. Edelmann, 8.37, vgl. auch Selling, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 90. —
‘) A. Holowinski, Sur la photographie des bruits du coeur, Compt. rend. de
l’academie des sciences 123, 162—165, 1896; ibid., Arch. d. phys. norm. et pathol.
1896, p. 893—897; Über die Photographie der zwei Herztöne, gleichzeitig mit an-
deren physiologischen Wellen, Zeitschr. f. klin. Med. 31, 201 bis 211, Taf.2, vgl.
Ber. 1892, S.52 u. 1896, 8.48; Mikrophonische Untersuchung der Puls- und Herz-
wellen, Zeitschr. f. klin. Med. 42, 199, 1901. — 7) O. Frank, Die unmittelbare
BE der Herztöne, Pflügers Arch. 57, 617, 1894; Münch. med. Wochenschr.
1904, Nr. — °) Hürthle, Zur unmittelbaren Registrierung der Herztöne,
Zentralbl. a Physiol. 18, 617, 1904.
in an
Plethysmographie. 719
Eine andere direkte Registrierungsmethode hat Marbe!) angegeben, der
ebenfalls eine Membran zur Registrierung verwendet, deren Bewegungen er
mit Hilfe sehr empfindlicher Königscher Flammen registriert 2).
Die mit diesen verschiedenen Methoden gewonnenen Resultate stimmen
im wesentlichen untereinander überein. Nur in bezug auf den ersten Ton
differieren die Ansichten von Hürthle, Einthoven und Geluk [vgl. hier-
über die Angaben von Hürthle®) auf S. 288]. Einthoven geht in seiner
späteren Publikation (l. c.) auf diese Frage nicht ein; die niederländische *)
Arbeit von Einthoven konnte ich nicht vergleichen.
Neuerdings geben Einthoven, Wieringa und Snyders?’) an, einen
dritten normalen Herzton aus seinen Kurven herauslesen zu können, der
kurz vor dem zweiten Herzton auftritt, wo ihn Gibson bereits früher aus-
kultatorisch gehört haben will.
Trotz der größten Vorsicht ist es bei all diesen Methoden äußerst
schwierig, eventuelle Schwingungen der Apparatur, die ihrerseits durch gröbere
mechanische Erschütterungen der Thoraxwand ausgelöst sind, mit Sicherheit
zu vermeiden. Wenn man absolut einwandfreie Vorsichtsmaßregeln da-
gegen ergreift, gelingt auch die Registrierung der Herztöne nicht.
Die Plethysmographie,
$ 28.
- Allgemeine Methodik.
Die Plethysmographie oder Volumschreibung (von zAr®vg — Menge) um-
faßt die Methoden, welche dazu dienen, die Volumschwankungen eines Organs
zu messen und womöglich graphisch zu registrieren. Da im tierischen Körper
Volumschwankungen praktisch nur durch Flüssigkeitsströmungen zustande
kommen, so werden die gemessenen Volumänderungen der Ausdruck von
Flüssigkeitsströmungen sein.
Das zu untersuchende Organ, bzw. die Extremität, wird in eine allseitig
starre Kapsel eingeschlossen, die man, wenn es sich um ein einzelnes Organ
handelt, häufig auch als Onkometer bezeichnet. Die Kapsel ist mit einem
eventuell registrierenden Manometer verbunden und hat außerdem nur jene
große Öffnung, durch welche das Organ hineingesteckt werden kann; an dieser
Stelle muß die Kapsel gedichtet werden; bei Verwendung mittelweicher
Vaseline kann man eine völlige Dichtung fast ohne jeden Druck erreichen.
[In Fig. 50 (rechte) ist ein derartiger Plethysmograph nach Mosso ge-
zeichnet.]
‘) Marbe, Registrierung der Herztöne mittels rußender Flammen, Pflügers
Arch. 120, 205, 1907. — ?) Während der Drucklegung des Buches ist eine Arbeit
von Gerhartz erschienen (Die Aufzeichnung von Schallerscheinungen, insbesondere
die des Herzschalles, Zeitschr. f. exper. Pathol. 5 [1908]), der- angibt, ein sehr
brauchbares Instrument konstruiert zu haben. — ®) Hürthle, Beiträge zur Hämo-
dynamik 10; Über die mechanische Registrierung der Herztöne, Pflügers Arch. 60,
288, 1904. — *) Einthoven, Het registreeren von menschelijke hartstonen met
den snaargalvanometer, Nederlandsch Tijdschrift voor Geneeskunde 2, No. 12, 1906.
— °) Einthoven, Wieringa und Snyders, Über einen dritten Herzton, Ned,
Tijdschr. voor Geneesk. 2, 470, 1907.
720 Plethysmographen nach Mosso, Hallion und Comte.
2
Eine Abweichung von diesem, vor allem von Mosso und Frangois-
Franck ausgebildeten Verfahren weist eigentlich nur der Apparat von Hallion
und Comte!) auf. Sie führen das Glied nicht in die Flüssigkeit direkt ein,
sondern in einen weichen Gummisack, der in die Flüssigkeit hineingestülpt
ist. Dies Verfahren hat den großen Vorteil, daß es nicht nötig ist, die Stelle,
Fig. 50.
Gasschlauch
Plethysmograph nach Mosso.
Registrierung, entweder mit der Mareyschen Kapsel (rechts) oder mit dem v. Kriesschen Tacho-
graphen (links).
wo das Organ in die Flüssigkeit taucht, abzudichten, da die Flüssigkeit so
wie so ganz abgeschlossen ist. Die Fig.51 zeigt das sehr praktische Prinzip,
das mit gewissen Modifikationen für alle Organe anwendbar ist.
Als Manometer verwendete man zuerst eine Steigröhre, in der Flüssigkeit
stieg, jetzt benutzt man wohl meist eine Mareysche Kapsel. Da Mareysche
Kapseln aber niemals ganz dicht sind und da das Gummi zudem leicht schlecht
wird, verwendete man auf Anregung
von Roy?) sogenannte Piston-recorder,
d.h. aus Metall oder Glas gearbeitete
Röhren, in denen sich ein eingeschliffener
Stempel leicht bewegte. Diese In-
Zmufühı strumente sind im Gegensatz zu den
Mareyschen Kapseln, welche
Druckschreiber sind, mehr oder
weniger echte Volumschreiber. Die
URSE : Apparate waren anfangs mit Flüssigkeit
a Bene ehren wowedier ba Ellis?) hat aan ersten Piston:
recorder mit Luftübertragung an-
gegeben. Abänderungen gaben an Johansson und Tigerstedt®), sowie
Hürthle5); eine sehr brauchbare Form haben Lombard und Pillsbury®)
angegeben. Ist die Kapsel mit Wasser gefüllt, so ist die Volumkurve gemäß
der Inkompressibilität- des Wassers die direkte Volumkurve des Organs. Ist
zur Füllung Luft verwendet, was die Empfindlichkeit erhöht, so sind ent-
sprechende Korrektionen anzuwenden.
!) Hallion et Ch. Comte, Recherches sur la eirculation capillaire chez
’homme ä l’aide d’un nouvel appareille plethysmographique, Arch. de phys. norm.
et pathol. 1894, p.381. — .?) Roy, Journ. of Physiol. 3, 206, 1880. — °) Ellis,
ebenda 7, 309, 1886. — *) Johansson u. Tigerstedt, 'Skand. Arch. f. Physiol. 1,
345, 1889. — °) Hürthle, Pflügers Arch. 53, 301, 1893. — °) Lombard u. Pills-
bury, A new form of piston-recorder, Amer. Journ. of Physiol. 3, 186, 1899.
. Volumschreiber. 721
Der praktischste Recorder, den man sich leicht selbst anfertigen kann,
dürfte wohl der von Brodie!) angegebene Bellows-recorder (— Blasebalg-
schreiber) sein; es ist ein kleiner, leichter Blasebalg, bei dem die sonst aus
Leder bestehenden Teile durch dünnsten Condomgummi ersetzt sind, welcher
mit Firnis an die beiden Platten angeklebt ist, von denen die eine mit einer
Öffnung zum Eintritt der Luft, die andere mit einem leichten Hebel versehen
ist. Der Vorteil dieses Apparates ist, daß er absolut dicht herzustellen ist.
Etwaige Fehler entdeckt man sehr leicht, wenn man den Recorder mit mäßi-
gem Druck unter Wasser aufbläst. Weiter ist er, da in ihm fast gar keine
verzögernden Kräfte zur Wirkung kommen (Reibung, Vergrößerung der
Spannüng usw.), ein echter Volumschreiber, von den bekannten Instru-
menten hierfür wohl das beste.
Einen sehr einfachen Recorder aus Froschdarm gibt Dixon?) an.
Ein in gewissem Sinne idealer Recorder ist die Gartensche 3) Seifen-
blase; sie ist naturgemäß nur verschwindend dick und folgt daher — fast
masselos — jedem Bewegungsantrieb so gut wie momentan.
Einen sehr einfachen Registrierapparat gibt 0. Müller) an, der den
Plethysmographen auf ein mit Petroleum gefülltes Reagenzglas wirken läßt,
in welchem ein Schwimmer mittels zweier Hartgummiringe leicht hin und
her gleitet.
Die Plethysmographie wird zu verschiedenen Zwecken PESRIRERN, Ent-
weder will man damit die Blutmenge eruieren, welche unter bestimmten
Umständen einem Organe mehr oder weniger zufließt als normalerweise; man
nimmt an, daß das Organ sein Volumen wesentlich dadurch dauernd ver-
größert, daß die Gefäße sich erweitern, und studiert auf diese Weise den
Einfluß der Gefäßnerven und Ähnliches. Die Methode ist von Frangois-
Franck und seiner Schule sowie von Brodie und seinen Schülern für alle
einzelnen Organe speziell ausgebildet worden. Brodie hebt wohl nicht mit
Unrecht hervor, daß alle Franckschen Resultate darum schwieriger deutbar
sind, weil sie mit Mareyschen Kapseln und nicht mit echten Volumschreibern
gewonnen sind.
Mit den genannten Methoden hat man dann weiter die Blutversorgung
einzelner Organe und Glieder unter dem Einfluß der Arbeit (vgl. z.B. Atha-
nasiu5) oder mannigfacher anderer Einflüsse studiert (vgl. z.B. die Arbeiten
von Hallion und Comte®). -
Weiter hat die Volumschreibung eine sehr mannigfache Anwendung in
den Händen der Psychologen gefunden, die darin ein gutes Mittel erblickten,
um den Ausdruck von Gemütsbewegungen zu erkennen.
!) Brodie, A new form of volume-recorder, ibid. 27, 473, 1902. —
2) Dixon, A delicate form of volume-recorder, ibid. 35, No. 3, 1907. —
») 8. Garten, Über ein neues Verfahren zur Verzeichnung von Bewegungsvorgängen
und seine Anwendung auf den Volumenpuls, Pflügers Arch. 104, 351, 1904. —
*) O0. Müller, Über eine neue Methode zur Aufzeichnung der Volumschwankungen
bei plethysmographischen Untersuchungen am Menschen, Arch. f. (Anat. u.) Physiol.
1904, Suppl., 8. 2038.— °)I. Athanasiu et J. Carvallo, Des modifications eirculatoires
qui se produisent dans les membres en activite 6tudiees & l’aide du plöthysmographe,
Compt. rend. de la soc. de biol. 1898, 8. 268—270. — °)L. Hallion et Ch. Comte, Sur
la forme du pouls total fournie par notre plöthysmographie, Arch. de phys. norm.
et pathol. 1897, p. 96—111 (hier auch die ältere Literatur).
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 46
722 Herzplethysmographie.
Im folgenden soll nur kurz die Literatur über die Herzplethysmographie
zusammengestellt werden, weil diese für das Studium des Herzens wichtig ist.
Die Methodik der Fingerplethysmographie, die im wesentlichen zur Puls-
registrierung bzw. Druckmessung benutzt wird, ist in $ 22 auf 8.708 erwähnt.
$ 29.
Herzplethysmographie und plethysmographische Geschwindigkeitsmessung.
Herzplethysmographie.
Luciani!) hat den Herzbeutel mit Milch angefüllt und so den Herz-
beutel selbst, den er mit einer Mareyschen Kapsel verband, als Onkometer
benutzt; ebenso Frangois-Franck?) und Stefani?), die die Milch durch
Luft ersetzten. Fehler: Mangel einer wirklich festen und starren Kapsel.
Roy und Adamy#) suchten dem abzuhelfen, indem sie eine starre:
Kapsel (Onkograph) herstellten, an die das Pericard angebunden wurde. In
dieselbe Zeit fallen die mehrfachen gründlichen Arbeiten von Johansson
und Tigerstedt?).
‘Dieselbe Methode beschreibt Blank®) in seiner unter Verworn aus-
geführten Dissertation. Vgl. auch die Arbeit von Carter”) über Herz-
plethysmographie, ausführlichere Literaturangaben bei Rothberger‘).
Knoll?) hat eine speziell konstruierte konische Kanüle in das Mediasti-
num des sonst unverletzten Tieres eingeführt; eine damit verbundene
Mareysche Kapsel verzeichnete die respiratorischen, aber auch die cardialen
Volumschwankungen. Eine derartige — im Dunkeln arbeitende — Methode
läßt sich immer schwer übersehen.
Man hat versucht, aus dem Herzplethysmogramm Rückschlüsse auf die Blut-
bewegung im Herzen zu ziehen. Da jedoch das Herzplethysmogramm als Resultate
dreier an sich unbekannter Strömungen (der venöse Zufluß, der arterielle Abfluß
und der wechselnde Blutgehalt in den Herzgefäßen) aufzufassen ist, sind diese
Versuche wertlos. Des Genaueren wird sich dies aus der Lektüre der folgenden i
Paragraphen ergeben. Nur wenn man, wie dies Rothberger. getan hat, den
Ventrikel allein in den Plethysmographen einschließt, kann man daraus die vom
Herzen ausgeworfene Blutmenge berechnen.
Plethysmographische Geschwindigkeitsmessung.
Bei gleichmäßigen Strömen durch ein Röhrensystem findet keine Volum-
änderung statt, weil immer gleich viel abfließt, wie zufließt. Eine Volum-
änderung kann also nur dadurch zustande kommen, daß Veränderungen in
\) Lueiani, Dell’ attivita della diastole, Rivista clinica Bologna 1871. —
2) Frangois-Franck, Sur les changements de volume du coeur, Compt. rend. 84
(1877). — °?) Stefani, Cardiovolume, pressione pericardiaea e attivitä della diastole,
Accad. di Ferrara 1877 (Ref. im Arch. ital. de biol. 1882). — *) Roy u. Adamy,
Contributions to the physiology and pathology of the mammalian heart, Philoso-
phical transactions 1892. — °) Johansson u. Tigerstedt, Skand. Arch. 1, 331,
1889; 2, 422, 1891. — °) Blank, Über Volumetrie des Herzens, Göttinger Dissert.
1905. — 7) Carter, Über Herzplethysmographie, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1898,
8.530. — ®) Rothberger, Über eine Methode zur direkten Bestimmung der Herz-
arbeit im Tierexperiment, Pflügers Arch. 118, 353, 190”. — °) Knoll, Ver-
zeichnung der Volumschwankungen des Herzens, Siteungehak d. Wiener Akad.,
math.-naturw. Kl., 1880.
2 Se nn m
Das Plethysmogramm als Geschwindigkeitskurve. 723
der Strömung auftreten. Wenn für eine Weile mehr zuströmt als abfließt,
wird das Volum größer; wenn mehr abströmt, wird es kleiner. Diesen Unter-
schied zwischen Zustrom und Abstrom mißt man, doch gibt uns die so er-
haltene Volumkurve an sich gar keinen Aufschluß darüber, ob etwa eine
Volumvermehrung auf erhöhtem Zufluß oder auf erschwertem Abfluß beruht.
Brodie und Russel!) klemmen, um dieser Schwierigkeit zu begegnen, durch
eine besondere Vorrichtung die Vene innerhalb des Plethysmographen ab.
Nun fließt nichts mehr ab und Volumvermehrung ist direkt der Ausdruck
der Strömungsgeschwindigkeit. Der Versuch muß natürlich so schnell ge-
macht werden, daß noch keine Stauung in den Capillaren auftritt.
Meist aber bestimmt man nur die Geschwindigkeitsänderungen des Blut-
stromes während eines Pulses. Hierfür gibt es zwei durchaus verschiedene
Anwendungsarten der Plethysmographie, die wir im einzelnen gesondert
besprechen wollen.
$ 30.
Das Plethysmogramm als Geschwindigkeitskurve.
Bei den ersten Versuchen dieser Art wurde nur ein einzelnes Gefäß in
den Apparat gebracht. Spallanzani?) bog einen kupfernen Ring um die
Aorta zusammen und beobachtete, wie derselbe abwechselnd der Aorta fest
aufsaß und dann wieder auf der dünner werdenden Aorta frei pendelte.
Poiseuille®) hatte einen kleinen, auf zwei gegenüberliegenden Seiten mit
einem runden Looch versehenen Kasten, der an der oberen Fläche ein Steig-
rohr besaß. Durch die Löcher wurde
die Arterie wasserdicht hindurchgeführt,
und bei jedem Herzschlag beobachtete
man ein Steigen des Wassers im Rohr.
Bei diesen Apparaten ist kein
Capillarsystem in die Kapsel ein-
geschlossen. Es handelt sich dabei
entweder nur um Arterien oder nur
um Venen. Gemessen wird dabei der
Volumzuwachs, welchen die Arterie da-
durch erfährt, daß mehr Blut in die-
selbe hineindrängt, als momentan dar-
aus abströmen kann. Hier ist also so-
wohl das Einströmen wie das Abströmen ungleichförmig, und zwar
ändert sich die Einströmungs- und die Abströmungsgeschwindigkeit durchaus
gleichmäßig, nur daß die erstere alle Phasen etwas früher zeigt als die zweite.
Die beiden Geschwindigkeitskurven sind also kongruent, nur gegeneinander
verschoben. Sei z.B. in Fig.52 EE,E, die Kurve der Einströmungs-
geschwindigkeit, A A, A, die der Ausströmungsgeschwindigkeit, so wird in
dem Zeitmoment x eine Flüssigkeitsmenge einströmen, die proportional xe
Fig. 52.
E, A,
E A x x) E:;
!) Brodie and Russel, On the determination of the rate of bloodflow
through an organ, Journ. of Physiol. 32, XLVII, 1905. — ?) Spallanzani, Exp£eriences
sur la circulation, observee dans l’universalite du syst&me vasculaire, Ouvrage,
traduit de l’Italien avec des notes par Tourdes, Paris, an VII. — °) Poiseuille,
Recherches sur la force du coeur aortique, Thöse 1828.
46 *
724 Das Plethysmogramm als Integralkurve der Geschwindigkeit.
ist, ausströmen wird aber nur eine Flüssigkeitsmenge, die za proportional
ist; ae ist also die Menge, welche mehr einströmt, als ausströmt. Wie ein
Vergleich mit den analogen Verhältnissen bei x, zeigt, ist diese über-
schüssige Menge proportional der Steilheit der Geschwindig-
keitskurve. Da nämlich gemäß der Kongruenz der beiden Kurven ihr
Abstand untereinander immer gleich bleibt und insonderheit ab gleich a, b,
ist, so ist die Länge ae bzw. a,e, unter allen Umständen proportional der
trigonometrischen Tangente des Winkels, welche die Geschwindigkeitskurve
mit der Horizontalen bildet. Eine Kurve dieser überschüssigen Mengen
würde also den ersten Differentialquotienten der Geschwindigkeit nach
der Zeit, d.i. die Beschleunigung zum Ausdruck bringen. Die plethys-
mographische Kurve, welche wir im Experiment erhalten, repräsentiert jedoch
die Summe aller dieser überschüssigen Mengen, d. h. die Integralkurve der
Beschleunigungen, und wir erhalten somit in diesem Falle die Kurve der
Geschwindigkeit selbst.
$ 31.
Das Plethysmogramm als Integralkurve der Geschwindigkeit.
Meist aber wird ein ganzes Organ in die plethysmographische Kapsel
gesteckt. Hier strömt das Blut in den Arterien in die Kapsel hinein und in
den Venen wieder heraus, und von den oben gedachten Beziehungen ist keine
Rede mehr. Wenn man mit der Vorrichtung langdauernde Schwankungen
registriert, dann kann eine Vergrößerung des Volums ebensowohl auf einer
Beschleunigung des Zustroms (z.B. nach Durchschneidung des Rückenmarks),
als auf einer Verlangsamung des Abstroms (z. B. nach Unterbindung der
Venen) beruhen.
Die ältesten Versuche dieser Art wurden von Piegu!) und Chelius?)
angestellt, welche damit die cardialen und respiratorischen Volumschwan-
kungen des Armes beobachteten. Graphisch registriert haben diese Schwan-
kungen zuerst Buisson?), später sehr vorzüglich Fick), Mosso°), Fran-
cois-Franck®).
Nur unter der Voraussetzung, daß während eines bestimmten Zeit-
intervalls der Zu- oder Abstrom, je für sich betrachtet, gleich bleibt, er-
laubt diese Methode präzise Aufschlüsse auf die Geschwindigkeit des anderen
Faktors. Wir setzen nun voraus, daß der venöse Abfluß während einer Puls-
periode gleichförmig bleibt, dann wird das Volum nur dadurch geändert, daß
verschieden viel Blut in den verschiedenen Momenten in die Arterien hinein-
!) Piegu, Note sur les doubles mouvements observes aux membres et compar6s
aux doubles mouvements, observes sur le cerveau, Compt. rend. de l’acad. des
sciences 22, 682, 1846. — ?°) Chelius, Vierteljahrsschr. f. prakt. Heilkde. 21, 101,
1850. — ?) Buisson, Quelques recherches sur la circulation, Gazette med. de Paris
1861, p.311—320. — *) Fick, Ein neuer Blutwellenzeichner, Arch. f. (Anat. u.)
Physiol. usw. 1864, 8.583 bis 589; Untersuchungen aus dem physiologischen
Laboratorium der Züricher Hochschule, I. Wien 1869, 8.50 bis 70; Die Druckkurve
und die Geschwindigkeitskurve in der A. radialis des Menschen, Würzburg 1886. —
®) A. Mosso, Von einigen neuen Eigenschaften der Gefäßwand, Ber. d. sächs. Ges.
d. Wissensch., math.-phys. Kl. 1874. — °) Frangois-Franck, Du volume des
organes dans les rapports avec la circulation du sang, Travaux du laboratoire de
Marey 2, 1, 1876.
Se En
Der Flammentachograph von v. Kries. 725
strömt. Hier sind also die überschüssigen Mengen direkt proportional
den augenblicklichen Geschwindigkeiten in der Arterie (genauer
gesagt, dem + Zuwachs der Geschwindigkeit über den mittleren Wert) und
wir erhalten also die Integralkurve der arteriellen Geschwindigkeit, eine
Kurve, bei der die Ordinaten das Volum ausdrücken, aber eine andere physi-
kalische Bedeutung nicht besitzen. Jedoch kann man hieraus leicht die Ge-
schwindigkeitskurve ableiten, die man erhält, wenn man zu der gewonnenen
Kurve die Differentialkurve berechnet. Fick!) hat dies als erster getan und
dabei aus dem stark ausgezogenen Plethysmogramm der Fig. 53 die gestrichelte
Kurve erhalten. Das Verfahren dabei ist ein rein technisches und soll hier
nicht erörtert werden (vgl. die Legende zur Abbildung).
Eine sehr elegante Form einer gleichsam automatischen Differentiation
hat v. Kries?) angegeben, der sich dabei der von Landois3) in die Physio-
Fig. 53.
Das Plethysmogramm (die stark gezeichnete Kurve) und die daraus abgeleitete Differentialkurve
(gestrichelt), welche die Geschwindigkeit darstellt. — Punktiert ist die Pulskurve.
Dort, wo das Plethysmogramm horizontal läuft, ist die überschüssige Geschwindigkeit gleich Null
(d. h. die Geschwindigkeit ist dann gleich der Durchschnittsgeschwindigkeit — das Blut in Arterien
und Venen fließt dann gleich schnell). Je steiler das Plethysmogramm steigt (oder fällt), desto größer
(bzw. desto kleiner) ist die Geschwindigkeit, an den steilsten stellen hat die Geschwindigkeitskurve
Maxima (oder Minima).
logie eingeführten Gassphygmoskopie bediente. Wenn man die luftgefüllte
plethysmographische Kapsel durch eine hinreichend weite Öffnung mit der
freien Luft kommunizieren läßt, so kann es zu keiner Summation der jeweils
überschüssigen Mengen kommen. Der durch die Öffnung ein- oder aus-
strömende Luftstrom entspricht daher direkt der Geschwindigkeit des ar-
_ teriellen Blutes (wenn man für den Ruhezustand des Luftstromes die
Strömungsgeschwindigkeit in der Vene einsetzt).
Die jeweilige Stärke des durch die Öffnung hinstreichenden Luftstromes
bestimmte v. Kries dadurch, daß er ihn in eine Gasflamme hineinblasen
ließ, deren Höhe dadurch variiert wurde. Die Höhe dieser Flamme, die, wie
er angibt, „von der Geschwindigkeit des Ausströmens abhängt“, wurde auf
photographischem Wege registriert. Die schöne Methode ist bisher selten
verwendet, vergleiche jedoch zwei unter Sahli ausgeführte Dissertationen
!) Fick, Untersuchungen aus dem physiologisehen Laboratorium der Züricher
Hochschule, Wien 1869, S.50 bis 70; Die Druckkurve und die Geschwindigkeitskurve
in der A.radialis des Menschen, Wärzburg 1886. — ?)v.Kries, Über ein neues Ver-
fahren zur Beobachtung der Wellenbewegung des Blutes, Arch. f. (Anat. u.) Physiol.
1887, 8.254 bis 284; Studien zur Pulslehre, Freiburg 1891, 8.143 bis 146; vgl. auch
Abele, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1892, S. 22 bis 23, sowie Herweg, Arch. f. d. ges.
Physiol. 47, 444 bis 447, 1890; Derselbe, ebenda 52, 480 bis 481, 1892; Derselbe,
Über ein neues Verfahren zur Beobachtung der Wellenbewegung des Blutes, Arch.
f. (Anat. u.) Physiol. 87, 254, 1887. — °) Landois, Zentralbl. f. d. med. Wiss. 1870;
vgl. auch Klemensiewicz, Unters. Physiol. Inst., Graz 1873.
7236 Geschwindigkeit und Ausflußmenge
von Ründi!) und Balli?2). Auch Erlanger und Hooker°) haben mit dem
Instrument gearbeitet. Ein ähnliches Instrument, dessen Konstruktion seiner-
zeit schon v. Kries auf Grund einer Bemerkung Hoorwegs angegeben hat,
ist neuerdings von Frank) beschrieben (die Flamme ist durch eine aller-
dings möglichst leichte Membran ersetzt). Nach den Angaben des Verf. sind
seine Kurven den v. Kriesschen Tachogrammen sehr ähnlich.
Tachographie (Messung der Geschwindigkeit).
8:32.
Geschwindigkeit und Ausflußmenge.
Bei einer variablen Geschwindigkeit, die sich von Augenblick zu Augen-
blick ändert, wie dies beim Blute der Fall ist, ist es häufig unmöglich, die
Geschwindigkeit in allen einzelnen Momenten zu bestimmen, und man muß
sich damit begnügen, einen mittleren Wert anzugeben, was auch im all-
gemeinen besonders dann genügt, wenn es sich wie beim Blute um eine
rhythmische, immer wiederkehrende Bewegung handelt. Man hat dabei zu
unterscheiden zwischen der mittleren Geschwindigkeit, welche man dadurch
bestimmt, daß man die größte und die kleinste vorkommende Geschwindigkeit
mißt und daraus das Mittel nimmt, und der Durchschnittsgeschwindigkeit,
welche man in der Weise definiert, daß es diejenige Geschwindigkeit ist,
welche ein Körper haben müßte, um sich während eines größeren Zeitraumes
mit unveränderter Geschwindigkeit ebenso weit zu bewegen, als es der Körper
in Wirklichkeit infolge der rhythmischen Geschwindigkeit tut. Diese mittlere
und die Durchschnittsgeschwindigkeit sind streng zu scheiden; wenn z. B.
der Körper sich länger mit der minimalen Geschwindigkeit bewegt, so wird
die Durchschnittsgeschwindigkeit kleiner sein, als die mittlere Geschwindigkeit.
Außerdem ist die Geschwindigkeit einer Flüssigkeit in einer Röhre inso-
fern kein einheitlicher Begriff, weil die verschiedenen Flüssigkeitsteilchen ver-
schiedene Geschwindigkeiten besitzen. Infolge der Adhäsion, die zwischen
Blut und Arterienwand besteht, bewegen sich die äußersten Teilchen des
Blutes gar nicht, die daranstoßende, mehr nach innen gelegene Schicht bewegt
sich sehr langsam, weil sie — durch Kohäsion — an jener still stehenden
Blutschicht hängt, und so fort, bis endlich eine Schicht kommt, die sich mit
der größten, überhaupt in der Flüssigkeit vorkommenden Geschwindigkeit
bewegt. Der Abstand dieser Schicht von der Wand hängt lediglich von der
Geschwindigkeit und der Kohäsion der einzelnen Teile untereinander ab. Die
Dicke dieser langsam sich bewegenden Schichten ist also in weiten und engen
!) A. Ründi, Klinische Beiträge zur Flammentachographie, Dissert. Bern
1895. — ?) E. Balli, Über den Einfluß lokaler und allgemeiner Abkühlung der
Haut auf das menschliche Flammentachogramm, Dissert. Bern 1896. — °) J. Er-
langer and D. R. Hooker, The relation between blood-pressure, pulse-pressure and
the veloeity of blood-flow in man, Amer. Journ. of Physiol. 10, 15, 1904. —
*) Frank, Konstruktion und Theorie eines neuen Tachographen, Zeitschr. f. Biol.
32, 303, 1907. — ®) Über die Methoden, die Geschwindigkeit aus dem Plethysmo-
gramm zu bestimmen, vgl. $ 30 u. 31, im übrigen vgl. auch $ 42 bis 44, sowie die
sehr ausführliche Arbeit von Tigerstedt, Die Geschwindigkeit des Blutes
in den Arterien (Ergebnisse d. Physiol. 4, 481, 1905), in der viel hier nicht ge-
nannte Literatur angegeben ist.
a ng Du ln a mu Bl ad 2 a la un
ee
und ihre Bestimmung. 727
Gefäßen annähernd gleich, jedoch bildet sie in weiten Gefäßen einen verhältnis-
mäßig schmalen Saum, in Capillaren reicht sie bis zur Mitte !) (vgl. jedoch S. 763).
Man kann daher nur, wenn man von der wirklichen Geschwindigkeit
spricht, die Geschwindigkeit der einzelnen Teilchen, insonderheit die Ge-
schwindigkeit des axialen Stromes meinen. Aber diese
wirklichen „Geschwindigkeiten“ interessieren uns erst
in zweiter Linie. Wir wollen wissen, wieviel Blut in
der Sekunde durch die Arterie fließt, das ist unsere
Geschwindigkeit. Und auch dies ist eine genau definier-
bare Größe. In einer Sekunde sei ein Volum durch
einen beliebigen Querschnitt der Röhre hindurch-
getreten, das beiläufig die Gestalt, wie in der Fig. 54 A
hat. Jedes Teilchen in jedem der gezeichneten Zylinder-
mäntel (die natürlich in Wirklichkeit unendlich zahl-
reich und unendlich dünn sind) hat dann einen Weg
zurückgelegt, der entweder —= 0 oder — QS,,
QS, ... QS, ist; diese Strecken sind auch die wirk-
lichen Geschwindigkeiten. Nun kann ich mir aber
auch die Masse des in einer Sekunde hindurch-
geflossenen Blutes statt in dem kompliziert gebauten
Körper in einem Zylinder repräsentiert denken, der
denselben Querschnitt wie das Röhrenlumen besitzt
und dessen Länge = SQ ist. Das ist dann die ge-
suchte Geschwindigkeit, und das Volumen, das in
einer Sekunde durch den Querschnitt strömt, ist SQ
mal dem Querschnitt.
Man kann die Geschwindigkeit auf doppeltem Wege bestimmen, entweder,
indem man mittels eines geeigneten Apparates die wirkliche Geschwindigkeit
einzelner Flüssigkeitsteilchen mißt, oder aber, indem man aus dem Sekunden-
volum und dem Querschnitt die Durchschnittsgeschwindigkeit berechnet (hier-
über vgl. $42bis44). Man darf aber nicht vergessen, daß die beiden Größen,
um die es sich bei den erwähnten Bestimmungen handelt, nicht identisch sind.
Fig. 54.
%5 5% S Q
$ 33.
Direkte Bestimmung der Blutgeschwindigkeit.
Mit dem Strompendel oder Tachometer von Vierordt 2). Derselbe ist
ein leichtes, verbreitertes Pendelchen, das sich um einen fixen Punkt in der
Wandung des Gefäßes dreht und Fig. 55.
das von dem strömenden Blut
mitgerissen und in einer schiefen
Lage erhalten wird. DieGröße der
Abweichung kann man an dem auf
deranderen Seite des Drehpunktes = rn =
hervorragenden Hebelende ab- Prinzip des Strompendels und der Pitotschen Röhrchen.
HIHHHHHNHNNIKG
!‘) Theoretisch nimmt allerdings in allen Gefäßen die Geschwindigkeit bis zur
Mitte zu; jedoch ist diese Geschwindigkeitszzunahme schon in mäßigem Abstand von
der Wand so gering, daß sie praktisch vernachlässigt werden kann. — ?) Vierordt,
Die Erscheinungen und Gesetze der Stromgeschwindigkeit des Blutes, 1858, 8.10.
728 “ Die Umlaufszeit des Blutes.
lesen, und wenn man den Apparat vorher mit Strömen von bekannter Geschwindig-
keit geeicht hat, so kann man die Geschwindigkeit des Blutstromes berechnen.
Einen ähnlichen, auf demselben Prinzip basierenden Apparat haben
Chauveau?) und Lortet?) konstruiert und Dromographen genannt, derselbe
ist weit besser, weil er weniger träge Massen enthält.
Viel bessere Dienste leisten die Apparate, die auf dem Pripsig der
Pitotschen Röhrchen beruhen. Dies Prinzip sagt aus, daß in rechtwinkelig
gebogenen Röhrchen, die so, wie es die Figur zeigt, in eine strömende Flüssig-
keit hineingesteckt werden, das Flüssigkeitsniveau sich in der angedeuteten
Weise verschieden hoch einstellt. Aus dem Niveauunterschied kann man die
Geschwindigkeit der Strömung berechnen. Derartige Apparate sind von
Marey in die Physiologie eingeführt und von Öybulski dann häufig benutzt
worden. Neuerdings haben auch O0. Frank?) und Zanietowskit) mit
diesem Apparat Geschwindigkeitsbestimmungen angestellt.
$ 34.
Bestimmung der Umlaufszeit des Blutes.
Dann hat man versucht, die Umlaufszeit des gesamten Blutes zu er-
mitteln; da man hierbei jedoch den zurückgelegten Weg nicht kennt, ist dies
nur eine Proportionalitätsbestimmung, aber keine eigentliche Geschwindigkeits-
bestimmung (denn Geschwindigkeit ist —= Weg dividiert durch Zeit). Der Stutt-
garter Veterinär Ewald Hering’) hat sich die Untersuchung in folgender
Weise gedacht: Wenn man in das zentrale Ende einer durchschnittenen Vene
eine leicht nachweisbare Substanz injiziert, so kann man bestimmen, nach
welcher Zeit diese Substanz am peripheren Ende wieder austritt. Die Substanz
muß dabei wirklich den ganzen Kreis (rechtes Herz, Lunge, linkes Herz, Aorta,
Körpercapillaren und Venen) durchlaufen. Aber da wir gesehen haben, daß in
allen Gefäßen der Achsenstrahl sich viel schneller bewegt als die Randschichten,
und da wenigstens ein Teil der Substanz durch den Mittelstrahl befördert
wird (ein Umstand, auf den zuerst v. Kries hingewiesen hat), so ergibt das
Resultat nur die Geschwindigkeit des Achsenstrahles. Die durchschnittliche
Geschwindigkeit des Blutes ist daher sicher kleiner, die Umlaufszeit größer.
Hering injizierte Ferrocyankalium und fing das Blut in einzelnen
Portionen mittels kleiner Gläschen auf, die vorher mit Eisenchloridlösung
gefüllt waren. Der erste Tropfen des „gezeichneten“ Blutes markiert sich
durch Bildung von Berlinerblau.
Diese Methode wurde dann vielfach angewendet und modifiziert. Vier-
ordt#) benutzte eine rotierende Scheibe, an deren Rand kleine Gläser mit
!) Chauveau, Bertolus et Laroyenne, J.d. 1. Phys. 1860, p. 695; Chau-
veau, Compt. rend. Acad. d. sc. 51, 948, 1860. — °) Lortet, Recherches sur la
vitesse du sang, Annales des sciences naturelles 7 (1867). — °) O0. Frank, Die
Benutzung des Prinzips der Pitotschen Röhrchen zur Bestimmung der Blut-
geschwindigkeit, Zeitschr. f. Biol. 37, 1 bis 5, 1899. — *) Zanietowski, Kurzer
Beitrag zur Lehre der Kreislaufsgeschwindigkeit, ebenda 39, 271 bis 276, 1900. —
°) Hering, Versuche, die Schnelligkeit des Blutes und der Absonderungen zu be-
stimmen, Zeitschr. f. Physiol. 3, 85, 1829; 5, 58, 1829. Versuche über einige
Momente, die auf die Schnelligkeit des Blutlaufes Einfluß haben, Arch. f. physiol.
Heilkde. 12, 112, 1853. — °) Vierordt, Die Erscheinungen und Gesetze der Strom-
geschwindigkeiten des Blutes. Frankfurt 1858.
a2
en ni
= .
Die Bedingungen des Blutdruckes im Körper. - 729
Eisenchlorid angebracht waren, in welche das Blut hineintropfte. Hermann!)
vereinfachte die Methode dann weiter, indem er statt der Näpfchen eine mit
Eisenchlorid-Papier bespannte Kymographiontrommel anwendete, auf die das
Blut tropfte. Dann hat man andere Substanzen verwandt, um das Blut zu
„zeichnen“. So hat man Taubenblut, das man an den ovalen Blutkörperchen
wiedererkannte, injiziert. Diese Methode soll eine Diffusion des Ferrocyan-
kaliums verhindern, die eventuell zu kurze Umlaufszeiten vorgetäuscht hätte.
Stewart?) injizierte eine elektrisch gut leitende Salzlösung, die er durch
die Verminderung des Widerstandes zwischen zwei in die Blutbahn an irgend
einer Stelle eingeführten Drahtenden konstatierte. Dies ist insofern eine Ver-
besserung, weil dabei kein Blut verloren geht und infolgedessen der Versuch
beliebig oft wiederholt werden kann. Auf diesen Umstand weist besonders
Steinhaus?) hin, der mit dieser Methode arbeitete und einige praktische
Modifikationen derselben angibt. Die Methode von Meyer‘), der Met-
hämoglobin injizierte, das er spektroskopisch nachwies, bietet denselben
Vorteil, da das Blut hierbei in einem in die Vene eingebundenen Glasröhrchen
spektroskopisch bestimmt wird, so daß ebenfalls kein Blut verloren geht. Die
Methode ist jedoch insofern anfechtbar, weil geringe Mengen von Met-
hämoglobin auf diese Weise nicht nachweisbar sind.
Über die Methoden, die Kreislaufsgeschwindigkeit indirekt aus Messungen
des Schlagvolums bzw. des Sekundenvolums zu berechnen, vgl. die $$ 42
und 43 über das Schlagvolum des Herzens.
Viertes Kaziter,
Die Bedingungen des Blutdruckes im Körper.
Die eigentliche und fast einzige treibende Kraft für den Blutkreislauf ist das
Herz. Das Zustandekommen dieser Kraft wird in. den Abschnitten „Das Herz als
Pumpe“ und „Accessorische Herzen“ des genaueren auseinandergesetzt werden.
Hier setzen wir diese Kraft als gegeben voraus. Außerdem aber treten noch eine
große Anzahl von Kräften ins Spiel, die, erst hervorgerufen durch die Blutbewegung,
im wesentlichen verzögernd wirken, für das Zustandekommen, des Blutkreislaufes
aber von ausschlaggebender Bedeutung sind; diese Kräfte, deren allgemeine Bedeu-
tung in dem Abschnitt über allgemeine Mechanik abgehandelt ist, werden am besten
als Bedingungen betrachtet, unter deren Einfluß die Herzkraft wirksam wird. Unter
diesem Gesichtspunkte sollen die einzelnen Bedingungen, die in $ 12 aufgeführt
sind, jetzt durchgegangen werden.
Elastizität.
$ 35.
Zustand der Wandung.
Die Frage nach der Elastizität (Ausdehnbarkeit) der Gefäße kann man prak-
tisch’ kaum dadurch lösen, daß man ausgeschnittene Stücke der Arterienwand durch
Belastung auf ihre Ausdehnbarkeit prüft (vgl. hierüber jedoeh die älteren aus-
!) Hermann, Zur Bestimmung der Umlaufszeit des Blutes, Pfügers Arch.
33, 169, 1884. — °?) Stewart, A new method of measuring the velocity of the
blood, Journ. of Physiol. 11 (1890); On the circulation time in organs, ebenda 15,
1, 1894. — °) Steinhaus, Les relations entre la frequence du pouls et la duree
totale de la revolution sanguine chez le chien, Arch. internat. de physiol. 5 (2), 237,
1907. — *) E. Meyer, Proced& spectroscopique pour l’&tude de la vitesse moyenne
de la eirculation du sang, Compt. rend. soc. de biol. 1892.
730 Elastizität hohler Schläuche.
führlichen und exakten Untersuchungen von Wertheim') und Roy?). Denn im Gefäß-
system kommt es nicht auf die Wirkung eines derartig einseitigen Zuges an, sondern
auf die Wirkung eines nach allen Seiten annähernd gleich starken
Druckes. Es läßt sich aber durchaus nicht aus der Bestimmung der Zugelastizität
etwa die Ausdehnung durch erhöhten Innendruck einfach ableiten. Man hat des-
halb versucht, die Elastizität in der Weise zu bestimmen, daß man in ein Blut-
gefäß Flüssigkeit unter bekanntem Druck hineinpreßte und dann die dadurch
hervorgebrachte Erweiterung maß. . Ist nun auch hiermit den praktischen Be-
dürfnissen durchaus genügt, so ist andererseits hierbei gerade die theoretische
Fragestellung recht kompliziert, weil, wie Woods°), Klein®), zum Teil auch
Kelling’), R. du Bois-Reymond°) u. a. betont haben, bei einem ausgedehnten
‘ Gefäße die Fläche, welche vom Druck getroffen wird, bei wechselndem Druck
eine wechselnd große ist. Dies bedingt eine mathematisch recht schwierige Be-
handlung, die R. du Bois-Reymond nur für eine kugelförmige Blase zu lösen
versucht hat. Praktisch ergibt sich daraus die Schlußfolgerung, daß bei rein
elastischen Kräften ein Hohlorgan durch einen im Innern ausgeübten Druck auf
alle Fälle stärker erweitert wird, als es seiner linearen Ausdehnungskurve ent-
spricht, und zwar nimmt diese Disproportionalität bei steigendem Druck zu. Ge-
naueres läßt sich kaum sagen, da die Unterschiede bei bestimmten Formen des
untersuchten Körpers sehr groß sind.
Daß die Gefäße im Körper nun nicht etwa nur in der Richtung der Dicken-
zunahme ausgedehnt werden, beweisen unter anderem die Untersuchungen von
Fuchs’), welcher zeigen konnte, daß die aus der Leiche herausgenommene Aorta
beträchtlich geringere Länge und größeren Durchmesser als in situ besitzt; sie ist
also im Körper in die Länge gedehnt und dadurch im Querschnitt verkleinert.
Daß dieser Zustand von Dehnung und Zusammendrückung ganz besondere Gesetze
der Formelastizität bedingt, erscheint fraglos. Diese Längsspannung des Gefäß-
systems ist in den verschiedenen Abschnitten desselben verschieden stark. Im Venen-
system ist sie wesentlich geringer als im Arteriensystem, unter den Arterien sind
die gespanntesten die Aorta abdominalis und die Femoralis. Die geringste Spannung
hat der Aortenbogen, der infolgedessen auch deutlich pulsiert; überhaupt ist die
geschilderte Verschiedenheit wichtig für die Verschiedenheit der Pulsform und vor
allem der Pulsgeschwindigkeit in den einzelnen Arterien.
Zwar konnte Marey®) einen prinzipiellen Unterschied gegenüber dem
Dehnungsverlauf bei einem ausgeschnittenen Arterienstreifen nicht konsta-
tieren, aber Roy’) sowie später Zwaardemaker 10) beobachteten — ganz ent-
sprechend den Untersuchungen von Woods, Klein usw. —, daß bei gesunden
Arterien der Volumzuwachs bei gleicher Steigerung des inneren Druckes zuerst
!) Wertheim, Annal. de chimie et de phys. III 21, 394, 1847. — ?) Roy, The
elastic properties of the arterial wall; the journ. of Physiol. 2, 125, 1881. Eine
Zusammenstellung der Ergebnisse dieser Autoren sowie einiger anderer findet sich
in Vierordt, Daten u. Tabellen S. 160, Jena 1893. — ®?) Woods, R. H., A few
applications of a physical theorem to membranes in the human body in a state
of tension, Journ. of anat. and physiol. 26, 362. — *) Klein, F.R., Über das Ver-
hältnis zwischen Druck und Füllung bei Hohlorganen (Lungen und Herz) und
dessen Ableitung aus der Längsdehnung (Phys. Inst. Kiel), Zeitschr. f. Biol. 33,
219 bis 263, 1896. — °) Kelling, Untersuchungen über die Spannungszustände
der Bauchwand usw., Zeitschr. f. Biol. 44, 101. — °) R. du Bois-Reymond, Über
die Beziehungen zwischen Wandspannung und Binnendruck in elastischen Hohl-
gebilden, Biol. Zentralbl. 26, Nr. 22, 8.806, 1906. — 7) R. F. Fuchs, Die Längs-
spannung der Aorta, Zentralbl. f. Physiol. 12, 465 bis 471, 1898; Zur Physiologie
und Wachstumsmechanik des Blutgefäßsystems, Arch. £. (Anat. u.) Physiol. 1900.
— °) Marey, La eirculation du sang ä l’etat physiol. ete., Paris 1881, p. 160. —
°) Roy, The elastic properties of the Arterial Wall, Journ. of physiol. 9, 227/28,
1881. — !") Zwaardemaker, Over de uitzetting der slagadern door den bloeds-
druk, Nederlandsch Tijdschr. Y Geneeskunde 2, Nr. 24, 61, 1888.
Elastizität der Arterien .und Venen. 731
bis zu einer gewissen Grenze zunahm. Diese Grenze, also das Maximum der
Ausdehnbarkeit, lag bei Kaninchen bei etwa 7,0, bei Hunden bei etwa 7,5 bis 12,5,
bei Ochsen bei 10,0 bis 15,0cm Hg. Oberhalb dieser Grenze änderte sich
das Verhalten, jetzt nahm bei weiterer Steigerung des Druckes die Ausdehnung
langsamer zu als der Druck (Roy!) hat später angegeben, daß die Dehnungs-
kurven exakte Hyperbeln seien), während dies nach dem du Boisschen Schema
des Gummiballons nicht der Fall sein sollte.
Die erwähnte Umkehr der Kurve, die sich bei Gummiballons nicht findet,
deutet darauf hin, daß bei stärkerer Ausdehnung ein Mechanismus Platz
greift, der eine weitere Ausdehnung zu verhindern sucht, sei es, daß die
Gefäßmuskulatur dabei eine Rolle spielt oder sei es, daß dann erst die sonst
gewellt liegenden sogenannten elastischen Fasern in Wirksamkeit treten. Auf
diese Bedeutung der Muskulatur macht ganz besonders Mac William 2) auf-
merksam. Jedenfalls ist die konstatierte Tatsache wichtig, daß die Arterien
etwa bei dem Druck, der dem normalen Blutdruck entspricht,
relativ die größte Beweglichkeit der Wandungen besitzen.
Dieselbe Anpassung an die normalen Verhältnisse zeigt sich auch bei den
Venen), bei denen das Maximum der Ausdehnbarkeit bei einem sehr ge-
ringen Drucke liegt. Immerhin ist der Druck positiv, und wer will, mag
darin einen zwar indirekten, aber darum nicht minder wertvollen Beweis
dafür sehen, daß in der Norm der Blutdruck auch in den Venen positiv ist
und nur unter exzeptionellen Bedingungen negativ wird. Daß der positive
Druck auch eine objektive Tatsache ist, darüber vgl. S. 780.
Demgegenüber haben neuerdings Herringham und Wills‘) an heraus-
geschnittenen Aortastücken in gewissen Grenzen Proportionalität zwischen Dehnung
und einwirkendem Druck gefunden. Ihre Versuche sind mit einem nach dem
Blixschen Prinzip gebauten Apparat angestellt. Fürst und Soetbeer°) fanden nur
beiniedrigen Drucken Proportionalität, bei höheren Drucken wächst der Druckzuwachs
rascher als der Füllungszuwachs. Strasburger‘) hat neuerdings eine große Zahl
von derartigen Bestimmungen an Aorten von Menschen ausgeführt und gefunden,
daß verschiedene Typen vorkommen, ohne daß man mit Sicherheit sagen könne,
der eine rühre von Kranken, der andere von Gesunden her — dagegen findet er
einen deutlichen Einfluß des Alters —; die Arbeit ist vor allem deshalb lesenswert,
weil in ihr sehr detailliert auseinandergesetzt wird, welchen Einfluß die Elastizität
der Wandung'auf den Blutdruck und gewisse Arten seiner Messung ausüben. muß.
Daß die Elastizitätsverhältnisse bei Arteriosklerose stark verändert werden,
ist bekannt (vgl. hierüber Thoma’). Bemerkenswerterweise aber scheint,
wenn die Arterien nur wenig geschädigt sind (d. h. Menschen oder Tieren
entstammen, die an einer zehrenden Krankheit gelitten haben), jener Zu-
stand, welcher bei gesunden Arterien nur bei höherem Druck auftritt, schon
!) Roy, Note on the elastieity-curve of animal tissues, Journ. of physiol.
IX, p. 227. — °*) Mac William, On the properties of the arterial and venous
walls, Proc. Roy. Soc. London 70, 109, 1902; Proc. Physiol. Soc., Juni 1906.
— °®) Roy, 1. c. 8.136. — *) Herringham, W. P., and Wills, W.A., On the
elasticity of the aorta, Med.-chirurg. Transact. 87, 489—530, 1904. — °) Fürst u,
Soetbeer, Experimentelle Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Füllung
und Druck in der Aorta, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 90, Heft 1 u.2. — ‘) Stras-
burger, Über den Einfluß der Aortenelastizität auf das Verhältnis zwischen Puls-
druck und Schlagvolum des Herzens, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 90, 368. —
’) Thoma, Das elast. Gewebe der Arterienwand und seine Veränderung bei Sklerose
u. Aneurysmabildung. Festschr. 50jähr. Bestehen d. med. Ges., 8.20. Magdeburg 1898.
732 Änderungen der Elastizität und ihre Grenze.
bei geringerem Drucke .stattzuhaben. Schon bei geringem Druck ist das
Maximum der Beweglichkeit erreicht, und schon bei verhältnismäßig niedrigen
Drucken erweitert sich die Arterie bei gleicher Drucksteigerung immer weniger.
Roy (l.c.) hat dies nachgewiesen, und die neueren Versuche von Herringham
und Wills kommen zu demselben Resultat, mit zunehmendem Alter nimmt die
Dehnbarkeit beständig ab. Auf diesen Umstand scheinen auch die älteren
Angaben von Marey zurückzuführen zu sein, der das Vorkommen derartiger
Verhältnisse schlechthin beschrieben, aber nichts über den Gesundheitszustand
der Tiere, denen er die Gefäße entnommen hat, angegeben hat.
Es ist klar, daß diese morbide Eigenschaft der Gefäßwandung schädlich ist,
denn die zuerst geschilderte Form der Elastizität bedeutet doch, daß unter den
normalen Druckbedingungen das Gefäßsystem leicht eine verhältnismäßig
große Menge von Flüssigkeit aufnehmen kann, ohne daß der Druck
infolgedessen nennenswert zu steigen braucht. Ist diese leichte Beweglich-
keit der Arterienwandung aber nur bei einem niedrigeren Drucke vorhanden, so
hat das zur Folge, daß bei dem normalen Drucke eine geringe Volumvermehrung
des Gefäßinhaltes sofort eine hochgradige Blutdrucksteigerung bedingt. Wieso dieser
Zustand notwendigerweise die Herzarbeit erschwert, geht aus $ 10 (8. 687) hervor
und braucht nicht wiederholt zu werden. Auch auf die Bedeutsamkeit dieses Be-
fundes in pathologischer Beziehung sei hier nur hingewiesen. Wir dürfen hierin
die Erklärung mancher Verhältnisse bei Arteriosklerotikern sehen, vor allem aber
wird es hierdurch verständlich, daß es bei einem derartigen Gefäßsystem viel eher
unter Umständen zu einer Zerreißung kommen wird, als bei einem normalen.
Die Elastizität der Arterien im Körper ist eine vollkommene, da unter den im
Körper vorkommenden Drucken eine elastische Nachwirkung nicht nachweisbar ist,
Fuchs!) hat sogar gezeigt, daß selbst bei Drucken, die das doppelte des normalen
Druckes betragen, eine elastische Nachwirkung praktisch nicht nachweisbar ist.
Bei normalen Arterien ist intra vitam (außer bei Anwendung äußerer Gewalt)
eine Zerreißung unmöglich. Die Hundecarotis zerreißt nach Grehant und Quin-
quaud?) bei einem Druck von 300 bis 850 cm Quecksilber, die Arterie hat also einen
mindestens 15fachen Sicherheitskoeffizienten. Weiter hat man gefunden, daß kleine
Arterien einen höheren Druck aushalten als große. Daraus folgt aber nicht etwa,
daß die Wand der kleinen Arterien fester ist (vgl. Tigerstedt, Lehrbuch $. 293).
Wie ein capillares Glasrohr einen Druck aushalten kann, der den stärksten Dampf-
kessel zerbricht, so ist es auch hier. Der Druck, den eine Fläche auszuhalten hat,
ist eben nicht nur dem Drucke, sondern gleichzeitig auch der Größe der gedrückten
Fläche proportional; diese ist bei Röhren proportional dem Durchmesser, und der
erwähnte Befund besagt mithin nichts anderes, als daß die Wandstärke im all-
gemeinen mit der Größe der Gefäße zu- und abnimmt, jedoch nicht proportional;
die Wand eines doppelt so weiten Gefäßes ist nicht auch doppelt so dick, sondern
beiläufig nur etwa 1'/,fach so dick, eine Tatsache, die jedem Anatomen bekannt
ist, vgl. hierüber auch Fuchs'), der gezeigt hat, daß im einzelnen Abweichungen
vorkommen, die sich durch Anpassung an die mechanische Inanspruchnahme der
betreffenden Gefäßteile erklären lassen, z.B. sind die Nierenarterien relativ außer-
ordentlich diekwandig und muskelstark.
Sehr auffällig erscheint die von Grehantu. Quinquaud’°) und auch schon von
“ früheren Autoren behauptete Tatsache, daß die Jugularvenen einen höheren Druck
vertragen als die Carotiden desselben Tieres. Allerdings scheint aus dem Zahlen-
material des Verfassers das Gegenteil hervorzugehen. Nur einmal hielt die Jugu-
laris einen sehr hohen Druck aus. Sonst waren die Drucke, welche die Venen zum
‘) Fuchs, Zur Physiologie und Wachstumsmechanik des Blutgefäßsystems II,
Zeitschr. f. allgem. Physiol. 2, 31, 1902; u. 1900, 1.c. — ?®)Gre&hant u.Quinquaud,
Mesure de la pression n&cessaire pour döterminer la rupture des raisseaux sanguins,
Journ. de l’Anat. et physiol. 21, 287, 1885. — °) Gr&hant u. Quinquand, I. e.
p- 296. k
Erweiterung und Verengerung der Gefäße. 733
Bersten brachten, immer, und zwar meist sehr viel niedriger als die entsprechenden
arteriellen Drucke. Allen Experimentatoren ist zudem die leichtere Zerreißlichkeit
der Venen bekannt; außerdem wird man bei einem Organ, das nur geringen Druck
auszuhalten hat, eine geringe Widerstandsfähigkeit erwarten.
$ 36.
Gefäßtonus (und Lumenweite).
Hier sind nur die mechanischen Folgen einer durch den Gefäßtonus
bedingten Erweiterung bzw. Verengerung der Gefäße zu erwähnen. Die
gefäßverengernden Nerven sind imstande, das Lumen der Gefäße zu ver-
kleinern, die erweiternden Nerven sind imstande, das Lumen zu erweitern !).
Es wird wohl heute von niemand mehr angenommen, daß die Erweiterung
auf einer Reizung dilatatorischer (längsverlaufender) Fasern beruht, sondern nur
auf einem Nachlaß der Gefäßkonstriktion. Diese Vorstellung ist allerdings nicht
aus einem Verständnis der mechanischen Leistung der Gefäßmuskulatur erwachsen,
sondern vielmehr meist aus Versuchen über Nervenreizung geschlossen. Direkte Reiz-
versuche hat nur Fuchs (1902?) gemacht, er konnte dabei beobachten, daß die Arterien
sich nur verengern, ohne dabei eine Verkürzung aufzuweisen. Danach schienen
allerdings die Längsmuskeln nur zur Erhöhung der Resistenz bzw. der Elastizität
der Gefäßwandung beizutragen. Die Längsmuskeln sind in der Regel viel weniger
regelmäßig ausgebildet, als es meist in den Lehrbüchern schematisch angegeben
wird. Meist bilden sie keine zusammenhängenden Schichten. Vor allem diejenigen,
welche annehmen, daß die postganglionären Fasern nur Konstriktoren enthalten,
müssen zu einer solchen Auffassung kommen. Aber auch Bayliss°), der diese
Anschauungen hauptsächlich bekämpft, hat über die Wirkungsweise der Vasodilata-
toren als hemmende Nerven keine andere Meinung. Für alle folgenden Über-
legungen ist es zudem gleichgültig, in welcher Weise man sich das Zustande-
kommen der Erweiterung vorstellt. Über die Möglichkeit, wie durch eine Kon-
traktion Erweiterung zustande kommt, siehe das auf S.862 beim Herzen Gesagte.
Im übrigen bezieht man sich meist bei der Annahme lumenerweiternder Längs-
muskeln der Gefäße auf Exners*) Betrachtungen über die lumenerweiternde
Wirkung der Darmmuskulatur; jedoch hat Exner selbst mit Rücksicht auf die
histologische Struktur der Gefäße eine Lumenerweiterung der Gefäße als unwahr-
scheinlich bezeichnet.
$ 37.
Lumenweite der kleinen Gefäße.
Die Lumenveränderung findet hauptsächlich in den kleinen und mittleren
Arterien, und wie man neuerdings gefunden hat, auch an den Venen statt,
doch dürften diese wahrscheinlich passiv sein, denn Fuchs konnte wiederum
bei direkter Reizung der Venen keine Lumenänderung an denselben beobachten.
Durch die Lumenänderung kommt eine Regulation der Blutverteilung
im Körper zustande. Daß diese in den kleinen Ästen und nicht auch in den
großen vorgenommen wird, erscheint zweckmäßig, weil die Kaliberänderungen
in kleinen Gefäßen sehr viel wirksamer sind als in großen. Denn während
die Durchströmungsmenge bei weiten Gefäßen dem Querschnitt proportional
!) Genaueres hierüber in dem Abschnitt „Die Innervation des Herzens und
der Blutgefäße“ von F.B.Hofmann in diesem Handbuch I, 8. 287 ff. — ?) Fuchs,
Zeitschr. f. allgem. Physiol. 1902. — °) Bayliss, On the origin from the spinal
cord of the vasc-dilatator fibres of the hind limb, Journ. of physiol. 26, 173, 1900.
— *) Exner, Über lumenerweiternde Muskeln, Sitzungsber. d. Wien. Akad. 71,
III. Abteil., 4. Jan. 1877.
734 Mechanische Wirkung einer lokalen Gefäßveränderung
ist, ist sie bei engen Gefäßen dem Quadrat des Querschnittes proportional,
woraus hervorgeht, daß eine mäßige Änderung der weiten Gefäße belanglos
sein muß gegenüber prozentual gleich großen Veränderungen an den kleinen
Arterien. Dementsprechend haben auch die großen Gefäße eine relativ
schwache, die kleinen dagegen eine relativ starke Muskulatur, welche die
kleineren und mittleren Arterien so stark zu verengern imstande ist, daß
unter Umständen ihr Lumen verschwindet (selbst bei so großen Arterien wie
die Transversa faciei des Pferdes ist dies möglich, dieselbe kann beim Versuch
plötzlich aufhören zu spritzen). Derartige Änderungen des Gefäßlumens haben
eine doppelte Wirkung:
1. Wird durch eine Änderung der Gefäßweite an einer anderen
Stelle des Systems die entgegengesetzte Gefäßänderung hervor-
gerufen. Denn da das Gefäßsystem ein geschlossenes Röhrensystem darstellt,
das mit einer inkompressiblen Flüssigkeit gefüllt ist, und da ein eventueller
Aus- oder Eintritt von Serum durch die Gefäßwände zu langsam verläuft, so ist
eine Kontraktion an einer Stelle nicht möglich ohne Erweiterung an anderer Stelle
und umgekehrt. Diese Erweiterung kann auch in der Eröffnung bisher nicht
durchflossener Strombahnen bestehen (vgl. die Legende zu Fig. 64, 8.762 über
Capillaren). Diese Erweiterung kann aktiv oder passiv erfolgen; erfolgt sie
passiv — wird also die Gefäßwand durch das an einer Stelle weggedrückte
Blut ausgedehnt — so wächst damit natürlich die Spannung und der Blutdruck.
Erfolgt sie dagegen aktiv durch Erweiterung eines Gefäßes, so braucht sich
der Blutdruck dabei nicht zu ändern. Er ändert sich, wenn die reflektorische
Erweiterung entweder nicht stark genug war, um die Verengerung zu kom-
pensieren, oder wenn sie die Verengerung sogar überkompensiert. Beides
kommt vor. Vor allem sind das Splanchnicusgebiet und die Hautcapillaren
in dieser Beziehung regulatorische Antagonisten, ein ähnlicher Antagonismus
besteht zwischen Muskel- und Splanchnicusgebiet. Die Hauptsache bilden
dabei allerdings nervöse Einflüsse, wobei auch direkte Beeinflussung der Ge-
fäßmuskulatur durch Änderung des Druckes in Betracht zu ziehen ist. Diese
gegenseitige Abhängigkeit von Konstriktion und Dilatation hat vor allen
Gerhardt!) gelegentlich seiner Untersuchungen über die Wirkung des Neben-
nierenextraktes genauer beschrieben. Mit derselben Frage beschäftigen sich
viele Arbeiten über Hirndruck, vgl. Literatur S. 740.
7 Fast immer beruht die Verengerung eines Gefäßes auf Kontraktion. Nur in
seltenen Fällen handelt es sich um einen von außen ausgeübten Druck. Praktisch
kommt dies wohl nur in Betracht bei der Kompression größerer Gefäßgebiete durch
Flüssigkeitsansammlung. Hamburger’) hat dies experimentell nachzuahmen
gesucht, indem er die Bauchhöhle von Kaninchen und Hunden unter Druck mit
NaCl-Lösung füllte. Er fand dabei in der Tat eine parallel gehende Steigerung des
arteriellen Druckes, die er für die Folge einer Steigerung der in den Abdominal-
venen vorhandenen Widerstände hält.
2. Wird durch die Änderung der Gefäßweite der Widerstand
in dem betreffenden Gebiete verändert, und zwar wird er durch Kon-
traktion erhöht, durch Erschlaffung vermindert. Dementsprechend ändert
‘) Gerhardt, Über die Wirkungsweise der Blutdruck steigernden Substanz
der Nebennieren, Arch. f..exper. Pathol. 63, 161, 1900. — ?)Hamburger, Über den
Einfluß des intraabdominalen Druckes auf den allgemeinen arteriellen Blutdruck.
Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 2, 332, 1896.
auf den gesamten Kreislauf. 735
sich auch die Geschwindigkeit, mit der das Blut durch das betreffende Organ
fließt. Meist ändert sich auch das Stromvolum. Wäre nur eine arterielle Bahn
vorhanden, dann würde das Stromvolum dem Widerstande umgekehrt propor-
‚tional sein und zwar in der gesamten Bahn. Wenn aber einem Gebiete das Blut
abgesperrt werden sollte, dann würde es allen Gebieten gleichzeitig abgesperrt.
Nun sind die Organe nicht etwa hintereinander, sondern nebeneinander (parallel)
geschaltet (siehe Fig. 44 auf 8.673). Dadurch sind die einzelnen Organe in
bezug auf ihre Blutversorgung voneinander relativ unabhängig, ähnlich wie bei
parallel geschalteten elektrischen Leitungen eine von der anderen unabhängig
ist. Auch die Blutverteilung erfolgt, wie die des elektrischen Stromes, in
verzweigten Leitern (nach den Kirchhoffschen Regeln). Eine geringe
Abweichung ist nur dadurch bedingt, daß, wenn sich im Blutgefäßsystem der
Widerstand in einem Zweige ändert, notwendigerweise auch, wie oben aus- '
einandergesetzt, die Widerstände in den anderen Zweigen sich ändern müssen,
was die Betrachtung natürlich kompliziert. Aber auch abgesehen hiervon wird
die Geschwindigkeit und Menge des Blutes in allen Zweigleitungen
geändert, wenn in einer Zweigleitung der Widerstand ein an-
derer wird.
Ein Beispiel mag dies zeigen!). Eine konstante Kraft (K) soll das Blut
in dem Kreise (Fig. 56) bewegen. Wenn in dem breiten unverzweigten Stücke
der Widerstand — 1, in den beiden engen Stücken je = 10 ist, so ist
‚(die Strommenge in dem unverzweigten Stücke = 10 gesetzt) die Strommenge
in jedem der beiden schmalen Kanäle — 5. Wenn der eine dieser beiden
Kanäle nun aufs Vierfache Fig. 56.
erweitert wird, so daß der
Widerstand in ihm nur noch
ein Viertel von 10, also
— 2,5 ist, so nimmt die ge-
samte Strommenge, da die
Widerstände im ganzen ja
kleiner geworden sind, natür-
lich zu, und zwar steigt sie
in dem speziellen Falle von
1 auf 2, wie sich rechnerisch Einfluß einer Widerstandsänderung in einem verzweigten Strom-
zeigen läßt. Natürlich fließt kreis aufdie Menge, bzw. Geschwindigkeit des strömenden Blutes.
. . . H = Herz, W = Widerstand, M = Strommenge,
nun nicht mehr gleichviel i ea r
durch die beiden Kanäle, sondern durch den viermal so weiten fließt auch
viermal so viel. Da durch beide zusammen doppelt so viel wie früher fließt,
so Hießt durch den breiteren eine Menge — 16 und durch den schmäleren
eine Menge — 4, während vorher durch beide je 5 hindurchfloß. Im breiter
gewordenen Kanale hat also die Strömung beträchtlich zugenommen, in dem
unveränderten hat sie etwas abgenommen, und zwar proportional der all-
gemeinen Blutdrucksenkung, die ebenfalls, wie sich rechnerisch zeigen läßt,
1/5 beträgt.
!) Der Einfachheit halber ist bei diesem Beispiel vorausgesetzt, daß sich
durch die Erweiterung des Zweigrohres das Volum des unverzweigten Rohres nicht
ändert.
736 Gefäßerweiterung und Verengerung.
Eine lokale Gefäßerweiterung (ohne Kompensation) hat also zur Folge:
1. eine allgemeine Blutdrucksenkung,
2. eine bessere Versorgung des betreffenden Gebietes (aktive Hyperämie),
3. eine etwas schlechtere Versorgung sämtlicher anderer Gebiete (kolla- ,
terale Anämie).
Eine Gefäßverengerung hat die umgekehiıte Folge: Durch die Gefäß-
erweiterung und bessere Blutversorgung wird das Volum eines Organes größer;
das immer erneuerte Blut wird weniger venös, das dunkle Blut der ab-
führenden Venen rötet sich, und die Temperatur des Organes steigt im all-
gemeinen, weil in der Zeiteinheit durch das zirkulierende Blut mehr Wärme
zugeführt und an das Organ abgegeben wird!). Man sieht dies sehr schön
nach der Durchschneidung von Nerven, welche hauptsächlich konstriktorische
Fasern führen (z. B. Rötung und Temperaturerhöhung im Ohre des Kaninchens
nach Sympathicusdurchschneidung), sowie nach Reizung von Nerven, welche
hauptsächlich dilatatorische Fasern führen (z.B. Ausfluß wärmeren hellroten
Blutes aus der Vena submaxillaris nach Reizung der Chorda — wobei
allerdings auch die Wärmeproduktion der tätigen Drüse selbst eine Rolle
spielt).
Bei Gefäßverengerung, die unter Umständen so weit getrieben werden
kann, daß das Gefäßlumen völlig verschwindet (sehr gut sichtbar z. B. bei
Sympathicusreizung am Ohr ‘oder bei Ischiadicusreizung an der Frosch-
schwimmhaut), treten die umgekehrten Erscheinungen auf, Verlangsamung
des Blutstromes, Verkleinerung des Organvolums, stärkere Venosität des
abfließenden Blutes, Temperatursenkung (falls Wärmeverlust im Organ statt-
findet) und Blutdrucksenkung im Capillargebiete.
Während man also mit Sicherheit sagen kann, daß eine Erschlaffung der
Konstriktoren eine Vermehrung der Blutzufuhr zu dem betreffenden Organe zur
Folge hat, tritt eine gleichzeitige Drucksteigerung im Oapillargebiete nur dann
auf, wenn die Gefäßerweiterung, wie man heute allgemein annimmt, im wesent-
lichen in den kleinen Arterien erfolgt. Denn die bei einer Erweiterung der
Arterien immer eintretende (aber eventuell. kompensierte) allgemeine Blut-
drucksenkung kann aus begreiflichen Gründen nie so groß sein, daß sie den
lokalen Einfluß der Gefäßveränderung aufhöbe. Erfolgt dagegen die Gefäß-
erweiterung in den Capillaren selbst, so hat das eine Drucksenkung in den
Capillaren zur Folge. Das Umgekehrte gilt bei Gefäßverengerung.
Dieses einfache Schema von der mechanischen Wirkung einer Änderung
der Gefäßweite muß allen Untersuchungen über Gefäßinnervation, auf die hier
nicht einzugehen ist, zugrunde gelegt werden. Das, was zur Geltung kommt,
ist nicht immer die direkte Wirkung, sondern es sind die Folgen der Regu-
lationsvorgänge, die sich anschließen und die den Druck mehr oder weniger
schnell ausgleichen bzw. überkompensieren. Wir möchten aber auch hier
hervorheben, daß die Mannigfaltigkeit der auf nervösem Wege vermittelten
Reflexe (bzw. der durch die mechanischen oder chemischen Eigenschaften des
Blutes direkt hervorgerufenen Kompensationsvorgänge) eine außerordentlich
!) Wenn die dem Organ zugeführte Mehrwärme, wie bei der Erweiterung der
Hautcapillaren, sofort an die Außenluft abgegeben wird, und wenn dadurch gleich-
zeitig eine stärkere Wasserverdunstung von der Haut hervorgerufen wird, kann
es zu einer Temperaturerniedrigung kommen.
er ee
Bedeutung der Gefäßweite. 737
große ist; sie verdunkeln häufig in praxi durchaus das Bild der mechanischen
Vorgänge, so daß es oft schwierig ist, die mechanische Analyse durchzuführen.
Wie groß die regulatorischen Fähigkeiten des Organismus sind, davon
geben unter anderen die schönen Untersuchungen von Tigerstedt!) ein
markantes Beispiel, der fand, daß auch nach Ausschaltung einer ganzen
Lunge (das würde also rein mechanisch eine Verdoppelung des Widerstandes
im Gesamtkreislauf bedeuten) der Druck im großen Kreislauf annähernd
konstant bleibt, was zu beweisen scheint, daß auch mittels der halben Strom-
bahn das linke Herz mit derselben Blutmenge gespeist wird, wie vorher.
$ 38.
Lumenweite der großen Gefäße.
Wenn nun auch die Gefäßänderungen wesentlich in den kleinen Arterien
vor sich gehen, und wenn auch die großen Arterien so weit sind, daß sie im all-
gemeinen einer Änderung der Blutgeschwindigkeit keinen erheblichen Wider-
stand entgegensetzen, so ist doch die relative Weite der größeren Gefäße nicht
belanglos: sie haben sich in ihrer Weite dem mittleren Blutbedürfnis
derjenigen Organe, welche sie versorgen, angepaßt, und man kann
daher umgekehrt aus der relativen Weite Rückschlüsse auf das
Blutbedürfnis der Organe anstellen. Der erste, der dies scharf formu-
liert und die theoretischen Bedingungen dafür entwickelt hat, war Roux, in
seinem „Kampf der Teile im Organismus“. Die betreffenden Daten finden
sich zum Teil in den Handbüchern der deskriptiven Anatomie. Physiologisch
bearbeitet sind die Beziehungen zwischen Arteriendurchmesser und Organ-
gewicht von Thome&?) unter Hürthles Leitung. Die Annahme, daß die durch
die größeren Gefäße strömende Blutmenge der vierten Potenz des Gefäß-
durchmessers proportional sei, könnte selbst dann kaum richtig sein, wenn
sie auch scheinbar durch Experimente bestätigt wird. Deshalb sollen die
numerischen Resultate nicht erwähnt werden, trotzdem es aus den Unter-
suchungen hervorzugehen scheint, daß gesetzmäßige Beziehungen existieren.
Thom& gibt an, am höchsten sei der Blutversorgungskoeffizient der
Niere, am niedrigsten der des Gehirns, die anderen Organe, z. B. das Herz,
stehen dazwischen; doch scheint besonders die Angabe über das Hirn nicht
einwandfrei zu sein. (Die Lunge ist von dem Verfasser nicht berücksichtigt,
sie hat natürlich den größten Blutversorgungskoeffizienten, denn durch sie
fließt ebensoviel Blut wie durch alle anderen Organe zusammen — allerdings
ist dies eben venöses Blut, das ja nicht als Versorgungsblut gelten kann,
dieses wird durch das Bronchialarteriensystem geliefert. Ähnlich liegen die
Verhältnisse bei der Leber.)
Hierher gehört auch die oft ventilierte Frage, ob etwa die weitere linke
Carotis (bzw. der Umstand, daß sie einen stumpferen Winkel mit der Strömungs-
richtung in der Aorta bildet als die rechte Carotis) eine bessere Blutversorgung
der linken Hemisphäre und dadurch ein anatomisch gegebenes Prävalieren
der rechten Körperhälfte bedingte. Zuerst wurde in dem Artikel über
!) Tigerstedt, Über den Kreislauf der linken Lungenarterie, Skand. Arch.
20, 231, 1907; 19, 44, 19, 1906. — °?) Thome&, Arteriendurchmesser und Organ-
gewicht, Pflügers Arch. 81, 574, 1900.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 47
-
738 Rechte und linke Carotis. — Collateralkreislauf.
vergleichende Anatomie der Encyclopaedia britannica (1810).dieser Umstand
erwähnt.
Ogle!) behauptete dann, daß der direkte Abgang der linken Carotis
communis von der Aorta ohne vorherigen gemeinsamen Stamm mit der Subelavia
eine bessere Blutversorgung der linken Gehirnhälfte bedingt, während Chud-
leigh?) im Gegenteil behauptet, daß das rechte Hirn besser ernährt werde,
und daß das Prävalieren der rechten Körperhälfte von der gleichzeitigen
besseren Ernährung der rechten Seite herrühre.. Auch Lüddeckens?) tritt
noch neuerdings für die bessere Blutversorgung des linken Hirnes ein. Die
meisten neueren Untersucher dieser Frage, Sigerson®), Kellogg’),
Howell®), Hecht’), Cunningham°) und Weber?) leugnen jedoch diesen
Einfluß vollständig. Man sieht also, wie wenig wir imstande sind, den Einfluß
der Gefäßweite im einzelnen zu beurteilen, und dabei ist der vorgetragene
Fall noch weitaus der bestuntersuchte. Die anderen Untersuchungen, welche
sich mit der Abhängigkeit der Blutversorgung von der Gefäßweite beschäftigen,
behandeln meistens pathologische Fälle und gehören nicht hierher.
Sehr interessant auch vom rein mechanischen Standpunkte sind die
Untersuchungen über die Blutverschiebungen im Körper bei verschiedenen
psychischen Zuständen. Doch würde ein näheres Eingehen hierauf zu weit
führen. Eine gute Übersicht und genügende Hinweise auf die einschlägige
Literatur findet man in der letzten Arbeit von Weber !P).
Daß unter abnormen Bedingungen sich die Weite der einzelnen Gefäße
außerordentlich stark ändern kann, ist bekannt. Besonders kommt dies in
Betracht beim Collateralkreislauf, der aus der Erweiterung früherer enger
Nebenbahnen entsteht, wenn das Hauptgefäß abgeklemmt ist. Daß diese Er-
weiterung nicht etwa rein passiv durch den starken Druck des eingeengten
Blutes hervorgerufen wird, darf als sicher gestellt gelten; dagegen ist die
wahre Ursache noch nicht einwandfrei nachgewiesen. Nach Bier !!) kommt
bei der Entstehung des Collateralkreislaufes die Eigenschaft des anämischen
Gewebes, Blut aktiv anzulocken, in Betracht oder es handelt sich um mecha-
nische (Recklinghausen!2),Nothnagel!?) und funktionelle (Katzenstein!#)
!) Ogle, On .dextral pro-eminence, Lancet 1871, p.49. — ”) Chudleigh, Brit
med. Journ. 1885, p. 1141. — °) Lüddeckens, Rechts- und Linkshändigkeit,
Leipzig 1900. — *) Sigerson, Considerations on dextral pro-eminence, Proc. Roy.
Ir. Akad. 1884, p. 38. — °?) Kellogg, Physiology of right and left handness, Journ.
of Am. med. Ass., p. 356. — °) Howell, Influence of high arterial pressure upon
the blood flow through the brain, Am. Journ. of Physiol.1, 57, 1898. — 7) Hecht,
Zur Kenntnis der Rechts- und Linkshändigkeit, Deutsche med. Wochenschr. Nr. 32.
— °) Cunningham, Journ. of the Anthr. of Gr. Br. 1902, p. 288. — °) .E.Weber,
Ursachen und Folgen der Rechtshändigkeit, 1905. — '!°) Derselbe, Über die Ur-
sache der Blutverschiebung im Körper bei verschiedenen psychischen Zuständen,
Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1907, 8.294. — '') A. Bier, Die Entstehung des Colla-
teralkreislaufs, Virchows Archiv 147 u.153. — '*) v. Recklinghausen, Handbuch
der allgem. Pathologie des Kreislaufes .u. der Ernährung, Deutsche Chirurgie Liefrg.
2u.3. — ®) H. Nothnagel, Über Anpassungen u. Ausgleichungen bei patho-
logischen Zuständen, Zeitschr. f. klin. Medizin 15 u. Suppl. zw 17. — '*) M.Katzen-
stein, Die Unterbindung der Aorta, ihre physiologische u. ihre therapeutische Be-
deutung, Langenbecks Archiv 76; Derselbe, Über Entstehung u. Wesen des
arteriellen Collateralkreislaufes, Deutsche Zeitschr. f. Chirurgie 77 u. 80; Derselbe,
Über eine neue Funktionsprüfung des Herzens, Deutsche Med. Wochenschr. 1904,
Nr. 21 u. 22.
er in
.
Spezielle Physiologie des Kreislaufes einzelner Organe. 739
Anpassungserscheinungen. Von diesen sind einmal die Anpassung des Herzens
an die erhöhten Widerstände zu nennen (Katzenstein), während Nothnagel
die allmähliche Erweiterung der Collateralen als eine Folge der durch den
höheren Druck hervorgerufenen anatomischen Umwandlung der Gefäß-
muskulatur und der Gefäßwandung überhaupt ansieht. (Vgl. auch die älteren
Arbeiten von Pirogoff!), Latschenberger 2), Lichtheim 3) und
Talma).
8 39.
Spezielle Physiologie des Kreislaufes einzelner Organe.
Aber auch abgesehen von der Art und Weise der Blutverteilung und
von der Menge des den einzelnen Organen zuströmenden Blutes liegen die
Verhältnisse bei den einzelnen Körperteilen etwas verschieden. Man könnte
sehr wohl eine spezielle Mechanik der einzelnen Organe schreiben, doch sind
hierzu im einzelnen noch kaum die Anfänge gemacht.
Einiges ist beiläufig schon erwähnt.
Die Ernährung des Herzens durch den Koronarkreislauf im $15 auf S. 694.
Die Ernährung der Leber durch den kombinierten Zustrom von Pfort-
ader und Leberarterie. (Siehe $ 4 auf S. 671 und 673.)
Die eigenartigen Zirkulationsverhältnisse in der Niere mit den zwei
hintereinander geschalteten Kreislaufsystemen und anderes mehr. (Siehe $ 4.)
Eine ganz gesonderte Stellung nimmt der Lungenkreislauf ein, dessen
genaue Beschreibung sich deshalb erübrigt, weil jüngst Tigerstedt5) diesem
Gegenstand eine monographische, ausführliche Behandlung gewidmet hat.
Vor allem aber liegen die Verhältnisse im Gehirn und auch am Auge
prinzipiell anders. Es ist dies dadurch bedingt, daß hier das ganze System
in eine mehr oder minder feste Kapsel eingeschlossen ist. Man hat früher ge-
glaubt, daß besonders im Gehirn eine Vergrößerung des Arterienvolums eine Ver-
schlechterung der Blutversorgung bedinge, weil dadurch die Venen zusammen-
gepreßt und .eine venöse Stauung hervorgerufen würde. Umgekehrt sollte
eine Verkleinerung des Arterienlumens eine Besserung der Zirkulation zur
Folge haben. Das ist nun sicher unrichtig. Doch ist die ganze Frage nach
der Blutversorgung im Schädel eine heute noch ungeklärte, soweit es sich
eben um Besonderheiten der Zirkulation im Schädel handelt.
Auch ist eine gesonderte Betrachtung genannter Spezialfälle im Rahmen
dieses Abschnittes deshalb schwierig, weil hierbei nervöse Einflüsse wesentlich
mitsprechen. Es mag also genügen, in bezug auf den Hirnkreislauf, dessen
ganz besondere mechanische Bedingungen an sich sehr wohl eine gesonderte
Betrachtung verdienten, auf die unten zusammengestellte Literatur zu ver-
weisen, vor allem auf die zusammenfassenden Darstellungen von Geigel (1890),
Hill(1896), Fuchs (1899), Kocher (1901) (vgl. auch hierzu den $ 9, S. 683), wo
!) Pirogoff, Über die Möglichkeit der Unterbindung der Aorta abdominalis.
Journ. d. Chir. u. Augenheilkunde 24, 1838. — ?) Latschenberger (u. Deahna),
Beiträge zur Lehre von der reflektorischen Erregung des Gefäßmuskels, Pflügers
Archiv 12, 157, 1876. — ®) Lichtheim, Die Störungen des Lungenkreislaufes und
ihr Einfluß auf den Blutdruck, Berlin 1876. — *) Talma, Über collaterale Zirku-
lation, Pflügers Archiv 23, 231, 1880. — °) Tigerstedt, Der kleine Kreislauf, Er-
gebnisse d. Physiol. 2. Jahrg. II, 1903.
47*
740 Hirnkreislauf.
sich die Angaben über die hydrostatischen Verhältnisse im Gehirn zusammen-
gestellt finden.
W. M. Bayliss u. L. Hill, On intra-cranial pressure and the cerebral circu-
lation, Journ. of Physiol. 18, 334, 1895. — Berger, Zur Lehre von der Blut-
zirkulation in der Schädelhöhle des Menschen, Fischer, Jena 1901. — Cannon,
Cerebral Pressure following trauma, Amer. Journ. of Physiol. 4, 91, 1901. —
Cramer, Experim. Untersuchungen über den Blutdruck im Gehirn, Inaug.-Diss.
Dorpat 1873. — Dean, Cerebro-Spinal Pressure, Journ. of Pathol. and Bacteriol.
1892. — R.F. Fuchs, Zur Regulierung der Blutzirkulation im Gehirn, Sitzungsber.
d. deutsch. naturwissensch. Vereins für Böhmen „Lotos“ 1899, Nr.3. — Gärtner
u. Wagner, Über den Hirnkreislauf, Wien. med. Blätter 1887. — Geigel, Die
Mechanik der Blutversorgung des Gehirns, Stuttgart 1890. — Derselbe, Ein hydro-
dynamisches Problem in seiner Anwendung auf den Gehirnkreislauf, Sitzungsber.
d. phys.-med. Ges., Würzburg 1903; Arch. f. pathol. Anat. 174, 434. — Derselbe,
Die Rolle des Liquor cerebralis bei der Zirkulation im Schädel, Pflüg. Arch. 109,
337, 634, 1905. — H. Grashey, Experimentelle Beiträge zur Lehre von der Blut-
zirkulation in der Schädelrückgrathöhle, Festschr. £. Buchner, München 1892. —
L. Hill, On intra-cranial pressure, Proceed. Roy. Soc. 55, 52, 1894. — Derselbe,
The physiol. and pathol. of the cerebral eirculation, London 1896. — Derselbe,
Syncope produced in rabbits by the vertical feet down position, Journ. of Physiol.
22, LIIH, 1898. — Derselbe, On cerebral anaemia and the effects wich follow
ligation of the cerebral arteries, Proceed. Roy. Soc. 66, 480, 1900. — Howell, The
influence of high arterial pressure upon the blood flow through the brain, Amer.
Journ. of Physiol. 1, 57, 1898. — Jensen, Zur Mechanik des Gehirnkreislaufes,
Pflügers Arch. 107, 81, 1905. — Th. Kocher, Hirnerschütterung, Hirndruck und
chirurgische Eingriffe bei Hirnkrankheiten, Hölder, Wien 1901 (vgl. hier vor allem
das vorzüglich geschriebene Kapitel „Zur Physiologie der Hirnzirkulation*). —
Knoll, Über die Druckschwankungen in der Cerebrospinalflüssigkeit und den
Wechsel in der Blutfülle des zentrischen Nervensystems, Sitzungsber. d. k. Akad.
d. Wiss. 93 [3], 1886. — Derselbe, Beiträge zur Lehre von der Blutbewegung in
den Venen, III. Mitt., Über Wechselbeziehung zwischen den Druckverhältnissen in
den Arterien und Venen des großen Kreislaufes, Pflügers Arch. 73 (1898). —
Lewandowsky, Zur Lehre von der Cerebrospinalflüssigkeit, Zeitschr. f. klin.
Med. 40, 480, 1900. — Lewy, Zur Lehre von der Blutbewegung im Gehirn, Arch.
f. experim. Pathol. 50, 319, 1908. — Mosso, Über den Kreislauf des Blutes im
menschlichen Gehirn, Leipzig 1881. — Nothnagel, Die vasomotorischen Nerven
der Gehirngefäße, Virch. Arch. 40 (1867). — Orleansky, Über die kranio-cere-
brale Blutzirkulation bei akuter Asphyxie mechanischen Ursprungs, Diss. aus Bech-
terews Laboratorium 1902. — Reiner u. Schnitzler, Über die Abflußwege des
Liquor cerebrospinalis, Strickers Fragmente a. d. Gebiet d. experim. Pathol. 1894. —
Dieselben, Beitrag zur Kenntnis der Blutzirkulation im Gehirn, Arch. f. experim.
Pathol. 38, 249. — Dieselben, Zur Lehre vom Hirndruck, Wien. med. Blätter
1895, Nr.20. — Roy u. Sherrington, On the regulation of the bloodsupply of
the brain, Journ. of Physiol. 9 (1890). — Siven, Experimentelle Untersuchungen
über den Einfluß der Körperstellung und Respiration auf die Gehirnbewegung beim
Hunde, Zeitschr. f. Biol. 35, 506, 1897. — Derselbe, Beitrag zur Kenntnis des nor-
malen intrakraniellen Druckes, Skand. Arch. “2. Physiol. 8, 347, 1898. — Spina,
Experim. Untersuchungen über den Einfluß von Rückenmarkdurchtrennung auf
den Kreislauf des Gehirns, Wien. klin. Wochenschr. 1897. — Derselbe, Experim.
Beitrag zur Kenntnis der Hyperämie des Gehirns, Wien. med. Blätter 1898. —
Derselbe, Über den Einfluß des hohen Blutdruckes auf die Neubildung der Cere-
brospinalflüssigkeit, Pflügers Arch. 80, 390, 1900; Untersuchungen über die Re-
sorption des Liquors bei normalem und. erhöhtem intrakraniellen Druck, Pflügers
Arch. 83, 120, 415, 1900. — Wiechowski, Über den Einfluß der Analgetica auf
die intrakranielle Blutzirkulation, Arch. f. experim. Pathol. 48, 376, 1902. — Der-
selbe, Über experimentelle Beeinflussung des Kontraktionszustandes der Gefäße
des Schädelinnern, ebenda 52, 389, 1905. — Ziegler, Über die Mechanik des
normalen und pathologischen Hirndruckes, Arch. f. klin. Chirurgie 53 (1896).
he
Blutmenge. 741
Über die Zirkulationsverhältnisse im Auge vgl. vor allem die klassische
Arbeit von Leber in Gräfe-Sämisch Handb. d. ges. Augenheilkunde, 2. Aufl.,
52. bis 58. Lieferung, sowie den Abschnitt über die Ernährung des Auges
von Otto Weiss in dem ersten Bande dieses Handbuches auf S.448 bis 468,
wo sich auch die notwendige Literatur findet. Über die Zirkulationsverhält-
nisse in den anderen Organen ist bis jetzt zu wenig bekannt, als daß sich
eine gesonderte Betrachtung empfehlen würde.
$ 40.
Blutmenge.
Die im Körper eines Menschen enthaltene Blutmenge wird auf Grund
verschiedenartigster Erwägungen auf 7,7 Proz. (1/,; des Körpergewichts) ge-
schätzt. Das sind für einen Menschen von 60 kg etwa 4,6 kg.
Die Methoden, die Blutmenge zu bestimmen, beruhen auf der tinktoriellen
Kraft des Blutes, auf seinem Gehalt an Blutkörperchen, auf irgend einer chemischen
Eigenschaft des Blutes oder Ahnlichem; sie sind daher unter der Physiologie des
Blutes abzuhandeln.
Die gesamte in dem Gefäßsystem enthaltene Blutmenge muß von großem
Einfluß auf den Blutdruck sein. Wenn in einem System von elastischen
"Röhren Flüssigkeit abgelassen wird, sinkt der Druck, wenn neue Flüssigkeit
hineingepreßt wird, steigt er. So ist es auch beim lebenden Tier. Aber
beides, Steigen und Sinken, findet nicht in dem Maße statt, wie es nach
mechanischen Gesetzen der Fall sein müßte. Ist schon gleich bei der Trans-
‘ fusion bzw. dem Aderlaß der Blutdruck „normaler“, als er sein müßte, so
haben vor allem die Experimente von Magendie!) und der Ludwigschen
Schule [Tappeiner?), Worm-Müller?) u. a.] ergeben, daß auch die über-
haupt auftretenden Änderungen sehr schnell wieder vorübergehen.
Nach den genannten Autoren hat sowohl Blutentziehung bis zu 40 Proz.
der gesamten Blutmenge (das wären für einen Menschen fast 2 Liter) als auch
Bluttransfusion von mehr als dem 1!/,fachen der gesamten Blutmenge keinen
erheblichen dauernden Einfluß auf den Blutdruck.
Dem stehen nur die Angaben von Ronsse*) gegenüber, welcher bereits nach
Entziehung von 1, Proz. der Blutmenge beim Kaninchen, 1 Proz. beim Hunde den
Druck bis zu einem gewissen Grade wieder ansteigen sah, aber eine geringe Blut-
druckerniedrigung dauernd gefunden haben will.
Die Mehrzahl der Versuche beweist also, daß der Körper über aus-
gezeichnete Regulationsmechanismen verfügt. Diese Regulationsmechanismen,
welche einer Überfüllung des Gefäßsystems vorbeugen sollen, sind an ver-
schiedenen Stellen gesucht worden.
1. Die Leber soll einen großen Teil der zugeführten Menge aufnehmen
[Stolnikow°), Dastre et Loye°), Johansson und Tigerstedt’)].
!) Magendie, Compt. rend. de l’Acad. 1838, p. 55. — *) Tappeiner, Ber.
d. sächs. Gesellsch. d. Wissensch., math.-physik. Kl, 1872, 8. 199. — °) Worm-
Müller, ebenda 1873, 8. 573. — *) J. Ronsse, Einfluß des Aderlasses auf den
Blutkreislauf, Zentralbl. £. Physiol. 12, 377 bis 380, 1898. — °) Stolnikow, Die
Eichung des Blutstromes in der Aorta des Hundes, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1886,
8.46. — °) Dastre u. Loye, Le lavage du sang 1888; Arch. de physiol. 4 (2)
93,:1888. — 7) Johansson u. Tigerstedt, Über die gegenseitigen Beziehungen
des Herzens und der Gefäße, Skand. Arch. f. Physiol. 2, 396, 1889.
742 Konstanz des Blutdruckes.
2. Transsudation in Brust und Bauchhöhle, sowie in das Unterhaut-
bindegewebe [Worm-Müller!) und v.Regeczy°)]. Über die Frage, wie weit diese
Transsudation wirksam ist, vgl. Cohnstein und Zuntz°), welehe nachwiesen, daß
erst eine Stunde nach der Transfusion eine höhere Konzentration beobachtet wird.
3. Vermehrte Sekretion des Darmes und der Niere (Dastre und
Loye). Da aus den Arbeiten von Erlanger und Hooker‘) hervorgeht, daß die.
Intensität der Nierensekretion direkt proportional dem Blutdruck ist, so geht die
vermehrte Sekretion so lange vor sich, bis der normale Druck und damit auch
die normale Blutmenge erreicht ist, vgl. jedoch auch den Abschnitt von Metzner
in diesem Handbuch.
4. Gefäßerweiterung, wahrscheinlich Depressorwirkung.
Bei Verblutung treten die umgekehrten Erscheinungen ein. Die Leber gibt
das Reserveblut, wenn auch sehr allmählich, her, Serum transsudiert aus den um-
gebenden Geweben in das Gefäßsystem, das sich in seinen peripheren Ausläufern'
kontrahiert, und die Nierentätigkeit stockt.
Man sieht, alle diese Momente dienen dazu, trotz der veränderten Blutmenge
den normalen Blutdruck aufrecht zu erhalten; das ist wichtig, denn einmal kann
die Ernährung in den Capillaren nur bei normalem Blutdruck erfolgen, dann aber
— und das ist für die Mechanik des Kreislaufs wichtiger — kann das Herz nur bei
annähernd normalem Druck gut arbeiten. (Vgl. Abschnitt über Innervation der Gefäße.)
Bei einer geringen Vermehrung der Blutmenge wirft zwar das Herz mehr
aus als in der Norm, aber bald kann das Herz die große Flüssigkeitsmenge nicht
mehr bewältigen (Johansson u. Tigerstedt?°) auf Grund plethysmographischer
Versuche).
Es liegt nahe, hierbei an die Oertelschen Anschauungen über das Vermaiiih
des Herzens bei zu großem Flüssigkeitsgenuß zu denken, doch scheint diese Vor-
stellung auf Grund Pawlowscher‘°) experimenteller Untersuchungen, bei denen
Hunde, die mit wasserarmer und mit wasserreicher Kost gefüttert wurden, denselben
Blutdruck hatten, unrichtig zu sein. Wahrscheinlich handelt es sich auch bei dem -
Bierherzen nicht um eine Wirkung der zu viel genossenen Flüssigkeit, sondern
trotz allem um eine direkte Alkoholwirkung. Es kommt eben bei reichlicher Flüssig-
keitsaufnahme in den Darm gar nicht zu einer merklichen Vermehrung des Blutes;
schon die geringste Blutdrucksteigerung infolge beginnender Plethora führt bei
gesundem Herzen zu einer vermehrten Harn- und Schweißabsonderung, so daß es
zu einer Störung nicht kommen und man fast sagen kann, jeder eingeführte Tropfen
wird gleich von der Niere bzw. Haut wieder ausgeschieden; allerdings tritt auch
eine stärkere Infiltration in das Bindegewebe bei kontinuierlich vermehrter Flüssigkeits-
zufuhr auf — ob allerdings hierauf das schwammige Aussehen der Säufer direkt
beruht, ist nicht ausgemacht. Nur in exzessiven Fällen, wenn man dem Tiere ganz
das Wasser entzieht, kommt es zu einer Veränderung, in diesem Falle also zu einer
Verminderung der Flüssigkeit auch im Gefäßsystem und zu einer, wenn auch mini-
malen Blutdrucksenkung.
Johansson u. Tigerstedt°) haben schon früher darauf N . daß
Kochsalz- (resp. Ringer-)lösung sogar besser sei als defibriniertes Blut. C. Tiger-
stedt?) schreibt das dem Umstande zu, daß bei der Bluttransfusion nicht wie
bei Kochsalztransfusion durch Verdünnung des Blutes der peripherische Wider-
stand herabgesetzt wird.
!) Worm-Müller, l. e. 8. 647. — ?) v. Regäczy, Die Ursache der Stabilität
des Blutdruckes, Pflügers Arch. 37, 73, 1885. — °) Cohnstein u. Zuntz, Unter-
suchungen über den Flüssigkeitsaustausch zwischen Blut und Geweben unter ver-
schiedenen physiol. und pathol. Bedingungen, Pflügers Arch. 42, 317, 1888; vgl.
auch ebenda 8. 342. — *) Erlanger u. Hooker, An experimental study of blood-
pressure and of pulse-pressure in Man, Johns Hopkins Rep. 12, 145, 1904. —
°) Johansson u. Tigerstedt, Skand. Arch. 1, 394, 1889. — °) Pawlow, Ex-
perimenteller Beitrag zum Nachweis des Accommodationsmechanismus der Blut-
gefäße, Pflügers Arch. 16, 266, 1878 und Innervation der Blutbahn 20, 213, 1879, —
?) C. Tigerstedt, Zur Kenntnis des Kreislaufes bei vermehrter Blutmenge. Skand.
Arch. 20, 197, 1908.
Verblutung und Transfusion. — Relative Konstanz der Blutmenge. 743
Wenn nun aber einmal plötzlich durch Verblutung das Gefäßsystem relativ
leer wird und demzufolge der Blutdruck stark sinkt, dann entsteht ein Circulus
vitiosus: Das Herz, das den Blutdruck wieder herstellen sollte, kann nur arbeiten,
wenn es durch einen genügend hohen Blutdruck ernährt wird; unter diesen
Umständen wirkt eine Kochsalztransfusion (Blut kann man nur von denselben oder
verwandten Tiersippen nehmen, also beim Menschen nur von anderen Menschen
oder von den allerdings schwer zu beschaffenden Anthropoiden) lebensrettend. Die
Fig. 57.
Wirkung einer intravenösen Kochsalztransfusion beim entbluteten Tier.
auf Fig.57 abgebildete Kurve illustriert einen derartigen Versuch beim Kaninchen; .
das Tier war aus einer Carotis verblutet, bis kein Tropfen Blut mehr herausfloß
und das Herz, wie die Kurve zeigt, still stand. Dann wurde die Carotis unter-
bunden und man ließ in die Vena jugularis Kochsalzlösung einfließen. Man sieht,
daß der abgesunkene Blutdruck beim Einfließen nicht steigt, und daß erst die
wieder erwachende Herztätigkeit diese Steigerung im arteriellen System hervorruft,
und zwar sicherlich, ehe eine so große Menge von Flüssigkeit in das Gefäßsystem
geflossen ist, daß sie durch ihre Menge etwa imstande wäre, den Blutdruck zu
heben (als die Herztätigkeit beginnt, sind etwa 2ccem eingeflossen).
Plethora und Blutarmut.
Bei der Schnelligkeit, mit der Blut bzw. Serum aus dem Gefäßsystem
heraus- und hineindiffundiert, kann eine dauernde Plethora bzw. eine
dauernde Blutarmut des Körpers nur durch Änderung der Sekretions-
verhältnisse in der Gefäßwand zustande kommen. Plethora bzw. wahre Blut-
armut sind daher immer sekundäre Zustände; ihr eigentlicher Grund liegt in
krankhaften Veränderungen der Gefäßwand bzw. in einer Abänderung der
Innervationsverhältnisse.
Die Blutmenge ist von Sekretionsverhältnissen abhängig, von der Menge
hängt wiederum der Blutdruck ab. Hill!) hat also durchaus recht, wenn er
seine diesbezüglichen Versuche dahin zusammenfaßt, daß er sagt: Wenn ein
derartiger positiver Mitteldruck im Gefäßsystem existiert, so muß er vom osmoti-
schen Druck des Blutes oder irgend einer Selektivkraft des Capillarepithels her-
rühren. Es ist kein Gegenbeweis, daß es auch anders bedingte pathologische Fälle
von wahrer Plethora resp. Anämie gibt. So ist es bekannt, daß gewisse Anämien
Chlorotischer auf ein von Natur relativ zu enges Gefäßsystem zurückzuführen sind.
Hierbei ist jedoch keine Wirkung auf den Blutdruck vorhanden.
Wenn man einem Tiere so viel Kochsalzlösung ins Blut injiziert, daß die Niere
nicht imstande ist, genügend davon auszuscheiden, so bleibt die Flüssigkeit dennoch
nicht im Gefäßsystem, sondern diffundiert in das Unterhautzellgewebe (Anasarka);
besonders der Panniculus adiposus in den Weichen findet sich unter diesen Um-
ständen immer sulzig durchtränkt (Knoll?); vgl. auch die Arbeit von Baranoff?).
») Hill, On the residual pressures in the vascular system when the cireulation
is arrested, Journ. of Physiol. 28, 122, 1901. — *) Knoll, Bemerkungen zur In-
fusion blutarmer physiologischer Kochsalzlösung in das Gefäßsystem, Arch. f.
experim. Pathol. 36 (3/4), 293. — ®) Katharina Baranoff, Beiträge zur Theorie
der Flüssigkeitsentziehung in der Behandlung der Zirkulationsstörungen. (Med.
Klin. Bern.) Dissertation. 8. 60 S. Bern 1895.
744 Infusion von Gasen.
Hier soll auch die oft ventilierte Frage erwähnt werden, inwieweit die Infusion
von Gasen schädigend wirkt. Daß eine geordnete Zirkulation unmöglich ist, wenn
erhebliche Mengen von Gas im Gefäßsystem sind, beruht im wesentlichen auf rein
mechanischen Gründen [vgl. z. B. Francois-Franck'!)]. Jedoch war die Furcht
vor Lufteintritt, besonders die der Chirurgen bei Operationen am Halse, über-
trieben. Als man sich gelegentlich der modernen Sauerstoffinfusionen näher mit
dem Treiben von Gasen im Blute beschäftigte [vgl. vor allem die Arbeiten von
Magnus®), Thunberg‘®) und Gärtner‘)], sah man, daß selbst Gasmengen, die
ein Plätschern im Herzen hervorrufen, das noch in nicht gar zu großer Entfernung
vom Herzen hörbar ist, ungefährlich sind.
Das Schlagvolum des Herzens.
$.4l.
Bedeutung des Schlagvolums.
Bei gleichbleibender Pulsfrequenz sind Schlagvolum des linken
‘ Herzens und Stromstärke (d. h. die Geschwindigkeit) in der Aorta ein-
ander proportional. Durch die Bestimmung der einen Größe ist also .die
andere gegeben und damit zugleich das Schlagvolum des rechten
Herzens, das ebenso groß sein muß wie das des linken, weil es sonst zu
einer Stauung käme. Nur in der Agone tritt nach Buday’) eine relativ
stärkere Füllung des rechten Herzens ein.
Demnach bestehen die Untersuchungsmethoden, um das Schlagvolum zu
bestimmen: .
1. in einer direkten Ausmessung der Ventrikelkapazität;
2. in einer indirekten Berechnung aus der Stromgeschwindigkeit in der
Aorta resp. aus dem Sekundenvolum; dazu kommt
3. der von Hoorweg (1898) zuerst unternommene Versuch einer Bi
rechnung des Schlagvolums aus der Pulskurve.
Komplizierter sind die Beziehungen des Schlagvolums zum Blutdruck.
Bei einer übermäßigen Steigerung des Aortendruckes müßte ein Moment
kommen, in dem das Herz kein Blut mehr auswerfen kann. Es wäre
jedoch falsch, anzunehmen, daß bei dem niedrigsten möglichen Drucke
das Schlagvolum am größten ist und bei höherem Drucke immer kleiner
werden muß. -Wir wissen, daß ein Muskel bei einer gewissen Spannung das
Maximum der Arbeit zu leisten vermag; wenn auch die einfache mechanische
Übertragung der Fickschen Vorstellung von isometrischer und isotonischer
Muskelzuckung auf die Herzsystole, wie sie. durch Frank’) vorgenommen,
!) Francois-Franck, Ch. A. Sur les mecanismes de la mort ä la suite de
Ventree de l’air dans les veines: Embolies coronaires cardiaques arterielles et
veineuses. Compt. rend. de la soc. de biol. 1903, 960 bis 962. — ?) R. Magnus,
Die Tätigkeit des überlebenden Säugetierherzens bei Durchströmung mit Gasen.
Arch. £. exper. Pathol. 47, 200 bis 208. — °) T. Thunberg, Über das Treiben von
Gasen durch das Gefäßsystem. Verhandlungen in Helsingfors 8. 54 bis 58. —
*) Gärtner, Über intravenöse Sauerstoffinfusionen. Wien. klin. Wochenschr. 1902,
Nr. 27/28. — °) K. Buday, Über die Herzfüllung während des Lebens und nach
dem Tode (von Baschs Labor., Wien), Zeitschr. f. klin. Med. 28, 348, 1895. —
6) Hoorweg, Über die Blutbewegung in den menschlichen Arterien, Pflügers
Arch. 46, 177, 1889. — 7) Frank, Zur Dynamik des Herzmuskels. Zeitschr. f.
Biol. 32, 370, 1895. Derselbe, Isometrie und Isotonie des Herzmuskels. Ebenda
31, 14, 1901.
in 2 er ie ed ie ee
09 Se ee ee Se Me
Bedeutung des Schlagvolums. 745
nicht ohne weiteres zulässig ist, weil ja eine Herzsystole gar keine einfache
Zuckung ist, so haben wir doch ähnliche Verhältnisse auch für das Herz an-
zunehmen (vgl. hierzu $ 78 auf 5.818). Genauere Angaben hierüber fehlen
allerdings, doch scheint es, daß praktisch der arterielle Druck keinen gar so
großen Finfluß auf das Schlagvolum besitzt (vgl. Johansson und Tiger-
stedt!). Allerdings hat Frank am Frosch festgestellt, daß bei gleich-
bleibendem venösen Zufluß mit steigendem Aortendruck die Schlagvolumina
erst zu- und jenseits einer gewissen Grenze wieder abnehmen.
Neuerdings?) hat auch Tigerstedt seine älteren Untersuchungen °)
über den Blutstrem in der Aorta wiederholt und kommt dabei zu Resultaten,
die in der Tat zu beweisen scheinen, daß beim Kaninchen die vom Herzen
geförderte Blutmenge bei einem mittleren Drucke von etwa 8cm Hg ihr
Maximum erreicht, während sie bei höherem und niedrigerem Druck stark:
und deutlich absinkt. Diese Feststellungen scheinen wertvoll trotz der
mannigfachen kritischen Bedenken, die Tigerstedt selbst ausführlich hervor-
hebt, und die im wesentlichen darin bestehen, daß bei den von ihm ver-
wendeten Mitteln der Blutdruckänderung gleichzeitig und bedeutsam der
peripherische Widerstand geändert wurde. Anders ist es mit dem venösen
Drucke. Von diesem ist das Schlagvolum in hohem Grade abhängig,
denn wenn nichts in das Herz hineinfließt, kann natürlich trotz größter Kraft-
entfaltung auch nichts hinausgeworfen werden. Die Tatsache, welche Howell
und Donaldson) gezeigt haben, daß, wenn der Druck in den Venen
völlig schwindet, auch das Schlagvolum verschwindet, ist wohl gleichzeitig
der beste Beweis dafür, daß das Herz nicht in nennenswerter Weise als Saug-
pumpe wirken kann (vgl. $ 98 bis 99).
$ 42.
Die Größe des Schlagvolums.
Direkte Messung.
Der Versuch, die Ventrikelkapazität durch Messung an toten Herzen zu be-
stimmen, ist wertlos, weil Elastizität und Tonus sicher verändert sind. Wie groß
die postmortalen Veränderungen am Herzen sind, geht am besten aus den Unter-
suchungen von Rothberger°) hervor |vgl. hierzu auch die Arbeit von Mosso u.
Pagliani‘), sowie Rothbergers’) Erwiderung]. Aber selbst Verwendung ganz
frischer, unveränderter Herzen führt nicht zum Ziel, weil man weder den Druck
kennt, bei welchem die Füllung des Herzens normal zustande kommt, noch weiß,
wieviel Blut jedesmal in dem Ventrikel zurückbleibt. Vertrauenerweckender sind
die Versuche, das Schlagvolum aus der systolischen Volumabnahme des ganzen
Herzens, welehe man plethysmographisch feststellen kann, abzuleiten. Als un-
bekannter Faktor kommt dabei die gleichzeitige Vermehrung des Volums durch
Einströmen in den Vorhof hinzu, dadurch erscheint das Schlagvolum zu klein;
!) Johansson und Tigerstedt, Skand. Arch. f. Physiol. 1, 331 und 2, 431.
— ?) Tigerstedt, Neue Untersuchungen über die vom linken Herzen heraus-
getriebene Blutmenge. Skand. Arch. 19, 1, 1907. — °) Tigerstedt, Ebenda 33,
145, 1891. — *) Howell u. Donaldson, Experiments upon the heart of the dog
with reference to the maximum volume of blood sent out by the left ventricle in
a single beat ete., Philosoph. Transaetions 183, 139, 1884. — °) Rothberger, Über
die postmortalen Formveränderungen des Herzens. Pflügers Arch. 99, 385, 1903.
— °) Mosso u. Pagliani, Ebenda 101, 102, 1904.— 7’) Rothberger, Ebenda 104,
401, 1904.
746 Messung des Schlagvolums.
dieser Fehler beträgt nach Rothberger'!) bis zu 30 Proz. Schwerwiegender ist
der Einwand, daß das in die Kapsel eingeschlossene Herz sich weder unter nor-
malen Bedingungen füllt, noch unter normalen Bedingungen entleert. Derartige
Versuche sind zuerst von Roy und Adami°) angestellt.
Indirekte Bestimmung.
Die Menge des in jeder Sekunde durch die Aorta fließenden Blutes, das soge-
nannte Sekundenvolum des Kreislaufes, fließt in jeder Sekunde nicht nur
durch den Querschnitt der Aorta, sondern auch durch beide Venae cavae zusammen,
durch die Lungenarterien, kurz durch jeden Gesamtquerschnitt®). Kennen wir das
Sekundenvolum (V) und die Pulszahl in der Sekunde (p), dann besteht zwischen
diesen Größen und dem Schlagvolum (S) die Beziehung $S = —, oder drücken wir
die Pulsfrequenz durch die Anzahl der Pulse pro Minute (P) aus, so haben wir
607
andererseits besteht zwischen der Geschwindigkeit in der Aorta c, deren Querschnitt
(9) und dem Sekundenvolum (V) die Beziehung V = c.gq, also
eh N
Nun glaubte man andererseits, das Sekundenvolum aus der Dauer des Kreis-
laufes berechnen zu können. Wenn man annimmt, daß während der Zeit (T) eines
sogenannten Kreislaufes wirklich alles Blut einmal die Aorta passiert, und wenn
ich die Gesamtmenge (B) des im Körper vorhandenen Blutes kenne, dann ist in
der Tat V = . also:
a
Wir haben also drei Formeln, aus denen wir das Schlagvolum berechnen:
1. aus Pulszahl und Sekundenvolum,
Zn 3 „ Aortenquerschnitt und Geschwindigkeit,
gun Z » Blutmenge und Umlaufszeit.
Die Blutmenge beträgt etwa 7 bis 8 Proz. des Körpergewichts, das sind für
einen 60 kg schweren Menschen etwa 4,5kg. Den Aortenquerschnitt kann
man an der Leiche bestimmen, er beträgt am Bulbus aortae etwa 6, beim Abgange
der Arteria anonyma etwa 4,4gem (d.i. etwa die Größe eines Zweimarkstückes und
eines Einmarkstückes). Die Pulsfrequenz ist leicht festzustellen. Es kommt also
praktisch darauf an, entweder die Umlaufszeit, die Aortengeschwindigkeit
selbst oder das Sekundenvolum experimentell zu ermitteln.
$ 43.
Die Ermittelung aus der Aortengeschwindigkeit und der
Umlaufsgeschwindigkeit®).
Alle Versuche, die Blutgeschwindigkeit direkt zu bestimmen oder indirekt
zu berechnen, haben außerordentliche Schwankungen von Sekunde zu Sekunde
ergeben, die nicht auf Versuchsfehlern zu beruhen scheinen. Eine Mitteilung
einzelner Zahlenwerte erscheint daher unnötig. Aus der Gesamtheit der Ver-
!) Rothberger, Über eine Methode zur direkten Bestimmung der Herzarbeit
im Tierexperiment, Pflügers Arch. 118, 353, 1907. — ?) Roy u. Adami, Brit. med.
Journ. 2, 1321, 1888. — ®) Über die Abweichung hiervon während der Agone siehe
S. 744 oben Buday, l. c. — *) Vgl. hierzu $ 32 bis 34 und Tigerstedt, Die Ge-
schwindigkeit des Blutes in den Arterien, Ergebn. d. Physiol. 4, 481, 1905.
5 Ze Se ee em
Die Umlaufsgeschwindigkeit. 747
suche ergibt sich, daß das Blut in den größeren Arterien (Carotis und Femoralis)
‚mit einer Geschwindigkeit fließt, die zwischen 10 und 50cm pro Sekunde
schwankt und im Mittel etwa 25cm betragen dürfte.
Die Geschwindigkeit in der Aorta ist meines Wissens niemals direkt
bestimmt worden. Volkmann!) und Vierordt?) haben versucht, dieselbe
aus der Geschwindigkeit in der Carotis zu berechnen. Ebenso Dogiel und
Ludwig. Die Möglichkeit einer derartigen Berechnung kann nicht geleugnet
werden, doch sind die dabei gemachten Fehler vorläufig nicht einmal der
Größenordnung und dem Sinne nach abzuschätzen. Jacobson?) hat an
dieser Methode berechtigte Kritik geübt. Bei jeder Berechnung der Ge-
schwindigkeit in der Aorta ist zu bedenken, daß hier nicht nur wie in allen
Arterien das Blut mit wechselnder Geschwindigkeit sich bewegt, sondern daß
wenigstens im Bulbus aortae während der Diastole das Blut überhaupt keine
Geschwindigkeit besitzt. Berechnet man die Durchschnittsgeschwindigkeit
aus dem Sekundenvolum (75) und dem mittleren Querschnitt der Aorta (d gem),
so erhält man 25 cm/sec, doch dürfte die maximale Geschwindigkeit mehr als
doppelt so groß sein.
Hermann (1896*) hat dann darauf aufmerksam gemacht, daß die von
Ludwig und Dogiel- ermittelten Werte mit den neueren kleinen Volumzahlen
nicht stimmen, was Hoorweg°) darauf zurückführt, daß die Geschwindig-
keit in der Aorta zu groß angenommen sei. Wenn auch der Gesamtquerschnitt
aller Aortenverzweigungen größer sei als das Stammgefäß, könne die Geschwindig-
keit in der Carotis annähernd gleich der in der Aorta sein, weil die Widerstände
in den Zweigen desselben Gesamtquerschnittes nicht gleich sind. Ein Umstand, auf
den schon Dogiel‘) selbst und Tigerstedt (Lehrbuch, $. 148) aufmerksam
machen. Hermann konnte jedoch durch Keilson’) (von Hösselin°) bestätigt)
zeigen, daß der Querschnitt der Aorta größer ist als der Gesamtquerschnitt ihrer Äste.
Die Methoden zur Bestimmung der Umlaufszeit sind in $ 34 ge-
schildert. Es ergibt sich leicht, wie man aus den dort gewonnenen Werten
das Schlagvolum berechnen kann. Die Werte sind wohl allzu groß, da auch
die Umlaufsgeschwindigkeit zu groß bestimmt ist. In neuerer Zeit hat unter
Berücksichtigung aller Fehlerquellen Stewart?) diese Methode (s. S. 729)
angewandt, um das Schlagvolum zu ermitteln; seine Werte siehe in der Tabelle.
Aus den von Hering vorgenommenen vergleichenden ii
folgert dieser Autor, daß
1. die Umlaufszeiten mit der Tiergröße wachsen (Kol. 4 auf folg. S.),
2. die Zahl der Herzschläge, welche die Gesamtmasse des Blutes einmal
durch den Körper treibt, bei allen Tieren gleich ist (Kol. 5).
Die folgende Tabelle soll es zeigen:
!) Volkmann, Hämodynamik. Leipzig 1850. — ?) Vierordt, Erschein. und
Gesetze der Stromgeschwindigkeiten. Frankfurt a. M. 1858. — °) Jacobson, Bei-
träge zur Hämodynamik, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1860, 8.100. — *) Hermann,
Kleine physiol: Bemerkungen und Anregungen, Pflügers Arch. 65, 599, 1896. —
5) J.L.Hoorweg, Über die bei einer Systole gelieferte Blutmenge, Arch.'f. d. ges.
Physiol. 66, 474 bis 476, 1897. — °) Dogiel, Ber. d. sächs. Gesellsch. d. Wissensch.
1867, S. 272. — 7) Keilson, Ein experimenteller Beitrag zur Lehre von der Puls-
frequenz, Königsberger Dissertation 1898. — ®) Hösselin, Beitrag zur Mechanik der
Blutbewegung, Festschr. f. Ziemssen 1899, 8.103. — °) G. N. Stewart, Researches
‚ on’the eireulation time and on the influence which affect it, Journ. of physiol.
22, 159—183, 1897.
748 Direkte Messung des Sekundenvolums nach Stolnikow und Tigerstedt.
1 12:2 3 ERBE.
Tierart | Gewicht Puls- Umlaufs- | Frequenz-
kg frequenz |zeitinSek.| zeit
l
Kaninchen ..... | 1,4 210 +75 26,1
Ziegenböcklen .... | 38 110 14,1 26,0
Hund.) oa ee... 92 96 16,7 26,7
Mensch . | 64,0 72 28,1 28,8
Pferd . 380,0 55 31,5 27,7
|
$ 44.
Berechnung des Schlagvolums aus der Bestimmung des Sekundenvolums.
Diese Versuche haben die brauchbarsten Resultate ergeben. Stolni-
kow!) hat unter Ludwig in Leipzig die Versuche am vereinfachten
Kreislauf des Hundes ausgeführt, wobei er alle Gefäße unterband, so daß nur
Herz- und Lungenkreislauf übrig blieb. Statt des Körperkreislaufs war nur
die Axillaris, welche zu dem messenden Apparat führte, und die Jugularis,
welche von dem Apparat wieder ins Herz zurückführte, übrig gelassen.
Der messende Apparat bestand in einer Röhre, welche vom Herzen mit Blut
gefüllt wurde. Die Division des Inhaltes durch die Zahl der Sekunden, welche zur
Füllung nötig war, ergab das Volum. Unten in der Tabelle (auf 8. 750) ist ein
Mittelwert aus seinen Versuchen ausgerechnet; da Stolnikow nicht bei allen Ver-
suchen die notwendigen Daten gibt, ist es schwer, den wirklichen Mittelwert an-
zugeben. Übrigens wendet Tigerstedt. (Lehrbuch, 8. 150): mit Recht gegenüber
diesen Versuchen ein, daß dabei der Blutdruck im arteriellen System ein abnorm
niedriger war, und daß das Herz dabei gegen keine Widerstände arbeitet. Ob
allerdings gerade deswegen, wie Tigerstedt will, die Resultate notwendigerweise
zu große Zahlen ergeben, bleibe dahingestellt (vgl. das auf 8. 744 Gesagte).
Der Hauptfehler in den Versuchen Stolnikows liegt zweifellos darin, daß
die Zufuhr des Venenblutes in unbekanntem Maße von der normalen Zufuhr abwich.
Die Ludwigsche Stromuhr ist von Hürthle?) wesentlich verbessert und zum
Registrieren eingerichtet. Sie soll sich nach dem Bericht von Tschnewsky°) aus-
gezeichnet bewähren.
Am Kaninchen hat Tigerstedt*) mit einer ähnlichen Vorrichtung die
durch die ungeteilte Aorta strömende Blutmenge direkt gemessen.
Zur Berechnung des normalen Sekundenvolums hat er nur diejenigen Be-
stimmungen verwertet, die} kurz dauerten und bei denen er weder einen abnorm
starken, noch abnorm schwachen Gefäßtonus vermutet; ferner schließt er die Ver-
suche aus, bei denen die Pulsfregquenz anormal und die Blutzufuhr zum Herzen
künstlich gesteigert war. Als Mittelwert von 14 Versuchen hat er in dieser Weise ,
das Pulsvolum — 0,27 Proz. und das Sekundenvolum = 0,85 Proz. des Körper-
gewichtes gefunden, und zwar bei einer mittleren Pulsfrequenz von 193 pro
Minute und einem Aortendruck von 8,8 bis 17,6cm Quecksilber. Wenn er aber
die bei jedem einzelnen Versuche beobachteten maximalen Werte zur Berechnung
des Durchschnittswertes verwendet, so war das Pulsvolum = 0,42 Proz. und das
!) Stolnikow, Die Eichung des Blutstromes in der Aorta des Hundes, Arch.
f. (Anat. u.) Physiol. 1886, 8.1. — *”) Hürthle, Beschreibung einer registrierenden
Stromuhr, Pflügers Arch. 97, 183, 1903. — ®) Tschnewsky, Über Druckgeschwindig-
keit und Widerstand in der Strombahn der Art. carotis und eruralis, ebenda 97, 210,
1908. — *) Tigerstedt, Studien über die Blutverteilung im Körper, Skand. Arch.
f. Physiol. 3, 145, 1891.
u
nen
Die Ficksche Berechnung aus dem CO,-Verlust (Zuntz). 749
Sekundenvolum = 1,32 Proz. des Körpergewichtes, bei einer Pulsfrequenz von 194
pro Minute und einem Aortendruck von 10,3 bis 15,3cm Quecksilber. Eine eigen-
artige Modifikation hat jüngst Lohmann!) angegeben; das Prinzip derselben be-
ruht darauf, daß man die Aorta vor dem Abgang der großen Halsgefäße durch-
schneidet und das Volum des unter arteriellen Druck gesetzten ausströmenden Blutes
mißt. Gleichzeitig sorgt man für Erhaltung der Zirkulation dadurch, daß man in
das periphere Ende der Aorta ebenfalls unter Druck Blut einlaufen läßt. Mit
dieser Methode hat Bohlmann?) Bestimmungen angestellt, die das Resultat von
Tigerstedt bestätigen. Aus diesen Zahlen ist eine Mittelzahl für die untere
Tabelle berechnet.
Schon früher hatte Ad. Fick?) den sinnreichen Vorschlag gemacht, den
CO,-Gehalt im venösen und im arteriellen Herzblut zu bestimmen und gleich-
zeitig die von der Lunge ausgeschiedene CO, zu ermitteln.
Wenn man nämlich weiß, wieviel CO, das Blut in der Sekunde verliert,
— und diese Zahl findet man durch Bestimmung des CO,-Gehaltes in der
Exspirationsluft — und wenn man weiß, wieviel jedes Gramm des rechten
Herzblutes mehr CO, enthält als das des linken Herzens, dann kann man
ausrechnen, wieviel Gramm Blut durch die Lunge gegangen. sein müssen,
um das Sekundenvolum an CO, zu liefern.
1886 bedauert Stolnikow, daß niemand auf diesem „unanfechtbaren Grund-
satze“ das Sekundenvolum bisher experimentell zu bestimmen versucht habe.
Schon im selben Jahre machten Grehant und Quinquaud‘*) die Mitteilung, daß
sie auf diese Weise das Sekundenvolum bestimmen. Sie haben das venöse Blut
mittels einer Sonde dem rechten Herzen, und das arterielle direkt der Carotis ent-
nommen. Sie fanden dabei ein Sekundenvolum des Blutes von 27,8g. Sie geben
aber das Gewicht der Hunde nur approximativ an. In der Tabelle sind die wahr-
scheinlichen Grenzwerte des Gewichtes verwertet. ;
Später hat Zuntz°) mit einer ähnlichen Methode am Pferde sehr exakte
Bestimmungen gemacht. Die Werte finden sich in der Tabelle angegeben.
Noch mit einer anderen Methode hat Zuntz‘°) dann versucht, das Sekunden-
volum zu bestimmen: Durch Vagusreizung rief er einen temporären Herzstillstand
hervor und injizierte dabei in die Aorta durch einen ihrer Aste gerade eine solche
Menge Blut, daß der Blutdruck sich nicht änderte. Die injizierte Blutmenge soll
dann gleich jener Menge sein, welche von dem Herzen in derselben Zeit in das
Arteriensystem hineingeworfen wäre, falls das Herz weiter geschlagen hätte. Er
fand dabei Werte, die den auf andere Weise berechneten sehr ähnlich sind.
Eine Verbesserung der Methode streben Loewy u. Schrötter’) an, welche
mit einer Art von Lungenkatheter arbeiteten und dadurch die Bestimmungen auch
am Menschen vornehmen konnten.
In folgender Tabelle sind die von den verschiedenen Autoren mit den
angegebenen Methoden gefundenen Werte übersichtlich zusammengestellt,
!) Lohmann, Eine neue Methode zur direkten Bestimmung des Schlagvolums
des Herzens, Pflügers Arch. 118, 260. — °) Bohlmann, Das Schlagvolum des
Herzens und seine Beziehungen zur Temperatur des Blutes, Pflügers Arch. 120, 367,
1907. — °) Die nur eine Seite lange Mitteilung, welche den ganz präzisen Vorschlag
enthält, findet sich im Sitzungsber. der phys. med. Ges. Würzburg 1870, S. 16, und
Gesammelte Schriften 3, 573. — *) Gr&ehant et Quinquaud, Recherches exp£ri-
mentales sur la mesure du volume de sang qui traverse les poumons en un temps -
donne, Compt. rend. d. 1. Soc. de biol. S. VII, T. IH, p. 159. — °) Zuntz, Die Er-
nährung des Herzens und ihre Beziehung zu seiner Arbeitsleistung, Deutsche med.
Wochenschr. 1892, Nr. 6. — ®) Derselbe, Über eine neue Methode zur Messung
der zirkulierenden Blutmenge und der Arbeit des Herzens, Pflügers Arch. 55, 521,
1894. — ”) Loewy u. Schrötter, Verfahren zur Bestimmung der Blutgasspannung,
der Kreislaufsgeschwindigkeit und des Herzschlagvolums am Menschen, Arch. f.
(Anat. u.) Physiol. 1903, 8. 394.
Schlagvolum der Tiere und des Menschen.
750
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Herzfrequenz und Blutdruck. 751
wobei allerdings zu berücksichtigen ist, was Tigerstedt!) über den
nur relativen Wert derartiger zahlenmäßiger Angaben über das Schlag-
volum angibt. Als wahrscheinlichen Wert darf man 70g für das Sekunden-
volum annehmen, also bei 72 Pulsen ein Schlagvolum von 60 g.
In dieser Tabelle sind die Angaben der Autoren wiedergegeben, die von
Tigerstedt und Stolnikow umgerechnet auf ein mittleres Gewicht. Loewy u.
Schrötter geben nicht das Gewicht der sieben von ihnen untersuchten Menschen an.
In der Kolumne 8 sind dann die Werte unter der Voraussetzung, daß das
Sekundenvolum proportional dem Körpergewicht ist, was wahrscheinlich nicht ge-
nau stimmt, für einen Menschen von 60 kg angegeben.
In der Kolumne 9 ist daraus das Schlagvolum berechnet, unter der Voraus-
setzung von 72 Pulsen pro Minute. Dies ist geschehen, um eine Anschauung zu
geben, was die gefundenen Werte in bezug auf den Menschen bedeuten. In der
Kolumne 10 und 11 sind dieselben Zahlen für den Menschen ausgerechnet unter
der von manchen angenommenen Voraussetzung, daß das Sekundenvolum nicht‘
proportional dem Gewichte p, sondern proportional p%s zunimmt. Man sieht, daß
diese Annahme, die aus Untersuchungen an verschieden schweren Tieren derselben
Spezies abgeleitet ist, für die gesamte Tierreihe noch weniger den tatsächlichen
Verhältnissen zu entsprechen scheint, während die Annahme der Proportionalität
wenigstens einigermaßen übereinstimmende Werte liefert.
Die Frequenz des Herzschlages.
$ 45.
Herzfrequenz und Blutdruck.
Daß die Vergrößerung der Frequenz der Herzschläge, wenn sie eintreten
könnte, ohne daß irgend etwas anderes, also insonderheit das Schlagvolum
verändert wird, die in der Sekunde geförderte Blutmenge und damit natur-
gemäß den Druck im arteriellen System steigern würde, liegt auf der Hand.
Nun kann äber das Herz bei größerer Frequenz nicht jedesmal so viel in die
Aorta treiben wie bei langsamem Schlagen; denn da bei einer Druckerhöhung
im arteriellen System der venöse Druck nicht notwendig gesteigert wird, so
braucht auch der venöse Zufluß zum Herzen nicht größer zu werden. Es fließt
also in der Zeiteinheit unabhängig von einer etwaigen Frequenzänderung
immer annähernd gleichviel Blut ins Herz, d. h. wenn die Herzschläge sich
schnell folgen, so fließt wenig Blut, wenn sie sich langsam folgen, viel Blut
während der’ Diastole in das Herz: mehr als das Herz am Ende der
Diastole enthält, kann es während der Systole nicht hergeben.
Bei frequentem Puls werden also nur geringe Blutmengen ausgeworfen und
der Puls wird mithin klein (wenn nicht etwa infolge von Gefäßerweiterung — wie
bei der Muskelarbeit — mehr Venenblut dem Herzen zufließt). Bei rarem Puls ist
es umgekehrt.
Diese selbstverständliche mechanische Betrachtung ist von Stefani bei seinen
Arbeiten über die aktive Diastole nicht genügend gewürdigt, manche von ihm
beobachtete und auf eine diastolische Vaguswirkung zurückgeführte Tatsachen
finden hierdurch ihre Erklärung. Hierzu kommt allerdings noch, daß das während
der langen Pause überfüllte Herz sich ebenfalls aus leicht verständlichen Gründen
nicht völlig zu entleeren vermag.
Die mannigfachen experimentellen und klinischen Arbeiten über die Be-
ziehung zwischen Herzkraft und Frequenz haben denn auch im Grunde nichts
anderes ergeben, als daß eine weitgehende Unabhängigkeit besteht und der Druck
nicht zu steigen braucht, ja im Gegenteil häufig genug sinkt, wenn die Frequenz
!) Tigerstedt, Skand. Arch. 19, 38, 1907.
752 Herzfrequenz und Pulsgröße.
vermehrt wird, z.B. ist dies sehr deutlich in der Agone, wo trotz „fliegendem Puls“
der Blutdruck sinkt; experimentell kann man das durch reichliche Blutentziehung
zeigen.
Sicherlich aber ist die Pulsgröße unter sonst gleichen Verhältnissen
abhängig von der Frequenz; denn unter der ziemlich zutreffenden Voraus-
setzung, daß der venöse Zustrom zum Herzen von der Frequenz unabhängig ist,
wird, je größer das Intervall zwischen zwei Pulsen ist, desto mehr Blut in den
Ventrikel hineinfließen. Also kann und wird auch mehr herausgeworfen werden,
und die Pulsvolumina sind daher in gewissen Grenzen proportional der Herzpause.
Selbstverständlich fließt aber gleichzeitig auch mehr Blut durch die Capillaren aus
dem arteriellen System ab. Der Blutdruck wird also im Beginn der Systole jedesmal
stark ansteigen und dann in dem Verlauf der langen Pause stark absinken. Diese
beiden Faktoren kompensieren sich und ergeben den gleichen mittleren Blutdruck.
Man sieht z. B. sehr deutlich in der Fig. 45 auf 8.689, daß nach der Vagusreizung
der alte Blutdruck auch durch die wenig frequenten Herzschläge, die noch als Nach-
wirkung der Vagusreizung zu betrachten sind, wiederhergestellt wird. Auch zeigt
diese Figur sehr deutlich, daß die ersten Pulse nach der Vagusreizung ganz besonders
groß sind. Allerdings sehen wir auch deutlich, daß dies nicht der einzige Grund
sein kann, welcher die Pulsgröße beeinflußt. So sind die Pulse an den Stellen
hohen Druckes unabhängig von der Frequenz klein. Es beruht dies auf den
Elastizitätsverhältnissen der Arterienwand (vgl. Näheres darüber in $ 22 auf 8.708).
Die Frequenz des Pulses ist eine außerordentlich labile Größe, welche direkt
von dem Gegenspiel des Vagus und Accelerans abhängig ist — und als solche an
anderer Stelle des Handbuches behandelt ist —, indirekt aber von den mannig-
fachsten Faktoren beeinflußt wird. Trotz der Leichtigkeit, die Frequenz zu be-
stimmen, sind die Angaben zum Teil nicht sehr präzise infolge der Schwierigkeit,
einen der sich gegenseitig kompensierenden Einflüsse zu isolieren.
Hier soll es genügen, die einzelnen Faktoren aufzuzählen, welche nachweis-
lich eine Vermehrung oder Verminderung der Pulsfrequenz hervorrufen. Außerdem
sind in einigen Kurven die wichtigsten Verhältnisse dargestellt. Literaturangaben
und genauere Zahlenverhältnisse finden sich in Vierordts') Daten und Tabellen
und Tigerstedts?) Lehrbuch.
8 46.
Abhängigkeit der Pulsfrequenz von den wichtigsten physiologischen
Bedingungen °).
1. Von der Körpergröße.
Kleine Menschen haben einen frequenteren Puls als große.
Die auf folgender Seite stehende Tabelle, die nach den Zahlen der ver-
schiedenen Autoren gezeichnet ist, gibt einen ungefähren Anhalt dafür.
Diese Regel, die für die verschiedenen Menschenindividuen gilt, findet sich
auch bei vergleichender Betrachtung der Tierreihe bestätigt. Folgende abgerundete
Zahlen mögen einen Anhalt dafür geben. (Eine Ausnahme macht nur die ziem-
lich unsichere Angabe über den Delphin.) Es sind nur Warmblüter erwähnt, denn
bei den Poikilothermen ist die Frequenz des Herzschlages durchaus eine Funktion
der umgebenden Temperatur und die Angaben sind daher nicht ohne weiteres ver-
gleichbar, doch ist auch hier eine Abhängigkeit unverkennbar. Besonders deutlich
wird dies, wenn man große und kleine Tiere derselben Spezies vergleicht. So gibt
z.B. Newport‘) an, daß 5g schwere Totenkopflarven 40 Pulse, 3g schwere aber
50 Pulse haben. Frösche haben 40 bis 50 Pulse; überhaupt haben alle Kaltblüter
einen für ihre Größe sehr langsamen Puls.
‘) H. Vierordt, Anat. Physiol. u. physikal. Daten u. Tabellen, II. Aufl., 8.151 ff.
Jena, Fischer, 1893. — ?) Tigerstedt, Lehrbuch, 8. 26. — °) Auf die von Knoll
zuerst beobachtete und dann vor allem von Hering studierte Abhängigkeit von
Puls und Atemfrequenz kann hier nur hingewiesen werden. — *) Newport, On
the Temperature of Insects. Philos. Transact. 1837, p. 313.
Abhängigkeit der Herzfrequenz von der Größe. 753
BISRRDT a ED ae aa 25 Pulse pro Minute
Bamelı un ae ae SEIEN. e x
Löwe'), Pferd?), Ochse?), Tapir!) ..... EI: :
Beol’ye.. 222 re hertr a ae mas en RS 5
Panthert), Hyäne!) ........ a SO m 3 5
BOhaE?). Nr, Sa RR rn a x
Mürmeltier. : « - Alma... ED er = 3
Hund’) . 10.37 Sr ee E
Delphin®), Kaninchen?) . . ..... ee 5
Haselmaus?) und fliegender Hund .....15 „ „ 5
Diese Zahlen sind nur als grobe Mittelzahlen zu betrachten, denn ähnliche
Variationen wie bei Menschen finden sich auch bei Tierindividuen. Außerdem sind
manche Tiere, wie dies H. E. Hering z. B. für Kaninchen gezeigt hat, offenbar in
‚bezug auf die Pulsfrequenz noch viel empfindlicher gegenüber äußeren Einflüssen als
Menschen, wenn man daher ohne weitere Vorsicht die Pulse, z.B. beim Kaninchen
und bei der Haselmaus, zählt, erhält man viel höhere Zahlen als oben angegeben.
Daß die Pulsfrequenz mit zunehmender Tiergröße abnimmt, erscheint sehr
plausibel; Hermann ‘*) hat im Anschluß an einen Gedanken Volkmanns aus-
geführt, daß dies daher rühre, weil das f
Schlagvolum dem Tiergewicht, bei gleicher A Fig. 58. -
Spezies also dem Kubus der Körperlänge, 1!” x
der Aortenquerschnitt aber dem Quadrat 5:
derselben proportional sei: Die Entleerung
des Herzens müsse daher bei größeren
Tieren länger dauern. Keilson (1898°)
hat bei zahlreichen Tieren Körpergewicht,
Pulsfrequenz, Blutmenge, Herzgewicht,
Herzvolum, Kaliber der Aorta und Kaliber
und Maschenweite der Capillaren bestimmt
und gefunden, daß von dieser Seite nichts 0 50 100 150 200cm
der obigen Auffassung im Wege steht. Körperlänge
Dagegen fand sich, daß die Herzgröße Abhängigkeit der Pulsfrequenz des Menschen
nicht dem Tiergewicht proportional, von der Körperlänge.
sondern bei kleinen Tieren relativ größer
ist — dadurch wird natürlich ein unbekannter Faktor in die Rechnung ein-
geführt. Vgl. im übrigen die ähnlichen Betrachtungen bei v. Hösslin°).
Allerdings dürften diese mechanischen Verhältnisse nicht die Ursache, sondern
selbst nur eine Anpassungserscheinung sein. Der größere Blutbedarf der Gewichts-
einheit bei kleineren Tieren ist in ihrem Stoffwechsel begründet, dessen Größe
bekanntlich proportional der Körperoberfläche (annähernd —=p%s) ist. Nach dem Stoff-
wechsel und insonderheit nach dem Gaswechsel richtet sich aber das Blutbedürfnis’?).
_
[=]
=}
[>
oO
Pulse pro Minute
/
2
Tr
2. Vom Alter.
Dieser Einfluß ist sehr genau studiert worden, und es hat sich gezeigt,
daß die Frequenz bei der Geburt am größten ist, erst schnell, dann
langsam sinkt, um im Greisenalter dann wieder ein wenig anzu-
!) Dubois (d’Amiens), Bull. de l’Acad. de med. 5, 442, 1840.—°?) Hurmann
et Dechambre, Arch. gener. de med., 2. Ser., 9, 353. — °) Nach Esch-
richt (zitiert nach Milne Edwards Lecons Phys.) 4, 63. — *) Hermann, Physio-
logie 1896, 11. Aufl., S. 86. — °) Keilson, Ein experimenteller Beitrag zu der
Lehre von der Pulsfrequenz. Königsberger Dissertation 1898. — °) H. v. Hösslin,
Beitrag zur Mechanik der Blutbewegung, Festschr. f. v. Ziemssen, 8.103 u. 624, 1899.
— 7) Aus analogen Gründen haben diejenigen Tiere, die den geringsten Sauerstoff-
bedarf haben, die größten Blutkörperchen, weil hierbei das Verhältnis von Blut-
körperchen und Oberfläche zum Inhalt das relativ ungünstigste ist.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 48
754 Abhängigkeit der Pulsfrequenz von Alter, Geschlecht,
steigen. Die genaueren Zahlen ersieht man aus der Tabelle der Fig. 59.
Dieselben sind nach dem großen statistischen Material älterer Untersucher
zusammengestellt, vornehmlich nach Volkmann!) und Guy).
Während des Fötallebens ist die Pulsfrequenz noch etwas größer, gegen Ende
der Schwangerschaft beträgt sie 140, kann aber durch geringe Bewegungen der
Fig. 59.
170
höchster-an-gesunden-Erwachsenen —
beobachteter Wert
© Marina
Z iS
= A, i
B im allgemeinen
B Dure j i vorkommende
=----Durchschnitt--der-Weiber I h
= Durchsc I L enschen ‘ Variationsbreite
iR —_Durehschnitt-der-Männer--;-- der Pulsfrequenz
Mn
= 3
Minimum _1 7
30H =
90 tiefster;-an-gesunden-Erwachsenen ——
beobachteter Wert
1
10 F | | | Fi
| | | | |
u) 10 20 .30 40 50 60 70 80 Jahre
Abhängigkeit der Pulsfrequenz vom Geschlecht und vom Alter.
Frucht in die Höhe getrieben werden. Bei Tieren (vor allem bei Kaltblütern, doch
auch beim Hühnchen und bei Säugetieren) kann man die Herzbewegungen von
ihrem Beginn ab studieren; hier zeigt es sich, daß die Frequenz aller bisher lebend
beobachteten embryonalen Herzen zu Anfang ihrer Tätigkeit geringer ist als bald
nachher. Für das Hühnchen gibt Preyer (1885°?) an, daß die Herzfrequenz vom
zweiten bis fünften Tage zunimmt; sie kann sich sogar verdoppeln und von 90 bis
180 in der Minute steigen.
3. Vom Geschlecht.
Da das Herz bei großen Menschen langsam schlägt, ist naturgemäß
der Puls des kleineren Weibes frequenter als der des Mannes. Aber auch
wenn man Männer und Frauen von gleicher Größe miteinander vergleicht,
haben Frauen einen Puls, der nach verschiedenen Angaben [Quetelet®),
Dalquen5) und andere] um 1 bis 15 Schläge frequenter ist. Besonders
!) Volkmann, Hämodynamik nach Versuchen, 1850, 8. 427 ff. — ?) Guy, Artikel
„Pulse“ in Todds Encyclopaedia 4, 184, 1852. — °) Preyer, Spezielle Physiologie
des Embryo. Leipzig 1885. — *) Quetelet, Sur ’homme et le developpement de
ses facultös, 1836. — °) Dalquen, Die Schwankungen der Pulsfrequenz im ge-
sunden Zustande. Gießener Dissertation 1888.
Temperatur, Barometerdruck und Jahreszeit. 755
groß soll der Unterschied in den Pubertätsjahren sein (vgl. im übrigen
Fig. 59).
Daß man ziemlich allgemein annimmt, daß Mädchen im Mutterleibe einen
frequenteren Puls haben als Knaben und danach das Geschlecht bestimmen zu
können meint, dürfte bekannt sein. Preyer') gibt an, es würden geboren bei
einer Frequenz der kindlichen Herztöne
unter 135 ®%, Knaben, '/, Mädchen,
von 135 bis 145 !/, N He 5
über 145 2% in A ee
Auch bei Tieren findet sich etwas Ähnliches, so wird angegeben, daß der
Hengst 30, die Stute 40 Pulse in der Minute hat.
4. Von der Temperatur und dem Barometerdruck.
Die Pulsfrequenz steigt bei starker Erhöhung der Temperatur
(sowohl der Luft, als auch bei Temperaturerhöhung durch warme Speisen).
Eine Tatsache, die vielfach auch experimentell nachgewiesen ist (besonders
schön naturgemäß an Kaltblütern, weil hier die Temperatur beliebig verändert
werden kann). Bekannt ist diese Abhängigkeit für den Frosch. Newport?)
konnte dasselbe Gesetz für die Insekten (an Sphinx Atroposlarven) nachweisen, -
an Manteltieren habe ich) es vielfach selbst beobachtet usw. Für den Menschen
soll sich die Abhängigkeit der Pulsfrequenz von der Körpertemperatur nach
Liebermeister) mit großer Annäherung durch die Formel
Pulsfrequenz — 80 +8 (T— 37)
ausdrücken lassen, doch ist hierbei offenbar die mittlere Pulsfrequenz zu hoch
angenommen. Dementsprechend soll nach Tigerstedt der Puls in den Tropen
frequenter sein alsin den Polar- Fig. 60.
gegenden (jedoch andererseits 790 :
ist der Puls bei ein und dem- _ ==e-
selben Menschen im Winter EX 2
frequenter als im Sommer — SZ = =
vgl. die Kurven Fig.60). Auch 67 — a Jahrejmittäl Fr
die Erhöhung ‚der Pulsfrequenz > / =
nach den Mahlzeiten [nach _F Ex > ——
Smith5) kommen Frequenz- | SEE TE =
erhöhungen vor, die bis zu 17 ®% = == =
Pulsen pro Minute betragen] 63 m
ist auf die Wärmewirkungen I]FIJMjA|M|S| T]A]SJO]N|D
zurückgeführt worden, doch Jahreskurve der Pulsfrequenz.
dürfte hier wohl das erhöhte
Sauerstoffbedürfnis maßgebend sein. Ob bei der Pulsfrequenzerhöhung im Hoch-
gebirge ausschließlich das erhöhte O,-Bedürfnis ausschlaggebend ist oder ob
noch andere Faktoren — insonderheit die Erhöhung der Körpertemperatur —
}) Preyer, l.c. 8.521. — *) Newport, On the temperature of Insects, Philos.
Transact. 1837, p. 313. — °) Nicolai, Beiträge zur Anatomie und Physiologie des
Salpenkreislaufes, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1908. — *) Liebermeister, Handbuch d.
Pathologie und Therapie des Fiebers. Leipzig, Vogel, 1875. — °) Smith, Medic.-
chirurg. transact., London 39, 44, 1856.
48*
756 Abhängigkeit der Herzfrequenz von der Tageszeit,
eine Rolle spielen, ist noch nicht entschieden. Auf die außerordentlich umfang-
reiche Literatur über die Pulssteigerung beim Fieber, die als pathologischer
Prozeß zu betrachten ist, kann hier nieht eingegangen werden.
Die Pulsfrequenz schwankt auch während des Tages; diese Schwankungen
sollen proportional den mittleren Schwankungen der Lufttemperatur sein.
Einen Einfluß des Barometerdrucks gibt Vierordt!) an, nach ihm erhöht
Steigen des Barometers um lcm Hg die Pulsfrequenz etwa um 1 Schlag
Fig. 61.
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50
6 9 12 € ) 12 Uhr
Mittags Mitternacht
Tageskurve der Pulsfrequenz.
«————+ Tageskurve (die X bezeichnen Mahlzeitsstunden).
©-----0 Tageskurve beim Fasten.
pro Minute. Wenn dies richtig wäre, würde es beweisen, daß die von
Mercier?) nachgewiesene Steigerung der Pulsfrequenz unter dem Einfluß
des Höhenklimas nicht eine Folge der Luftdruckänderung sein kann, denn,
wie sich aus Merciers Zahlen herausrechnen läßt, hätte der Puls bei der
vorhandenen Höhendifferenz um 12 Schläge in der Minute abnehmen müssen
(vgl. hierzu auch Heller, Mager und v. Schrötter?).
Fig. 61 gibt in der ausgezogenen Linie die aus all den genannten sowie
aus den in 5 und 6 zu nennenden Gründen resultierende Kurve der Puls-
frequenz bei normal lebenden Menschen wieder. Durch die X sind die Stunden
der Mahlzeiten bezeichnet, die. punktierte Kurve gibt die Pulsfrequenz bei
einem Hungernden wieder. s
5. Von Körperbewegungen.
Schon die geringsten Bewegungen bewirken eine deutliche Steigerung
der Frequenz. Die tiefsten Zahlen erhält man nur bei absoluter,
längere Zeit fortgesetzter Körperruhe in liegender Stellung und
in nüchternem Zustande. Daß also im Schlaf die Pulsfrequenz eben-
falls gering ist, wäre nicht wunderbar. Ob die Tatsache, daß der Mensch
schläft, außerdem noch eine Herabsetzung der Pulszahl bewirkt, ist fraglich,
da meist Schlafende mit Wachenden und sich Bewegenden verglichen sind.
!) Vierordt, Physiologie des Athmens 1845, 8.93, 194 u.255. — ?) Mercier,
Influence du sejour dans les grandes altitudes sur le nombre de pulsations cardi-
aques. C.r.d. la soc. de biol. 1894. — :°) R. Heller, W. Mager und H. von
Sehrötter, Über das physiologische Verhalten des Pulses bei Veränderungen des
Luftdruckes, Zeitschr. f. klin. Med. 33, 341—380; 34, 129—165, 1897.
von Körperbewegungen und Körperlage. 757
Es wird angegeben, daß im Schlafe eine Frequenzverminderung um 5 Proz.
(Heilbut!) eintritt, bei Kindern sogar um 10 Proz. (Vogel?) und bei Neu-
geborenen bis zu 30 Proz. (Allix?).
Beim Winterschlaf tritt eine sehr starke Abnahme ein. Saissy‘) u. Prunelle°)
sahen beim Murmeltier die Pulszahl von 90 auf 10 und weniger heruntergehen.
Marshall Hall‘) zählte bei Fledermäusen im Sommer bis zu 200 Schlägen in
der Minute, im Winter nur 28 Schläge. Allerdings dürfte dies z. T. eine direkte
Wirkung der herabgesetzten Temperatur sein, denn bekanntlich sinkt diese während R
des Winterschlafes ganz außerordentlich.
Die folgenden Zahlen gelten für gesunde Menschen, sind aber nur Durch-
schnittszahlen, die eine Vorstellung von der Größe der Frequenzänderung geben sollen.
Pulsfrequenz bei absoluter Körperruhe. ...... 60
= für. gEWORBHONAN HN ner ca are 2 70
& nach einem Spaziergange . .....- 100
eh nach längerem Geschwindschritt : . . 140
z nach schnellem Laufen. .. ..... 150
Entsprechend reagiert das Herz natürlich auf alle körperlichen Anstrengungen,
und zwar sind die Frequenzsteigerungen bei gesunden Menschen sehr viel geringer
als bei Krariken und Rekonvaleszenten (vgl. hierzu Christ’). Nach Aufhören der
Körperbewegungen sinkt die Pulszahl nicht sofort, und zwar richtet sich die
Dauer der Nachwirkung (bis zu einer Stunde) mehr nach der Dauer als nach
der Größe der vorausgegangenen Anstrengung.
Vgl. hierzu Zuntz u. Schumburg‘), Physiologie des Marsches; ferner Kolb?),
der angibt, daß nicht selten bis 240 Pulse in der Minute vorkommen; Trautweiler!®)
gibt jedoch an, daß bei 170 Schlägen die Grenze der Leistungsfähigkeit liege.
6. Von der Körperlage.
Auch die Position des Körpers soll einen Einfluß ausüben. Der Puls
ist am frequentesten beim Stehen, am langsamsten beim Liegen.
Wenn man das Mittel aus den alten Angaben von Robinson "), Guy"),
Hohl'®) u. a., die auf großem statistischen Material beruhen, zieht, erhält man
beim Stehen 89, beim Sitzen 79, beim Liegen 77 Pulse pro Minute.
Später hat Schapiro'*) sehr genaue Untersuchungen an 50 gesunden Soldaten
angestellt und dabei den Puls im Stehen um 2 bis 34 (im Mittel 14) Schläge fre-
quenter gefunden als im Liegen.
Diese Zahlen sind zweifellos annähernd richtig, doch ist zu berücksichtigen,
daß dieselben nur für den praktischen Arzt eventuell von Wichtigkeit sind. Was
!) Heilbut, Über Pulsdifferenz, Tübinger Dissertation 1850, 8.16. — ?) Vogel,
Lehrbuch der Kinderkrankheiten, 3. Aufl., 1867, S. 10. — °) Allix, Etude sur la
physiologie de la premiere enfance 1867, p. 92. — *) Saissy, Rech. exper. sur
la physique des animaux hibernants 1808, p. 42. — °) Prunelle, Les phenom£nes
et les causes du sommeil hibernal, Ann. du Mussum 18, 28, 1811. — °) Marshall
Hall, Art. „Hibernation“, Toods Cycelop. of Anat. and Phys. 2, 772, 1852. —
?) H. Christ, Über den Einfluß der Muskelarbeit auf die Herztätigkeit, Deutsch.
Arch. f. klin. Med.53, 102. — ®) Zuntz u. Schumburg, Studien zu einer Physio-
logie des Marsches. Berlin 1901, 8.34 bis 39. — °) Kolb, Beiträge zur Physiologie
maximaler Muskelarbeit, besonders des modernen Sports, Berlin, bei Braun. —
1%) Trautweiler, Beiträge zur Mechanik und Physiologie des Bergsteigens, Jahrb.
d. Schweiz. Alpen Clubs 1883/84. — !') Robinson Bryan, Treatise of the Animal
Economy 1734, p. 180. — ') W. Guy, On the Effects produced upon the pulse
by Change of Posture, Guys Hospital Reports 3, 92, 1838. — '*) Hohl, Die geburts-
hilfliche Exploration. Halle 1855. — '*) Schapiro, Klinische Untersuchungen
über den Einfluß der Körperstellung und Kompression peripherer Arterien auf die
Herztätigkeit, Wratsch 2, Nr.10, 11, 13 u. 30, 1881 (russisch).
758 Verzweigungsmodus der Gefäße.
sie bedeuten, ist damit nicht gesagt. Höchstwahrscheinlich sind es doch nur An-
strengungen, welche diese Frequenzänderung hervorrufen, denn bei allen diesen
Untersuchungen sind die mit der Aufrechterhaltung einer Lage bzw. mit deren
Umänderung verbundenen Anstrengungen nicht berücksichtigt.
Die Widerstände im System (die Capillaren).
gar.
Verzweigungsmodus der Gefäße und dadurch bedingter Widerstand.
(Vgl. hierzu auch $ 37.)
Die Verzweigung. in einem Gefäßsystem (vgl. Fig. 62) kann erfolgen
nach Schema A (z.B. in einem künstlichen Kreislaufschema, wenn ein Schwamm
Fig. 62.
1x12 5x1,5 1xX12 2x6 4x3 8x1,5
=12 =7 75 =12 =2 =12 =12
12
u 6 3
GG,
re
4
6 TZZZIr
4 3
12 ALL ÄRZTE ZZ Eee Z 12
Dr
1x12 2x8 Ax6 8x4 16x 3
Verzweigungsmodus von Gefäßsystemen.
A in den Kreislaufmodellen (mit Verengerung), B in der Technik (bei gleichbleibendem Querschnitt).
C im Gefäßsystem (mit Erweiterung). Die in die Gefäße eingeschriebenen Zahlen bezeichnen die
Lumenweite der einzelnen Gefäße; an den entsprechenden Stellen des Randes ist jedesmal die Multipli-
kation der Lumenweite mit der Zahl der vorhandenen Wege ausgeführt und daraus ergibt sich der
Gesamtquerschnitt.
in die Glasröhre hineingesteckt wird). Dadurch wird die Strombahn
geteilt und verengt. Oder nach Schema B (häufig technisch benutzt). Da-
durch wird die Strombahn geteilt und sonst nicht geändert. Oder
nach Schema (©. Hierbei wird die Strombahn in der Weise geteilt, daß zwar
jedesmal der Querschnitt des sich teilenden Gefäßes größer ist als der Quer-
schnitt eines jeden Astes, aber kleiner als deren Summe. Dieser letztere Fall
ist beim Gefäßsystem verwirklicht, und zwar gilt dies, was oft bezweifelt
Änderung des Gesamtquerschnittes. 759
worden ist, nach Fuchs auch für die Teilung der Aorta in die beiden Iliacae,
wenn man die Messung in situ und nicht am herausgeschnittenen Präparat
vornimmt. Die in dem Schema angeschriebenen Zahlen erläutern deutlich,
wie dabei der Gesamtquerschnitt dauernd zunimmt. Hierbei ‘wird also die
Strombahn geteilt und gleichzeitig erweitert. Daß dieser Ver-
zweigungsmodus mit seiner Teilung in ein Transport- und ein Umsatzsystem
für den Kreislauf besonders günstig ist, wurde schon in $ 4 gezeigt.
Über das Verhältnis der Weite der Aorta zum Querschnitt der gesamten
von ihr ausgehenden Äste vgl. auch $43. Vor allem Thoma!) hatte be-
hauptet, daß der Querschnitt ”
in .der arteriellen Bahn
anfangs sogar verengt wird;
nach ihm ist die Fig. 683 |
gezeichnet. Sollte diese An-
sicht nicht richtig sein, so
würde das Querschnitts-
minimum (und dement-
sprechend das Geschwindig-
keitsmaximum) innerhalb
der arteriellen Bahn weg- 7]
Fig. 63.
fallen.
Wenn die Strombahn Z /
mit einer kontinuierlich strö- Aortd Arterien . = onen
menden Flüssigkeit gefüllt
ist, muß durch jeden Ge-
samtquerschnitt des Gebildes
die gleiche Menge fließen,
denn sonst würde sich die Flüssigkeit an irgend einer Stelle stauen. Das gleiche
Volum fließt aber nur dann durch verschiedene Querschnitte, wenn überall die
Geschwindigkeit dem Querschnitt umgekehrt proportional ist. Im Schema A ist
also die Geschwindigkeit im Capillargebiet größer, in Schema B gleich und in
Schema C kleiner als in dem Hauptgefäße. Um also Blut durch die Capillaren zu
treiben, wäre in A eine Kraft erforderlich, in B nicht, und in C wird offenbar
Energie gewonnen, denn die Energie ('/;, mv”) ist für das Blut im Hauptgefäß
größer als für das Blut in den Capillaren.
Das Umgekehrte gilt für die dann wieder eintretende Sammlung. Beim Blut-
kreislauf ist also Energie nötig, um dem Blute in den Venen die nötige Geschwin-
digkeit zu geben. Allerdings sind die hier ins Spiel tretenden Energiemengen nicht
sehr groß, nach Zuntz?) beträgt die Bewegungsenergie in der Aorta des Pferdes
nur etwa 3 Proz. der gesamten an dieser Stelle im Blute vorhandenen Energie.
Das gegenseitige Verhältnis des Gesamtquerschnittes und der
Blutgeschwindigkeit an den einzelnen Stellen des Gefäßsystems.
Weiter aber ist vor allem Kraft notwendig, um die sogenannten Reibungs-
widerstände zu überwinden, die sich jeder materiellen Bewegung entgegen-
setzen. Speziell für die Blutbewegung sind dies
1. die auf der Konsistenz des Blutes beruhende innere Reibung;
2. die Erzeugung von Strömungen und Wirbeln bei jeder Teilungsstelle
(d. h. Umsetzung von Druckarbeit in eine Bewegung, welche nicht der Fort-
bewegung des Blutes dient);
!) R. Thoma, Untersuchungen über die Histogenese und Histomechanik des
Gefäßsystems. Stuttgart 1893. — *) Zuntz und Hagemann, Der Stoffwechsel
des Pferdes bei Ruhe und Arbeit. Berlin, Parey, 1898.
760 Die Capillaren und ihre Bedeutung.
3. das Hindurchpressen von Blutkörperchen durch sehr enge Capillaren.
Die Kraft, welche diese Arbeit leistet und sich dabei fast völlig in Wärme
umsetzt, ist eben der Blutdruck. Die auf diese Weise erzeugte Wärme beträgt
etwa 50 Kalorien!) pro Tag und macht also etwa 2 Proz. der vom Menschen
pro Tag erzeugten bzw. abgegebenen Wärme aus.
Bekanntlich hielt man im Altertum fälschlich das Herz für die Quelle der
tierischen Wärme. Abgesehen davon, daß, wie wir heute wissen, alle Wärme im
Grunde aus der aufgenommenen Nahrung stammt, ist also das Herz auch nicht
einmal als Vermittler und Verteiler der Wärme in nennenswertem Grade beteiligt.
Die Widerstände liegen in den engen Gefäßen, den Capillaren sowie den kleinen
Arterien und Venen. Gerade hier ist der Widerstand abhängig vom Gefäßtonus
(s. oben). Endlich ist der Widerstand abhängig von der Konsistenz des Blutes. In
folgendem sollen daher die hierher gehörigen Erscheinungen abgehandelt werden in
den Abschnitten über die Capillaren, über den Gefäßtonus und über die Konsistenz
des Blutes.
Die Capillaren.
$ 48.
Die Strömung in den Capillaren.
Der: wesentlichste Widerstand, der größte Kraftverbrauch findet nun
nicht sowohl in den Capillaren, als vielmehr in den kleinsten Arterien statt;
denn in den die Capillaren nur wenig an Durchmesser übertreffenden letzten
Arterienverzweigungen ist die Geschwindigkeit wesentlich größer (da es viel
mehr Capillaren als kleinste Arterien gibt). Demgemäß ist in ihnen der
Kraftverbrauch größer als in den eigentlichen Capillaren. Allerdings variiert
dies gemäß dem jeweiligen Kontraktionszustande. Vgl. hierzu u.a. auch die
Arbeiten von Hürthle?), Campbell?) und Ewald) sowie $52b auf 8.778.
Für die folgenden mechanischen Auseinandersetzungen ist es verhältnismäßig
unwesentlich, ob es sich um Capillaren oder kleinste. Arterien handelt. Letztere
werden also hier unter diesem Namen mit einbegriffen. ‘Wenn auch die
Capillaren nicht die einzigen Verbindungen sind, sondern daneben selbst im
menschlichen Körper noch, wie Minot’) hervorhebt, an mancherlei Stellen
— vor allem in der Leber — lacunäre Bluträume existieren, so sind diese
doch verschwindend im Vergleich zu den eigentlichen, wirklichen Capillaren.
Direkte, nicht capillare Verbindungen zwischen Arterien und Venen wurden
von der neueren Anatomie meist verworfen, dennoch kommen sie, wenn auch nur
als schwache Äste (Länge bis zu 0,7 mm, Dicke bis zu 0,05 mm) an verhältnismäßig
vielen Stellen des Körpers vor. Hoyer‘) beschreibt diese „derivatorischen Kanäle“
oder den abgekürzten Kreislauf) an den Ohren, an der Nasenspitze, den Lippen,
!) Dazu kommen noch etwa 100 Kal., welche am Herzen selbst direkt als
Wärme entstehen; rechnet man diese Wärme, die ja eventuell durch das Blut in
alle Körperteile getragen wird, hinzu, dann beträgt die vom Herzen erzeugte Wärme
6 Proz. der gesamten Wärmeproduktion. — ®2) Hürthle, Über den Widerstand der
Blutbahn. Deutsch. med. Wochenschr. 1897. — ?) H. Campbell, The resistance to
the blood-flow. Journ. physiol. 23, 301, 1898. — *) J. R. Ewald, Zur Methodik
der Messung des peripheren Widerstandes in einer Arterie. Arch. f. (Anat. u.)
Physiol., Suppl., 8. 245, 1889. — °) Ch. 8. Minot, On a hitherto unrecognized
form of blood eirculation without capillaries in the organs of vertebrates, Journ.
of Boston soc. of med. sc. 4 (6), 133, 1900. — °) H. Hoyer, Über unmittelbare
Einmündung kleinster Arterien in Gefäßiste venösen Charakters, Arch. f. mikroskop.
Anat. 13, 603 (1877).
A ee
Die Capillaren und ihre Bedeutung. 761
den Zehen, an der Schwanzspitze und in den Geschlechtsorganen. Gehberg!)
hat solche Verbindungen in der Nierenkapsel, Testut in der Pia mater des
Erwachsenen beschrieben. Diese nicht capillaren Nebenschließungen sind offen-
bar imstande, je nach dem Kontraktionszustande ihrer Muskulatur einen mehr oder
weniger großen Teil des Überschusses der zuströmenden Blutmasse unmittelbar nach
den Venen abzulenken, und es wäre nicht unwahrscheinlich, daß diesem Apparatus
derivatorius eine nieht unbedeutende funktionelle Wichtigkeit zukäme, nur wissen
wir hierüber so gut wie nichts; aus der oben angeführten Lokalisation in End-
gebilden scheint allerdings hervorzugehen, daß es sich vielleicht um Wärme regu-
lierende Apparate handelt. Außerdem sind diese Verbindungen sicher sehr wichtig
für das Zustandekommen des Collateralkreislaufs.
Für die Ernährung des Körpers, also für die eigentliche Funktion der Capil-
laren kommt die Art und Struktur ihrer Wandungen in Betracht. Für die hämo-
dynamische Betrachtung dagegen ist diese völlig gleichgültig, in dieser Beziehung
spielt nur ihre Länge und ihre Weite eine Rolle (diese kann allerdings durch Kon-
traktion geändert werden). Die Länge der Capillaren, d. h. die Entfernung der
kleinsten Venen bis zu den kleinsten Arterien wird im Durchschnitt auf 200 «?),
ihre Weite, die von der Blutfülle und dem Kontraktionszustande sehr abhängig ist,
im allgemeinen auf 7 bis 13 u geschätzt. In bezug auf das Kaliber der Capillaren
und die Maschenweite vgl. auch die Arbeiten von Keilson®) und v. Hösslin*).
Während wir bei den größeren Gefäßen leicht den Druck, aber nur
schwierig die Strömungsgeschwindigkeit beobachten können, ist dies bei den
Capillaren umgekehrt. Die glashelle strukturlose Wandung derselben erlaubt
mikroskopische Beobachtung des strömenden Blutes überall dort, wo die
hüllenden Schichten des Bindegewebes einigermaßen durchsichtig sind. Diese
Möglichkeit ist an sehr vielen Organen gegeben. Besonders bei den Kalt-
blütern, deren große Blutkörperchen eine Beobachtung auch schon bei schwacher
Vergrößerung erlauben, ist der Capillarkreislauf leicht zu sehen, und wurde
daher auch kurze Zeit nach der Erfindung des Mikroskops als eine der über-
raschendsten Tatsachen und gleichzeitig als der Schlußstein zu der Harvey-
schen Lehre vom Blutkreislauf demonstriert. Seitdem sind viele weitere
günstige Objekte aufgefunden, die wichtigsten Daten hierüber folgen:
Malpighi (16865), Lunge, Mesenterium und Harnblase des Frosches.
Leeuwenhoek (16956), Schwanz von Kaulquappen und Fisch.
Derselbe (16957), Flughaut der Fledermaus.
Cowper (1704 8), Mesenterium des Kaninchens.
Spallanzani (1773°), bebrütetes Hühnerei.
Hueter (187910), Innere Lippenschleimhaut des Menschen bei auf-
fallendem Licht.
!) Gehberg, Über direkte Anastomosen zwischen Arterien und Venen in der
Nierenkapsel, Internat. Monatsschr. f. Anat. u. Physiol. 2, 223, 1885. — *?) Dieser
nach Tigerstedt zitierte Wert scheint zu klein zu sein; es scheint, als ob Tiger-
stedt dabei nicht die Entfernung von Arterie zu Vene im Auge gehabt hat,
sondern nur die Länge einer einzelnen Gefäßmasche. — °) Keilson, Experim.
Beitrag zur Lehre von der Pulsfrequenz, Königsberger Dissertation 1898. —
*) v. Hösslin, Beitrag zur Mechanik der Blutbewegung, Festschr. f. v. Ziemssen
1899, 8. 103 u. 624. — °) Malpighi, Opera omnia 2, 141, Londini 1686. —
6) Leeuwenhoek, Arcana naturae delecta, p. 171, Delphis Balaror. 1695. —
7) Derselbe, ebenda p.222. — °) Cowper, Philosoph. Transactions 23, 1182,
1704. — °) Spallanzani, De fenomeni della eircolazione observ. nel giro univers.
dei vasi, p. 143, Modena 1773. — !°) Hueter, Die Chailoangioskopie, eine neue
Untersuchungsmethode zu physiologischen und pathologischen Zwecken, Zentralbl.
f. d. med. Wiss. 1879, 8. 225 u. 241.
762 Anordnung der Capillaren.
In neuerer Zeit hat Ewald!) die Tritonenlunge als schönstes Objekt für
das Studium des Capillarkreislaufes empfohlen.
Bei all diesen Beobachtungen sieht man, wie sich die roten und weißen
Blutkörperchen durch die engen Gefäße hindurchzwängen; dabei sieht man
deutlich, daß die eigentlichen Capillaren nicht so weit sind, daß in ihnen ein
gleichmäßiger Strom längere Zeit bestehen bleiben könnte; besonders leicht
kann man beim Frosch nachmessen, daß hier der Capillardurchmesser kleiner
ist als der kleine Durchmesser der Froschblutkörperchen.
Fig. 64.
Capillare Verbindung zwischen einer kleinen Arterie und einer kleinen Vene aus
der Schwimmhaut des Frosches (Vergr. 1:100).
(Nur wenig schematisiert nach einer mit dem Zeichenapparat angefertigten Originalskizze.)
In der rechten unteren Ecke sind die Blutkörperchen eingezeichnet, um den Axialstrom in den
größeren Gefäßen und das „Durchpressen“ und „Verbiegen“ in den engsten Capillaren zu zeigen.
An der obersten Teilungsstelle ist ein Blutkörperchen eben zerrissen; an den beiden nächsttieferen
Teilungsstellen „reitet“ je ein Blutkörperchen.
An den übrigen Stellen.der Figur bezeichnen die farbigen Teile des Gefäßnetzes diejenigen Strömungs-
bahnen, in denen das Blut meist in derselben Richtung floß (von rot zu blau), während in den weißen
Capillaren, in denen sich keine Pfeile befinden, die Strömungsrichtung schnell wechselte. In einem
gegebenen Moment waren die mit Pfeilen versehenen Capillaren undurchgängig und unsichtbar; zeit-
weilig öffneten sich diese Capillaren, und dann wurden zum Teil gewisse farbige Bahnen undurchgängig
(besonders durch Kontraktion der schraffiert gezeichneten Stellen, A, B, C).
Im allgemeinen sind immer mehrere Capillarschlingen hintereinander geschaltet. Eine direktere Ver-
bindung findet sich in dem im Lumen stark wechselnden derivatorischen Kanal sowie an den
Capillarschlingen bei 7 und ff (bei j immer vorhandene, bei j} nur zeitweilig vorhandene Verbindung).
Immer wieder kommt es zu Stauungen, die dadurch veranlaßt sind, daß
einzelne Blutkörperchen stecken bleiben, wobei sowohl die roten wie die weißen
Blutkörperchen ihre Form verändern. In etwas weiteren Gefäßen, macht es
‘) Ewald, Beiträge zur histolog. Technik, Zeitschr. f. Biol. 34, 246.
Stromrichtung in den Capillaren. 763
dabei häufig den Eindruck, als ob die Blutkörperchen gleichsam kleben bleiben,
und zwar ist diese Tendenz bei den weißen Blutkörperchen ausgesprochener
als bei den roten. (Ich selbst konnte allerdings diesen häufig angegebenen
Unterschied in engen Gefäßen niemals konstatieren.)
Auch aus anderen Gründen kommt es sehr leicht zu Stauungen — die
Capillaren sind netzförmig angeordnet, und dabei sind natürlich oft Quer-
verbindungen zwischen parallel verlaufenden Capillaren vorhanden. Es ist
nun mehr oder weniger zufällig, in welcher Richtung der Blutstrom in solch
einer Querverbindung fließt. Wenn der Druck in einem der beiden Gefäße
auch nur um ein weniges überwiegt, wird das Blut in dem Verbindungsgange
von ihm fortströmen; ist der Druck an beiden Gefäßen gleich hoch, so wird
das Blut sich gar nicht bewegen. In der Fig.64, die mit dem Zeichenapparat
nach einem Stück der Froschschwimmhaut gezeichnet ist, sind diese Verhält-
nisse schematisch angedeutet; in den farbig gezeichneten Capillaren strömte
das Blut im allgemeinen kontinuierlich in derselben Richtung (von rot zu
blau). In den weiß gelassenen Partien dagegen wechselte die Stromrichtung
häufig. In Wirklichkeit erstreckte sich dieser Wechsel noch auf weit mehr
Gefäße. Auch manche der farbig gezeichneten Gefäße sind nur Anastomosen
zwischen parallel verlaufenden Gefäßen. In der Figur kommt dies nicht zum
Ausdruck, weil nur ein kleines Stück des Gefäßnetzes gezeichnet ist und der
Übersichtlichkeit wegen alle die sehr zahlreichen Verbindungen mit der Um-
gebung weggelassen sind (vgl. im übrigen die Legende zu der Figur selbst).
Dieses „Hin und Herpendeln“ des Blutes in einzelnen Capillaren bedeutet im
Grunde ein Stagnieren. Vor dem völligen Stehen des Blutstromes kommt
dies Pendeln auch in größeren Gefäßen vor und ist hier schon von Stricker
beschrieben.
Aus physikalischen Gesetzen geht hervor, daß der axiale Strom die größte
Geschwindigkeit besitzt und daß bei benetzenden Flüssigkeiten die Randschicht der
Flüssigkeit überhaupt still steht. Wir hatten schon oben auf 8.726f. erwähnt, daß
im allgemeinen dies besonders bedeutungsvoll für Capillargefäße sei. Hier sehen
‘ wir jedoch, daß es in den Blutcapillaren zur Ausbildung eines eigentlichen
Achsenstromes gar nicht kommen kann, da die corpuseulären Elemente häufig
genug das ganze Lumen verstopfen. Dann muß eben die ganze Flüssigkeitsmasse
vorwärts geschoben werden, oder aber alles bleibt stecken.
Anders in den kleinsten Venen und Arterien. Hier hat sich der axiale Strom
deutlich gesondert, besser noch in den Arterien als in den Venen. Er fließt
schneller und ist dicht angefüllt mit der aneinander gedrängten Masse von Blut-
körperchen, die, ohne sich dabei zu drehen, vorwärts schießen und unter denen
sich nur selten ein Leukocyt findet. Der periphere Strom erscheint im mikro-
skopischen Bilde als ein heller, mit Plasma gefüllter Raum, in dem träge die
weißen Blutkörperchen mitgeschwemmt werden, deren große Mehrzahl meist langsam
an den Gefäßwänden entlang rollt; oft bleibt dabei eins kleben (und zwar seltener
in den Arterien als in den Venen, welche daher auch weitaus leukocytenreicher
sind). Diese Rollung der Leukocyten ist dadurch bedingt, daß sie dort, wo sie die
Wand des Gefäßes berühren oder ihr nahe kommen, von der ruhenden Flüssigkeits-
schicht. keinen Bewegungsantrieb erhalten, während sie von den mehr zentral
gelegenen Schichten desto heftigere Stöße bekommen, je näher diese Schichten dem
Zentrum liegen. Aus diesen einseitigen Stößen resultiert eine Drehung.
Der leicht und konstant zu beobachtende axiale Erythrocytenstrom ist dagegen
noch nicht völlig erklärt. Helmholtz!) hat vergeblich versucht, die Erscheinung
\ !) Helmholtz, Zur Theorie der stationären Ströme in reibenden Flüssigkeiten.
Heidelberg 1869.
764 Das Poiseuillesche Gesetz.
theoretisch abzuleiten, und die in seinem Laboratorium von A. Schklarewsky')
angestellten Versuche haben zwar in einwandfreiester Weise ergeben, daß immer
kleine schwere Körperchen im axialen Strome, kleine leichtere in der Peripherie
fortbefördert werden (unabhängig davon, ob die Körper‘ etwa beide leichter oder
beide schwerer sind als die Suspensionsflüssigkeit). Aber das versprochene dritte
Kapitel, das eine Deutung der experimentellen Resultate im Sinne der von Helm-
holtz aufgestellten Gleichungen bringen sollte, ist bis heute nicht erschienen.
Hamiltons?) Erklärung basiert auf der Annahme, daß die weißen Blutkörperchen
spezifisch leichter seien als das Plasma, was offensichtlich falsch ist.
Noch durch einen anderen Umstand entstehen nicht unbeträchtliche Wider-
stände, die kleinen Arterien teilen sich meist dichotomisch in zwei spitzwinkelig
auseinandergehende Zweige, zwischen denen dann die Ecke als spitzer „Sporn“
bestehen bleibt. An solehen Sporen bleiben dann manchmal die Leukocyten (und
auch die Erythrocyten) hängen; da diese Gebilde sehr weich sind, werden sie über
dem Sporn gebogen und „reiten“ nun auf demselben und bilden naturgemäß ein
nicht unbeträchtliches Hindernis, bis sie von der in einem der Arme zufällig
stärker werdenden Strömung mit fortgerissen werden. Tritt dies nicht ein und
bleibt ein Erythrocyt längere Zeit hängen, so kann es selbst zu Zerreißungen des
Blutkörperehens kommen. Sind diese Ereignisse auch mehr zufälliger ‘Natur, so
kommen sie doch so häufig vor, daß man im Durchschnitt und in Summa sie nicht
vernachlässigen darf.
$ 49.
Das Poiseuillesche Gesetz.
(Vgl. hierzu auch $ 52.)
Daß die in der Zeiteinheit aus engen Capillaren ausströmende
Menge einer homogenen benetzenden Flüssigkeit der vierten
Potenz des Radius umgekehrt proportional ist, ist nicht nur eine
empirisch festgestellte Tatsache, sondern auch ein in genügender Annäherung
beweisbarer Satz, der theoretisch für alle Röhren und alle sie be-
netzenden Flüssigkeiten gilt, wenn die Dimensionen der sich bewegenden
Flüssigkeitsteilchen klein sind gegenüber dem Röhrenvolum und andererseits
die Röhre doch nicht so weit ist, daß nicht ein großer Teil der zentralen
Flüssigkeit sich mit gleicher Geschwindigkeit bewegen kann. Auch muß die
Röhre eine gewisse Länge haben, damit die an der Ein- und Ausmündungs-
stelle der Röhre auftretenden Störungen und Wirbel vernachlässigt werden
können. Es folgt daraus, daß für ein verzweigtes System von Capillaren
das Poiseuillesche Gesetz überhaupt nicht ohne weiteres gilt. Auch die
Biegungen der Capillaren spielen eine Rolle (vgl. hierzu Grüneisen?) und
B. Levy®). Es ist also für die Gültigkeit des Poiseuilleschen Gesetzes
vor allem notwendig Benetzung, relative Kleinheit der Flüssigkeits-
elemente und Ausbildung einer nur axialen Maximalgeschwindigkeit.
Daß Blut die Gefäßwände benetzt, wurde wohl nur von Freund?) be-
zweifelt. Die Behauptung von W. Heubner®‘), wonach es verschiedene
!) Schklarewsky, Über das Blut und die Suspensionsflüssigkeiten, Pflügers
Arch. 1, 603. — ?) Hamilton, Circulation of blood-corpuscles, Fosters Journ. of
Physiol. 5, 66. — ®) Grüneisen, Über die Gültigkeitsgrenzen des Poiseuilleschen
Gesetzes. Die Bewegung tropfbarer Flüssigkeiten durch gerade und gewundene |
Capillaren. Wissenschaftl. Abhandl. d. Physik.-Techn. Reichsanstalt 1905, IV., 8. 151.
— *) B. Levy, Die Regulierung der Blutbewegung im Gehirn, Virchows Arch.
122, 174. — °) Freund, Ein Beitrag zur Kenntnis der Blutgerinnung, Wien. med.
Jahrb. 86, 46. — °) W. Heubner, Die „Viscosität“ des Blutes, Arch. f. experim.
Pathol. u. Pharmakol. 53, 280; Derselbe, ebenda 54, 149.
een ee see
Geschwindigkeit in den Capillaren. 765
Arten von Benetzung geben soll, beruht auf einer irrtümlichen Interpretation
der Versuche von Helmholtz und Piotrowski.
Daß aber trotzdem das Poiseuillesche Gesetz für das Blut in den Blut-
capillaren nicht gültig sein kann, folgt daraus, daß die anderen beiden Be-
dingungen nicht erfüllt sind, daß vor allem das Blut in bezug auf die Capil-
laren nicht als homogene Flüssigkeit angesehen werden kann, da ja seine
corpusculären Elemente unter Umständen die ganze Capillare versperren. Das
Poiseuillesche Gesetz könnte daher nur für relativ weite Capillaren
annähernd gültig sein. Jacobsohn hat die obere Grenze der Gültigkeit
des Poiseuilleschen Gesetzes für Blut bei Röhren von 0,1 bis 0,2cm Weite
gefunden; die untere Grenze ist nicht bestimmt.
In derartigen Röhren ist der Reibungskoeffizient des Blutes bestimmt,
der nach Duncan und Gamgee, Ewald und Haro größer ist als der des
Wassers, d.h. „Blut ist dicker (kohärenter) als Wasser“. Weiter ergab sich,
daß defibriniertes Blut einen höheren Reibungskoeffizienten hat als normales
ungeronnenes Blut. Wenn nun selbst das Poiseuillesche Gesetz gültig
wäre (d. h. wenn Blut eine homogene Flüssigkeit wäre, denn dann wäre die
Gültigkeit für eine einzelne Capillare selbstverständlich), was nützte uns diese
Kenntnis? Um daraus etwa den Einfluß der im Leben vorkommenden Ver-
engerungen zu bestimmen ’?
Eventuell könnte man unter der Voraussetzung der Gültigkeit des
Poiseuilleschen Gesetzes aus der Geschwindigkeit Rückschlüsse auf die
beobachtete durchschnittliche Beschaffenheit des Capillarsystems machen.
Benno Levy!) war der einzige, der diese selbstverständliche Schlußfolgerung
gezogen und die Berechnung versucht hat. Da jedoch das Poiseuillesche
Gesetz nicht gilt, kann man seinen Resultaten keinen übermäßigen Wert bei-
messen.
$ 50.
Geschwindigkeit in den Blutcapillaren.
Die Geschwindigkeit in den Blutcapillaren und den feineren Arterien und
Venen irgendwie genau zu beobachten oder zu berechnen, ist unmöglich. Be-
obachten können wir sie nicht, weil wir nur die Geschwindigkeit der Blut-
körperchen beobachten können. Diese ist, da die Blutkörperchen dort, wo sich
ein axialer Strom entwickelt, immer in diesem treiben, gleich der maximalen.
Wenn Tigerstedt (Lehrb., S.423) dies bezweifelt, so kann er damit nur
meinen, daß die Geschwindigkeit, falls keine Blutkörperchen da wären, größer
sein würde Denn die Geschwindigkeit des Plasmas kann niemals größer
sein als die der axialen roten Blutkörperchen. Wenn diese, was oft genug der
Fall ist, das ganze Capillarlumen ausfüllen, sind Plasma- und Blutkörperchen-
geschwindigkeit einander gleich. Sonst ist die mittlere Geschwindigkeit des
gesamten Blutes kleiner (aber größer als die Hälfte) der Blutkörperchen-
geschwindigkeit.
Allerdings gilt das Gesagte streng nur für einen stationären Strom. Ist der
Strom beschleunigt, so werden die Corpuskeln infolge ihrer größeren Trägheit
etwas zurückbleiben, bei Verzögerung umgekehrt etwas vorauseilen. Bei einer
regelmäßig pulsierenden Flüssigkeit gleicht sich dies übrigens aus.
!) Benno Levy, Die Reibung des Blutes, Pflügers Arch. 65, 447, 1897.
766 Querschnitt und Zahl der Capillaren.
Die Blutkörperchengeschwindigkeit ist leicht zu bestimmen, da man sie
an durchsichtigen Membranen unter dem Mikroskop deutlich beobachten kann.
Hierbei sind Werte gefunden, die
bei Warmblütern zwischen 500 und 900 u pro Sekunde,
„ Kaltblütern de 100 600 u „ er
schwanken !).
Man kann auch aus dem entoptischen Bilde die Blutkörperchengeschwin-
digkeit berechnen. Vierordt (18562) glaubte nämlich in gewissen entop-
tisch sichtbaren Strömungen einen Ausdruck der Blutbewegung zu sehen.
J. Müller pflichtete ihm bei, Helmholtz?) bestritt dies.
”
$ 51.
Gesamtquerschnitt und Zahl der Blutcapillaren.
Da das Sekundenvolum, wie wir im $ 42 gesehen haben, unter allen Um-
ständen gleich der Geschwindigkeit mal dem Querschnitt ist, so kann man
aus der beobachteten Geschwindigkeit in den Capillaren und dem anderweitig
bekannten Sekundenvolum (vgl. $44 auf S.748f.) den Gesamtquerschnitt aller
Capillaren berechnen. Tigerstedt kommt dabei für den Menschen zu Werten
von 800 bis 2200 gem, doch nimmt er dabei das Sekundenvolum zu 220 bis
440 ccm an, was nach Tigerstedts eigenen Ausführungen sicherlich zu groß
ist (vgl. Tabelle S.750). Nehmen wir für den Menschen das Sekundenvolum zu
75cem und die mittlere Geschwindigkeit zu 0,05 cm pro Sekunde, so ergibt
sich der Querschnitt aller Capillaren zu 1500qem, das ist etwa der
200- bis 300fache Querschnitt der Aorta. Doch ist dies nur der Quer-
schnitt des sich bewegenden Blutes, die stehende Randschicht fällt sowohl bei
der Aorta als auch bei den Capillaren fort. Nun bildet sie bei der Aorta
einen verschwindenden Teil, bei den Capillaren aber macht sie vielleicht
etwa die Hälfte des Querschnittes aus.
Nehmen wir, was ungefähr richtig sein dürfte, den Querschnitt einer Capillare
gleich 75 u” an, so ergibt sich, daß der Querschnitt von 3000qcm von etwa
4 Milliarden von parallel verlaufenden Capillaren gebildet wird. Diese
Capillaren versorgen den ganzen Körper (also, da das Gewicht von Lunge, Leber
und dem Blute selbst abzuziehen ist, rund 50kg). Lang sind die Capillaren
nach Tigerstedts‘) Angabe 0,02cm; also würde die Körperschicht, welche von
parallel laufenden Capillaren durchsetzt wird, eine Fläche von etwa 2'/, Millionen
Quadratcentimeter (= 250qm) einnehmen. Denken wir uns diese Fläche von
2,5.10°gem von den 4.10°Capillaren gleichmäßig durchzogen, so kommen auf jeden
Quadratcentimeter etwa 1600 (auf jeden Quadratmillimeter also nur 16) Capillaren.
Die Capillaren ständen also nach dieser Rechnung in Abständen von
etwa 0,02cm. Das ist aber offensichtlich zu wenig, die Capillaren stehen in
!) Die Blutkörperchen, die unter dem Mikroskop so schnell dahinzuschießen
scheinen, würden also mindestens eine halbe Stunde gebrauchen, um in diesem
Tempo vom Kopf bis zu den Füßen eines Menschen zu gelangen. — ?) Vierordt,
_Arch. f. physiol. Heilkunde, Heft II (1856). — °) Helmholtz, Physiol. Optik.
— *) Tigerstedt (Lehrbuch, $. 414) gibt ausdrücklich an, daß sich die Ent-
fernung auf den Abstand zwischen Arterien und kleinsten Venen bezieht. Hier-
für ist es nun zweifellos zu wenig, die Angabe Chapmans (Treatise on
Human Physiology, Philadelphia 1899, 8.312), daß die Länge 0,02 bis 0,05 cm be-
trägt, nähert sich der Wahrheit schon mehr. Als Länge der einzelnen Gefäß-
N.
Querschnitt und Zahl der Capillaren. 767
fast allen Körpergebieten, wie man sich durch mikroskopische Bilder über-
zeugen kann, sehr viel dichter. Abgesehen davon, daß eventuell die Blut-
geschwindigkeit zu groß angenommen ist, muß folgendes dabei berücksichtigt
werden:
1. Nicht alle Capillaren sind gleichzeitig durchgängig. Wenn dies der
einzige Grund wäre, so müßten, wie man sich durch einen Vergleich der dies-
bezüglichen Daten überzeugen kann, immer nur etwa !/, aller Capillaren
durchgängig sein. In der Tat ist ein Teil der Capillaren jeweilig verschlossen.
In dem in Fig. 64, S.762 wiedergegebenen Gefäßnetz waren es unter anderen
diejenigen, die mit Pfeilen bezeichnet sind. Zeitweilig öffneten sie sich und das
Blut floß dann in der bezeichneten Richtung, in den Punkten ABC und D
kam es dabei vor, daß sich gleichzeitig das durch || bezeichnete Gefäßstück
verschloß; man sieht aus der Figur, daß dabei das Blut teilweise in ganz -
andere Gebiete gelenkt wird. Jedoch machen die jeweils verschlossenen
Capillaren sicher nicht drei Viertel der Gesammtmenge aus. Ein ähnliches
Verhalten hat auch Hueter!) in der Bauchhaut des Frosches und in der
Lippenschleimhaut des Menschen konstatiert.
2. Capillaren sind häufig hintereinander angeordnet.
Dieser letzte Grund dürfte der wesentlichste sein; schon aus der netz-
förmigen Anordnung ergibt sich, daß unmöglich eine reine Parallelschaltung
Platz greifen kann. Die Fig. 64 zeigt, daß tatsächlich die Verbindung zwi-
schen Arterie und Vene nur selten durch eine einzige Capillarschlinge ge-
bildet wird (in diesem Bilde eigentlich nur durch die mit f sowie durch die
mit j7 bezeichnete, nicht immer durchgängige Capillare). Meist handelt es
sich um vielfache Hintereinanderschaltung mehrerer Gefäßschlingen; dadurch
werden die Wege zwischen Arterien und Venen etwa 0,1 bis 0,3 cm lang, zu
deren Durchströmung das Blut beiläufig eine Zeit von 1 bis 3 Sekunden
braucht. Die Art und Weise dieser Verbindung ist in den verschiedenen
Organen eine sehr wechselnde, doch sind die betreffenden Verhältnisse bisher
nur sehr ungenau bekannt.
Ferner ergibt sich aus dieser Rechnung, daß die parallel geschalteten Capillaren
etwa 30ccm fassen; rechnen wir nun auch den ganzen möglichen Fehler darauf,
daß die Unstimmigkeit der Rechnung daher rührt, daß eben Capillaren hinterein-
ander geschaltet sind, so ergibt sich doch, daß das gesamte Körpercapillarsystem
bei normalem Gefäßtonus höchstens 200g Blut enthält, also nur etwa den 25. bis
30. Teil des gesamten Blutes. Wahrscheinlich aber dürfte die Kapazität des ge-
samten Körpercapillargebietes kleiner sein und etwa dem einfachen oder höchstens
dem doppelten Schlagvolum entsprechen, so daß mit einem oder doch mit wenigen
Herzschlägen das Blut in dem Capillarsystem durchschnittlich vollkommen erneut ist.
Weiter ergibt sich, daß die Capillaren in der Lunge, falls sie einen ebenso
großen Gesamtquerschnitt haben wie die Körpercapillaren, sehr viel dichter
stehen müßten. Falls sie aber einen geringeren Gesamtquerschnitt haben,
würde das Blut sehr viel schneller in ihnen fließen müssen als in den Körper-
capillaren.
maschen dürfte 0,02cm im allgemeinen etwas zu lang sein. Das Chapmansche
Lehrbuch der Physiologie ist übrigens das einzige mir bekannte, das die wichtigen
Verhältnisse der Capillaren in guten Abbildungen (nach Carpenter) zur Dar-
stellung bringt.
‚") Hueter, Deutsche Zeitschr. f. Chirurg. IV., 8.332 u. Zentralbl. f. d. Med.
Wissensch. 1879, 8. 242.
768 Definition von „Blutkonsistenz“.
Die Konsistenz des Blutes.
8 52. .
Definition von „Blutkonsistenz*.
(Vgl. hierzu auch $ 49.)
Im allgemeinen versteht man unter „Konsistenz“ diejenigen Eigen-
schaften einer Substanz, welche sich auf die innere und äußere Reibung be-
ziehen. Die äußere Reibung ist, da Blut die Gefäßwände benetzt, — ®
anzunehmen, da die äußerste Schicht ruhend bleibt.
Unter Viskosität oder innerer Reibung versteht man diejenige
Kraft, welche eine Bewegung einzelner Teilchen in einer Flüssigkeit oder in
einem Gase verlangsamt. Diese Definition ist von den Verhältnissen einer
homogenen Flüssigkeit hergenommen.. Nun ist das Blut aber keine homogene
Flüssigkeit, und die für solche Flüssigkeiten gefundenen Gesetze können daher
nicht ohne weiteres auf das Blut angewandt werden.
Die innere Reibung im Blute ist nicht an allen Stellen die gleiche, da hier
nicht nur Flüssigkeitsmolekeln gegeneinander verschoben, sondern außerdem kleine
(in dieser Beziehung als fast fest anzusehende) Körperchen im Blute herumbewegt
und gegenüber Plasmateilchen als Ganzes verschoben werden. Die innere Reibung
des Blutes ist also eine komplexe Größe und setzt sich aus der inneren Reibung
des Plasmas (Viskosität im eigentlichen Sinne) und der Reibung der Blutkörperchen
am Plasma zusammen. Dazu kommt dann noch eventuell die Reibung der Blut-
körperchen unter sich und an den Wänden (letzteres besonders in den Capillaren).
Dementsprechend ist denn auch die innere Reibung des Plasmas sehr viel
geringer als die des Blutes (siehe unten die Tabelle auf folgender Seite). Aber diese
beiden Formen der inneren Reibung sind auch verschiedenartig und werden z.B.
von der Temperatur in verschieden hohem Grade beeinflußt. 2
Besonders Burton-Opitz!) macht auf die Tatsache aufmerksam,
auf welche dann auch Hirsch und Beck?) hinweisen, daß die Variationen
der Konsistenz unter dem Einflusse der Temperatur beim Blute sehr viel
größer sind als beim Serum. Zu ähnlichen Resultaten, die auch den sehr
wesentlichen Anteil der roten Blutkörperchen an der Konsistenz beweisen,
kommen auch Denning und Watson’).
Für weite Röhren oder für größere Körper, die im Blute schwingen (Herz-
klappengerinnsel usw.), kann man übrigens die Viskosität (Konsistenz) des Blutes
durchaus als eine einheitliche Größe auffassen.
Man kann dies, solange die Dimensionen des zu betrachtenden Gesamtsystems
so groß sind, daß die einzelnen Blutkörperchen als verschwindend klein betrachtet
werden können. Ist dies nicht angängig — 'wie z. B. bei den Capillaren —, dann
führt die Vereinfachung zu Fehlern. Wo im folgenden von Konsistenz gesprochen
wird, ist damit das gemeint, was die Autoren als „Viskosität“ bezeichnen.
$ 53.
Bestimmuug der Blutkonsistenz.
‘Man setzt die Viskositätskraft proportional der Verzögerung, welche eine
Bewegung unter ihrem Einfluß erleidet; sie ist für verschiedene Substanzen
!) A. Burton-Opitz, Vergleich der Viskosität des normalen Blutes mit der
des Oxalblutes, des defibrinierten Blutes und des Blutserums bei verschiedener
Temperatur, Pflügers Arch. 82 (Heft 9 bis 10), 464 bis 473, 1900. — *?) 0. Hirsch
und CO. Beck, Studien zur Lehre von der Viskosität (inneren Reibung) des lebenden
menschlichen Blutes. Deutsches Arch. f. klin. Med. 69, 503 bis 520, 1901. —
°) Denning u. Watson, Proc. Roy. Soc. of Lond. 78, 318.
Größe der Blutkonsistenz. 769
sehr verschieden und wird meist dadurch gemessen, daß man die Flüssigkeit
unter gleichen Bedingungen, vor allem bei gleicher Temperatur und gleichem
Druck durch dieselbe Röhre fließen läßt. Die verzögernde Kraft ist dann
umgekehrt proportional der in einer bestimmten Zeit ausfließenden Menge.
Die Kraft kann in absolutem Maße gemessen werden, wir werden sie in will-
kürlichen Einheiten ausdrücken, indem wir die Viskosität des Wassers gleich
1 setzen. Auch kann man die Viskosität nach der Traubeschen Abtropf-
methode bestimmen. Andere Methoden, die Viskosität zu messen, erfordern
meist zu große Flüssigkeitsmengen, als daß sie für Blut anwendbar wären.
Schon Ewald!) hatte auf die eigentümliche Tatsache aufmerksam
gemacht, daß normales Blut eine geringere Reibung besitzt als defibriniertes,
während man doch an sich das Umgekehrte hätte erwarten können; doch
machte man die Bestimmungen im allgemeinen an defibriniertem Blut, und
erst Hürthle?) hat ein Verfahren ausgebildet, bei dem die Bestimmung
nur !/, Minute dauert und daher am unveränderten Blute ausführbar ist. Hierbei
wird Blut während einer sehr kurzen meßbaren Zeit unter dem im Körper
herrschenden Blutdrucke, der gleichzeitig registriert wird, durch eine Capillare
in ein kleines Wägkölbchen gespritzt. Experimentell-kritisch konnte gezeigt
werden, daß etwaige Gerinnung hierbei nicht störend wirkte und daß auch
der Umstand, daß man in die Berechnung den mittleren Druck unter Ver-
nachlässigung der pulsatorischen Schwankungen einsetzte, ohne Belang war,
In einer zweiten Arbeit?) zeigte er, daß die benutzte Capillare höchstens
0,5 mm Durchmesser haben darf. Hirsch und Beck *) haben dann ein sehr
bequemes, auch klinisch brauchbareres Verfahren zu Messung angegeben.
Einige Konsistenzbestimmungen des Blutes verglichen mit
Viskositätsbestimmungen einiger anderer Substanzen (Viskosität des
Wassers =).
ET ee A RR ee Re er WR Eee 0,02
BT A ee rede rg 1
0 ER EN Rear 100
EB PER EEII EHRREIIEN 300
Defibriniertes Blut (Ewald) . ..:.: 22.2 00.. 6,4
Defibriniertes Blut (Benno Levy) ....... 2 bis 10_ (im Mittel 3,5)
Binaemintrrommsaortlrt: ... 2 6,0
KElBSnI ee So rel en te N rar re. N.
Blut anderer Säuger . . .: 2.2.0000. 3,5 bis 8,4
TRENNT ea ne ie A
HERBEHBETHBFIH IE FT a ee eu 4,7
Katzenblut Ru ee hal este ee 4,2
KANINCHOn DEU N Nele Se ern % 5,
Mensch (Hirsch una Baak*). - .. . .. le... 0. 5,1
!) C.A.Ewald, Über die Transpiration des Blutes, Arch. f. (Anat. u.) Physiol.
1877. — ”)K. Hürthle, Über eine Methode zur Bestimmung der Viskosität des
lebenden Blutes und ihre Ergebnisse, Pflügers Archiv 82, 8 bis 9, 1900. —
®) Hürthle, Über die Veränderung des Seitendruckes bei plötzlicher Veränderung
der Strombahn, Archiv f. d. ges. Physiol. 82, 443 bis 446, 1900. — *) C. Hirsch
und C. Beck, Eine Methode zur Bestimmung des inneren Reibungswiderstandes
des lebenden Blutes beim Menschen, Münch. med. Wochenschr. 47 (49), 1685, 1900.
— 5) Trommsdorf, Untersuchungen über die innere Reibung des Blutes, Arch. f.
experim. Pathol. 45, 56, 1900.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 49
770 Änderungen der Blutkonsistenz
8 54.
Änderungen der Blutkonsistenz.
Unter den Einflüssen, welche die Viskosität ändern, ist vor allem die
Temperatur zu nennen, deren Steigen im allgemeinen eine Verminderung der
Viskosität hervorruft. Daß dies auch beim Blute der Fall ist, hatten schon
Ewald!) und Haro?) gezeigt, Benno Levy?) will dies dahin modifiziert
wissen, daß die Blutkonsistenz zwischen 27 und 45° konstant bleibt und
dann erst abnimmt, Burton-Opitz*) aber meint, daß dieselbe doch linear
mit steigender Temperatur abnimmt. Burton-Opitz®) hat dann in einer
anderen Arbeit desselben Jahres den Einfluß mehrerer anderer Faktoren
auf die Blutkonsistenz untersucht. Chloroform- und Morphiumnarkose hatte
keinen Einfluß, eine Verminderung der Konsistenz fand sich nach Blut-
entziehung, sowie während des Hungers, eine Vermehrung nach reichlicher
Kost, vor allem bei Fett- und noch mehr bei Fleischnahrung. Zusatz von
Kaliumoxalat, das die Gerinnungsfähigkeit aufhebt, vermehrte ebenfalls die
Konsistenz, sowie im Gegensatz zu den eigentlichen Narcoticis Curare.
Borelli und Lalla‘®) fanden, daß die Konsistenz (in pathologischen
Fällen) mit dem Eiweißgehalte des Blutes fällt und sinkt, dagegen vom
Salzgehalt unabhängig ist. Daß die Blutkonsistenz mit dem Gehalt an
CO, steigt, wurde ebenfalls von Burton-Opitz gezeigt und ist inzwischen
von Ferrari’), Ewart®) und Determann?) bestätigt worden. Graham
Brown!) fand, daß der visköse Widerstand des lackfarbenen Blutes herab-
gesetzt ist. Gelatineinjektionen erhöhen die Viskosität [Czerny u Jacobj »)
Hirsch und Stadler!) und Burton-Opitz].
Diese Resultate sind in vitro gewonnen, denn wenn man auch das unveränderte
Blut untersuchte, so ließ man es doch eben durch Glasröhren strömen. Wie aber
eine Anderung der Konsistenz des Blutes im lebenden Körper selbst wirkt, dar-
über wissen wir so gut wie gar nichts. Poiseuille'*) gibt an, daß eine Herab-
setzung der Konsistenz durch Zusatz gewisser Mengen von Kaliumnitrat den Blut-
strom beschleunigt. Er hat dies in exakter Weise für tote Tiere nachgewiesen.
Auch seine Versuche an lebenden, wobei er die Umlaufgeschwindigkeit des Gesamt-
blutes nach der bekannten Heringschen Methode zu bestimmen versuchte, ergaben
dasselbe Resultat. Demgegenüber konnten du Bois-Reymond, Brodie und
Franz Müller '’’) in einwandsfreieren Versuchen zeigen, daß am lebenden
!) Ewald, 1. c. 1877. — ?) Haro, Compt. rend. de l’Acad. des sciences 83,
696, 1886. — ®) B. Levy, Über die Reibung des Blutes in engen Röhren und
ihren Einfluß auf das Gefälle im Gefäßsystem (Physiol. Ges. Berlin) Arch. f. (Anat.
u.) Physiol. 1897, 8. 147 bis 149. — *) Burton-Opitz, 1. c. 8. 464 bis 473, 1900.
— °) Derselbe, Über die Veränderung der Viskosität des Blutes unter dem Ein-
flusse verschiedener Ernährung und experimenteller Eingriffe, Pflügers Arch. 82,
447 bis 463, 1900. — °) Borelli und Lalla, Klinische Viskositätsbestimmungen, La
Clinica Med. 45, No.1, 1906. — 7) Ferrari, Ricerche viscosometriche sul sangue
asfittico, Arch. di Fisiologia 1, 305, 1904. — ®) Ewart, D. Sc. Dissert., Liverpool 1904.
— °) Determann, Klin. Untersuchungen der Viskosität des menschlichen Blutes,
Zeitschr. f. klin. Med. 59, 283, 1906. — '’) Graham Brown, R. Infirmary Rep.,
Edinburgh 1904. — !') Czerny, Bluteindickung und ihre Folgen, Arch. f. experim.
Pathol. 34, 268, 1894. — !?) Jacobj, Deutsche med. Wochenschr. 1901, Nr. 8. —
13) Hirsch u. Stadler, Studien über den N. Depressor, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 81,
406. — *) Poiseuille, Pogg. Ann. 58, 424, und Compt. rend. de l’Acad. 16, 60,
1843. — '?) du Bois-Reymond, T.G. Brodie, Franz Müller, Arch. f. (Anat. u.)
Physiol. 1907, Suppl., 8. 37.
und ihre Beziehungen zum Kreislauf. TTE
Tiere — im Gegensatz zu den Poiseuilleschen Angaben — die Zirkulation nach
Salpeterzusatz sogar sehr viel geringer wird und eventuell ganz aufhört. Sie be-
ziehen dies auf eine Schädigung der Gefäßwandungen, also auf einen vitalen Vor-
gang. Wenn sie dagegen die Konsistenz durch ein Verfahren änderten, welches
unmöglich schädigend auf die Gefäßwandungen einwirken konnte — sie taten dies
durch Zusatz von Serum oder von Blutkörperchenbrei —, so fanden sie in der Tat,
daß der Blutstrom proportional der am Beckschen Apparate bestimmten Konsistenz
ab- oder zunimmt, und zwar ebenso bei der Durchspülung überlebender Organe,
wie bei einer Durchspülung in situ gelassener Organe (allerdings nur, wenn die-
selben entnervt waren). Einzelne Ausnahmen, wie z. B. die Lunge, durch welche
bei höherem Druck verhältnismäßig zu viel Blut.hindurchfließt, erklären sie durch
die größere Dehnbarkeit der Lungengefäße.
Als Hauptergebnis dieser Arbeit darf man wohl die konstatierte Tatsache
ansehen, daß die Konsistenzänderung durchaus unwesentlich ist gegenüber
vasomotorischen Einflüssen. Einen größeren Einfluß der Viskosität glaubt
C. Tigerstedt!) konstatieren zu können. Er meint, daß die von Johans-
son und R. Tigerstedt?) erwähnte schädliche Wirkung der Transfusion
von defibriniertem Blute auf das Kaninchen zum Teil daher rühre, weil nicht
wie bei Kochsalztransfusion die Viskosität und damit der Widerstand herab-
gesetzt wird. Die hierdurch bedingte Mehrarbeit überanstrenge das Herz
leicht.
In dem Verhältnis zwischen Konsistenz und vasomotorischer Innervation
liegt das eigentliche physiologische Problem. Daß Blut von dünnflüssigerer
Konsistenz durch ein gegebenes Röhrensystem (das als unveränderlich zu
nehmen ist) leichter hindurchströmt als dickflüssiges Blut, ist selbstverständ-
lich, und daß bei einem „unveränderlichen“ Röhrensystem die Ausflußmengen
proportional dem angewandten Drucke sind, ist zwar nicht ganz ebenso
selbstverständlich, doch könnten die eventuellen Abweichungen innerhalb
normaler Grenzen überhaupt nur gering sein und fielen in die Fehlergrenzen
der genannten Versuche. Fraglich könnte es nur erscheinen, ob im lebendigen
Körper es zu einer derartigen Vermehrung oder Verminderung der Strömung
überhaupt kommt, wenn man die Konsistenz des Blutes ändert, oder ob nicht
einer der vielfachen Regulationsmechanismen Platz greift und die Strömungs-
geschwindigkeit auch dann in den normalen Grenzen hält. In diesem Falle
wäre zu ermitteln, welches diese Regulationsmechanismen sind. Hierüber
sagen uns die Versuche von du Bois-Reymond, Brodie und Franz Müller
nichts; aber aus der Tatsache, daß die Versuche eben nur an entnervten
Tieren glückten, scheint hervorzugehen, daß solche Regulationsmechanismen
in der Tat existieren.
!) Carl Tigersteät, Zur Kenntnis des Kreislaufs bei vermehrter Blutmenge.
Skand. Arch. 20, 197, 1908. — ?) Johanssonu. Tigerstedt, ebenda 1, 333, 1899.
49*
772 Die Bedeutung von Blutdruckbestimmungen.
Fünftes Kapitel.
Der Blutdruck.
(Über die Methoden der Blutdruckmessung sowie über Maximal- und
i Minimaldruck vgl. $ 16 bis 24.)
S 55.
Bedeutung yon Blutdruckmessungen.
Im vierten Kapitel ist gezeigt worden, von wieviel Bedingungen der
Blutdruck abhängig ist. Wenn eine dieser Bedingungen geändert wird, so
ändert sich der Blutdruck. Wenn die Elastizität der Gefäßwandung zu- oder
abnimmt, wenn die kleinen Arterien sich kontrahieren oder erweitern, wenn
die Capillaren ausgedehnt oder komprimiert werden, wenn die Zusammensetzung
und damit die Konsistenz des Blutes schwankt, wenn Kraft oder Zahl der
Herzschläge variiert, dann ändert sich immer auch der Blutdruck. Da nun
jede Beeinflussung des Körpers zum mindesten eine der genannten Größen
beeinflußt, so ist es nicht wunderbar, daß — indirekt wenigstens — auch
immer der Blutdruck eine Änderung erleidet.
Nun ist es jedoch nur in den seltensten Fällen möglich, anzugeben, was
sich eigentlich geändert hat, und daher begnügt man sich meist damit, zu
sagen, der Blutdruck sei gefallen oder gestiegen. Man muß sich aber bewußt
sein, daß es sich dabei nur um ein Symptom, und zwar um ein vieldeutiges
handelt. Wenn der Blutdruck bei Kindern niedriger ist, so kann das daran
liegen, daß ihr Herz oder daß ihr Gefäßsystem anders ist als bei Erwachsenen;
wenn bei zwei verschiedenen Tieren der Blutdruck ein anderer ist, so kann
die Ursache in einer mehr oder weniger weit getriebenen Feinheit der Capil-
laren, sie kann aber auch in unzähligen anderen Dingen ihre Ursache haben.
Für den Arzt kann der Blutdruck als empirisches Symptom von großer Be-
deutung sein, für die Wissenschaft waren die im vorigen Kapitel erwähnten .
Untersuchungen weitaus wichtiger, welche sich bemühten, die Einzelursachen
zu eruieren, anstatt die komplexe Erscheinung des so vielfach bedingten
Blutdruckes beschreiben zu wollen. Es muß dies doppelt betont werden,
weil man heute nur zu geneigt ist, den Wert von Blutdruckuntersuchungen
zu überschätzen.
$ 56.
Der mittlere Blutdruck bei Tieren und Menschen.
Da der Blutdruck bei einzelnen Individuen außerordentlich schwankt,
können nur die Mittelwerte aus großen Zahlenreihen verwendet werden.
Immerhin kann man aus Volkmanns (1850!) vergleichenden Messungen
den Schluß ziehen, was er selbst leugnet (l. c. S.179), daß praeter propter
bei großen Tieren der Blutdruck ein größerer ist als bei kleinen Tieren.
Ich gebe, um diesen Einfluß zu zeigen, die Mittelzahl der bei Säugetieren
gewonnenen Werte und gleichzeitig die bei der betreffenden Tierspezies be-
obachteten höchsten und niedrigsten Werte.
‘) Volkmann, Die Hämodynamik nach Versuchen. Leipzig 1850.
Der mittlere Blutdruck bei Tieren. 773
Blutdruck in cm Quecksilber
Name des Tieres Mittelwert aller ?
Beobachtungen Hex. Min,
Il
EN 18 23 11
Kalb .. „2... 16 18 13
Behafaur , zn u. 16 21 10
Eee EN | 14 17 10
ET | 13 .. 18 12
Kaninchen. ..... 1 10 11 9
ij
Allerdings sind diese Zahlen nur als Mittelzahlen zu betrachten, im einzelnen
findet man große Abweichungen und zum Teil viel höhere Werte als Volkmann
angibt. Ein Blutdruck von 20 cm Hg kommt bei Hunden selbst in völliger
Urethannarkose vor, und bei Kaninchen findet man Werte bis zu 18cm — Werte
von 15cm sind nicht selten.
Es könnte merkwürdig scheinen, daß bei großen Tieren der Blutdruck nicht
sehr viel höher ist als bei kleinen, denn es ist doch selbstverständlich eine sehr
viel größere Kraft dazu notwendig, um beispielsweise das Blut in einem Pferde als
in einem Kaninchen umzutreiben, aber Druck ist eben auch nicht dasselbe wie
Kraft. Druck ist als diejenige Kraft definiert, die auf einen Quadratcentimeter
drückt. Nun drückt aber in allen Fällen die ganze Wand des Herzens; wenn also
das Herz doppelt oder dreimal so lang ist, so drückt eine vier- bzw. neunmal so
große Fläche. Wenn in beiden Fällen jeder Quadratcentimeter mit derselben Kraft
drückt, so ist es klar, daß das zwei- bzw. dreimal so lange Herz trotzdem eine vier-
bzw. neunmal so große Kraft entwickelt und dementsprechend auch größere
Arbeit leisten kann.
Bei den Kaltblütern (den niederen Wirbeltieren und den Wirbellosen)
ist der Blutdruck sehr viel niedriger, was nicht überräschen kann, wenn
wir bedenken, daß vom Blutdruck die Strömungsgeschwindigkeit (zum min-
desten in bezug auf die Volumeinheit des Körpers) und daher auch indirekt
die Geschwindigkeit des Stoffumsatzes abhängen muß. Der Stoffumsatz ist
aber bei Kaltblütern sehr viel geringer als bei Warmblütern. Im übrigen
haben alle Untersucher gefunden, daß bei Kaltblütern der Blutdruck von
der Temperatur in starkem Maße abhängig ist, was ebenfalls mit den Er-
scheinungen des Stoffwechsels in enger Übereinstimmung steht; vgl. z. B.
F. N. Schulz).
Kephalopoden . . . . 2,5—8,0 cm Quecksilber (Fuchs?)
Fische, Torpedo. . . . 2,5 = . (W. Schönbein?)
4,0—6,0 „ a (Schulz!)
Amphibien, Frosch, . 4,1—5,2 (Hofmeister*)
Rana esculenta ix ”
(BpoR Peuling} 2,9—3,6—4,2cm Quecks. (Klug?)
Ochsenfrosch . . . . 0,5—3,0 cm Quecksilber (Hofmeister)
Reptilien, Krokodile . 3,0—5,0 „ u (Hofmeister)
») F.N.Schulz, Über Blutdruckregulation bei Rana esculenta, Ber. d. deutsch.
physiol. Gesellsch. 1905, Zentralbl. f. Physiol. 19, 302. — *) S.Fuchs, Beiträge zur
Physiologie des Kreislaufs bei den Kephalopoden, Pflügers Arch. 60, 173, 1895. —
») C. Schönlein und V. Willem, Observations sur la eirculation de quelques
poissons, Bull. scient. de la France et de la Belg. 26. — *) F. Hofmeister, Bei-
träge zur Lehre vom Kreislauf der Kaltblüter, Pflügers Arch. 44, 68, 1889. —
°) Klug, Über den beschleunigenden Einfluß des Nervus vagus auf die Herz-
bewegung, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 80, 506, 1880.
774 Der mittlere Blutdruck des Menschen.
Der mittlere Blutdruck des Menschen
ist nur in den seltensten Fällen anläßlich chirurgischer Operationen gemessen
worden. Dabei fand Faivre (1856 !) in der Femoralis sowie in der Brachialis
einen Druck von 12cm Quecksilber. Albert?) fand bei derselben Methode
etwas höhere Werte. Neuerdings haben O0. Müller und Blauel?) ähnliche
Versuche gemacht und geben ähnliche Werte an.
Ich selbst habe nach einer sehr einfachen Methode von Katzenstein mit
diesem zusammen den Druck in der Subclavia gemessen. Durch einen Seitenast,
der bei einer Operation durchschnitten werden mußte, wurde eine möglichst große
sterile Kanüle in die Subelavia geschoben und dort mit einem breiten, später wieder
entfernten Bande festgebunden. Der Druck wurde mit einem Quecksilbermanometer,
das gedämpft werden konnte, gemessen und betrug dauernd nur 8 bis 9 cm Quecksilber,
während der gleichzeitig angelegte Recklinghausensche Apparat einen Druck
von 10 bis 14 (also im Mittel etwa 12)cm Quecksilber anzeigte. Der Druck von
8,7 cm ist zweifellos richtig, doch sind derartige Versuche nur als Kontrolle unblutiger
Blutdruckmeßapparate verwertbar, denn da die Patienten in solchen Fällen wohl
immer narkotisiert sind, ist der Blutdruck kein :normaler.
Dieser Versuch, sowie ausgedehnte Versuche von Müller) zeigen den
geringen Wert der absoluten Bestimmungen mit unblutigen Methoden.
Wenn ich in folgender Tabelle dennoch die Werte zusammenstelle, so
geschieht es, weil eben keine besseren vorhanden sind; es beträgt der Blut-
druck in runden Zahlen:
Mittelzahl uns Untersucher
renzen
Direkte Messung:
Mit Quecksilbermanometer in der 12 — Faivre u. Albert‘)
BASS er a 9,1 8,8—9,5 |O. Müller, Mittelzahl.
(In Narkose) Zr re | 8,7 —_ Katzenstein u.Nicolai
Indirekte Messung:
15 13—16 | Basch?)
Mit dem B rat -
I NEUE RENTEN AREA | 12 10—16 spätere Untersucher
13 Weg Riva Rocei
Mit dem Ri R i- A nn,
ee Aria \ 12 9—12 |spätere Untersucher °)
Mit dem Gärtnerschen Apparat 11 9—12 | Gärtner
MitdemRecklinghausenschen
Apparat (Methode d. entspannt.
Art) ae ne I» 34 9—13 Mittel a. eigen. Versuchen
Den mittleren Druck in der Aorta kann man mit Tigerstedt
etwa auf 15cm Quecksilber schätzen.
') Faivre, Gaz. med. de Paris 26, 727 (1856). — ?) Albert, Einige hämo-
graphische Messungen am Menschen, Medizin. Jahrbücher 8.249, Wien 1883. —
®) Müller und Blauel, Zur Kritik des Riva-Roceischen und Gärtnerschen
Sphygmomanometers, Arch. f. klin. Med. 91, 517, 1907. — *) Faivre u. Albert,
l. c. — °) Basch, Zeitschr. £f. klin. Med. 2, 96; 3, 383, 1880 u. 1881. — °) Zadeck,
Die Messung des Blutdruckes am Menschen mittels des Baschschen Apparates.
Berliner Dissertation 1880; Christeller, Blutdruckmessung am Menschen unter
pathologischen Verhältnissen. Berliner Dissertation 1880; Friedman, Med. Jahrb.
d. k. k. Gesellsch. d. Ärzte 1882, 8. 200, und andere mehr.
tee er
Blutdruck und Lebensalter. 775
$ 57.
Einfluß von Alter, Größe und Geschlecht.
Vielfach ist es versucht worden, den Einfluß von Alter und Körper-
größe auf den Blutdruck zu eruieren. Potain!) kam dabei zu dem
Resultat, daß die Körpergröße von keinem Einfluß auf den Blutdruck
sei. Wenn wir jedoch annehmen, daß der Einfluß nur etwa von jener Größen-
ordnung ist, der sich bei der Blutdruckmessung an verschiedenen Tieren
herausgestellt hat, so sieht man deutlich, daß die Fehlerquellen der Methodik
so groß sind, daß man sie nur an einem sehr großen statistischen Material
feststellen könnte.
Nach Potain ist der Blutdruck bei Erwachsenen doppelt 'so
groß als bei Kindern. Zu einem ähnlichen Resultat wie Potain
kamen auch Zadeck?), Arn-
heim?) und vor allem auch He 2:08
Eckert*), der mit Baschs Sphyg- 20
momanometer den Druck in der
Art.temporalis maß; das Mittel aus ; =
diesen Beobachtungen zeigt folgende
Kurve. Man sieht, daß die wesent-
N
0
lichste Blutdrucksteigerung in den > —— 2
Pubertätsjahren erfolgt. En
Die Autoren machen für diese 5 De es
Unterschiede nur das Alter und nicht
die Körpergröße verantwortlich, doch
ist es natürlich äußerst schwierig, 0 3 10 15 30 Jahre
im Einzelfalle zu sagen, ob Alter
oder Körpergröße das Entscheidende
ist, da ja beide, wenigstens annähernd,
parallel gehen. Das Alter muß zweifel-
los eine nicht unbeträchtliche Rolle
bei jeder Messung spielen, zwar nicht notwendigerweise in dem Sinne, wie Potain
glaubt, daß der Blutdruck selbst wesentlich geändert ist, sondern dadurch, daß die
viel größere Weichheit der kindlichen Gewebe eine einsinnige Fehlerquelle.ist, welche
den Blutdruck der Kinder relativ zu klein erscheinen läßt.
Allerdings hat man auch bei direkter Messung an Tieren gefunden, daß
bei jugendlichen Individuen der Blutdruck kleiner ist. Noch geringer zeigte er
sich vor der Geburt. Zuntz und Cohnstein’) fanden ihn bei jungen Schaf-
embryonen nur = 4,7cm Quecksilber, bei älteren Embryonen war er etwa doppelt
so groß. Dies steht im Zusammenhang mit der von Fuchs festgestellten Tatsache,
daß die Längsspannung des Gefäßsystems bei Embryonen bzw. Neugeborenen gleich
Null ist, und erst allmählich zunimmt.
Einfluß des Alters auf den Blutdruck.
« nach Eckert?) ®----- © nach Arnheim 3)
x nach Zadeck 2) e——e nach Potain !)
x
!) C. Potain, La pression arterielle de l’homme ä l’&tat normal et pathologique,
Paris 1902. — ?) Zadeck, Die Messung des Blutdruckes am Menschen mittels des
Baschschen Apparates, Zeitschr. f. klin. Med. 2, 514, 1881. — °) Arnheim, Über
das Verhalten des Wärmeverlustes, der Hautperspiration und des Blutdruckes bei
verschiedenen fieberhaften Krankheiten, Ebenda 5, 383, 1882. — *) Eckert,
Wratsch 3, 220, 1882. — °) Zuntz und Cohnstein, Untersuchungen über das
Blut, den Kreislauf und die Atmung beim Säugetierfötus. Pflügers Arch. 34,
193, 1884.
776 Der Druck in den Arterien
Wir erwähnen dann noch die Arbeiten von Gumprecht''!) und Hensen?),
die ebenfalls eine Blutdrucksteigerung bei zunehmendem Alter konstatierten.
Gumprecht fand den höchsten Blutdruck bei Greisen. Beide fanden, daß Frauen
einen niedrigeren Blutdruck haben als Männer, wobei es allerdings zweifelhaft ist,
inwieweit hierbei die Körpergröße eine Rolle spielt. Auch Albutt?°) hat eine Blut-
drucksteigerung im späteren Leben gefunden, ebenso Ugriumow‘*). Die runden
Mittelzahlen sind folgende:
Gumprecht Hensen Ugriumow
cm Hg cm Hg . cm Hg
Kinder 7 an. 10 12 =
Frauen on. Me: 12 13 11
MERNeEr:. are en 14 14 12
reisen a een 18 —_ 15
Ugriumow betont ausdrücklich, daß die gemessene Blutdrucksteigerung im
Greisenalter eine Folge der Arteriosklerose sei, was auch wohl für die anderen
Untersuchungen gelten dürfte.
$ 58.
Der Blutdruck an den verschiedenen Stellen des Körpers.
a) Der Druck in den Arterien.
Daß der mittlere Blutdruck in jedem der beiden Kreisläufe von den
Semilunarklappen ab bis zu den venösen Ostien des Herzens dauernd ab-
nimmt, daran kann gar kein Zweifel sein, denn sonst könnte eben keine
Strömung zustande kommen, die doch immer von den Orten höheren Druckes
zu denen niederen Druckes verläuft.
Aber wohl möglich ist es, daß zeitweilig an rückwärts gelegenen Stellen
eine Verminderung des Druckes eintritt, dann kommt es eben zu einer zeitweiligen
Rückströmung, welche die ganze vorliegende Blutsäule ergreift, bis zu dem Punkte,
in dem der Druck schon infolge seiner Entfernung vom Herzen so tief gesunken
ist, daß er dem nunmehr verminderten Drucke gleich ist. Daß dies bei der Ent-
stehung der sogenannten dikroten Welle der Fall ist, soll in $ 67 gezeigt werden.
Im übrigen aber nimmt der Druck allmählich ab — muß abnehmen,
Wenn Poiseuille5) in seiner Doktorarbeit das Gegenteil behauptet und
angibt, daß der Druck in den Arterien überall gleich sei, so kann er damit
nur meinen, daß die Druckunterschiede in den der Messung zugänglichen
größeren Arterien klein sind, und dies erscheint fast selbstverständlich: sind
doch in den Arterien kaum Widerstände zu überwinden, die Bahnen sind
weit und bleiben es. Ja, dadurch, daß die Gesamtbahn sich dauernd erweitert,
wird das Strömen noch erleichtert.
‘) Gumprecht, Experimentelle und klinische Prüfung des Riva-Roccischen
Sphygmomanometers, Zeitschr. f. klin. Med. 39, 377, 1900. — ?) Hensen, Beiträge
zur Physiologie und Pathologie des Blutdruckes, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 67,
436. — °) Albutt, Rise of blood-pressure in later life, Med. chirurg. Transactions
86, 323, 1903. — *) Ugriumow, Schwankungen des Arteriendruckes im Greisen-
alter, Wratsch, Nr. 32/33, Petersburg 1892. — °) Poiseuille, Recherches sur la
force du coeur aortique, These de Paris, p. 31.
ee ee ee ee |
ist überall fast gleich groß. 777
Nur in der Nähe der Peripherie bei der Aufspaltung in kleine Arterien nimmt
möglicherweise der Druck rascher ab, so gibt v. Frey!) an, daß der Druck in
der Radialis über dem Handgelenk . . 15—16cem Quecksilber
dem Daumenballen . .». .». 22.2.2... 12-13 , 5
der letzten Phalange des Fingers . . . 10—11 „ 5
beträgt (über die Methode vgl. $ 22, 8. 709).
v. Recklinghausen?) dagegen sah den Druck nur um weniges (etwa
1 cm) abnehmen:
Maximum Minimum
Im'Öberarm' . . . 2% 14,5 . 8,8 cm Quecksilber
Im Mittelfinger ..... 133 TTS > 7
Die Poiseuillesche Angabe, daß praktisch der Blutdruck von der Ent-
fernung vom Herzen unabhängig ist, haben spätere Untersuchungen aus-
nahmslos bestätigt, so fand z. B.
Volkmann) beim Kalb in der Carotis einen nur um 14 bis 29 Proz.
höheren Druck als in der Peripherie,
Fick) beim Hund in der Aorta einen um 14Proz. höheren Druck
als in der Peripherie, .
v. Schulten®) beim Kaninchen in der Aorta einen um 8 Proz. höheren
Druck als in der Peripherie.
Hürthle’) hatte auf Grund von Hundeversuchen darauf hingewiesen,
daß zwar der minimale (sogenannte diastolische) Druck vom Herzen gegen
die Peripherie sich nur um weniges ändert (im Mittel seiner Versuche
nimmt er um etwa 5 Proz. ab), daß aber der maximale (sogenannte systolische)
Druck sich recht bedeutend ändert, und zwar nimmt derselbe gegen den
Kopf hin stark ab (um 40 Proz.), gegen die Beine weniger stark zu (im
Mittel um 25 Proz.).
Danach schien der mittlere Druck in der Cruralis höher zu sein als in
der Carotis. Diese schon von Ludwig und Spengler und später von
Volkmann beschriebene paradoxe Erscheinung will v. Kries (1892°) durch
die Bildung. einer stehenden Welle infolge von Reflexion erklären. Hoor-
weg) versucht eine andere Erklärung, doch gibt Hürthle!P) auf Grund
!) v. Frey, Eine einfache Methode, den Blutdruck beim Menschen zu
messen, Festschr. f. B. Schmidt, Leipzig 1896. — *) v. Recklinghausen, Un-
blutige Blutdruckmessung, I u. II, Arch. f. experim. Pathol. u. Pharmak. 55,
433ff., 1906. — °) Berechnet als Mittelzahl der Versuche von Recklinghausen.
*) Volkmann, Hämodynamik 1846, 8. 168. — °) Fick, Festschrift Würzburg 1,
278, 1882. — °) v.Schulten, Arch.f. klin. Chirurgie 32, 463, 1885. — 7) Hürthle,
Über den Ursprungsort der sekundären Pulswellen, Pflügers Arch. 47, 17, 1890. —
®) v. Kries, Studien zur Pulslehre, S. 67f., Freiburg 1892. — °) Hoorweg, Peri-
pherische Reflexion des Blutes, Pflügers Arch. 52, 488, 1892. — '") K. Hürthle,
Vergleichung des mittleren Blutdruckes in Carotis und Cruralis (Physiol. Inst. Bres-
lau), Arch. f. d. ges. Physiol. 110, 421 bis 436 (Taf. 2), 1905; M. Sichle, Beiträge
zu einer funktionellen Diagnose der Angina pectoris, Wien. klin. Wochenschr., Nr. 14,
S. 379; Horner, Über Blutdruckuntersuchung mit dem Sphygmoskop nach Pal,
Deutsch. med. Wochenschr. 1907, Nr. 19, S. 753; M. W. Janowsky, Über klinische
Methoden zur Bestimmung der arteriellen Druckänderungen, Izw. Wojen Med.
Akad.10 (No.1), 3 (russisch), 1905; L. Raab (sein Schüler Uskow), Funktionelle
Diagnose der beginnenden Kreislaufstörung, Verh. d. 23. Kongr. f. innere Med.
1906, 8. 498; G. Oliver, Haemomanometry in man, Lancet 1905, Nr. 4273, p. 201.
778 Der Capillardruck
seiner letzten, sehr sorgfältig durchgeführten Untersuchung an, daß der
Cruralisdruck in Wahrheit stets niedriger ist als der Carotidendruck (etwa
0,1 cm niedriger).
b) Der Capillardruck.
Daß der größte Teil des Blutdruckes bei der Durchströmung der kleinen
Gefäße verbraucht wird, ist zweifellos. Fraglich kann nur sein, ob dieser
Verbrauch vornehmlich in den kleinen Arterien, in den Capillaren selbst oder
etwa gar in den kleinen Venen stattfindet. Das Naheliegendste war es, den
größten Druckabfall in den engsten Gefäßen, also in den Capillaren, zu suchen;
wenn man auch sehr bald fand, daß die Poiseuillesche!) Ansicht, wonach
der Widerstand in den Capillaren von einer Einschränkung der Strombahn
herrühre, durchaus falsch sei, so war doch die Meinung allgemein verbreitet,
daß der ganze Druck des Herzens in den Capillaren verzehrt werde, und daß
deshalb in der Mitte der Capillaren der halbe Herzdruck herrschen müsse
[vgl. hierzu die damaligen Lehr- und Handbücher der Physiologie von
Donders2), Hermann’), Kirke®), Landois°) u.a... Tigerstedt®), der
sich über diese Frage nicht bestimmt äußerte, scheint den wesentlichen Wider-
stand in den Capillaren zu sehen, trotzdem schon Volkmann’) darauf auf-
merksam gemacht hatte, daß man sich vom Widerstand in den Capillaren
nicht eine übertrieben große Vorstellung machen dürfe, weil in ihnen die
Geschwindigkeit sehr gering ist.
In die kleinen Venen wurde der Hauptwiderstand wohl nur von A. Fick ®)
verlegt, der meinte, „daß in den Capillaren noch nahezu der arterielle Blut-
druck bestände, und erst in den Anfängen des venösen Abschnittes sehr rasch
zu den in den Venen mittleren Kalibers beobachteten sehr geringen Werten
absinke“, eine Ansicht, die schon dadurch widerlegt wird, daß die kleinsten
Venen niemals spritzen.
Demgegenüber hat wohl Campbell?) zuerst darauf hingewiesen, daß
der größte Druckabfall und der größte Widerstand in die kleinen Arterien
verlegt werden müsse. Diese Meinung hat vor allem Benno Levy !P) durch
Versuche, Betrachtungen und Berechnungen über das Poiseuillesche
Gesetz zu stützen gesucht. Im Eingange des $ 48 hatten wir gezeigt, wie
man auch ohne Rücksicht auf dieses Gesetz zu der gleichen Annahme kommt,
wie denn überhaupt das Poiseuillesche Gesetz aus der Diskussion über der- °
artige Fragen ausscheiden sollte, da sich die Kompliziertheit des Capillar-
systems nicht unter die starre Abstraktion einer derartigen Formel sub-
summieren läßt. (Vgl. hierzu $ 49.)
Der Blutdruck in den Capillaren selbst ist naturgemäß für das Zustande-
kommen der Stoffwechselvorgänge äußerst wichtig. Man kann sicherlich be-
') Poiseuille, Sur la pression du sang dans le syst&me arteriel, Compt. rend.
de l’Ac. 66, Nr. 19, p.886. — *) Donders, Physiologie des Menschen, übersetzt
von Theile 1859, 8.130. — ®) Hermann, Handbuch d. Physiologie IV, 1, 322. —
*) Kirke,. Handbook of Physiology. — °) Landois, Lehrbuch der Physiol. des
Menschen, 7. Aufl., 8. 168, 1891. — °) Tigerstedt, Lehrbuch 8. 413 bis 415. —
7) Volkmann, Pogg. Ann. 61, 586. — °®) Fick, Über den Blutdruck in den Blut-
capillaren, Pflügers Arch. 42, 482, 1888. — °) Campbell, On the resistance offered
by the blood capillaries to the eirculation, Lamet 1894, I, p.594. — !) Benno
Levy, Die Reibung des Blutes, Pflügers Arch. 65, 447, 1897.
an ah ann ne
haha On
tendiert zur Stabilität. 779
haupten, daß die Aufrechterhaltung eines bestimmten Blutdruckes oder besser
noch eines bestimmten Blutdruckabfalles und dadurch gegebener Capillar-
geschwindigkeit das Wesentlichste im ganzen Kreislauf ist. Der -Capillar-
druck ist nun zwar abhängig vom Druck in den Arterien, doch kann, wie
an anderer Stelle hervorgehoben worden ist, der Körper lokal seinen Capillar-
druck durch Erweiterung oder Verengerung der kleinen Arterien variieren.
Die relative Unabhängigkeit des Capillardruckes vom arteriellen Druck haben
vor allem Bayliss und Starling!) experimentell gezeigt, die das Verhältnis
vom arteriellen zum Capillar- und Venendruck ausführlich erörtern. Wäre
dies nicht der Fall, so müßte z. B. der Blutdruck in den Capillaren direkt
proportional der Höhe sein, in welcher sich das betreffende untersuchte
Capillargebiet jeweilig über der
Herzhöhe befindet?2).. Nehmen m Hg ru Bd
wir an, die in Herzhöhe gehaltene 7 A
Hand habe in ihren Capillaren sl I
einen Druck von beiläufig 3,5 cm 5 IE
Quecksilber, was nach den Unter- Beet pe)
suchungen von v. Kries?) etwa * gern
zutrifft, dann müßte, nach den 3 >77
Gesetzen der Hydrostatik, beim at? —_ abs
Erheben bzw. Senken der Hand i BR |
der Capillardruck entsprechend Ge | |
den punktierten Geraden in “50cm 50 cm
Fig. 66 fallen bzw. steigen, d.h. uyraigenge a Ha a
wenn die Hand 1 „m gehoben Änderung des Capillardruckes in der Hand bei
ist, müßte der Capillardruck 0 Heben und Benken des Armes.
sein, ist sie !/,m gesenkt, müßte
der Druck etwa 6,5 cm betragen. Statt dessen folgt die Druckkurve, wie aus
den vergleichenden Untersuchungen von v. Kries hervorgeht, etwa der stark
ausgezogenen Linie. Man sieht daraus, daß der Capillardruck sich langsamer
ändert, als nach den einfachen hydrostatischen Gesetzen erwartet würde,
und zwar sind die vital bedingten Abweichungen desto größer, je
kleiner der Druck ist. Zu ähnlichen tatsächlichen Feststellungen ist auch
v. Recklinghausen *) gekommen. Die von ihm mit diesem Phänomen in
Zusammenhang gebrachten Erscheinungen an den Venen dürften jedoch eher
Folgen als Ursachen sein.
Der Körper reagiert also viel weniger auf eine Druckerhöhung im Capil-
larsystem als auf eine Drucksenkung; die Druckerhöhung erscheint auch
nicht gefährlich, während’ eine bis auf einen Druck von 0 herabgehende Blut-
drucksenkung natürlich eine deletäre Anämie zur Folge haben müßte — und
dagegen verteidigt sich der Körper mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln
der Formänderung im Gefäßsystem. Er kann dies auf alle Fälle leisten,
!) Bayliss u. Starling, Observations of venous pressures and their relationship
to capillary pressures, Journ. of Physiol.16, 159, 1894. — *) Proportional natürlich
abzüglich einer additiven Konstante. — °) v. Kries, Ber. d. Königl. sächs. Ges. d.
Wiss., math.-phys. Kl., 27, 149, 1875; Arbeiten a. d. physiol. Anstalt Leipzig 10,
69, 75 u.76. — *) v. Recklinghausen, Unblutige Blutdruckmessung III. Arch.
f. experim. Pathol. u. Pharmak. 55, 498 ff., 1906.
780 Der Venendruck ist klein aber positiv.
denn selbst bei Kopf stehenden Riesenmenschen befinden sich die Füße nur
höchstens 1,5 m über dem Herzen. Um das Blut bis dahin zu treiben, ist
ein Druck von etwa ll cm notwendig. Da das Herz einen Druck von etwa
18cm ausübt, müssen die kleinen Arterien und die Capillaren sich so weit
öffnen, daß bei ihrer Durchströmung nicht mehr als beiläufig 5cm Queck-
silberdruck verbraucht wird, dann bleibt in den Capillaren immer noch ein
Druck von 3cm Quecksilber übrig, und das genügt.
Daß eine schlechte Blutversorgung die Gefäße zu einer Dilatation bringt,
geht auch aus den Versuchen von Nathansohn!) hervor, der nach einer
Umschnürung der Venen den Blutdruck während der folgenden 15 Minuten
langsam, aber stetig ansteigen sah, übrigens werden sich nicht nur die
kleinen Arterien, sondern auch die Capillaren selbst erweitern — denn diese
sind sicherlich kontraktionsfähig (Steinach).
c) Der Venendruck.
Den Venendruck kann man nur dann mit einer endständigen Kanüle
messen, wenn die untersuchte Vene nicht die direkt und einzig von einem
Capillargebiet stammende ist, weil sonst nach allmählicher Erweiterung der
Capillaren der übertragene Arteriendruck gemessen werden würde. Sonst
mißt man den Venendruck mit einer T-Kanüle.
Der Venendruck ist abhängig von vielerlei Umständen, vor allem aber
von der Weite der Capillaren.
Aus den Angaben von Jacobsohn geht hervor, daß der Venendruck
in den Beinvenen. . »°. 2 2.2.2... 0.0. über 4+1,0cm Quecksilber,
in den Armvenen. . .........7+05bis +10 „ a
in der Anonyma und ihren Ästen . .... etwa+0 „ ei
ist.
Daß in diesen nahe dem Thorax gelegenen Venen der Druck, besonders während
der Inspiration, negativ sein kann, wird in dem Abschnitt über den Donders-
schen Druck auseinandergesetzt werden. Hier werden auch die eventuellen Ge-
fahren, die daraus für chirurgische Operationen in dieser Gegend resultieren, des
näheren auseinandergesetzt werden.
$ 59.
Der Einfluß verschiedener physiologischer Faktoren auf den Blutdruck.
Der wichtige Satz — „alles was auf den Körper überhaupt wirkt,
wirkt auch gleichzeitig auf den Blutdruck“ — ist niemand so in
Fleisch und Blut übergegangen, als den Pharmakologen, die, um ein neues Heil-
‘ mittel zuerproben, füglich zuerst einmal eine Blutdruckmessung vor der Injektion
des neuen Pharmakons und dann eine zweite nach der Injektion ausführen.
Diese pharmakologischen Arbeiten können hier nicht berücksichtigt
werden, ebensowenig die zahlreichen klinischen Untersuchungen über die
Frage, ob der Blutdruck in einzelnen Krankheiten steigt oder sinkt. Wir möchten nur
erwähnen, daß sich bei kranken Leuten häufiger eine Blutdruckerniedrigung als eine.
Steigerung findet (vor allem bei den meisten chronischen Krankheiten); eine Erhöhung
des Blutdruckes zeigt sich eigentlich nur bei manchen Herz- und Nierenkrankheiten.
Aber auch nach Eliminierung der genannten Arbeiten bleibt genug übrig, was
besprechenswert wäre. Alle physiologischen Faktoren und Reize — vom Essen und
Trinken angefangen bis zur Defäkation und Ejakulation — sind von sorgsamen
!) Nathansohn, Über das Verhalten des Blutdruckes in den Capillaren. Königs-
berger Dissertation 1886.
En Enneen
Blutdruck und Körperlage. 781
Untersuchern auf ihre pressorische Wirkung hin untersucht worden. Besonders,
nachdem die neueren Methoden der unblutigen Blutdruckmessung derartige Unter-
suchungen verhältnismäßig einfach gestaltet haben, schwoll die diesbezügliche Lite-
ratur ins Ungemessene. Gute Übersichten findet man bei Neu!), die neueste Literatur
bei John’).
Körperlage.
Die Körperlage soll einen Einfluß auf den Blutdruck besitzen, und dies
scheint auch richtig trotz der widersprechenden Angaben. Im allgemeinen wird
angegeben, daß im Liegen der mittlere Blutdruck im ganzen Körper
am höchsten sei, niedriger im Sitzen und am niedrigsten im
Stehen. Schapiro®) und Friedmann), die beide mit dem Sphyg-
momanometer gearbeitet haben, geben an, daß der Blutdruck im Liegen
etwa um 10 Proz. zunimmt. Erlanger und Hooker’5), die mit dem Er-
langerschen Apparat arbeiteten, konnten in zahlreichen, exakt angestellten
und ausführlich mitgeteilten Versuchen diese Angaben nicht bestätigen. Sie
haben jedoch nicht den mittleren Blutdruck bestimmt, sondern haben ver-
sucht, den maximalen und minimalen Blutdruck zu messen. Dabei zeigte
sich, daß beim Aufstehen der maximale Blutdruck annähernd derselbe bleibt
(im Mittel aller ihrer Versuche eine Verminderung von etwa 1 Proz.), daß
dagegen der minimale Blutdruck zunimmt (im Mittel aller ihrer Versuche
um etwa 10 Proz.). Zu ähnlichen Resultaten kommt Neu.
Hieraus darf man nicht schließen, daß auch der mittlere Blutdruck zunimmt,
auch meinen die Verfasser, daß das Wesentliche nicht die Vergrößerung oder Ver-
ringerung des Blutdruckes sei, sondern daß als konstante Erscheinung eine Ver-
kleinerung des sogenannten Pulsdruckes (d. h. der Differenz zwischen maximalem
und minimalem Druck) beim Aufstehen zu betrachten sei. Die Verfasser neigen
übrigens der Ansicht zu, daß die von ihnen beobachteten Erscheinungen einfach
mechanische Folgen der Gravitation seien, und daß die Erscheinungen beim Auf-
stehen durch ein „Verbluten in die unteren Extremitäten hinein“ bedingt’ seien,
doch müßte dies, am Arme gemessen, eine Verminderung des Blutdruckes be-
dingen. Die tatsächlichen Resultate können also nur erklärt werden, wenn man
annimmt, daß die von Erlanger und Hooker erwähnten kompensatorischen Vor-
gänge (Konstriktion der peripheren Gefäße und Vermehrung der Herzenergie) eine
Überkompensation herbeiführen. :
Bröking‘°) hat dagegen wieder ein konstantes Verhältnis gefunden und
die Befunde von Schapiro und Friedmann bestätigen.können, nur meint er,
beim Sitzen mit horizontal gelagerten Beinen sei der Blutdruck noch höher als im
Liegen, .und erklärt dies durch die dabei auftretende Kompression des Bauches —
dadurch würde das Blut aus dem Splanchnicüsgebiet in die Peripherie gedrückt,
beim Liegen aber falle das weg. Auch John findet den Blutdruck im Stehen am
tiefsten. « (Vgl. auch das Kapitel über Einwirkung der Gravitation, $ 8 u. 9, 8.680 f.)
Arbeit, Massage und Nervenreizung.
Über den Einfluß der Muskelarbeit auf den Arteriendruck liegen
vor allem die experimentellen Arbeiten von Tangl und Zuntz’) vor.
!) Neu, Experimentelle und klinische Blutdruckuntersuchungen. Heidelberg
1902. — ?) John, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 93, 542, 1908. — ®) Schapiro,
Untersuchung an gesunden Soldaten, Wratseh 2, 493 (russisch). — ‘) Friedmann,
Med. Jahrb. d. k. k. Ges. d. Ärzte 1882, 8.200 f. — °) Erlanger und Hooker, An
experimental study of blood pressure and of pulse pressure in man. John Hopkins
Hosp. Rep. XII, p. 145, 1904. — °) Bröking, Ein Beitrag zur Funktionsprüfung der
Arterien, Zeitschr. f. experim. Pathol. 4, 220, 1907. — 7) E.Tangl u. H.Zuntz, Über
die Einwirkung der Muskelarbeit auf den Blutdruck, Pflügers Arch. 70, 544, 1898.
782 Blutdruck bei der Arbeit.
Dieselben maßen direkt mittels eines fest aufgestellten Manometers den
Arteriendruck bei Hunden, welche sie im Tretwerk laufen ließen. Sie fanden
bei leichter Arbeit eine Steigerung um 0,6, bei schwerer Arbeit eine Steige-
rung um 2,3cm Quecksilber; bei erschöpfendem Laufen erhöhte sich der
Blutdruck sogar um 10,0cm. Welches die Ursache dieser Blutdrucksteige-
rung ist, kann schwer gesagt werden. Die Angabe der Autoren, daß die
Bauchpresse während des Laufens besonders stark angestrengt werde, legt
den Gedanken nahe, daß wenigstens zum Teil die Erhöhung des Blutdruckes
dadurch hervorgerufen wird, daß das Blut aus dem Splanchnicusgebiet heraus-
und in die Peripherie hineingepreßt wird.
Auch am Menschen wurden diese Angaben in allen Fällen bestätigt, so
z. B. von Hill!), Gumprecht?), Masing?) u. a. Letzterer fand, daß die
Blutdrucksteigerung bei alten Leuten größer ist als bei jungen, wenn sie die-
selbe Arbeit verrichten. Dagegen fanden Hallion und Gomte‘) bei an-
haltender Muskelarbeit ein Zurückgehen der anfänglichen Blutdruckerhöhung,
was ein Schutzmittel des Körpers sei, damit ein Muskel, wenn er an der Grenze
seiner Leistungsfähigkeit angelangt ist, die Fähigkeit zur Kontraktion verliert.
Die im therapeutischen Interesse oft erwogene Frage, ob Massage blut-
drucksteigernd wirkt, ist verschieden beantwortet. Brunton und Tunicliffe°)
fanden in Hunde- und Katzenexperimenten, daß ausgedehnte Massage auf den
allgemeinen Blutdruck zuerst leicht steigernd und dann stark herabsetzend
wirkt. Die Herabsetzung ist eine Folge der durch die Massage bewirkten
Herabsetzung des Abflußwiderstandes an den massierten Stellen. Da aber
diese vermehrte Strömung durch das massierte Glied auch schon während
der anfänglichen Blutdrucksteigerung statthat, kann sie nur Folge einer
sensiblen Reizung sein, wie denn überhaupt sensible Nervenreize außerordent-
lich leicht eine Blutdrucksteigerung hervorrufen. Beim Kaninchen ruft oft
schon leises Anhauchen der Haut, sicher aber jeder Schmerz eine Blutdruck-
steigerung hervor. Auch beim Menschen ist es ähnlich. Besonders starke
Blutdrucksteigerung tritt nach Trigeminusreizung ein. Bekannt ist der
Hering-Kratzschmersche Reflex, der in einer Blutdrucksteigerung nach
Riechen an Ammoniak besteht.
Durch diese und andere Faktoren, sowie durch einen durchaus wesent-
lichen individuellen Faktor ist der Blutdruck des einzelnen in jedem
Augenblick bedingt. Aus der Tatsache, daß im allgemeinen unsere Lebens-
gewohnheiten nach einem in allen Fällen sehr ähnlichen Schema verlaufen,
ergibt sich eine tägliche Kurve des Blutdruckes, die annähernd bei allen
Menschen gleichartig auftritt und die besonders von Colombo) ge-
nauer untersucht ist. Er findet, daß in den Mahlzeitstunden, sowie in den
') L. Hill, Arterial pressure in man while sleeping, resting, working, bathing.
(Physiol. Soc.), Journ. of Physiol. 22, 26—29, 1898. — ?) Gumprecht, Experi-
mentelle und klinische Prüfung des Riva-Roccischen Sphygmomanometers, Zeit-
schrift £. klin. Med. 39, 377, 1900. — ®) E. Masing, Über das Verhalten des Blut-
druckes des jungen und bejahrten Menschen bei Muskelarbeit, Deutsch. Arch. £. klin.
Med. 74, 253, 1902. — *) Hallion et Comte, Sur les röflexes vaso-moteurs bulbo-
medullaires dans quelques maladies nerveuses, Arch. d. physiol. norm. et pathol. 1895,
p. 90.—°) Bruntonu. Tunieliffe, On the effects of the kneading of muscles upon
the eirculation, local and general, Journ. of Physiol. 17, 364, 1895. — °) C. Colombo,
Recherches sur la pression du sang chez l’homme, Arch. ital. d. biol. 31, 345, 1899.
et
Abhängigkeit des Blutdruckes von verschiedenen Faktoren. 783
für gewöhnlich wärmeren Tagesstunden der Blutdruck abnimmt, um während
der Schlafzeit anzusteigen. Diese Blutdruckschwankungen treten ebenso
regelmäßig ein, auch wenn es zufällig zu den betreffenden Stunden nicht
warm ist, oder wenn man nicht schläft oder nicht ißt. Colombo meint, daß
es sich dabei um hereditäre (eventuell atavistische) Zustände handelt.
Die Umgebungstemperatur
scheint sicherlich von Einfluß auf den arteriellen Blutdruck zu sein, wenigstens
fanden alle Untersucher einen blutdrucksteigernden Einfluß kalter Bäder; so
Edgecombe und Bain!), Hegglin?) u. a Hegglin insonderheit fand
auch eine Blutdrucksteigerung von warmen Duschen auf den Bauch,
während sonst im allgemeinen Wärme den Blutdruck, wie mehrfach be-.
richtet wird, herabsetzt. Eine Blutdruckherabsetzung bei warmer Außen-
temperatur will auch Colombo?) beobachtet haben.
Herzfrequenz.
(Vgl. hierzu auch $ 45 auf 8. 751.)
Daß eine Änderung der Herzfrequenz (Potain) keinen Einfluß
auf den Blutdruck ausübt, könnte wunderbar erscheinen, doch ist zu be-
denken, daß der Druck ja nicht von der Herzfrequenz allein, sondern von
dem Produkt dieser Größe mit dem Schlagvolum abhängig ist. Da nun aber
im allgemeinen die Energie des einzelnen Herzschlages (von der das Schlag-
völum bedingt ist) sich umgekehrt proportional der Frequenz ändert, wie
seinerzeit vor allem Engelmann gezeigt hat, so ist es selbstverständlich, daß
das Produkt in allen Fällen dasselbe bleibt. O.Frank®) hat Betrachtungen über
den Einfluß reiner Frequenzänderungen (d.h. Frequenzänderungen
ohne Änderung des Ablaufs der einzelnen Pulskurven) angestellt. Diese Be-
trachtungen haben einen lediglich theoretischen Wert, da O. Frank selber
zugeben muß, daß etwas derartiges überhaupt nicht vorkommt. Ob Fieber
den Blutdruck mittelbar oder unmittelbar ändert, ist eine strittige Frage, vgl.
z.B. Mosen‘), der behauptet, daß Fieber an sich den Blutdruck nicht ändere.
Doch ist: die Frage vorläufig wenigstens von wesentlich pathologischem Interesse.
Sechstes Kapitel.
Die Pulswelle.
(Vgl. hierzu auch $$ 25 bis 27.)
$ 60.
Die Entstehung der Pulswelle.
Die Theorie einer diskontinuierlichen Flüssigkeitsbewegung in Röhren kann
auf-alle Fälle abgeleitet werden. Eine Übereinstimmung der Theorie mit den
Tatsachen wird sich — gemäß dem heutigen Stande unseres Wissens — im Falle
!) Edgecombe u. Bain, Effect of bath, massage and exereise on the blood-
pressure, Journ. of Physiol. 24, 48, 1899. — °) Hegglin, Experimentelle Unter-
suchungen über die Wirkung der Douche, Zeitschr. f. klin. Med. 26, 15, 1894. —
5) Colombo, Recherches sur la pression du sang chez l’homme, Arch. ital. de biol.
31, 345, 1899. — *) Potain, l.c. — °) O. Frank, Einfluß der Häufigkeit des Herz-
schlages auf den Blutdruck, Zeitschr. £. Biol. 41, 1 bis 13, 1901. — ©) Mosen, Über
das Verhalten des Blutdruckes im Fieber, Deutsch. Arch. f. klin. Med. 52, 601, 1894.
784 Die Theorie des Pulses.
starrwandiger, gerader, unverzweigter Röhren ergeben, deren Lumen sich nicht
ändert, und in deren Verlauf keine besonderen Widerstände eingeschaltet sind.
Zu einer annähernden Übereinstimmung wird man auch gelangen,
wenn die Röhren elastisch sind und man die Elastizitätskoeffizienten kennt,
3 - er verzweigt sind und man den Verzweigungsmodus kennt,
2 2 R ; = Ri „ die dadurch bedingten Wirbel kennt,
5 > 5 krumm sind und man überall den Grad der Krümmung kennt,
x ” x sich erweitern und man den Grad der Erweiterung kennt,
” 4 5 Widerstände enthalten und man die Größe und Art der-
selben kennt.
Wenn aber, wie beim Blutgefäßsystem alle diese Komplikationen und noch
einige andere vorhanden sind und man weder den Elastizitätskoeffizienten, noch
den Verzweigungsmodus kennt, wenn man weder weiß, wo eigentlich der Haupt-
widerstand sitzt, noch wo und um wieviel sich die Gefäße erweitern, dann darf es
uns nicht wundernehmen, daß die Theorie mit den Tatsachen nicht stimmt, oder
daß man niemals auf Grund der Theorie bisher unbekannte Zusammenhänge vor-
aussagen konnte; und wenn man das nicht kann, hat die Theorie nur geringen
Wert, weil sie bestenfalls vieldeutig ist.
Die Theorie rhythmischer Bewegungen in Röhrensytemen ist in aus-
gezeichneten Arbeiten mit spezieller Berücksichtigung der Blutbewegung
niedergelegt. Im folgenden soll sie jedoch nicht erörtert werden. Nur auf
die Gesichtspunkte, auf die es dabei ankommt, wird an geeigneter Stelle auf-
merksam gemacht werden.
Zusammenfassende Darstellungen, in denen auch die reiche Literatur
über diesen Gegenstand angegeben ist, finden sich in den Arbeiten von
Ernst Heinrich Weber (1850)!), Marey (1875)2), Moens (1878)3),
Grashey (1881)*) und v. Kries (1883 und 1892)3).
Auf die Bedeutung des Pulses für den Blutdruck und den Vorteil der
Diskontinuität für die Strömungsgeschwindigkeit ist schon im $ 10 ein-
gegangen, hier soll nur das Zustandekommen der bestimmten menschlichen
Pulsform geschildert werden [vgl. auch die Arbeit von Hamel®)].
Durch die (hier als gegeben anzunehmende) Kraft des Herzens wird bei
jedem Herzschlag in den Anfang eines Systems elastischer Röhren, nämlich
in den Aortenbulbus, eine gewisse Menge Blut hineingeworfen. Diese Blut-
menge, welche eine gewisse Energie besitzt, drückt während des Herein-
strömens nach allen Seiten, einmal auf die Wände des Bulbus, die dadurch
ausgedehnt werden, und zweitens gegen die gesamte Blutsäule, die dadurch
eine peripherwärts gerichtete Beschleunigung erhält. Selbst wenn die Blut-
säule völlig frei beweglich wäre, könnte sie vor dem hereinströmenden Blute
nicht momentan ausweichen, da sie doch zum mindesten im Anfangsteil der
') E. H. Weber, Über die Anwendung der Wellenlehre auf die Lehre vom
Kreislauf des Blutes und insbesondere auf die Pulslehre, Ber. über d. Verhandl. d.
Königl. sächs. Ges. d. Wiss. zu Leipzig, math.-phys. Kl. 3, 164, 1850. — ?) Marey,
La theorie du pouls, Travaux du laboratoire 1875, p. 87—122. — °) Moens, Die
Pulskurve, Leiden 1878. — ‘) H.Grashey, Die Wellenbewegung elastischer Röhren,
Leipzig 1881. — °) J. v. Kries, Über die Beziehungen zwischen Druck und Ge-
schwindigkeit, welche bei der Wellenbewegung in elastischen Schläuchen stattfinden,
Festschr. d. Freiburger naturf. Ges. 1883 und Studien zur Pulslehre, Freiburg 1892.
— 9) zamel, Die Bedeutung des Pulses für den Blutstrom, Zeitschr. f. Biol. 25,
N: PT. x
Die Entstehung der Pulswelle. 785
Aorta während des Klappenschlusses still gestanden hatte und daher infolge
ihrer Trägheit dem Druckzuwachs vom Ventrikel her einen gewissen Wider-
stand entgegensetzt. Nun ist aber die Blutsäule durchaus nicht frei beweglich,
sondern durch Reibung stark in ihren Bewegungen gehemmt. Es kann also
nicht so viel aus dem Bulbus heraus, wie in ihn hineinfließt. Infolgedessen
kommt es zu einer Blutstauung im Bulbus, die so lange andauert, bis die
Bulbuswände so weit ausgedehnt sind, daß der in ihnen entstandene Gegen-
druck stark genug ist, das Blut aus dem Anfangsteil der Aorta ebenso schnell
hinauszutreiben, wie es hineingeworfen ist. Dies wird auf doppelte Weise
erreicht; einmal vermindert der wachsende Druck das Einströmen vom Ven-
trikel her (denn hier wird der Druckunterschied geringer), und zweitens
erhöht er das Abströmen gegen die Peripherie (denn hier wird der Druck-
unterschied vergrößert).
Der auf diese Weise erreichte stationäre Zustand könnte also auch zu-
stande kommen, wenn der Druck im Ventrikel immer derselbe bleibt. Ja,
da der Trägheitswiderstand nur zu Anfang des Strömens vorhanden ist, wird
es nach einiger Zeit zu einem Nachlassen des Widerstandes und mithin zu
einer Drucksenkung kommen. Der Beginn des katakroten (absteigen-
den) Schenkels ist also nicht notwendigerweise ein Ausdruck
dafür, daß der Druck im Ventrikel gesunken ist.
Da aber inzwischen infolge des Endes der Systole die Zuflußmenge ab-
genommen hat, so strömt nun dauernd mehr hinaus als herein und der Druck
sinkt kontinuierlich. Diese Drucksenkung erfolgt aber auf keinen Fall
ebenso schnell wie der Anstieg. Denn der in der
Arterienwand aufgespeicherte Druck kann höch-
stens so groß geworden sein wie der vom Herzen
erzeugte maximale Druck. Im ersten Moment
könnte sich also die Druckkurve mit derselben
Geschwindigkeit abwärts bewegen, mit der sie
sich aufwärts bewegt hat. Sofort aber wird
der Druck geringer, weil infolge des stärkeren EIER EREER
Abfließens die Arterienwand weniger gespannt Vagükrelsung;
ist und demzufolge weniger Druckkraft ent-
wickelt. Diese Spannungsabnahme schreitet fort, weil die allmählich zu
ihrer Normalform zurückkehrende Aortenwandung natürlich immer weniger
elastische Kräfte entwickeln kann. Dadurch fließt auch immer weniger
heraus, und die Spannungsabnahme wird langsamer und langsamer. Eine
Kurve, die einen solchen Vorgang darstellt, nennt man eine Exponential-
kurve, und wären nur elastische Kräfte im Spiel, so würde der Druck an-
nähernd in einer solchen Kurve sinken. Die Fig. 67 zeigt, daß er dies auch
tatsächlich tut, wenn durch Vagusreizung verhindert wird, daß immer wieder
neue Kontraktionen das Absinken unterbrechen. Allerdings sind sicher Ab-
weichungen vorhanden, da durch die Bewegung selbst wiederum vitale Kräfte
hervorgerufen werden. Die Kurve wird aber auf alle Fälle etwa so sinken,
wie es in der schematischen Fig. 68 durch die -—-—-——- Linie angedeutet
ist, wobei die gerade -—— —— — Linie, welche schräg nach abwärts zieht, die
Geschwindigkeit andeutet, mit welcher der Druck in dem ersten Moment ab-
sinken würde.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 50
Fig. 67.
786 Verschiedene normale Pulsformen.
Aber auch im ersten Moment kann das schnelle Absinken nicht zur Gel-
tung kommen, weil während dieser Zeit ja immer noch Blut vom Herzen her j
hineinströmt und natürlich ein schnelles Absinken verhindert. Dies Nach- i
strömen dauert so lange, bis infolge der Erschlaffung des Herzens der Druck
im Ventrikel ziemlich plötzlich so weit gesunken ist, daß nun der Aorten-
\ Fig. 68.
; AUE |Klappenschluß
Einfluß nur Ausfluß
größer gleich kleiner |Er&®"
ee Herz : Ä S
U nur gegen die Peripherie
als Ausfluß Peri-
erie
Schema der Entstehung der Pulswelle.
druck höher ist. Dann schließen sich die Klappen, und erst von diesem
Augenblick an wird der Druck in der ihm eigentümlichen Exponentialkurve
sinken, vorher stellte die Kurve die mittlere Linie dar zwischen der Expo-
Fig. 70.
Femoralis
A Druckkurve von der Hundeaorta (n. Frank),
Typische Pulskurven verschiedener Arterien mit wenig B Pulskurve von der Aorta des Menschen (nach
schleuderndem Sphygmographen aufgenommen, j Tigerstedt). 2
nentialkurve und der Einströmungskurve Aus diesen einzelnen Stücken
setzt sich die Pulskurve zusammen, die daher ungefähr so aussieht wie die
ausgezogene Linie.
Wenn sich der Ventrikel nun aber nicht mit einem Male, sondern ab-
setzend zusammenzieht, wie dies von mehreren Autoren angegeben wird, bzw.
wenn auch nur der Abfluß des Blutes nicht vollkommen gleichmäßig ist,
oder wenn der Ventrikel sich plötzlich während der Kontraktion von der
N
F ortplAnEun BAR PHR WIEN des Blutes und der Pulswelle. 787
Kon weg als Ganzes zurückzieht, dann wird der Anstieg naturgemäß nicht
als gerade Linie, sondern absetzend, etwa so, wie es in der Fig. 68 in der
.eree« Linie dargestellt ist, erfolgen. Über die‘ Entstehung der dikroten
Welle vgl. $ 61.
Eine Anschauung von der Form der verschiedenartigen Pulse geben die
Kurven in Fig. 69 nach Edgren!) und in Fig. 70 nach Frank und Tiger-
stedt. Für das Verständnis des Vorgangs dürfte die Aortenkurve am wert-
vollsten sein. Der Druckverlauf in der Aorta wurde zum ersten Male mit
Hilfe eines ausgezeichneten Apparates von O.Frank?) beim Hunde festgestellt.
Neuerdings hatte Tigerstedt) gelegentlich eines chirurgischen Falles Gelegen-
heit die Pulskurve der Aorta auch beim Menschen festzustellen. Die Über-
einstimmung der beiden Kurven ist offensichtlich.
8 61.
Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Pulswelle.
Daß die Pulswelle sich mit meßbarer Geschwindigkeit fortpflanzt, ist von
dem Alexandriner Erasistratus entdeckt, wurde dann aber von der ganzen
klassischen Physiologie von Galen angefangen, bis zu Haller geleugnet.
Erst im Anfang dieses Jahrhunderts brach sich die richtige Ansicht neuer-
dings Bahn. Der erste, der messende Versuche machte, war E. H. Weber
1850 (vgl. auch Landois®) und Grunmach 1879).
Die Druckwelle pflanzt sich in den Arterien .fort, und zwar ist die
Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Pulswelle verhältnismäßig
unabhängig von der Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Blutes
selber (über die letztere Größe vgl. $ 43, S. 747).
Es ist dies etwa so, wie, wenn ich dem letzten einer Reihe von hinterein-
ander marschierenden Soldaten von hinten einen Stoß versetze; dann schlägt er
mit der Brust gegen den Rücken des Vordermannes, dieser gegen seinen Vorder-
mann und so weiter, bis der Stoß den ersten erreicht hat. Dieser Vorgang geht,
wie sich jeder anschaulich vorstellen bzw. de facto überzeugen kann, außerordent-
lich schnell vonstatten. Die Geschwindigkeit hängt bis zu einem gewissen Grade
von dem anatomischen Bau der Leute, insonderheit. ihrer Länge, und von dem
(elastischen). Widerstand ab, welchen jeder Mann dem Stoße entgegensetzt; denn
diesen Größen entsprechend pendelt der einzelne schneller oder langsamer nach
vorn. Weiter ist der Abstand der Leute von Belang, kurz die Geschwindigkeit
hängt ab von der Art und Konfiguration der in Betracht kommenden Massen, aber
gar nicht von der Geschwindigkeit, mit der die Massen sich vorwärts bewegen.
Diese hängt hier von der Marschgeschwindigkeit ab. Beim Blut ist es nun ebenso.
Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Pulswelle hängt durchaus nur von der
Elastizität und der Konfiguration der in Betracht kommenden Massen ab. Etwas
kompliziert wird der Vorgang dadurch, daß auch die Marschgeschwindigkeit, d. h.
die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Blutes zum Teil wenigstens von denselben
Faktoren abhängig ist.
Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Stoßes (das ist die Blutwelle)
hängt hauptsächlich ab von
'ı) Edgren, Nordiskt medicinskt Arkiv 20, 40 u. Skand. Arch. 1, 596, 1889
(vgl. auch drei ähnliche Kurven bei v. Frey, Die Untersuchung des Pulses, 8. 161).
—?)0.Frank, Der Puls in den Arterien, Zeitschr. f. Biol. 46, 441, 1905. — °) Tiger-
stedt, Die Pulskurve der Aorta beim Menschen, Skand. Arch. 20, 249, 1908. —
*) Landois, Die Lehre vom Arterienpuls. Berlin 1872, 8.290.
50*
788 Abhängigkeit der Fortpflanzungsgeschwindigkeit
dem spezifischen Gewicht des Blutes (s),
dem Lumen des Gefäßes, also dem Durchmesser (l),
der Dicke der Wandung (d), |
dem Elastizitätskoeffizienten der Wandung (e) und
der Beschleunigung durch die Schwere (g).
Nach Moens!) hängt die Fortpflanzungsgeschwindigkeit 2 nach folgender
Formel mit diesen Größen zusammen:
BER ya,
841
eine Formel, die Moens rein mathematisch abgeleitet hat, während Weber
und Donders (vgl. die Literatur bei Moens) zu etwas anderen Formu-
lierungen gekommen waren. Im großen und ganzen konnte Moens an-
nähernd bestätigen, daß die Wirksamkeit der einzelnen Komponenten im
Sinne der Formel erfolgt. Die wenigen Arbeiten anderer sind ebenfalls bei
Moens zitiert. Seitdem ist nur wenig auf diesem Gebiete gearbeitet worden.
Vgl. jedoch die anderen angeführten Arbeiten.
Um eine Vorstellung von den in Betracht kommenden Größenverhält-
nissen zu geben, mag erwähnt sein, daß Landois?) die Fortpflanzungs-
geschwindigkeit in Gummiröhren je nach den Bedingungen zu 10 bis
18 m/Sek. bestimmte. Auch im lebenden Körper ist die Fortpflanzungs-
geschwindigkeit mehrfach gemessen worden. Man tut dies, indem man den
Puls an zwei Stellen des Körpers gleichzeitig registriert. So kann man z. B.
die Armarterie in der Achsel und am Handgelenk, die Beinarterie in der
Schenkelbeuge unterhalb des Poupartschen Bandes und auf dem Fußrücken
schreiben lassen. Der Unterschied zwischen dem Fußpunkte der beiden
Kurven gibt dann direkt die Zeit, welche die Welle zu dem leicht nachzu-
messenden Wege gebraucht hat. Auf diese Weise hat Landois?°) die
Geschwindigkeit in der Armarterie auf 5,8 m/Sek., in der Beinarterie auf
6,4 m/Sek. bestimmt (das ist etwa das Tempo eines trabenden Pferdes). Die
meisten anderen Untersucher haben sich eines etwas komplizierteren Ver-
fahrens bedient und sind dabei zu fast durchweg größeren Geschwindig-
Tabelle der Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Pulswelle bei
Registrierung in:
Ta Carotis Carotis Carotis
und Radialis und Pediaca und Femoralis
Men raw er | 8,9 =
Üzermäak. serie 6,7 | 11,2 n—
Mandolscrs se ee = _ 6,4
ROSEN We re u 8,5 en:
(FEURMACHUT Re 9,0 11,0 =
GEABHEYA U — | 8,5 ==
Ben | ne. er 6,8
Biarenı wars es | 7,5 _ 6,4
!) Moens, Die Pulskurve, Leiden 1878, 8.90. — ?) Landois, 1. c., 8.308. —
®) Derselbe, 1. c., 8.295 bis 303.
von verschiedenen Faktoren. 789
keiten gekommen; sie ließen zwei beliebige Arterien zeichnen und rechneten
als Weg die Differenz der Entfernungen, in welcher sich die beiden Arterien
vom Herzen befinden. In der vorstehenden Tabelle habe ich einige der in Be-
tracht kommenden Beobachtungen am Menschen nach den Arterien, in welchen
die Geschwindigkeit bestimmt ist, ee Das Mittel aus allen Beobach-
tungen ergibt rund 8m.
Unter der Voraussetzung, daß diese Bestimmungen richtig und vergleichbar
sind, muß vor allem die Geschwindigkeit in den Beinarterien groß sein, da das
Mittel aus ihr und der Aortengeschwindigkeit immer noch größer ist als in den
Armarterien. Im einzelnen würde sich rechnerisch ergeben, daß die Fortpflanzungs-
geschwindigkeit der Pulswelle in der Aorta verhältnismäßig klein (6m), in der
Armarterie größer (8m) und am größten in der Fußarterie (11m) ist‘). Die große
Fortpflanzungsgeschwindigkeit in den Extremitäten stimmt mit den Landoisschen
Versuchen nicht überein, doch sind diese, wie auch Tigerstedt angibt, nach
einer nicht völlig einwandsfreien Methode angestellt.
Dagegen würden die obigen Zahlen durchaus der Moensschen Formel ent-
sprechen.
Danach ist die Fortpflanzungsgeschwindigkeit (V) proportional der Wurzel
aus dem Verhältnis zwischen Arterienwand und Durchmesser.
Rauber’°) gibt an für das
Lumen der absteigenden Aorta (2,3 bis 1,7 ) = 2,00 cm,
. „ Armarterien (0,9 „ 04) = 0,65cm,
a „ Beinarterien (0,9 „ 0,34) = 0,62 cm.
Die Wandstärke der Aorta wird = 0,lcm angegeben. Von den Arterienwandungen
wird im allgemeinen nur gesagt, daß die Arterien der unteren Extremität dicker
sind als die der oberen. Die mittlere Dicke der Armarterie ist nach Schiele-
Wiegandt = 0,065cm. Rechnen wir also für die Beinarterie rund 0,075 cm,
dann erhalten wir die Proportion:
1000 650 | y®
V in Aorta : V inArm : Vin Bein = a 200 Ye: a 1a:ı5,
während sich die wirklichen Geschwindigkeiten GAR wie 9:12:16.
Diese Zahlen machen natürlich keinen Anspruch auf irgend welche Genauig-
keit, sie sollen nur zeigen, daß die Abweichungen tatsächlich so zu erfolgen
scheinen, wie man nach der Moensschen Formel erwarten muß.
Außerdem ist zu bedenken, daß das Blut im allgemeinen bei aufrechter
Stellung in'den unteren Extremitäten unter höherem Druck steht; bei hohem
Blutdruck nimmt aber der Elastizitätskoeffizient und damit auch die Fortpflanzungs-
geschwindigkeit zu. Also auch aus diesem Grunde haben wir eine schnellere Fort-
pflanzungsgeschwindigkeit in den Arterien des Beines zu erwarten. Wenn wir
auch nicht imstande sind, die Elastizität vorläufig zahlenmäßig auszudrücken, so
haben doch die folgenden Versuche ergeben, daß überall bei Vergrößerung des
Elastizitätskoeffizienten die Geschwindigkeit der Welle wächst, bzw. umgekehrt.
Ich stelle die Resultate in tabellarischer Übersicht zusammen.
!) Die Bemerkung, die sich sowohl bei v. Frey (Die Untersuchung des Pulses
S.127) als auch bei Tigerstedt (Lehrbuch 8. 387) findet und wonach neuere Unter-
sucher, nämlich Keyt und Edgren, die Geschwindigkeit in der unteren Extremität
kleiner gefunden hätten als in der oberen, entspricht insofern nicht den Tatsachen,
als die Genannten überhaupt nicht die Geschwindigkeit in der Beinarterie, sondern
nur die Geschwindigkeit bis zur Beinarterie, also in der Aorta, bestimmt haben.
Hier ist die Geschwindigkeit in der Tat sehr klein. Über die Art der Berechnung
vgl. Nicolai, Über Ungleichförmigkeiten in der Fortplanzungigepchwindigkeit des
Nervenprinzips, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1905, 8.394 ff. — ?) Rauber, Lehrbuch
der- Anatomie 2, 279, Leipzig 1903.
790 Die Länge der Pulswelle.
Verhältnis
Autor Yarppehs“ Dora
tier Geschwin-
digkeit
Verkleinerung des Elastizitäts-
koeffizienten:
1. durch direkte Drucksenkung:
Bei Kompression der Lunge Moens (1878!) Mensch 88:100
® x 5 ni . » , Grunmach (1879?) 5 84 : 100
Bei dauernder Inspirationsstellung Martini (1891?) 5 75:100
Bei Vagusreizung FR Moens!) Hunde 39: 100
2. durch Gefäßerschlaffung:-
Bei Rückenmarksdurchschneidung Grunmach’?) 5 80 : 100
Bei Erwärmung und in Narkose . 5 Mensch |. 73:100
Im Fieber . Hameryk > verkleinert
3. bei Kindern . Thacher (1888 *) x 71:100
Vergrößerung des Elastizitäts-
koeffizienten:
1. durch Blutdrucksteigerung:
Bei Rückenmarksreizung Grunmach’) Hunde 181 :100
2. bei Arteriosklerose . Edgren (1888°) Mensch || 126: 100
Morrow‘) fand dementsprechend die Fortpflanzung der Pulswelle in den
Venen, in denen ja fast gar kein Druck ist, außerordentlich niedrig (1 bis 3 m/Sek.),
das wäre 12 bis 37:100. Allerdings fand er die Geschwindigkeit im allgemeinen
größer in der Jugularis als in der Cruralis.
Eine Berechnung der Wellenlänge, die sich bei Tigerstedt’) findet, und bei
der er zu einer Länge von 1,6m kommt, ist insofern kaum angängig, als der Be-
griff Wellenlänge (gleich dem Produkt aus Fortpflanzungsgeschwindigkeit. und
Schwingungsdauer) nur dann einen bestimmten Sinn besitzt, wenn die Dauer der
(pendelartigen) Schwingung gegeben ist. Denn um eine Wellenlänge voneinander
entfernt sind solche Punkte, die sich gleichzeitig in derselben Phase befinden. Der
Puls ist nun keine pendelartige einfache Schwingung, er kann nur aus unendlich vielen
zusammengesetzt gedacht werden, und es ist daher willkürlich, wenn Tigerstedt
als Schwingungsdauer 0,2 Sek. (= der Einströmungszeit) annimmt. Immerhin ist
es bemerkenswert zu wissen, daß in den periphersten Teilen sich die Arterie aus-
zudehnen beginnt, ehe alles Herzblut in den Ventrikel geströmt ist.
Bei der Fortpflanzung der Pulswelle wird ihre Gestalt geändert durch das
Dekrement und durch Reflexionen.
$ 62.
Dekrement und Reflexion der Pulswellen.
Die Fortpflanzung der Welle kommt dadurch zustande, daß der Druck
an den einzelnen Stellen des Rohres successive erhöht wird. Dadurch wird
die Arterienwand ausgebuchtet, und dies nehmen wir als Puls wahr. Diese
%) Moens, l.c. — ?) Grunmach, Über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der
Pulswelle, Arch. f. (Anat. u.) Phys. 1879, 8. 424. — °) Martini, Beziehung der
Pulswellengeschwindigkeit zu den Atmungsphasen, ebenda 1891, 8.169. — *) Thacher,
Transact. of the Assoc. of Americ. Physicians 3, 244, 1888. — °) Edgren, Kardio-
grafiska och sfygmografiska Studier, Nordiskt medicinskt Arkiv 20 (No. 7), 40,
1888. — °) W.8.Morrow, Über die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des Venenpulses,
Arch. f. d. ges. Physiol. 29, 442 bis 449, 1900. — 7) Tigerstedt, Lehrbuch 8. 388.
Aueh E. H. Weber (1850) spricht von der relativ großen Länge der Welle, doch
gibt er keine bestimmte Zahl an.
A
EEE
Bee ee
Dekrement und Reflexion der Pulswellen. 791
Ausbuchtung ist nur möglich unter Überwindung der Elastizität der Arterien-
wand und unter Verschiebung der einzelnen Flüssigkeitsteilchen gegeneinander,
Der dazu nötige Arbeitsaufwand kann nur aus der Wellenenergie selbst ge-
deckt werden, die dementsprechend während des Fortschreitens immer kleiner
werden und mit der Zeit völlig erlöschen muß, wie es an der kreisförmig
sich ausbreitenden Welle in einem Teiche, in den ein Stein geworfen, sehr
schön sichtbar ist. Da die Reibung unter allen Umständen proportional dem
Quadrat der Geschwindigkeit wächst, so werden die Bewegungen, welche am
schnellsten vor sich gehen, auch das größte Dekrement erleiden. Die Kurve,
welche diese Bewegungen ausdrückt, wird also allmählich flacher werden, ab-
gerundeter, wie schroffe Felsen, die durch die Nivellierungsarbeit von Jahr-
tausenden zu sanften Hügeln geworden sind. Sehr deutlich zeigt dieser Prozeß
einen Vergleich der Aortenkurve der Fig. 70 mit der Carotis- und der Radialis-
kurve der Fig.69. Da die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Blutmasse vom
Druck abhängt, so tritt überall dort, wo die Pulswelle noch vorhanden ist,
eine mit dem Eintreffen der Pulswelle synchrone Beschleunigung der Blutmasse
auf. Von dort ab, wo die Pulswelle aufhört, fließt auch das Blut mit gleich-
förmiger Geschwindigkeit. s
Reflexion der Pulswellen.
(Vgl. hierzu auch $ 64.)
Eine Reflexion von Wellen findet dann statt, wenn eine Welle plötzlich
auf ein Hindernis stößt, welches derartig beschaffen ist, daß die Welle nicht
etwa dadurch ausgelöscht wird. Wenn Wasserwellen gegen eine feste verti-
kale Wand schlagen, so werden sie reflektiert; branden sie gegen den flachen
Strand, so verlaufen sie allmählich an ihm: ihre Kraft wird dazu aufgebraucht,
die Welle ein Stück än dem Strande in die Höhe zu werfen, sie wird in Wärme
umgesetzt usw. Kurz, von einer Reflexion bemerken wir nichts mehr. Es
kommt hinzu, daß hierbei jeder Teil der Welle an einer anderen Stelle reflek-
tiert wird, so daß selbst aus dem, was am Ende noch reflektiert wird, sich
niemals eine merkbare Welle bilden könnte. An den vielen Stellen, wo am
Meeresufer Quaimauern und flacher Strand abwechseln, kann man sich aufs
leichteste von dieser Tatsache überzeugen; an der Mauer sieht man hin-
und herlaufende sich kreuzende Wellen; am Strande sieht man hiervon nichts.
Erfolgt die Wellenbewegung in Röhren, so ist der Vorgang insofern kompli-
zierter, als hierbei die Welle nicht nur bei ganz verschlossener Röhre, sondern
auch bei ganz offener (aber dann mit Phasenwechsel')) reflektiert wird. Handelt
es sich um eine plötzliche Verengerung, so tritt sowohl die eine (positive) wie die
andere (negative) Welle auf, die beide untereinander interferieren.
Für das Blut liegt also die Frage so:
1. Kommt die Pulswelle bis zu den Punkten, an denen sie (normaler-
weise?) reflektiert werden könnte, oder erlischt sie früher ?
2. Falls sie hinkommt, wird sie hauptsächlich als positive oder haupt-
sächlich als negative Welle reflektiert ?
Über diese beiden Fragen ist viel experimentiert und mehr noch speku-
liert worden.
!) Der Ausdruck Phasenwechsel bedeutet, daß ein Wellenberg als Wellental reflek-
tiert wird und umgekehrt. — *) Daß unter abnormen und pathologischen Bedingungen
eine nachweisbare Reflexion auftreten mag, soll von vornherein zugegeben werden.
793 Die Reflexion der Pulswelle.
Die Möglichkeit einer mit unseren Hilfsmitteln nachweisbaren Reflexion
unter normalen Umständen leugnen wohl am entschiedensten Bernstein!)
und Hoorweg?), doch sind heute die meisten Physiologen und Kliniker der
Ansicht, daß eine Reflexion zwar möglich und unter gewissen Umständen auch
wohl nachweisbar sei, daß sie aber keine irgendwie ausschlaggebende Rolle
spiele.
Für die Bedeutsamkeit der Reflexion treten vor allem ein v. Frey und
Krehl), v. Kries*) und neuerdings Lohmann’).
v. Frey und Krehl haben an den Arterienpräparaten toter Tiere bei künst-
licher Erzeugung von Wellen in der Tat Reflexionen ohne Zeichenwechsel nach-
weisen können; dies beweist, daß nach dem Tode einzelne Gefäße bzw. ganze Gefäß-
gebiete so gut wie völlig verschlossen sind, eine Tatsache, die auch aus anderen
Beobachtungen hervorgeht. Fraglich aber bleibt es nach wie vor, ob dies auch
für das lebendige Tier gilt.
Schon darüber sind die Autoren uneinig, wo denn die Reflexion eigentlich
stattfinden sollte. Man hat die kleineren Arterienäste angeführt, an denen die
primäre Welle Widerstand finden sollte. Ein solcher Widerstand mag existieren,
aber gegen seine Bedeutsamkeit spricht vor allem die Tatsache, daß auch an diesen
Stellen durch allmähliche Vergrößerung des gesamten arteriellen Querschnittes der
Widerstand erheblich vermindert wird? Auch ist die Verjüngung der einzelnen
Röhren eine so allmähliche und findet an den verschiedenen Stellen des Körpers
in so verschiedenen Entfernungen vom Herzen statt, daß eine bestimmte Stelle für
die Reflexion gar nicht denkbar ist. Ohne sie ist aber auch die Entstehung einer
rückläufigen Welle unmöglich. Meissner‘) hat schon im Jahre 1856 darauf hin-
gewiesen, daß eine Reflexion eigentlich nur dann zustande, kommen könnte, wenn
sich ein Gefäß T-förmig in zwei rechtwinkelig abgehende Aste teilte. Eine solche
Teilung aber kommt, wie die Anatomie lehrt, so gut wie niemals vor, immer ist
der Teilungswinkel ein spitzer.
Auch die Teilungsstelle der Aorta in die beiden Iliacae ist als Reflexionspunkt
angenommen worden, doch dürfte diese Meinung heute kaum noch vertreten werden.
So bleiben die Stellen, in denen sich die Arterien zu Capillaren er-
weitern oder verengern (man kann beides sagen, je nachdem man den Einzelquer-
schnitt oder das Gesamtlumen betrachtet). Der Widerstand liegt jedoch nicht an
dieser Erweiterungsstelle, sondern in den Capillaren selbst und in den dort zu über-
windenden Reibungswiderständen. Diese brechen allmählich und einzeln die Kraft
der Welle, die hier amortisiert wird, ohne Kraft zu behalten, rückwärts zu fluten.
Die Länge der Capillaren ist hierfür ohne Bedeutung. Sie sind so kurz, daß sie
gegenüber den Dimensionen der Wellenlänge als plötzliches Hindernis gelten könnten.
Es liegt vielmehr in der Natur der: Reibungswiderstände, daß eine Welle, deren
Vorwärtsbewegung durch sie allein völlig vernichtet wird, auch unmöglich reflek-
tiert werden kann.
Die Versuche von v. Kries’) scheinen dem Gesagten zu widersprechen. Er
füllte einen weiten Schlauch zum Teil mit Wollfasern, die an. sich nur einen
kleinen Querschnitt repräsentieren (etwa 2 Proz. des Schlauchvolums). Dadurch
sollte nur eine unmerkliche Änderung des Querschnittes eintreten, und trotzdem
war eine positive Reflexion deutlich nachweisbar,.d. h. also: die Wollfäden wirkten
trotz ihres kleinen Querschnittes ähnlich wie ein Verschluß. Es scheint, als ob nur
eins oder das andere richtig sein kann, und in der Tat wird in Wirklichkeit der
!) Bernstein, Über die sekundären Wellen der Pulskurve, Sitzungsber. d.
Naturf.-Ges. zu Halle, 4. März 1887. — ?) J. L. Hoorweg, Über die Blutbewegung
in den menschlichen Arterien, Pflügers Arch. 46, 115, 1889. — °) v. Frey und
Krehl, Untersuchungen über den Puls, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1890, 8.77. —
*) v. Kries, Studien zur Pulslehre, Freiburg 1892. — °) Lohmann, Über die Ent-
stehung des Dicrotismus, Pflügers Arch. 97, 438 bis 456, 1903. — °) Meissner,
Bericht über die Fortschritte der Anat. u. Physiol. für 1856. — 7) v, Kries, Il. ce,
8. 22 bis 24, Freiburg 1892.
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2.
Der Dikrotismus. 298
Querschnitt ganz beträchtlich verengt, da man als Verschlußquerschnitt auch
den in Summa sehr großen Querschnitt der benetzenden und daher
unbeweglichen Randschichten mitrechnen muß. Diese sind in den Blut-
capillaren natürlich ebenfalls vorhanden, aber hier kommt kompensierend die Ver-
größerung des Gesamtquerschnitts hinzu, und es ist durch Rechnung nicht fest-
zustellen, was im Einzelfalle überwiegt.
v. Frey') hat darauf aufmerksam gemacht, daß die in einer Flüssigkeit
aufgeschwemmten corpusculären Elemente zu Reflexionen Anlaß geben können,
wenn irgendwo der Durchmesser des Rohres auf die Dimensionen der suspendierten
Teilchen herabsinkt. Er konnte dies auch experimentell nachweisen, denn bei einem
aus der Aorta und deren Zweigen hergestellten Präparat war die Reflexion von
Wellen bei Füllung mit Kochsalzlösung sehr viel weniger deutlich, als bei Füllung
mit Blut.
Eine unbefangene Würdigung aller dieser und mannigfacher anderer.
Experimente und Berechnungen, auf die hier nicht näher eingegangen ist,
scheint zu beweisen, daß es sich um einen embarras de richesse an Reflexions-
stellen handelt: Da überall geringeReflexionen stattfinden, kommt
es nicht zur Ausbildung der allein wahrnehmbaren geordneten
Reflexionen.
Diese Tatsache wäre als eine wertvolle funktionelle Anpassung zu betrachten,
denn daß derartige Reflexionen überflüssig sind, bedarf keiner Erwähnung. Daß
unter abnormen, besonders auch pathologischen Bedingungen sehr wohl derartige
Verschiebungen der Widerstände Platz greifen können, daß es zu merkbaren
Reflexionen kommt, soll damit durchaus nicht bestritten werden, und es bleibt in-
sonderheit völlig unentschieden, ob nicht die Verstärkung des normalen Dikro-
tismusinmanchenpathologischen Fälleneine WirkungderReflexionist.
$ 63.
Der Dikrotismus des Pulses.
‘ Der dikrote Puls ist seit dem Altertum bekannt, wurde aber immer für
eine pathologische Erscheinung gehalten. Die höheren Grade, die man einzig
bei der Palpation fühlen kann, sind auch nicht normal. Das normale, aus-
nahmslose Vorkommen einer geringen Dikrotie läßt sich nur mit
registrierenden Instrumenten nachweisen. Chelius?) hat schon im Jahre
1850 mit seinem Pulsmesser beobachtet, daß das Quecksilber beim Fallen in
der Mitte immer einen kurzen Halt macht. Diese Beobachtung wurde von
ihm als Dikrotie gedeutet.
Die mit elastischen Manometern geschriebenen Blutdruckkurven zeigen ebenso
wie alle besseren Spygmographenkurven auf dem absteigenden (und manchmal auch
auf dem aufsteigenden) Schenkel kleine Zacken. Die anfängliche Meinung, daß es
sich dabei nur um Kunstprodukte, um Nachschwingungen, die in der Masse des
registrierenden Systems begründet seien, handelte, darf heute als widerlegt gelten.
Zum mindesten eine Zacke — eben die dikrote — ist konstant und sicher unab-
hängig von der Form der Registrierung. Die experimentelle Prüfung hat ergeben,
daß gute Sphygmographen derartige Bewegungen mit genügender Treue und fast
aperiodisch wiedergeben. Zudem hat es O. Frank auch ausgerechnet (vgl. die
Literaturangaben auf 8. 700).
Den augenscheinlichsten Beweis für das reale Dasein der Dikrotie hat
Landois?°) erbracht, der eine spritzende Arterie auf eine sich bewegende
!) y. Frey, Untersuchungen des Pulses 8.175, Leipzig 1892. — *) Chelius,
Prager. Vierteljahrsschr. 21, 100, 1850. — °) Landois, Hämatographie, Pflügers
Arch. 9, 71, 1874.
794 . Die dikrote Welle läuft zentrifugal.
Schreibfläche ihre eigene Kurve mit Blutstropfen aufschreiben ließ. Dies
„Hämautogramm“ zeigt auf dem absteigenden Schenkel deutlich die
dikrote Zacke.
Die Frage, ob die Welle vom Herzen ausgeht oder von der Peripherie,
ist leicht zu entscheiden. Wenn die dikrote Welle ebenso wie die Pulswelle
vom Herzen ausgeht, wird sich die relative Stellung der beiden Wellen nicht
verschieben (oder doch nur ganz minimal, nämlich dann, wenn man annimmt,
was manche tun, daß sich die beiden Wellen mit etwas verschiedener 'Ge-
schwindigkeit fortpflanzen); läuft sie.aber in entgegengesetzter Richtung wie _
die Pulswelle, so müßten beide Wellen in der Peripherie nahe aneinander
liegen, in der Nähe des Herzens aber immer weiter voneinander abrücken.
Der so entstandene Zwischenraum entspräche der Fortpflanzungszeit vom
Herzen bis zur Peripherie und wieder zurück und betrüge bei einer Fortpflanzungs-
geschwindigkeit von 8m/Sek. und einer Entfernung von 1m etwa '/, Sek., also etwa
';, einer Pulsperiode. Von einer derartigen Verschiebung ist nun gar keine Rede,
wo man auch immer den Puls aufnimmt, überall ist die relative Stellung der beiden
Wellen die gleiche. Daran wird nichts geändert, wenn auch Landois'), v. Kries?)
und Edgren°) eine langsamere, Hürthle*) eine etwas schnellere Fortpflanzungs-
geschwindigkeit der dikroten Welle konstatieren zu können glaubten, besonders in
den Gefäßen der unteren Extremität. Die widersprechenden Resultate erklären sich
wohl am leichtesten, wenn man annimmt, daß die scheinbaren Änderungen im
wesentlichen auf der Abflachung der Kurve und der dadurch bedingten Er-
schwerung der Messung beruhen, so daß also Grashey°) und Hoorweg‘) recht
behalten, die auch für diese dikrote Welle überall die gleiche Geschwindigkeit ge-
funden haben. Auch Willem’), der letzte, der diese Frage experimentell unter-
suchte, kommt zu demselben Resultat.
Es folgt dies — die gleiche Fortpflanzungsgeschwindigkeit von Wellen ver-
schiedener Amplitude — nicht ohne weiteres aus der Moensschen Formel, denn
wenn auch die Amplitude in derselben nicht vorkommt, so kann die durch die ver-
schiedene Amplitude bedingte verschieden starke Erweiterung eine Änderung der
Elastizität in der lebenden Gefäßwand zur Folge haben. Und von der Elastizität
hängt ja die Fortpflanzungsgeschwindigkeit ab. Aus anderen Gründen (vor allem
auf Grund von Geräuschen bei der Kompression von Arterien) kommt auch Gran-
ström°®) zu dem Resultat, daß die dikrote Welle sicherlich zentrifugal verläuft.
Die dikrote Welle ist also eine konstante, immer zur selben
Zeit auftretende Erscheinung und verläuft zentrifugal.
Meist wird die dikrote Zacke als Erhebung gedeutet. Man müßte dabei
annehmen, daß die Pulskurve ohne die dikrote Zacke so erfolgen würde, wie
es in der Figur 71A (die absichtlich nach einer schlechten älteren Pulskurve
schematisiert ist) die punktierte Linie angibt. Darauf aufgesetzt erscheint
dann die dikrote Zacke bed. In diesem Falle beginnt also die Zacke in b.
Das Zustandekommen der dikroten Zacke kann aber auch anders erklärt
') Landois, Lehre vom Arterienpuls 1872, 8. 177. — ?) v. Kries, Cardio-
graphische und sphygmographische Studien, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1887, 8. 275.
— °) Edgren, Skand. Arch. 1, 104, 1889. — *) Hürthle, Über den Ursprungsort
der sekundären Wellen in der Pulskurve, Pflügers Arch. 47, 28, 1890. — °) Gras-
hey, Die Wellenbewegung in elastischen Röhren, Leipzig 1881. — °) Hoor-
weg, Über die Blutbewegung in den menschlichen Arterien, Pflügers Arch. 46,
170, 1889. — 7) V. Willem, Notes sur l’origine du dierotisme et des ondu-
lations du plateau systolique ER la pulsation arterielle, Arch. de biol. 14, 275—284,
1894. (Auch in Travaux du labor. de physiol. de Liege 5, 87—104.) — ®) Gran-
ström, Richtung der dikroten Blutwelle, Mitt. d. militär-med. Akad. Petersburg 12,
624, 1906.
ER
or en in
Die dikrote Welle ist eine negative Welle. 795
werden; die Zacke kann dadurch entstehen, daß der Druck plötzlich vorüber-
gehend sinkt, d. h. daß der Puls ohne die Zacke die in Fig. 71B durch die
‘ punktierte Linie angedeutete Gestalt hätte und daß dann dazu die Zacke abe
sich addiert. Im Grunde beschreibt natürlich beides denselben Vorgang, nur
muß man darauf achten, daß, wenn man von einer positiven (A) oder negativen
Welle (B) spricht, die Welle an ganz anderen Punkten beginnt. Nun zeigen
alle gut geschriebenen Puls- Fig. 71.
kurven, besonders Jdie in der
Nähe des Herzens, wo die
Wellen noch nicht verflacht
sind (besonders Fig. 70 A, aber
auch Fig. 69 nach Edgren),
einen scharfen Knick, vor allem
bei a, aber auch bei b, dagegen
einen viel weniger ausge-
sprochenen bei c. Es macht
daher durchaus den Eindruck, als ob b und vor allem @ ausgezeichnete Punkte
der Kurve seien, in denen irgend etwas vor sich gehe. Dementsprechend wäre
also die Senkung des Druckes das Ursprüngliche und Wesentliche der ganzen
Erscheinung, ein Umstand, auf den schon Fick!), allerdings zum großen Teil
vergeblich, hingewiesen hat. Fick hat durchaus recht, wenn er sagt, daß
nur diese falsche Betrachtungsweise die wirkliche, an sich sehr naheliegende
Erklärung so lange verhindert hat.
Die Ursachen, die man für das Zustandekommen der Dikrotie heran-
gezogen hat, kann man in fünf Gruppen einteilen:
1. Ursache in den Endverzweigungen (Reflexion).
2. Ursachen in der Herzbewegung. i
3. Ursachen in der Arterienwand (elastische Schwingungen).
4. Dynamische Ursachen.
5. Ursachen in dem Mechanismus der Banithinskklepee:
Letztere Ursache scheint uns im Anschluß an Fick die wesentlichste zu sein.
$ 64.
Die Dikrotie bedingt durch peripherische Erscheinungen (Reflexion).
(Vgl. auch $ 62.)
Man kann nicht daran zweifeln, daß auch die dikrote Welle vom Herzen
ausgeht. Die Anhänger der Reflextheorie nehmen dementsprechend an, daß
die primäre Pulswelle irgendwo in der Peripherie reflektiert wird, dann zum
Herzen zurückläuft, an den inzwischen geschlossenen Semilunarklappen zum
zweiten Male reflektiert wird und die dikrote Welle bildet.
Jede Reflexion schwächt unter allen Umständen eine Welle. Die zum
Herzen zurückkehrende Welle ist also größer als die dann wieder vom Herzen
ausgehende Da diese zweimal reflektierte Welle nach der Reflextheorie
deutlich merklich sein soll, erscheint es wunderbar, wie die nur einmal reflek-
tierte Welle zum Herzen surückkömmen soll, ohne sich in der Pulskurve be-
merkbar zu machen.
1) Fick, Über den Dikrotismus des Pulses, Pflügers Arch. 49, 105, 1891.
796 Die Reflextheorie der dikroten Welle.
Die Forderung, dies zu erklären, erscheint unabweislich, ist aber, soweit ich sehe,
eigentlich nur von Grashey') ernsthaft berücksichtigt worden. Er zeigt, wie
durch die rücklaufenden Wellen stehende Wellen entstehen können und müssen,
und meint auf diese Weise das Vorhandensein der dikroten Zacke erklären zu
können. Es müßte dann aber der Puls in allen Arterien ganz verschieden aussehen,
und wenn auch manche Unterschiede des Radialis- und Femoralispulses sich even-
tuell nach Grasheys Theorie deuten ließen, so gibt es ebensoviel: andere Unter-
schiede, die nicht deutbar sind. Nur wer die Reflexion an der Teilungsstelle der
Aorta stattfinden läßt, ist der Mühe einer Erklärung enthoben. Dann würde die
rücklaufende Welle eben nur in der Aorta auftreten. Doch dürfte diese Meinung
schon deshalb hinfällig sein, weil dann die Dikrotie in den Femoraliskurven unerklär-
lich wäre, zudem ist neuerdings auch der Aortenpuls registriert und auch hier
zeigt sich nichts von der rücklaufenden Welle (s. $ 60 auf 8.787).
Daß die an sich so wertvollen Untersuchungen von Krehl, v. Kries
und v. Frey die Frage nach der normalen Dikrotie nicht eindeutig ent-
scheiden, wurde schon im vorigen Paragraphen erwähnt. Weiter hat Willem 2)
nun auch experimentell gezeigt, daß nach Unterbindung großer Arterien-
stämme die Form und Lage der dikroten Erhebung in keiner Weise modifiziert
wird, was unmöglich erscheint, wenn Reflexion ihre Ursache wäre.
Es ist dies ja eigentlich kaum etwas anderes als der einfache Versuch
von Marey,der nach Applizierung eines guten Spbygmographen an der Radialis
von Zeit zu Zeit diese Arterie dicht am Sphygmographen auf der periphe-
rischen Seite komprimierte und dabei keine Änderung des Sphygmogramms
bemerkte. Mit Recht heben Schenck?) und Hoorweg#) hervor, daß dieser
Versuch ein noch immer nicht umgestoßener Beweis dafür ist, daß im mensch-
lichen Sphygmogramm die dikrotische Erhebung nicht von periphe-
rischer Reflexion herrühren kann.
In den letzten Jahren hat vor allem Lohmann’) Versuche publiziert, welche
die Entstehung der dikroten Welle durch Reflexion plausibel machen sollen. Ein-
mal beobachtete er das Fehlen der dikroten Welle bei kleinen Tieren. Hier soll
der Weg, den die reflektierte Welle zurückzulegen hat, so kurz sein, daß primäre
Pulswelle und Reflexwelle zusammenfallen. Demgegenüber hat inzwischen Philips°)
auch an kleinen Tieren regelmäßig einen dikroten Puls nachgewiesen. Weiter hat
Lohmann Versuche angestellt, bei denen er in die Aorta plötzlich ein gewisses
Quantum Flüssigkeit hineinspritzte. Bei den Tieren, welche keinen dikroten Puls
hatten, trat, wie er 'manometrisch feststellte, eine einfache Welle auf, bei den
Tieren mit dikrotem Puls trat dagegen außer der primären auch noch eine deut-
liche Reflexwelle auf. Es ist zuzugeben, derartig angestellte Versuche sind durch-
aus geeignet, die Frage zu entscheiden, jedoch scheint mir aus den beigegebenen
Kurven die von. Lohmann behauptete Tatsache nicht einwandfrei hervorzugehen.
Lohmann hat nur zwei Kurven (Fig. 32 und 33 seiner Arbeit) abgebildet, in
denen bei derartigen Versuchen eine Reflexwelle nicht auftrat. Beide Male ist der
Stempel nicht wie in allen anderen Versuchen plötzlich hineingestoßen, sondern,
wie aus der Figur deutlich hervorgeht, langsam und absatzweise. Bei langsamem
‘) Grashey, Die Wellenbewegung elastischer Röhren, Leipzig 1881. —
*) V. Willem, Notes sur l’origine du dicrotisme et des ondulations du plateau.
systolique de la pulsation arterielle, Bull, de l’acad&m. de Belg. 28 (3), 171, 1894.
— °) Schenck, Pflügers Arch. 97, 443. — *) Hoorweg, Über die peripherische
Reflexion des Blutes, Pflügers Arch. 110, 598, 1905. — °) Lohmann, Über die
Entstehung des Dikrotismus, Pflügers Arch. 97, 438, 1904; Derselbe, Erwiderung
auf die Ausführungen von F. Philips: „Le dierotisme arteriel est-il d’origine
peripherique?“, ebenda 103, 632. — °) F. Philips, Le dicrotisme arteriel est-il
d’origine. peripherique?, Arch. internat. de physiol. 1, 78—82, 1904.
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Die Theorie der Rückstoßelevation (Landois). 797
Drücken bleibt aber ganz selbstverständlich die sogenannte Schließungswelle weg,
und es ist durch nichts bewiesen, daß es sich nicht um eine solche gehandelt hat.
bie Versuche scheinen vorläufig also eher für die dynamische Theorie zu sprechen.
$ 65.
Die Dikrotie bedingt durch Ursachen im Herzen und in der
Arterienwand.
Albers!) nahm an, daß der doppelschlägige Puls herrühre von zwei
schnell aufeinander folgenden Kontraktionen.
Auf Reichert?) geht die Annahme zurück, daß die Vorhofkontrak-
tionen durch den Ventrikel hindurch sich im Pulsbilde ausprägen könnten,
Derselbe Autor beobachtete bei Fischembryonen eine in zwei Phasen erfolgende
Zusammenziehung, und andere nahmen dies als Grund der Dikrotie an.
Genauere zeitliche Messungen haben die Unmöglichkeit dargetan, die Di-
krotie hierdurch zu erklären, jedoch scheint es, als ob gewisse inkonstante
Zacken am aufsteigenden Schenkel in dieser Weise zu erklären sind.
Ursachen in der Arterienwand.
Die Vorstellung, daß der Dikrotismus durch die elastischen Schwingungen
in der Arterienwand bedingt sei, ist uralt und geht auf die griechischen und
römischen Ärzte zurück; doch müßten derartige Schwingungen einen einiger-
maßen regelmäßigen allmählich abklingenden Charakter zeigen. Da dies nicht
der Fall ist, könnte man die Kurve durch Arterienwandschwingungen nur
dann erklären, wenn man darunter nicht rein mechanische Schwingungen
versteht, sondern gewisse Reaktionen der Arterienwand gegen den primär
ausgeübten Druck der Pulswelle. In dieser Weise hat auch Roy in neuerer
Zeit den Verlauf erklären wollen, doch sind das dann keine Elastizitäts-
schwingungen mehr, wenn er sie auch so nennt.
In sehr eigenartiger Weise hat seinerzeit Volkmann die Dikrotie auf
die Elastizität der Arterienwand zurückgeführt. Danach soll die. Pulswelle
sich im Blute schnell fortpflanzen und die primäre Pulswelle bilden, in der
Arterienwand aber langsamer und die dikrote Zacke bilden. Diese Ansicht
ist häufig, z. B. von Vierordt, aus theoretischen Gesichtspunkten bekämpft
worden; sie scheitert aber vor allem an der experimentell festzustellenden
Tatsache, daß die beiden Kurven sich nicht, wie es hiernach der Fall sein
müßte, gegeneinander verschieben.
Alle diese Betrachtungen über die elastischen und kontraktorischen Wirkungen
der Arterienwand haben sich mit der Zeit, vor allem unter dem Einflusse von Landois,
zu der Theorie der sogenannten Rückstoßelevation verdichtet, wobei eine eigenartige
Verquiekung mit der Funktion der Semilunarklappen eintrat. Wenn nach dem
Schlusse der Semilunarklappen kein Blut mehr nachströmen kann, ziehen sich die
Arterien wieder zusammen. Durch die Elastizität [und die aktive Kontraktion
(Landois)] wird auf die Blutsäule ein Gegendruck ausgeübt, das Blut wird zum
Ausweichen gezwungen, nach der Peripherie hinströmend, findet es nirgends ein
!) Albers, Allgem. Pathol. 2, Bonn 1844, zitiert nach Landois’ Lehre
vom Arterienpuls. Hier finden sich auf 8. 205 bis 216 noch etwa ein Dutzend zum
Teil sehr merkwürdige Theorien über die Entstehung des Dikrotismus. —
2) Reichert, Die ersten Blutgefäße sowie die Bewegung des Blutes in denselben,
Stud. d. phys. Inst. zu Breslau 1858.
798 Die dynamische Theorie (Moen av
Hindernis, gegen das Zentrum aber weichend, prallt es von den bereits geschlossenen
Semilunarklappen zurück; durch diesen Anprall wird eine neue positive Welle er-
zeugt, die dikrote ‚Welle.
Es ist nicht recht ersichtlich, was bei diesem Mechanismus eigentlich die
geschlossenen Semilunarklappen sollen, denn bevor sie geschlossen waren, war doch
der Druck am arteriellen Ostium, den das einströmende Blut ausübte, ein zum min-
desten ebenso unüberwindbares Hindernis. Die Tatsache, daß die Semilunarklappen
geschlossen worden sind, ist doch gerade ein Beweis dafür, daß an dieser Stelle
der Widerstand bzw. der Druck geringer, und nicht, daß er größer geworden ist.
Die Bedingungen sind also im Beginn des katakroten Schenkels, wenn ein Nachlaß
des Druckes und demzufolge eine Verkleinerung des Arterienlumens eintritt, min-
destens ebenso günstig für das Zustandekommen dieser Rückstoßelevation wie in
dem Moment, in dem sie wirklich auftritt. Es ist eben unmöglich, aus der
Tatsache, daß der Druck kleiner wird, eine Druckvermehrung her-
leiten zu wollen; diese Ungeheuerlichkeit ist evidenter, wenn sie in den Moment
der ersten Druckabnahme verlegt wird, aber sie bleibt auch bestehen, wenn man
sie willkürlich, wie Landois es tut, in einen späteren Moment verlegt. Überhaupt
ist festzuhalten: Jeder, der die Druckzunahme für das Wesentliche hält, muß eine
Kraft plausibel machen, welche eine solche Druckerhöhung veranlassen könnte.
Die Elastizität kann dies unter keinen Umständen, wenn wir nicht annehmen
wollten, daß die bereits auf ein kleineres Volum heruntergegangene Arterie eine
größere Kraft entfalten kann, als vorher die mehr ausgedehnte Arterie; das wider-
spricht aber allen unseren Erfahrungen über Elastizität und wäre eine „vitale
Elastizität“. Wahrscheinlich aus ähnlichen Überlegungen heraus hat denn auch
Landois in den späteren Auflagen seines Lehrbuches, nachdem er vor allem von
Moens auf das Unrichtige seiner Hypothese aufmerksam gemacht worden war, „die
aktive Kontraktion“ hinzugefügt. Eine Kontraktion kann selbstverständlich eine
Druckerhöhung bewirken, aber zu deren Zustandekommen sind ebenfalls die Semi-
lunarklappen überflüssig, welche in diesem Falle eben nur bewirken würden, daß
die Welle sich nicht auch rückwärts ausbreitet.
$ 66.
Dynamische Theorie.
Hinter einer durch die Luft sausenden Kugel entsteht ein luftverdünnter
Raum. Cum grano salis gilt das für jede sich bewegende Masse. Wenn das
Blut in den Arterien in Bewegung ist, so besitzt es eine gewisse Energie,
vermöge derer es sich auch dann noch ein Stück weiter bewegen wird, wenn
die treibende Kraft aufgehört hat zu wirken bzw. wenn dieselbe kleiner wird.
So eilt hinter der positiven Welle gleichsam eine negative her, eine Aspiration,
wie Moens sagt. Daß eine solche negative Welle folgen muß, ist aus
physikalischen Gründen sicher, doch wissen wir heute aus guten Puls-
kurven (vgl. z. B. die Edgrensche Kurve auf S. 786), daß die negative
Welle viel zu spät kommt, als daß sie die zur primären Welle gehörige nega-
tive Welle überhaupt sein könnte, Für Moens ist aber die auf die Senkung
folgende Steigerung nicht bloß ein Zurückkehren zu dem ohne diese Welle
herrschenden Drucke, sondern unter dem Einflusse der Aspirationswelle soll
das Blut zum Zentrum zurückkehren. Diese Vorstellung ist schwer begreif-
lich, denn aus der Triebkraft nach vorn kann keine Triebkraft nach hinten
resultieren. Die rückwärts getriebene Blutmenge soll dann an den geschlossenen
Semilunarklappen reflektiert werden und so die dikrotische Erhebung bedingen.
Wenn nun auch der erste Teil der Moensschen Betrachtung sicherlich
viel Richtiges enthält, so kann man sich doch offenbar die Aspiration nicht
ee ee
NN WAR
Die Deutung als Folge des Semilunarklappenmechanismus. 799
so groß vorstellen, daß sie die Arterienwand in merklicher Weise einbiegt,
denn ‚sonst müßte sie, wie schon oben erwähnt, früher sichtbar werden, als
es tatsächlich der Fall ist. Das Wertvollste und Fördernde der Moensschen
Ansicht liegt aber darin, daß er als erster versucht hat, eine Talwelle wenig-
stens teilweise zur Erklärung heranzuziehen. Ihm folgte Grashey (1881),
der allerdings immer noch das Wesentliche in der der Senkung folgenden
Drucksteigerung sieht.
$ 67.
Der Dikrotismus als eine Folge des Semilunarklappenmechanismus.
Zu einem wirklichen Verständnis gelangt man, wenn man den Vorgang
während des Klappenschlusses sich ohne theoretische Voreingenommenheit,
klar zu machen versucht. Dies hat zum erstenmal Fick im Jahre 1891
versucht, der sagte, der Dikrotismus sei dadurch bedingt, daß der
Druck im Ventrikel auf Null herabsinkt, während die Semilunar-
klappen noch offen stehen. Wenn der Druck im Ventrikel nachläßt, so
wird der nunmehr in der Aorta herrschende höhere Druck das Bestreben haben,
das Blut sowohl nach der Peripherie wie nach dem Herzen zurückzuwerfen.
Selbst wenn nun keine erhebliche Blutmenge, selbst wenn, wie Ceradini
(siehe $ 90, 8.841) gezeigt hat, gar nichts in das Herz zurückfließt, so muß
doch unter allen Umständen so viel Blut rückwärts treten, als nötig ist, um
den Raum auszufüllen, um den die Semilunarklappen rückwärts schlagen. Eine
Betrachtung der Klappen zeigt, daß die Mitte derselben sich bis zum völligen
Gespanntsein mindestens um lcm bewegt; nehmen wir den Durchmesser
des Ostiums — 2,6cm, so beträgt die in Betracht kommende Blutmenge
—.%.1,3%.1
N
kurve gemessen) der Druckabfall, um den es sich handelt, stattfindet, beträgt
0,06 Sek. (nach der Frankschen Aorteıikurve ist diese Zeit noch kürzer).
In dieser Zeit werden (bei einem Sekundenvolum von 60 ccm) durchschnitt-
lich 3,6ccm nach der Peripherie transportiert, also nur etwa doppelt so
viel, als rückwärts transportiert wird. Und dieser Umstand kann nicht ohne
Einfluß sein, ‘der Druck muß während des kurzen Momentes, wenn die Klappen
rückwärts schlagen, weit stärker sinken als sonst. Hiermit wäre die Druck-
senkung erklärt und es bliebe die folgende Steigerung zu erklären. -
Daß durch den Klappenschluß an sich eine positive Welle entstehen kann,
haben die Versuche an Modellen von Moens!), Grashey), Hoorweg°) und
Hürthle®) ganz sicher erwiesen, allerdings läßt sich der Einwand von
v. Kries nicht widerlegen, daß Modellversuche niemals imstande sind, den
lebendigen Organismus zu ersetzen. Immerhin scheinen die oben angeführten
Zahlen zu zeigen, daß die von v. Kries mit Recht aufgeworfene Frage, ob
ein Rückstrom von genügender Größe auch im Organismus stattfindet, bejaht
werden kann. Würde sofort die ganze Blutsäule rückströmen, dann könnte
es zu einer erheblichen Drucksenkung überhaupt nicht kommen. Aber die
große Menge des Blutes verharrt eben noch in der Vorwärtsbewegung. Dadurch,
—— 1,8 ccm. Die Zeit, in der (nach der Edgrenschen Carotis-
%) Moens, l.c. — ?) Grashey, 1. c. — °) Hoorweg, 1. c. in Pflügers Arch.
46, 143 u. 174, 1889. — *) Hürthle, Beiträge zur Hämodynamik 49, 78, 1891.
800 Die anakroten und katakroten Pulswellen.
daß allmählich eine immer größere Blutmenge sich an dieser — wenigstens
relativen — Rückwärtsbewegung beteiligt, stellt sich der Druck wieder her.
Die dann ev. noch folgende geringe Drucksteigerung ist nichts als eine rein
mechanisch bedingte Nachschwingung; ob sie im wesentlichen der Trägheit
des Blutes oder Schwingungen der Arterienwand ihren Ursprung verdankt ist
fraglich, doch scheinen vor allem die Kurven des Druckablaufs in der Aorta
(vgl. Fig. 69 u. 70) für die zweite Möglichkeit zu sprechen.
$ 68.
Sonstige Wellen im Puls und ihre Beziehungen zum Blutdruck.
Außer der konstanten dikroten Erhebung finden sich sowohl vor als auch nach
der dikroten Zacke mehr oder weniger ausgeprägte inkonstante Wellen. Es scheint,
als ob die vorausgehenden (sogenannten anakroten) Wellen durch eine nicht gleich-
mäßig erfolgende Herzkontraktion bedingt sind.
Auf einen häufig nachweisbaren Vorschlag hat schon Härthiet) aufmerksam
gemacht und in ihm einen Ausdruck der Vorhoftätigkeit gesehen. O. Frank?)
hat dann später dasselbe beobachtet und es auch ebenso gedeutet — scheinbar ohne
die Arbeit Hürthles zu kennen.
Die postdikroten (sogenannten katakroten) Zacken können nun durch all die
Momente bedingt sein, welche für die Entstehung der Dikrotie herangezogen, aber
verworfen sind. Also insonderheit durch elastische Nachschwankungen (Elastizitäts-
elevationen nach Landois) und positive und negative reflektierte, sich durch-
kreuzende Wellen nach der von Frey-Krehlschen Ansicht.
Genauer kann auf diese Wellen, deren physiologische Bedeutung bis jetzt nicht
nachweisbar war, nicht eingegangen werden, zumal da gerade von diesen Wellen
durchaus noch jnicht einwandsfrei nachgewiesen ist, ob sie nicht sämtlich auf
Fehlern der registrierenden Instrumente beruhen. Es scheint, daß die Kurven desto
glatter werden je besser das Instrument [vgl. die von Frank?) mitgeteilten Kurven];
vgl. jedoch z. B. Trautwein°) und Hirschmann‘).
Schon v. Frey) hat gesagt: „Die sphygmographische Kurve ist eine
Blutdruckkurve, bei welcher aber der Maßstab, mit welchem die Ordinaten
gezeichnet sind, unbekannt bleibt.“- Dementsprechend ist die absolute Höhe
der Kurve wenig wichtig, da ein Pulsschreiber keine Nullinie besitzt.
Die Kliniker sind im allgemeinen der Meinung, daß ein langsamer An-
stieg und eine geringe Höhe des anakroten Schenkels für hohen Blutdruck,
daß dagegen früh auftretende Zacken, ausgesprochene Dikrotie und Abwesen-
heit der katakroten Zacken im allgemeinen für einen niedrigen Pulsdruck
sprechen. Diese Anschauungen sind zweifellos berechtigt (vgl. hierzu auch $ 24
und 41). ‚Eine besondere Methode hat Sahli®) ausgearbeitet; er kombiniert
die Untersuchungen mit dem Riva-Roccischen Blutdruckmesser und dem
Jaquetschen Sphygmographen und rechnet daraus eine Blutdruckkurve aus,
die er als absolutes Sphygmogramm bezeichnet.
') Hürthle, Über den Zusammenhang zwischen Herztätigkeit und Pulsform,
Pflügers Arch. 49, 51, 1893. — ?) O. Frank, Der Puls in den Arterien, Zeitschr.
f. Biol. 46, 441, 1906. — °) J. Trautwein, Über das Zustandekommen der kata-
kroten Erhebungen der Pulskurve, Dtsch. Arch. f. klin. Mediz. 7, 239 bis 262. —
*) E. Hirschmann, Über die Deutung der Pulskurven beim Valsalvaschen und
Müllerschen Versuch (Phys. Inst. Breslau), Arch. d. ges. Phys. 6, 387 bis 407. —
°’) v. Frey, Die Untersuchung des Pulses, 8. 36, Berlin 1892. — °) Sahli, Über
das absolute Sphygmogramm und seine klinische Bedeutung, nebst kritischen Be-
merkungen über einige neuere sphygmomanometrische Arbeiten, Dtsch. Arch. f. klin.
Med. 81, 493 bis 542, 1904.
u
2 a en u EEE EEE
Kinematik und Dynamik des Herzens. 801
Siebentes Kapitel.
Die morphologischen Grundlagen der FEIN
(Vgl. auch $ 3.)
$ 69.
Um den Kreislauf des Blutes zu beschreiben, können wir einmal die Be-
wegung selbst schildern, wir können die Geschwindigkeit an den einzelnen
Stellen messen, und wenn wir das überall mit der nötigen Genauigkeit tun,
so sind wir imstande, eine erschöpfende Darstellung der Kreislaufphänomene
zu geben, ohne daß wirdabei im geringsten auf die ins Spiel tretenden Kräfte
Rücksicht nehmen.
Aber neben dieser kinematischen Betrachtungsweise läuft gleichberechtigt
die dynamische, bei der wir, von den zugrunde liegenden Kräften ausgehend,
jede Bewegung als Wirkung jener Kräfte auffassen. Im Grunde interessiert
uns wesentlich die kinematische Betrachtung; denn das ist der Sinn der
ganzen Einrichtung: das Blut soll bewegt, soll im ganzen Körper umher-
getrieben werden, und zwar mit einer bestimmten mäßigen Geschwindigkeit,
damit immer genügend neues frisches Blut als Vermittler des Stoffwechsels
auftreten kann.
Wenn wir praktisch nun doch den größten Wert auf Druckmessungen,
d.h. auf Kraftmessungen legen, so rührt das nur daher, weil diese verhältnis-
mäßig leicht anzustellen sind, während wir über die Geschwindigkeit des
Blutstroms brauchbare Angaben kaum besitzen.
Der Ort, an dem fast die ganze Kraft erzeugt wird, welche das Blut
umtreibt, ist das Herz. Seine Bewegungen müssen also notwendigerweise die
Grundbedingungen jeder hämodynamischen Betrachtung sein. Welche aller-
dings die das Herz bewegenden Kräfte sind, bleibe dahingestellt.
Das Herz betrachten wir dabei rein kinematisch, nur seine Bewegungen
beschreibend. Wir setzen dabei das Vorhandensein einer Kraft, eben der
Muskelkraft voraus, ohne uns um deren Natur irgendwie zu kümmern.
Das Herz ist die Pumpe des Kreislaufs. Oft sagt man, eine Druck- und
Saugpumpe. Inwieweit das erstere richtig und das zweite falsch ist, wird zu
erörtern sein. Um jedoch dies zu können und die Wirkungen dieser Pumpe
wenigstens oberflächlich beschreiben zu können, wäre es gut, wenn man den
Mechanismus dieser Maschine, d. h. also die Anatomie des Herzens, kennen
würde.
Beginnen wir mit den Bausteinen, den Zellen.
$ 70.
Das Herz als Muskelsyncytium.
Die Herzmuskelfasern (Herzmuskelzellen !) unterscheiden sich wesentlich
sowohl von den glatten, wie von den quergestreiften Muskeln, doch dürften
sie trotz ihrer Querstreifung den glatten Muskeln näher stehen. Es sind
!) Der Ausdruck Muskelzellen war deshalb als der richtigere gewählt worden,
weil diese Gebilde (abgesehen von den Verzweigungen) eine Form besitzen, die bei
genügender Vergrößerung etwa der eines Bleistiftes entspricht, selten der eines un-
gebrauchten, meistens der eines sehr kurzen. Den Ausdruck Fasern hierfür zu
gebrauchen, scheint manchen irreführend.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 51
3023 Histologie der Herzmuskelzellen.
kurze, zylinderförmige Elemente, die im ganzen sehr viel dünner und sarko-
plasmareicher sind als die Fasern der Skelettmuskeln, und deren Quer-
streifung sehr viel feiner ist. Auch sie sind, wie feine Längsstreifen anzeigen,
aus Fibrillen zusammengesetzt. Diese Muskelzellen, als welche man sie früher
beschrieben hat, sollten mehrfach verzweigt sein und mit den benachbarten
Muskelzellen in den sogenannten Eberthschen !) Kittlinien zusammenstoßen.
Diese Beschreibung entspricht durchaus den Tatsachen. Fraglich ist nur,
ob die Kittlinien wirklich Zellgrenzen darstellen, oder ob sie nicht entweder,
wie v. Ebner?) will, nur nekrobiotische Produkte sind, die an irgend einer
vorher gar nicht merkbar prädestinierten Stelle im Momente des Absterbens
durch eine abnorme Kontraktion entstehen, und die er deshalb als „Ver-
dichtungsstreifen“ bezeichnet — oder endlich, ob nicht die Auffassung
von Heidenhain?®) richtig ist, wonach dies diejenigen Stellen sind, an
denen das interkalare Längenwachstum der Fibrillen erfolgt, und die er
demnach als „Schaltstücke“ bezeichnet. Wie dem auch sei, alle neueren
Untersucher sind sich wohl darüber einig, daß diese Linien keine eigentlichen
Grenzen bedeuten, sondern daß, wie zuerst Przeworsky) gezeigt hat,
die Fibrillen der Muskelfasern nicht an diesen Querstreifen endigen, sondern
durch sie hindurch verfolgt werden können, und daß daher alle Zellen des
Herzens ein einziges großes Continuum bilden. ;
Wir haben uns das Gebilde des Herzens in folgender Weise entstanden
zu denken: Die eigentlichen embryonalen Herzzellen liegen ursprünglich —
wie alle embryonalen Zellen — eng aneinander, sind aber in diesem Zustande
noch völlig undifferenziert und weisen insonderheit keine Querstreifung auf.
Die Herzmuskelzellen erzeugen dann um sich herum gewisse Wachstums-
oder Ausscheidungsprodukte, gleichsam eine Interzellularsubstanz, welche die
einzelnen Zellen umhüllt und unter sich verbindet. Diese Zwischensubstanz
ist quergestreift und bildet später die Hauptmasse des Herzfleisches. Als
Reste der ursprünglichen Zellen bleiben die Kerne und das sie umgebende
Sarkoplasma dauernd als isolierte Reste erhalten, während die Interzellular-
substanz eine einheitliche alles verbindende Masse bildet. Diese Masse
differenziert sich entweder sekundär oder schon gleich bei der Entstehung in
anisotrope und isotrope Substanz, welche die spätere Querstreifung darstellt,
während gleichzeitig ein fibrillärer Zerfall in der Längsrichtung erfolgt, der
jedoch die gesamte Masse nicht in einzelne vollkommen abgegrenzte Fibrillen
zerlegt, sondern nur gewisse streifige Längsspalten bildet, so daß die einzelnen
Faserzüge durch quere und Seitenfortsätze immer noch miteinander verbunden
bleiben, so wie es etwa die Fig. 72 (a. f. S.) zeigt, die nach einer Figur
von Heidenhain’) schematisch gezeichnet ist. Die Längsspalten sind stark
ausgezogen, die Kitt- oder Schaltlinien, welche sich im mikroskopischen Bilde
deutlich repräsentieren, sind durch punktierte Linien angedeutet, und da-
durch werden einzelne Territorien gegeneinander abgegrenzt, deren End-
‘) Eberth, Die Elemente der quergestreiften Muskeln. Virchows Arch. 37,
100 bis 124. — ») v. Ebner, Über die Kittlinien der Herzmuskelfasern, Sitzungsber.
d. Wien. Akad. d. Wiss. 109, III. Abt., p. 700, 1900. — °) M. Heidenhain, Die
Struktur des menschlichen Hersmidsköie, Anat. Anz. 20. — *) Przeworsky, Du
mode de r&union des cellules myocardiques de l’homme adulte, Arch. des sciences
biolog. de St. Petersbourg 1893. — °) 1. e., 8. 39, Fig. 2e.
’
richtungen gesprochen werden, denn in solchem aus-
Morphologie der gröberen Fasern. 303
flächen treppenartig geformt sind; die einzelnen Stufen stehen dabei senk-
recht zur Längsachse der Faser, und all’ die einzelnen Stufen eines Terri-
toriums hängen nun meist nicht nur mit einem anderen Territorium
zusammen, sondern stehen mit mehreren in Verbindung. Diese Territorien
hat man früher als Herzzellen bezeichnet, weil man
annahm, daß jedem Territorium im allgemeinen ein
und zwar nur ein Kern zukomme. Diese Auf-
fassung ist von Heidenhain bestritten worden, doch
muß darauf hingewiesen werden, daß gerade die
Heidenhain entnommene Figur eine gewisse Stütze
für sie zu bieten scheint: Jedes Herzterritorium hat
im allgemeinen einen Kern. Doch wie dem auch
sei, jedenfalls entsteht dadurch ein vielfach ver-
ästeltes muskulöses Netz mit sehr spitzwinkligen
Maschen, in welchem außer in den Faserringen der
Herzostien und in den Sehnen der Papillarmuskeln
eigentliche Endigungen von Fasern nicht zu erkennen
sind. Bei einer derartigen Konfiguration kann nur
mit einer gewissen Reserve von betimmten Faser-
Fig. 72,
F x S & , Schema der Herzmuskulatur
gedehnten Syncytium fließen nicht nur die einzelnen nach Heidenhain.
hintereinander geschalteten Zellterritorien zusammen, Stark gezeichnet: die Längs-
A 2 3 2 spalten. — Punktiert: die Kitt-
sondern durch breite Querverbindungen wird ein oder Schaltlinien.
vollständiger Konflux benachbarter Fasern hergestellt.
Das so entstehende Netzwerk ist außerordentlich engmaschig. Schon Remak
(1850!) hat darauf hingewiesen, daß jede Faser in der Herzkammer des
Menschen sich im Bereich von etwa !/;,mm mindestens einmal, zuweilen auch
mehrmals verästelt.
$ 71.
Die Faserrichtungen des Herzens
-lassen sich trotz der mannigfachen Durchflechtung bereits durch makro-
skopische Zergliederung wenigstens teilweise herauspräparieren. Allerdings
wäre eine genauere Kenntnis, ähnlich wie bei dem Gehirn, nur durch Serien-
schnitte möglich, doch ist dies nie versucht und dürfte auch schwieriger sein, wie
im Gehirn. Makroskopisch aber können höchstens in den äußeren und inneren
Schichten des Herzens, bestimmte Faserrichtungen auf weitere Strecken ver-
folgt werden. Zwar ist auch hier der Schein trügerisch. Albrecht?) hat
z. B. gezeigt, daß von den inneren Bündeln längst nicht alle die scheinbar so
offensichtliche Bahn zu Ende durchlaufen, sondern ein großer Teil derselben,
vorher abzweigend, sich in der Tiefe verliert.
Das Herz ist eben wenigstens zum Teil ein einfacher Hohlmuskel, der
Faserlagen in den verschiedensten sich durehkreuzenden Rich-
tungen besitzt, deren Kontraktion dann eine allseitige Verkleine-
rung des Innenraumes hervorbringt.
!) Remak, Über den Bau des Herzens, Arch. f. Anat. (u. Physiol.) 1850,
8.576 bis 578. — *) Albrecht, E., Der Herzmuskel und seine Bedeutung für Physio-
logie, Pathologie und Klinik des Herzens. Berlin, Springer, 1903.
51*
804 Faserrichtung und Funktion des Herzens.
Neben dieser allseitigen Verkleinerung führt das Herz gänz bestimmte,
davon mehr oder weniger unabhängige Bewegungen aus, die in folgendem erst
einmal ohne jede Diskussion genannt werden sollen. Es sind dies — nach
einer Zusammenstellung von Braun !) — im wesentlichen folgende Bewegungen:
1. Das Auftreten eines systolischen Herzbuckels und einer systolischen
Furche.
2. Eine Wölbungszunahme der Spitze.
3. Eine Rotations- und Hebelbewegung der Spitze.
4. Eine Verschmälerung des Basisteils der linken Kammer.
Es erwächst nun, wie Albrecht?) folgerichtig bemerkt, die Aufgabe von
der Fasergruppierung, die einem einfachen Hohlmuskel entsprechen würde, die-
jenigen Gruppen abzusondern, welche eine, von dem genannten Typus abweichende
Anordnung aufweisen, und zu bestimmen, in weleher Weise diese Fasern ihrer
unterschiedlichen Aufgabe genügen. Albrecht versucht auch, diese Fragen zu
beantworten, wir können uns nicht in allen Punkten seinen immer interessanten
Ausführungen anschließen, wir glauben, daß es zu einer eingehenden Analyse zu
früh ist, und daß Braun°) recht hat, wenn er — wie vor ihm ähnlich schon
Krehl — sagt: Trotz des überaus großen Aufwandes an Arbeit, die auf diesen
Teil der Anatomie verwendet wurde, kann dieser Weg (nämlich aus dem anatomi-
schen Bau des Herzens seine Bewegungsart zu erklären) auch heute noch nicht
bis an seinen Endpunkt durchschritten werden. Wir sind auch heute im Grunde
nicht weiter als Harvey, welcher in Kap.Il sagte: „Ex his mihi videbatur manifestum,
motum cordis esse tentionem quandam ex omni parte et secundum ductum omnium
fibrarum, et constrietionem undique, quoniam eregi, vigorari, minorari, et duresceri
in omni motu videtur.“
Auch heute noch ist dieses Harveysche Postulat — die Formveränderung
des Herzens müsse in gewissem Sinne eine Funktion der Richtung und Verbindung
der einzelnen Fasern sein — ein Syllogismus und kein empirisch nachgewiesenes
Faktum. Auch heute noch sind die anatomischen Daten nicht so sicher gegeben,
daß man auf Grund derselben die Frage nach ihrer Funktion diskutieren könnte,
wir können vorläufig nur die anatomischen Daten selbst diskutieren und dabei von
Zeit zu Zeit hinweisen auf deren eventuelle physiologische Bedeutung.
Trotz der fleißigen und bedeutungsvollen Arbeiten von Ludwig), Henle>)
und Hesse®), neuerdings auch von Krehl”), His undRomberg®), Albrecht?),
um nur die wichtigsten zu nennen, wissen wir eigentlich nur, daß je besser
wir die einzelnen Faserrichtungen kennen lernen, desto verwirrender die Fülle
der sich kreuzenden und verschlingenden Fibern erscheint. Vorläufig scheinen
sowohl die glänzenden Vervollkommnungen der Histologie, sowie die an-
gedeuteten Fortschritte der Feinanatomie die Sache des Herzens nur ver-
wickelter zu machen.
In bezug auf viele Einzelheiten sei auf die oben angegebene Literatur,
vor allem auf das sehr ausführliche Werk von Albrecht?) verwiesen, das
neben eigenen Untersuchungen die Ergebnisse auch der anderen Autoren in aus-
führlicher, sehr sachlicher, allerdings oft schwer verständlicher Weise referiert.
!) Braun, Über Herzbewegung und Herzstoß. Jena 1898. — ?) Albrecht,
Der Herzmuskel und seine Bedeutung für Physiologie, Pathologie und Klinik des
Herzens, $8.21. Berlin 1903. — ®) Braun, 1. e., 8.2. — *) Ludwig, Über den Bau
und die Bewegung der Herzventrikel, Zeitschr. f. rat. Med. 7, 190 bis 200, 1849.
— °) Henle, Handb. d. system. Anat., 2. Aufl., 3 (1876). — °) Hesse, Beiträge zur
Mechanik der Herzbewegung, Arch. f. Anat. 8. 320, 1880. — 7) Krehl, Zur Kenntnis
der Füllung und Entleerung des Herzens, Abh. d. kgl. sächs. Ges. d. Wiss., math.-
phys. Klasse, 17 (1890). — °) His u. Romberg, Verhandl. d. IX. Kongresses f.
innere Med. 1890.
Vorhofmuskulatur. 805
Hier muß es genügen, die wichtigsten Resultate, deren Bedeutung auch in
funktioneller Beziehung allmählich klar zu werden beginnt, kurz zusammen-
zustellen. Die Resultate sind im wesentlichen dadurch gewonnen, daß man das
Herz mit Salpetersäure vorbehandelte und dann quellen ließ, oder auch,
indem man das Herz kochte. Es ist dann eine wenigstens teilweise Trennung der
einzelnen Faserbündel möglich. 2
8.72.
Die Vorhofmuskulatur.
Wir können uns bei der Betrachtung wesentlich auf die Ventrikel be-
schränken, denn in mechanischer Hinsicht spielen die Vorhöfe,
besonders bei den höheren Wirbeltieren, eigentlich nur die Rolle von Re-
servoirs, die sich füllen und leeren. Die Art ihrer Zusammenziehung
und Erweiterung ist hierfür belanglos.
Die Vorhofmuskulatur umschließt als dünnwandige Schicht die beiden
Atrien. Im ganzen kann man von ihr weit mehr als von der Ventrikel-
muskulatur sagen, daß sie aus sich in allen Richtungen kreuzenden Fasern
besteht, deren Gesamtwirkung eine Verkleinerung des Atriums hervorruft.
Und zwar sind diese Muskelmassen in den Herzohren verhältnismäßig am
stärksten entwickelt, nur diese haben Musculi pectinati; hier sind innere
zirkuläre und äußere, der Längsachse des Herzens parallele Fasern vorhanden.
Die Innenwand des übrigen Vorhofsabschnittes ist dagegen glatt und besitzt
umgekehrt äußere zirkuläre und innere longitudinale Fasern. Besonders
an den Venenmündungen sind die kreisförmig angeordneten Fasern stärker
entwickelt und bilden gleichsam Sphinkteren, eine Erscheinung, die zweifellos
auch eine nicht unwichtige funktionelle Bedeutung besitzt, da durch sie allein
der Rückfluß in die Venen bei der Vorhofskontraktion gehindert wird (vgl.
hierzu S. 845f.). Beim Menschen setzen sich diese Muskelzüge wenigstens an
den Lungenvenen ziemlich weit bis nahe an den Hilus hin fort; bei anderen
Säugetieren reichen sie sogar noch weiter.
Ähnlich wie bei dem Herzen gehören auch bei den Vorhöfen die tiefen
Fasern, welche zum Teil von den faserigen Ringen der Ostia venosa, nament-
lich linkerseits entspringen, nur je einem Atrium an, während die öber-
flächlichen Fasern beiden Vorhöfen gemeinsam sind.
In die Vorhöfe münden die großen Venen, in den rechten Vorhof auch
die Venen des Herzens direkt und zwar teils durch das Ostium sinus coronarüi,
teils einzeln in den Foraminis venarum minimarum (Thebesii).
$ 73.
Die drei Muskelsysteme der Ventrikel.
Das Herz selbst, das beim Neugeborenen etwa 20g,in der Pubertät
etwa 250g und beim erwachsenen Manne etwa 350g wiegt, ist eine
außen und innen von epithelialen Schichten überzogene Muskelmasse, welche
zwei Hohlräume umschließt, den etwa kegelförmigen linken Ventrikel und
den im Querschnitt halbmondförmigen, sonst aber auch kegelförmig gebauten
rechten Ventrikel. Die Anordnung ist dabei, wie die schematische Fig. 73
(s. f. S.) zeigt, derartig, daß der linke Ventrikel bis in die Spitze hinabreicht,
während der rechte Ventrikel gleichsam in die Wand des linken hineingebaut
ist und nicht so tief hinunterreicht.
806 Übersicht über die drei Fasersysteme der Ventrikel.
Vor der Beschreibung der einzelnen Faserriehtungen möchten wir einen Um-
stand erwähnen, der die Erkenntnis der mechanischen Wirkungsweise am Herzen
außerordentlich erschwert. Wir haben hier nicht, wie bei den meisten anderen
Muskeln, zwei relativ feste Ursprungsstellen, die bei der Kontraktion der Muskeln
einander genähert werden. Am Herzen gibt es nur eine wesentliche Ursprungs-
stelle, und das sind die Faserknorpelringe, außerdem kommen noch die Muskelenden
der Papillarmuskeln in Betracht.
Es ist nun ganz ausgeschlossen, daß an diesen Stellen etwa alle Muskelfasern
des Herzens entspringen oder endigen. Wo entspringen aber die übrigen? Sie ent-
springen nirgends, sie laufen in sich selbst zurück! — „Eine muskulöse Faser, die
ringförmig in sich selbst zurückläuft, be-
Fig. 73. darf keiner Befestigungs- und Endpunkte“,
sagt schon Ernst Heinrich Weber.
Dies ist unzweifelhaft richtig, scheint
aber eine zu enge Vorstellung zu sein.
Da wir wissen, daß die einzelnen sehr
kurzen Muskelzellen oder besser gesagt
Muskelterritorien untereinander ein
‘Netzwerk bilden, ist die Frage nach
dem Ansatz überflüssig: eine Zelle
setzt sich eben an die andere an. Es
kann sich also nur um die Frage
handeln: gibt es im Herzen nur ein
einziges Maschenwerk, in das die
gesamte Muskelmasse aufgeht?
Oder gibt es etwa mehrere solcher
Systeme, von denen jedes ein
Schema der Anordnung der Muskulatur in den Maschenwerk (even tuell mit be-
Aufdem ER die äußeren Spiral- 2 x ah VOTING En FORERIE 4 DaR@Rı
fasern und die Fasern des Papillarsystems, sowie richtungen) bildet, mit den
a a verny anderen Systemen aber nicht zu-
des Herzens überall punktiert gezeichnet. sammenhän gt ?
Das Myokard oder Herzfleisch zer-
fällt nach allen Untersuchern, grob betrachtet, in drei Schichten, von denen
die äußere und innere (es gibt eigentlich zwei innere Schichten, welche die
beiden Ventrikel je einzeln auskleiden) im ganzen in der Längsrichtung des
Herzens verlaufen, die mittlere dagegen in mehr querer Richtung.
Diese mittlere Schicht ist nur im linken Herzen ansehnlicher entwickelt,
und ihr verdankt dasselbe hauptsächlich seine größere Wanddicke.
$ 74.
Die äußeren Spiralfasern.
Die Fasern der äußeren Muskelschicht inserieren an den annuli fibrasi
(knorpelartigen Faserringen, welche die Kammerbasis bilden) und steigen
dann in schiefen Spirallinien gegen die Spitze abwärts, wobei sie auf der
Vorderseite des Herzens (die dem Thorax anliegt) oben von der rechten
Seite des betrachteten Individuums nach links unten ziehen. Auf der Rück-
seite ziehen sie dementsprechend von links oben nach rechts unten. An der
Herzspitze senken sie sich in die Tiefe und bilden dabei den oft genannten
Ad nr. u —
Die äußeren Spiralfasern. 807
Wirbel; wir haben oben schon erwähnt, daß an dieser Stelle das Herz am
dünnsten ist.
Ganz offenbar bewirkt nun die Richtung dieser Fasern bei der Kon-
traktion jene leicht zu beobachtende Drehung des Herzens um die eigene
Achse. Fig. 74 zeigt schematisch, wie diese zustande kommt. I, II, II, IV sei
die Basis, gesehen von der Spitze, und die vier stark ausgezogenen Linien
sollen vier Muskelfaserzüge repräsentieren, welche in Spirallinien gegen den
Wirbel der Herzspitze hinziehen, den sie aber nicht erreichen, wie es auch
Fig. 74.
in der Figur angedeutet ist.
Verkürzen sich nun diese Faserzüge, so werden sich ihre Bahnen natur-
gemäß mehr der geraden Linie nähern; sie werden also etwa in der Richtung
der punktierten Linie verlaufen. Will man wissen, wie sich dabei die ein-
zelnen Punkte bewegt haben, so hat man nur jede der beiden Linien in gleich
viele Teile zu teilen. In der Fig. 74 sind es acht Teile. Die entsprechenden
Punkte bezeichnen dann die
Lage eines Partikelchens vor B
und nach der Kontraktion, ihre I
Verbindung den zurückgelegten |
Weg. Man sieht z. B., a, ist
nach a gewandert. In Fig. 74B M En
sind dann die Muskelfasern kon- 1 inet "@,
trahiert gezeichnet. Wie man 1% Br
leicht einsieht, haben sich dabei ae
die vier Quadranten, die in u
der Figur durch Schraffierung Die drehende Wirkung der äußeren Spiralfedern
kenntlich gemacht sind, in der . des Herzens.
angegebenen Weise verschoben.
Und das ist die Spiraldrehung des Herzens bzw. die Rotation der Spitze, wie
es meist genannt wird. Diese Verkürzung der äußeren Schicht bewirkt also,
wie aus dem Bilde deutlich hervorgeht, eine Drehung des Herzens — von
der Spitze aus betrachtet — entgegen dem Sinne des Uhrzeigers. Sie be-
wirkt mithin, daß bei eröffnetem Thorax ein Abschnitt der linken Kammer-
wand zum Vorschein kommt, der im Zustand der Erschlaffung von der linken
Lunge bedeckt ist.
Diese Rotation, entgegen dem Sinne des Uhrzeigers, Kommt ; in. mehr oder
weniger hohem Grade zustande, wie auch im einzelnen die Fasern verlaufen,
wenn sie nur überhaupt in dem angedeuteten Sinne von oben rechts nach
unten links laufen. — Wir.sehen aber, daß die einzelnen Punkte nicht nur eine
Drehung ‚ausführen, sondern daß dabei die peripheren Punkte sich der Mitte
nähern, die zentralen sich davon entfernen. Im allgemeinen wird mit jeder
Drehung auch eine Bewegung zum Mittelpunkt hin oder von ihm fort ver-
bunden sein, doch hängt dies durchaus von der Form der Spirale ab, welche
der einzelne Muskelfaserzug vor der Kontraktion hatte. Die Betrachtung
einiger in Salpetersäure zerfaserten Herzen macht es aber wahrscheinlich, daß
bei der Kontraktion eine Verdichtung und Ansammlung von Faserzügen etwa
in der Mitte des Herzens stattfindet, was mit der dort leicht zu beobachtenden
Wölbungszunahme gut übereinstimmen würde. Doch erscheint vorläufig die
genauere Bestimmung dieser Tatsache darum nicht angängig, weil wir
808 Das Krehlsche Treibwerk.
nicht wissen, welchen Anteil hieran die anderen Fasersysteme des Herzens
haben.
Es könnte nun scheinen, als ob auch die obige Betrachtung illusorisch
wäre, weil die anderen Fasersysteme nicht berücksichtigt sind; doch ist dem
nicht so, denn die Ansatzstellen dieser Spiralfasern, „die Annuli fibrosi“, sind
die einzig relativ festen Punkte für das Herz. Wenn also in bezug auf
diese Punkte eine Spiraldrehung des Herzens oder auch nur des Herzmantels
zu stande kommt, so werden eben die inneren Teile dementsprechend ihre
Ansatzpunkte verlagern, d. h. sie werden der Bewegung folgen. Die Tat-
sache, daß die Faserringe das relativ Stabilste am Herzen darstellen, ist der
Grund, daß man bei jeder Analyse der Herzbewegung zuerst die Bewegungen
der an diesen Ringen angreifenden Muskelmassen studieren muß. So ist denn
die Wirkungsweise dieses Faserabschnittes verhältnismäßig noch am klarsten,
und eigentlich könnten wir erst, nachdem wir auf diese Weise die Ansatz-
stellen der anderen Muskel und ihre Bewegungsform festgestellt haben, an
die Bewegung eben dieser anderen Muskel herangehen. Für viele Fragen
kommt es jedoch nicht auf die absolute Bewegung an, sondern es genügt, die
relative Verlagerung zu kennen. Wenn wir von einer Ringfaserschicht z. B.
wissen, daß sie sich kontrahiert, so ist es gleichgültig, ob sich der Ring als
Ganzes vorher oder dabei dreht; die Wirkung auf den Inhalt ist auf alle
Fälle die gleiche.
8 75.
Das Treibwerk und das Papillarsystem.
Das Mittelstück ist von Krehl isoliert worden dadurch, daß er nach
Behandlung mit Salpetersäure die innere und die äußere Muskelschicht ab-
getrennt hat. Es bleibt dann eine mittlere Schicht sogenannter zirkulärer
Fasern zurück, deren Verlauf zwar in seiner Hauptrichtung ein querer ist,
jedoch nicht senkrecht zur Herzachse steht, sondern davon im Sinne jener
Richtung abweicht, welche die Fasern der äußeren Schicht einschlagen, zum
Teil zeigen jedoch die Muskellamellen, welche das Treibwerk zusammensetzen,
ganz unregelmäßigen Verlauf und durchflechten sich. Eigentliche, kreis-
förmig in sich selbst zurücklaufende Fasern kommen nicht vor, sind wenigstens
noch nicht nachgewiesen, andererseits kommen Endigungen in Sehnen auch
ganz und gar nicht vor; dieser Abschnitt ist also das beste Beispiel des oben
geschilderten, muskulösen Netzes. Diese Muskelzüge gehören im wesent-
lichen dem linken Herzen an — nach Krehl sogar fast ausschließlich — und
ihnen vornehmlich dankt das linke Herz die sehr viel größere Dicke seiner
Wandung. Die Kontraktion dieser Muskeln muß ganz besonders dazu bei-
tragen, das Lumen des Herzens zu verkleinern und dadurch das Blut heraus-
zutreiben. Krehl nennt deshalb auch diese zirkulären Fasern das Treib-
werkzeug des Herzens. Die alleinige Kontraktion dieses Treibwerkzeuges
würde, wie er sich ausdrückt, die „Röhre des Herzens verengern, aber gleich-
zeitig verlängern“; daß letzteres nicht stattfindet, dafür sorgen die Fasern
der inneren und äußeren Schicht.
Dadurch daß das Treibwerk des Herzens nur in einigen Faserzügen
beide Ventrikel gemeinsam umspannt, in seiner Hauptmasse aber die beiden
Höhlen je einzeln umgibt, kommt bei der Kontraktion die leicht zu beob-
Das Papillarsystem. 809
achtende Längsfurche des Herzens zustande. Im schlaffen Zustande
nimmt das gesamte Herz nach bekannten Gesetzen eine solche Gestalt an,
daß seine Oberfläche möglichst klein wird, d. h. eine annähernd kugelförmige
Gestalt; kontrahieren sich aber die beiden Ventrikel, so müssen sie nach den-
selben Gesetzen dahin tendieren, eine solche Form anzunehmen, daß jeder
für sich eine möglichst kleine Oberfläche hat. Also jeder Ventrikel
für sich nähert sich möglichst der Kugelform, soweit dies’ die besonderen
mechanischen Bedingungen der Faserrichtungen zulassen. Es entsteht da-
bei mit Notwendigkeit eine Längsfurche, welche die Grenze der beiden
Ventrikel andeutet. Diese Längsfurche verläuft von rechts oben nach links
unten, so daß sie das Herz nicht nur in eine rechte und linke, sondern beim
Menschen auch gleichzeitig in eine obere und untere Herzhälfte scheidet,
Das linke Herz ist darum das untere, weil die Spitze des Herzens, wie schon
erwähnt, ausschließlich dem linken Herzen angehört. (Siehe $.822 die Kon-
sequenz dieses Zustandes in bezug auf die Deutung des Elektrokardiogramms.)
Das Papillarsystem,
zu dem nicht nur die Papillarmuskeln selbst gehören, sondern auch die
dem Endocard anliegenden in der Längsrichtung verlaufenden inneren Faser-
schichten des Herzens, hat wahrscheinlich eine unterstützende Bedeutung, um
das Längerwerden des Herzens infolge der Wirkung des Treibwerkes hintan-
zuhalten. Seine wesentlichste Aufgabe aber scheint einmal darin zu bestehen,
daß zum mindesten ein Teil seiner Fasern, die sogenannten Purkinjeschen
Fasern, die Erregung an alle Stellen des Herzens hin gleichmäßig verteilen
und weiter vor allem in der Unterstützung der Klappenwirkung.
Dieser Teil des Papillarsystems wird also. in $ 76b sowie in dem Kapitel
über die Klappen ($ 92 a. S.845) genauer beschrieben werden.
Die muskulösen Verbindungen der einzelnen Muskelsysteme.
Sind diese vier Muskelsysteme (Vorhofmuskulatur, äußere Spiral-
fasern, Treibwerk und Papillarsystem) nun voneinander völlig isoliert
oder stehen 'sie untereinander und mit der Venenmuskulatur in muskulärer
Verbindung? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht nur für die myogene
Lehre von Bedeutung.
Schon Ludwig (1849) hatte einen Zusammenhang zwischen äußeren
(Spiral-) Fasern und inneren (Papillar-)Fasern angenommen.
His (1893) erbrachte als erster den Nachweis muskulärer Verbindungen
zwischen Vorhof und Ventrikel beim Säugetier.
Albrecht (1903) wies auf den muskulären Zusammenhang hin zwischen
dem Papillarsystem und dem Treibwerk des Herzens.
Wenkebach (1906) beschreibt Verbindungen zwischen Venenmuskulatur
und Vorhofmuskulatur.
Dadurch stellt sich uns die gesamte in Betracht kommende Muskelmasse
als ein wirkliches Syneytium dar; allerdings bleibt der in gewissem Sinne
isolierte Charakter der einzelnen Systeme erhalten, denn, wie wir sehen werden,
sind all diese Verbindungen nur mehr oder weniger schmale Brücken zwischen
mächtigen Muskelmassen.
810 Muskulöse Verbindungen des Vorhofs mit den Venen
$ 76.
Verbindungen des Vorhofs mit den Venen und dem Ventrikel.
a) Muskulöse Verbindungen zwischen Venen und Vorhof.
Diese Verbindungen sind niemals geleugnet worden. Interessant er-
scheint der unten zu schildernde Wenkebachsche Befund nur deshalb,
weil er zeigt, daß auch hier keine breiten kontinuierlichen Übergänge be-
stehen, sondern nur eine einzige schmale Brücke vorhanden ist. Außerdem
ist diese Stelle deshalb für das funktionelle Verständnis von Bedeutung, weil
wir wissen, daß beim Kaltblüter die Erregung vom Sinus ausgeht. Es muß
also auch den Physiologen interessieren, was aus dem Sinus venosus wird,
der im embryonalen Zustande auch beim Menschen auftritt. Von Keith!)
wird ein Komplex schlingenförmiger Muskelbündel (loop-fibre) an der
Vena cava superior als muskulöser Rest des ‘Sinus venosus beschrieben und
abgebildet. Wenkebach?) fand diese Bildung auch beim Menschen, be-
sonders deutlich bei hypertrophischem rechtem Ventrikel. Er beschreibt _
diesen an der Vena cava sup. befindlichen von der Vorhofmuskulatur deutlich
abgegrenzten Muskelapparat als einen mehr schlingenförmig als sphinkter-
artig gebildeten Ring, der nur durch ein einziges Bündel mit der Vorhof-
muskulatur zusammenhängt. Ob dies mit den physiologisch beobachteten
Tatsachen über den Ursprung der Herztätigkeit bei den Säugetieren überein-
stimmt, darf heute allerdings noch nicht als sicher betrachtet werden.
b) Muskulöse Verbindungen zwischen Vorhof und Ventrikel.
Man hat lange Zeit geglaubt, und Donders war derjenige, der dies am
schärfsten formuliert hat, daß die Muskelmasse des Vorhofs vom Ventrikel
vollständig geschieden sei. Allerdings nur bei den höheren Säugetieren, denn
bei den Fischen ist sicherlich eine Verbindung zwischen Vorhof und Ventrikel
vorhanden; ja das Herz verrät hier noch deutlich seinen Ursprung aus einem
einzigen muskulären Schlauch; es ist eine fortlaufende Muskelmasse, die vom
Venensinus bis zum Bulbus aortae reicht, ähnlich dem Herzen mancher
niederer Tiere, z. B. dem der Salpen, das wirklich ein ganz einheitlicher
Muskelschlauch ist, über den eine einzige peristaltische Welle ohne jede Unter-
brechung hinläuft.
Schon im Jahre 1883 wies dann Gaskell®) am Herzen der Schildkröte
nach, daß es bei diesen Tieren sowohl zwischen dem Sinus und dem Vorhof,
als auch zwischen dem Vorhof und dem Ventrikel muskulöse Verbindungsfasern
gibt. Und zwar fand er zirkuläre Muskelfasern, welche das atrioventrikuläre
Ostium umgaben, und in welches Fasern von beiden Herzabschnitten einstrahlten.
Zehn Jahre später wurde eine solche Verbindung auch für das Säugetier-
herz nachgewiesen. His*) und Kent?) fanden sie gleichzeitig, und zwar
!) A.Keith, Anatomy of the valvular mechanism round the venous orifices asf.,
Journ. of Anat. and Physiol. 37 (1902); derselbe, Evolution and action of certain
muscular structures of the heart. Lancet 1904. — ?) Wenkebach, Zur Kenntnis
der menschl. Herztätigkeit, Arch. f. (Anat.u.) Physiol., 8. 297, 1906. — °) Gaskell,
On the innervation of the heart asf. (of the tortoise), Journ. of Physiol. 4 (1883).
— *) His, Tätigkeit des embryonalen Herzens usw., Abhandl. d. Sächs. Ges. d.
Wiss., math.-physik. Kl., 19, 1, 1893. — °) Stanley Kent, Researches of the
structure and function of the mammalian heart, Journ. of Physiol. 14 (1893).
nt 2 a te er nn ce ee
und mit dem Ventrikel (Hissches Bündel). sıı
betonen beide, daß sie in der Jugend stärker entwickelt sei. „Dieses Muskel-
bündel“, sagt His, „entspringt von der Hinterwand des rechten Vorhofes,
nahe der Vorhofscheidewand; an der Atrioventrikularfurche legt sich die
obere Kante des Kammerscheidewandmuskels unter mehrfachem Faseraustausch
an, zieht auf demselben nach vorn, bis es nahe der Aorta sich in einen
‚rechten und linken Schenkel gabelt, welch letzterer in der Basis des Aorten-
'zipfels der Mitralis endigt.“
Kent hat dies Bündel in verschieden starker Mächtigkeit bei allen
untersuchten Tierarten (Ratten, Kaninchen, Meerschweinchen, Katzen, Hunden,
Igeln und Affen) gefunden. Retzer!) hat es unter Spalteholz in absolut
einwandsfreier Weise bei kleinen Herzen durch mikroskopische Serienschnitte,
an großen Herzen durch makroskopisch sichtbare Präparation nachgewiesen:
Wichtig ist, daß er das Vorhandensein des Bündels auch für den Menschen
bestätigen konnte. Bräuning?) unter Engelmann und Humblet °) haben
das Bündel ebenfalls histologisch untersucht und sein Vorhandensein be-
stätigt. Vgl. hierzu auch die Arbeit von Lohmann ®).
So dürfen wir wohl nicht daran zweifeln, daß die alte Donderssche
Lehre von der muskulären Isolation zwischen Vorhof und Ventrikel auch vom
anatomischen Standpunkt aus ein Irrtum war. Meinungsverschiedenheiten
bestehen nur noch insofern, als man im Zweifel sein kann, ob die Muskel-
fasern, welche das Bündel bilden, mit gewöhnlichen Muskelfasern identisch
sind, oder ob es sich um eine Modifikation derselben handelt, und zwar
spricht man dabei meistens von embryonal gebliebenen Muskelfasern. Diese
histologische Frage ist nicht ohne Bedeutung für die Physiologie (denn da
. die Leitung an dieser Stelle sehr viel langsamer von statten geht als im
übrigen Herzen, so müßten die Myogeniker eigentlich nachweisen, daß die
Muskelsubstanz an dieser Stelle anders gebaut ist als im übrigen Herzen,
zumal scheint das dann geboten, wenn man in diesen Fasern, die man auch
als „Blockfasern“ bezeichnet, das sekundäre rhythmische Zentrum des Her-
zens sieht). .
Trotzdem wollen wir diese rein histologische Frage nur erwähnen, ohne
das Für und Wider der einzelnen Meinungen zu erläutern. [Eine Übersicht
der älteren Literatur findet sich bei Heinz)]. Zudem ist die ganze Frage
heute durch die ausgezeichneten und ausgedehnten Arbeiten Tawaras®),
die er in einer Monographie niedergelegt, in ein durchaus anderes Stadium
getreten, und wohl im wesentlichen im Sinne einer gewissen Sonderstellung
dieser Fasern entschieden. Er hat — in bezug auf das Hissche Bündel selbst
— die alten Angaben bestätigt und gefunden, daß es dicht oberhalb des Septum
fibrosum atrioventriculare einen höchst kompliziert gebauten Knoten bildet,
dann das Septum durchbricht und in zwei getrennten Schenkeln an der Kammer-
!) Retzer, Muskulöse Verbindung zwischen Vorhof und Ventrikel des Säugetier-
herzens, Arch. f. (Anat..u.) Phys., $.1, 1904. — ?) Bräuning, Muskulöse Verbin-
dung zwischen Vorkammer und Kammer verschiedener Wirbeltierherzen, Arch. f.
(Anat. u.) Phys., Suppl., S.1, 1904. — °) Humblet, Le faisceau inter-auriculo-
ventriculaire ete., Arch. intern. de physiol. 1, 278, 1904. — *) A. Lohmann,
Zur Anatomie der Brückenfasern und der Ventrikel des Herzens, Arch. f. (Anat.
u.) Physiol., 8. 431—452, Suppl. 8. 265—270, 1904. — °) Heinz, Handbuch der
experimentellen Pathol. u. Pharmakol., S. 652 ff. Jena, Fischer, 1905. — ®) Ta-
wara, Das Reizleitungssystem des Säugetierherzens. Jena 1906.
812 Purkinjesche Fasern — Herzwirbel.
scheidewand herabläuft. Nun aber verliert es sich nicht, wie man geglaubt
hat, einfach in der Muskulatur der Kammerwände, sondern durchsetzt die
Ventrikelhohlräume in Form von Trabekeln oder falschen Sehnenfäden und
tritt erst dann an den Papillarmuskeln und an den peripheren Wandschichten
mit der Kammermuskulatur in Verbindung.
Diese Ausbreitungen im Ventrikel waren seit langem unter dem Namen
der Purkinjeschen Fasern besonders am Schafherzen bekannt, waren aber
wie so viele Befunde dieses ausgezeichneten Beobachters kaum beachtet worden.
Tawaras großes Verdienst ist es, nicht nur die Aufmerksamkeit wieder auf
sie gelenkt und gezeigt zu haben, daß es sich um eine in der Tierreihe all-
gemein verbreitete Erscheinung handelt, sondern auch den Zusammenhang
zwischen ihnen und dem Hisschen Bündel nachgewiesen zu haben. Da für
das Hissche Bündel der Zusammenhang mit der Reizleitung seit den entscheiden-
den Hering !)-Tawaraschen ?) Untersuchungen wohl unzweifelhaft geworden
ist, so liegt es nahe, auch die Purkinjeschen Fasern mit der Reizleitung in
Zusammenhang zu bringen, und somit diesen unbekannten Gebilden eine
Funktion zu geben, deren Bedeutsamkeit wir weiter unten genauer besprechen
werden. [Fahr?°) hat allerdings die Tawaraschen Befunde am Menschen
nicht bestätigt, insonderheit nicht einen Übergang des Hisschen Bündels in
ein strukturell differentes subendokardiales Netzwerk nachweisen können. Trotz-
dem werden die Purkinjeschen Fasern ihre Bedeutung nicht mehr verlieren,
. nachdem man einmalihre Funktion mit ernsten Gründen in Betracht gezogen hat. ]
8 77.
Muskuläre Verbindungen der einzelnen Muskelsysteme
des Ventrikels.
Nach Ludwig — und seine Anschauungsweise herrscht, wie auch
Albrecht *) hervorhebt, heute noch — sollen die Fasern der äußeren Schicht
an der Herzspitze umbiegen und in die Fasern der inneren Schicht über-
gehen, wie es etwa die schematische Figur auf Seite 806 zeigt. Wir hätten
demnach im eigentlichen Herzen nur zwei Fasersysteme — aber zwei völlig ge-
trennte Systeme —, das äußere plus dem inneren und das mittlere. Dies scheint
wenigstens insoweit zuzutreffen, als Verbindungen zwischen den äußeren Spiral-
fasern und dem zirkulären Treibwerk des Herzens bisher niemals nachge-
wiesen sind. Die Möglichkeit des Vorhandenseins einzelner Verbindungen ist
allerdings nicht zu leugnen.
Dagegen sind Verbindungen zwischen dem Papillarsystem und dem Treib-
werk vorhanden. Vor allem hat Albrecht) diese schon von Hesse er-
wähnten Verbindungen zum Gegenstand besonderer Studien gemacht: Es
sollen an den Stellen, an welchen die Papillarmuskeln der inneren Ventrikel-
!) Hering, Durchschneidung des Übergangsbündels beim Säugetierherzen III,
Pflügers Arch. 111, 298. — ?) Tawara, Anatomisch histologische Nachprüfung der
Schnittführung an den von Prof. H. E. Hering übersandten Hundeherzen, ebenda
S.300. — °) Fahr, Muskulöse Verbindung zwischen Vorhof und Ventrikel usw.
Virchows Arch. 148, H. 3 (1907). — *) Albrecht, 1. ce. 8.26. — °) Albrecht, l.c.
S. 26. Inwieweit das von Albrecht beschriebene trabekuläre Netzwerk als selb-
ständiges Fasersystem, wie er will, aufgefaßt werden muß, bleibe dahingestellt, jeden-
falls steht es ganz zweifellos mit den angrenzenden Systemen in mannigfacher
Verbindung.
ee
Die intramuralen Fasern (Albrecht). 813
wand ansitzen, einzelne Faserzüge, welche von den Sehnenfäden her gegen
die Papillarmuskelbasis ausstrahlen, mehr oder weniger rechtwinklig um-
biegen und in Faserbündel übergehen, welche zu dem zirkulären System (dem
Treibwerk) des Herzens gehören. Albrecht nennt dies den intramuralen
Anteil des Papillarmuskels und beschreibt diese Bildungen, in bezug
auf deren mannigfache Details wir auf das Original verweisen müssen,
auf das genaueste. Allerdings hat er diese Verbindung nur am linken Herzen
gesehen und leugnet es ausdrücklich, daß die rechten Papillarmuskeln in
direkter unmittelbarer Beziehung zur eigentlichen Kammerwand stehen. Da
jedoch die mittlere Schicht am rechten Herzen überhaupt sehr schwach aus-
gebildet ist, so ist es nicht ausgeschlossen, daß die vielleicht recht minimalen
Verbindungen, auf deren Vorhandensein Erwägungen über den zeitlichen Ab-
lauf der Erregungswelle hinweisen (s. unten), auch der aufmerksamen Beob-
achtung Albrechts entgangen sind; sollten sie wirklich fehlen, so wäre die
allseitigee Verbindung
! £ Fig. 75.
durch die Ludwig-
schen !) _Achterturen :
dennoch gewährleistet. Atrium
Trotzdem hat man
das Recht von einzelnen Bi;
Systemen zu sprechen, äußere
denn die Verbindungs- 2 Papillar- Treib-
brücken sind in allen Spiral- intramurale
Fällen nur schmal. Zwi- Fasern Werk
schen den Vorhöfen und Fasern Sy stem
den Ventrikeln existiert
nur das Hissche Bündel.
Weiter hat Albrecht ?)
darauf aufmerksam ge-
macht, daß am Herz-
wirbel zwar eine Verbindung der äußeren (subperikardialen) mit den innersten
(subendokardialen) Fasern besteht, wie es das Ludwigsche Schema will, daß
aber die Anzahl dieser Verbindungsfasern eine außerordentlich geringe ist.
„Der Ort des Wirbels repräsentiert die dünnste Stelle, welche die Wand
des Ventrikels überhaupt besitzt“, sagt er bezeichnenderweise.
Auch diejenigen „intramuralen Fasern“, welche vom Papillarsystem in
das Treibwerk übergehen, scheinen nach den Schilderungen Albrechts nicht
zahlreich zu sein.
Wir möchten nun nicht behaupten, daß die Verbindung des Vorhofes mit
dem Ventrikel in jeder Weise in Parallele zu stellen sei mit den Verbindungen
der drei Ventrikelsysteme untereinander, von denen wir oben gesprochen.
Ganz abgesehen davon, daß möglicherweise das Hissche Bündel auch struk-
turelle Verschiedenheiten gegenüber den anderen Herzmuskeln aufweist, was
für die anderen genannten Verbindungen wohl sicher nicht der Fall ist, ist es
nötig, darauf hinzuweisen, daß diese Verbindungen auch in quantitativer Be-
ziehung sehr viel ausgedehnter sind als die Verbindung zwischen Vorhof und
Herzwirbel
Schema der Muskelsysteme des Herzens und ihrer Verbindungen.
I) Ludwig, I. c. — ?) Albrecht, 1. c. 8.39.
814 Begriff und Dauer der Systole.
Ventrikel, wenn auch neue Untersuchungen von Wenkebach (die auch wir bei
gelegentlichen Untersuchungen bestätigen zu können glauben) darauf hinweisen,
daß es möglicherweise außer dem Hisschen Bündel auch noch andere muskuläre
Verbindungen zwischen Atrium und Ventrikel gibt, eventuell auch Verbindungen
durch Vermittelung der allerdings sehr geringfügigen Klappenmuskulatur.
Zusammenfassend kann man auf Grund des Vorausgegangenen sagen,
daß es im Gesamtherzen offenbar mehrere voneinander bis zueinem
gewissen Grade unabhängige, aber doch untereinander muskulär
verbundene Fasersysteme gibt, welche die geschilderte gegenseitige
Lage besitzen dürften.
Die gegenseitige Lage und Verbindung dieser vier Fasersysteme (das
Vorhofsystem, das Papillarsystem, das Treibwerk und die äußeren
Spiralfasern — untereinander verbunden durch das Hissche Bündel, die
intramuralen Fasern und den Herzwirbel) geht deutlich aus dem
Schema der Fig. 75 hervor.
Achtes Kapitel.
Allgemeine Mechanik des Herzmuskels.
Der Ablauf der Erregungswelle.
$ 78.
Begriff und Dauer der Systole..
Die Frage entsteht, in welcher Weise sich ein derartiges Gebilde über-
haupt kontrahieren kann.
Es wäre möglich, daß sich alle Fasern — durch Nerveneinfluß gleich-
zeitig erregt — auch gleichzeitig zusammenziehen. Daß Vorhof und Ven-
trikel sich nicht gleichzeitig kontrahieren, ist sicher; wenn wir jedoch von
dem Ventrikel allein reden, so scheint der Augenschein dafür zu sprechen,’
daß das ganze Herz sich auf einmal zusammenzieht. So hat es Harvey
(1628) in seiner klassischen Arbeit beschrieben, und die Druckkurven, welche
man im Innern des Ventrikels aufgenommen, schienen dasselbe zu beweisen.
Man sieht einen ziemlich schnellen Anstieg, dann bleibt die Kurve eine ge-
raume Zeit auf gleicher Höhe, um dann wieder schnell abzusinken. Es ist
also eine Kurve, die durchaus an eine tetanische Kontraktur des Skelett-
muskels erinnert. Wenn es sich wirklich um eine solche handelte, so käme
neben der Dauer dieses Tetanus die eventuelle Leitungszeit im Herzen selbst
nicht in Betracht, und wir würden daher einen gleichzeitigen Tetanus des
gesamten Herzens anzunehmen haben.
Demgegenüber hat man aber schon früher experimentell zu zeigen
versucht, daß die Kontraktionswelle sich mit meßbarer Geschwindigkeit
fortpflanzt. Waller und Reid!) legten lange Schreibhebel über ver-
schiedene Partien des Herzens und schlossen aus dem Asynchronismus der
Erhebungen, daß die Fortpflanzungsgeschwindigkeit im Froschherzen etwa
10cm, im Schafherzen 800 cm beträgt. Bayliss und Starling?) fanden für
!) Waller u. Reid, Action of the exeised mammalian heart Philos. Transact.
198, 230, 1888. — ?) Bayliss u. Starling, Electromotive Phaenomena of the mam-
malian heart, Proc. Roy. Soc. 211 (1892) u. Internat. Monatsschr. £. Anat. u. Phys. 9, 7.
u 7 nr Ach
Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung im Herzen. 815
das Hundeherz eine Geschwindigkeit von 300cm. Während diese Versuche
am spontan schlagenden Herzen ausgeführt sind, fand Engelmann!)
bei seinem ‚bekannten Zickzackversuch eine Fortpflanzungsgeschwindigkeit
von nur 3cm pro Sekunde für künstliche Reize. Endlich fanden Roy und
Adami?) eine Ungleichzeitigkeit der Kontraktion der Papillarmuskel und
der Herzwandung. Eine Beobachtung, die von Fenwiek und Owerend’)
bestätigt wurde. Man hat dann versucht, die Geschwindigkeit der Fort-
pflanzungswelle des Aktionsstromes im Herzen zu messen, wobei man
von der Voraussetzung ausging, daß hiermit die Fortpflanzungsgeschwindig-
keit der Erregung identisch sei. Für das Froschherz sind von verschiedenen
Autoren folgende Angaben gemacht, die der Größenordnung nach ja ziemlich
gut unter sich und mit den oben angegebenen Resultaten mechanischer Regi-
strierung übereinstimmen:
Marchäand (1877*). "2022.20... mehr als 10cm pro Sekunde
Engelmann (18785) . DR ER ae "
Burdon Sanderson u. Page (1880 s). 2 A
Für das Menschenherz hat Waller eine Geschwindigkeit von 500 cm
pro Sekunde herausgerechnet.
Vor allem hat sich Frederieq ?) und seine Schule in der letzten Zeit
bemüht nachzuweisen, daß die Kontraktionswelle immer noch ihren peristal-
tischen Charakter bewahrt habe. Die wichtigsten dieser Arbeiten sind unten
angegeben, weitere Literatur findet man in der ebenfalls unten angegebenen
Arbeit von Stassen.
‘Am Säugetierherzen hat Langendorff®) die Zeitdifferenz der sekundären
Zuckungen zweier dem Herzen angelegter Nervmuskelpräparate (mitSchlüter?)
gemessen und dabei eine Fortpflanzungsgeschwindigkeit von 1 bis 2m ge-
funden.
Aus all’ diesen Versuchen — gegen deren Bedeutung im einzelnen sich
manches einwenden ließe — scheint doch hervorzugehen, daß die Erregung
sich im Herzen mit meßbarer und zwar nicht allzu großer Geschwindigkeit
fortpflanzt. Wenn die Wallersche 1) Angabe richtig ist, so brauchte die
!) Engelmann, Über die Leitung der Erregung im Herzmuskel, Pflüg. Arch. 11,
480, 1875. — ?) Roy u. Adami, The practitioner 1890. — ®) Fenwiek u.Owerend,
Brit. med. Journ. 1891. — ‘) Marchand, Beiträge zur Kenntnis der Reizwelle und
Kontraktionswelle des Herzmuskels, Pflügers Arch. 15, 511, 1877; Derselbe, Ver-
lauf der Reizwelle des Ventrikels bei Erregung vom Vorhof aus, ebenda 17, 137,
1878. — °) Engelmann, Über das Verhalten des tätigen Herzens, Pflügers Arch.
17, 68, 1878. — °) Burdon Sanderson u. Page, On the Time-relations of the
Exitatory Process in the ventriele of the Heart of the Frog, Journ. of Physiol. 2
284, 1880. — 7) Fredericq, La pulsation du c®eur du chien, Arch. internat. de
Phys.. 4, 56, 1906; Schmidt-Nielson, Du pretendu, synchronisme de la systole
des deux oreillettes, ebenda 4, 417, 1907; Stassen,. De l’ordre de succession des
differentes phases de la pulsation cardiaque chez le chien, ebenda 5, 60, 1907;
Fauconnier, Sur l’onde de contraction de la systole ventriculaire, ebenda 5, 122,
1907. — ®) O0. Langendorff (mit Schlüter), Eine neue Methode zur Messung der
Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung im Herzmuskel, Sitzungsber. der Natur-
forscher-Gesellsch., Rostock 1901. — °) F. Schlüter, Die Reizleitung im Säuge-
tierherzen, (Physiol. Inst. Rostock), Arch. f. d. ges. Physiol. 89, 87, 1902. —
1%) Waller, On the electromotive changes connected with the beat of the mammalian
heart and of the human heart iu particular, Philos. Transact. Roy. Soc. 180 B,
169, 1889.
816 Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung im Herzen.
Erregung etwa 0,05 Sek., um ein menschliches Herz zu durchlaufen. Ich
selber jedoch glaube, daß die Zeit dafür eine sehr viel längere ist und stütze
mich dabei auf folgende Überlegung:
Die negative Schwankung des Vorhofs kann man [vgl. Kraus und
Nicolai!)], bei Vagusreizung isoliert erhalten, es zeigt sich dabei, daß die
der Vorhofsystole entsprechende elektrische Schwankung nur 0,08 Sek. dauert.
Es ist nun gar kein Grund einzusehen — wenn man von einem eventuellen
Tetanus des Herzens, an den heute kein Mensch mehr glaubt, absieht —,.
warum die elektrische Schwankung einer einzelnen Ventrikelmuskelfaser
länger dauern sollte; im Gegenteil, da die Vorhofskontraktion selbst wahr-
scheinlich aus einer aufeinanderfolgenden Reihe von Kontraktionen ihrer
einzelnen Fasern besteht, so dürfte der Wert von 0,08 Sek. nur als das
Maximum zu betrachten sein, welches höchstens
für den Aktionsstrom einer einzelnen Muskelfaser
in Betracht kommen dürfte. Aus anderen Über-
legungen heraus muß man die Dauer des Aktions-
stromes, der im allgemeinen bereits abgeklungen
ist, wenn die eigentliche mechanische Tätigkeit
beginnt, noch kürzer annehmen.
E - Nun dauert aber die gesamte negative Schwan-
kung des Ventrikels 0,3 bis 0,4 Sek., unter Um-
ständen, besonders in pathologischen Fällen, auch
noch länger. Es ist daher anzunehmen, daß im
Ventrikel nach der Kontraktion der zuerst erregten
De Fasern mindestens etwa 0,2 bis 0,3 Sek. verfließen,
ehe sich die letzten Fasern des Ventrikels zu-
= .- sammenzuziehen beginnen.
Le Fi Auch die mechanische Verzeichnung der Vorhof-
und Ventrikelsystole zeigt, daß letztere etwa drei-
a mal solange dauert. Wenn wir auch annehmen
2 | | wollten, daß sich die Vorhofmuskulatur in ihrer
0 01 02 03sk Gesamtheit gleichzeitig kontrahiert, so müssen wir
Schema des Zustandekommens doch für den Ventrikel zum mindesten zugeben,
der Systole in dem Muskelnetz
RE daß sich der Vorgang so abspielt, wie es die
Fig. 76 zeigt.
Eine Muskelzelle kontrahiert sich, und wenn sie erschlafft ist, kontrahiert
sich die nächste. Natürlich werden in Wirklichkeit immer mehrere Zellen in
Wirksamkeit sein, von denen die ersten sich gerade zu kontrahieren be-
ginnen, die mittleren im Maximum der Kontraktion sich befinden und die
letzten wieder erschlaffen.
In der Fig. 76 ist dies dadurch schematisch zum Ausdruck gebracht,
daß immer zwei Muskelfaserzellen auf 2/, ihrer Länge, eine auf !/, reduziert
erscheint. So läuft eine Welle über die ganze Kette aufeinander folgender
Muskelfasern, und wie man sieht, ergibt die Summe dieser Teilkontraktionen
eine Kurve, die durchaus an eine Tetanuskurve erinnert. Daß dieser Vor-
Fig. 76.
|
N
JE
I 90
l
l
') Kraus u. Nicolai, Über das Elektrocardiogramm unter normalen und
pathologischen Verhältnissen, Berl. klin. Wochenschr. 1907, Nr.25 u. 26.
\
nt
Die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Erregung im Herzen. 817
'gang sich in der geschilderten Art abspielt, wird durch die genannten morpho-
logischen Betrachtungen sehr wahrscheinlich; bewiesen wird es aber erst
durch die gleichzeitigen elektrischen Erscheinungen, die durchaus keine
Tetanuskurve sind und ebensowenig einer einzelnen Muskelzuckung ent-
sprechen (s. weiter unten in $ 82).
Hiermit dürfte auch die Frage erledigt sein, ob die Herzkontraktion ein
Tetanus sei oder nicht. Schon Kölliker und H. Müller (1856) und
Marey (1866!) haben dies verneint. Contejean?) hat es jüngst wieder
behauptet. Doch scheint in dieser Form die Fragestellung überhaupt un-
berechtigt; die Herzsystole ist gleich dem Tetanus eine Summation
von Einzelzuckungen, aber während beim Tetanus die Summation auf
eine uns unbekannte Weise in der kontraktilen Substanz vor sich geht,
handelt es sich bei der Systole um eine sehr wohl begreifliche und
zwar rein mechanisch verständliche Summation von Kontraktionen
verschiedener hintereinander geschalteter Elemente. Hiervon ganz
unabhängig ist die Frage, ob etwa die einzelnen Muskelfasern außerdem noch
in Tetanus versetzt werden können, und wieder etwas anderes ist es, ob unter
abnormen Bedingungen Zusammenziehungen sich etwa superponieren können.
Die Literatur über diese Frage, siehe bei Hofmann in diesem Handbuch,
S. 238 und bei Walther). =
Die Erregung braucht also, um den ihr vorgeschriebenen Weg zu durch-
laufen, eine Zeit von 0,2 bis 0,3 Sek. im Minimum, aber wir köfinen daraus
nicht die Geschwindigkeit berechnen, mit welcher sich die Erregung fort-
pflanzt, denn wir kennen die Länge des durchlaufenen. Weges nicht. Es
erscheint aber ganz ausgeschlossen, daß dieser Weg etwa nur der einfachen
Länge des Herzens entspricht. Um aber die wirkliche Länge zu kennen,
müßten wir wissen, auf welchen Bahnen die Erregung im Herzen verläuft
(vgl. unten $ 82).
Die Kurve, welche die Gesamttätigkeit des Herzens repräsentiert, die
sich am idealsten sicherlich in einer Druckkurve des Innern äußert, ist,
wie wir seit den klassischen Untersuchungen von Chauveau und Marey*)
wissen, eine trapezförmige mit brüskem Anstieg, systolischem Plateau und
brüskem Abfall, ist also einer Tetanuskurve ähnlich, aber es ist kein
Tetanus. Ebensowenig aber kann man diese Gesamttätigkeit etwa als eine
») Köllikeru.H. Müller, Nachweis der negativen Schwankung am natürlich
sich kontrahierenden Muskel, Verhandl. d. phys.-med. Ges. in Würzburg 6, 530, 1859;
Marey, Compt. rend. de l’Acad. d. sciences 63, 41, 1866. — ?) Ch. Contejean, La con-
traction cardiaque est-elle un tetanus? Compt. rend. de la soc. de biol. 1896, p. 1051
— 1053. — 3) A. Walther, Zur Lehre vom Tetanus des Herzens, Pflügers Arch. 78,
597 bis 636, 1900. — *) Diese Untersuchungen, welche bis in das Jahr 1861 zurück-
- gehen, sind erst 1875 in den Travaux du Labor. de Marey veröffentlicht. Gerade
dieser Punkt ist von fast allen Nachuntersuchern (Hürthle, Bayliss und Starling,
Roy und Adami, Rolleston, Porter) bestätigt. Im wesentlichen leugnet nur
v. Frey diese Form des Druckablaufes; diese abweichende Ansicht hat besonders
unter Klinikern Anhänger gefunden. Bei Vögeln hat Rubbrecht (Recherches
cardiographiques chez les oiseaux, Arch. de biol.15, 647, 1898) ebenfalls ein Plateau
gefunden. Nicht nur in Druckkurven findet man das Plateau, dasselbe ist auch
mittels anderer Methoden bestätigt, vgl. z.B. Contejean, Sur la forme de la con-
traetion du myocarde, Compt. rend. de la soc. biol. 1894, p. 831.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 52
818 Unmöglichkeit des isotonischen und isometrischen Regimes.
Kontraktion bezeichnen, denn dieser Name soll mit Recht reserviert bleiben
für die von einem einzelnen Muskel (bzw. von einer Gruppe zusammen-
gehöriger Muskelfasern) gleichzeitig ausgeführte Zusammenziehung. Hier
aber handelt es sich um die Summe aufeinander folgender und ineinander
oreifender Kontraktionen. Diese ganz besondere Tätigkeitsform ist von alters
her als Systole bezeichnet worden, und wenn auch der Name sprachlich
ursprünglich nichts anderes bedeuten mag als Kontraktion, so ist doch eben
unter Systole nur diese ganz besondere einzig dem Herzen zu-
kommende Art der Kontraktionsform zu verstehen und zwar nur die
Kontraktionsform des normalen Herzens — in $ 81 wird gezeigt, daß noch
eine ganze andere Kontraktionsform, die sogenannte Extrasystole — vor-
kommt, die wir besser als abnormen Ventrikelschlag bezeichnen.
Wenn aber die Zusammenziehung des Herzens etwas prinzipiell anderes
ist als die Muskelzuckung, so verlieren auch die Parallelen an Bedeutung,
welche O.Frank!) zwischen diesen beiden Vorgängen zu ziehen suchte, der in
mechanischer Weise die Fickschen Anschauungen von isometrischer und iso-
tonischer Zuckung auf das Herz zu übertragen suchte.
Schon die experimentelle Grundlage, die er seinen theoretischen und mathe-
matischen Ausführungen zugrunde legt, ist nicht einwandfrei, denn er glaubt, das,
was man beim Skelettmuskel als Länge und Gewicht bezeichnet, mit Hilfe des
Volumens und des Druckes im Herzen messen zu können. Dies ist aber selbst an-
nähernd nur dann richtig, wenn alle Fasern sich gleichzeitig zusammenziehen. So
ann eine peristaltische Welle über ein Hohlorgan hinweglaufen, ohne daß sich in
der Zeit des Fortschreitens Druck und Volum überhaupt ändern, während
doch Länge und Spannung der einzelnen Muskelelemente sich dauernd ändern.
Die von Frank gewählte Versuchsanordnung ist also — abgesehen von allen
theoretischen Bedenken gegen die Deutung — ungünstig zur Erzielung brauchbarer
Resultate. Die Suspensionsmethode wäre viel angebrachter gewesen. Gegenüber der
Nichtberücksichtigung dieses fundamentalen Fehlers kommt es nicht in Betracht, daß
Frank andere unwesentliche Fehlerquellen mit mathematischer Exaktheit behandelt.
— Daß übrigens die Form der Kontraktionskurve der Ventrikel nicht von Eigen-
schaften der Herzkammermuskulatur abhängt, sondern von den zu über-
windenden Widerständen bedingt ist, wußte schon Marey. Die eingehendste und
beste Untersuchung hierüber findet sich bei Hürthle?). Neuerdings hat Gilardoni°)
auf diesen Umstand hingewiesen. 1
Der Weg der Erregungswelle.
879;
Die ursprüngliche Herzperistaltik.
Daß unter normalen Bedingungen die automatische Erregung bei den
Kaltblütern am Sinus, bei den Warmblütern an einer bestimmten (möglicher-
weise dem Sinus entsprechenden) Stelle des Vorhofs entsteht, dann zuerst
die Vorhöfe und darauf den Ventrikel ergreift — daran kann nach den viel-
fachen Beobachtungen und Experimenten heute kein Zweifel mehr sein: —
Fraglich ist nur der Erregungsablauf im Ventrikel.
3:0; Frank, Isometrie und Isotonie des Herzmuskels, Zeitschr. f. Biol. 41, 14.
— ?) Hürthle, Über den Zusammenhang zwischen Herztätigkeit und Pulsform,
Pflügers Arch. 49, 51, 1886. — °) H. Gilardoni, Conditions mecaniques de la
systole ventriculaire; influence de ses conditions sur la forme de la secousse mus-
eulaire, Compt. rend. de la soc. de biol. 1901, p. 580.
Die Systole als peristaltische Welle. 819
Daß aber der Ablauf der Erregung sich im Grunde auf eine peristaltische
Welle zurückführen lassen muß, daran lassen die Befunde der Entwickelungs-
geschichte des Herzens gar keinen Zweifel. Wenn also auch feststeht, daß
die Ventrikel viel zu kompliziert gebaut sind, als daß man den
Kontraktionsmodus als eine einfache über das Herz hinlaufende
peristaltische Welle auffassen könnte, so dürfte es immerhin nicht
unangebracht sein, von einer derartigen Welle als Urtypus auszugehen. Sehr
richtig bemerkt Aschoff in der Einleitung zu Tawaras!) Buch, daß die
Kammern, welche aus der Biegungsstelle eines Schlauches entstanden seien, in
zwei ganz verschiedene Gebiete zerfallen: Die hintere den venösen Ostien zu-
gekehrte und die vordere den arteriellen Gefäßen zugewendete Partie. Der
ganze Aufbau der Kammer spricht also nicht für eine einfache Wellen-
bewegung von der Kammerbasis zur Spitze. Diesen Standpunkt vertritt auch
Albrecht, aus dessen an Hesse, Krehl, Braun anknüpfende Darstellung der
anatomischen Struktur des Herzens von neuem mit zwingender Notwendigkeit
hervorgeht, daß wir in jeder Kammer das Gebiet der Papillarmuskeln, welche
durch ihre Bewegungen den Schluß der Klappen einleiten, und die sogenannte
Austreibungsbahn des Blutes unterscheiden müssen. Dieselbe stellt an dem
linken Ventrikel eine Hohlrinne, am rechten eine geschlossene Röhre, den
Conus arteriosus, dar. Auch pathologisch-anatomische Beobachtungen zeigen,
. daß diese beiden Gebiete eines jeden Ventrikels für sich allein Veränderungen
erleiden können.
\ $ 80.
Versuche die Richtung der Erregungswelle zu bestimmen.
Nur weil man die angedeutete Entwickelungsgeschichte des Herzens
außer acht ließ, konnte man die Frage nach dem Erregungsablauf dadurch
zu lösen versuchen, daß man untersuchte, ob Basis oder Spitze sich zuerst
kontrahierte.
Zudem trat man an diese falsch gestellte Frage teilweise mit einer un-
genügenden Methodik. Man versuchte gar nicht zu bestimmen, welcher Teil
sich zuerst kontrahierte, sondern welcher Teil sich zuerst bewegte. Die diesen
Versuchen zugrunde liegende Vorstellung ist nun nicht ganz korrekt, denn der
komplizierte Bau des Herzmuskels und der Mangel wirklicher puncta fixa
bringt es mit sich, daß unter Umständen gar nicht diejenigen Teile zuerst in
Bewegung geraten, welche sich zuerst kontrahieren. Beim herausgeschnittenen,
in eine Kanüle zwecks Speisung eingebundenen Herzen, welches nunmehr ein
wirkliches punctum fixum besitzt, wird z. B. — welcher Muskelteil sich auch
kontrahiert — immer die Spitze eine Bewegung machen müssen. Es kann
daher auch nicht wundernehmen, daß alle drei Meinungen vertreten sind:
Beginn an der Basis, Beginn an der Spitze und Gleichzeitigkeit beider Be-
wegungen.
Auf den ersten Blick erscheint die Annahme am nächsten liegend, daß
die Erregung, welche doch von den Vorhöfen kommt, von dort auf die
Kammer übergeht, und daß daher die Basis sich zuerst kontrahiert. Aber
!) Tawara, Das Reizleitungssystenn des Säugetierherzens, 8. 6. Fischer,
Jena 1906.
52*
820 Versuche die Richtung der Erregungswelle zu bestimmen.
Albrecht!) hat bereits darauf hingewiesen, wie unzweckmäßig dies wäre,
denn dann würde die ganze Masse des Blutes durch die beginnende
Welle in die Spitze getrieben und von dort erst rückwärts in die Aorta bzw.
Pulmonalis. Der Umweg an sich wäre dabei noch das wenigste. Wenn
man sich aber vorstellt, daß die nach der Spitze zu beschleunigte Herzwelle
innerhalb eines außerordentlich kurzen Zeitraumes — denn daß Spitzen- und
Basiskontraktion annähernd gleichzeitig verlaufen, ist klar — ihre Richtung
umkehren muß, und wenn wir die dabei auftretenden überflüssigen Wirbel
und hindernden Strömungen bedenken, so erscheint uns ein solcher Modus
so unpraktisch, daß wir kaum glauben möchten, ihn in der Natur verwirklicht
zu finden. Doch solche Überlegungen — so wertvoll sie auch für ein
späteres Verständnis sein mögen — sind nicht beweisend, und auch die an
sich sehr gut durchdachten Schlußfolgerungen Albrechts, der speziell aus
dem anatomischen Bau der Papillarmuskeln die Notwendigkeit herleiten
möchte, daß die Kontraktionen an der Spitze beginnen, sind nicht durchaus
bindend, entscheidend ist hier, wie immer, nur das Experiment. Es liegen
jedoch gerade in dieser Beziehung nur sehr wenige Beobachtungen vor.
Waller und Reid?) geben auf Grund ihrer Versuche, bei denen zwei
Hebel auf Basis und Spitze auflagen, an, daß beim herausgeschnittenen
Kaltblüterherzen die Kontraktion immer an der Basis, beim herausgeschnittenen
Säugetierherzen aber fast immer an der Spitze beginnt (nur in 8 Proz. an
der Basis). Aber Versuche am herausgeschnittenen Herzen beweisen kaum
etwas über den normalen Vorgang. Hat doch Lohmann °) gezeigt, daß selbst
bei leichten Schädigungen (Vagusreizung) die Kontraktionswelle in umgekehrter
Richtung verläuft. Ähnliches gilt auch für die Versuche von Roy und
Adami*), die ebenso wie Fenwick und Overend’) angeben, daß sich die
Kammer eher als die Papillarmuskeln kontrahieren. Es erscheint kaum
möglich, diese Vorgänge ohne gröbere Verletzungen graphisch zu registrieren,
außerdem kommt die sehr schwierige Versuchstechnik hinzu.
Haycraft und Paterson‘), die ähnliche Versuche angestellt, geben
dann auch an, daß das geschilderte Verhalten nur bei absterbenden Herzen
vorkommt, während bei frischen Herzen sich Ventrikel und Papillarmuskeln
gleichzeitig kontrahieren, natürlich ist das gleichzeitig cum grano salis zu
verstehen.
Eine in meßbarer Zeit fortschreitende Erregungswelle nimmt auch
Fredericq und seine Schule an. Jüngst hat einer seiner Schüler, Faucon-
nier’?), nachgewiesen, daß sicherlich die Kontraktion auch nur eines Ventrikels
(des linken) nicht synchron erfolgt, sondern an verschiedenen Stellen zu ver-
schiedener Zeit. Er nimmt an, daß normalerweise die Erregung von der
Basis zur Spitze läuft, daß aber bei künstlich erzeugten Extrasystolen die
!) Albrecht, Herzmuskel, Berlin 1903, 8.36. — ?) Waller u. Reid, Action
of the excised mammalian heart. Philosoph. transact. 178 B, 230,. 1888. —
®) Lohmann, Zur Anatomie der Brückenfasern und der Ventrikel des Herzens,
Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1904, 8.431 und ebenda Suppl. 8.265. — *) Roy und
Adami, The practitioner 1890. — °) Fenwick und Overend, British medical
Journal 1891. — °) J. B. Haycraft u. D. R. Paterson, The time of contraction.
of the papillary muscles, Journ. of Physiol. 19, 262—265, 1896. — 7°) H. Fau-
connier, Sur l’onde de contraction de la systole ventriculaire, Arch. internat. de
Physiol. 5, 122, 1907.
Versuche die Richtung der Erregungswelle zu ‚bestimmen. 821
Erregungswelle an jedem Punkt des Herzens beginnen und sich von dort
radiär ausbreiten kann (vgl. die Literatur auf S. 815).
Endlich hat auch Rehfisch!) in einer aus dem Berliner Physiologi-
schen Institut hervorgegangenen Arbeit ähnliche Kurven publiziert, aus denen
aber nur hervorgeht, daß bei einer durch Vagusreizung bedingten Verlang-
samung der Gipfel der von der Spitze geschriebenen Kurve später auftritt,
als der Gipfel der von der Basis geschriebenen Kurve. Diese Kurven sind
zweifellos ein wertvoller Beitrag zu der Frage, aber abgesehen davon, daß
ein Vergleich der Gipfel nicht das Verlangte ist, sondern ein Vergleich des
Beginns der Zuckungen, werden wir dem Versuch auch darum keine be-
weisende Kraft zuschreiben dürfen, weil wir wissen (vgl. oben Lohmann),
daß die Vagusreizung unter Umständen den Ablauf der Erregung ändert
und zwar umkehren kann.
Bei den sich so widersprechenden Ergebnissen der direkten mechanischen
Registrierungsversuche hat man auf anderem Wege Aufklärung zu gewinnen
versucht. Chauveau z. B. nimmt auf Grund jener leichten intersystolischen
Erhebung, die dem Hauptanstieg der Kammerdruckkurve vorausgeht, ganz
bestimmt eine zeitlich voraus-
gehende Kontraktion der Papillar-
muskeln an.
Endlich hatman das Elektro-
kardiogramm (das ist die Kurve „
in Fig. 77, welche den Ablauf
der elektrischen Begleiterschei-
nung der Herzsystole darstellt)
herangezogen, um aus seiner
Form Rückschlüsse über den Ab- A
lauf derErregungswelleimHerzen B
zu ziehen. Schema des Elektrokardiogramms.
Die elektrische Begleiter- A nach Einthoven. B nach eigenen Beobachtungen.
scheinung (der Aktionsstrom oder
die negative Schwankung) besteht darin, daß die erregten Teile sich gegenüber
unerregten Teilen negativ 2) verhalten. Wenn man diese Erscheinung an einem
Nerven oder parallelfaserigen Muskel beobachtet, in welchem die Erregung von
einem Ende successive und kontinuierlich bis zum anderen Ende verläuft, so
wird — abgesehen von einer ev. Querschnittsstelle — erst das eine Ende des
Organs (bzw. die dort gelegene Elektrode) negativ und dann das andere
Ende. Diesen Vorgang, der sich im Galvanometer so äußert, daß es erst
nach der einen und dann nach der anderen Seite ausschlägt, nennt man
einen diphasischen Strom, der also auf einem durchaus einsinnig
gerichteten Vorgang beruht, und dessen beobachtete Zweisinnigkeit eben
nur auf die grob anatomische Struktur des untersuchten Organs zurück-
zuführen ist.
Fig. 77.
F
!) Rehfisch, Über die Ursprungsstelle der Ventrikelkontraktionen, Berl. klin.
Wochenschr. 1907, Nr. 34. — *) Über die Berechtigung des alten Ausdrucks negativ
gegenüber den Neuerungsbestrebungen von Waller, der dafür zinkartig, und
Boruttan, der dafür elektropositiv setzen möchte, vgl. meine demnächst erscheinende
ausführliche Arbeit über das Elektrokardiogramm.
822 Unterschied zwischen Systole und abnormen Ventrikelschlägen.
$ 81.
Systolen und Extrasystolen (abnorme Ventrikelschläge).
Einen derartigen diphasischen Strom kann man auch am Herzen unter
bestimmten Umständen beobachten, und zwar haben Engelmann!) und
Marchand?) diesen Vorgang zuerst eingehend beschrieben, den sie mit Hilfe
des Reotoms genauer studiert hatten. Ein derartiger diphasischer Strom
beweist nun, daß sich im Herzen die Erregung gleichmäßig nach allen Seiten
hin ausbreitet.
Diese ganz einwandfreie Schlußfolgerung aus den Engelmannschen
Versuchen verführte nun dazu, späterhin, als allmählich die normale, ganz
anders geformte Gestalt des Elektrokardiogramms bekannt wurde, immer
erneute Versuche zu machen, die Form des Elektrokardiogramms mit einer
gleichmäßigen Reizausbreitung in Einklang zu bringen. Man übersah dabei,
daß Engelmann und Marchand nur künstlich hervorgerufene Extrasystolen
beobachtet haben.
Auf Grund noch nicht veröffentlichter Versuche glaube ich jedoch nun-
mehr den Nachweis führen zu können, daß es sich bei der normalen Systole
Fig. 78.
Abnorme Ventrikelschläge,
die in A von der Basis des rechten und in B von der Spitze des linken Ventrikels ausgehen.
und bei der künstlich hervorgerufenen bzw. spontan auftretenden Extrasystole
um zwei völlig verschiedene Vorgänge handelt. (Die ähnlichen Vorstellungen
von Fauconnier wurden schon oben $. 820 erwähnt.)
Bei der normalen Systole verläuft die Erregung auf ziemlich
komplizierten, aber ganz bestimmten Bahnen, deren Richtungen
weiter unten genauer auseinandergesetzt werden sollen. Bei
allen Extrasystolen aber breitet sich die Erregung von dem primär
gereizten Punkte gleichmäßig nach allen Richtungen hin aus. Als
Ausdruck für diesen abnorm verlaufenden Ventrikelschlag sehen wir auch im
Elektrokardiogramm eine abnorme Ventrikelschwankung, von der Fig. 78
zwei Beispiele gibt bei Ableitung von rechter und linker Hand.
Aus dieser Feststellung folgt dreierlei:
1. die Fragestellung, ob bei der normalen Systole die Erregung
von der Basis zur Spitze läuft oder umgekehrt, ist nicht korrekt,
!) Engelmann, Über das Verhalten des tätigen Herzens, Pflügers Arch. 17,
68, 1878. — *) Marchand, Beiträge zur Kenntnis der Reizwelle und Kontraktions-
welle des Herzmuskels, Pflügers Arch. 15, 511, 1877; Derselbe, Verlauf der Reiz-
welle des Ventrikels usw., ebenda 17, 137, 1878.
I UN
Komplizierte Bahn der normalen Erregung. 323
und man darf sich daher nicht wundern, daß derartige Versuche sehr wider-
sprechende Resultate ergeben haben: Bayliss und Starling z. B. (18921!)
meinen, daß die Erregung von der Basis zur Spitze läuft, während Waller
(1899?) zu dem Ergebnis kommt, daß die Welle von der Spitze zur Basis
fortschreitet. Nach Schlüter (023) kommt beides vor.
2. Versuche mit künstlicher Reizung können zur Entscheidung der
Frage nach dem normalen Ablauf der Erregungswelle nicht herangezogen
werden.
3. Alle bisher. unternommenen Versuche, das Elektrokardiogramm als
einen mehrfach in die Erscheinung tretenden, an verschiedenen Stellen ver-
schieden lang dauernden Aktionsstrom zu deuten, beruhen ebenfalls auf einer
falschen Fragestellung.
Zwar hat inzwischen Samojloff*) die Möglichkeit eines derartigen Ver-
haltens in bezug auf die vom Vorhof zum Ventrikel fortschreitende Aktions-
welle durch Versuche an Froschherzen erwiesen, aber die so sehr kompliziert
gestaltete Kurve, welche der Ventrikelsystole entspricht, spottet selbst beim
Froschherzen bis jetzt durchaus einer derartigen Deutung.
Demgegenüber haben Kraus und Nicolai) in einer vorläufigen Mit-
teilung darauf hingewiesen, daß die Finalschwankung (F in Fig. 77) nicht
ein Rest der anfänglichen Negativität der Basis ist, sondern einer neuer-
dings einsetzenden Muskelkontraktion entspricht. Gotch hat als erster auf
dem internationalen Physiologenkongreß zu Heidelberg 1907 genauere Ver-
suche an Fröschen mitgeteilt, aus denen hervorgeht, daß auch bei diesen
Tieren trotz ihres verhältnismäßig einfach gebauten Ventrikels die Kon-
traktion nicht als einfache Welle abläuft, sondern daß sie an der Basis
beginnt, zur Spitze läuft und dann wieder zur Basis zurückkehrt. Eine
detailliertere Deutung des Erregungsablaufes im Säugetierherzen habe
ich dann in der sich anschließenden Diskussion versucht und in einem Vortrag
der. physiologischen Gesellschaft zu Berlin €) mitgeteilt ?).
Daß das normale Elektrokardiogramm nicht der Ausdruck einer nur in
einer Richtung verlaufenden Erregung sein kann, dafür gibt es mannigfache
direkte Beweise. Vor allem ist die von Kraus und Nicolai nach-
gewiesene Tatsache anzuführen, daß die negative Schwankung, bei. künst-
licher Reizung unter Umständen doppelt, ja dreifach so groß aussieht, als
in der Norm. Das findet seine einzig mögliche Erklärung darin, daß eben
!) Bayliss und Starling, Elektromotive Phaenomena of the mammalian
heart, Proc. Roy. Soz. 1892, p. 211. — *) Waller, On the elektromotive changes
connected with the beat of the mammalian heart, Philosoph. transact 180 B, 189,
1899. — °) Schlüter, Die Reizleitung im Säugetierherzen, Pflügers Archiv 89, 5,
1902. — *) Samojloff, Beiträge zur Elektrophysiologie des Herzens, Arch. f.
_ (Anat. u.) Physiol. 1906, Suppl. 8.207. — °) Kraus u. Nicolai, Über das Elektro-
kardiogramm unter normalen und pathologischen Verhältnissen, Berl. klin. Wochen-
schrift 1907, Nr. 25 u..26. — °) Nicolai, Ablauf der Erregungsleitung im Säugetier-
herzen, Sitzungsber. d. physiol. Gesellsch., 22. Nov. 1907. Zentralbl. f. Physiol. 21,
Nr. 20. — 7) Während der Korrektur dieses Abschnittes ist in Pflügers Archiv eine
Arbeit von Einthoven erschienen, welche manchen früheren Ansichten des Autors
widersprechend, meine in der oben zitierten Arbeit sowie im folgenden mitgeteilten
Ergebnisse zum Teil fast wörtlich bestätigt, ohne sie allerdings zu erwähnen. Dieses
erfreuliche Zusammentreffen mit einer Autorität wie Einthoven gibt mir desto
eher den Mut, diesen Deutungsversuch hier im Handbuch stehen zu lassen.
824 Ablauf der Erregungswelle
nicht nur eine einsinnige Erregungswelle über das Herz läuft, sondern daß
normalerweise gleichzeitig mehrfache Erregungen im Herzen ablaufen, welche
mechanisch-synergistisch zusammenwirken, deren elektrisches Äquivalent sich
aber teilweise aufhebt.
Wir sehen aus dem Gesagten deutlich, daß die Systole durchaus kein
“ einfacher, sondern im Gegenteil ein sehr komplizierter Vorgang ist; und zwar
in dem komplizierter gebauten Säugetierherzen ein entsprechend komplizier-
terer als im Froschherzen. Wir haben uns vorzustellen, daß die Erregung
in der Gegend des Hisschen Bündels in den Ventrikel einstrahlt und von
hier aus die verschiedenen Fasergruppen des Herzfleisches successive in einer
uns vorläufig noch im einzelnen nicht sicher bekannten, aber zweifellos in
einer ganz bestimmten Reihenfolge ergreift.
Daß die Reihenfolge eine ganz bestimmte, selbst in der Reihe der Wirbel-
tiere kaum wechselnde ist, geht aus der außerordentlichen Konstanz hervor,
welche die allgemeine Form des Elektrokardiogramms bei den einzelnen
Spezies zeigt. In pathologischen Fällen kann dann allerdings diese Reihen-
folge eine durchaus andere werden, wie aus Versuchen von Einthoven an
kranken Menschen, und aus Versuchen von Kraus und Nicolai ebenfalls
an kranken Menschen sowie an künstlich geschädigten Hunden deutlich hervor-
geht. Über den Verlauf im einzelnen sind unsere Kenntnisse noch lückenhaft,
doch dürften folgende Bemerkungen erlaubt sein.
$ 82.
Ablauf der Erregungswelle auf Grund des Elektrik ki
Die anatomische Betrachtung zeigt uns, daß die Vorhöfe nur durch das
Hissche Bündel mit dem Herzen und vermittels der Tawaraschen Fasern
Fig. 79. nur mit dem Papillarsystem in Verbindung
stehen. Das Papillarsystem aber steht so-
wohl mit dem Treibwerk als auch mit den
äußeren Spiralfasern in Verbindung (vgl. das
- Schema der Fig. 75, das in Fig. 79 in
einer der Wirklichkeit mehr angepaßten Form
nochmals gezeichnet ist). Auf anatomischer
Grundlage also müssen wir annehmen, daß
die Erregung vom Vorhof in das Papillar-
system hineinläuft, in diesem von der Basis
zur Herzspitze fortschreitet, und dann so-
wohl in das Treibwerk als auch in die
äußeren Spiralfasern übergeht.
Diesem Wege und Ablauf der Erregungs-
leitung muß nun durchaus die Form des Elektro-
kardiogramms entsprechen, das in Fig. 80 mit
den gewählten Bezeichnungen schematisch wieder-
gegeben ist. In der Tat kann man den einzelnen
Schema der Erregungsleitung im Herzen. Hauptzacken mit Sicherheit bestimmte Herz-
ß bewegungen zuordnen. Es ist daher möglich, die
einzelnen Zacken sinngemäßer zu bezeichnen, als es Einthoven tat, der, wie
Fig. 77 zeigt, für sie die Buchstaben P bis T wählte, was zumal deshalb wünschens-
wert erscheinen muß, weil von Einthoven die Zacken von verschiedener Wichtig-
auf Grund des Elektrokardiogramms. 825
keit gleichartig bezeichnet worden sind und für neue Zacken in der alphabetischen
Reihenfolge eigentlich kein Platz ist.
Es ergibt sich jedoch, daß drei Zacken, oder besser Gruppen von Zacken, be-
sonders wichtig und konstant sind; um sie muß sich also auch eine sachentsprechende
Nomenklatur gruppieren. Essind dies die Zacken A, Jund F (vgl. Fig. 80), die bei der
üblichen Registrierung des Elektrokardiogramms sämtlich nach oben gerichtet sind.
A entspricht ausschließlich der Vorhofstätigkeit, es ist die Atriumschwankung.
J und F entsprechen der Tätigkeit des Ventrikels und dementsprechend ist das
Stück von J bis F als Ventrikelschwankung zu bezeichnen, die mit der Initial-
schwankung (J) beginnt und mit der Finalschwankung (F) endigt. Diese Namen
sind gewählt, weil sie sicher richtig sind und nichts präjudizieren.
Dazwischen liegen die mit kleinen Buchstaben zu bezeichnenden horizontalen
Strecken A, £t, p, durch welche Namen zum Ausdruck gebracht werden soll, daß
die Erregung im Hisschen Bündel, bzw. im Treibwerk angelangt, oder während
der Pause (p) gar nicht vorhanden ist. Außer diesen drei regelmäßigen Zacken
treten auch noch mehr oder weniger inkonstante Zacken auf, dieselben sind meist
nach unten gerichtet und gehen dann den konstanten Zacken voran, bzw. folgen
sie ihnen und sind demgemäß mit dem betreffenden Buchstaben und einem an-
x J Fig. 80. F
—
2
=)
+2]
»
e
rd
Ap
Pe.
d.
Atrium-
kontraktion i j
+ Überleitungs- | Ventrikelschwankung = Systole Pause
zeit
— Praesystole
Schema der Deutung des Elektrokardiogramms.
gehängten kleinen a oder p (anterior und posterior) zu bezeichnen (also Aa, Ap,
Ja, Jp, Fa, F'p). Außerdem treten manche Zacken unter Umständen doppelt auf
und sind dann mit dem betreffenden Buchstaben und dem Index 2 zu bezeichnen
(in der Figur ist J, gezeichnet).
Diese Nomenklatur, die den praktischen Bedürfnissen genügen dürfte, soll in
folgendem begründet werden, wobei gleichzeitig gezeigt werden kann, wie das nor-
male Elektrokardiogramm zu deuten ist.
Solange die Erregung nur bis zum Papillarsystem gelangt ist, läuft
sie einen einheitlichen ungeteilten Weg, und wir müssen dementsprechend
hier das Auftreten eines diphasischen Stromes erwarten. Wie wir aus den
schönen Versuchen von Samojloff wissen, kann ein derartiger diphasischer
Strom schon durch eine mittlere Quetschung der betreffenden Muskelsubstanz
in zwei diphasische Ströme zerfallen, und wir haben daher als Ausdruck
der Atrium- und Papillarsystemkontraktion einen zweifachen diphasischen
Aktionsstrom zu erwarten. So entspricht die erste Zackengruppe A in dem
schematischen Elektrokardiogramm, der Fig. 80, der Vorhofkontraktion; und
diese Schwankung erscheint im wesentlichen tatsächlich als eine diphasische
Schwankung, was besonders schön bei Hundeversuchen, bei denen man vom
826 Deutung des normalen Elektrokardiogramms.
Herzen direkt ableiten kann, sichtbar wird. Nun kommt die Strecke h, während
der die Kurve horizontal weiterläuft, was ein Ausdruck dafür ist, daß die
Erregung keine irgendwie ausgedehnten Muskelmassen durchläuft. Wir werden
annehmen, daß die Erregung während dieser Zeit das Hissche Bündel durch-
läuft, und die langsame Leitung in demselben, die ja schon von Engelmann
— wenigstens für das Froschherz — nachgewiesen wurde, erklärt die relativ
lange Dauer dieser Periode. Dann wird der basale Teil des Papillarsystems
negativ, als Ausdruck hiervon steigt die Kurve im Elektrokardiogramm steil
an (J). Die Erregung pflanzt sich bis zur Spitze fort, wenn sie dort anlangt,
ist die Kurve bereits wieder abgesunken. Der erste steilste und größte Teil
des Elektrokardiogramms ist also nicht etwa deshalb steiler und größer als
sämtliche übrigen, weil während !) dieser Zeit der Herzmuskel stärker erregt
ist oder kräftigere Kontraktionen ausführt als später, sondern nur deshalb,
weil,während dieser Zeit die Erregung in einem und demselben Sinne ver-
läuft und die elektrischen Spannungsdifferenzen der einzelnen Muskelfasern
sich zueinander addieren und nicht, wie später, subtrahieren. Denn dann
kommt eine Periode, in welcher das Herz sich im großen und ganzen nur wie
ein einfacher Hohlmuskel ohne bevorzugte Faserrichtungen allseitig kontra-
hiert; sowohl die quer verlaufenden Fasern des Treibwerks, als auch die
längs verlaufenden Fasern geraten gleichzeitig in Tätigkeit, und zwar beginnt
die Kontraktion im gewissen Sinne an der Basis der Papillarmuskeln, d.h.
nahe an der Spitze des Herzens, was zweifellos in mechanischer Beziehung
sehr viel vorteilhafter erscheint (vgl. oben S. 820).
Die sich durchkreuzenden Muskelfasern bewirken synergistisch eine all-
seitige Verkleinerung des Lumens und dabei heben sich die partiellen elek-
trischen Spannungsdifferenzen der verschiedenen Muskelfasern gegenseitig auf.
Als Ausdruck dieses Geschehens sehen wir, daß die Kurve nach Ablauf der
durch die Kontraktion des Papillarsystems hervorgerufenen diphasischen
Schwankung noch einmal geradlinig weiterläuft. Diese Geradlinigkeit der
Kurve ist hier etwas ganz anderes, als die Geradlinigkeit zwischen Vorhof-
und Ventrikelzacke. Wenn sie dort der Ausdruck ist, daß nichts geschieht,
ist sie hier der Ausdruck eines mehrfachen, sich gegenseitig kompensierenden
Geschehens. (Hierbei ist es allerdings nicht völlig ausgeschlossen, daß nicht
doch eine bevorzugte Faserrichtung vorhanden ist (ft). Es ist möglich, daß das
elektrische Äquivalent der Kontraktion dieser Fasern nur deshalb nicht zum
Ausdruck kommt, weil die entstehende Potentialdifferenz sich im Körper
derartig verteilt, daß sie bei der gewählten Ableitung nicht zum Ausdrucke
kommt. Nach der anatoniischen Lage könnte es sich dabei hauptsächlich
um die zirkulären Fasern handeln.)
Zum Schlusse wird dann die Basis wieder negativ (F'), aber das liegt
nicht daran, daß dieser Teil dauernd negativ geblieben ist, wie man früher
angenommen hat, sondern es ist der Ausdruck dafür, daß die Erregung wieder
') „Während dieser Zeit“ ist hier und an den folgenden Stellen nicht ganz
korrekt, denn die Kontraktion des Herzens erfolgt erst später und zwar ist die
Latenz eine sehr lange. Auf diesen Umstand hat neuerdings de Meyer im Juni-
heft des Arch. internat. de Physiol. auf Grund von mechanischen Registrierungs-
. versuchen hingewiesen. Kraus und iich haben schon früher (Berl. klin. Wochenschr.
Nr. 25) angegeben, daß die Latenz des Herzmuskels etwa 0,06 Sekunden beträgt.
Synchronismus des rechten und linken Herzens. 827
zur Herzbasis aufgestiegen ist. Es folgt dann wiederum eine horizontal ver-
laufende Strecke des Elektrokardiogramms, die der wirklichen Herzpause
entspricht, in der also jede aktive Herztätigkeit ruht.
Mit der vorgetragenen Deutung stimmen auch die Befunde von
L. Braun!) überein, der versuchte, mit Hilfe des Kinematographen die Herz-
bewegung zu registrieren, eine Methode, auf die seinerseits schon v. Frey ?)
als aussichtsvoll hingewiesen hatte. Allerdings ergibt sich trotz der genauen
Beschreibung für die Formveränderung des Herzens kaum ein Anhalt dafür,
von welcher Stelle aus die Kontraktionswelle ausgeht. Jedoch ist in seiner
Angabe bemerkenswert, daß während der Systole die Länge des Tiefendurch-
messers des rechten und linken Ventrikels in allen Höhen ihrer Längsachsen
bedeutend zunimmt, daß aber das Maximum der Wölbungszunahme-
in die erste Phase der Systole fällt. Dies läßt nämlich nur den Schluß
zu, daß sich zunächst die inneren, mehr vertikalen Fasern der Herzhöhlen
und Papillarmuskeln kontrahieren, deren Zusammenziehung natürlich eine
starke Ausbuchtung hervorruft; diese Ausbuchtung würde dann gemindert
durch die darauffolgende Kontraktion mehr ringförmig verlaufender Fasern.
Also auch diese Überlegung würde zu demselben Resultat führen, wie die Schluß-
_ folgerungen aus den Tawaraschen Befunden und aus der Deutung des Elektro-
kardiogramms. Ebenso bestätigen Untersuchungen, welche Rehfisch ?) soeben
im hiesigen Institut beendet hat und in denen er die Formveränderung des
Herzens während der Systole untersucht hat, durchaus die oben vorgetragene
Ansicht, daß sich das Papillarsystem vor den anderen Systemen kontrahiert.
$ 83.
Hemisystolien.
- In innigem Zusammenhang mit der Art und Weise des Erregungsablaufes im
Herzen steht die alte Frage, ob sich immer die rechten und linken Herzabschnitte
gleichzeitig kontrahieren oder ob unter Umständen auch ein einzelner Herz-
abschnitt schlagen kann, ob mit anderen Worten wahre Hemisystolie vorkommt.
In dieser Beziehung muß man zwei differente Fragen unterscheiden.
Erstens einmal die Frage, ob normalerweise die Kontraktion der beiden Ven-
trikel vollkommen gleichzeitig erfolgt, oder ob der eine sich etwas früher
kontrahiert. In dieser Beziehung hat vor allem Fredericq*) und seine
Schule in den letzten Jahren mannigfache Beweise dafür erbracht, daß ein
strenger Synchronismus der Vorhöfe und der Ventrikel auch unter normalen Be-
dingungen nicht existiert [vgl.Fredericq, Schmidt, Nielson’)u.Staasen®)].
Zweitens aber ist die Frage zu unterscheiden, ob Hemisystolen in klini-
schem Sinne vorkommen. Hier hat vor allem gegenüber der alten klassischen
Meinung, daß Hemisystolien nicht möglich seien, Leyden den Standpunkt
vertreten, daß solche beim Menschen und zwar nicht nur beim Moribunden
vorkämen. Experimentell beobachtete Knoll (18957) zuerst derartige Er-
!) L. Braun, Über Herzbewegung und Herzstoß. Jena, Fischer, 1898. —
2) yv. Frey, Die Untersuchung des Pulses usw., S.74. Berlin, Julius Springer, 1892.
— ®) Rehfisch, Herzbewegung und Herzkontraktion, Berlin. klin. Wochenschr.
1908, Nr. 26. — *) Frederieg, Arch. intern. Physiol. 4, 57, 1906. — °) Schmidt
‚ und Nielson, ebenda 4, 417, 190”. — °) M. Staasen, ebenda 5, 60, 1907. —
7) Ph. Knoll, Graphische Versuche an den vier Abteilungen des Säugetierherzens.
Sitzungsber. d. österr. Akad., mathem.-naturw. Kl., 3. Abt., Kap. III, S. 298, 316, 1895.
828 Hemisystolen.
scheinungen nach Vagusreizung am Kaninchenherzen, während v. Vintschgau
(02?) Hemisystolie am Froschherzen nur nach Längsquetschung des Ventrikels
beobachtete, was ja auch kaum überraschen kann, wenn man bedenkt, daß
der Froschherzventrikel ja ein einheitliches Gebilde ist.
Auf Grund dessen, was oben auf S. 822 gesagt ist, dürfte es klar ‚sein,
daß es sich bei allem, was eventuell als Hemisystole gedeutet werden könnte,
um abnorme Ventrikelschläge (Extrasystolen) handeln müsse, denn es sind
eben Systolen, die nicht normal verlaufen. Nun hates sich bisher aber immer
gezeigt, daß alle abnormen Ventrikelschläge sich nach allen Rich-
tungenhin über das Herz hin gleichmäßig ausbreiten, und es dürfte
daher von vornherein wahrscheinlich sein, daß Hemisystolen, bei denen
überhaupt nur ein Ventrikel schlägt, nicht vorkommen. Dagegen dürfte
vielleicht insofern jeder abnorme Schlag auch gleichzeitig mehr oder weniger
hemisystolischen Charakter zeigen, weil dabei naturgemäß der eine Ventrikel
vor dem anderen schlägt, denn der Zeitunterschied wird größer sein, wenn
die Erregung in dem einen Ventrikel entsteht, und sich von hier aus erst zum
anderen hin ausbreitet, als wenn die Erregung vom Vorhof kommend in
beide Ventrikel annähernd gleichzeitig einstrahlt. Damit ist natürlich nicht
gesagt, daß nicht unter pathologischen Bedingungen trotzdem wahre Hemi-
systolen im Sinne Leydens vorkommen können. Diese klinische Seite der
Frage entzieht sich meiner Beurteilung, jedoch kann man im physiologischen
Experiment nur insofern etwas den Hemisystolen Ähnliches nachweisen, als
man dabei zu bestimmen imstande ist, ob ein abnormer Ventrikelschlag im
rechten oder im linken Ventrikel begonnen hat, aber selbst dies ist
schwierig, weil der hauptsächlichste Unterschied des Elektrokardiogramms
darauf beruht, ob die Reizung an der Basis oder an der Spitze. erfolgte,
Allerdings ist damit nicht ausgeschlossen, daß nicht unter Umständen bei
dieser veränderten Form der Reizleitung die Bedingungen in dem einen Ven-
trikel so ungünstig sind, daß die Systole keinen, oder doch nur einen sehr
geringen mechanischen Effekt hervorruft. Ich möchte darauf hinweisen, daß
diese Deutung meiner Versuche mir vornehmlich von Professor Hering vor-
geschlagen ist.
$ 84.
Einteilung der Herzperiode nach der Tätigkeit (Grad der Aktivität).
Die Systole ist verschieden definiert worden, meist mit Rücksicht auf
irgend welche ausgezeichneten Punkte des Kardiogramms, der Pulskurve oder
irgend einer anderen funktionellen Äußerung des Herzens?2). Am präg-
nantesten definiert Hürthle, der die Diastole mit dem Beginn des Abfalls
der Kammerdruckkurve beginnen läßt. Ihm ist man allgemein gefolgt und
hat — im Sinne des Sprachgebrauchs auch durchaus richtig — die Systole
als die Zeit der Zusammenziehung, die Diastole als die Zeit der Auseinander-
ziehung definiert. Nun gibt es aber — abgesehen davon, daß sich Vorhof und
Ventrikel zu verschiedener Zeit zusammenziehen — auch in bezug auf den
!) M. v. Vintschgau, Elektrische und mechanische Reizung des unversehrten
Froschherzens und nach einer linearen Längsquetschung, Pflügers Arch. 88,
575 bis 624, Taf. 6 bis 7, 1902. — ?) Siehe darüber die Zusammenstellung bei Eb-
stein, 8. 131 ff.
Einteilung der Herztätigkeit. 829
Ventrikel allein, wie oben gezeigt worden ist, keinen einzigen Moment, in
dem sich alle seine Fasern gleichzeitig zusammenziehen und gleichzeitig
erschlaffen. Kontraktion und Erschlaffung laufen gleichzeitig
nebeneinander. Eine zeitliche Trennung von Systole und Diastole ist also
unmöglich, und man kann Edgren begreifen, wenn er im Unmut den Aus-
druck „Systole“ ganz über Bord werfen möchte. Aber es wäre schade um
das Wort, das sich in der klinischen Terminologie so fest eingebürgert, und
es wäre schade, weil wir für den Begriff der Kammer- (bzw. Vorhof-)tätigkeit
keinen anderen Ausdruck besitzen. Die Unprägnanz des Ausdruckes stammt
eben daher, daß man in der bisherigen Art der Bezeichnung der Systole nicht
klar definierte, was man unter der „Zusammenziehung“ verstand. Man dachte
unwillkürlich an eine Muskelkontraktion, bei der allerdings der aufsteigende
und absteigende Schenkel ungefähr gleich lang ist. Hier aber handelt es sich
um eine Reihe von Kontraktionen; wenn die letzte ihr Maximum erreicht hat,
sind fast alle Herzmuskeln erschlafft und es folgt dann nur noch eine gariz
kurze Zeit, in der auch die letzten Fasern noch erschlaffen. In ähnlicher
Weise hat schon Moens!) definiert, der als Systole den Zustand des Herzens
bezeichnet, in welchem die Muskeln tätig, als Diastole jenen, in dem die
Muskeln erschlafft sind (nicht etwa erst erschlaffen). Über die „physio-
logische“ Einteilung, welche Engelmann?) versucht hat, vgl. seine „Beob-
achtungen und Versuche am suspendierten Herzen“.
Es ändert daher praktisch kaum etwas, wenn wir unter Systole nicht wie
bisher die Zusammenziehung, sondern die Tätigkeit überhaupt verstehen.
Tun wir dies aber, dann ist der Ausdruck Systole durchaus fest definiert.
Es ist die Zeit von dem Augenblick an, in dem sich die erste
Kammerfaser zu kontrahieren beginnt bis zu dem Moment, in
dem die letzte Kammerfaser erschlafft ist. Dann beginnt die Pause,
und diese dauert bis zu dem Moment, in dem die erste Vorhoffaser sich
kontrahier. Damit beginnt die Praesystole, die ihrerseits bis zu dem
Beginn der eigentlichen (Ventrikel-)Systole andauert. So haben wir die Zeit
einer Herzrevolution nach den Stadien der Herztätigkeit eingeteilt in:
Praesystole (Beginn der Vorhofzusammenziehung),
'Systole (die ganze Ventrikelzusammenziehung),
Pause (Ruhe aller Herzabschnitte).
Die Praesystole und Systole bilden die aktive Phase des Herzens; während
der Pause wird das Herz nur passiv durch die elastischen und dynamischen
Kräfte, vor allem die des strömenden Blutes, bewegt. Am wichtigsten ist in
dieser Beziehung die Anfüllung (diastolische Erweiterung) der Vorhöfe.
$ 85.
Einteilung nach der Funktion.
Neben der Einteilung der Revolutio cordis, welche sich auf die Tätigkeit
bezieht, wäre dann unabhängig davon jene ausgezeichnete Einteilung von
Hürthle festzuhalten, welcher nach den Wirkungen, die das Herz ausübt,
die Herzbewegung in folgender Weise einteilt:
!) Moens, Der erste Wellengipfel in dem absteigenden Schenkel der Pulskurve,
Pflügers Arch. 20, 522, 1879. — *?) Engelmann, Pflügers Arch. 52, 357, 1892.
830 Die Hürthlesche Einteilung.
| | R
| von bis
| I
Anspannungszeit (Tension) . |Schluß der Cuspidalkl. Öffnung der Semilunarkl.
Austreibungszeit (Efflux) . . Öffnung der Semilunarkl. | Schluß der Semilunarkl.
Entspannungszeit (Detension) |Schluß der Semilunarkl. | Öffnung der Cuspidalkl.
Anfüllungszeit (Influx) . . . | Öffnung der Cuspidalkl. | Schluß der Cuspidalkl.
Nach dem Gesagten wird das folgende Schema leicht verständlich sein,
das an Druckkurven des Vorhofes, des Ventrikels und der Aorta die beiden
Einteilungsprinzipien gleichzeitig zur Anschauung bringt.
Fig. 81.
Entspan-
Anfüllungs-nure- Austreibungszeit ange Anfüllungszeit
zeit : * | zeit zeit
Semilu nar- klappen geschlossen
Cuspidalklappen geschlossen
# |
Druck -
ablauf in
.
.
Benz
a 2
PT a a Men, Sn BE AI Veh
a IE an 1 N Eee
"rennen
Aorta
PrVon
Be Ton
u
. Kammer
mr
er u Systole ( rt Disatale) Pause
m
Vorhof-Systole (+ Diastole)
Die zeitlichen Verhältnisse des Geschehens am Herzen auf Grund von Druckkurven
in Vorhof, Kammer und Aorta.
Oben: Einteilung nach der Tätigkeit; unten: Einteilung nach der Funktion.
Das Schema zeigt, worauf Buller !) hingewiesen hat, daß der große und
kleine Kreislauf immer völlig voneinander getrennt sind, da zum mindesten
ein Paar der Klappen, zeitweilig sogar alle vier Klappen geschlossen sind.
Man sieht aus dem Schema sehr deutlich, daß ebenso, wie sich die
Einteilung in Systole, Praesystole und Pause nach dem Tätigkeitszustand des
Herzens beschreiben läßt, die Einteilung nach der Wirkung ganz erschöpfend
durch die Geschehnisse an den Klappen beschrieben werden kann, was nicht
wundernehmen darf, wenn man bedenkt, daß eben die Klappenstellung der |
eigentlichste Ausdruck der Herzwirkungen ist. Wenn beide Klappen ge- |
schlossen sind, findet Tension (7) bzw. Detension (D) statt, je nachdem der
!) Buller, The conditions of the pulmonary eirculation. Barthol. Hosp.,
ep. XXVIII, Rp. 257.
Kombination der beiden Einteilungen. 831
Druck in der Kammer steigt oder fällt. Sind die Semilunarklappen offen, so
findet Influx (J), sind die Cuspidalklappen offen, Efflux (E) statt. Während
T und D findet kein Transport des Blutes statt, während I fließt das Blut
in die Kammer, während E aus der Kammer in die Aorta. Die Fig. 83
auf 9.840 zeigt die Klappendruck- und Strömungsverhältnisse schematisch.
Diese beiden Einteilungsformen sind an sich klar und bestimmt. Man könnte
nur dagegen einwenden, es sei fehlerhaft, einen Vorgang nach zwei verschiedenen
Prinzipien einzuteilen. Doch hat dies an sich nichts Verwirrendes; wie man auch
die Umdrehungszeit der Erde in 24 Stunden, und ganz unabhängig davon, in Tag
und Nacht einteilt. Im Altertum zwar machte man es anders. Da nahm man die
Zeiteinteilungen als Unterabteilungen von Tag und Nacht, die man in die einzelnen
Tag- und Nachtwachen einteilte, und all’ die Verwirrung der Zeitbezeichnung bei
den Alten beruht auf dieser scheinbaren Einheitlichkeit. Ordnung kam erst nach
der prinzipiellen Trennung.
Ahnlich scheinen die Verhältnisse auch für die Herzeinteilung zu liegen. Es
ist prinzipiell eben unmöglich, den Begriff der Systole so zu fassen, daß ihr
Anfang oder Ende mit einem der von Hürthle angegebenen Perioden, die prak-
tisch allein brauchbar sind, weil sie allein an nachweisbare Geschehnisse geknüpft
sind, wirklich koinzidiertt. Da muß denn eine reinliche Scheidung vorgenommen
werden.
Doch der Sprachgebrauch ist oft mächtiger als solche Prinzipien. Heute
gebraucht man die alten Ausdrücke Nacht und Tag doch wieder in Ver-
bindung mit der Stundeneinteilung, nur daß die Nacht jetzt nicht mehr die
Zeit von Aufgang bis zum Niedergang der Sonne bezeichnet, sondern die
feste Zeit von 6 Uhr bis wieder 6 Uhr. Verwirrung ist dadurch nicht ein-
getreten. So mag man auch die Ausdrücke „systolischer und diastolischer
Ton“, die in der Klinik fest eingebürgert sind, beibehalten. Aber systolisch
und diastolisch sollen dann nichts anderes mehr bezeichnen als die Be-
nennung jener beiden Töne, von denen der eine ungefähr in die Tensions-
oder die T-Zeit, der andere in die Detensions- oder die D-Zeit hineinfällt.
Also beide noch in die Systole sensu strictiori. Systole aber ist dann überein-
kommengemäß die Zeit vom ersten bis zum zweiten, Diastole die Zeit vom
zweiten bis zum ersten Ton.
Über andere Einteilungen vgl. Schreiber (18951).
Neuntes Kapitel.
Formveränderung und Spitzenstoß.
Formveränderung des Herzens.
Um die Formveränderung des Herzens bei seiner Tätigkeit zu bestimmen,
reicht die Beobachtung nicht aus. Alles, was man durch Inspektion zu
eruieren vermag, hat bereits Harvey?) in seinem klassischen Werke in
mustergültiger Weise beschrieben.
Seiner Schilderung ist nichts hinzuzufügen. Mehr gesehen als Harvey
hat niemand. Man hat daher verschiedene Methoden ersonnen, um die
1) 8,H.Schreiber, Über eine neue Einteilung der Herzbewegungen (Systole,
Diastole) und die Ludwigsche Herzstoßtheorie. Zeitschr. f. klin. Med. 28, 402 bis
416, 1895. — *°) Harvey, Exereitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in
animalibus. Francofurti 1628.
832 Formbestimmungen am toten Herzen.
Formveränderung genauer studieren zu können. Sie beruhen im wesentlichen
auf Messungen am toten Herzen bzw. auf dem Versuch der direkten graphi-
schen Registrierung der Herzbewegung.
S 86.
Bestimmungen aus Messungen am toten Herzen.
Frühere Versuche von Lutze!), der die Herzen mit warmem
Alkohol härtete, hatten nur geringe Ergebnisse. Erst seitdem Hesse?)
heiß gesättigte Lösungen von chromsaurem Kali empfahl, datiert ein be-
merkenswerter Fortschritt. v. Frey?) empfiehlt konzentrierte Sublimat-
lösungen.
Soweit man die Formveränderung am toten Herzen bestimmen kann,
hat dies Krehl*) getan, vgl. jedoch auch die Versuche von Haycraft
und Paterson’), welche die Herzen von Tieren untersuchten, die infolge
von Injektion gesättigter Sublimatlösung in die Jugularis plötzlich in Systole
stillstanden. Krehl hat die Herzen frisch getöteter Tiere unter einem
Druck von 5 bis 10cm Hg zuerst mit Wasser und dann mit Alkohol durch-
spült, um auf diese Weise in Diastole fixierte Herzen zu bekommen. Die Här-
tung in warmer Kaliumbichromatlösung gibt umgekehrt stärkste Kontraktion
aller Fasern und somit angebliche Systole. Der Ausdruck Systole ist natür-
lich nur dann richtig, wenn man darunter einen während des normalen
Herzrhythmus niemals vorkommenden Zustand versteht. In normaler Weise
sind niemals alle Fasern des Herzens gleichzeitig kontrahiert. Mir erscheint
dieser Umstand wichtiger als jener andere, auf den Tigerstedt aufmerksam
macht, daß nämlich das Herz sich selten so ausgiebig kontrahiert. Das könnte
nur insofern einen Fehler bedingen, daß dabei die Erscheinungen richtig aber
zu exzessiv hervorträten. Auf einige weitere Fehlerquellen dieser Methode macht
Braun®) aufmerksam. Doch verdanken wir dieser sehr wertvollen Methode
wesentliche Aufschlüsse. Sie hat uns vor allem absolut deutlich gezeigt,
daß auch bei dieser stärksten Kontraktion (also a fortiori auch bei der nor-
malen Systole) das Herz sich niemals völlig entleert. Zwar zwischen den
sich zusammenlegenden Papillarmuskeln bleibt nur ein enger im Querschnitt
sternförmiger Spalt, aber über den Papillarmuskeln, in dem „supra-
papillären Raum“, den zuerst Hesse”) beschreibt, findet sich eine relativ
große Höhlung, in der eine nicht unbeträchtliche Menge von Blut zurück-
bleiben muß. (Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, daß gerade bei nicht
gleichzeitiger Kontraktion aller Fasern eben die eventuell nicht vollständig
kontrahierten Papillarmuskeln weiter in den suprapapillären Raum hinein-
reichen, als es bei den gehärteten Herzen der Fall ist. Doch kommen auch
‘) Lutze, Mechanik der Herzkontraktionen. Leipziger Dissertation 1874. —
?) Hesse, Arch. f. Anat. (u. Physiol.), S. 289 (1880). — °) v. Frey, Untersuchung
des Pulses, 8.2. — *) Krehl, Beiträge zur Kenntnis der Füllung und Entleerung
des Herzens. Abhandl. d. Kgl. Sächs. Ges. d. Wiss., math.-physik. Kl. 18, 1891.
— °) Haycraft and Paterson, The changes in chape and in position of the heart
during the cardiae cycle. Journ. of physiol. 19, 496. — °) Braun, le. 8.8.
— 7) Hesse, Beiträge zur Mechanik der Herzbewegung, Archiv f. Anat. 1880,
8. 347 ff.
Die Aufrichtung des Herzens. 833
Loeb und Magnus!) bei ähnlichen Versuchen an künstlich durchbluteten
Herzen zu ähnlichen Resultaten.)
Rothberger?) hat die Form des normalen toten Herzens untersucht
und gefunden, daß das Herz beim Tode sich immer in Diastole befindet, erst
die einsetzende Totenstarre führt zur Systole. Vgl. jedoch hierzu die Arbeiten
von Mosso und Pagliani®), und von Simin‘), sowie Rothbergers 5)
Antwort.
$ 87.
Die Formveränderung am lebenden Herzen.
(Graphische Registrierung.)
Fast alle Untersuchungen der Formveränderungen am lebenden Herzen
— seies durch bloße Beobachtung oder sei es durch graphische Registrierung —
sind bei eröffnetem Thorax vorgenommen worden und haben deshalb nur
einen bedingten Wert, weil nur das systolische Herz eine bestimmte Form
hat, das erschlaffte Herz aber als ein fast formloser Sack sich annähernd
jeder Unterlage anpaßt und dementsprechend seine Gestalt ändert. Während
des Lebens im geschlossenen
Thorax wird es also eine 8
ganz andere Form haben als
bei den Experimenten. Die
Konstatierung dieser Tatsache
ist eigentlich das Wesent-
lichste, was bei diesen Ver-
Fig. 82.
suchen herausgekommen, die - Z 4
daher auch nur kurz erwähnt a b
. Pr D Die Kontraktion des herausgeschnittenen Froschherzens
werden sollen. Ausführlichere RER NR
Literaturangaben bei Tiger- Punktiert: das erschlaffte Herz; ausgezogen: das Herz in Systole.
stedt, Lehrbuch, S. 68 ff.
Denn die Art der Formveränderung hängt wesentlich von Nebenumständen
ab. Sehr gut läßt sich dies beim blutleeren, herausgeschnittenen Frosch-
herzen demonstrieren. Legt man es mit der Basis auf den Tisch, so nimmt
es die in Fig. 82a punktiert gezeichnete, tropfenförmige Gestalt an, bei der
Systole verlängert es sich dann in der Richtung der Herzachse. Legt man
das Herz jedoch mit der Ventrikelwand auf den Tisch, wie Fig. 82b zeigt, so
verkürzt es sich bei der Systole. Wenn das beim durchbluteten Herzen in
situ auch nicht so auffallend ist, so verhindert dieser Umstand doch wirklich
fruchtbare Beobachtungen, zu denen man den Thorax eröffnen muß.
Die Methoden sind, kurz zusammengestellt, folgende:
') O0. Loeb u. R. Magnus, Die Form der Kammerhöhlen des systolischen
und diastolischen Herzens. Archiv f. exper. Pathol. 50, 11, 1903. — ?) 0. J.
Rothberger, Über die postmortalen Formveränderungen ‚des Herzens. Pflügers
Arch. 99, 385, 1903. — °) A. Mosso u. L. Pagliani, Über die postmortalen
Formveränderungen des Herzens. Arch. f. d. ges. Physiol. 101, 191, 1904. —
*) A. H. Simin, Über die Totenstarre des Herzmuskels (Physiol. Labor. in Tomsk).
Centralbl. f. Physiol. 18, 89, 1904. — °) C. J. Rothberger, Zur Frage der
postmortalen Formveränderungen des Herzens. Archiv f. d. ges. Physiol. 104, 402
— 420, 1904.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 53
834 Methoden zur Bestimmung
1. Die messende Beobachtung [Ludwig 18481), s. unten].
2. Das Aufsetzen von Fühlhebeln auf verschiedene Stellen des Herzens
(v. Frey, s. folg. Seite).
3. Die Suspensionsmethode von Gaskell (1882?) und Engelmann
(18923). Hierbei bleibt das Herz entweder im eröffneten Thorax in situ oder
es wird herausgeschnitten und mit seiner Basis auf einer Unterlage befestigt.
An der Herzspitze oder einem anderen Teil des Herzens wird ein kleines Häkchen
befestigt, das mittels eines Fadens seine Bewegung auf einen leichten zweiarmigen
Hebel überträgt. Diese Methode, die äußerst bequem ist und ausgezeichnete
Resultate liefert, wenn es sich darum handelt, die Funktion des Herzens zu
untersuchen (Größe und Frequenz der Systolen, Reizbarkeit und Leitungs-
fähigkeit des Herzens usw.), ist naturgemäß wenig geeignet, um die normale
Formveränderung kennen zu lernen, weil hierbei zwar alle Kräfte, welche
am Herzen überhaupt wirksam werden, zur Verzeichnung gelangen, aber
niemals in der ursprünglichen Richtung, sondern transformiert in Kräfte,
welche in der Richtung des am Herzen befestigten Fadens liegen.
4. Die photographischen, kinematographischen und röntgeno-
logischen Methoden (s. auf folg. Seite).
5. Die von Jung (1836) eingeführte Methode der Ken (von
Schiff’), Moleschott®) und Haycraft verwendet (s. 8.835 u. 836).
Auf einfachste Weise und nur durch Beobachtung hat Ludwig!) die
Formveränderung festzustellen gesucht und dabei doch schon das Wichtigste
beschreiben können. Er hat mittels einer angelegten Millimeterskala die
einzelnen Durchmesser des Herzens während der Systole und Diastole ge-
messen. Er fand bei einer Katze, die mit eröffnetem Thorax auf dem
Rücken lag, daß unter diesen Umständen bei der Systole der dorsoventrale
Durchmesser zunimmt, der Querdurchmesser und der Längsdurchmesser da-
gegen abnehmen, also entsprechend der Fig. 82b.
Beim künstlich aufrecht gestellten Herzen entsprachen die Befunde
durchaus der Fig. 82a.
Ähnliche Versuche sind dann noch vielfach angestellt, wobei man nach
dem Vorgange Ludwigs die Beobachtung durch graphische Selbstregistrierung
ersetzte, z. B. indem man an zwei Punkten des Herzens die beiden Branchen
einer langen Zange einhakte, deren Abstand dann auf einer Kymographion-
trommel verzeichnet wurde. In ähnlicher Weise sind auch die jüngsten der-
artigen Untersuchungen von Rehfisch ”) Alle diese Versuche haben
kaum etwas wesentlich Neues ergeben.
Das Herz verkürzt sich also mindestens in zweien seiner Durchmesser.
Trotzdem meint man, was fast alle Beobachter seit Harvey erstaunt hat,
daß man überall, wo man das Herz berührt, bei der Systole einen Stoß
empfindet. Daß dies widersinnig sei, hebt schon Tigerstedt®) hervor.
!) Ludwig, Zeitschr. f. rat. Med. 7, 207, 1848. — ?) Gaskell, Philosoph.
Transact. III, 993, 1882. — °®) Engelmann, Beobachtungen und Versuche am
suspendierten Herzen, Pflügers Arch. 52, 397, 1892. — *) Jung, Ber. d. naturf.
Gesellsch. in Basel 2, 19, 1836. — ®) Schiff, Arch. f. physiol. Heilk. 8, 147, 1849. —
°) Moleschott, Untersuchungen zur Naturlehre des Menschen und der Tiere 8,
603, 1862. — 7) Rehfisch, Die Amplitude der Herzkontraktionen, Arch. f. (Anat.
u.) Physiol. 1908, S. 1. — °) Tigerstedt, Lehrbuch S8. 109.
der Formveränderung des Herzens. 835
Sieht man aber die Fig. 82 an, so wird die Beobachtung erklärlich, denn
es dürfte in der Tat schwer sein, ein auf einer Unterlage liegendes Herz —
besonders wenn diese Unterlage, wie im Körper, eine Mulde bildet — so zu
berühren, daß sich das Herz an der betreffenden Stelle ohne weiteres zurück-
zieht. Selbst der in Fig. 82 gezeichnete Finger erhält einen Stoß, weil der
betreffende Herzteil sich nicht nur seitlich zurückzieht, sondern auch hebt.
Die genauere Untersuchung der Formveränderung des Herzens hat man
meistens mittels sogenannter Fühlhebel vorgenommen. Ein leichtes Stäbchen,
das unten eine kleine Pelotte trägt, wird mit dieser senkrecht auf eine be-
liebige Stelle des Herzens aufgesetzt. Die Bewegungen dieser Stelle werden
dann von einem Hebel, der mit dem anderen Ende des Stäbchens verbunden
ist, aufgeschrieben. Die genauesten Untersuchungen stammen wohl von
v. Frey!), den wir allein erwähnen wollen. Er setzte Fühlhebel an den
verschiedensten Stellen des Herzens auf und konstatierte, daß sich während
der Erschlaffung das Herz abflacht und seiner Unterlage anschmiegt. Da-
‘durch werden die Seitenpartien des diastolischen Herzens scheinbar dicker.
Während der Systole richtet sich dagegen die Mitte des Herzens auf.
Durch die obigen Überlegungen erledigen sich auch, wie ich glaube,
die Kontroversen zwischen Ludwig und Roy und Adami?) einerseits und
Hesse3) andererseits. Die Befunde von Hesse, die an einem heraus-
geschnittenen, freihängenden, mit Gips gefüllten bzw. umhüllten Hundeherzen
gewonnen sind, sind eben auf das im geschlossenen Thorax befindliche Herz
noch weniger übertragbar, als die wenigstens an in situ befindlichen Herzen
gewonnenen. Die alte Ludwigsche Ansicht von der Verkürzung des Herzens
in der Systole dürfte daher richtig sein. In gewissem Sinne gilt dies nun
auch für die neueren Untersuchungen, bei denen man bei geöffnetem Thorax
die Herzbewegungen maß. Haycraft*) hat sich hierzu einer eigenartigen
Vorrichtung bedient, die er „Kardioskop“ nannte. Meist aber hat man Photo-
graphie angewendet. Mittels photographischer [vgl. Thompson) und
Zoth6)] und vor allem mittels kinematographischer Methoden haben Braun”),
Onimus®) und Frangois Franck?) die Bewegungen des freigelegten Herzens
zu studieren versucht. Von diesen Arbeiten dürften die Resultate Brauns
(vgl. hierzu $ 71, S. 804) am einwandfreisten sein.
Endlich hat man versucht, bei geschlossenem Thorax die Herzbewegungen
zu registrieren. So hat Haycraft!?) zu dem Zwecke mit einer schon von
Jung 1836 angegebenen Methode an Hunden und Katzen gearbeitet; er stach
durch die Thoraxwand lange Nadeln in das Herz, die dann als zweiarmige
!) v. Frey, Die Untersuchung des Pulses, S. 108—109. — *) Roy u. Adami,
Heart beat and pulse-wave, The Practitioner 1, 82, 1890, ausführliches Referat von
Hürthle in Zentralbl. f. Physiol. 4, 584. — °) Hesse, Arch. f. Anat. u. Physiol., anat.
Abt., 8. 328, 1880. — *) Haycraft, The mouvements of the heart within the chest ca-
vity and the cardiogramm. Journ. of physiol. 12, 438, 1891. — °) Thompson,
Scientific. American, Suppl., 2. Okt. 1886. — °) O. Zoth, Zwei Methoden zur
photographischen Untersuchung der Herzbewegung von Kaltblütern. (Aus einer
Festsehr. f. A. Rollett. Jena, Fischer, 1893. — 7) Braun, Über Herzbewegungen.
und Herzstoß. Jena, Fischer, 1898. — ®) Onimus, Photographie des mouvements
du coeur. Compt. rend. de la Soc. de Biol. 1901. — °) Frangois Franck, La
chronophotographie du coeur. Ebenda. — '°) Haycraft, l.c. Journ. of Physiol.
12, 452—455.
53*
836 Der Spitzenstoß.
Hebel mit dem Drehpunkt in der Durchstichstelle im Thorax wirkten. Hier-
mit konnte er konstatieren, daß die Spitze den unbeweglichsten Punkt des
Herzens bildet und daß die Basis bei jeder Systole herabsteigt, daß mithin
das Herz bei der Kontraktion unter normalen Verhältnissen sich verkürzt.
Auch eine Verkürzung des sagittalen sowie des Querdurchmessers konnte er
feststellen. Haycraft und Patterson!) betonen ganz besonders energisch,
wie verschieden die Kontraktionen bei geäftneiem: und bei geschlossenem
Thorax seien.
Neuerdings hat man auch versucht, die Herzbewegungen im geschlossenen
Thorax mit Hilfe der Röntgenstrahlen zu untersuchen; über diese Methoden,
die — abgesehen davon, daß man langsam eintretende Volumschwankungen
konstatieren konnte — zu einwandfreien Resultaten nicht führten, vgl. die
Arbeiten von Variot und Chicotot?), Bouchard?°), Guillemont®) und
Zuntz und Schumburg°), sowie die diagnostischen Zwecken dienenden
Untersuchungen von Moritz.
S 88.
Der Spitzenstoß.
(Vgl. auch $ 26 c.)
Der Spitzenstoß ist, wie allgemein angegeben wird [vgl. z. B. Sahlis®)
Untersuchungsmethoden 99, 318], normalerweise im fünften Intercostalraum
etwas median von der Mamillarlinie- auf einer Fläche von etwa 2qcm wahr-
nehmbar. Doch ist von Mariannini und Namias”’) behauptet worden,
daß der Spitzenstoß, besonders bei Frauen, häufiger im vierten Intercostal-
raum liegt (genaueres darüber siehe in den Lehrbüchern der Diagnostik).
Die topographischen Anatomen geben auch heute noch den fünften Inter-
costalraum als die Lage der Herzspitze an [vgl. z. B. Corning?)].
Daß es wirklich die Herzspitze ist, geht aus Versuchen von Rollet
hervor, der nach Tigerstedt (Lehrbuch S.110) bei sterbenden Menschen,
an der äußeren Brustwand den Ort des Herzstoßes markierte und dann nach
dem Tode an dieser Stelle eine Nadel einstach, die bei der Sektion tatsäch-
lich in der Herzspitze gefunden wurde. Demgegenüber macht Henle°)
darauf aufmerksam, daß der Spitzenstoß näher der Mittellinie gefühlt werde,
als die Spitze anatomisch gefunden werde, die zudem regelmäßig von der
linken Lunge bedeckt sei. Außerdem treffe eine, bei lebenden Tieren an der
Stelle des Spitzenstoßes eingestochene Nadel stets die freie Wand der rechten
!) J. B. Haycraft und D. R. Patterson, The changes in shape and in
position of the heart during the cardiae cycle, Journ. of phys. 19, 496—506, 1890.
— ?) @. Variot u. @. Chicotot, Une methode de mensuration de l’air du coeur
par la radiographie. Comptes rendus de l’acad. d. science. 126, 1892, 1898. —
®) Ch. Bouchard, L’ampliation de l’oreillette droite du coeur pendant l’inspiration,
d&montree par la radioscopie. Comptes rendus de l’acad. d. seienc. 126, 310—311;
12%, 295—297, 1898. — *) H. Guillemont, Radiographie du coeur et de l’aorte
aux differentes phases de la revolution cardiaque. Comptes rendus de l’acad. d.
seienc. 129, 177. — °) Zuntz u. Schumburg, Über physiologische Versuche mit
Hilfe der Röntgenstrahlen, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1896, 8. 125. — °) Sahli,
Lehrbuch der klinischen Untersuchungsmethoden, Leipzig und Wien, Deuticke, 1899,
2. Aufl. — 7) Mariannini und Namias, Arch. Ital. de Biol. 4, et 1883. —
®) Corning, Lehrb. d. topograph. Anat., Wiesbaden 1907, 8. 265. — °) Henle,
Eingeweidelehre, Braunschweig 1871, 8. 392.
N
Falsche Theorien. 837
Kammer, ein Einwand, den Merkel!) vom topographisch anatomischen
Standpunkt nicht für widerlegt hält. Auch v. Frey?) bezweifelt, daß beim
Menschen immer die Herzspitze den Spitzenstoß hervorruft, während Hürthle°)
„typische“ und „atypische“ Kardiogramme unterscheidet und nur in letzteren
eine Entstellung durch die registrierenden Instrumente sieht.
Über den Spitzenstoß existiert vielleicht deshalb eine so große und zum
Teil überflüssige Literatur, weil derselbe der sinnfälligste und am leichtesten
zu studierende Ausdruck der Herzbewegung ist, und weil andererseits sein
Zustandekommen nur möglich ist, so lange der Thorax geschlossen ist, so
daß man ihn doch niemals wirklich beobachten kann, womit dann allen vagen
Spekulationen Tür und Tor geöffnet ist (vgl. z.B. die Kritik von Martius®).
Im folgenden sollen nur die wichtigsten Theorien des Herzstoßes er-
wähnt werden.
1. Die Rückstoßtheorie.
Beim Hinaustreiben des Blutes in die großen Gefäße soll das Herz einen
Bewegungsantrieb nach der entgegengesetzten Seite, also gegen die Thorax-
wand und nach unten hin erhalten, ähnlich wie die Flinte beim Abfeuern
des Schusses zurückschlägt. Diese, von Skoda (1847 5) begründete Theorie
ist besonders von Feuerbach) als „eine Studie auf dem Gebiet der
Mechanik“ scheinbar sehr exakt durchgeführt und erfreute sich deshalb auch
großer Beliebtheit.
2. Die Dehnungstheorie.
Die großen Gefäße sollen durch das einströmende Blut ausgedehnt
werden. Da sie, ihrer anatomischen Lagerung nach, sich weder nach oben
noch nach der Seite ausdehnen können, so müßten sie sich nach unten aus-
dehnen und dabei auch das Herz nach unten drücken. Auch die sich füllen-
den Vorhöfe sollen dieselbe Wirkung haben. Diese schon von Senac (17497)
aufgestellte Theorie wurde besonders von Aufrecht®) vertreten.
Auch die
3. Streckungstheorie
von Kornitzer (1857 °) machte viel von sich reden; wenn im Innern einer
gekrümmten Röhre der Druck erhöht wird, dann streckt sich die Röhre
(Prinzip des Bourdonschen Manometers). Wenn also das Blut in die ge-
krümmten großen Gefäße (Aorta und Pulmonalis) einströmte, so sollten auch
diese sich strecken und dadurch das Herz naturgemäß abwärts drücken.
4. Die diastolische Theorie.
Danach soll der Herzstoß auf der plötzlichen Erweiterung beruhen,
welche die Kammern in der Praesystole erfahren.
!) Merkel, Handbuch d. topograph. Anat. 2, 347, Braunschweig 1899. —
2) v. Frey, Die Untersuchung des Pulses 8.111. Berlin 1892. — °) Hürthle,
Beiträge zur Hämodynamik I, Pflügers Arch. 49, 94, 1891. — *) Martius, Graphische
Untersuchungen über Herzbewegung, Zeitschr. f. klin. Med. 13, 327, 1888. —
®) Skoda, Abhandlungen über Perkussion und Auskultation, 2. Aufl., Wien 1847,
8. 147. — °) Feuerbach, Die Bewegung und das Achsensystem des Herzens, Pflügers
Arch. 14, 131, 1877. — 7) Senac, Traite de la structure du coeur, Paris 1749,
p- 356. — °®) Aufrecht, Deutsch. Arch. f. klin. Med., Nr. 19, 1877, 8.580. —
°) Kornitzer, Sitzungsber. d. Akad. Wien, math.-naturw. Kl., 24, 120, 1857; 25,
1, 1857.
838 Die Zeit des Spitzenstoßes.
All diese Theorien — obgleich sie meistens von Praktikern ausgingen
— zeigen das Merkmal der theoretischen Konstruktion. Alles, was da gesagt
ist, ist richtig; die in Frage gezogenen Kräfte existieren und ihre Wirkungs-
weise ist die von der Theorie verlangte. Allerdings kennen wir nicht die
Größe der Wirkung, die unmerklich sein mag, und von anderen Kräften,
welche die betreffende Theorie gerade nicht berücksichtigt hat, paralysiert
werden könnte.
Man kann in der Natur eben nur sehr selten, in der Biologie aber fast
nie etwas berechnen und konstruieren, sondern man muß beobachten, und
die einfachste Beobachtung zeigt, daß alle diese angezogenen Gründe nicht
das Wesentliche des Spitzenstoßes sein können, weil derselbe früher statt-
findet, ehe die genannten Kräfte wirksam sein können, denn man fühlt ihn
bereits zu einer Zeit, in der das Blut den Ventrikel noch gar nicht verlassen
hat, nämlich bei Beginn der Ventrikelkontraktion; dann aber dauert
es noch eine gewisse Zeit, ehe der Druck im Ventrikel so groß geworden ist,
daß er die Semilunaıklappen zu öffnen vermag.
Die Tatsache, daß der Spitzenstoß etwa '/,, Sek. vor Öffnung der Semi-
lunarklappen beginnt, wurde besonders von Martius betont und ist sicher-
gestellt:
1. Durch gleichzeitige Verzeichnung des Spitzenstoßes und der Vor-
kammer bei einem Menschen mit Ectopia cordis von Frangois Franck!); der
Spitzenstoß erfolgt sofort nach der maximalen Füllung der Vorkammern.
2. Durch gleichzeitige Registrierung des Spitzenstoßes. und der Druck-
schwankungen im Ventrikel bei Tieren (beide beginnen genau gleichzeitig)
Chauveau und Marey?).
3. Durch gleichzeitige Registrierung des Spitzenstoßes und der Herztöne
von Edgren?) beim Menschen (beide erfolgen genau gleichzeitig).
4. Durch gleichzeitige Registrierung des Spitzenstoßes und des Pulses
beim Menschen von Edgren?); der Puls tritt etwas, 0,12 Sek., später auf.
Von diesen Befunden sind naturgemäß die Konstatierungen von Chauveau
und Marey die exaktesten, die anderen sind dafür am Menschen gewonnen.
Durch diese zeitlichen Bestimmungen wird auch gleichzeitig die dia-
stolische Theorie des Spitzenstoßes widerlegt, denn zu der Zeit, in der das
Blut in den Ventrikel vom Vorhof aus einströmt, merkt man noch nichts
vom Spitzenstoß.
Wer aber jemals ein lebendes Herz frei schlagen gesehen, oder es gar
in die Hand genommen, der wird von vornherein nur schwer sich vorstellen
können, daß der durch die Brustwand gespürte Spitzenstoß etwas anderes
sein könne, als jener energische Stoß, den man bei jeder Systole verspürt
(vgl. oben S.833f.). Dort sahen wir, daß ein auf dem Tisch liegendes Herz
sich unter allen Umständen aufrichtet, also seinen hauptsächlichsten Stoß
immer senkrecht nach oben ausführt. Nun ist zwar allerdings der Spitzen-
stoß gegen die Brustwand im allgemeinen im Liegen sehr viel deutlicher
fühlbar als beim Stehen, was zweifellos mit dem Gesagten zusammenhängt.
!) Francois Franck, Un cas d’ectopie congenitale du coeur chez une femme
de 24 ans, Traveaux du lab. de Marey 3, 311 bis 327, 1877. — ?) Chauveau u.
Marey, ibid.1, 25, 1875. — ?) Edgren, Kardiographische und sphygmographische
Studien, Skand. Arch. f. Physiol. 1, 88f., 1889.
Die Ventile des Herzens. 839
Daß wir aber auch beim stehenden Menschen einen Spitzenstoß fühlen,
rührt daher, daß im Thorax nicht wie im freiliegenden Herzen die Schwer-
kraft das einzig Bestimmende ist; hier kann sich eine derartige Form-
änderung nicht in derselben Weise geltend machen, da das Herz immer den
durch die Umgebung bedingten Grenzen anliegen muß, und weil die Lage
des systolischen Herzens außerdem nicht allein durch die Unterlage, sondern
vielmehr noch durch die Stelle bestimmt ist, an der es angewachsen ist, das
ist aber die Stelle des Eintritts der großen Gefäße und diese treten an das
menschliche Herz von hinten bzw. von oben heran. Eine derartige Fläche,
welche etwa parallel der Richtung der oberen Brustwirbelsäule laufen dürfte,
ersetzt also in gewissem Sinne die Unterlage in dem angeführten Frosch-
experiment. Von dieser Fläche hängt das schlaffe, ruhende Herz wie ein Sack
herab, und senkrecht zu dieser Fläche muß sich das systolische Herz stellen.
Es ist klar, daß dabei die Herzspitze gegen die Wand des Brustkastens klopft.
All die anderen genannten Umstände, werden sich vorher oder nachher
auch geltend machen und eventuell die mannigfachen Zacken des Kardiogramms
bedingen. Allerdings ist der Versuch einer Analyse bis jetzt nicht gemacht.
Die Methoden zur Aufzeichnung des Spitzenstoßes sind im $ 26c ge-
schildert. Über ihre Mangelhaftigkeit vgl. z. B. das Urteil von F redericq!),
der zum mindesten die innere Kardiographie empfiehlt.
Zehntes Kapitel.
Klappen und Herztöne.
$ 89.
Die Ventile des Herzens.
Ebenso nötig zum Verständnis der Herztätigkeit wie die Kenntnis der
Anordnung der treibenden Masse der Muskelfasern, ist eine Kenntnis
der hemmenden Einrichtungen, der Klappen oder Ventile, denn sie
allein bewirken, daß das Blut nur in einer Richtung strömt. Ohne sie würde
jede Kontraktion des Herzens das Blut nach beiden Seiten gleichmäßig in
die Gefäße treiben, und es könnte niemals zu einer kontinuierlichen Strömung
kommen.
Es ist nicht notwendig, daß dieser Verschluß durch Klappen hergestellt wird.
Er kann auch durch eine weitgehende Kontraktion der zirkulierten Gefäßmuskulatur
hergestellt werden. Die Arbeit, welche hierbei auf den Verschluß verwendet wird,
kommt dabei der Vorwärtsbewegung des Blutes nicht zugute. Ein derartiger
Mechanismus, der sich bei vielen Wirbellosen befindet, arbeitet daher unökonomischer
als ein mit Klappen versehenes Herz (vgl. auch im $ 2 das über das Tunicatenherz
Gesagte s. 8. 666).
Eine Anschauung von der Wirkungsweise der Klappen erhalten wir an
der Hand des folgenden Schemas (vgl. hierzu auch $ 85).
Nach dem Stadium IV strömt Blut in den Vorhof unter dem Druck, der
in den Venen herrscht. Sobald der Druck im Ventrikel infelge der Erschlaf-
!) L. Fredericg, Sur la signification du trac& du choc du coeur, Bull. de
l’acad&mie de med. de Belg. 1894, p. 34; vgl. auch Centralbl.f. Physiol.7, 764, 1894.
840 Die Wirkung der Klappen.
fung desselben kleiner wird, als im Vorhofe, öffnen sich die Cuspidalklappen,
und es strömt Blut in den Ventrikel. Stadium I (Füllung oder Influx).
Da der Ventrikel sich schnell erweitert, ist es nötig, daß eine größere Menge
Blut vorhanden ist, um ihn sofort ausfüllen zu können. Dazu dienen die Reser-
voire der Vorhöfe, die sich infolge ihrer Kontraktion schnell entleeren können.
Dies dauert so lange, bis der Ventrikel sich zusammenzuziehen beginnt.
Fast sofort wird dann der Druck im Ventrikel größer als im Vorhofe, und es
kommt zum Cuspidalklappenschluß. Nunmehr sind alle Klappen geschlossen.
Stadium II (Anspannungszeit oder Tension).
Diese Anspannungszeit ist dadurch bedingt, daß in der Aorta der Druck zwar
gesunken ist, aber doch nur weniger als im Ventrikel während der Ruhe, weil nicht
genügend Blut in die peripheren Gefäße abfließen kann. Während der Anspannungs-
zeit erreicht der Druck im Ventrikel den in der Aorta.
Fig. 83.
I II III IV
Influx Tension Eitlux Detension
Füllung Anspannung Austreibung Entspannung
EN N
: Die vier vorkommenden Fälle von Klappenstellung.
—> bezeichnet Strömen der Flüssigkeit,
<—> Stillstand der Flüssigkeit (weil überall gleicher Druck herrscht),
+—> Stillstand der Flüssigkeit (weil die Klappe durch den Überdruck geschlossen).
Stadium II und IV ist im ersten Moment dargestellt, in dem die Klappen
ohne Überdruck geschlossen sind.
Dies dauert so lange, bis der Druck im Ventrikel größer wird als in der
Aorta bzw. Pulmonalis. Dann öffnen sich die Semilunarklappen und das Blut
strömt in die Gefäße. Stadium III (Austreibungszeit oder Efflux).
Infolge dieses Ausströmens steigt nunmehr auch der Druck in der Aorta, wenn
auch weniger als im Ventrikel, da ja eine größere Menge Blut in die peripheren
Gefäße abfließen kann.
Dies dauert so lange, bis einerseits der Druck in der Aorta so hoch
gestiegen ist, und andererseits der Druck in dem Ventrikel durch die be-
ginnende Erschlaffung so niedrig geworden ist, daß von neuem der Druck in
der Aorta größer ist als im Ventrikel. Dann schließen sich die Semilunar-
klappen, und wiederum haben wir einen Zustand, in dem alle Klappen ge-
schlossen sind —= Stadium IV (Entspannungszeit oder Detensio).
Während aber in dem in dieser Beziehung gleichartigen Stadium der Tension
der Druck stieg, so daß die Folge die Eröffnung der Semilunarklappen war, sinkt
Jetzt der Druck in der Kammer, so daß die Folge die Eröffnung der Cuspidalklappen
ist, und damit beginnt wieder das Stadium I.
Die topographische Anordnung aller vier Klappen zeigt besser als eine
Beschreibung die schematische Fig. 84. In der Erklärung zu der Abbildung
ist auch das Nötigste über die Nomenklatur gesagt.
Sind die Klappen frei bewegliche Ventile? 841
In der obigen schematischen Übersicht haben wir es immer als selbst-
verständlich angenommen, daß die Klappen beim leichtesten Überdruck ge-
öffnet bzw. geschlossen werden. Das ist nun an sich nicht notwendig. Das
Sicherheitsventil bei einer Dampfmaschine ist z. B. so konstruiert, daß das Ventil
in seiner geschlossenen Lage durch eine bedeutende Kraft festgehalten wird,
Fig. 84.
vorn
Pulmonalis
Aorta
links rechts
Mitralis Tricuspidalis
hinten
Schema der vier Herzklappen.
Hinten liegen die Eintrittsöffnungen (venöse Ostien) mit den Cuspidalklappen (Segelventile), vorn liegen
die Austrittsöffnungen (arterielle Ostien) mit den Semilunarklappen (Taschenventile). Die einzelnen
Klappen werden als vordere, hintere, rechte, linke oder mittlere Segel — oder Taschenklappe bezeichnet.
Die Buchstaben in der Figur (a — anterior, p = posterior, s = sinister, d — dexter, m — medialis)
deuten dies an. Die Cuspis anterior tricuspid. nennt man auch Konussegel, die Cuspis medialis
trieuspid. nennt man auch Scheidewandsegel. Schraffiert eingezeichnet ist die ungefähre Position der
- hauptsächlichsten Papillarmuskeln. \
die erst durch einen ebenso großen Innendruck überwunden sein muß, ehe
das Ventil sich öffnen kann. Es ist nun die Frage, ob derartige Einrich-
tungen, durch welche die Klappen — sei es in geöffneter, sei es in geschlossener
Lage — festgehalten werden, auch im Herzen existieren. Auf diese verhältnis-
mäßig einfache Frage laufen im Grunde alle die Untersuchungen hinaus, die
über den Mechanismus des Klappenschlusses angestellt sind.
$ 90.
Die Semilunarklappen.
Die Semilunar- oder Taschenklappen sitzen zu je dreien an den arteriellen
Ostien. Sie bilden taschenförmige Falten, die mit einem konvexen Rande an
der Arterienwand angeheftet sind, während der andere in halbgeöffnetem Zu-
stande nahezu gerade Rand frei gegen das Lumen des Gefäßes sieht. In der
Mitte dieses Randes befindet sich eine fibröse Verdickung (Nodulus Arantü).
Gegen diese Noduli, dienach Ewald!) gezähnt sind und durch deren Ineinander-
greifen der Verschluß wesentlich gefestigt werden soll, strahlen Verstärkungs-
züge von dem festgewachsenen Rande und lassen nur ein halbkreisförmiges
!) J. R. Ewald, Die Funktion der Noduli Arantii, Berliner klin. Wochenschr.
1905, Nr. 44a.
842 - Die Semilunarklappen.
Feld frei, die Lunula. Über jeder Klappe befindet sich eine Ausbuchtung
der Arterie (sinus Valsalvae). Vie drei Sinus bedingen eine Ausbuchtung der
gesamten Arterie, die sich auch noch weiter nach oben fortsetzt (bulbus
arteriosus), vgl. die entsprechenden Verhältnisse in der beigefügten Fig. 85.
Das aus dem Ventrikel ausströmende Blut nimmt die Klappen mit.
Wären sie vollkommen frei beweglich, so würden sie sich an die Arterien-
wand anlegen, und wenn dies ganz glatt geschähe, dann fände das rück-
strömende, Blut keine Möglichkeit, hinter die Klappen zu gelangen und die
Klappen wieder zurückzuschlagen. Dies Anlegen an die Arterienwand wird
nun schon durch die Ausbildung der Sinus Valsalvae unmöglich gemacht, aber
wenn das Zurückschlagen nur durch
das rückströmende Blut hervorgebracht
würde, dann müßte eben eine gewisse
Menge Blut jedesmal in die Kammer
zurückfließen, ehe dadurch die Klappen
geschlossen wären. Diese alte, auf
Galen zurückführende Vorstellung hat
denn auch heute noeh ihre Vertreter,
nur bemühte man sich, nachzuweisen,
daß bierbei die regurgitierende Blut-
menge nur minimal ist [vgl. Weber'),
Sandborg?) und Collier?)].
Sollen sich aber die Klappen
schließen, ehe ein Tropfen Blut zurück-
fließt — und das Experiment zeigt, daß
kein Tropfen regurgitiert, denn die
Klappen schließen sich nach Chau-
veau) gleich im Beginn der Erschlaf-
fung —, so müssen accessorische
Kräfte vorhanden sein, welche ihrerseits
die Schließung bewirken. Burdach’)
glaubte, daß dies die Formelastizität
Schematischer Längsschnitt durch die - N EV: DIE HRUBESHENE er.
Art: in welche die Klappen von selbst zu-
rücksprängen, sei eben die Stellung der
Schließung, doch ergab die Beobachtung, daß die Normalstellung der Klappen,
welche sie ohne äußere Einwirkung annehmen, die halbgeöffnete ist.
In der Wirkung eines in der Kammer entstehenden saugend wirkenden
luftverdünnten Raumes sieht Moens‘) diese Kraft. Diese Ansicht ist
nicht deshalb indiskutabel, weil ein derartiger Raum nicht entsteht, sondern
deshalb, weil seine Wirkung auf die Klappen ja doch nur durch das Blut
Fig. 85.
') E. H. Weber, Brief an Hamernjk, Vierteljahrsschr. f. prakt. Heilkunde
20, 106, Prag 1848. — *) Sandborg und Worm-Müller, Pflügers Arch. 22,
415 bis 436, 1880. — °) Collier, On the physiology of the vascular system,
London 1889, p. 20. — *) Chauveau, Sur le moment de l’occlusion et de l’ouver-
ture des valvules sigmoides, Arch. ital. de Biol.12, 48, 1894; vgl. auch Compt. rend.
de l’Acad. 118, 686, 1894. — °) Burdach, Ber. d. deutsch. anat. Anstalt zu
Königsberg 3, 27, Leipzig 1820. — °) Moens, Der erste Wellengipfel in dem ab-
steigenden Schenkel der Pulskurve, Pflügers Arch. 20, 517, 1879,
Ceradinis Theorie des Klappenschlusses. - 843
vermittelt werden könnte. Eine derartige Annahme kann also niemals das
erklären, was erklärt werden soll, die Nichtregurgitation.
Ceradini (1871!) machte nun auf die im Blute entstehenden Wirbel
aufmerksam als eine mögliche Quelle der Schließungskräfte und belegte
im folgenden Jahre in einer Monographie über den Mechanismus der halb-
mondförmigen Klappen seine Meinung mit guten Gründen, zu deren Gunsten
er treffliche Beobachtungen ausführte. Die folgenden Ausführungen sind zwar
etwas modifiziert, gehen aber im wesentlichen auf Ceradini zurück.
In einer strömenden Flüssigkeit ist der Druck nicht an allen Stellen
derselbe Er kann es ja auch nicht sein, sonst würde die Flüssigkeit nicht
strömen. Ist die Strömungsbahn nun nicht gerade, sondern weist sie Ver-
engerungen und. Erweiterungen oder auch nur Biegungen auf, so ist die
Druckverteilung eine sehr komplizierte, und es entsteht infolgedessen das,
was man gemeinhin Wirbel nennt.
Die Druckverteilung ist nun, wenn das Blut durch die enge Spalte des
arteriellen Ostiums (s. Fig. 86) strömt, derartig, daß der Druck an den Stellen,
die mit einem Doppelpfeil bezeichnet sind, größer
ist als an den Stellen, die mit einem einfachen
Pfeil bezeichnet sind.
Demzufolge wird der Wirbelblutstrom selbst
das Bestreben haben, die Klappen zu schließen.
So lange, als noch im Ventrikel gedrückt wird,
wird jedesmal bei dem Versuch, die Klappen zu
schließen und der dadurch bedingten Verkleinerung
der Öffnung, der gesamte Druck in der Aorta ab-
nehmen, im Ventrikel aber steigen, eben weil
dann weniger Blut hineinfließen kann.
So wird es zu einer um die Gleichgewichts- en a ns
lage hin- und herschwingenden Bewegung der stark verengerten Röhre.
Klappen kommen. Wenn aber der Druck im -
Ventrikel nachläßt, dann fällt das offenhaltende Moment fort und der letzte
sich in die Aorta bewegende Blutstrom schließt die Klappe. Sinkt der
Blutdruck nun nicht weiter im Ventrikel, so kann diese nur durch dynamische
(d.h. auf Bewegung beruhende) Kräfte zustande gekommene Schließung nicht
aufrecht erhalten werden, und es kommt wieder zur Öffnung der Klappen.
Alle diese Vorgänge konnte Ceradini mit Hilfe des Rüdingerschen
Herzspekulums (d. i. ein breiter, mit einer Glasplatte verschlossener Metall-
ring, der in ein arterielles Ostium des herausgeschnittenen Herzens ein-
gebunden wird und die direkte Inspektion gestattet) auch wirklich am Herzen
verifizieren. Er konnte nämlich zeigen:
1. daß der Gleichgewichtszustand der Klappen, in den sie vermöge ihrer
Formelastizität zurückzukehren bestrebt sind, der halbgeöffnete (bzw. halb-
geschlossene) ist,
2. daß eine völlige Öffnung auch während des Ausströmens aus dem
Ventrikel nicht statt hat, und daß hierbei die freien Ränder der Klappen
deutlich vibrieren,
Fig. 86.
2y 6; Ceradini, Il mecanismo delle valvole semilunare delle cuore, Gaz.
med. ital. Lombarda, Milano 1871.
344 Selbststeuerung des Herzens.
3. daß die Klappen im Moment des Aufhörens der Strömung sich
schließen, um sich sofort wieder zu öffnen, falls kein dauernder BratIdEhER
Überdruck in der Aorta entsteht).
Zu ähnlichen Schlußfolgerungen ist auch Krehl gekommen, der ebenfalls
eine frühzeitige Schließung durch Wirbelströme annimmt. Mai?) hat diese
Wirbelströme an durchsichtigen Modellen sichtbar gemacht und ebenfalls
diese Auffassung bestätigen können.
8 91.
Die Selbststeuerung des Herzens.
(Vgl. hierzu auch $ 15.)
Eine oft diskutierte Frage, die innig mit der Bewegung der Semilunar-
klappen zusammenhängt, und die wir deshalb hier wenigstens erwähnen
wollen, ist die von der Selbststeuerung des Herzens. Schon -Thebesius
(17163) hatte behauptet, daß die zurückgeschlagenen Semilunarklappen die
Mündungen der Kranzarterien verschließen.
Brücke) wies dann darauf hin, daß demnach die eigenen Gefäße des
llerzens nur während der Diastole Blut erhielten. Das in das Herzgewebe
einströmende Blut sollte die Diastole begünstigen, das Fehlen einer Zirkulation
aber die Systole (vgl. hierzu auch $ 100 c).
Die außerordentlich rege Polemik über diesen Punkt (siehe Literatur
bei Tigerstedt) ist zum großen Teil überflüssig, da bereits im Jahre des
Erscheinens der Brückeschen Schrift die Kontroverse so vollständig vom
anatomischen Standpunkt durch Hyrtl?) erledigt wurde, daß man sie als end-
gültig aus der Welt geschafft ansehen kann: Ein Verschluß der Arterien-
mündung kann durch die Aortaklappen niemals bewirkt werden.
Etwas anderes ist es, ob etwa bei der Systole des Herzens aus änderen
Gründen die Zirkulation in den Kranzgefäßen aufgehoben wird. Dies ist in
der Tat der Fall, und insofern hat Brücke Recht behalten. Rebatel®),
der unter Chauveau arbeitete, und später Martin und Sedgwich’) konnten
zeigen, daß in der Tat infolge der starken Kontraktion die Gefäße zusammen-
gepreßt werden. Dabei steigt der Druck, die Bewegung des Blutes in den
Kranzgefäßen wird erschwert, es bleibt stehen oder bewegt sich selbst rück-
wärts. Auch Talianzew®), der den Kreislauf an peripheren Ästen der
Kranzarterien direkt manometrisch bestimmte, sah sehr große Blutdruck-
schwankungen.
!) Dieser letzte Satz ist bei Ceradini etwas anders formuliert, ich habe
diese Fassung gewählt, weil hierbei nicht die bei Ceradini vorhandene Beziehung
auf die aktive Diastole mit ins Spiel kommt. — *) Mai, Ein Beitrag zum Mechanis-
mus der Aortenklappen, Zeitschr. f. klin. Med. 58 (Heft 5/6), 1906. — ?) Thebesius,
Dissertatio medica de circulo sanguinis in corde, Leyden 1716. — *) Brücke,
Der Verschluß der Kranzschlagadern durch die Aortenklappen, Sitzungsber. d.
Akad. Wien, 17. Dez. 1854 und 1855. — °) Hyrtl, Über die Selbststeuerung des
Herzens, Wien 1855. — °) Rebatel, Recherches experimentales sur la eirculation
dans les arteres coronaires, These de Paris. — 7’) Martin und Sedgwich, Mean
pressure and the characters of the pulse-wave in the coronary arteries of the
heart, Journ. of physiol. 3, 165, 1872, 1882. — ®) A. J. Talianzew, Zur Frage
über den Kreislauf in den Kranzarterien des Herzens, Med. Rundschau 45, 506
(russisch), 1896.
u
Die Größe der venösen Ostien. 845
Allen diesen Beobachtungen gegenüber weist Porter!) darauf hin, daß
im Gegenteil jede Kontraktion durch Druck auf die Koronargefäße den Blut-
ausfluß befördert; die aus seinem Laboratorium hervorgegangene Arbeit von
Ida Hyde?) ergänzt diese Angaben dahin, daß bei Herzen (es wurden Katzen
verwendet), die durch erhöhten Innendruck ausgedehnt sind, der Blutstrom
abnimmt, und zwar ist diese Verminderung stärker am pulsierenden Herzen
als am schlagenden.
$ 92.
Die Atrioventrikularklappen.
Die Form der einzelnen Segel der Tricuspidalis und Bieuspidalis geht
mit einer für den Physiologen genügenden Deutlichkeit aus der Fig. 84 auf.
S. 841 hervor. Entsprechend dem größeren Druck, den sie auszuhalten hat, ist
die Mitralis kräftiger und solider gebaut. In der Figur sind auch die ungefähren
Positionen der Papillarmuskeln und ihre ungefähre relative Größe angegeben.
Genaueres mag in den Handbüchern der Anatomie nachgelesen werden.
Physiologische Bedeutung haben diese anatomischen — übrigens recht inkon-
stanten — Verhältnisse nicht. Am konstantesten sind noch die beiden kräf-
tigen Papillarmuskeln des linken Herzens. Erwähnt mag werden, daß im
allgemeinen, wie ja auch aus der Figur hervorgeht, die Muskeln so angeordnet
sind, daß sie zwischen zwei Segeln stehen. Ihre Sehnenfäden inserieren dem-
entsprechend an den Rändern der beiden benachbarten Klappen. Es ist nicht zu
verkennen, daß diese Verhältnisse zu einem guten, sicheren Schluß der Klappen
beitragen müssen. Und zwar inserieren diese Sehnenfäden nicht nur an dem
freien Rande der Klappen, sondern auch auf deren unterer Fläche Es
scheint deutlich, daß diese Anordnung den Sinn hat, zu verhüten, daß
die großen Cuspidalsegel sich ausbauchen; hierüber dürften alle
Untersucher einig sein, welche Rolle sie auch sonst den Papillarmuskeln zu-
schreiben. Daß hier derartige hemimende Einrichtungen vorhanden sind,
die bei den Semilunarklappen fehlen, hat seinen Grund einmal darin, daß
die venösen Ostien einen größeren Druck auszuhalten haben, doch ist
dieser Unterschied nur gering. Vornehmlich aber ist die Unterstützungs-
bedürftigkeit in der Größe der Segel begründet und damit auch genügend
erklärt. Daß aber die venösen Ostien größer) sind als die arteriellen, darf
uns nicht wundernehmen, wenn wir bedenken, daß das Blut in die Aorta
unter einem ganz bedeutenden Überdruck gepreßt wird, der den Widerstand
einer kleinen Öffnung leicht besiegt; daß aber der Einfluß in den Ventrikel
unter einem verhältnismäßig sehr geringen Überdruck erfolgt. Deshalb
müssen die Tore weit sein, denn anderenfalls würde ein großer Teil des
Blutes den dann bequemeren Weg rückwärts in die Venen binein wählen,
was auch geschehen würde, wenn etwa zur Überwindung einer engen Öffnung
ı) W. T. Porter, The influence of the heart-beat on the flow of blood
through the wall of the heart (Physiol. Labor. Harvard School, Boston), Amer.
Journ. of physiol. 1, 145—163, 1898. — *) Ida H.Hyde, The effect of the ventricle
on the flow of blood through the walls of the heart (Physiol. Labor. Harvard
School, Boston), Amer. Journ. of physiol. 1, 215—224, 1889. — *) Dieser Größen-
unterschied wird besonders deutlich, wenn wir uns erinnern, daß nach den Unter-
suchungen Ceradinis die Semilunarklappen niemals ganz geöffnet sind.
846 Die Klappenmuskulatur.
ein höherer Druck hergestellt würde. Dann wären neue Klappen rückwärts
an den Venen nötig gewesen. Aber diesen eventuell auch möglichen Weg
ist die Natur nicht gegangen, und ihr Weg bedingt weite Ostien und daher
auch kompliziertere Hemmungseinrichtungen als sie an den arteriellen Ostien
erforderlich sind.
Aber neben den Sehnenfäden, welche sie mit den offenbar nur für den
Klappendienst bestimmten Papillarmuskeln verbinden, besitzen die Klappen
eigene Muskeln. Nachdem sie schon früher Reid!) an Tieren gefunden hatte,
zeigte Kürschner?), daß auch beim Menschen zahlreiche Muskelfasern
des Vorhofes zu der oberen Fläche der Klappensegel herabsteigen. Paladino 3)
beschrieb dann Muskelfasern, die von der unteren Fläche der Klappen sich
in die Ventrikelmuskulatur verlieren. Da Oehl?®) auch Fasern fand, welche
in den stärkeren Sehnenfäden der Mitralis verliefen, so war die Beziehung
der Klappen zu allen möglichen Muskelsystemen nachgewiesen. Sehr ein-
gehend hat sich mit diesen Gebilden, die vielfach inzwischen geleugnet
worden sind [siehe die Literatur darüber bei Albrecht), S. 60 bis 70],
Albrecht beschäftigt, der das konstante Vorkommen all der erwähnten
Muskelzüge, bei allen Cuspidalklappen auch beim Menschen bestätigt. Als
die wichtigsten unter diesen Fasern sieht er die vom Atrium kommenden an,
die er nicht, wie die übrigen Untersucher, für zufällige Metastasen oder für.
Residuen früherer Bildungen hält, sondern in denen er eine selbständige
Differenzierung sieht, die eine ganz bestimmte physiologische Funktion haben
(s. unten). Albrecht beschreibt dann weiter die Beziehung der vom Atrium
kommenden Muskulatur mit den basalen Chorden (es sind das diejenigen
Sehnenfäden, welche dicht am angewachsenen Rande der Klappe inserieren
und nicht freie Fäden bilden, sondern eigentliche Verstärkungsbänder des
Endocards darstellen). Andererseits aber ist eine Verbindung der basalen
Chorden mit der Kammermuskulatur bekannt, und somit war der Weg zu
einer Verbindung der beiden Muskelsysteme gegeben, doch sind wir auf diese
Verhältnisse ja schon an anderer Stelle (s.$ 76 auf 3. 810 ff.) bei der Besprechung
der innersten Muskelschicht des Herzens näher eingegangen. Nach der dort
vorgetragenen Ansicht haben diese Muskelfasern, wenigstens zum Teil, keinen
mechanischen Zweck, sondern sie dienen wesentlich nur als Verbindungsfasern
zwischen Vorhof und Ventrikeln. Wie wichtig allerdings vitale Muskel-
kontraktionen bzw. Tonuserscheinungen für den präzisen Klappenschluß sind,
geht deutlich aus der Arbeit von Fuchs‘) hervor, der gezeigt hat, daß
ein vollkommen normales Herz unmittelbar nach dem Tode eine Insuffizienz
seiner beiden Atrioventrikularklappen aufweist.
Doch wie schließen sich diese Klappen? Es ist klar, daß diese Bu
sehr viel schwieriger zu beantworten ist, als bei den Semilunarklappen. Diese
sind einfache bindegewebige Gebilde, und wenn deren Form und Elastizität
!) Reid, Artikel: Heart in Todds Cyclopaedia of Anat. and Physiol., London
1839. — *) Kürschner, Frorieps neue Notizen Nr. 316, Juli 1840. — °) Paladino,
Contribuzione all’ anatomia, istologia e fisiologia del euore, Napoli 1876. — *) Oehl,
Mem. della acad. della scienze di Torino 20 (1861). — °) Albrecht, Der Herz-
muskel usw., Berlin, Springer 1903, 8.74. — °) R.F. Fuchs, Über Totenstarre am
Herzen, Herztonus und funktionelle muskuläre Insuffizienz der Atrioventrikular-
klappen, Zeitschr. f. Heilkunde 21 (1900).
Aktive Beteiligung von Muskeln beim Klappenschluß. 847
genügend bekannt wäre, dann könnte man zur Not ihren Mechanismus
ableiten; auf alle Fälle kann man ihn beobachten, da ein derartiges System
sich mit genügender Annäherung ebenso bewegen wird, ob das lebende
Blut von der Kammer durch dasselbe hindurchgeworfen wird, oder ob
man mit einem Gummiball Kochsalzlösung hindurchpreßt. Es läßt sich also
experimentell verhältnismäßig leicht behandeln. An den Atrioventrikular-
klappen aber inserieren die Papillarmuskeln und auch die Klappen
selbst sind von Muskeln durchzogen. Sie brauchen sich also nicht rein passiv
gemäß den Druckverhältnissen zu bewegen; um eine Vorstellung von ihrer
wirklichen Tätigkeit zu bekommen, müßten wir vor allem wissen, ob die
Papillarmuskeln sich früher, gleichzeitig oder später, als das übrige Herz
zusammenziehen; solange wir das nicht wissen, und auf S. 820 ist auseinander-
gesetzt, daß wir es noch nicht genau wissen, können naturgemäß alle unsere
Betrachtungen über die Funktion der Papillarmuskeln, ohne welche der
Klappenmechanismus nicht zu erklären ist, nur einen sehr hypothetischen
Wert besitzen.
Hierzu kommt dann noch die eventuelle Bedeutung der Klappen-
muskulatur. Diese Fasern vermitteln offenbar, wenigstens teilweise, die
Leitung. Vielleicht haben sie nebenbei einen mechanischen Zweck. Es ist
ja leicht verständlich, daß die Entdecker dieser Muskelfäserchen ihnen eine
bedeutsame Wirkung zuschrieben, wenn auch nicht alle so weit gingen, wie
Paladino!), der den ganzen Klappenschluß ausschließlich eine Wirkung der
Klappenmuskeln sein läßt. Mehr Berechtigung haben die Ausführungen
Albrechts?), der annimmt, daß die gedachten Muskeln dazu da sind, während
der beginnenden Systole die Sehnenfäden unter den verschiedenen Bedingungen
der Systole und Diastole immer straff zu spannen, jedoch hat auch er keinen
zwingenden Beweis dafür erbracht, daß die Tatsachen wirklich dieser annehm-
baren Vermutung entsprechen. Joseph?) dagegen nimmt an, daß die
Klappenmuskulatur während der Einströmungszeit die Segel gleichsam gegen
den Rand hin zusammenreffe, „gleich einem Vorhang, der mittels eines Zuges
an mehreren durch ihn gezogenen Fäden zusammengeschnurrt werden kann“.
Es wurde schon mehrfach erwähnt, daß das Vorteilhafte der Herzklappen
gerade darin liegt, daß dieselben sich rein passiv und automatisch schließen
und daher keine Muskelkraft nötig haben. So ist es denn nur natürlich,
daß man anfangs geneigt war, die Schließung als rein passiven Vorgang auf-
zufassen. Diese Auffassung geht schon auf Lower (1722*) zurück und blieb
während des ganzen 18. Jahrhunderts die herrschende. Erst im Anfang des
19. Jahrhunderts begann man nach dem Vorgang von Meckel’), Burdach‘),
Parchappe”’) eine aktive Beteiligung der Papillarmuskeln an der
Schließung der Atrioventrikularklappen zu diskutieren. Kürschner‘®) nimmt
sogar an, daß die Papillarmuskeln nicht nur bei der Klappenschließung mit-
wirken, sondern, daß ihre Kontraktion auch zur Entleerung des Ventrikels bei
trägt. Diese Theorie war um die Mitte des vorigen Jahrhunderts allgemein ver-
1) Paladino, 1. e. 8.127. — ?) Albrecht, 1. ce. 8.79. — .°) Joseph,
Physiologie der Herzklappen, Virchows Arch. 18 (1860). — ‘) Lower, Tractatus
de corde, Leiden 1722, p.42. — °) Meckel, Handbuch der menschl. Anatomie 3,
23, 1817. — °) Burdach, vid.p. 842, l.c. 8.45. — ’) Parchappe, Du ceur, Paris
1848. — ®) Kürschner, l. c. 1841.
848 Die Herztöne.
breitet — unter anderen soll auch E. H. Weber nach Luciani!) (Physiologie
des Menschen 1, 149) Anhänger derselben gewesen sein, doch konnte ich
eine derartige Stelle nicht finden — und findet auch heute noch Anhänger.
Karl Schmid jun.?) hat z.B. noch vor wenigen Jahren (im wesentlichen auf
Grund theoretischer Erwägungen) eine ähnliche Meinung ausgesprochen;
nach ihm ziehen die Papillarmuskeln die Segelventile in den Ventrikelinnen-
raum hinein, befördern dabei das Blut aus der Vorkammer in die Kammer
und üben auf diese Weise eine Saugwirkung aus.
Wir können die mannigfachen Arbeiten und Ansichten von Krehl,
Baumgarten?), Sandborg und Worm-Müllert), Chauveau und Faivre°),
Hesse®), Rüdinger’”) und vielen anderen, weniger wichtigen, die alle in etwas
verschiedener Weise den Mechanismus des Klappenschlusses beschreiben, nicht
einzeln diskutieren, und möchten nur das Gesamtresultat der mannigfachen
Untersuchungen an Krehlanknüpfend dahin zusammenfassen, daß der Schluß
der Segelventileim wesentlichen passiv erfolgt, wobei den Papillar-
muskeln nur die sekundäre Aufgabe zufällt, die Segel zu stützen
undein Hineinschlagen in den Vorhof zu verhüten; die mechanische
Wirkung der eigentlichen Klappenmuskulatur ist noch unklar.
Die zweite Frage, ob ähnlich, wie bei den Semilunarklappen, Kräfte
existieren, welche den Klappenschluß derartig frühzeitig bewerkstelligen, daß
ein Regurgitieren von Blut nicht eintritt, läßt sich, dem komplizierteren Bau
dieser Gebilde entsprechend, vorläufig nicht mit Sicherheit entscheiden.
Luciani und Krehl®) bejahen die Frage und nehmen auch hier das Vor-
handensein eines ähnlichen Mechanismus an, wie ihn Ceradini für die Semi-
lunarklappen nachgewiesen hat.
$ 98.
Die Herztöne.
(Vgl. $ 27.)
Die Herztöne waren schon im Altertum bekannt, erlangten aber erst
größere Wichtigkeit, als Laönnec°) im Anfange des 19. Jahrhunderts auf
ihre Bedeutung für die Diagnose von Herzkrankheiten hinwies. Im wesent-
lichen blieb dann das Interesse ein klinisches und pathologisches. Was die
normale Physiologie zu eruieren hätte, wäre die genaue Bestimmung des
Momentes, in dem sie ertönen, und die Eruierung der Ursachen,
welche sie bedingen.
In bezug auf beide Fragen ist sehr viel gearbeitet, ohne zu entscheidenden
Resultaten zu gelangen, was daher rühren dürfte, daß die Forscher bisher aus-
schließlich auf die ‘Verwertung subjektiver Gehörseindrücke angewiesen waren.
!) Luciani, Physiol. des Menschen 1, 149, 1905. — °?) K. Schmid jun.,
Herzkammersystole und Venenblutströmung, Pflügers Arch. 97, 181ff., 1903. —
®) Baumgarten, Über den Mechanismus, durch welchen die venösen Herzklappen
geschlossen werden, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1893, 8. 663. — *) Sandborg und
Worm-Müller, Studien über den Mechanismus des Herzens, Pflügers Arch. 22,
408, 1880. — °) Chauveau u. Faivre, Gaz. medic. de Paris 1856, p. 410. —
°) Hesse, Beiträge zur Mechanik der Herzbewegung, Arch. f. Anat. (u. Physiol.)
1880, 8.328. — 7) Rüdinger, Ein Beitrag zur Mechanik der Aorten und Herz-
klappen, Erlangen 1857, 8.14. — ®) Krehl, Die Mechanik der Tricuspidalklappe,
Arch. £. (Anat. u.) Physiol. 1889, 8.289. — °) Laönnec, Del’Auscultation 2, 210 ff.,
Paris 1819.
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Die Ursachen der Herztöne. .849
Erst die im $ 27 geschilderten Methoden zur graphischen Registrierung der Herz-
töne werden vielleicht imstande sein, sicherere Resultate zu schaffen. Bis jetzt liegt
allerdings außer der Beschreibung der Methodik nur die Angabe von Einthoven
vor, der einen dritten Herzton beschreibt. Bei dieser Sachlage erscheint ein ge-
naueres Eingehen auf die Frage verfrüht. Genauere Angaben findet man in den
Lehrbüchern der Diägnostik, vgl. auch die Zusammenstellung von Gillet!).
Der erste Herzton scheint während des ersten Teiles der Kammer-
systole gehört zu werden und etwas verschieden lange anzudauern.
Der zweite Herzton wird etwa in dem Moment gehört, in dem die
Semilunarklappen wieder geschlossen werden (vgl. jedoch Boccei und Mos-
cucci?), die beide Töne beträchtlich früher ansetzen.
Die Ursachen für die Herztöne können sein, abgesehen von dem von
Magendie?) angenommenen „Klopfen des Herzens an die Brustwand“:
1. Vitale Vorgänge, Muskelgeräusche (da jeder Muskel bei der Kon-
traktion einen Ton gibt).
Aus den zeitlichen Verhältnissen geht hervor, daß die Systole der Vorhöfe
nicht gehört werden kann und daß der Muskelton der Ventrikel nur beim Zu-
standekommen des ersten Tones eine Rolle spielen könnte.
2. Rein mechanisch bedingte Vorgänge, Klappenschwingungen bzw.
Schwingungen im Blute.
Aus den zeitlichen Verhältnissen geht hervor, daß der Schluß der Cuspidal-
klappen bzw. die Eröffnung der Semilunarklappen bei der Entstehung des ersten
Tones, der Schluß der Semilunarklappen bei der Entstehung des zweiten Tones eine
Rolle spielen könnte.
Aus sehr vielfachen älteren Versuchen geht nun unzweifelhaft hervor, daß
der erste Ton auch dann gehört wird, wenn eine Bewegung. der
Klappen unmöglich gemacht wird [das Londoner Komitee (1836 ‘)],
Ludwig und Dogiel’), Krehl®), Kasem Bek’) u. a.
Andererseits konnten viele Untersucher feststellen, daß bei einer Behin-
derung der Klappenbewegung der erste Herzton anders als normal
klingt, LondonerKomitee*), Bayer°), Giese’), Wintrich'’), Haycraft")u.a.
Aus diesen Untersuchungen scheint hervorzugehen, daß der erste
Herzton im wesentlichen ein Muskelton ist, der durch mecha-
nische Schwingungen der Klappen bzw. des Blutes modifiziert ist.
Talma'?) trat dafür ein, daß es im wesentlichen Flüssigkeitsschwingungen
sind, Geigel'?*) will umgekehrt die Ursache im wesentlichen in Transversalsch win-
gungen der Herzwände bzw. der Klappen sehen,
!) H. Gillet, Rythmes des bruits du coeur 16, Paris, Rueff 1894. — ?) B.Bocei
e A. Moscuceci, Le curve della pressione ventriculare del cuore, i cardiogrammi
e Paudizione dei toni del cuore nel loro contemporaneo rilievo sperimentale (Physiol.
Congr.), Arch. ital. d. biologie 36, 156, 1901. — ?) Magendie, The Lancet 1, 638
u. 666, 1835. — *) Londoner Komitee (Williams, Todd und Clendinning),
Report of the British Association 6, 265, 1836. — °) Ludwig und Dogiel, Verh.
d. sächs. Ges. d. Wiss., math.-phys. Kl. 1868, S. 96. — °) Krehl, Über den Herz-
muskelton, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 1889, 8.253. — 7”) Kasem Bek, Über die
Entstehung des ersten Herztones, Pflügers Arch. 47, 56, 1890. — °*) Bayer, Arch.
der Heilkunde 10, 1, 1869. — °) Giese, Deutsche Klinik 1871, 8. 393. —
%) Wintrich, Sitzungsber. d. physik.-med. Soc. in Erlangen 7, 51, 1875. —
ı) Haycraft, Journ. of Physiol. 11, 486, 1890. — '?) Talma, Pflügers Arch. 23,
275, 1880. — ") R. Geigel, Entstehung und Zahl der normalen Herztöne, Arch.
f. path. Anat. 141, 1 bis 28; Die Entstehung der Geräusche in Herz und Gefäßen,
ebenda 140, 385 bis 395; Beitrag zur physikalischen Erklärung funktioneller Herz-
geräusche, Münch. med. Wochenschr. 1896, Nr. 15.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. j 54
850 Accessorische Kräfte zur Blutbewegung
Der Öffnung der Semilunarklappen schreiben vor allem Cruveilhier'),
Ceradini?) und Sandborg°) einen wesentliehen Einfluß auf den ersten Herzton zu.
Daß der zweite Herzton mehr oder weniger verschwindet, wenn man
die Bewegungen der Semilunarklappen verhindert, haben — seitdem es das
Londoner und Dubliner Komitee der British Association 19) festgestellt —
auch alle späteren Untersucher konstatieren können.
Der zweite Herzton dürfte daher mit ziemlicher Sicherheit als
ein reiner Klappenton aufgefaßt werden, wobei als gleichgültig an-
gesehen wird, ob die Klappen direkt oder die damit im Zusammenhange
stehenden Blutwirbel den Ton erzeugen.
Über die Theorie der Herztöne, vor allem des ersten Tones, vgl. auch noch
die neueren Arbeiten von Rossolimost), Quain5), Inchley®), Trautwein?).
Daß Einthoven mit Hilfe der Registrierung durch das Saitengalvano-
meter einen dritten Herzton gefunden haben will, wurde schon in $ 27 erwähnt.
Elftes Kapitel.
Accessorische Herzen.
8 94.
Wir haben gesehen, daß das Blut im Körper umgetrieben wird durch
den Druck, welcher, es bei jeder Systole des Herzens von neuem vorwärts
drückt. Diese Kraftquelle genügt; curarisierte Tiere, denen der Thorax er-
öffnet ist, haben einen suffizienten Kreislauf, aber es kann nicht bezweifelt
werden, daß dabei das Herz mehr Arbeit zu leisten hat als unter normalen
Verhältnissen, wenn gewisse Hilfskräfte, die auch ihrerseits eine Bewegung
des Blutes in der Richtung des Blutstromes bewirken, das Herz unterstützen.
Eine solche Bewegung kann nur zustande kommen durch eine ab-
wechselnde Erweiterung und Verengerung von Gefäßen, denn jeder irgendwie
dauernde Zustand der Gefäßwandungen würde notwendigerweise sehr bald
zu einem stationären Zustand führen, niemals aber zu einer kontinuierlichen
Bewegung des Inhalts. Aus diesem Grunde kann auch der negative
Druck im Thorax an sich keine Blutbewegung hervorrufen (vgl. je-
doch 8. 853).
Weiter ist klar, daß ein Transport in irgend einer - Riehtung nur dort
zustande kommen Ka wo Ventile in der Nähe sind. Eine Kontraktion in
einer kleinen Arterie z. B. hat ebensowobhl die Tendenz, das Blut nach rück-
wärts zu treiben, wie nach vorwärts. Daß es zu keiner eigentlichen Rück-
wärtsbewegung kommt, liegt daran, daß die Vis a tergo eben größer ist, als
!) Cruveilhier, Gazette med. de Paris 1841, p. 499. — °) Ceradini,
Der Mechanismus der halbmondförmigen Klappen, Leipzig 1872, 8.60. — ?) Sand-
borg, Resume des etudes sur les bruits du coeur, Christiania 1881, p. 8. —
*) Sp. Rossolimos, Recherches experimentales et nouvelles considerations de
hemodynamique sur la physiologie du coeur, Athen 1903, p.39, Separatabdruck.
— °) R. Quain, On the mecanism by which the first sound of the heart is pro-
duced, Proc. Roy Soc. 61, 331—343, 1897. — °) O. Inchley, On the causation of
the first sound of the heart, Barthol. Hosp. Rep. 38, 91—98. — 7) J. Trautwein,
Über den Zusammenhang der sekundären Pulswellen mit dem Herzstoß und den
beiden Herztönen, Arch. f. d. ges. Physiol. 104, 293 bis 315, Tafel 2.
sind nur an den Venen möglich. 851
die von der Gefäßkontraktion ausgelöste Kraft. Es kommt also nur zu einer
Verlangsamung, zu einer Störung des Blutstroms an dieser Stelle. Anders
bei den Venen. Hier sind Klappen vorhanden, und wenn diese nach den
neueren Untersuchungen von Carrel und Guthrie!) auch dem Rückstrom
keinen unüberwindlichen Widerstand entgegenzusetzen scheinen, so dürften
die Venenklappen doch für normale Verhältnisse suffizient sein. Wird also
die Venenwand zusammengedrückt, so wird das Blut in den Venen nur in
der Richtung gegen das Herz getrieben, während es bei einem Nachlassen des
Druckes oder bei einem Auseinanderziehen der Venenwand im wesentlichen
von der Peripherie herbeiströmen wird, da sich beim Beginn einer Rück-
strömung vom Herzen her sofort die nächste Venenklappe schließen würde.
Wir sehen also, Verengerungen und Erweiterungen im Arteriensystem dienen
der Blutverteilung im Körper. Verengerungen und Erweiterungen im Venen-
system dienen der Blutbewegung im ganzen, der Rückbeförderung des Blutes
zum Herzen.
Wir werden es hier also, wo es sich um die Hilfsherzen handelt, im
wesentlichen mit Kräften zu tun haben, die an den Venen angreifen. Im
einzelnen werden wir zu behandeln haben
. die eigentlichen Venenherzen,
die Wirkung des Dondersschen Druckes,
. Körperbewegungen,
die sogenannte aktive Diastole.
wmv +
‚8 95.
Venöse Herzen.
Nur bei dem niedersten Wirbeltiere, dem Amphioxus, der bekanntlich
kein Herz hat, kommt die Blutbewegung ausschließlich durch Gefäßkontrak-
tionen zustande; im allgemeinen ist in der Reihe der Wirbeltiere die motorische
Arbeit fast ausschließlich auf das Herz konzentriert. Nur die Venen haben
ganz ausnahmsweise diese Funktionen einer früheren Zeit bewahrt.
Alle Venen, auch die des Menschen, enthalten Muskeln und kontrahieren
sich, jedoch sind diese Kontraktionen im allgemeinen so langsam, daß sie
einen wesentlichen Beitrag zur Fortbewegung nicht bieten können, sondern
im Gegenteil nur durch Vergrößerung des Widerstandes eine venöse Stauung
hervorrufen und dann weiter dadurch, daß sie die Kapazität des ganzen
Systems ändern, einen Einfluß auf die Blutbewegung ausüben, der sich in
dieser allgemeinen Wirkung von der durch Arterienverengerung hervor-
gerufenen Kapazitätsänderung nicht unterscheidet und den wir an anderer
Stelle (vgl. $ 37) besprochen haben. Nur bei einzelnen Tieren hat man
schnell aufeinander folgende Kontraktionen der Venenwände beschrieben, die
als wirkliche Herzen angesprochen werden können; vor allen Dingen sind hier
die von Wharton Jones?) in den Venen der-Fledermausflügel entdeckten
!) A. Carrel u. E. C. C. Guthrie, La reversion de la circulation dans les
veines valvulees, Compt. rend. de la soc. de biol. 2, 518—519, 1905; De la trans-
plantation uniterminale des veines sur les arteres, p. 596—597. — ?) Wharton
Jones, Discovery that the veins of the bats wing (which are furnished with
valves) are endowed with rythmical contractility and the onward flow of blood is
accelerated by each contraction. Philosophical Transactions 1852, p. 131.
54*
852 Venenherzen und Dondersscher Druck.
Pulsationen zu erwähnen, die genauer physiologisch von Luchsinger!)
und Schiff ?2) und jüngst von Karfunkel?) untersucht worden sind. Wie
das Herz selbst, führen auch die accessorischen Herzen ihre Pulsationen un-
abhängig vom Zentralnervensystem aus, sind dagegen in hohem Grade von
dem in den Venen herrschenden Druck abhängig. Wie die Herzschläge bei
starkem arteriellen Druck zunehmen, so nimmt die Tätigkeit dieser venösen
Herzen bei starkem venösen Druck zu. In beiden Fällen handelt es sich um
eine sehr zweckmäßige funktionelle Anpassung, welche geeignet ist, die ein-,
tretende Stauung zu kompensieren. Über Venenpulsationen bei Säugetieren,
insonderheit beim Menschen, vgl. Karfunkel?°), S. 545.
$ 96.
Der Donderssche Druck.
In der Pleuralhöhle herrscht ein Druck, der geringer ist als der Alveolen-
druck, und mithin auch geringer, als der normaliter diesem annähernd gleiche
Atmosphärendruck. Dieser Unterschied zwischen Alveolen- und Pleuraldruck
rührt von der Elastizität der Lungen her und ist im übrigen nur abhängig
von der jevreiligen Gestalt und Deformation der Lunge. Er ist immer vor-
handen, sowohl bei der Inspiration, als bei der forciertesten gegen einen
äußeren Widerstand erfolgenden Expiration. In der extremsten Inspirations-
stellung beträgt er 3cm Hg, also etwa !/, des arteriellen Druckes, in der
normalen Inspirationsstellung etwa lcm und in der Expirationsstellung
mindestens noch 0,5 cm Hg.
Für die Blutbewegung (wenigstens für die des großen Kreislaufes)
kommt es jedoch nicht auf den Druckunterschied zwischen dem Druck in der
Brusthöhle und dem in den Alveolen an, sondern hierfür ist der Unterschied
zwischen dem intrapleuralen und dem Atmosphärendruck maßgebend. Wenn
man nun bei geschlossener Stimmritze Expirationsbewegungen macht, oder in
ein geschlossenes Manometer hineinatmet, so kann bekanntlich der Alveolen-
druck bis zu 25cm Hg über den Atmosphärendruck steigen; dann beträgt
also der Brusthöhlendruck je nach der Stellung der Lunge 22 bis 24,5 cm Hg
mehr als der Atmosphärendruck.
Normaler Weise jedoch kommunizieren die Luftwege frei mit der Außen-
luft, dann herrscht in der Brusthöhle immer ein Druck, der niedriger
ist als der Atmosphärendruck, und diesen Druckunterschied bezeichnet man
als negativen Druck der Brusthöhle — wir wollen ihn, weil der Ausdruck
negativer Druck sowieso nicht schön ist, als Dondersschen Druck bezeichnen,
denn Donders (1853) hat ihn zuerst gemessen.
Die Brusthöhle ist ein Raum, der teilweise von starren und teilweise von
beweglichen Wandungen eingeschlossen ist. Herrscht in einem solchen Raume
ein niedrigerer Druck als außen, so werden die nicht starren Teile der Wan-
‘) Luchsinger, Von den Venenherzen in der Flughaut der Fledermäuse,
Pflügers Arch. 26, 445 bis 458, 1881. — ?) Schiff, ebenda 26, 456. — °) Kar-
funkel, Untersuchungen über die sogenannten Venenherzen der Fledermaus, Arch.
f. (Anat. u.) Physiol. 1905, 8. 538. — *) Donders, Beiträge zum Mechanismus
der Respiration und Zirkulation im gesunden und kranken Zustande, Zeitschr. f.
rat. Med., N..F, 8. 3, 1853.
Grund der dauernden Wirkung des Dondersschen Druckes. 853
dung gemäß ihrer Biegsamkeit und gemäß dem Druckunterschiede nach innen
eingebuchtet werden, so zwar, daß beim Brustkasten die Rippen fast gar nicht,
die Rippenzwischenräume und das gespannte Zwerchfell ein wenig bewegt
werden. Zu den Außenwänden der Brusthöhle gehören nun auch die Wände
des Gefäßsystems, der Arterien, der Venen und des Herzens, wobei der Inhalt
des Gefäßsystems in bezug auf die Brusthöhle als Außenraum zu betrachten
ist. Also auch die einzelnen Gefäße werden bei einem niedrigeren Druck in
der Brusthöhle gemäß ihrer Biegsamkeit ausgebuchtet werden und darum
werden die dickwandigen, formelastischen Arterien, speziell die Aorta sehr
wenig erweitert werden, mehr schon die dünnwandigen Venen und am
stärksten die Wände der Ventrikel und vor allem der Vorhöfe
während der Erschlaffung (denn dann besitzen gerade diese Gebilde eine
außerordentlich geringe Formelastizität). Noch eins kommt hinzu. Der
Druck wirkt natürlich proportional der gedrückten Fläche ein, und da be-
kanntlich, der Gesamtquerschnitt der Thoraxarterien kleiner ist als der der
Thoraxvenen, so werden auch aus diesem Grunde die Venen verhältnismäßig
stärker auseinander gezogen. Daß bei forcierter Inspirationsanstrengung
das Herzvolum beträchtlich vergrößert wird, konnten Zuntz und Schum-
berg!) mittels Röntgendurchleuchtung direkt nachweisen.
Die Verhältnisse im kleinen Kreislauf liegen anders, jedenfalls ist soviel
sicher, daß bei offener Glottis alle Gefäße des Brustraumes unter einem ge-
ringeren Drucke stehen, als er außerhalb des Thorax herrscht. Dieser Druck-
unterschied pflanzt sich im wesentlichen auf den Inhalt des venösen Teiles
der Brusthöhle fort.
Dieser Donderssche Aspirationsdruck wirkt dauernd, auch bei fest-
gehaltenem Thorax. Wenn de Jager?) und mit ihm Tigerstedt°)
dies leugnet und sagt, eine dauernde Kraftwirkung durch eine statische
Stellung sei unmöglich, so ist dies zwar — nicht nur scheinbar, sondern
auch de facto — richtig. Doch liegen hier eben keine rein statischen Verhält-
nisse vor. Ein druckerzeugendes Wasserreservoir kann dauernd nur ein
tiefergelegenes Becken speisen, wenn dauernd nachgefüllt wird, wenn also z.B.
irgend jemand das herabgeflossene Wasser immer wieder hinauf transportiert.
So aber ist es beim Herzen: die geschilderte Verteilung des Druckes würde
bewirken, daß eine solche Menge von- Blut in die Venen des Thorax strömt,
bis der Druckunterschied ausgeglichen ist. Daß dieser stationäre Zustand,
der nach dem Tode in der Tat möglich ist, während des Lebens nicht Platz
greifen kann, rührt daher, daß bei jeder Systole wieder neues Blut in die
Arterien hinein und aus dem Thorax hinausgeworfen wird. Solange also
das Herz schlägt, wirkt der Donderssche Druck dauernd, aller-
dings mit wechselnder Stärke, bei jeder Inspiration wird er ver-
mehrt, bei jeder Expiration vermindert.
Die respiratorischen Druckschwankungen sind nach dem Gesagten leicht
zu verstehen. Doch wird das Phänomen dadurch kompliziert, daß offenbar
nicht nur mechanische Gründe diese Druckschwankungen hervorrufen, sondern
!) Zuntz und Schumburg, Über physiologische Versuche mit Hilfe der
Röntgenstrahlen, Arch. f. (Anat. u.) Physiol. 96, 550. — 2) de Jager, Welchen
Einfluß hat die Abdominalrespiration auf den arteriellen Blutdruck? Pflügers Arch.
33, 46 bis 48, 1884. — °) Tigerstedt, Lehrbuch 8. 133.
854 Cardiopneumatische Kurven.
daß teils mit der Atmung synchrone, teils sehr viel langsamer verlaufende
Druckschwankungen auf nervösem Wege hervorgerufen werden. In bezug
auf die mechanische Seite der Frage vgl. die ältere Literatur bei Tiger-
stedt (S. 139), vor allem die Arbeiten von Meyer und Knoll. Von neueren
Arbeiten erwähne ich die von Mosso!), Binet und Courtier?) und Wert-
heimer?).
Auch die einzelnen Systolen sind von Einfluß auf den Dondersschen
Druck, denn durch die Austreibung der Blutmenge wird naturgemäß der
Inhalt des Brustraumes verkleinert, die Lungen dehnen sich dementsprechend,
und gemäß dieser Lungendeformation sinkt der intrathorakale Druck, d. h.
der Donderssche Aspirationsdruck wird bei jeder Systole ver-
mehrt.
Diese pulsatorische Schwankung des Lungendruckes ist von Ernst‘)
und Bamberger?) an der Verschiebung des Lungenrandes, von Buisson®)
an der Einziehung der Brustwand, von Voit’) an der pulsatorischen Druck-
schwankung der Lungenluft beobachtet worden; die Einziehung der Brust-
wand registrierte Loven°) graphisch, die Schwankung der Lungenluft vom
Nasenloch aus Mosso°). Diese letzterwähnten sogenannten cardiopneuma-
tischen Kurven haben eine große Literatur hervorgerufen, hier kann nur dar-
auf verwiesen werden.
Diese pulsatorischen Schwankungen dürften normalerweise RE
ohne große Bedeutung sein, doch darf man nicht vergessen, daß man bei
einigen Registrierungen, z. B. bei der Registrierung des Venenpulses und bei
der Registrierung der Vorhofsbewegungen vom ÖOesophagus gerade diese
Schwankungen mit registriert und zwar wie Minkowski!V) wohl mit Recht
hervorhebt, um so stärker, eine je größere Sonde man zu diesem Zwecke ver-
wendet (s. $ 26c., 8.717).
Aber im Gegensatz zu diesen Schwankungen scheint da: Aspirations-
druck selbst ein notwendiges Accessorium für die Kreislaufbewegung zu sein,
wenigstens wird von den schwersten Zufällen berichtet, wenn man durch
forcierte Expiration bei verschlossener Glottis künstlich den Thoraxdruck
!) A. Mosso, Les oscillations interferentielles de la pression sanguine, Arch.
ital. de biol. 41, 257—270, 1904. — ?) A. A. Binet u. J. Courtier, Influence de la
respiration sur le trac& volumetrique des membres, Compt. rend. de l!’Acad. 121,
219, 1895; Dieselben, Influence de Yattitude et de la compression sur la forme
du pouls capillaire et du pouls arteriel, Compt. rend. de la soc. de biol: 1895,
p. 819. — ®) E. Wertheimer, Sur les variations de volume des membres lies ä la
respiration, Arch. de physiol. norm. et pathol. 1895, 8.753. — *) Ernst, Studien
über die Herztätigkeit, mit besonderer Berücksichtigung der an Herrn Croux’
Fissura sterni congenita gemachten Beobachtung, Virchows Arch. 9, 8. 269. —
’) Bamberger, Beiträge zur Physiologie und Pathologie des Herzens, Virchows
Arch. 9, 1856. — °) Buisson, Quelques recherches sur la eirculation, Gazette
med. de Paris 1861, p. 320. — °) Cart Voit, Über Druckschwankungen im Lungen-
raume infolge der Herzbewegungen, Zeitschrift f. Biol. 1, 390 bis 391, 1865. —
®) Loven, Nägra iakttagelser öfver njärtslagets inflytaude rm inom bröst koyen
rädande tryeset, Nord. med. ask. 2, Nr. 19, 1870. — °) Mosso, Die Diagnostik des
Pulses, Leipzig 1879, 8.42 bis 65. — ') O. Minkowski, Die Registrierung der
Herzbewegung am linken Vorhof, Deutsche med. Wochenschr. Nr. 31, 1907; Zur
Deutung von Herzarythmien mittels des oesophagealen Kardiogramms, Zeitschr. f.
klin. Med. 62, 371, 1907. ;
aa
EEE, WU
Ard ih ieen —
Die Gefährlichkeit des hohen Alveolendruckes. 855
über den der Atmosphäre hinaustreibt. Dann wird zwar in geringer, aber
überflüssiger Weise das Hineintreiben des Blutes in den Thorax erleichtert,
— denn durch die Herzsystole wird ein derartig großer Druckunterschied ge-
schaffen, daß eine Vermehrung desselben durch die Verhältnisse des Thorax-
druckes kaum etwas ausmachen kann — dagegen wird dem Venenblut bei
seiner Rückkehr zum Herzen das Eindringen in den Thorax, in welchem, wie
oben auseinandergesetzt, unter Umständen ein Druck herrscht, der den nor-
malen arteriellen Druck übersteigt, in außerordentlicher Weise erschwert, und
zwar deshalb, weil aus physikalisch sehr leicht verständlichen Gründen von
dem unter diesen Verhältnissen sehr viel bedeutenderen Aortendruck (Herz-
systolendruck plus Überschuß des Thoraxdruckes) unverhältnismäßig viel mehr
als normalerweise in den außerhalb des Thoraxraumes gelegenen Arterien
verbraucht wird; es bleibt zum Rücktransport in den Venen wenig übrig, und
um den Kreislauf aufrecht zu erhalten, müßte das Herz einen unverhältnis-
mäßig hohen Druck erzeugen, das vermag es nicht zu leisten, es kommt zur
Stauung im Körperkreislauf und angeblich zu Todesfällen: Weber!) be-
richtet von einem Oberst Townsend, der auf diese Weise sich scheintot machte;
Weber selbst wurde bei einem solchen Versuche ohnmächtig. Auch bei
Leuten, die einen großen Bissen verschluckt haben und sehr schnell ohne alle
Erstickungskrämpfe sterben, soll dies die Todesursache sein. Ebenso bei
plötzlichen Todesfällen im Gedränge, bei denen der Brustkasten zusammen-
gedrückt wird. Allerdings wäre hierbei außerdem noch ein andauernder
Glottisverschluß nötig.
8 97.
Mechanischer Druck auf die Venen
(Körperbewegungen, Massage, Arterienpuls).
Schon oben hatten wir darauf aufmerksam gemacht, daß durch Druck
auf die Venen das Blut zum Herzen getrieben wird. Dauert nun dieser Druck
weiter an, so wird der fernere Durchfluß durch die Vene gehemmt. Ununter-
brochener Druck hemmt also — abgesehen von der einen initialen Förderung
— den venösen Rückfluß, ebenso wie er den arteriellen Zufluß hemmt, nur
daß die dünnwandigeren Venen leichter zusammengedrückt werden und.
daher bei einem gleichmäßigen, mäßig starken Drucke bzw. bei einer Um-
schnürung der Extremität es immer zuerst zu einer Erschwerung des venösen
Rückflusses, damit zu einer venösen Stauung und damit eventuell zu einer
allmählichen Erweiterung der Gefäße kommt. So schreibt man ja auch häufig
genug zu engen Strumpfbändern eine Stauung im Venensystem und consecu-
tive Varicenbildung zu, ebenso wirkt der Druck des schwangeren Uterus auf
die rückfübrenden Venen des Beines.
Wird aber nun der Druck unterbrochen, so kann Blut leicht nach-
strömen, und zwar wegen der Klappen nur von der Peripherie her. Dies
Blut wird bei einem wiederum folgenden Drucke neuerdings zum Herzen ge-
worfen. Durchrhythmische Bewegungen wird daher der Venenrück-
!) Weber, Über die Anwendung der Wellenlehre auf die Lehre vom Kreis-
lauf des Blutes und insbesondere auf die Pulslehre, Ber. d. sächs. Ges. d. Wiss.,
Math.-phys. Kl., 8. 31.
856 Die günstige Wirkung von Körperbewegungen.
fluß gefördert, durch kontinuierlichen Druck wird er erschwert.
Besonders in der unteren Extremität, wo zahlreiche und suffiziente Venenklappen
vorhanden sind, ist dies der Fall. Beim Gehen setzt also der Mensch sein
accessorisches Herz in Bewegung, und das ist nicht der unwesentlichste
Vorteil körperlicher Bewegungen und insonderheit langer Wanderungen.
Den Mechanismus dieser Vorgänge hat besonders Braune!) unter-
sucht. Er findet, daß bei bestimmten Stellungen die hauptsächlichsten
Venen ganz besonders dilatiert, bei anderen Stellungen ganz besonders
verengt sind, und zwar ist das nicht etwa nur eine Folge des Muskel-
druckes, sondern auch eine Folge der Art und Weise, wie die Venen an
und zwischen den einzelnen Fascien und Bändern angeordnet sind, vor allem
zeigte Braune auch, daß eine Verlängerung der Venen fast immer mit einer
Volumvergrößerung verbunden ist. Da nun die großen Venen meist auf der
Beugeseite liegen, wird eine Streckung im allgemeinen mit Anspannung und
Volumerweiterung verbunden sein, während eine Flexion das Gegenteil, also
Volumverminderung, zur Folge hat. Auch der Einfluß aller anderen Stellungen
ist von Braune untersucht. Im allgemeinen findet er, daß das Venensystem
des Körpers in möglichst hohem Grade erschlafft ist, also einen möglichst
kleinen Raum einnimmt, wenn sich der Körper in einer Stellung befindet,
die an die Haltung des Embryo im Mutterleibe erinnert, während beim Stehen
mit gespreizten Beinen und auswärts gestellten Füßen, zurückgebogenem
Kopfe und wagerecht und möglichst weit rückwärts gehaltenen Armen die
höchste überhaupt erreichbare Spannung und demzufolge die weitgehendste
Erweiterung des Venensystems eintritt. Ebenso wie beim Gehen tritt diese
Wirkung bei allen Körperbewegungen auf. Sehr viele der im Turnunter-
richt angegebenen Freiübungen zielen wohl unbewußt darauf hin, die Stellung
des Körpers so zu verändern, daß Stadien einer möglichsten Spannung des
Venensystems mit Stadien einer möglichsten Erschlaffung abwechseln. Vor
allem dürften die von I. P. Müller?) angegebenen Freiübungen in dieser
Beziehung als zum Teil außerordentlich vollkommen bezeichnet werden. Man
könnte von diesem Gesichtspunkte aus naturgemäß alle Sports gruppieren,
doch genügt das Gesagte.
Erwähnen wollen wir nur noch, daß diese Wirkung nicht nur bei aktiven
Bewegungen, sondern auch bei passiven auftritt. Massage und Reiten wären
hier vor allem zu nennen.
Ozanam?) machte darauf aufmerksam, daß derartige intermittierende
Druckwirkungen auch von den pulsierenden Arterien auf die sie begleitenden
Satellitvenen ausgeübt werden. Daß hierdurch ebenso wie durch all die bis-
her genannten Faktoren der venöse Blutstrom gefördert werden kann, ist
richtig. Nur handelt es sich hier nicht im eigentlichen Sinne um ein accesso-
risches Herz, weil ja hier die wirkende Kraft — der wechselnde arterielle
Druck — ursprünglich ebenfalls vom Herzen ausgeht.
‘) Braune, Beiträge zur Kenntnis der Venenelastizität, Beiträge zur Anat.
u. Physiol., Festgabe für 0. Ludwig, 1874, 8. 35; Das Venensystem des mensch-
lichen Körpers, erläuternder Text, 8. 1 bis 13, 1884. — °?) I. P. Müller, Mein
System, Tilge, Kopenhagen 1904. — °) Ozanam, De la circulation veineuse par
influence, Compt. rend. de l’acad. d. sciences 93, 92, 1881.
Historie der „aktiven Diastole“. 857
$ 98.
Aspirierende Kräfte der Herzwand selbst.
(Die sogenannte aktive Diastole.)
Nicht nur durch die Vis a tergo, den Dondersschen Druck und die
eventuellen rhythmischen Druckschwankungen peripherer Venen soll die dia-
stolische Füllung zustande kommen, sondern auch durch aspirierende
Kräfte, welche in der Herzwand selbst ihren Sitz haben. Unter
dieser Rubrik fassen wir alles das zusammen, was von den verschiedensten
Seiten unter dem Begriff der aktiven Diastole vorgebracht ist. Wir geben
uns keine Mühe, eine der mannigfachen genaueren Definitionen der aktiven
Diastole zu acceptieren oder gar eine eigene aufzustellen, weil wir die ganzen
unter diesen Namen fallenden Begriffe für überflüssig halten. Eine Zusammen-
stellung hierüber siehe bei E. Ebstein!), wo sich auch weitere Literatur
findet. Im Altertum glaubte man an eine Ansaugung durch allerlei mystische
Kräfte. Dem trat im 17. Jahrhundert Harvey?) entgegen, der die An-
saugung im wesentlichen verwarf; Hales3) und Haller) im 18. Jahrhundert
folgten ihm. Im Anfange des 19. Jahrhunderts versuchte man die Notwendig-
keit des Vorhandenseins der Elastizitätsansaugung aus Gründen a priori zu
beweisen, aber Carus) erwiderte schon ganz richtig, daß es darauf an-
käme, zu beweisen, daß dieser elastische Druck wirklich ein „zureichender
Grund venöser Blutbewegung“, nicht aber, ob eine minimale An-
saugung eventuell möglich sei. -
So ist es auch heute noch. Alle Versuche, die aktive Ansaugung des
Herzens zu begründen, kommen um die einfache Tatsache nicht herum,
welche schon L. Fick) konstatiert hat, und die jeder leicht nachprüfen
kann, daß das Herz bei eröffnetem Thorax durch die Venen kein Blut
aus einem Gefäße schöpfen kann, dessen Niveau niedriger ist, als das des
Herzens. Sofort arbeitet das Herz leer, es saugt also, wenigstens unter
diesen Umständen, so gut wie gar nicht. Sehr richtig weisen auch schon
Bergmann und Leuckart im Jahre 1852 in ihrer vergleichenden Anatomie
und Physiologie darauf hin, daß die Schlaffheit der Venenwandung die Un-
wichtigkeit saugender Kräfte für die Bewegung des Venenblutes schlagend
dartue, da jeder Versuch, aus einer schlaffen Röhre zu saugen, ein Zusammen-
fallen derselben bewirken muß. Wenn trotzdem in folgendem die aktive
Diastole genauer behandelt werden wird, was allerdings unverhältnismäßig
viel Raum beanspruchen wird (wie es oft gerade mit den unbedeutendsten
Sachen der Fall ist), so geschieht das, weil vor allem in klinischen Kreisen
die aktive Diastole wieder neuerdings Freunde gewinnt.
!) Ebstein, Die Diastole des Herzens, Ergebnisse der Physiol. 3 (2), 123, 1904.
— ?) W. Harvey, Exereitatio anatomica de motu cordis et sanguinis in animalibus,
4°, Frankfurt 1628. — °®) Hales, Hämostatik, London 1733. — *) A. v. Haller,
Me&moire sur la nature sensible et irritable des parties du corps humain 1, 392.
— °) 0. G. Carus, Über den Blutlauf, inwiefern er durch Druck- und Saugkraft
des Herzens bedingt werde, J. F. Meckel, Deutsches Archiv f. Physiol. 4 (3. Heft),
Halle und Berlin 1818, S. 413 bis 428. — °) Ludwig Fick, Bemerkungen über
einige Versuche zur Erläuterung der Mechanik des Herzens, J. Müllers Arch. f.
Anat. u. Physiol. 1849, 8. 283 bis 285.
858 Scheinbare Ansaugung im Herzen.
Die Tatsachen.
Die tatsächlichen Feststellungen, die trotz des Gesagten zu der Annahme
einer aktiven Diastole verführt haben, sind
1. Die Tatsache des Venenpulses [Günther (1828')]. Dieser be-
weist Schwankungen des Druckes und da dieselben nur in den dem Thorax
näheren Venen auftreten, gewisse zeitweilige Beschleunigungen, die im Thorax
ihre Ursache haben und die man, wenn man will, als Ansaugung bezeichnen
mag (wie auch die dikrote Talwelle des Arterienpulses einer Ansaugung ent-
spricht). Eine praktische Bedeutung braucht diese Ansaugung darum nicht
zu haben. Daß sie zudem vom Herzen herrühre, ist gar nicht erwiesen.
2. Die Tatsache, daß ein frisch ausgeschnittenes, in Kochsalzlösung
gelegtes Herz sich bei jeder Diastole wirklich füllt [James
Jonson?) und Chassaignac?)] beweist in der Tat eine gewisse Ansaugung,
doch da es hierbei im wesentlichen nur die Reibung zu überwinden gilt,
ist die notwendige Kraft eine ganz minimale oder könnte es doch zum
mindesten sein. Noch weniger beweisend sind die Versuche von 1. Fick®),
der am totenstarren Herzen konstatierte, daß man mittels rhythmischen
Zusammendrückens und Wiederloslassens Blut hindurchpumpen kann, denn
daß das totenstarre Herz Formelastizität besitzt, braucht nicht bewiesen
zu werden, sondern die Frage ist zu entscheiden, ob solche den erschlafften
oder besser gesagt den erschlaffenden Ventrikeln zukommt.
3. Die schon früher behauptete, von Goltz und Gaule°) mittels
ihres Ventilmanometers aber zuerst einwandfrei festgestellte Tatsache, daß
im Innern des Herzens auch bei eröffnetem Thorax ein um
mehrere Centimeter Hg niedrigerer Druck herrscht als der Atmo-
sphärendruck. Die Tatsache des verminderten Druckes, die seitdem
‘von de Jager®), Rolleston’), von Frey und Krehl®) zum Teil mit
besseren Methoden ebenfalls nachgewiesen werden konnte, darf als sicher-
gestellt angesehen werden. Diese Feststellung ist fraglos ungemein bedeut-
sam, allerdings ist nur erwiesen, daß solch niedriger Druck an irgend einer
Stelle und in irgend einem noch so kurzen Moment vorkommt. Es ist
also fraglich, ob diese Druckschwankung nicht nur der Ausdruck lokaler
Wirbel ist, und ob er nicht so kurz dauernd ist, daß er durch keine irgendwie
‚nennenswerte Blutbewegung hervorgerufen werden kann, sondern nur die
Summation derselben durch eine Ventileinschaltung merkbare Resultate hervor-
ruft. Da nun im Versuche, wie wir oben gesehen haben, tatsächlich eine
solche Blutbewegung in den Venen nicht nachweisbar ist, sind wir gezwungen,
uns das Goltz und Gaulesche Phänomen in einer derartigen Weise zu
!) Günther bei G. Wedemeyer, Untersuchungen über den Kreislauf des
Blutes usw., Hannover 1828, 8.180. — ?) James Jonson, A. P. W. Philip, Some
observations relating to the powers of circulation ete., Medico-chirurgical trans-
actions 2 (133), 397, London 1823. — °) E. Chassaignac, Dissertation sur la
texture et le d&veloppement des organes de la circulation sanguine, Paris, 17. Juni 1836.
4) 1. c. — °) Goltz und Gaule, Über die Druckverhältnisse im Innern des
Herzens, Pflügers Arch. 17, 100 bis 120, 1878. — °) J. de Jager, Über die Saug-
kraft des Herzens, Pflügers Arch. 30, 491 bis 510, 1883. — 7) H. D. Rolleston,
Observations on the endocardical pressure Curve, Journ. of the physiol. 3, 235—262,
1887. — ®) v. Frey u.Krehl, Untersuchungen über den Puls, du Bois Arch.1890, 8. 31.
ee ee ee Ze ee
Die Stefanischen Versuche. 859
erklären. Außerdem hat schon Moens!) darauf hingewiesen, daß es
sich hierbei möglicherweise nicht um einen Zustand während der Diastole,
sondern während der Systole handelt. Ob die de Jagerschen Einwände
hiergegen berechtigt sind, bleibe dahingestellt, da die Untersuchungen von
Frey und Krehl zu beweisen scheinen, daß Moens Unrecht hat. Hiernach
scheint es im Gegenteil, als ob das Druckminimum kurz vor den Schluß der
Cuspidalklappen zu liegen kommt, und es dürfte vielleicht vermutet werden,
daß der tiefe Druck bereits mit den Klappenschlußwirbeln in Verbindung steht.
4. Die Tatsache, daß ein Froschherz bei der Diastole einen entgegen-
stehenden Druck von etwa 0,lcm Hg überwindet (Mosso und Pagliani?),
und daß ein Hundeherz selbst einen Druck von 0,2 cm Hg, im Mittel
0,13 cm Hg überwindet (Stefani®). Die Versuche von Stefani sind
in der Weise angestellt, daß mittels einer Pericardialfistel Flüssigkeit in den
Pericardialraum gepreßt und dadurch der auf dem Herzen lastende Druck
erhöht wurde. Dabei wurden allmählich die Pulse kleiner, der Aortendruck
sank und der venöse Druck stieg. In dem Moment, in dem dann die Zirku-
lation überhaupt versagte, war der Pericarddruck um durchschnittlich
0,13cm Hg höher als der venöse Druck, und diesen Druck nennt Stefani
den diastolischen Druck. Leider findet sich in der mit etwa 70 Kurven aus-
gestatteten zusammenfassenden Arbeit Stefanis keine einzige Kurve, die
gerade diese fundamentale Tatsache illustrierte, und doch wäre eine Kurve
gerade hier wünschenswert; denn da nur die Zahlen angegeben sind, bei der
die Zirkulation gerade aufhört, weiß man nicht, unter welchen Bedingungen
dies Aufhören zustande‘ kommt. Sicher ist nur, daß dies durchaus keine
normalen Bedingungen sind, und viel wichtiger als die Stefanische Angabe
wäre es, zu wissen, ob etwa der venöse Druck dauernd und eben vor allem
unter normalen Bedingungen geringer war als der pericardiale.. Aber wäre
dies selbst so, so wäre das noch kein Beweis für die Ansaugung, denn bei
einem peristaltischen Fortschreiten der Muskelwelle kann man sich sehr wohl
vorstellen, daß das Blut auch ohne Ansaugung durch das Herz getrieben
werden kann, auch wenn in der Pericardhöhle dauernd ein höherer Druck
herrscht als in den Venen. Nun ist aber gerade für den Vorhof das Vor-
handensein einer derartigen peristaltischen Kontraktion behauptet worden,
wonach sich eben zuerst die Muskulatur der venösen Einwindungsstellen
sphinkterartig kontrahiert. Außerdem hat Frangois-Franck *) darauf
hingewiesen, daß aus seinen schon im Jahre 1877 publizierten Versuchen
hervorgeht, daß die Unterdrückung der Zirkulation dann eintritt, wenn die
Vorhöfe mit ihren schlaffen Wänden vom Pericarddruck komprimiert werden,
und daß demnach hierbei die diastolische Saugwirkung gar nicht in Frage
komme. Diese Einwände widerlegen die Anschauung, als ob Stefani wirk-
Y) A. Moens, Der erste Wellengipfel in dem absteigenden Schenkel der
Pulskurve, Pflügers Arch. 20, 517 bis 533, 1879. — *?) A.Mosso e Pagliani, Critica
sperimentale della attivitä diastolica del cuore, Giorn. d. reale Acc. di med. di
Torino 39, 290, 324, 1876; Referat von J. Rosenthal im Zentralbl.f. d. med. Wiss.
1377, 8.294 bis 296. — °) Stefani, Cardiovolume pression pericardique et activite
de la diastole, Experiences du Prof. A. Stefani, Avec deux planches, Resume de
Pauteur, Arch. ital. de biol. 18, 119—155, Turin 1893. — *) Frangois-Franck,
Nouvelles recherches sur les accidents caus6s par la compression du coeur dans le
pericarde, Compt. rend. de la soc. de biol. 1897, p. 91—93.
860 Die Tatsachen der aktiven Diastole.
lich den diastolischen Druck gemessen habe, sprechen aber an sich nicht gegen
das Vorhandensein einer diastolischen Saugwirkung. Doch wie dem auch sei,
abgesehen auch von all diesen Einwänden, beweisen die Stefanischen Versuche
doch höchstens, daß sich in einem Herzen, das von außen mit einem Druck
von 2 bis 3cm Hg zusammengepreßt wird, einige elastische Spannungen ent-
wickeln, die es wieder in den ausgedehnten Zustand zurückzubringen versuchen.
Ob derartige elastische Spannungen auch dann vorhanden sind, wenn das Herz
nicht zusammengedrückt, sondern im Gegenteil durch den Dondersschen Druck
ausgedehnt wird, darüber besagen die Stefanischen Versuche gar nichts.
Der Versuch, den Luciani noch 1904!) wieder beschreibt, wonach sich
in einer horizontalen Glasröhre, die mit dem Ventrikel verbunden ist, aspira-
torische Bewegungen bemerkbar machen, beweist natürlich ebensowenig, wie
die unter Nr.1 angeführten Versuche, denn auch hier ist nur eine Kraft not-
wendig, welche imstande ist, die Reibung zu überwinden. In einer neuer-
lichen Nachprüfung konnte auch von den Velden?) weder an dem iso-
lierten noch an dem im Kreislauf schlagenden Herzen irgend eine aktive
Saugwirkung der Kammern konstatieren. ’
Auch beim Menschen wollen manche eine aktive Diastole beobachtet
haben; so hat z.B. v. Smolenski in den Kardiogrammen, welche v. Ziemssen
an dem freiliegenden Herzen der Katharina Serafin gewonnen, die Beweise
für eine aktive Diastole sehen wollen; doch ist zu berücksichtigen, daß man
über die tatsächliche Deutung derartiger Kardiogramme durchaus noch nicht
einig ist, so daß so weitgehende Schlußfolgerungen verfrüht erscheinen.
In neuerer Zeit hat die Frage nach der aktiven Saugwirkung des
Herzens auch das Interesse der Kliniker erregt [vgl. hierüber Krehl?)].
D. Gerhard*) und W. Mathes’) haben sich gegen die Annahme einer
nachweisbaren aktiven Diastole ausgesprochen, während Brauer®) sich für
eine aktive Diastole ausspricht.
8:99.
Theoretische Deutungen.
Dies ist alles, was-für die aktive Diastole bzw. die aktive Ansaugung
durch das Herz ins Feld geführt werden kann. Abgesehen von diesem
Wenigen ist der übrige Inhalt der so außerordentlich großen Literatur nur
Diskussion über diese Tatsachen, Erklärungsversuche, die wir im folgenden
kurz erwähnen wollen.
Fassen wir jedoch vorher noch einmal zusammen, was wir nach dem
Gesagten als tatsächlich festgestellt ansehen können. Neben all den anderen
Kräften, welche einen Rückfluß zum Herzen garantieren (Vis atergo, Donders-
scher Druck und accessorische Herzen), ist auch wohl eine geringe Ansaugung
der Herzwände selbst vorhanden, muß schließlich vorhanden sein, denn dem
‘) Luciani, Physiologie des Menschen, Ins Deutsche übertragen von 8. Bag-
lioni und H. Winterstein, 1. Lieferung. G. Fischer, Jena 1904. — ?) v.d.
Velden, Versuch über die Saugwirkung des Herzens, Zeitschr. f. experim. Pathol.
3, Juli 1906. — °) Krehl, Pathologische Physiologie, Leipzig 1898, 8. 6ff. —
*) D. Gerhard, Zur Lehre von der Saugkraft des Herzens, Verh. d. 23. Kongr.
f. innere Med. 1906, 8.299. — °) Mathes, Zur Lehre vom Kreislauf in der Peripherie,
Deutsch. Arch. f. klin. Med. 89, 381, 1907. — °) Brauer, Untersuchungen am
Herzen, Kongr. f. innere Med., Leipzig 1904.
Die Deutungen der aktiven Diastole. 861
diastolischen Herzen muß doch — abgesehen von allen anderen eventuellen
Gründen — eine gewisse Formelastizität zukommen, das frisch heraus-
geschnittene, erschlaffte Herz, das man (breit eröffnet) in Kochsalzlösung
wirft, nimmt, wovon man sich leicht überzeugen kann, immer eine Stellung
an, welche dem gefüllten Herzen entspricht. Also eine gewisse Formelastizität
ist vorhanden, doch ist sie minimal, unter normalen Bedingungen, wie aus
den Lucianischen Versuchen recht eigentlich hervorgeht, kann aber während
der Totenstarre [L. Fiek!)] recht bedeutend werden und auch unter er-
höhtem Außendruck [Stefani?)] merklich gesteigert werden. Ob man diese
kaum merkliche Aspiration etwa als aktive Diastole bezeichnen will, ist
schließlich Geschmacksache, aber diejenigen, welche von einer eigentlichen
aktiven Diastole sprechen, meinen damit nicht diese kaum merklichen Spuren,
sondern sie stellen sich vor, daß der wesentlichste Anteil an der Rückströmung
eben durch diese Aspiration zustande kommt. Da nun aus dem bisher Ge-
sagten deutlich hervorzugehen scheint, daß die ansaugende Kraft keine sehr
große sein kann, so dürfte es ziemlich unwichtig, vor allem auch fruchtlos
sein, zu entscheiden, welcher von den folgenden Ursachen die hauptsächlichste
Bedeutung zukommt. Alle die zu nennenden Gründe üben unzweifelhaft
eine geringe Wirkung im Sinne der Aspiration aus, da aber die Summe aller
dieser Wirkungen nur gerade an der Grenze des eben Merklichen zu stehen
scheint, braucht nicht jedesmal gesagt zu werden, daß die einzelnen Wirkungen
minimal sein müssen.
Einige ganz unmögliche Hypothesen lassen wir im folgenden fort. Vgl.
eventuell darüber Ebstein. Ebenso lassen wir alle Kritik fort, sowohl unsere
als die der Autoren — es genüge, anzugeben, daß meist jeder, der eine der
folgenden Ansichten vertritt, nachzuweisen versucht, daß die Gründe der anderen
nur schwache und kaum merkbare Wirkungen hervorrufen —, wir lassen
diese gegenseitige Kritik fort, trotzdem gerade hierin vielleicht das Wert-
vollste der einzelnen Arbeiten beruht.
Man kann nun die Einteilung nach den wirksamen Ursachen vornehmen
und kommt dabei zu folgendem Schema, wobei wir allerdings den von den
Autoren jedesmal gewünschten Grad der Aktivität (worauf Ebstein z. B.
ein Hauptgewicht zu legen scheint) nicht berücksichtigen, denn wenn einer
z. B. sagt, es sei eine passive Elastizität, und der andere, es sei eine lebendige
Elastizität, so ist das dasselbe, nur der zweite drückt sich ein wenig unklarer aus.
* Überhaupt könnte es aus der Literatur scheinen, daß der Begriff „aktiv“ ein
recht vieldeutiger ist.
5 durch Muskel- faktive Erschlaffung Expansionsdiastole
u kräfte l Wirkung v. Antagonisten Antagonistendiastole
Diastole . 2
durch fin Fasern \ aktive oder passive
elastische Kräfte lin Muskeln J Elastizitätsdiastole
durch Druck- J vis a tergo \ rein. passive Diastole
: unterschiede UDondersscher Druck S
Passive Br ENED
i Blutinjektion in die Herz-
ehe Kräft wand Erektionsdiastole
nei a Be are Zerrungen in dem sich
bewegenden Herzen mechanische Diastole
!) Fick, 1. c. — ?) Stefani, l. c.
862 Erweiternde Fasern am Herzen.
Hierbei ist der Begriff der Aktivität in der Weise gefaßt, daß darunter
diejenigen Kräfte zusammengefaßt werden, deren Entstehung auf die Ventrikel-
wand zurückgeführt werden kann, die Erektionsdiastole ist danach aber
eine passive, denn ihre Ursache liegt in dem einströmenden Blute, nicht in
der Ventrikelwand selbst.
Im folgenden soll diese systematische Einteilung nicht verwendet werden,
sondern die mannigfachen Ansichten der Autoren sollen so zusammengefaßt
werden, wie es am bequemsten ist.
a) Dilatatorische Fasern.
(Expansions- und Antagonistendiastole.)
Die älteste Ansicht ist, daß die Aspiration durch Muskelfasern erfolgt,
die so angeordnet sind, daß ihre Kontraktion eine Erweiterung des Ventrikels
bedingt. Meist werden hierfür die longitudinalen Fasern in Anspruch ge-
nommen. Galenos!) glaubte dies und Vesal?) folgte ihm hierin. Im
18. Jahrhundert versuchten Cl. Perrault®) und G E. Hambergert),
diese Lehre gegenüber der Autorität Hallers zu verteidigen. Im 19. Jahr-
‘hundert hat nur Spring’) sich glatt zu der alten Galenschen Ansicht
bekannt. Von den Franzosen wurden allerlei andere Fasern als Dila-
tatoren vorgeschlagen, von Brachet®) die „fibres rayonnantes“, von
Filhos’) die „fibres contourn6des internes“ und von Choriol®) die Spiral-
fasern des Herzens. Krehl?) und v. Frey!P) neigen mehr der Ansicht
zu, daß die Longitudinalfasern im Grunde Dilatatoren seien, nur beschreiben
sie es etwas anders, wobei sich ihre Vorstellungen mehr denen der Elastizitäts-
verfechter nähern. Gemeinsam ist beiden, daß die zirkulären Fasern des
Triebwerkzeuges die Ring- und Sphinktermuskulatur eher erschlaffen als
die longitudinalen Fasern. Dann sollen die durch die zirkulären. Schichten
vorher zusammengepreßten Longitudinalfasern auseinander springen und
dem Ventrikel dabei eine bestimmte Gestalt geben, eben deshalb, weil sie
selbst noch kontrahiert sind. Hierbei ist der Gedanke maßgebend, der ja
auch bei der Frage nach den Gefäßerweiterern wiederkehrt, daß kontrahierte
Muskelfasern, weil sie einen größeren Querschnitt haben, auch einen größeren
Querschnitt umranden müssen, ebenso wie man mit beispielsweise 20 5 Pfg.-
Stücken, von denen man eins an das andere legt, nur einen kleineren Kreis
einschließen kann, als mit 20 genau gleichartig angeordneten 10 Pfg.-Stücken.
') Galenos, Galens Werke (übersetzt von Ch. Daremberg) 1, 402ff., Paris
1854.— ?) Vesalius, Des corporis humani fabrica Venetiis 1568. — ®) C1.Perrault,
M£canique des animaux 3, 230—231. — *) G. E. Hamberger, Physiologia medica
seu de actionibus corporis humani ete., Jenae 1751, p. 54. — °) M. A. Spring,
Me&moire sur les mouvements du coeur etc. In: M&moires de l’academie royale ...
de Belgique 33, Bruxelles 1861. — °) J. L. Brachet, Sur la cause du mouvement
de dilatation du coeur, Paris (Diss.) 1813, Nr. 18, p. 18; Physiologie elementaire de
l’homme 1, 118—120, 2. Ausgabe, Lyon 1855. — 7) J.B. Filhos, Coeur, physiologie
et pathologie etc., Paris 1833, Nr. 132, p.8 u.9. — ®) Choriol, Considerations sur
la structure, les mouvements et les bruits du coeur (These), Paris 1841, Nr. 82, p. 14.
— °) L. Krehl, Beiträge zur Kenntnis der Füllung und Entleerung des Herzens,
Leipzig 1891. — '°) M. v. Frey, Die Untersuchung des Pulses und ihre Ergebnisse
in gesunden und kranken Zuständen, Berlin 1892.
Die Elastizitätsdiastole. 863
Es ist nicht daran zu zweifeln, daß dieser Mechanismus, wenn er statt hätte,
sehr angebracht wäre, doch wissen wir eben nicht, ob wirklich die Kreisfasern
früher erschlaffen als die Longitudinalfasern.
b) Die Elastizität.
(Elastizitäts- und mechanische Diastole.)
Die Elastizität spielt sicher eine gewisse Rolle, und dies dürfte auch
wohl von niemand geleugnet werden, nur darüber, wie groß diese Rolle ist,
gehen die Meinungen auseinander. Das Hauptgewicht auf die Elastizität ge-
legt hat zuerst Vieussen!), dann Hope). Am schärfsten formuliert hat diese
Ansicht Magendie?), der sagte, das Herz ist eine Druckpumpe durch
seineKontraktibilität,und eineSaugpumpe durch seineElastizität,
wobei er das hübsche Bild gebrauchte, das Herz füllt sich mit Blut, wie ein mit
einem Loch versehener zusammengepreßter Gummiball sich beim Loslassen
mit Wasser füllt. L. Fick) machte die Elastizität für seine Resultate am
leichenstarren Herzen verantwortlich. Goltz und Gaule?°) erklärten auf
diese Weise ihre Versuche und machen besonders auf die Elastizität der
Aortenwurzel aufmerksam, welche bei der Erschlaffung des Herzens sich
erweitern und dabei eine Aufrollung der an ihr befestigten Spiralfasern be-
wirken soll (?). Rollet®) macht darauf aufmerksam, daß der Verkürzung
der Schlagadern bei dem Zustandekommen der Diastole eine gewisse Be-
deutung zukommt. de Jager’) schließt sich ebenfalls der Elastizitäts-
hypothese an, und endlich wollen wir noch erwähnen, daß auch Carpenter®)
nichts anderes tut, denn daß er nebenbei die Elastizität wiederum durch
molekulare Abstoßung zu erklären sucht, ist hier ja gleichgültig. Auf
ziemlich unklaren Vorstellungen über Elastizität scheinen die Ansichten von
Bichat°®) und Bouillaud!!P) zu beruhen. Bichat meint, die Ausdehnung
sei ein vitaler Vorgang, was richtig sein mag aber doch nur dann eine Be-
deutung haben kann, wenn eben die Ausdehnung irgendwie erhebliche
Kräfte freimacht. Bouillaud spart sich überhaupt alles Nachdenken und
spricht von lebendiger Elastizität. Auf Elastizität scheinen auch die An-
sichten Rosenbachs!!) über den diastolischen Tonus hinauszulaufen. Un-
!) Vieussen, Trait& nouveau de la structure et des causes du mouvement
de coeur. Toulouse 1715. — ?) J.Hope, A treatise on the diseases of the heart and
grand vessels, London 1883, p. 2. — °) Magendie, Handbuch der Physiologie
2; nach der dritten, vermehrten und verbesserten Ausgabe aus dem Französischen
übersetzt und mit Anmerkungen und Zusätzen von C. F. Heusinger, Eisenach
1836; Phenom£nes physiques de la vie 2, Paris 1839. — *) L. Fick, Bemerkungen
über einige Versuche zur Erläuterung der Mechanik des Herzens (J. Müller,
Arch. f. Anat. u. Physiol. usw., Jahrg. 1849). — °) Goltz und Gaule, Über die
Druckverhältnisse im Innern des Herzens, Pflügers Arch. 17, 100 bis 120, 1878. —
6) Rollet in Hermanns Handbuch 5 (1872). — ?) J. de Jager, Über die Saug-
kraft des Herzens, Pflügers Arch. 30, 491 bis 510, 1883. — ®) W. B. Carpenter,
Principles of human physiologv 1, 5, London 1855. — °) X. Bichat, Allgemeine
Anatomie, angewandt auf die Physiologie und Arzneiwissenschaft, übersetzt von
C. H. Pfaff. I. Teil, erste Abteilung, Leipzig 1803. — '°) J. Bouillaud, Die
Krankheiten des Herzens 1, übersetzt von A. F. Becker, Leipzig. 1836. — '') Rosen-
bach, Grundriß der Pathologie und Therapie der Herzkrankheiten, 1897.
864 Erektionsdiastole.
klar erscheinen auch die Ansichten Germes!). H. Herz?) schließt sich
an Rosenbach an.
Auf die Bedeutung des Endocards mit seinen zahlreichen elastischen
Fasern für eventuelle elastische Wirkungen wird von Krehl?) mit Recht
hingewiesen. Auch macht er auf die Elastizität der arteriellen Klappen
und Ostien aufmerksam, dieselben werden wahrscheinlich bei der Systole .
komprimiert, kehren aber bei der Erschlaffung in ihre geöffnete Lage zurück
und eröffnen dadurch gleichzeitig die an ihnen sitzende weiche und schlaffe
Muskulatur. Daß dies in der Tat eine gewisse Rolle spielt, geht aus seinen
Versuchen deutlich hervor.
c) Die Injektionsentfaltung des Herzens.
(Erektionsdiastole.)
Die erektive Entfaltung des Herzens ist seinerzeit zuerst von Ernst
Brücke (1855 *) behauptet worden. Er stellte sich bekanntlich vor (vgl. $ 91,
S. 844), daß während der Austreibungszeit durch die zurückgeschlagenen
Semilunarklappen die Öffnungen der Coronararterien verschlossen würden
und daß deshalb während der Systole auch kein Blut in die Arterien des
Herzens fließe. Wenn dann während der Diastole das Blut von neuem in
die Coronargefäße dringt, wird das Herz durch den Druck der Flüssigkeit _
geöffnet, gleichsam entfaltet und zwar weil das entwickelte Herz mehr in
seine Gefäße aufnehmen kann, als das zusammengezogene. Wenn nun auch
die Brückesche Lehre von der Selbststeuerung des Herzens durch den
Semilunarklappenverschluß der Coronargefäße heute als fallengelassen be-
trachtet werden darf, so haben doch die neueren Untersuchungen |[vgl.Klug),
Rebatel®), Porter”) und Hyde®°)] ergeben, daß tatsächlich, wenn auch
aus anderem Grunde, während der Diastole mehr Blut in die Coronargefäße
einzuströmen scheint, und es wäre daher eine gewisse Entfaltung nicht
undenkbar; doch kann sie kaum groß sein, denn während Donders°)
sie bei der Injektion der Herzwände durch die Coronargefäße beobachtete,
konstatierte Oehl10) das Gegenteil, d.h. eine Drucksteigerung im Innern des
Ventrikels bei starker Injektion der Gefäße. In neuerer Zeit hat v. Vintsch-
gau!!) die Muskelfasern des Sinus coronarius für Mensch und Kalb beschrieben
!) L. Germe, Etudes sur l’activite de la diastole des ventricules, sur son me&ca-
nisme et ses applications physiologiques et pathologiques, Compt. rend. de l’acad. de
Science 120, 110—111, 1895. — *) H.Herz, Aktive Dilatation des Herzens, Deutsch.
med. Wochenschr. 1900, Nr. 8 u. 9. — °?) L. Krehl, Beiträge zur Kenntnis der
Füllung und Entleerung des Herzens, Leipzig 1891. — *) E. Brücke, Sitzungsber.
d. kaiserl. Akad. d. Wiss., math.-naturw. Kl. 19, 1855; Der Verschluß der Kranz-
schlagadern durch die Aortenklappen, Wien 1855; Vorlesungen über Physiologie
1, 2. Auflage, Wien 1875. — °) Klug, Zentralblatt für die med. Wiss. 1876,
S. 133 bis 134. — °) Rebatel, Recherches exp6erimentales sur la circulation dans
les arteres coronaires, Diss., Paris 1872. — 7) W. T. Porter, A new method for
the study of the intracardial pressure curve (Journ. of experim. medicine 1, 8,
1896. — °) Hyde, The effect on the ventriele flow of blood through the walls
of the heart, Amer. Journ. of Physiol. 1, 215, 1898. — °) F. C. Donders, Physio-
logie des Menschen 1, 42, übersetzt von Theile, Leipzig 1859. — '") Oehl,
Manuale di fisiologia 2, 60, Milano 1868. — '!) M. v. Vintschgau, Einige Be-
merkungen über die physiologische Bedeutung der Muskelfasern in der Wand des
sinus communis venarum cardiacarum, Arch. f. d. ges. Physiol. 69, 79 bis 96, 1896.
Die Lucianische „aktive“ Diastole. 865
und aus ihrem Zusammenbang mit der Vorhofsmuskulatur geschlossen, daß
sie sich bei der Vorhofssystole kontrahieren und durch Blutstauung im Herz-
fleische im Sinne einer Selbststeuerung wirken. Im übrigen scheint gerade
dieser Teil der Brückeschen Lehre wenig Beachtung gefunden zu haben.
Fiek!) und Rolleston ?) haben sich ihr unter anderen angeschlossen.
d) Die Lucianische „aktive“ Diastole.
Etwas absolut anderes bezeichnet Luciani mit aktiver Diastole.. Er
legt besonders Wert darauf, daß unter dem Einfluß des Vagus eine starke
Ansaugung, wie er sich ausdrückt, eintritt.
Das Phänomen, von dem er spricht — die Volumzunahme des Herzens
— ist unbestreitbar richtig. Es ist eine jedem Experimentator bekannte
Tatsache, daß sich während der Vagusreizung das Herz stärker füllt als in
der Norm. Es beruht dies einmal darauf, daß infolge der Verlangsamung in
den längeren Pausen mehr venöses Blut hineinfließt als normalerweise. Schon
in $45 war darauf aufmerksam gemacht worden und an dem Kurvenbeispiel
in Fig. 45 auf 8. 689 gezeigt worden, daß hierauf die Vergrößerung des Pulses
zum Teil beruht. Außerdem hat aber auch Henderson?) darauf hingewiesen,
daß während der. Vagusreizung die Systolen keine maximalen, sondern um
20 bis 30 Proz. kleiner seien als in der Norm. Wie dem auch sein mag,
es ist schwer einzusehen, was diese Vaguswirkung überhaupt mit der Aktivität
oder Passivität der Diastole zu tun hat. Wenn man schon einen Schluß
daraus ziehen wollte, so wäre es der, daß ein Vorgang, der durch eine
Hemmung — und die Vaguswirkung aufs Herz wird doch allgemeinhin als
Hemmung aufgefaßt — vergrößert wird, kein aktiver, sondern ein passiver
Vorgang ist. Jedenfalls erscheint diese Schlußfolgerung eher richtig als die
entgegengesetzte.
Aus dem in diesem Kapitel Gesagten dürfte mit Sicherheit folgen: Das
Herz an sich ist eine Druckpumpe, keine Saugpumpe.
Zwölftes Kapitel.
Die Arbeit des Herzens.
$ 100.
Um eine Kraft zu messen, muß man die beiden Faktoren kennen, in
welche man jede Energie zerlegen kann: den Intensitätsfaktor und den
Kapazitätsfaktor. Die Intensität wird bei der Herzkraft durch die Größe des
angewandten Druckes repräsentiert, der Kapazitätsfaktor durch die Fläche,
welche drückt, u. z. lehrt die Physik, daß die Größe einer Kraft proportional
dem Produkt aus Druck und Fläche anzunehmen ist. Es erscheint dies auch
sehr plausibel, denn je größer der Druck und je größer die zu drückende
!) A. Fick, Der Kreislauf des Blutes, Berlin 1872. — ?) H. D. Rolleston,
Observations on the endocardical pressure Curve, Journ. of physiol. 3, 283, 1887.
— °) Henderson, The volume curve of the ventricles of the mammalian heart
etc., Amer. Journ. of physiol. 16, 325, 1906.
Nagel, Physiologie des Menschen. I. 55
866 Kraft und Arbeit des Herzens.
Fläche ist — desto größer muß auch die Kraft sein, die diese Wirkungen
hervorruft. Es ist daher kein Zufall, daß der erste, der den Blutdruck maß,
— Stephan Hales!) (vgl.S.697) — auch die Herzkraft zu bestimmen ver-
suchte, und zwar wollte er direkt die drückende Fläche in die Rechnung ein-
setzen, indem er den Binnenraum des Herzens ausgoß und die Oberfläche
dieses Ausgusses durch Belegen mit kleinen Papierstückchen maß. Dieser
Versuch, dessen Prinzip ganz korrekt scheint, mußte scheitern, erstens, weil
es äußerst schwierig ist, die Größe dieser sehr zerklüfteten Fläche zu be-
stimmen, zweitens, weil sich die Größe dieser Fläche während der Kon-
traktion außerordentlich ändert und drittens, weil die anatomisch bestimmte
Fläche gar nicht der drückenden Fläche entspricht. — Manche Teile (z. B. die
Papillarmuscheln) werden im Gegenteil wahrscheinlich gedrückt; außerdem
ist, wie wir gesehen, nicht das ganze Herz gleichzeitig tätig. Solange wir
aber nicht die Größe der drückenden Fläche (f) kennen, können wir auch
die Kraft, mit der gedrückt wird, nicht berechnen, denn es ist diese
Herzkraft (K) — Druck (p)mal Fläche (f) » 2...) .
Die Kraft interessiert uns aber auch erst in zweiter Linie, denn es ist leicht
einzusehen, daß es dieselbe Wirkung ausübt, ob ich die halbe Fläche mit der
ganzen Kraft oder die ganze Fläche mit der halben Kraft drücke — ob zehn
Menschen einzeln je einen schweren Stein fortschieben, oder ob die zehn
Menschen zusammen dadurch zehn hintereinander gestellte Steine fortschieben,
daß sie alle den letzten Stein schieben — die Arbeit, welche geleistet ist
bleibt dieselbe. Im ersteren Falle wäre die Kraft überall gleich einer
Menschenkraft und die Fläche wäre — 10, im zweiten Falle ist die Kraft
— 10 und die Fläche = 1.
Stephan Hales war der einzige, der, wenn auch vergeblich, versucht
hat, die Kraft des Herzens zu messen. Wenn 18 Jahre später, worauf
zuerst Heidenhain?) aufmerksam gemacht hat, Passavant?), der unter
dem Einflusse der großen Mathematikerfamilie Bernouilli stand, eine Disser-
tation über die Herzkraft geschrieben hat, so dürfen wir nicht vergessen, daß
Passavant jene Größe berechnet hat, die wir heute als Arbeit bezeichnen.
Die Arbeit (A) ist nun proportional dem Produkt aus der Kraft mal
dem Wege (s), welchen diese Kraft (K) zurücklegt, also
Pd 5
Daß wir die Arbeit berechnen können, ohne die Kraft zu kennen, beruht
darauf, daß wir K durch die rechte Seite der Gleichung 1) ersetzen können,
wir erhalten dann
Aue BT
Nun ist aber das Produkt aus der drückenden Fläche (f) mal dem Wege (Ss),
den diese drückende Fläche zurücklegt, gleich dem Volumen, welches die
Arbeitsleistung des Herzens verschoben hat; das ist aber das Schlagvolumen
des Herzens (V)).
') Stephan Hales, Statical essays 1733. — °) Heidenhain, historische
Notiz, betreffend die Berechnung der Herzarbeit, Pfiügers Arch. 52, 415, 1897. —
®) Passavant, de vi cordis, Disp. anatom. seleet. 7 ed. Alb. v. Haller, Göttingen
1751;
Die kinetische (Druck-) Energie des Herzens. 867
Wir erhalten also die Gleichung für die
Herzarbeit (A) = Blutdruck (p) x Schlagvolum (V) . . . 2)
Wenn also gegen den Druck (p) das Schlagvolumen (V) verschoben ist, so
ist dazu die Arbeit A nötig gewesen.
Es ist wohl zu beachten, daß in dieser Gleichung die Zeit nicht vor-
kommt und daß V nur Schlagvolumen, nicht aber.das Herzvolumen bedeutet;
wenn also Frank!) in seinem Vortrag über die Arbeit des Herzens sagt, wir
müssen „die drei Variabeln Volumen, Druck und Zeit in ihren Beziehungen
zueinander kennen“, so ist das erste, da Frank darunter „das Volumen
des Herzens (die Größe seines Inhalts)“ versteht, falsch und das letzte über-
flüssig, da die Zeit nur für die Berechnung der kinetischen Energie von
Belang ist, diese aber von Frank (l.c.S.7 des Separatabdrucks) ausdrücklich
nicht berücksichtigt wird.
Nach der obigen Formel 2) ist nun die Herzarbeit stets berechnet worden,
auf welchem Wege auch immer die einzelnen Verfasser zur Aufstellung
dieser Formel gekommen sind. Der erste, der dies tat, war, wie schon er-
wähnt, Passavant.
Er berechnete die Arbeit des linken Ventrikels als Produkt aus dem bei
jeder Systole entleerten Blutgewichte in die Höhe, bis zu welcher das Blut
aufsteigen würde, wenn dasselbe ohne Widerstand entleert würde. Als Schlag-
volumen (richtiger Schlagmasse) nimmt er nicht ganz 50g (1!/, Unze), als
Blutdruck ungefähr 19cm Hg (eine Blutsäule von acht Fuß) an. Danach
würde das linke Herz, das Passavant allein berücksichtigt, pro Schlag in
unseren heutigen Einheiten gemessen, eine Arbeit von
0,19.13,6.0,05 = 0,13 mkg
leisten, also 0,16 mkg pro Sekunde; rechnen wir dazu noch die Arbeit des
rechten Ventrikels, so erhalten wir 0,21 mkg pro Sekunde. Es ist interessant,
wie annähernd richtig die Angabe ist, zu der wir heute wieder zurückkehren,
nachdem im ganzen vorigen Jahrhundert viel größere Werte angegeben sind,
wobei im allgemeinen angegeben wird, daß R. Mayer der erste gewesen sei,
welcher die Arbeit des Herzens nach richtigen Grundsätzen berechnet habe.
Der erste, der gegen die hohen Zahlen der Herzarbeit (es waren bis zu
lmkg pro Sekunde angegeben) protestierte, war Hoorweg?). Da er ein
sehr kleines Sekundenvolumen annimmt (vgl. S.750), so kommt er auch zu
einer pro Sekunde verrichteten Arbeit von nur 0,1 mkg (d. i. 0,0014 Pferde-
kraft).
Zwei Jahre später publizierte Zuntz?) seine Versuche, am Pferde das
Schlagvolumen: zu bestimmen, und betonte bei dieser Gelegenheit ebenfalls,
!) Frank, Die Arbeit des Herzens und ihre Bestimmung durch den Herz-
indikator, Vortrag gehalten in der Gesellschaft für Morphologie und Physiologie
zu München am 29. November 1898. Berichte der Gesellschaft 1898, III. Vgl. auch
desselben Verfassers Vortrag: „Die Wirkung von Digitalis auf das Herz“, ebenda 1897,
II. — ?) Hoorweg, Über die Blutbewegung in den menschlichen Arterien. Pflügers
Arch. 46, 188, 1890. — ®) Zuntz, Die Ernährung des Herzens und ihre Beziehung
zu seiner Arbeitsleistung. Deutsche med. Wochenschr. 1892, Nr.6. Das der Arbeit
zugrunde liegende Tatsachenmaterial ist 1898 in der Arbeit von Zuntz und Hage-
mann, Stoffwechsel des Pferdes bei Ruhe und Arbeit (Berlin, Parey, 1898; s. a.
Landwirtschaftl. Jahrbücher 27, Ergänzungsb. III, 1898) wiedergegeben.
55 *
868 Die potentielle Energie des Herzens.
daß die Herzarbeit kleiner sei, als man gemeinhin annahm. Seine sehr
exakten Versuche (vgl. 8. 749) geben gleichzeitig auch Aufschluß darüber,
wie sich die Herzarbeit des ruhenden und tätigen Menschen zum Gesamtstoff-
wechsel bzw. zur Gesamtarbeit verhält. Für alle diese Beziehungen sind
seine Versuche und Ausführungen grundlegend und haben durchaus klärend
gewirkt, während als tatsächliche Grundlage für eine Berechnung der Herz-
arbeit des Menschen einerseits alle jene Arbeiten heranzuziehen sind, welche
das Schlagvolumen bestimmt haben, also insonderheit die Arbeiten von .
Zuntz, Tigerstedt, Loewy u.a. (vgl. hierzu $ 41 bis 44), als anderer-
seits jene Arbeiten, welche den Blutdruck in der Aorta kennen lehren; hier-
für sind besonders die Arbeiten von Hürthle und Tigerstedt maßgebend
(vgl. Kap.V).
Ehe wir nun daran gehen, auf Grund des von den genannten Forschern
beigebrachten Materials die Größe der Herzarbeit zu berechnen, müssen wir
zwei Einwendungen erwähnen, die gegen die Berechtigung, die Herzarbeit
gleich dem Produkt aus Schlagmasse mal Blutdruck zu setzen, gemacht werden
können.
Die bisherigen Überlegungen wären nämlich nur dann einwandsfrei,
wenn das Blut so langsam gegen den entgegenstehenden Druck verschoben
würde, daß, nachdem die gedachte Arbeit geleistet ist, kein weiterer Energie-
verbrauch mehr stattfindet. In Wirklichkeit aber hat gleichzeitig die verschobene
Blutmenge eine bestimmte Geschwindigkeit erlangt, also auch eine bestimmte
kinetische Energie. Daß eine Vernachlässigung dieses Betrages nicht ohne
weiteres angängig sein kann, wird uns sofort klar, wenn wir bedenken, daß
in der bisher betrachteten Formel nur der Druck und das Volumen vorkommt. -
Wenn dies also wirklich die ganze Herzarbeit darstellen würde, so wäre es
gleichgültig, ob das Herz Blut oder beispielsweise Quecksilber von gleichem
Volumen befördert. In Wirklichkeit aber gehört natürlich ein größerer
Arbeitsaufwand dazu, um Quecksilber fortzupumpen, als um Blut fortzu-
pumpen. Dieser Unterschied kommt zum Ausdruck, wenn man mit Tiger-
stedt!) und Zuntz?) auch die kinetische Energie berücksichtigt, denn
diese ist gleich dem halben Produkt aus dem Quadrat der Geschwindigkeit und
der Masse; dieser Teil der aufzuwendenden Energie ist also etwa 13 mal so
groß, wenn es sich um Quecksilber handelt, als wenn es sich um Blut handelt.
Der zweite Einwand stammt von Frank, der ganz richtig ausführt, daß
wir eine theoretisch richtige Kenntnis von der Arbeit des Herzens eben nur
dann haben können, wenn wir wirklich wissen, welche Kraft und welcher
Weg verschoben wird. Dies kann man sehr leicht angeben, wenn die Kraft
konstant ist. Wenn aber, wie beim Herzen dadurch, daß Blut in die Aorta
gepumpt wird, der Druck in der Aorta steigt und damit der Widerstand, der
zu besiegen ist, wächst, dann kann man zu einem einwandsfreien Resultat
nur kommen, wenn man für jeden Moment einzeln bestimmt, welche Kraft
vorhanden ist und welcher Weg zurückgelegt wird, und dann diese vielfachen
kleinen Arbeitsanteile summiert, d.h. wenn man das tut, was man, mathema-
tisch ausgedrückt, Integration nennt.
!) Tigerstedt, Lehrbuch der Physiologie des Kreislaufs, Leipzig 1893, 8. 153.
g y g
— ?) Zuntz, 1842, 1. e.
Der Herzindikator von Frank. 869
Dieser Einwand ist an sich nicht originell und ist von der Technik aus
auch längst berücksichtigt.
Ähnlich wie beim Herzen liegen z. B. die Verhältnisse auch bei einer
Dampfmascliine; auch hier ist’die Kraft, welche den Kolben bewegt, variabel,
denn die Spannung des Dampfes wird während und durch die Expansion
verändert. Um trotzdem die Arbeit, die am Kolben geleistet wird, bestimmen
zu können, hat schon der geniale James Watt einen Registrierapparat an-
gegeben, der Indikator genannt wird und dessen Prinzip darauf beruht, daß
der Druck, der in jedem Augenblick im Zylinder herrscht, auf eine Schreib-
fläche aufgeschrieben wird, die sich selbst proportional der Verschiebung des
Kolbens bewegt.
Dieses Registrierungsprinzip hat nun O. Frank!) auf die Bewegung des
- Herzens übertragen und entsprechend den viel kleineren Verhältnissen außer-
ordentlich verfeinert. Er schreibt die Drucke und die Volumkurve des
Herzens und kombiniert die beiden Kurven mechanisch dadurch, daß er einen
und denselben Lichtstrahl erst auf einen Spiegel fallen läßt, der von dem
druckmessenden Apparat bewegt wird und dann auf einen dazu senkrecht
gestellten Spiegel, der von dem Volumschreiber des Herzens bewegt wird.
Durch jede Druckänderung wird also der Lichtstrahl in einer bestimmten
Richtung verschoben und gleichzeitig wird er durch jede Volumänderung in
der dazu senkrechten Richtung verschoben. Läßt man nun den Lichtstrahl
auf eine weiße Fläche bzw. photographische Platte fallen, so wird von dem
sich bewegenden Lichtstrahl eine Fläche umschrieben, deren Größe der vom
Herzen geschaffenen potentiellen Energie proportional ist.
Diese vollkommen einwandsfreie und an sich ausgezeichnete Methode,
die sich aber nach des Verfassers eigenen Angaben nur für das heraus-
geschnittene Herz eignet, kann jedoch deshalb nicht den folgenden Betrach-
tungen zugrunde gelegt werden, weil Frank nur den Apparat beschrieben,
aber keine’ tatsächlichen Angaben gemacht hat, die zur Berechnung der Herz-
arbeit eventuell verwendet werden könnten, wie denn die Methode vor-
nehmlich geeignet erscheint, um Änderungen der Herzarbeit unter dem Ein-
flusse gewisser Schädlichkeiten zu bestimmen. An anderer Stelle hebt er je-
doch im Anschluß an ähnliche Untersuchungen hervor ?), daß es falsch sei, den
mittleren (oder auch den durchschnittlichen) Blutdruck in die Rechnung ein-
zusetzen, wie es alle früheren Untersucher getan hätten. Für die Berechnung
der Herzarbeit kommt nur der Druck in Betracht, welcher während der Aus-
treibungsperiode herrscht. .Der durchschnittliche Druck dieser Periode könnte.
eher verwendet werden; der mit den gewöhnlichen Methoden gemessene
Blutdruck ist aber notwendig kleiner, denn zu seiner Bestimmung wird ja
auch jene Zeit mit verwendet, in welcher die Aortaklappen geschlossen sind
und in welcher der Druck langsam immer weiter sinkt. Der auf Grund des
mittleren Blutdruckes bestimmte Arbeitswert des Herzens ist also theoretisch
zu klein, und zwar um desto mehr zu klein, je langsamer das Herz schlägt; doch
kommt praktisch dieser Umstand wenig in Betracht, denn diese ganze Kor-
rektur, die nur wenige Prozent betragen kann, liegt völlig in der Fehler-
») O. Frank, 1898, l.c. — ?) Derselke, Zur Dynamik des Herzmuskels,
Zeitschr. f. Biolog. 32, 422f., 1895.
870 Die Berechnung der Herzarbeit.
grenze; wenn man den mittleren Blutdruck statt 15cm Ug mit 16cm Hg
ansetzt, so wäre der eventuelle Fehler weitaus überkompensiert.
Wir werden also, da alle bezüglichen Daten ja nur approximativ gegeben
sind, unbeschadet der Genauigkeit ebenso wie Zuntz und Tigerstedt den
mittleren Blutdruck als Basis der Berechnung benutzen können, und zwar
werden wir, da es ja nicht sowohl auf die Arbeit im Herzen selbst ankommt,
sondern auf die Erlangung eines ungefähren Wertes für die nützliche Arbeit,
die das Herz am Blute leistet, den mittleren Aortendruck, gegen den das
Herz das Blut verschiebt, einsetzen, und nicht etwa, wie Frank es tut, den
Binnendruck des Herzens, gegen den sich das Herz selbst verschiebt.
In bezug auf die Größe des Resultates macht das kaum einen Unter-
schied, aber es erscheint praktischer, den Aortendruck zugrunde zu legen,
weil sich dieser nicht in so hohem Maße ändert als der Ventrikeldruck, die -
Annahme eines mittleren Aortendruckes also auf alle Fälle einen geringeren
Fehler bedingt, wie denn überhaupt im Vergleich mit den Druckschwankungen
in der Dampfmaschine die relativen Druckänderungen in der Aorta klein
sind, so daß es überhaupt nicht ohne weiteres geboten erscheint, den Indi-
kator der Dampfmaschine auch beim Herzen nachzuahmen.
Im folgenden soll nun die potentielle Energie, welche sich in der
Erzeugung des Blutdruckes betätigt und die kinetische Energie, welche
sich in der Erzeugung der Blutgeschwindigkeit äußert, einzeln berechnet
werden !).
Über die Berechtigung der Formel für die potentielle Energie ist das
Nötigste schon gesagt. Für die Berechnung der kinetischen Energie kommt
nur die Arbeit in Betracht, welche jedesmal dem im Herzen als ruhend an-
zunehmenden Blut die Geschwindigkeit erteilt, welche es im Anfangsteil der
Aorta besitzt. Zwar wird, wie bekannt, bei jedem Herzschlag die gesamte
Blutsäule bis zum Anfang der Kapillaren beschleunigt, aber dies kommt doch
nur so zustande, daß dabei die potentielle Energie des Blutdruckes zur Er-
zeugung kinetischer Energie in peripherer gelegenen Gebieten verwandt wird.
Als Aortengeschwindigkeit muß naturgemäß die maximale Geschwindigkeit
eingesetzt werden (die Aortengeschwindigkeit wechselt bekanntlich bei jedem
Puls zwischen Null und einer gewissen endlichen Größe). Hier bedarf es
keiner Integration, denn die Formel E —= z besagt ja nur, daß an dem
Körper (m), der sich mit der Geschwindigkeit (v) bewegt, die durch die Formel
‚ausgedrückte Arbeit geleistet ist, wann und auf welchem Wege, ist dabei
!) Eine sehr viel detailliertere Formel, die aus sieben einzelnen Summanden
besteht, findet sich bei OÖ. Frank, Die Grundform des arteriellen Pulses, Zeitschr.
£. Biol. 37, 511, 1899 (vgl. auch ebenda 32, 423, 1895). Konsequenzen hat die Auf-
stellung dieser komplizierten Formel nicht gehabt. Frank selbst rechnet nicht
weiter mit ihr. Nur die elastischen Summanden des Herzens werden berücksichtigt.
Doch auch dies scheint zum mindesten überflüssig, sind doch auch diese Kräfte
durch Herzarbeit — und zwar durch vorausgegangene Vorhof- bzw. Ventrikel-
systolen — erzeugt worden. Die Berücksichtigung dieser Faktoren — wie übrigens
auch der anderen Frankschen Summanden — hätte nur dann eine Berechtigung,
wenn man den Zustand am Ausgang des Capillarsystems nicht als einen stationären.
Gleichgewichtszustand auffassen wollte, was er doch offenbar in praktischer Be-
.ziehung ist.
ee N N
Die tatsächlichen Grundlagen der Berechnung. 871
gleichgültig; mit anderen Worten: die Formel ist eben selbst schon als ein
Integral aufzufassen.
Die im Herzen umgesetzte Energie wird, abgesehen von dem für die
chemischen Prozesse selbst notwendigen Anteil, zur Hervorbringung folgender
Leistungen verbraucht:
Es wird bei jedem Herzschlag
1. das Schlagvolumen (V)) gegen den (mittleren) Aortendruck (p) ver-
schoben,
2. der Schlagmasse (M) eine gewisse Geschwindigkeit (v) erteilt !),
3. Wärme erzeugt,
4. Elektrizität erzeugt.
Die Wärme- und Elektrizitätserzeugung interessieren hier bei einer rein
mechanischen Betrachtung nicht. Die in Elektrizität umgewandelte Energie
ist zudem äußerst gering; die in Wärme umgewandelte Energie ist etwa
doppelt so groß als die für die gesamte mechanische Arbeit notwendige.
Die mechanische Energie können wir aus folgenden Daten berechnen:
Schlagvolumen (7) —= 60 ccm (vgl. S.751)
Schlagmasse (M) — 64gr (= V.s)?)
mittlerer Aortendruck (p) — 15 em/kg (vgl. 8.774)
maximale Aottengeschwindigkeit (v) — 50 cm/sec (vgl. 8.747)
ad 1. Die zur Herstellung des Blutdruckes notwendige Energie ist gleich
Kraft mal Weg.
Die Kraft wird in Dynen pro Flächeneinheit ausgedrückt und ist mithin,
da der Druck 15cm Quecksilber (spezifisches Gewicht desselben — 13,6)
beträgt,
K pro Busdratoentimetar — — 15.13,6.981 — 200000 Dynen
pro Quadratcentimeter.
Der Weg, der gegen bzw. durch diese Kraft zurückgelegt wird, ist.
w—= 60cm. Denn 60ccm ist das Schlagvolumen, und da als Querschnitt
lqem angenommen worden ist, muß als Weg 60cm angenommen werden.
Da es für die Betrachtung gleichgültig ist, ob wir die genannte Weglänge
bei lgqem Querschnitt annehmen oder einen kürzeren Weg bei größerem
Querschnitt.
Wir erhalten also für die gesamte Druckenergie:
E» = K.w = 200000.60 —= 12000000 Erg.
ad 2. Um der Masse von 64g eine Beschleunigung von 50 cm/sec zu geben,
brauchen wir eine Kraft von
Eu = - — 32.2500 — 80000 Erg.
Zählen wir dazu noch die geringe Energie, welche dazu nötig ist, um dem
Herzen, das 350g wiegt (und ev. noch einer ebensolchen Masse von um-
liegenden Organteilen), die geringe Beschleunigung von höchstens etwa
8cm/sec zu erteilen, so erhalten wir hierfür
!) Auch dem Herzen selbst, sowie einigen Organteilen der Umgebung, besonders
Lungenpartien, wird eine gewisse Geschwindigkeit erteilt, die hierzu nötige Energie
ist aber äußerst gering (s. a. f. S.). — ?*) s gleich spezifisches Gewicht des Blutes = 1,06.
872 Numerischer Wert der Herzarbeit.
E,= 5» = 350.60 — 20000 Erg,
so daß wir also die gesamte kinetische Energie
Er; = 100000 Erg
setzen können.
Dies ist nur die Arbeit des linken Ventrikels; hinzu kommt die Arbeit
des rechten Ventrikels und der Vorhöfe. Nach den Untersuchungen von
Chauveau an Pferden, die wohl deshalb die besten sind, weil sie mit dem
geringsten operativen Eingriff vorgenommen sind, beträgt der Druck in der
Pulmonalis !/, bis !/; (0,25 bis 0,33) des Aortendruckes.
Zuntz meint daher, daß man kaum fehl geht, wenn man an der Arbeits-
leistung des linken Ventrikels noch !/; des Wertes als Arbeit des rechten
Ventrikels einschließlich der kleinen Arbeit der beiden Atrien hinzurechnet.
Die potentielle Energie des rechten Ventrikels würde also etwa = 4000000 Erg
zu setzen sein.
Die kinetische Energie, die in dem rechten Ventrikel erzeugt wird, ist
dagegen größer als die im linken Herzen erzeugte, denn da der Querschnitt
der Arteria pulmonalis kleiner ist als der Querschnitt der Aorta (nach Raubers
Kalibertafel ist der Pulmonalquerschnitt etwa nur 3/, des Aortenquerschnitts),
muß sich das Blut im Anfangsteil des kleinen Kreislaufs mit größerer Ge-
schwindigkeit bewegen als in der Aorta, und zwar etwa 1!/,mal so schnell;
folglich ist die kinetische Energie etwa 11/amal so groß, da dieselbe mit dem
Quadrat der Geschwindigkeit wächst; sie beträgt also etwa 150000 Erg. _
Wir erhalten also:
potentielle Energie des linken Herzens 12 000 000
= x „ rechten „ 4000 000
kinetische 5 u 1mEon :0 100 000
rechten „ 150 000
16.000.000 Erg
h 250000 „
» ” ”
16 250 000 Erg.
Man sieht also, die kinetische Energie beträgt nur etwa 1!/, Proz. der
potentiellen Energie.
Da der Rechnung das Schlagvolumen bei 72 Pulsen pro Minute zugrunde
gelegt war, beträgt die gesamte mechanische Arbeit pro Sekunde
16 250 000
60
Das entspricht etwa einer Arbeitsleistung von 0,2kgm pro Sekunde.
Tigerstedt !) schätzt die Gesamtarbeitsleistung desmenschlichen Herzens
auf 0,14 bis 0,29kgm, Hermann) auf 0,28kgm (früher auf etwa 0,9),
Hoorweg auf 0,10kg.
Um eine Vorstellung von der Größe dieser Arbeit zu bekommen, mag
erwähnt sein, daß dieselbe Energie dazu nötig wäre, um alle vier Sekunden
ein Gewicht von einem Kilogramm von der Erde auf einen mittelhohen Tisch
Be .72 — 19 500 000 Erg pro Sekunde.
!) Tigerstedt, Lehrbuch 8. 153 u. 154. — °) Hermann, Lehrbuch der
Physiologie, Berlin 1896, S. 87.
Herzarbeit und Körperarbeit. 873
zu heben, oder, wie Hermann!) sich ausdrückt, das Herz wäre imstande,
sich selbst in einer Stunde um 4000m zu erheben. Es ist dies !/,o0 Pferde-
kraft und etwa !/,, jener Arbeitsleistung, die ein kräftiger Durchschnittsmensch
eine längere Zeit hindurch, also an einem Tage rund acht Stunden, zu leisten
imstande ist. „Da das Herz jedoch auch während der Ruhezeit weiter schlägt,
beträgt die mechanische Herzarbeit des Menschen ungefähr !/,, seiner über-
haupt möglichen Arbeitsleistung, wenn wir die Beobachtung auf Tage ausdehnen.
Für größere Zeiten sind es ganz beträchtliche Arbeitswerte, die das Herz
in unermüdlicher Tätigkeit schafft.
Meuhaaiisne Gesamtleistung
Arbeitsleistun don. Herkans
Zeiten $ | (einschl. der Wärme-
des Herzens duktion)
in Tonnenmetern | gegen
in Kalorien
DEUDERDHO San 2 eier. 0,7 5
ne NY Ar mut ns 17,3 120
REN se sacs 0 ne 6 300,0 45 000
pro Menschenleben (80 Jahre) 500 000,0 3 500 000
Wenn die gesamte Arbeitsleistung von einer halben Milliarde Meterkilo-
gramm, die das Herz eines Menschen im Laufe eines Lebens von 80 Jahren
dadurch, daß es etwa 31 Milliarden Mal pulsiert (pro Tag bekanntlich fast
genau 100000 mal), leisten kann, in einer einzigen Anstrengung verausgabt
. würde, beispielsweise durch Heben eines entsprechenden Gewichtes, so wäre
die gesamte Territorialarmee des Deutschen Reiches dazu kaum imstande.
Die dreimal so große Gesamtarbeitsleistung des Herzens wäre imstande,
einen Eiswürfel von 3,5 m Kantenlänge zum Schmelzen zu bringen.
Oben war berechnet worden, daß die mechanische Arbeit des Herzens
etwa 2 Proz. dessen beträgt, was ein normaler Mensch in einer gleichen Zeit
leisten kann, wenn wir die Zeit nicht gar zu kurz wählen, um momentane
Höchstleistungen auszuschließen.
Nun beträgt aber in Wirklichkeit die Herzarbeit immer einen größeren
Prozentsatz, weil bei jeder Arbeitsleistung der Skelettmuskeln auch das Herz
eine größere Arbeit leisten muß, um das nötige Blut bzw. die Nahrungsstoffe
hin- und die Abfallstoffe wegzuschaffen. In sehr ausgedehnten Versuchen
am Pferd und am Hunde hat nun Zuntz mittels chemischer Methoden, auf
die hier nicht eingegangen werden kann, gezeigt, daß zwar die Herzarbeit
nicht ganz so stark steigt, wie die gleichzeitig geleistete Muskelarbeit — sie
braucht es nicht, weil der Sauerstoff des Blutes vom intensiv arbeitenden
Muskel besser ausgenutzt wird —, daß aber doch die Herzarbeit immer an-
nähernd etwa 3 bis 10 Proz. der gesamten Körperarbeit beträgt. (Gemessen
wurde dies an dem Sauerstoffverbrauch. Interessant ist hierbei der Umstand,
daß das Herz nur etwa 1 Proz. der gesamten Muskelmasse des Körpers aus-
macht, so daß also der Herzmuskel das Mehrfache anderer Muskeln verbraucht
und dementsprechend auch das Mehrfache leistet.
!) Daselbst 8.87. Hermann nimmt einen größeren Arbeitswert für das Herz
an. Legen wir die angenommenen Zahlen zugrunde, beträgt die Höhe nur 2100 m.
874 Die Anpassung des Herzens.
Zuntz macht weiter mit Recht darauf aufmerksam, daß die nachge-
wiesene Fähigkeit des Herzens, seine Arbeitsleistung in jedem Augenblick
beliebig und für längere Zeit zu vergrößern, eine wesentliche Erklärung für
die Möglichkeit der Kompensation bei Klappenfehler bietet.
In der Einleitung (s. S.661) ist gesagt worden, daß der Kreislauf des
Blutes eine Einrichtung vorzustellen scheint: Wie der Stoffwechsel in einem
Organismus möglich ist. Dort war dieser Satz aus einer vergleichenden Be-
trachtung des Kreislaufes in den verschiedenen Tierklassen hergeleitet.
In den eben genannten Zahlen, die — so ungendäu sie: auch im einzelnen
sein mögen — sicherlich für das Verständnis der Funktion und der Bedeut-
samkeit des Kreislaufes ausschlaggebend sind, sehen wir diese Ansicht be-
stätigt. Diese Zahlen fassen in gewissem Sinne alles zusammen, was wir
über den Kreislauf wissen, denn sie zu berechnen, ist eben nur möglich ge-
wesen durch die detaillierte Erforschung von Druck und Geschwindigkeit des
Blutes, von Größe, Bewegungsart und Rhythmus des Herzens und wird, wie
aus den Bemerkungen auf 8.869 über den mittleren Druck hervorgeht, in
genauerem Maße nur möglich sein, wenn wir die exakte Form der Pulskurve
in die Berechnung mit hineinzuziehen verstehen — und diese Zahlen zeigen
in ausgesprochenstem Maße die Abhängigkeit der mechanischen
Arbeit, die im Kreislauf geleistet wird von der Größe des ge-
samten Stoffwechsels. Mehr als jedes andere Organ ist das Herz, das
die wesentliche Arbeit des Kreislaufes leistet, mit der Größe des Stoffwechsels,
d. h. also mit der Intensität des Lebens überhaupt verknüpft; den leisesten
Änderungen folgt es fast momentan in weitgehendstem Maße. In einer Be-
trachtung über die Mechanik des Kreislaufes ist kein Platz, diese innige
Verknüpfung zwischen der Größe der „Vitalität“ eines Organismus
und seiner Herzenergie eingehender zu schildern, aber das mag gesagt
werden, daß ein gutes Stück Wahrheit der ‚populären Anschauung zugrunde
liegt: der Mensch sei dann tot, wenn das Herz nicht mehr schlägt.
Verlag von Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig.
J. Henle’s Grundriss der Anatomie des Menschen.
In vierter Auflage neu bearbeitet von
Dr. Fr. Merkel, Professor der Anatomie in Göttingen.
1901. Zwei Bände (Text u. Atlas) in Lex.-Form. Jeder Band’einzeln käuflich.
Preis pro Band geh. Mark 14,—, geb. in Hibfrz. Mark 16,—.
Sin. sagitt. sup.
> Sin. sagitt. inf. 1
Sin. intercav. ant.
Sin. petros 5
sup.
Sin. petros
inf.
6
Sin. oceip.
Sin. sagitt. sup.
Der Atlas ist auch in einzelnen Lieferungen zu beziehen und zwar: 1. Heft.
Osteologischer Teil (Knochen). [56 8.] M 2,40. — 2. Heft. Syndesmologischer
Teil (Bänder). [S. 57 bis 92. 1,20. — 3. Heft. Myologischer Teil (Muskeln).
[S. 95 bis 158.] 4 2,50. — 4. u. 5. Heft. Integumentum commune und Splanchno-
logischer Teil (Haut und Eingeweide). [S. 159 bis 262.] M& 4,50. — 6. u. 7. Heft.
Sinnesapparate und Neurologischer Teil (Nerven). \» 263 bis 412). HM 7,—. —
8. Heft. Angiologischer Teil (Gefäße). [S. 413 bis 474.] „4 1,60. — 9. Heft. ern
Bilder aus der topograph. Präparation der Nerven und Gefäße. [S. 475 bis 498.] M% 1,80.
Verlangen Sie ausführlichen Prospekt kostenlos.
Verlag von Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig.
Aulus Cornelius Celsus
NG über die
Arzneiwissenschaft.
In acht Büchern.
Übersetzt und erklärt von Eduard Scheller.
Zweite Auflage.
Nach der Textausgabe von Daremberg neu durchgesehen von
WALTHER FRIEBOES,
bisherigem Assistenten am Institut für Pharmakologie und physiologische Chemie zu Rostock.
Mit einem Vorwort von Prof. Dr. R. KOBERT zu Rostock.
Mit einem Bildnis, 26 Textfig. u. 4 Taf. 1906. (XLII u. 862 S.)
Preis Mark 18,—, gebunden in Halbfranz Mark 20,—.
Wiener medizinische Wochenschrift: Der vornehme Klassiker der Medizin aus
römischer Kaiserzeit liegt in einer neuen, sehr schönen, sehr sorgfältig bearbeiteten
und kommentierten Ausgabe vor uns. Frieboes, der Schüler von Kobert, hat die
Schellersche Übersetzung vom Jahre 1846 durchgesehen und korrigiert, eingehende,
mit Abbildungen nach antiken Instrumenten und Denkmälern und mit anatomischen
Figuren versehene Kommentare geliefert und Namen- und Sachregister in deutscher,
lateinischer und griechischer Sprache ausgearbeitet, welche den trefflichen Celsus
wieder zu einem Nachschlagebuche machen dürften. Kobert leitet das Werk,
eines der schönsten seiner Schule, das unter seiner Ägide entstanden ist, mit einem
akademischen Vortrage über Celsus ein. Er schließt: „Alles in allem müssen wir
sagen, daß wir in dem Werke des Celsus ein hochinteressantes Kompendium der
Medizin besitzen, welches jeder Mediziner einmal zur Hand nehmen sollte, aus dem
aber auch Nichtmediziner vieles schöpfen können.“ Wir meinen nun, daß sowohl
der junge Äskulapschüler wie auch der Arzt diesen neuen Celsus immer wieder
zur-Hand nehmen sollten, um Anregung, Vertiefung ihres Wissens und Könnens
und auch Belehrung zu gewinnen. Wir wiederholen es: Belehrung! Wie baut
sich in diesen acht Büchern ein lückenloses System der medizinischen Disziplinen
auf, das in der Hauptsache noch heute gilt! Man beachte z. B. nur Celsus’ diäteti-
sche Vorschriften und seine Prophylaxe! Wir müssen uns hier damit begnügen,
auf den Celsus redivivus aufmerksam zu machen; die große philologische Arbeit,
die Frieboes neben der pharmakologischen und allgemein medizinischen geleistet
hat, dürfte ihm noch den speziellen Dank der Archäologen und klassischen Philo-
logen eintragen. Wir Ärzte müssen ihm an erster Stelle herzlichst dafür danken,
daß er uns den trefflichen Kollegen wieder näher gebracht, daß er uns einen
modernen Celsus geschenkt hat.
i Ausführliches Verlagsverzeichnis kostenlos.
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31 Handbuch der Physiologie
N34 des Menschen
Bd.1
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Biological
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