«i® flllg V > T-V. . ' • Schlesischen Gesellschaft Breslau. G. P. Aderholz' Buchhandlung, 1913. Adresse- für Sendungen : Schlesische Gesellschaft für vaterländische .Cultur, Breslau I, MaUkkskunst Neunzigster Jahres-Bericht Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. 1912. I. Band. ►- Breslau. G. P. Aderholz’ Buchhandlung 1913. Digitized by the Internet Archive in 2011 with funding from Mertz Library, The New York Botanical Garden https://archive.org/details/jahresberichtder90schl Inhalts - Verzeichnis des I. Bandes des 90. Jahresberichtes. Allgemeiner Bericht ” Seite über die Verhältnisse und die Wirksamkeit der Gesellschaft im Jahre 1912, abgestattet vom General-Sekretär, Geb. Medizinalrat Prof. Dr. Ponfick 1 Bericht über die Bibliothek 12 Bericht über das Herbarium der Gesellschaft 12 Kassen- Verwaltungsbericht 13 LIBRARY NEW VOR ßOTANiCA GARDEN. Berichte über die Sektionen. II. Abteilung*: Naturwissenschaften. a. Sitzungen der naturwissenschaftlichen Sektion. Danckwortt, P.: Über das Protopin 85 Gibson: Über eine mögliche Beschränkung der Quanten-Hypothese .... 1 Herz, W. : Reversible bimolekulare Reaktionen 97 Badenburg, R.: Über die Absorption von Sp'ektrallinien 36 Lummer, 0.: Einige Vorlesungsversuche 56 Neumann, G. : Eine einfache photometrische Methode zur Ausmessung der Schwärzung photographischer Platten 98 Pringsheim, E.: Zur Theorie der Lumineszenz 93 Rechenberg, G.: Allgemeine Übersicht der meteorologischen Beobachtungen auf der Königl. Universitäts-Sternwarte zu Breslau im Jahre 1912 . . 99 Sackur, 0.: Die Bedeutung des elementaren Wirkungsquantums für die Gastheorie und für die Berechnung chemischer Gleichgewichte .... 56 Sehen ck, Rudolf: Betrachtungen über photochemische Gleichgewichte und ihre Beziehungen zu den Dunkelgleichgewichten 86 Schiff, Julius: Goethes chemische Berater und Freunde 1 Stern, Otto: Zur kinetischen Theorie des osmotischen Druckes konzentrierter Lösungen und der Gültigkeit des Henryschen Gesetzes für dieselben . 1 Wätzmann, E.: Interferenzmethode zur Untersuchung von Fehlern optischer Systeme 55 Wilborn, Felix: Untersuchungen über die Oberflächenspannungen einiger tautomerer und assoziierter Flüssigkeiten 56 b. Sitzungen der zoologisch-botanischen Sektion. Arndt, W. : Zoologische Ergebnisse der ersten Lehr-Expedition der Dr. P. Schottländerschen Jubiläums-Stiftung HO Grosser, W. : Die Schädigungen der landwirtschaftlichen Kulturpflanzen in Schlesien im Jahre 1911 34 Grüning, G.: Weitere Beobachtungen über die Vegetation der Nordseeinsel Langeoog 1 IV Inhalts -Verzeichnis. Seite Kern, F.: Beiträge zur Moosflora des mittleren Etschtales 25 Oberstein, 0.: Die Schädigungen der landwirtschaftlichen Kulturpflanzen in Schlesien im Jahre 1911 34 Prager, E.: Die Torfmoose des Riesengebirges 42 Schmidt, A. : Beitrag zur Kenntnis der deutsch-ostafrikanischen Mistpilze . 17 Schube, Th.: Ergebnisse der Durchforschung der schlesischen Gefäßpflanzen- welt im Jahre 1912 92 — Ergebnisse der phaenologischen Beobachtungen in Schlesien im Jahre 1912 103 — Zusätze zum „Waldbuch von Schlesien“ 107 Winkler, H.: Biologische Beobachtungen in den Tropen 1 — Herbstliches Ausdauern des Laubes 41 — Zur Biologie der Mistelgewächse 41 c. Sitzungen der Sektion für Obst- und Gartenbau. Hölscher, Jelto: Bericht über die Tätigkeit der Sektion im Jahre 1912 . . 1 Oberstein, 0.: Welche Gründe rechtfertigen das wiedererwachende Interesse für Mesembrianthemum als Zierpflanze? 6 Rein: Die Aufgaben des schlesischen Obstbaues auf der Gartenbau- Ausstellung Breslau 1913 5 Rosen, Felix: Bericht über die Tätigkeit der Sektion im Jahre 1912 ... 1 — Über das Entstehen neuer und samenbeständiger Formen, Fremdes und Eignes 23 Schütze, Julius: Pflanzen-Einführungen und Neuzüchtungen 1 III. Abteilung: Geschichte und Staatswissenschaften. a. Sitzungen der historiseben Sektion. Kaufmann: Personen und Ansichten aus dem Kreise der Historiker vor hundert Jahren 1 — Zur Geschichte der deutschen Gymnasien in den beiden ersten Jahr- zehnten der deutschen Herrschaft in Elsass-Lothringen 1 Krebs: Hundert Jahre Historische Sektion 1 b. Sitzungen der rechts- und staatswissenschaftlichen Sektion. Bielscho wsky: Für und wider Parteibetrieb und Mündlichkeit als Grund- lage des deutschen Zivilprozesses 15 Bitta: Parlamentarismus und wirtschaftliche Gegensätze, unter Berücksichtigung des neuen Wassergesetzentwurfes 25 Fischer, Otto: Deutschlands finanzielle Kriegsbereitschaft 11 Frey mark: Die Oder in ihrer gegenwärtigen und künftigen Bedeutung für das Wirtschaftsleben Schlesiens 18 Heilberg: Zur Frage der Organisation der Rechtsanwaltschaft 8 Heilborn: Sind die deutschen Kolonien Inland oder Ausland 19 Klingmüller: Gesamtschuldverhältnisse und die Rechtsprechung des Reichs- gerichts 17 Lemberg: Die Sicherungsübereignung und die Vorschläge bezüglich ihrer gesetzgeberischen Behandlung 10 Meyer, Herbert: Die rechtshistorische Bedeutung der R.olandbilder in den deutschen Städten • 22 Inhalts-Verzeichnis V Seite Schmeisser: Gewinnung und Austausch der wichtigeren mineralischen Bodenschätze bei den Völkern der Erde 24 Schott: Die Erbschaftssteuer der Frauen und Kinder und unser bürgerliches Recht 6 Steinitz: Das Problem der Willensfreiheit und Verantwortlichkeit 1 Wolf, Julius: Die Teuerung und ihre Ursachen 4 — Der Geburtenrückgang und seine Bekämpfung 23 IV. Abteilung. a. Sitzungen der philologisch-archäologischen Sektion. Heinevetter, Franz: Aus Eduard Schauberts Nachlaß 1 Ziegler: Die Deszendenztheorie im griechischen Altertum 1 b. Sitzungen der orientalisch-sprachwissenschaftlichen Sektion. c. Sitzungen der Sektion für neuere Philologie. Hilka: Neue Beiträge zur Erzählungsliteratur des Mittelalters 1 V. Abteilung. a. Sitzungen der mathematischen Sektion. Hessenberg: Über die Quadratur des Kreises . 1 Rückle: Demonstrationsvortrag über seine außerordentliche Rechenfähigkeit 1 b. Sitzungen der philosophisch-psychologischen Sektion. Baumgartner, M. : Zur Erkenntnistheorie Augustins 1 Kabitz, W.: Die Bildungsgeschichte des jungen Leibnitz 2 Marek, S.: Die Philosophie Henry Bergsons . 1 Rückle, G.: Demonstrationsvortrag über seine außergewöhnliche Gedächtnis- und Rechenfähigkeit 2 Steinitz, K.: Das Problem der Willensfreiheit und Verantwortlichkeit. . . 1 Stern, W.: Orientierende Darstellung über die psychische Eigenart des Rechenkünstlers Dr. G. Rückle 2 Waetzmann, E.: Einige Probleme der Tonpsychologie 1 Ziegler, K.: Zur Deszendenztheorie im griechischen Altertum 2 c. Sitzungen der katholisch-theologischen Sektion. Buchwald: Über die Brevierreform des Papstes Pius X vom geschichtlichen und vom praktischen Standpunkt 2 Hoffmann: Über seine Sinaireise 1 Karge: Meine Ausgrabungen am See Genesareth 1 Nikel: Die biblischen Patriarchenerzählungen und ihr geschichtlicher Wert- 1 Schulte, Lambertus, 0. F. M.: Kritische Streifzüge durch die mittelalterliche Geschichte des Breslauer Bistums 1 Weidner: Die päpstlichen Kommuniondekrete in ihren katechetischen Wirkungen 1 VI Inhalts-V erzeichnis. Seite d. Sitzungen der evangelisch-theologischen Sektion. Konrad: Das Ordinationsalbum des Breslauer Stadtkonsistoriums 26 Müller, Konrad: Schelling’s Beziehungen zur alttestamentlichen Wissenschaft 1 Roeder: Die christliche Zeit Nubiens und des Sudans (vom VI. — XVI.Jahrhundert) 26 Rothstein: Die Anfänge der jüdischen Gemeinde nach dem Exil und die Elephantine-Papyri 26 Schmidt, Hans: Die Stellung des Propheten Jeremia zur Kultusreform des Königs Josia . 26 VI. Abteilung'. a. Sitzungen der technischen Sektion. von dem Borne: Technische Aufgaben der Erdbebenforschung 1 b. Sitzungen der Sektion für Kunst der Gegenwart. Gutbier, Ludwig: Führung durch die Ausstellung „Stätten der Arbeit“ . . 2 Guttmann, Alfred: Die Wirklichkeit und ihr künstlerisches Abbild .... 3 Kinkeldey: Hugo Wolf und seine Lieder 1 Landsberger, Franz: Das Problem der mittelalterlichen Kunst 3 Loeschmann:F ührung durch die Ausstellung mit besonderer Berücksichtigung und Besprechung der Bilder von van Gogh 1 c. Sitzungen der Sektion für Geologie, Geographie, Berg und Hüttenwesen. von dem Borne: Beobachtungen der Erdbebenwarte in Krietern und zwar insbesondere über die in den Jahren 1908—191 1 gewonnenen Ergebnisse von Untersuchungen der sogenannten mikroseismischen Unruhe ... 65 Frech: Die Beziehungen zwischen Erdbeben und Architektur 2 Lachmann, R.: Über die Bildung und Umbildung von Salzgesteinen ... 7 — Der Bau des niederhessischen Berglandes bei Hundelshausen .... 13 Leonhard: Über Reisen im nördlichen Kleinasien 8 Meyer, 0. E.: Die Ostafrikanische Bruchstufe südlich von Kilimatinde ... 3 Olbricht: Über die Entstehung und Umformung von Flußsystemen .... 161 Quiering: Zur Tektonik der Eifelkalkmulde von Sötenich 172 Renz, Carl: Über Steingitter im Buntsandsteingebirge der Rheinpfalz . . . — Die Verbreitung des Tithons in den Hochgebirgen Mittelgriechenlands 179 Schmeisser: Gewinnung und Austausch der wichtigeren mineralischen Bodenschätze bei den Völkern der Erde 108 Supan: Die Bedeutung der Tiefseelotungen für die Entwickelungsgeschichte der Erdoberfläche 2 Nekrologe auf die im Jahre 1912 verstorbenen Mitglieder 1—27. Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. @>.c 90. J ahresbericlit. 1912. Allgemeiner Bericht. __2VD Allgemeiner Bericht über die Verhältnisse und die Wirksamkeit der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur im Jahre 1912, erstattet von dem General -Sekretär Herrn Geh. Medizinalrat Professor Dr. Ponfick. Am Sonnabend, dem 28. Dezember 1912 wurde unter dem Vorsitze des Präses, Herrn Geh. Regierungsrats Professor Dr. Foerster, die Ordent- liche Hauptversammlung abgehalten, nachdem sie auf Grund des § 17 der Satzungen durch einmalige Anzeige in der Schlesischen und der Breslauer Zeitung bekannt gemacht worden war. Zunächst erteilte die Versammlung dem Schatzmeister, Herrn Kom- merzienrat Berve, Entlastung von der seitens des Präsidium geprüften Rechnung des Jahres 1911. Im Anschlüsse hieran sprach der Präses dem Genannten den Dank der Gesellschaft für die in der Führung der Kassen- geschäfte bewiesene Sorgfalt aus. Hierauf verlas der Generalsekretär Herr Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Ponfick, den Allgemeinen Bericht über das Jahr 1912. Dieser beginnt mit einer Übersicht der Verluste, welche die Gesellschaft während des bezeichneten Zeitraumes, sei es durch Tod, sei es durch Ausscheiden erlitten hat. a. Von Ehrenmitgliedern starben: 1. Herr Geh. Justizrat Professor Dr. Felix Dahn in Breslau, 2. ,, Professor Dr. Lister in London; b. von korrespondierenden Mitgliedern: Herr Geh. Medizinalrat Professor Dr. Heinrich Un verricht in Magdeburg; c. von wirklichen einheimischen Mitgliedern: 1. Herr Rentier Louis Burgfeld, 2. ,, Oberlandesgerichts-Senatspr äsident Prof. Dr. Engelmann, 3. ,, Sanitätsrat Dr. Eduard Juliusburger, 4. ,, Sanitätsrat Dr. Kleudgen, 5. ,, Kunsthändler Arthur Lichten b erg, 1912. 1 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 6. Herr Apotheker Julius Saft, 7. ,, Partikulier Simon Schweitzer, 8. ,, Universitätsprofessor Dr. Franz Skutsch, 9. „ Dr. med. Wilhelm Spiegel, 10. ,, Rechtsanwalt Dr. Franz Treuenfels, 11. ,, Oberlandesgerichtsrat a. D. Geh. Justizrat Viol. d. von wirklichen auswärtigen Mitgliedern: 1. Herr Königl. Gartenbaudirektor Haupt in Brieg, 2. ,, em. Pfarrer A. Knauer in Bad Landeck i./Schl. Infolge von Wechsel des Wohnortes oder aus anderen Gründen schieden aus: 12 wirkliche einheimische Mitglieder und 1 wirkliches auswärtiges. Dagegen sind (nach dem 1. April 1912) neu aufgenommen worden: 80 wirkliche einheimische Mitglieder, nämlich: 1. Herr Dr. med. Willy Vogel, 2. ,, Oberlehrer Dr. Hermann Speck, 3. ,, Kuratus Josef Ungerathen, 4. „ Kaplan Bernhard Kunze, 5. ,, P. Dr. Lambertus Schulte 0. F. M., 6. ,, Kaufmann Hermann Scliiftan, 7. ,, Königl. Hofprediger Max Renner, 8. Frl. Oberlehrerin Emmy Seekel, 9. „ Dr. med. Selma Friedrich, 10. Herr Dr. phil. Fr anz Heinevetter, 11. ,, Geheimer Regierungsrat und Gymnasialdirektor a. D., Dr. Friebe, 12. ,, Bankdirektor Adolf Freund, 13. ,, Dr. phil. Marcus Brann, 14. ,, Oberlehrer Dr. Conrad Olbricht, 15. „ Dr. phil. Hieronymus Markowski, 16. ,, Dr. phil. Emil Hollmann, 17. ,, Regierungsbaumeister Karl Loewe, 18. ,, Augenarzt Dr. Oskar Magen, 19. ,, Bergreferendar Dr. Heinrich Quiering, 20. ,, Oberlandesgerichts -Senatspräsident Hans Heidermanns, 21. ,, Amtsrichter Dr. Eberhard Neugebauer, 22. „ Regierungspräsident Freiherr von Tschammer u. Quaritz, 23. ,, Oberlehrer Dr. Gustav Dittrich, 24. ,, Arzt und Zahnarzt Dr. Otto Neumann, 25. ,, Professor Dr. phil. Erhard Schmidt, 26. ,, Dr. phil. Oskar Hart wieg, 27. „ Domherr Professor Dr. Rudolf Buchwald, Allgemeiner Bericht. 3 28. Herr Cand. hist. Erwin Fuhrmann, 29. „ Königl. Oberbibliothekar Professor Dr. Leopold Cohn, 30. „ Architekt Alfred Gellhorn, und nach dem 1. Januar (bis zum 1. Juli) 1913 folgende 45 Mitglieder: 31. Herr Oberlehrer Dr. Alfred Dreßler, 32. ,, Oberlehrer Professor Dr. Hermann Gröhler, 33. ,, Oberlehrer Professor Dr. Eugen Geisler, 34. „ Königl. Gymnasialdirektor Professor Dr. Otto Seiffert in Jauer i./Schl., 35. ,, Kaufmann Fritz Werner, 36. ,, Professor $)r.=$ng. Georg Hilpert, 37. ,, Professor 5)ipl.=^yng. Wilhelm Wagenbach, 38. ,, Professor 3)r.^ng. Carl Heinel, 39. ,, Cand. phil. Günther Neumann, 40. ,, Apothekenbesitzer Otto Schlesinger, 41. ,, Regierungsassessor Reymann, 42. ,, Professor Dr. med. Richard Fuchs, 43. ,, Privatdozent Dr. phil. Friedrich Andreae, 44. ,, Chordirektor Paul Plüddemann, 45. Regierungsbaumeister Friedrich Schultze, 46. Frau Bertha Friederici, 47. Frl. Oberlehrerin Hertha Rossow, 48. ,, Eleonore v. Witz endor f, 49. Herr Oberlehrer Professor Dr. Bernhard Schneck, 50. ,, Chemiker und Kaufmann Dr. F. A. Basse, 51. ,, Apotheker Hermann Selling, 52. Frl. Oberlehrerin Dorothea Zucker, 53. Herr Cand. med. Werner Schulemann, 54. ,, Dr. phil. Erich Höhne, 55. ,, Dr. phil. Erich Arbeiter, 56. ,, Professor Dr. med. Alois Alzheimer, 57. ,, Kaufmann Walter Sternberg, 58. „ Rechtsanwalt Erwin Riegner, 59. ,, Justizrat Oscar Sachs, 60. „ Konsistorialrat Professor D. Johannes Steinbeck, 61. Frau Landschaftsrat Elisabeth Groeger, 62. Herr Oberlehrer Dr. W. Klawitter, 63. ,, Dr. med. Albert Rüben, 64. ,, Konsul Paul Philipp, 65. ,, Oberstabsarzt Dr. Heinrich Eggert, 66. Frl. Stud. phil. Helene Stallwitz, 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 67. Herr Dr. phil. Richard Ko ebner, 68. ,, Professor Dr. med. Friedrich Henke, 69. ,, Provinzialschulrat Dr. Hermann Jantzen, 70. ,, Oberbürgermeister Paul Matting, 71. ,, Reichsgraf Hans Ulrich von Schaffgotsch, 72. ,, Cand. phil. Josef Jannek, 73. ,, Architekt Heinrich Buss mann, 74. Frl. Oberlehrerin Helene Wartensleben, 75. Herr Oberbergrat a. D. Rudolf Siege mann, und 10 wirkliche auswärtige Mitglieder, nämlich: 1. Herr Kaplan Viktor Bong in Oltaschin b./Breslau, 2. ,, Dr. jur. Reichsgraf von Oppersdorff auf Alt- Waltersdorf, Kr. Habelschwerdt, 3. ,, Pastor Eberhard Goldmann in Harpersdorf, Kreis Goldberg i./Schl., 4. ,, König!. Bergrat Richard Prietze in Waldenburg i./Schl., 5. ,, Kuratus Dr. Georg Schmidt in Brockau b /Breslau, 6. ,, Gerichtsreferendar Dr. Jacob in Trachenberg i./Schl., 7. ,, Dr. Robert Corwegh in Leipzig, 8. ,, Carl Graf Pückler, Wirkl. Geheimer Rat, Exzellenz auf Schloß Ober-Weistritz, 9. ,, Gräfl. Schaffgotsch’scher Geheimsekretär B. Baret in Koppitz bei Grottkau i./Schl., 10. Freifrau Hill er von Gaert ringen auf Reppersdorf. Zu korrespondierenden Mitgliedern wurden ernannt: 1. Herr Professor Dr. phil. Alfred Pillet in Königsberg i./Pr. 2. ,, Geh. Regierungsrat Professor Dr. Curt von Rümker in Berlin, 3. ,, Lehrer Hugo Schmidt in Grünberg i./Schl. Mithin zählt die Gesellschaft: 964 wirkliche einheimische Mitglieder, 187 wirkliche auswärtige Mitglieder, 34 Ehrenmitglieder und 134 korrespondierende Mitglieder. Außerdem zählt die Sektion für Obst- und Gartenbau neben 82 Gesell- schafts-Mitgliedern noch 110 zahlende. In den Verwaltungs-Ausschuß wurden gewählt: Herr Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Foerster als Präses, ,, Oberbürgermeister a. D. Dr. Bender als Vize-Präses, ,, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Ponfick als General-Sekretär, ,, Prof. Dr. Rose n fei d als stellvertretender General-Sekretär, Allgemeiner Bericht. 5 Herr Kommerzienrat Berve als Schatzmeister und ,, Handelsrichter Alfred Moeser als stellvertretender Schatz- meister. In das Präsidium wurden gewählt: Herr Professor Dr. Kükenthal, ,, Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Küstner, ,, Stadtrat Julius Müller, ,, Oberpräsidialrat Dr. Schimmelpfennig, ,, Bürgermeister Dr. Tr ent in. Als Delegierte der einzelnen Sektionen wurden in das Präsidium gewählt von der Medizinischen Sektion: Herr Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Neisser, ,, Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Partsch, „ Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Uhthoff, ,, Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Küttner, ,, Prof. Dr. Tietze, von der Hygienischen: Herr Geh. Med. -Rat u. Regierungsrat Dr. Telke, von der Naturwissenschaftlichen: Herr Geh. Reg. -Rat Prof. Dr. Hintze und „ Geh. Reg. Rat Prof. Dr. Lummer, von der Zoologisch -Botanischen: Herr Prof. Dittrich, von der Sektion für Obst- und Gartenbau: Herr Prof. Dr. Rosen, von der Historischen: Herr Archivdirektor Geh. Archivrat Dr. Meinardus, von der Rechts- und Staats wissenschaftlichen: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Wolf, ,, Ob. Landesger.-Präs. Wirkl. Geh. Oberjustizrat Dr. Vier haus. ,, Geh. Justizrat Prof. Dr. Leonhard, ,, Mathematiker Dr. Wagner, von der Philologisch -Archäologischen: Herr Geh. Regierungs- und Provinzial-Schulrat Dr. Thalheim, von der Orientalisch - Sprachwissenschaftlichen: Herr Prof. Dr. Schräder, von der Sektion für Neuere Philologie: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Appel, von der Mathematischen: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Kneser, 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. von der Philosophisch-Psychologischen: Herr Prof. Di. Baumgartner, von der Katholisch-Theologischen: Herr Prof. Dr. Joh. Nikel, „ Domherr Dr. Anton Bergei, von der Evangelisch -Theologischen: Herr Prof. Dr. Wobbermin, von der Technischen: Herr Prof. Schilling, von der Sektion für Kunst der Gegenwart: Herr Architekt Felix Henry, ,, Geh. Reg. -Rat Prof. Dr. Koch. von der Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hütten- wesen: Herr Berghauptmann Schmeiße r und ,, Prof. Dr. Frech. Über die Tätigkeit der einzelnen Sektionen berichten die Herren Sekretäre das Folgende: Die medizinische Sektion hielt 19 Sitzungen ab, einschließlich 5 klinischer Abende. Für die Periode 1912/13 sind gewählt: als 1. Sekretär, zugleich als Vorsitzender der Sektion: Herr Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Neisser, als 2. Sekretär, zugleich als stellvertretender Vorsitzender: Herr Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Minkowski, ferner : Herr Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Part sch, ,, Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Ponfick, ,, Prof. Dr. Röhmann, ,, Prof. Dr. Rosenfeld, ,, Prof. Dr. Tietze. Die hygienische Sektion hielt 1 Sitzung. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Pfeiffer, ,, Geh. Med.- u. Reg. -Rat Dr. Telke. Die naturwissenschaftliche Sektion hielt 5 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Allgemeiner Bericht. 7 Herr Geh. Reg. -Rat Prof. Dr. Hintze, ,, Prof. Dr. Pringsheim, ,, Prof. Dr. Biltz. Die zoologisch-botanische Sektion hielt 7 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Pax, „ Prof. Dr. Kükenthal. Die Sektion für Obst- und Gartenbau hielt 3 Sitzungen. Zum Sekretär wurde gewählt: Herr Prof. Dr. Rosen, zum Stellvertreter: Herr Kgl. Garteninspektor Hölscher, zum Verwaltungsvorstand: Herr Verlagsbuchhändler und Handelsrichter Max Müller. Die historische Sektion hielt 2 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Kaufmann, ,, Archivdirektor Geh. Archivrat Dr. Meinardus, ,, Prof. Dr. Schoenaich. Die Sektion für Rechts- und Staats-Wissenschaften hielt 15 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Justizrat Prof. Dr. Leonhard, ,, Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Julius Wolf, ,, Oberlandesgerichts-Präsident Dr. Vier haus. Die philologisch-archäologische Sektion hielt 2 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Foerster, „ Geh. Reg.-Rat u. Prov. -Schulrat Dr. Thalheim. Die orientalisch-sprachwissenschaftliche Sektion hielt 1 Sitzung. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Prof. Dr. Meissner, „ Prof. Dr. Schräder. 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Die Sektion für neuere Philologie hielt 1 Sitzung. Zu Sekretären wurden gewählt : Herr Geh. Reg. -Rat Prof. Dr. Appel, ,, Geh. Reg. -Rat Prof. Dr. Max Koch, ,, Prof. Dr. Sarrazin , ,, Prof. Dr. Diels. Die mathematische Sektion hielt 2 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Reg. -Rat Prof. Dr. Kneser, ,, Realschuldirektor Prof. Dr. Peche. Die philosophisch-psychologische Sektion hielt 7 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Prof. Dr. Stern, zugleich Vorsitzender, ,, Prof. Dr. Baumgartner, ,, Prof. Dr. Kühnemann. Die katholisch-theologische Sektion hielt 7 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Prof. Dr. Joh. Nikel, ,, Religions- und Oberlehrer Herrn. Hoffmann. Die evangelisch-theologische Sektion hielt 6 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Prof. Dr . Wobbermin, ,, Kircheninspektor Propst D. Decke. Die technische Sektion hielt 1 Sitzung. Zu Sekretären wurden gewählt : Herr Prof. Schilling, ,, Professor ®ip(.=^rtg. Wohl. Die Sektion für Kunst der Gegenwart hielt 5 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Architekt Felix Henry, „ Baurat Karl Grosser, Allgemeiner Bericht. 9 Herr Geh. Reg. -Rat Professor Dr. Max Koch, „ Professor Dr. Kinkel dey, ,, Privatdozent Dr. Landsberger. Die Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen hielt 6 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Berghauptmann Schmeisser, ,, Prof. Dr. Frech, „ Geh. Reg. -Rat Prof. Dr. Supan, ,, Dr. Lachmann, „ Dr. Dyhrenfurth, ,, Bergwerksdirektor Eckert. Allgemeine Versammlungen haben 4 stattgefunden. In ihnen wurden folgende Vorträge gehalten: 1. Am 3. Februar von Herrn Prof. Dr. Stock: „Die Versorgung von Landwirtschaft und Industrie mit Stick- stoffverbindungen“ (mit Experimenten). 2. Am 29. Februar von Herrn Prof. Dr. von Wenckstern: ,, Hegel und Marx“. 3. Am 16. November hielt Herr Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Küttner einen durch Lichtbilder und zahlreiche Demonstrationen erläuterten Vortrag: „Über den heutigen Stand der Kriegschirurgie“. 4. Am 28. Dezember (im Anschluß an die Hauptversammlung): Herr Professor Dr. Gercke über: „Homer“. Zur Erinnerung an die erste Wanderversammlung, welche vor fünfzig Jahren 1862 in Görlitz stattfand, hielt die Gesellschaft am 9. Juni eben- dort eine Jubiläums-Wander Versammlung ab. Die Teilnehmer der. Gesellschaft wurden am Bahnhof von Herrn Oberbürgermeister Snay, sowie den Vorständen und Mitgliedern der drei wissenschaftlichen Gesellschaften in Görlitz, der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften, der Naturforschenden Gesellschaft und der Gesellschaft für Anthropologie und Urgeschichte der Oberlausitz aufs liebenswürdigste begrüßt. Nach einem Frühstück auf dem herrlich gelegenen Blockhause wurden in Gruppen unter sachgemäßer Führung einiger dortiger Herren die Stadt, das Kaiser Friedrich -Museum, das Museum der Naturforschenden Gesellschaft und die Sammlungen der 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften besichtigt. Hierauf fanden sich die Teilnehmer im Bankettsaale der Stadthalle zur Festsitzung zusammen. Der Präses begrüßte die Versammlung mit herzlichen Worten und erinnerte mit einem kurzen Rückblick an den ersten Besuch der Stadt Görlitz durch die Gesellschaft. Alsdann berief er in das Ehren- präsidium der Festsitzung die Herren, den Landeshauptmann der preußischen Oberlausitz und Vorsitzenden der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissen- -schaften, Herrn von Wiedebach u. Nostitz-Jänkendorf, Oberbürger- meister Snay, Stadtverordneten-Vorsteher Justizrat Roth, den Vorsitzenden der Naturforschenden Gesellschaft Sanitätsrat Dr. Fr eise und den Vorsitzen- den der Gesellschaft für Anthropologie und Urgeschichte der Oberlausitz Museumsdirektor Fey er abend. Mit einem Danke an die Vertreter der Behörden von Provinz und Stadt schloß der Präses die Begrüßungsansprache. Zunächst dankte der Landeshauptmann für die Begrüßung im Namen der verwandten Gesellschaften. Herr Oberbürgermeister Snay begrüßte die Versammlung namens der Stadt, die mit denselben Gefühlen wie 1862 die lieben Gäste willkommen heiße. Der Präses dankte für die Willkommen- grüße und nahm dann das Wort zu dem ersten Vortrage über ,. Franz Gar eis, ein Künstler der Oberlausitz“, welchen er durch einige Lichtbilder erläuterte. Den zweiten, von zahlreichen Experimenten be- gleiteten Vortrag hielt Herr Geheimrat Prof. Dr. Lummer über „den nutzbaren Energievorrat der Erde“. Alsdann sprach Herr Museums- direktor Feyerabend über ,, Alt-Görlitz in Lichtbildern“. Der Redner gab ein Bild über die Entwickelung der Stadt in den verschiedensten Zeitabschnitten, über die hervorragendsten Kunstdenkmäler, die altehr- würdigen Kirchen, die großartigen Profanbauten usw. Allen drei Vorträgen wurde von der Versammlung lebhafter Beifall gespendet. An diese Vor- träge schloß sich das Festmahl. Der Präses brachte das Kaiserhoch aus. Herr Oberlandesgerichtspräsident Dr. Vier haus sprach auf die Stadt Görlitz mit ihrer reichen historischen Vergangenheit. Herr Oberbürger- meister Snay dankte in launigen Worten dem Vorredner und brachte sein Hoch auf die Gesellschaft aus. Herr Professor Rosenfeld rühmte in humorvoller Weise die Tätigkeit der drei gelehrten Gesellschaften von Görlitz. Der Landeshauptmann erinnerte in seinem Trinkspruche an die erfreulichen Fortschritte der Kultur der Heimat, des Schlesierlandes in den letzten fünfzig Jahren und dankte der Gesellschaft für die wunder- volle Erinnerungsfeier. Nachdem ein humorvolles, von Herrn Carl Biberfeld gedichtetes Lied gesungen worden war, brachte Herr Museums- direktor Feyerabend den Damentoast aus. Nach dem Festmahl vereinte noch längere Zeit eine zwanglose, gemütliche Unterhaltung die Teilnehmer mit den Görlitzer Freunden. Präsidial-Sitzungen haben 3 stattgefunden. In ihnen wurden folgende Beschlüsse gefaßt: Allgemeiner Bericht. 11 Die neu begründete „Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen“ wurde ermächtigt, neben dem Jahresbeiträge eine besondere Umlage in Höhe von 2 Mark zu erheben und ihrem eigenen Schatzmeister zuzuführen, zu welchem Herr Dr. Lachmann bestimmt ist. Auf Antrag der „Chemischen Gesellschaft zu Breslau“ gab das Prä- sidium seine Zustimmung zur Umwandlung dieser Gesellschaft in eine Sektion der Gesellschaft, welche den Namen „Chemische Sektion (Chemische Gesellschaft zu Breslau)“ führen soll. Sie wird zur Zulassung außer- ordentlicher Mitglieder berechtigt, deren Jahresbeitrag sieh auf 3 Mark belaufen soll. Die Hauptversammlung vom 28. Dezember beschloß die dadurch erforderlich gewordene Änderung des § 8 der Satzung. Herr Lehrer Amft in Habelschwerdt hat dem Präses ein Werk überreicht, betitelt „Volkslieder der Grafschaft Glatz“, begleitet von der Bitte, zur Deckung eines durch die Drucklegung bedingten Fehlbetrages von 1 200 Mark eine Beihilfe zu gewähren. Diesem Anträge hat zwar nicht entsprochen werden können, wohl aber sind 2 Exemplare an- gekauft und der Bibliothek überwiesen worden. Herr Professor Dr. Andreas Galle in Potsdam schenkte aus der Bibliothek seines Vaters ein vollständiges Exemplar der Gesellschaftsschriften. Von dem langjährigen Mitgliede und hochverdienten Vorsitzenden der Historischen Sektion, Herrn Geh. Archivrat Professor Dr. Grünhagen, hat dessen Witwe ein photographisches Abbild als Geschenk überwiesen. An der für Breslau bevorstehenden Jahrhundertfeier 1913 beschloß das Präsidium, sich durch Ausstellung von Gemälden des Stifters Müller und des Professors Reiche, sowie der Bach-Mü tz el sehen Sammlung zu beteiligen. Die Einladungen des Vereins für Naturkunde zu Zwickau, des Preuß. Botanischen Vereins zu Königsberg in Pr., des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen zu Prag, des Schle- sischen Central-Gewerbe-Vereins zu Breslau zur Feier ihres fünf- zigjährigen Bestehens, sowie der Academy of Natural Sciences of Philadelphia und des Koni gl. Friedrichs-Gymnasium zu Breslau zur Feier ihres hundertjährigen Bestehens wurden durch Glückwunsch- schreiben beantwortet. . Dem Rice Institute of Liberal and Technical Learning in Houston, Texas, wurde gleichfalls auf die Einladung zu den aus Anlaß der Eröffnung der dortigen Universität am 10., 11., 12. Oktober 1912 statt- findenden Feierlichkeiten Glückwünsche schriftlich übermittelt. Bei der Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Vereins für Ge- schichte der bildenden Künste zu Breslau wurde die Gesellschaft durch den Vize-Präses, Herrn Oberbürgermeister Dr. Bender vertreten, welcher die Glückwünsche der Gesellschaft darbrachte. 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Dem Ehrenmitgliede der Gesellschaft, Sr. Eminenz Herrn Kardinal Fürstbischof Dr. Ko pp überbrachte der Präses, begleitet von den Herren Geh. Med. -Rat Prof. Dr. Ponfick und Prof. Dr. Joh. Nikel am 21. Oktober die Glückwünsche der Gesellschaft zu seinem Goldenen Priesterjubiläum und 25 jährigen Jubiläum als Fürstbischof von Breslau. Bericht über die Bibliothek. Die im Austausch eingegangenen Gesellschaftsschriften und Zeitschriften lagen im Lesezimmer mehrere Wochen zur Benutzung aus und wurden dann von der Königlichen und Universitäts-Bibliothek in der üblichen Weise von Woche zu Woche übernommen. Als Geschenkgeber seien mit Dank genannt: das Kuratorium der Fraenkel’schen Stiftungen, der Magistrat, die Kaiserliche Ober- postdirektion, die Schlesische Fried rieh- Wilhelm-Universität, der Schlesische Zentral-Gewerbe-Verein und die Herren Augenarzt Dr. Depene, Regierungsbaumeister SDr.^ng. Nonn und Landesrat Schober hierselbst, ferner der Deutsche Flotten-Verein in Berlin, der Preußische Botanische Verein in Königsberg, das Lehrer- kollegium des Königlichen e v a n g. Gymnasiums in H i r s c h b e r g in Schl, und Herr Professor Dr. R ei mann in Hirschberg i. Schl. Die „Wi ener Klinische Rundschau“ hat sich bereit erklärt, ein Frei- exemplar ihrer Zeitschrift der Gesellschaft regelmäßig zu überweisen. Dem Schriftenaustausch sind im Jahre 1912 beigetreten: das Gesamtarchiv der deutschen Juden in Berlin, die Stadtbibliothek in Königsberg i. Pr. Bericht über das Herbar der Gesellschaft. Da außer dem Unterzeichneten fast sämtliche im vorigen Jahres- berichte genannten Floristen auch im abgelaufenen Jahre mehr oder weniger umfangreiche Beiträge zum Herbar geliefert haben, hat sein Bestand wieder wesentlich zugenommen. Auch die Sammlung von Photographien schlesischer Naturdenkmäler und diejenige der Meßtischblätter wurden um mehrere Nummern vermehrt; für erstere spendete Herr Graf von Reichenbach (Goschiitz) einige besonders schöne Aufnahmen aus seinem Waldbesitze. Prof. Dr. T h e o d o r Sc h u b e. Allgemeiner Bericht. 13 Kassen-Verwaltungsbericht für das Jahr 1912. Zu dem Bestand des Gesellschaftsvermögens am 31. Dezember 1911 von in bar in Wertpapieren 6 857,80 Mk. 300,— Mk. traten an Einnahmen im Jahre 1912 hinzu 22 418,15 „ 29 275,95 ML 300,— Mk. Verausgabt wurden im Jahre 1912 18 908,31 „ 19 mithin verbleiben: in bar 10 367,64 Mk., in Wertpapieren 300,— Mk. Breslau, den 31. Dezember 1912. Berve, z. Zt. Schatzmeister. 3 Xir 1012. Titel 3. 4. 5. 6. verneine Kasse. Ausgabe. Bestand am 31. Dterstützungen : Zinsen von Wertp|n . . . l 200,— Div. für 1912 mer 780 — Zinsen von G^{-we des früheren Kastellans ,, 300, — Mitglieder-Beiträge : Wasserverbrauch : a. einheimische 1 dl 1 117,82 b. „ f c. auswärtige füi . . . . dl 1 308,71 Jahresbeitrag der F • • » 728,04 ,, 2 036,75 Jahresbeitrag der S „ 47,88 Außerordentliche Een • Verkauf von S Einnahmen aus dei a. durch Vermiet b. Rückvergütungerichtskosten c- . „ dl 196,— . „ 120,70 s r 1912 ankvereins-Anteil Wert- papiere M 300 300 Breslau, denen un(j richtig befunden. geZMai 1913. . Zt. Rechnungsrevisor. Bar M 2 280 202 110 542 218 62 3 767 715 987 316 1 120 3 3 375 202 10 367 29 275 45 35 40 90 53 22 59 97 70 70 22 28 64 95 Kassen -A.bsch.luss für das Jahr 1912. Allgemeine Kasse. Einnahme. Bestand am 31. Dezember 1911 Zinsen von Wertpapieren und Guthaben: Div. für 1912 7 l/a °/o von 300 Schles. Bankv.-Ant. dl 22,50 Zinsen von Guthaben beim Schles. Bankverein . . .. 38G,65 Mitglieder-Beiträge: a. einheimische für 1912 (931) dl 9 310, — b. „ für das II. Semester 1912 (5) . . „ 25, — c. auswärtige für 1912 (183) 1 098, — Jahresbeitrag der Provinz Schlesien Jahresbeitrag der Stadt Breslau Außerordentliche Einnahmen : Verkauf von Schriften, Leihgebühren etc Einnahmen aus dem Gesellschaftshause: a. durch Vermietungen dl 3 925, — b. Rückvergütung für Heizung „ 271,50 c. „ „ Beleuchtung 1 781,85 Wert- papiere M 4 10 433 3 000 2 000 591: Breslau, den 31. Dezember 1912. gez. Berve, z. Zt. Schatzmeister. Allgemeine Kasse. Ausgabe. Gehälter und dauernde Unterstützungen: a. Gehalt an den Kastellan dl 1 200, — b. „ „ ,, Hausdiener „ 780. c. Unterstützung an die Witwe des früheren Kastellans ,, 300, — Heizung, Beleuchtung und Wasserverbrauch: a. Koks, Kohle, Holz dl l 117,82 b. Beleuchtung: Elektrisch dl 1 308,71 Gas ■ „ 728,04 „ 2 036,75 c. Wasser Schreibbedarf und Materialien ....... . T Zeitungsinserate Druckkosten Versicherungen (Feuer) 47,88 Stempel, Steuergebühren, Gerichtskosten Steuern Kleine Ausgaben Porto-Ausgaben Fernsprecher: No. 3702 196,— „ 9475 „ 120,70 Instandhaltung des Gebäudes Postscheck-Konto Hypothekenzinsen Verschiedenes Barbestand am 31. Dezember 1912 Bestand an Wertpapieren: dl 300 Schlesischer Bankvereins-Anteil Wert- papiere Geprüft, mit den Belegen verglichen und richtig befunden. Breslau, den 27. Mai 1913. gez. Leser, z. Zt. Rechnungsrevisor. 3 202 110 542 5 218 62 3 767 715 987 316 1 120 3 375 202 10 367 (§>*( 90- Jahresbericht. 1912. O.f 5 -q) II. Abteilung. Naturwissenschaften. a. Naturwissenschaftliche Sektion. Xi3 Sitzungen der naturwissenschaftlichen Sektion im Jahre 1912. Sitzung am 9. Februar. Goethes chemische Berater und Freunde*). Von Herrn Professor Dr. Julius Schiff. Über eine mögliche Beschränkung der Quanten-Hypothese. Von Herrn Dr. Gibson. Sitzung am 21. Februar. Zur kinetischen Theorie des osmotischen Druckes konzentrierter Lösungen und der Gültigkeit des Henry’schen Gesetzes für dieselben. Von Herrn Otto Stern. I. Theoretischer Teil. Die von van’t Hoff entwickelte Theorie der Lösungen stützt sich auf den Grundbegriff des osmotischen Drucks. Habe ich (Figur 1) eine wässerige Zuckerlösung, die durch einen für Zucker undurchlässigen,, für Wasser durchlässigen Stempel von reinem Wasser getrennt ist, so muß ich auf diesen Stempel einen Druck ausüben, um dem Bestreben der Zuckerlösung, sich mit dem reinen Wasser zu vermischen und den Stempel in die Höhe zu heben, das Gleichgewicht zu halten. Dieser Druck ist der osmotische Druck der Zuckerlösung. Ganz allgemein ist der osmotische Druck einer Lösung der Druck, der auf eine die Lösung von reinem Lösungsmittel trennende semipermeable Wand ausgeübt wird. Die grund- legende Bedeutung des osmotischen Druckes für die Theorie der Lösungen beruht darauf, daß er ein einfaches Maß für die beim Vermischen von *) Abgedruckt in „Deutsche Rundschau“ 1912, 38, 450. 1912. 1 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Lösungsmittel und gelöstem Stoff maximal zu gewinnende Arbeit bildet. Lasse ich nämlich in dem in Figur 1 dargestellten Modell eine unendlich kleine Menge Lösungsmittel zur Lösung hinzutreten, so wird der Stempel um ein unendlich kleines Stück gehoben, und hierbei die Arbeit k dv ge- leistet, wenn dv die unendlich kleine Volumzunahme der Lösung und tc ihr osmotischer Druck ist. Diese Arbeit muß aber nach dem zweiten Haupt- satze gleich derjenigen maximalen Arbeit sein, die man erhält, falls man auf irgend einem anderen isothermen und reversiblen Wege die Lösung um das Volumen dv verdünnt (z. B. durch Überdestillieren von Lösungs- mittel). Man erhält also, indem man die auf irgend einem anderen Wege erhaltene Arbeit gleich Ttdv setzt, eine Beziehung zwischen 7t und den bei diesem Wege benutzten Größen, z. B. Dampfdruck, Siedepunkt, Gefrier- punkt etc. der Lösung. Nach van’t Hoff gilt nun für verdünnte Lösungen folgende Beziehung: Ti = RT e wobei c die Konzentration der Lösung in Mol pro 1, T die absolute Tem- peratur und R die Gaskonstante ist, d. h. der osmotische Druck einer Lösung ist gleich dem Druck, den der gelöste Stoff als ideales Gas von der gleichen Konzentration ausüben würde. Wir kennen also ganz allge-, mein für verdünnte Lösungen die Abhängigkeit des osmotischen Drucks von der Konzentration des gelösten Stoffes und können somit ohne weiteres auf dem oben beschriebenen Wege eine Reihe einfacher Gesetzmäßig- keiten für Dampfdruck, Siedepunkt etc. verdünnter Lösungen ableiten. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 3 Außerdem gestattet das einfache Gesetz für den osmotischen Druck, das Massenwirkungsgesetz für chemisch miteinander reagierende gelöste Stoffe abzuleiten und die Hypothese von Avogadro von Gasen auf Lösungen zu übertragen. Es ist bekannt, daß die hier angedeutete Theorie von van’t Hoff von der größten Tragweite und Fruchtbarkeit für die gesamte physikalische und reine Chemie gewesen ist und noch ist. Die ganze Theorie gilt aber nur für verdünnte Lösungen. Denn wenn auch die thermodynamisch begründeten Beziehungen zwischen osmotischem Druck und anderen Eigenschaften der Lösung für beliebig konzentrierte Lösungen gelten, so ist doch gerade das Gesetz, welches den osmotischen Druck konzentrierter Lösungen beherrscht, unbekannt. Es aufzufinden, wäre, wie man sieht, von der größten Wichtigkeit. Es sind auch schon eine große Reihe von Versuchen in dieser Richtung gemacht worden, doch ohne nennenswerten Erfolg. Zur Lösung der Aufgabe stehen uns zwei Wege zur Verfügung, der des Experimentes und der der Theorie. Man kann also erstens aus Dampfdruckmessungen etc. an Lösungen bekannter Kon- zentration ihren osmotischen Druck berechnen und suchen, rein empirisch eine Gleichung zu finden, welche die Abhängigkeit des osmotischen Druckes von der Konzentration wiedergibt. Die in dieser Richtung, zum Teil im Verein mit theoretischen Überlegungen unternommenen Versuche genügen jedoch nicht, um eine bestimmte Formel als allgemein gültig zu bestätigen. Bemerkenswert ist allerdings, daß die einfache, lineare Gleichung RT 71 = ü » v — b in der v = ^ und b eine Konstante ist, sich in vielen Fällen gut bewährt1). Es gibt aber auch Fälle, in denen schon bei sehr geringen Konzentrationen die einfache Formel versagt, besonders bekanntlich bei Lösungen starker Elektrolyte. Der zweite Weg ist der, die gesuchte Formel aus der Theorie, d. h. mit Hilfe bestimmter Hypothesen abzuleiten. Hierfür kann nicht, wie manche glauben, die Thermodynamik in Betracht hoiumen. Denn diese kann nie etwas über die absolute Größe des osmotischen Druckes lehren. Selbst das einfache Gesetz für verdünnte Lösungen läßt sich nicht rein thermodynamisch begründen, sondern man braucht dazu molekular- theoretische Hypothesen, die allerdings in diesem Falle ziemlich allgemein und weit gefaßt sein können2). Will man also das Gesetz für Lösungen beliebiger Konzentration theoretisch ableiten, so kommt hierfür als Grund-: läge nur die kinetische Molekulartheorie in Betracht. Für diesen Weg haben wir als Beispiel die Entwickelung der Gastheorie vor uns. Die Gesetze für den Druck idealer d. h. verdünnter Gase und den osmotischen Druck verdünnter Lösungen sind ja, was Form und Bedeutung !) 0. Sackur, Zeitscbr. phys. Chem. 70, 447 (1909). 2) Planck, Thermodynamik, 2. A., S. 218 — 19, 1905. 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. anlangt, völlig analog. Bekanntlich ist es nun bei den Gasen van derWaals gelungen, auf Grund molekulartheoretischer Hypothesen eine Formel ab- zuleiten, die nicht nur das Verhalten der Gase bei höheren Drucken, sondern auch die kritischen Erscheinungen, ja selbst das Verhalten der Flüssigkeiten mit guter Annäherung wiedergibt. Da van der Waals über- dies seine Theorie auch auf Gemische ausgedehnt hat, so liegt es nahe, zu versuchen, mit Hilfe der von ihm benutzten Voraussetzungen eine Formel für den osmotischen Druck konzentrierter Lösungen analog seiner Formel für komprimierte Gase abzuleiten. Dieser Versuch ist schon mehr- fach gemacht worden, und es existiert eine ganze Reihe von Formeln, die das Problem auf diese Weise gelöst zu haben beanspruchen1). Da die Theorie von van der Waals eindeutig ist und aus ihr nur eine Formel folgen kann, und da außerdem die Beweise der obigen Formeln mir teils unvollständig, teils unscharf erscheinen, will ich im folgenden versuchen, die aus der Theorie von van der Waals für den osmotischen Druck sich ergebende Formel in möglichst einwandfreier und strenger Weise abzu- leiten. Um diese Aufgabe zu lösen, muß zuerst die einfachere Aufgabe, den osmotischen Druck verdünnter Lösungen mit Hilfe der Molekulartheorie zu berechnen, gelöst sein. Boltzmann, Riecke und Lorentz haben dieses Problem behandelt2). Im Gegensätze zu den idealen Gasgesetzen, deren Ableitung sich mit Hilfe der kinetischen Gastheorie äußerst klar und einfach gestaltet, liegen die Verhältnisse hier schon bei den verdünnten Lösungen recht kompliziert. Ich will zunächst auf einem sich an die Arbeit von Lorentz anlehnenden Wege einen Beweis für die Formel tz — RT c zu geben versuchen. Die erste Schwierigkeit, die sich hier sofort erhebt, ist die, daß wir uns über den Mechanismus einer semipermeablen Wand bestimmte Vorstellungen machen müssen, wenn wir den auf sie ausgeübten Druck berechnen wollen. Über diesen Mechanismus wissen wir so gut wie nichts; ja es ist leicht möglich, daß die selektive Wirkung verschiedener halbdurchlässiger Wände auch auf ganz verschiedenen Ursachen beruht. Zum Glück hilft uns hier die Thermodynamik. Denn diese lehrt ja, daß die Arbeit, die wir beim Verdünnen der Lösung um dv maximal erhalten können, ganz unabhängig ist von dem Wege, auf dem wir den Vorgang sich abspielen lassen. Wenn wir also verschiedene halbdurchlässige Stempel mit ganz beliebigen Mechanismen anwenden, muß der auf sie wirkende Druck für alle gleich sein, da die mit ihrer Hilfe maximal zu 1) Bredig, Zeitschr. phys. Chemie 4, 44 (1889), Noyes, ebenda 5, 83 (1890), aufgenommen in Ostwalds Lehrbuch. Berkeley u. Hartley, Arrhenius u. a. Sackur (1. c.) s. Literatur. 2) Boltzmann, Zeitschr. phys. Chem. 6, 474 (1890), 7, 88 (1891); Riecke, ebenda 6, 564; Lorentz, ebenda 7, 36. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 5 erhaltende Arbeit in allen Fällen gleich, nämlich Ttdv, sein muß. Wir können uns also den Mechanismus ganz beliebig vorstellen, falls er nur nicht den Gesetzen der Thermodynamik widerspricht. Nach dem Vorgänge von Lorentz denken wir uns der Einfachheit halber die semipermeable Wand als mathematische Ebene, welche die Moleküle des Lösungsmittels frei hindurchläßt, für die des gelösten Stoffes aber undurchdringlich ist. Figur 2 stelle nun einen allseitig geschlossenen Zylinder dar, dessen rechte Hälfte mit Lösung gefüllt ist, die durch die semipermeable Ebene E von reinem Lösungsmittel in der linken Hälfte getrennt wird. Die schraffierten Kreise sollen die Moleküle des gelösten Stoffes, die leeren die des Lösungs- mittels vorstellen. Um den auf E ausgeübten Druck zu berechnen, braucht man nur die von den gelösten Molekülen herrührenden Stöße zu berück- sichtigen, da die Lösungsmittelmoleküle glgtt durch E hindurchgehen. Würden diese auch auf die gelösten Moleküle keinerlei Wirkung ausüben, so wäre der osmotische Druck einfach gleich dem, den der gelöste Stoff ausüben würde, wenn er den Raum als Gas erfüllen würde, also gleich RTc bei einer verdünnten Lösung. Es ist aber das Lösungsmittel gerade in einer verdünnten Lösung sehr konzentriert und beeinflußt die gelösten Moleküle nach der van der Waalssclien Theorie auf zwei Weisen. Erstens übt es eine Anziehung auf die gelösten Moleküle aus, die proportional der Konzentration der anziehenden und der angezogenen Moleküle ist. Durch die Anziehung der in der Lösung befindlichen Lösungsmittelmolekeln wird also die Wucht, mit der die gelösten Moleküle auf E treffen, ver- ringert und somit der osmotische Druck verkleinert. Man sieht jedoch sofort, daß diese Wirkung durch die Anziehung kompensiert wird, welche auf die auf E auftreffenden Moleküle von dem reinen Lösungsmittel auf der anderen Seite der Ebene ausgeübt wird. Denn da man die Konzentration der Lösungsmittelmolekeln in der verdünnten Lösung gleich der im reinen Lösungsmittel setzen kann, ist die Kraft, mit der die auf E stoßenden gelösten Moleküle nach der Lösung zurückgezogen werden, gleich derjenigen, mit der sie nach der Seite des reinen Lösungsmittels hingezogen werden. Die Resultierende der insgesamt auf sie wirkenden Anziehungskräfte ist also gleich Null. Etwas schwieriger liegt die Sache bei der zweiten Art der Beeinflussung, bei den abstoßenden Kräften. Diese rühren her von dem Eigenvolum der Lösungsmittelmolekeln, welches beim Siedepunkt nach van der Waals etwa 1Ji des gesamten von einer Flüssigkeit eingenommenen Raumes beträgt. Der den gelösten Molekülen zur Verfügung stehende Raum kann also höchstens 3/4 des Volumens der Lösung betragen und der osmotische Druck müßte aus diesem Grunde mindestens 4/3 X so hoch gefunden werden, als der ideale Gasdruck. Wir müssen jedoch hier wieder berücksichtigen, daß wir es nicht mit einem Druck auf eine gewöhnliche, sondern auf eine halbdurchlässige Wand zu tun haben1). Es sind daher x) S. a. Nernst, Theoret. Chemie, 5. A., S. 248. TSU 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. ständig Lösungsmittelmolekeln im Durchgänge durch E begriffen. Ein Teil der gelösten Moleküle, der sonst, falls die Wand eine gewöhnliche wäre, auf diese treffen würde, trifft statt dessen auf gerade durch sie hindurchfahrende Lösungsmittelmolekeln, wie dies in Figur 2 z. B. bei P der Fall ist. Mit anderen Worten, der osmotische Druck, den wir messen, ist nicht der ganze von den gelösten Molekülen ausgeübte Druck, sondern nur ein Teil davon, während der andere Teil von den von der Seite des reinen Lösungsmittels her kommenden Molekülen, also vom Lösungsmittel, aufgefangen wird. Um diesen Teil zu berechnen, denken wir uns zunächst alle Lösungsmittelmolekeln in Ruhe. Dann wird der durch sie den ge- lösten Molekülen weggenommene Raum einfach gleich der Summe der Eigenvolumina der in der Lösung befindlichen Lösungsmittelmolekeln sein. Ihre Wirkung können wir uns daher ersetzt denken durch einen kompakten Zylinder, dessen Volumen gleich dieser Summe der Eigenvolumina ist. In Figur 2 bedeuten die gestrichelten Linien diesen Zylinder, der sich in gleichmäßiger Dicke durch Lösung und reines Lösungsmittel erstreckt, da in beiden die Konzentration der Lösungsmittelmoleküle und somit auch die Summe ihrer Eigenvolumina dieselbe ist. Die Grundfläche dieses Volum- zylinders V sei ß, während die des Gefäßzylinders G gleich 1 gesetzt ist. Sei nun die Länge des von der Lösung erfüllten Teiles gleich 1, so ist das Volumen der Lösung 1-1 =1. Das Volumen des in der Lösung- liegenden Teiles des Volumzylinders ist ß-1, d. h. dies ist der den gelösten Molekülen weggenommene Raum. Ihr Druck ist also um — — ^ | ^ größer, als wenn ihnen das gesamte Volumen der Lösung zur Verfügung RTc stünde, mithin gleich - p. Es ist aber aus der Figur auch ohne weiteres ersichtlich, welcher Teil der Ebene E von Lösungsmittelmolekeln durch- setzt ist. Seine Größe ist gleich dem Querschnitt durch den Volumzylinder, also gleich ß. Der auf diesen Teil der Ebene wirkende Druck gelangt nicht zur Messung, sondern nur der auf den restlichen Teil der Ebene von der Größe 1 — ß wirkende Druck kommt für die Berechnung des RTc osmotischen Druckes in Betracht. Dieser ist also gleich - (1 — ß), 1 — ß ' ’ da der Druck gleichmäßig über die ganze Ebene hin wirkt. Es ist also tu = RTc. Lassen wir nun die Voraussetzung fallen, daß die Lösungsmittelmoleküle in Ruhe sind, so lehrt die van der Waalssche Theorie, daß der von ihnen den gelösten Molekülen weggenommene Raum größer ist als die Summe ihrer Eigenvolumina. Jedoch wird hierdurch die Deduktion nicht geändert, da nur die absolute Größe von ß hierdurch beeinflußt wird. Man sieht also, daß nach der van der Waalsschen Theorie der osmotische Druck in verdünnten Lösungen tatsächlich gleich dem Gasdruck ist, den der gelöste 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Körper in demselben Volum ausüben würde, da die Beeinflussungen durch die Lösungsmittelmoleküle herausfallen. Für die Anziehungskräfte folgt dies daraus, daß ein auf die semipermeable Wand stoßendes Molekül von allen Seiten gleichmäßig von Lösungsmittel umgeben ist, so daß jedesmal die in einer bestimmten Richtung wirkende Anziehungskraft von einer gleich großen in entgegengesetzter Richtung aufgehoben wird. Die von dem Eigenvolum des Lösungsmittels herrührenden abstoßenden Kräfte bewirken zwar eine Erhöhung des Druckes, dafür wird aber ein die Erhöhung gerade kom- pensierender Teil des Druckes von den die semipermeable Wand durch- setzenden Lösungsmittelmolekeln aufgefangen. Ich will nun die Voraussetzung, daß wir es mit einer verdünnten Lösung zu tun haben, fallen lassen und die allgemeine Formel für beliebig konzentrierte Lösungen ableiten. Ich setze dabei die Gültigkeit der van der Waalsschen Theorie für das betrachtete Gemisch voraus. Die Gültigkeitsgrenzen dieser Voraussetzung, die in Wirklichkeit ja nie ganz erfüllt sein wird, sollen erst weiter unten diskutiert werden. Nach van der Waals gilt für einen chemisch einheitlichen, nicht assoziierten Stoff, Gas oder Flüssigkeit, die Gleichung: (p+£) (v b) — R T. Hierin ist p der Druck und v das Volumen eines Mols, b ist das vier- fache Eigenvolum der in diesem Mol enthaltenen Moleküle, und a ist eine Konstante, die ein Maß für die Kraft ist, mit der die Moleküle sich gegen- seitig anziehen. Für ein Mol eines binären Gemisches gilt nun, wie van der Waals und Lorentz gezeigt haben, genau dieselbe Formel, nur hängen die Konstanten a und b, die in diesem Falle mit ax und bx be- zeichnet werden, von der Zusammensetzung des Gemisches in folgender Weise ab: ax = a, (1 — x)2 -f- 2a12x (1 — x) -j- a2x2 bx = b, (1 — x)2 + 2b12 x (1 — x) -f b2x2. Hier sind 1 — x und x die Anzahl Mole des Stoffes 1 resp 2, die in 1 Mol Gemisch enthalten sind, ax, bx, a2, b2 sind die Konstanten der reinen Stoffe, a12 und b12 sind zwei Konstanten, die der gegenseitigen Anziehung und Abstoßung der beiden Molekelarten Rechnung tragen. Es handelt sich zunächst darum, die Anteile, mit denen ein jeder der beiden Stoffe zu dem Gesamtdruck p beiträgt, zu sondern, m. a. W., die Partialdrucke p, und p2 der beiden Komponenten zu berechnen. Für ideale Gase würde nach dem Daltonschen Gesetz sich ergeben: RT / . RT , RT Pi = — C1 — *)> P2 = — x, Pi + P2 = — • Wir wollen nun zunächst nur die Wirkung der anziehenden Kräfte be- rücksichtigen. Dann würde z. B. der Partialdruck von 1 erstens durch die Anziehungskräfte der Moleküle 1 untereinander verkleinert werden. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 9 Nach van der Waals ist diese Verkleinerung proportional der Konzentration der angezogenen und der anziehenden Molekeln, die in diesem Falle gleich 1 x . / 1 — x\ 2 und gleich ist, also die Verkleinerung gleich ajf J , da a1 die Attraktionskonstante von 1 ist. Zweitens wird der Partialdruck aber auch durch die Anziehung verringert, welche die Moleküle 1 durch die Moleküle 2 erfahren. Da die Konzentration der angezogenen Moleküle 1 2 x x gleich , die der anziehenden Moleküle 2 gleich — und die gegen- v v v seitige Attraktionskonstante a12 ist, so ergibt sich für dieses Glied ^ ^ x) X a12 — . Somit ergibt sich für den Partialdruck von 1: RT M , a, (1 — x)2 Pt = — (1 - x) ^2- (1 — x)x Ebenso ergibt sich: P2 RT a2 x‘ Ti- ai2 C1 — x)x ax (1 — x)2 -f- 2 a12 (1 — x) x -j~ a2 x‘‘ v v “ Also ist, wenn wir zur Kontrolle den Ausdruck für p bilden: R T Pl + P2 = P = — [(1 — x) + x] — V V R T ax oder p = s. v v^ Versucht man nun ebenso für die abstoßenden Kräfte die Zerlegung an der Formel: RT P v — bx vorzunehmen, so stößt man auf Schwierigkeiten und erhält äußerst kom- plizierte und unübersichtliche Ausdrücke für die Partialdrucke. Die Ursache dieser Schwierigkeit liegt an der Ableitung der Formel: RT P v — bx Sie ist nämlich von Loren tz nicht in dieser Form abgeleitet worden, sondern er fand mit Hilfe des Virialsatzes: RT / . b. -¥(> + $• Diese Form ist mit der ersten bis auf Glieder zweiten Grades von — , d. h. v wenn — als kleine Größe betrachtet werden kann, identisch. Denn dann ist: v ’ 1 i b* bx 1 — 1 — — — , also 1 — I— — v v 1 -f- ^ v 1 — b ’ 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. folglich: p = vO + vO = RT 0-t) RT v — Da nun die Theorie doch nur auf erste Potenzen von — genau ist, der v letzte Ausdruck RT aber besser mit der Erfahrung übereinstimmt, hat v — bx van der Waals ihn seiner Theorie binärer Gemische zugrunde gelegt. Wir müssen aber zur Zerlegung von der ursprünglichen Lorentzschen Form ausgehen und wollen erst nachher wieder zur van der Waals sehen Form übergehen. Der Totaldruck ist demnach: RT v ' RTh I!T , RT bt (1 — x)2 -f 2b12 (1 — x) x -[- b2 x2 v v2 Wir wollen hier anders als bei der Berücksichtigung der Anziehungskräfte vergehen und untersuchen, welche Teile des obigen Ausdruckes auf die einzelnen Molekelarten kommen. Für px würde sich, wenn das Eigen- volum nicht berücksichtigt wird, wieder ergeben: RT n t Pi = — (! — x)- Nun wird aber dieser Druck erstens durch die abstoßenden Kräfte ver- größert, welche die Molekeln 1 bei Zusammenstößen unter sich selbst auf- J) 1 2 einander ausüben. Dieser Einfluß wird durch das Glied RT — ä v2 im obigen Ausdruck wiedergegeben, da hierin nur auf die Moleküle 1 be- zügliche Größen Vorkommen. Zweitens wird px dadurch vergrößert, daß auch die Molekeln 2 den Molekeln 1 Raum wegnehmen. Dieser Einfluß ist in dem Gliede RT 2b12 (1 — x) x enthalten, da es die Konstante b12 für die Wechselwirkung der beiden Molekelarten enthält. In diesem Gliede ist aber außerdem noch die Vergrößerung, die p2 durch die Zusammen- stöße der Molekeln 2 mit den Molekeln 1 erfährt, enthalten. Es fragt sich nun, welcher Anteil dieses Gliedes auf 1 und welcher auf 2 entfällt. Zur Beantwortung dient folgende Überlegung. Bei jedem Zusammenstoß, den ein Molekül 1 mit einem Molekül 2 erleidet, ist nach dem Axiom von der Gleichheit der Aktion und Reaktion die von 1 auf 2 gleich der von 2 auf 1 ausgeübten Kraft. Dies gilt ebenso für die Summe aller Zusammen- stöße zwischen 1 und 2, d. h. es ist überhaupt die von dem Stoffe 1 auf 2 ausgeübte Gesamtkraft gleich der vom Stoffe 2 auf 1 ausgeübten. Nun ist Druck gleich Kraft pro Flächeneinheit. Da aber die beiden Gase den- selben Raum erfüllen, haben sie auch überall den gleichen Querschnitt. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 11 Also wirken auf gleiche Querschnitte gleiche Kräfte, d. h. der von 1 auf 2 ausgeübte Druck ist gleich dem von 2 auf 1 ausgeübten. Die Summe der beiden Drucke ist *>ia (1 — x)x 2b18 ( 1 — x) x also jeder von ihnen ist gleich Dies ist die Vergrößerung, die px durch die Zusammen- stöße der Moleküle 1 mit 2 erfährt. Mithin ist: RT n Pi = V (1 x) +RT W (1 — x)2 + b12 (1 — x) x und P2 b12 (1 — x) x RT h x2 4- — x + RT v 1 V* woraus sich ohne weiteres durch Addition RT , R T bv p ~ ~ ergibt. Natürlich hätten wir dieselbe Methode wie hier auch bei der Be- rechnung des Einflusses der Attraktion anwenden können und wären dadurch, wie man ohne weiteres sieht, zu demselben Resultate gelangt. Bei gleichzeitiger Berücksichtigung von anziehenden und abstoßenden Kräften ergeben sich demnach aus der Formel RT RTbx. ax. P V V 2 V 2 die Partialdrucke der beiden Komponenten folgendermaßen: (i _ x) i RT bi(l — x)2-fb13(l— x)x _ at(l— x)2-f a12(l — x)x v V 2 V 2 Pl ps = x + RT h'*' + Qg(1 - X) X a2 x “ — j— a12 (1 — x) x woraus sich, wenn wir zur Kontrolle addieren und 1 -j wie oben um- v formen, für den Totaldruck wiederergibt: RT a.. v — bx v2 Wir wollen die Partialdruckformel jetzt auf die Lösung anwenden und zu diesem Zweck die Bezeichnungen ändern. Wir betrachten eine Lösung vom Volumen v, die ein Mol gelösten Stoff 1 und x Mole Lösungsmittel 2 enthält. Dann geht die Formel für p1? den Partialdruck des gelösten Stoffes, in folgende Gleichung über: RT Pi = RT bi + b12 x -j- a12 x v v v worin x und v jetzt also andere Bedeutung haben als bisher. Dies wäre der von den gelösten Molekülen auf E (Figur 2) ausgeübte Druck, falls E eine gewöhnliche Wand wäre. Nun soll E aber semipermeabel sein, und es muß deshalb die Wirkung des auf der linken Seite von E befindlichen 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Lösungsmittels berücksichtigt werden. Enthalten nun v Liter reines Lösungs- mittel x0 Mole, so ist seine Konzentration — . Die Anziehung, die es auf die auf E stoßenden gelösten Moleküle von der Konzentration - ausübt, ist also a19— • — = — -9~°. Die Anziehung wirkt aber in der Richtung auf das v v vJ reine Lösungsmittel zu, also den Druck vergrößernd, und es ergibt sich daher durch Kombination mit dem Anziehungseliede — - f 1 2 X in der Partial- V2 druckformel als endgültiger Ausdruck für das von den anziehenden Kräften herrührende Glied des osmotischen Druckes: ai I ai2x ai 2 xo ai ' al 2 (Xü x) V2 — v2 ’ wobei x0 — x die Differenz der Konzentrationen des Lösungsmittels in reinem Zustande und in der Lösung angibt. Um nun den Teil des Druckes zu berechnen, der von dem reinen Lösungsmittel links von E aufgenommen wird, gehen wir folgendermaßen vor. Wir denken uns zunächst, die Konzentration des Lösungsmittel in der Lösung sei eben so groß, wie in reinem Zustande. Dann können wir den oben bei der Behandlung der verdünnten Lösung gegebenen Beweis anwenden, d. h. in diesem Falle ist der Teil des von den gelösten Molekeln auf E ausgeübten Druckes, der von den Molekeln des reinen Lösungsmittels aufgenommen wird, gerade so groß, daß dadurch die durch das Eigenvolum der Lösungsmittelmolekeln in der Lösung bewirkte Vergrößerung des Druckes genau kompensiert wird. Diese Vergrößerung ist RT— , wie aus der Partialdruckformel hervor- vJ geht. So groß ist also auch die Verkleinerung des Druckes durch das Lösungsmittel links von E. Da diese aber nur von der Zahl der Zusammen- stöße der gelösten Moleküle mit denen des reinen Lösungsmittels, mithin auch nur von diesen Konzentrationen abhängt, so bleibt die Verkleinerung die gleiche, nämlich RT ^12 xo v2 ’ auch wenn die Konzentration des LösungS' X mittels in der Lösung eine andere ist, z. B. -. Somit ergibt sich für das von den abstoßenden Kräften herrührende Glied: RTbi + bi 2 x — bi2 x0 = p T bi — b18 (X0 — x) y 2 y2 wie zu erwarten in vollständiger Analogie zu dem Attraktionsgliede. Es ist mithin der osmotische Druck: tc= + RT — V V- x) (x0 — x) V- II. Abteilung. Naturwissenschaftiche Sektion. 13 oder wenn wir wieder die Umformung aus der Lorentzschen in die van der Waalssche Form vornehmen: _ , ai — a12 (x0 — x) _ RT V2 V - b, + b12 (x0 - X)’ wobei sämtliche anziehenden und abstoßenden Kräfte der Molekeln des gelösten Stoffes und des Lösungsmittels in und außerhalb der Lösung nach van der Waals berücksichtigt sind. Es handelt sich nun darum, die Gültigkeitsgrenzen dieser Gleichung und ihrer Voraussetzungen zu diskutieren. Hier ist zunächst klar, daß ihr Gültigkeitsbereich derselbe sein wird wie derjenige der van der Waalsschen Theorie. Diese gilt aber quantitativ nur für mäßig komprimierte Gase, für Flüssigkeiten nur qualitativ. Demnach würde also für unsere Formel, auf flüssige Lösungen angewandt, auch nur qualitative Bestätigung zu erwarten sein. Jedoch liegt die Sache bei näherer Betrachtung etwas günstiger. Was nämlich die anziehenden Kräfte anlangt, so ist für den van der Waals- schen Ansatz Voraussetzung, daß die Zahl der in der Attraktionssphäre eines Moleküls gelegenen Nachbarmoleküle groß ist. Diese Voraussetzung ist, wie man sieht, im flüssigen Zustande viel besser erfüllt, als in gas- förmigen, so daß das Attraktionsglied auch für flüssige Lösungen quantitative Geltung beanspruchen kann. Für die abstoßenden Kräfte dagegen hat van der Waals gezeigt, daß seine Formulierung, welche die Unabhängig- keit des b von v ausspricht, nur für Volumina, die größer sind als 2 b, gelten kann; anderenfalls wird b mit abnehmenden v kleiner. Was also das Glied bx anlangt, wird die Formel für Konzentrationen bis zu — — L Dj hinauf anzuwenden sein. Am ungünstigsten steht es mit dem Ausdrucke b12 (x0 — x). Denn für flüssige Lösungen wird die Konzentration des Lösungsmittels in der Lösung und erst recht in reinem Zustande stets größer sein, als es für die Berechnung von b12 zulässig ist. Es wird daher b12 kleiner sein als der aus der Theorie sich ergebende Wert (nach Lorentz ist Vb12 = A\ Vbt + Vb2f). Dagegen wird es erlaubt sein, b12 in dem betrachteten Konzentrationsintervall annähernd konstant zu setzen, zumal da für den gelösten Stoff, von dem b12 ja ebenfalls abhängt, die Konzentration innerhalb der von der Theorie geforderten Grenzen bleiben soll. Außerdem ist natürlich, wie stets bei der van der Waalsschen Theorie, Assoziation oder Bildung von Verbindungen ausgeschlossen. Jedoch dürfte auch für den Fall, daß nur das Lösungsmittel assoziiert ist, die Formel qualitative Gültigkeit behalten, da auch dann in erster Annäherung die Wirkung des Lösungsmittels auf den gelösten Stoff proportional der Differenz seiner Konzentrationen in- und außerhalb der Lösung ist. Was die quantitative Prüfung der Gleichung an der Erfahrung anlangt, so steht es hiermit recht ungünstig. Die Formel enthält nämlich vier 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Konstanten, von denen zwar zwei, ax und bj , aus den kritischen Daten des gelösten Stoffes berechenbar sind, die beiden anderen aber unbekannt sind. Man könnte nun diese unbekannten Konstanten a12 und b12 den Messungen entnehmen, doch darf es nicht als Bestätigung der Formel an- gesehen werden, wenn es gelingt, sie mit zwei verfügbaren Konstanten den Messungen anzupassen. Eine quantitative Bestätigung der Formel ist also erst zu erwarten, wenn man a12 und b12 anderweitig berechnen kann. Dagegen kann man bereits jetzt eine Reihe qualitativer Schlüsse .aus der Gleichung ziehen. Wir können z. B. den Fall betrachten, daß die gelösten Moleküle sehr groß sind. Dann wird bx sehr groß sein, und der Einfluß der anderen Glieder wird dagegen verschwunden, so daß die Formel von RT Sacku r (1. c.) u = resultiert. Hiermit steht im Einklänge, daß diese v - — b Formel am besten für Lösungen von Rohrzucker stimmt, also für besonders große Moleküle. Auch für die bei den starken Elektrolyten gefundenen Anomalien ergibt sich hier eine einfache Deutung. Jones1) und seine Mitarbeiter haben gezeigt, daß ganz allgemein die Kurve, welche die molekulare Gefrierpunktserniedrigung einer Lösung eines starken Elektrolyten in ihrer Abhängigkeit von der Konzentration darstellt, ein Minimum durchläuft. Da nun die Ionen, wie auch Jones annimmt, zweifellos stark hydratisiert sind, wird ihr b sehr groß sein, und man kann annähernd die Sackursche Formel anwenden. Man muß dann, wenn man von einer sehr verdünnten zu immer konzentrierteren Lösungen eines starken Elektrolyten übergeht, folgendes finden: Die molekulare Gefrierpunktserniedrigung, die ja pro- portional dem osmotischen Druck ist, wird wegen des Rückganges der Dissoziation zunächst abnehmen, bis man zu Konzentrationen gelangt, bei denen sich der Einfluß von b bemerkbar zu machen anfängt, b bewirkt, daß der osmotische Druck schneller als die Konzentration zunimmt, ver- ursacht mithin ein Steigen der molekularen Gefrierpunktserniedrigung. Dieser Einfluß wird dem entgegengesetzt gerichteten der Dissoziations- verminderung entgegenwirken, ihn bei einer bestimmten Konzentration kompensieren (Minimum) und ihn bei noch höheren Konzentrationen über- wiegen. Es resultiert also tatsächlich der empirisch gefundene Gang der Kurve, doch kann natürlich erst eine quantitative Untersuchung entscheiden, ob sich auf diesem Wege für jede Ionenart ein bestimmtes b ergibt. Den Hauptwert möchte ich jedoch auf folgende Folgerung aus meiner Formel legen. Ich will einmal den osmotischen Druck eines Stoffes mit seinem Gasdruck bei gleicher Konzentration vergleichen. Dann ist: R T a, p = - 72 RT a, — a12 (x0 — x) ~ v — bl + b12 (X0 — X) *) Jones, Zeitschr. phys. Chem. 74, 325. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 15 Wie man sieht, steht jedem der beiden die Abweichungen von den idealen Gasgesetzen verursachenden Glieder a2 und bi beim osmotischen Druck ein Glied von entgegengetztem Vorzeichen gegenüber. Die idealen Gas- gesetze werden also für den osmotischen Druck besser, d. h. bis zu höheren Konzentrationen und Drucken hinauf, gelten als für den Gasdruck. Es wird dies noch deutlicher, wenn man bedenkt, daß — , die Differenz v der Konzentrationen des Lösungsmittels in reinem Zustande und in der Lösung, annähernd gleich — , der Konzentration des gelösten Stoffes, gesetzt werden kann, x0 — x also annähernd gleich 1 ist. Dann lautet die Formel: RT a, — a12 v — (bx — b12) v2 Bedenkt man nun noch, daß a12 und b12 bei Stoffen mit nicht allzu ver- schiedenen kritischen Daten von derselben Größenordnung sind, wie aj und bj, so sieht man, daß sich in vielen Fällen und a12, sowie b^ und b12 gegenseitig fast vollständig aufheben werden, so daß für den osmotischen Druck bis zu sehr hohen Konzentrationen die idealen Gas- gesetze gelten werden. Jedenfalls aber wird derselbe Stoff den idealen Gasgesetzen in gelöstem Zustande viel besser folgen als in gasförmigem. Dieses Gesetz ist im folgenden einer experimen- tellen Prüfung unterzogen worden, deren Ergebnisse im letzten Teile der Arbeit dargestellt sind. II. Experimenteller Teil. Einleitung. In dem experimentellen Teil der vorliegenden Untersuchung habe ich auf Anregung von Herrn Prof. Sackur das Problem der konzentrierten Lösungen derart in Angriff genommen, daß ich die Gültigkeit des Henry- schen Absorptionsgesetzes für dieselben untersuchte. Für die Wahl gerade dieses Themas waren hauptsächlich zwei Gründe maßgebend. Erstens ist dieses Gebiet bis jetzt noch wenig erforscht worden. Es kommen hier nur die Arbeiten von Wroblewski1) über die Löslichkeit von CÜ2 und von Cassuto2) über die von N2, H2, 02, CO in Wasser bei hohen Drucken in Betracht. Erst ganz kürzlich — im Januar 1912 — ist von Sander3) eine ausführlichere Untersuchung über die Löslichkeit von Kohlendioxyd in ver- schiedenen organischen Lösungsmitteln bei hohen Drucken veröffentlicht worden. Es schien also wünschenswert, die dieses Gebiet betreffenden 1) Wied. Ann. 18, 290 (1883). 2) Nuovo Cimento 6 (1903). 3) Zeitschr. phys. Chem. Bd. 78, Heft 5. 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Untersuchungen weiter auszudehnen. Der zweite Grund war folgender. Man kann, falls man den Absorptionskoeffizienten eines Gases in seiner Abhängigkeit vom Drucke kennt, den osmotischen Druck des gelösten Gases mit Hilfe einer thermodynamischen Formel berechnen (s. Teil III). Wählt man nun ein Gas — im vorliegenden Falle war es Kohlendioxyd — , dessen Verhalten im Gaszustande bei hohen Drucken bekannt ist, so kann man direkt den osmotischen Druck des gelösten Gases mit dem Drucke, den es im Gaszustande bei derselben Konzentration ausübt, ver- gleichen. Sollte also zwischen den Abweichungen des osmotischen Druckes und des Gasdruckes von den idealen Gasgesetzen bei ein und demselben Stoffe ein einfacher Zusammenhang bestehen, so kann man hoffen, ihn auf diese Weise zu erkennen. Man hat zwei Wege, um zu konzentrierten Lösungen eines Gases zu gelangen. Man kann einmal bei hohen Drucken und mittleren Temperaturen arbeiten, und dies ist die von Sander benutzte Methode, der Temperaturen von 20 bis 100° und Drucke von 20 bis 170 kg/cqm anwandte. Man kann zweitens aber — und dies ist der von mir eingeschlagene Weg — bei niedrigen Drucken und tiefen Temperaturen arbeiten. Dann hat man den Vorteil, daß für die Gasphase die idealen Gasgesetze gelten, die flüssige Phase ist aber trotzdem eine konzentrierte Lösung, weil die Löslichkeit der Gase mit sinkender Temperatur rapide zunimmt. Im folgenden wurde daher die Löslichkeit von Kohlendioxyd in Äthylalkohol, Methylalkohol, Aceton, Äthylacetat und Methylacetat bei — 78° und — 59° und bei Drucken von 50 mm bis zu einer Atmosphäre hinauf untersucht. I. Die Versuciisanordnung. Es wurde zunächst versucht, eine Methode auszuarbeiten, bei der die Konzentration des gelösten Kohlendioxyds analytisch bestimmt wurde. Nachdem auf titrimetrischem Wege keine befriedigenden Resultate erzielt werden konnten, gelang es nach längeren Versuchen, eine Methode aus- zuarbeiten, welche die genaue gewichtsanalytische Bestimmung des ge- lösten Kohlendioxyds ermöglichte. Jedoch erwies sich diese Methode als recht unhandlich und umständlich. Es wurde schließlich zur Messung der Löslichkeit im Prinzip die von Bunsen angegebene, von Ostwald ver- besserte Methode benutzt, die für den vorliegenden Zweck vielfach ab- geändert wurde. Es wurde also die durch einen Hahn verschlossene luft- leer gemachte Pipette, welche die zu untersuchende Flüssigkeit enthielt, mit einer das Gas enthaltenden Bürette verbunden, Druck und Volumen des Gases abgelesen, dann der Hahn der Pipette geöffnet und, nachdem die Flüssigkeit sich mit dem Gase gesättigt hatte, bei dem gleichen Druck wie am Anfang das Volumen des Gases wieder abgelesen. Die Differenz der beiden Volumina gibt dann das von der bekannten Menge Flüssigkeit bei dem betreffenden Drucke absorbierte Volumen des Gases. Im einzelnen II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 17 war die in Figur 3 dargestellte Versuchsanordnung folgendermaßen. A ist die in 0,1 cc geteilte 50 cc fassende geeichte Bürette, an welche unten zwei Gefäße B, und B2 von 51,5 und 50,5 cc Inhalt angeschmolzen sind. Die ganze Bürette befand sich in einem mit Wasser gefüllten weiten Glas- rohr C. Das Wasser wurde von Zeit zu Zeit durch Hindurchblasen von Luft gerührt und seine Temperatur mit einem in 0,1 0 geteilten Thermo- meter abgelesen. Das Ganze war auf einem soliden Holzstativ befestigt. Die Bürette war in ihrem unteren verjüngten Ende unter Zwischen- schaltung einer Luftfalle D durch einen Druckschlauch mit dem mit einem Hahn versehenen Quecksilbergefäß E verbunden. Dieses war oben durch einen Gummistopfen verschlossen, durch den ein Chlorcalciumrohr mit Hahn ging, so daß das Gefäß E mit der Wasserstrahlpumpe evakuiert werden konnte. Auf diese Weise war es möglich, die Höhe des Queck- silbers in der Bürette durch Heben und Senken sowie Evakuieren und mit Luft füllen von E zu regulieren. Oben war an die Bürette ein Drei- weghahn F angeschmolzen. Auf der linken Seite führte er zu dem Mano- meter G, dem ein kleines Phosphorpentoxydrohr vorgeschaltet war. Das Manometer war auf einem Holzstativ montiert und wurde mit Hilfe von zwei polierten Eisenskalen, die in mm geteilt und durch Vergleich mit einer Kathetometerskala als auf 0,1 mm richtig gefunden waren, abgelesen. Indem man die Kuppe des Quecksilbers bei seitlicher Beleuchtung durch eine kleine Glühlampe mit ihrem Spiegelbilde auf der Skala zur Deckung brachten, konnte der Druck auf 0,1 mm genau abgelesen werden. Die Temperaturausdehnung der Skala und des Quecksilbers wurden nicht berücksichtigt, da es sich nur darum handelt, zum Schluß der Messung denselben Druck wie am Anfang zu haben. Zwischen Manometer und Bürette führt ein Rohr zu den drei Hähnen H1? H2, H3. Hj führt nach einem P205-Rohr und einem CaCl2-Rohr mit einem Hahn, der mit der Wasserstrahlpumpe oder einer Sprengelschen Quecksilberluftpumpe ver- bunden werden konnte. H2 führt zu der gewöhnlichen, H3 zu der ganz reinen Kohlensäure. Hierüber wird weiter unten berichtet werden. Auf der rechten Seite führt der Dreiweghahn F zu der die Flüssigkeit ent- haltenden Pipette M. Er ist mit dieser durch einen Schliff J und eine in einer Ebene gebogene Glasspirale K verbunden. Die Glasspirale ge- stattet ein starkes Schütteln der Pipette und stellt eine bewegliche Ver- bindung unter Vermeidung eines Kautschukschlauches her. Diese waren überhaupt, bis auf die Verbindung der Bürette mit dem Quecksilbergefäß, bei dem eigentlichen Apparat überall vermieden und alle Verbindungen durch Zusammenblasen der Glasröhren hergestellt. Zwischen der Spi- rale K und dem Dreiweghahn F war ein kleiner Apparat L zur Druck- messung eingeschaltet. Er bestand aus einem Quecksilbermanometer, dessen linker Schenkel sehr eng war und schräg lag. Der rechte Schenkel war weit, und über ihm war ein Gasvolumen, das von einem 1912. 2 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 19 Wassermantel umgeben war, durch einen Hahn während der Messung ab- geschlossen. Es behielt also ständig den ihm anfangs eigenen Druck, und man konnte am linken Schenkel genau ablesen, ob am Schluß der Messung wieder der Anfangsdruck hergestellt war. 2. Die Pipette und ihre Füllung. Die die Flüssigkeit enthaltende Pipette M faßte 19,2 cc und war durch einen Hahn Z mit schräger Bohrung verschlossen. Sie wurde durch Aus- kochen mit luftfreier Flüssigkeit gefüllt. Der hierbei benutzte Apparat ist in Figur 4 dargestellt. In die Pipette M war unten ein elektrischer Siede- erleichterer N eingeschmolzen. Er bestand aus zwei kurzen Platindrähten, die mit Schmelzglas in die Pipette eingeschmolzen waren. Im Innern derselben waren sie durch einen 0,04 mm dicken, ca. 1 cm langen Platin- draht verbunden, durch den ein Strom von etwa y2 Amp. geschickt wurde. Die Stromzufuhr geschah durch zwei Quecksilberkontakte 0, die in dem zugleich als Wasserbad dienenden Becherglas P angebracht waren. Es wurden vier Volt angelegt, und in den Stromkreis wurde ein Regulier- widerstand und ein Amperemeter eingeschaltet. Der oben an der Pipette M angebrachte Schliff, der während der Messung in J (Figur 3) saß, wrar ein Doppelschliff und paßte auch in den Schliff Q (Figur 4). Durch diesen Schliff wurde die Pipette mit einer Vorlage, einem Windkessel und schließlich der Wasserstrahlpumpe verbunden. Das Auskochen geschah bei Zimmertemperatur, bei den leichter siedenden Flüssigkeiten war die Temperatur des Wasserbades noch etwas tiefer. Die Pipette wurde mit etwa 10 — 15 cc Flüssigkeit gefüllt und diese in ca. V2 Stunde auf 1 bis 2 cc abdestilliert, worauf der Hahn Z geschlossen wurde. Mit Hilfe des elektrischen Siedeerleichterers fand ein stürmisches, aber gleichmäßiges Sieden statt, so daß die Luft vollständig aus der Pipette verdrängt wurde. Ich habe dies mehrfach kontrolliert, indem ich Quecksilber in die Pipette aufsteigen ließ. Es ist anzunehmen, daß auch die Flüssigkeit vollständig luftfrei gemacht wurde. Jedenfalls wird die Spur Luft, die beim Aus- kochen bei Zimmertemperatur nicht entweichen sollte, dies bei tiefer Tem- peratur erst recht nicht tun, so daß sie unschädlich ist. Nach dem Sieden und Schließen des Hahnes Z wurde die Pipette sorgfältig getrocknet und gewogen. Da ihr Leergewicht (in evakuiertem Zustande) bekannt war, erhielt man so das Gewicht der Flüssigkeit. Die Pipette wurde sodann in dem Schliff J (Figur 3) befestigt und mit Draht an den Schüttel- apparat R angebunden. Der Schüttelapparat bestand aus einem Rade, an dem exzentrisch ein dünner Eisenstab beweglich befestigt war, der seiner- seits wieder durch ein Gelenk mit einem in einer Führung gehenden Eisen- stab verbunden war. An letzterem war die Pipette befestigt und wurde sehr energisch geschüttelt, indem das Rad mit Schnurübertragung durch einen Elektromotor gedreht wurde. 20 Jahresbericht der Scliles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 21 3. Die Substanzen. Die untersuchten Flüssigkeiten, Äthylalkohol, Methylalkohol, Aceton, Äthylacetat und Methylacetat waren reinste Kahlbaumsche Präparate (Aceton aus der Bisulfitverbindung) und wurden ohne weitere Reinigung benutzt. Etwaige geringe Verunreinigungen schaden auch nichts, da die Absolut- werte wegen der Unmöglichkeit die absolute Temperatur genau zu messen (s. Abs. 8), doch nur annähernd bestimmt werden konnten. Dagegen sind, worauf es für den vorliegenden Zweck ankommt, die bei verschiedenen Drucken gemachten Messungen streng vergleichbar, da sie an ein und der- selben Probe der Flüssigkeit gemacht wurden. Besondere Mühe mußte auf die Herstellung absolut reinen Kohlendioxyds verwandt werden. Da nämlich die absorbierten Gasmengen sehr groß sind, sammeln sich die in ihnen enthaltenen schwer löslichen Verunreinigungen, hauptsächlich Luft, in der Pipette über der Flüssigkeit an und erniedrigen den Partialdruck des Kohlendioxyds. Eine Verunreinigung von 0,1 °/0 ruft so einen Fehler von 1 — 3 °/0 hervor. Es erwies sich nun als unmöglich, mit einem Kipp- schen Apparate selbst unter den größten Vorsichtsmaßregeln genügend reines Kohlendioxyd herzustellen. Die wechselnden Mengen der Ver- unreinigungen betrugen 0,1 — 0,3 °/0. Das Kohlendioxyd wurde daher durch Erhitzen von Natriumbikarbonat mit Hilfe des ebenfalls in Figur 3 dargestellten Apparates gewonnen. An das ca. 200 cc fassende mit Na- triumbikarbonat gefüllte Rohr S aus Jenaer Glas, welches mit Kupferdraht- netz und Asbest umwickelt war und durch mehrere Breitbrenner erhitzt werden konnte, war mit Schmelzglas ein Trockenapparat aus gewöhnlichem Glas, bestehend aus zwei gegeneinander geschalteten, in einem Stück ge- blasenen Waschflaschen mit konzentrierter Schwefelsäure und einem 30 cm langen Phosphorpentoxydrohr angeschmolzen. T ist ein als Sicherheitsventil dienendes Rohr von barometrischer Länge, das in ein Quecksilbergefäß taucht. Das Phosphorpentoxydrohr war seinerseits wieder an den Hahn H3 angeschmolzen. Da auch alle anderen Verbindungen, wie erwähnt, durch Zusammenschmelzen hergestellt waren, bildete der ganze Apparat, den Gas- entwicklungsapparat inbegriffen, eine einzige Glasmasse und war vollständig dicht. Er wurde mehrfach tagelang evakuiert stehengelassen, ohne daß das Vakuum sich um mehr als 0,1 mm geändert hätte. Es mußte hierauf so großer Wert gelegt werden, weil bei den geringen Drucken (50 mm) geringe Spuren von Luft, wie gesagt, schon grobe Fehler verursachen. Das benutzte Kohlendioxyd enthielt unter diesen Umständen keine merk- baren Verunreinigungen (weniger als 0,01 %)• 4:. Das Kältebad. Das Kältebad bestand aus einem innen 5 cm weiten, 20 cm langen versilberten Dewargefäß. Die Temperatur von — 78° wurde durch ein Gemisch von Äther und festem Kohlendioxyd erzeugt. Da aber die Lös- 22 Jahresbericht, der Schles Gesellschaft für vaterl. Cultur. lichkeit bei diesen tiefen Temperaturen einen sehr hohen Temperatur- koeffizienten hat, etwa 1 °/0 für 0,1 °, so mußten besondere Mittel zur Konstanthaltung der Temperatur angewandt werden. Es erwies sich schließlich als am zweckmäßigsten, durch das Äther-Kohlendioxydgemisch einen Strom gasförmiger trockener Kohlensäure zu leiten. Dadurch wird einmal für kräftige Rührung gesorgt, zweitens die Herstellung der an Kohlendioxyd gesättigten Ätherlösung beschleunigt und drittens Siedeverzug verhindert. Außerdem wurde die Konstanz der Temperatur durch sechs hintereinander geschaltete Thermoelemente aus Kupfer - Konstanten kon- trolliert. Die eine Hälfte der Lötstellen befand sich in einem Glasröhrchen, welches an die Pipette M angebunden war (s. Figur 3), der andere Teil befand sich in schmelzendem Eis, und die EMK wurde mit Hilfe eines Keiser und Schmidtschen Millivoltmeters gemessen. Auf diese Weise konnte man die Temperatur auf 0,1° genau messen und durch Einwerfen von festem Kohlendioxyd konstant halten. Die Temperatur von — 59° wurde ebenfalls durch Einwerfen von festem Kohlendioxyd in Äther erzeugt und nach den Angaben des Thermoelementes konstant gehalten. Der Absolut- wert der Temperatur wurde mit Hilfe eines Pentanthermometers bestimmt, das in dem gesättigten Äther-Kohlendioxydgemisch — 78° zeigte. 5. Hilfsmessungen und -reclmungen. a. Dichte des gasförmigen Kohlendioxyds. Um die in dem Gasvolumen der Absorptionspipette enthaltene An- zahl cc Kohlendioxyd zu berechnen, mußte ich wissen, wie weit bei den benutzten Drucken und Temperaturen noch die Gasgesetze gelten, speziell das Gesetz, daß die Volumina sich wie die absoluten Temperaturen ver- halten. Nach van der Waals ist anzunehmen, daß die Abweichungen kleiner als 1 °/0 sein werden. Es wurde jedoch der Sicherheit halber die Frage experimentell entschieden. Es wurde dazu ein mit einem Hahn versehenes Gefäß von 60,8 cc Inhalt an die Spirale angeschmolzen. Das Gefäß wurde in das Bad von — 78° gebracht, der ganze Apparat mit der Sprengelpumpe evakuiiert, sodann der Hahn am Gefäß geschlossen und der Apparat mit Kohlendioxyd gefüllt. Nachdem Druck und Temperatur des Gases abgelesen waren, wurde der Hahn geöffnet, so daß das Kohlendioxyd in das evakuierte Gefäß strömte. Es wurde dann durch Heben des Queck- silbergefäßes der Anfangsdruck wieder hergestellt. Auf diese Weise wurde direkt gemessen, welches Volumen v in cc bei der absoluten Büretten- temperatur T den 60,8 bei 195 abs. entsprach. Die Resultate sind: T V p 195 60,8 100 1,49 1,49 200 1,50 1,51 700 1,50 1,515 mm II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 23 Die Übereinstimmung ist also wie erwartet, und ich konnte für den vorliegenden Zweck die Gasgesetze als gültig annehmen. b. Dichte der Flüssigkeiten. Die spezifischen Gewichte der Flüssigkeiten wurden mit Hilfe eines Sprengel-Ostwaldschen Pyknometers bestimmt. Dasselbe hat oberhalb der Marke eine kleine Kugel, um die bei der Erwärmung von — 78° auf Zimmertemperatur sich ausdehnende Flüssigkeit aufzunehmen. Es wurden für jede Flüssigkeit die spezifischen Gewichte bei — 78° und bei Zimmer- temperatur bestimmt. Die Werte bei — 59° sind extrapoliert; der Fehler betragt höchstens 0,1 °/0. Die Resultate sind bei den einzelnen Flüssig- keiten angegeben. c. Dampfdruck der Flüssigkeiten. Die Dampfdrücke von Äthylalkohol, Methylalkohol, Äthylacetat und Methylacetat sind bis — 20 0 hinunter bekannt, konnten also ohne weiteres auf —59° und — 78° extrapoliert werden. Der Dampfdruck des Acetons wurde mit Hilfe des Theorems der übereinstimmenden Zustände aus dem des Methylacetats berechnet. Da im ungünstigsten Falle, beim Aceton bei — 59° und 100 mm Druck, die Berücksichtigung des Dampfdruckes das Resultat nur um 1,3 °/0 ändert, ist eine etwaige Unsicherheit dieser Werte ohne Belang. Die Dampfdrücke sind ebenfalls bei den einzelnen Flüssig- keiten aufgeführt. d. Dichte des gelösten Kohlendioxyds. Um das Volumen der flüssigen Phase zu erhalten, muß man die Volumenzunahme kennen, welche die Flüssig- keit durch die Auflösung des Kohlendioxyds erfährt. Fol- gender kleine, in Figur 5 dargestellte Apparat, diente zur Bestimmung dieser Volumenzunahme. Er bestand aus einem 9,7 cc fassenden Gefäß, an das ein in 0,1 cc ge- teiltes Meßrohr angeschmolzen war. Außerdem führte in das Gefäß ein enges mit einem Hahn versehenes Gas- einleitungsrohr, welches derart eingeschmolzen war, daß sein innerer verjüngter Teil bis fast auf den Boden des Gefäßes reichte und das Ganze einer kleinen Waschflasche ähnelte. Es wurde nun das Gefäß gewogen, mit 6 bis 8 Gramm Flüssigkeit beschickt und wieder gewogen, sodann in das Kältebad gebracht, und durch das Gaseinleitungs- rohr sorgfältig getrocknetes Kohlendioxyd aus dem Kipp- schen Apparat eingeleitet, bis das Volumen der Flüssig- keit konstant geworden war. Das Kohlendioxyd wurde vor dem Einleiten in einem kleinen (ca. 2 cc) Wasch- fläschchen, das sich ebenfalls im Kältebade befand und Fi cf 5. 24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. mit der untersuchten Flüssigkeit beschickt war, mit dem Dampf derselben gesättigt. Das Meßrohr war oben mit einem Chlorcalciumrohr versehen. Man erhielt so das Volumen der bei Atmosphärendruck und — 78° ge- sättigten Flüssigkeit. Das Volumen der kohlensäurefreien Flüssigkeit ergab sich aus ihrem bekannten Gewicht und ihrer Dichte. Die Differenz dieser beiden Volumina ergab die durch die Absorption verursachte Volum- zunahme v2- Da das Gewicht der angewandten Flüssigkeit und der Absorptionskoeffizient bekannt waren, konnte das Gewicht gco2 des absor- bierten Kohlendioxyds in g berechnet werden. Diese Gewichtsmenge dividiert durch die Volumzunahme, also - — wird von mir als Dichte dbO> vco2 des gelösten Kohlendioxyds bezeichnet. Es ergab sich für Äthylalkohol und Äthylacetat dC02 gleich, nämlich zu 1,42. Für Aceton dagegen ergab sich dcoa zu 1,62. Diese starke Kontraktion läßt vielleicht auf die Bildung einer Verbindung schließen. Die Dichte des festen Kohlendioxyds bei — 78° beträgt nach Behn1) 1,53 — 1,56. Für Methylalkohol und Methylacetat wurde ebenfalls dco2 zu 1,42 angenommen. Die Dichte der gelösten Kohlensäure beträgt nach Angström2) bei 0° für die meisten Flüssigkeiten 1,11. Mit Hilfe dieses Wertes wurden die Dichten für — 59° interpoliert. Sie ergaben sich zu 1,35s resp. 1,52. 6. Der Gaug eines Versuches. Die Durchführung eines Versuches gestaltete sich nun folgendermaßen. Nachdem die mit ausgekochter Flüssigkeit beschickte und gewogene Pipette M in J eingesetzt und an dem Schüttelapparat befestigt worden war, wurde das Glasröhrchen mit den Thermoelementen an M angebunden und das Dewargefäß an seinen Platz gebracht. Darauf wurde der ganze Apparat mehrfach mit sorgfältig getrocknetem Kohlendioxyd aus dem Kippschen Apparat ausgespült und schließlich mit der Quecksilberluftpumpe bis auf weniger als 0,1 mm evakuiert. Unterdessen wurde auch das Bad auf die gewünschte Temperatur eingestellt. Sodann wurde die Sprengel- pumpe abgenommen und der Apparat, natürlich immer noch bei ge- schlossenem Pipettenhahn Z, mit reinem Kohlendioxyd aus dem Bikarbonat- rohr gefüllt. Der erste Versuch wurde gewöhnlich bei einem Drucke von 50 mm ausgeführt. Je nach der zu erwartenden Löslichkeit wurde ent- weder nur die Bürette oder die Bürette und das Gefäß Bx resp. Bj^ und B2 mit Gas gefüllt. Meistens mußte die Bürette sogar zweimal ge- füllt werden. Nachdem Temperatur und Druck genau abgelesen waren, wurde der Pipettenhahn geöffnet, die Flüssigkeit absorbierte Gas und der Druck sank. Darauf wurde Z wieder geschlossen und die Pipette ge- schüttelt, während man durch Einströmenlassen des Quecksilbers aus dem 1) Ann. d. Phys. 3, 377 (1900). 2) Angström, Ann. d. Phys. 33, 223 (1887). II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 25 Reservoir E in die Bürette den Druck wieder auf den Anfangswert brachte. Dann wurde Z wieder geöffnet usw. und die ganze Operation solange wiederholt, bis auch nach mehrmaligem heftigen Schütteln sich der Druck beim Öffnen des Hahnes Z nicht mehr änderte. Dann wurde kontrolliert, ob tatsächlich wieder der Anfangsdruck hergestellt war, und das durch das Quecksilber verdrängte Gasvolumen abgelesen. Von diesem Volumen muß man das in dem Gasraum der Pipette enthaltene Kohlendioxyd ab- ziehen, um das von der angewandten Menge Flüssigkeit absorbierte Kohlendioxyd zu erhalten. Es wurde dann der Apparat mit Kohlendioxyd von höherem Druck (100 mm) gefüllt und ebenso verfahren. Die Summe des hierbei absorbierten Gasvolumens -f- dem bei dem ersten Versuch absorbierten auf den höheren Druck umgerechneten Gasvolumen ergibt dann das bei 100 mm absorbierte Volumen Kohlendioxyd, das nach dem Henryschen Gesetz gleich dem beim ersten Versuch absorbierten sein sollte. Es wurden für gewöhnlich bei — 78° fünf solcher Versuche hinter ein- ander bei 50, 100, 200, 400 und 700 resp. 650 mm gemacht. Bei — 59° wurden vier Versuche bei 100, 200, 400 und 700 mm gemacht. Es wurden für jede Flüssigkeit bei jeder der beiden Temperaturen min- destens zwei Versuchsreihen angestellt. Natürlich wurde während der ganzen Messungsreihe, die etwa drei bis vier Stunden dauerte, die Tem- peratur durch das Millivoltmeter kontrolliert und eventuell durch Ein- werfen von festem Kohlendioxyd oder Hinzufügen von Äther reguliert. 7. Die Berechnung der Versuche. Es handelt sich nun darum, aus den Versuchen den Absorptions- koeffizienten zu berechnen. Man unterscheidet den Bunsenschen Absorp- tionskoeffizienten kg, der angibt, wie viel cc des Gases, reduziert auf 0°, von 1 cc der untersuchten Flüssigkeit bei dem betreffenden Drucke auf- genommen werden, und den von Ostwald definierten Löslichkeitskoeffi- zienten, der das Verhältnis der Konzentrationen des Gases in der flüssigen und in der gasförmigen Phase angibt. Ich habe, um möglichst ohne Volumkorrektionen auszukommen, zunächst immer die von 1 g Flüssigkeit bei dem betreffenden Druck aufgenommene Anzahl cc des Gases, auf 0 0 reduziert, berechnet. Diese Zahl, die ich fortan den Absorptionskoeffi- zienten k' nennen will, unterscheidet sich von dem Bunsenschen kg nur durch einen konstanten Faktor, der das spezifische Gewacht d der Flüssig- keit ist. Es ist nämlich nach Definition kg = k'. d. k' hat den Vorteil, daß ich zu seiner Berechnung d nicht zu kennen brauche. Außerdem verstehe ich unter dem bei dem Versuche herrschenden Druck immer den Totaldruck, also Druck des Kohlendioxyds -f- Dampfdruck des Lösungs- mittels. Letzterer ist übrigens bei meinen Versuchen meistens zu ver- nachlässigen, so daß die Unterscheidung zwischen Totaldruck und Partial- druck des Kohlendioxyds im Resultat nur wenig ausmacht. Die Berechnung 26 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. von k' gestaltet sich demnach, wie folgt. Es sei die Menge angewandter Flüssigkeit a g. Bei dem niedrigsten Drucke von pj mm seien vx cc Kohlendioxyd von der Temperatur tj 0 Celsius verbraucht worden. Dieses Volumen C02 befindet sich zum Teil gelöst, zum Teil als Gas in der Pipette. Letzteren Anteil kann ich berechnen. Das Volumen der Pipette beträgt 19,2 cc. Davon geht das Volumen ab, welches die Flüssigkeit einnimmt. Letzteres ist Der von Gas erfüllte Teil der Pipette faßt d a O2 - da) - O9'2 - s) ^ cc. Ist — t0° die Versuchstemperatur des Bades, so ist 1 -j- ati at„ die in dem Gasraum der Pipette enthaltene Anzahl cc Kohlendioxyd, bezogen auf tj °. Also ist vx — vg die in der Flüssigkeit gelöste Anzahl cc und = k', nämlich gleich der (1 + atj a von 1 g Flüssigkeit absorbierten Anzahl cc Kohlendioxyd, auf 0° reduziert. Beim zweiten Versuch mögen beim Drucke p2 v2' cc von der Temperatur t2° verbraucht worden sein. Dann erhält man die im ganzen absorbierte Anzahl cc Kohlendioxyd gleich v2, indem man zu v2' die beim ersten Versuch absorbierten vx cc, reduziert auf p2 und t2, hinzuaddiert. Es ist also v2 = v'2 vi ~ 7— 7— — -. Dann kann man ebenso wüe beim ersten P2 1 ~r ati Versuch weiter rechnen, und auf dieselbe Weise werden die folgenden Versuche berechnet. Um den Ostwaldschen Löslichkeitskoeffizienten k zu berechnen, muß man die Dichte d des Lösungsmittels kennen, sowie die Volumzunahme, die es durch die Auflösung des Kohlendioxyds erfährt. Da diese Volum- zunahme nur bei Atmosphärendruck bestimmt wurde (s. Abschn. 5 d), so wurde angenommen, daß die Dichte dco2 des - gelösten Kohlendioxyds un- abhängig von der aufgenommenen Menge ist, so daß also die Volum- zunahme dieser Menge direkt proportional ist. Es berechnet sich dann k aus k' mit Hilfe von d und dß02 folgendermaßen. Beim Drucke p absor- biert ein g Flüssigkeit k' cc Kohlendioxyd von 0°. Das Gewicht von 1 cc Kohlendioxyd bei 760 mm und 0° ist 0,0019766 = cg. Das Gewicht k CD von k' cc bei 0 0 und dem Drucke p mm beträgt g und ihr Volumen in der Lösung ist (i + k'cp 7 60 dco2 k'cp cc. Das Volumen von 1 g Flüssigkeit ist — , also d 7 60 dcc>2 ) cc, das Volumen Lösung, welches k' cc von 0° und v k' k'cp cc dem Drucke p gelöst enthält. Ein cc Lösung enthält also 1 ! d 7 60 d0c2 Kohlendioxyd unter diesen Bedingungen. 1 cc der Gasphase enthält bei II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 27 der Temperatur 1 t o 0 1 — aL cc Kohlendioxyd von 0 0 und dem gleichen Drucke. Ist außerdem noch der Dampfdruck p' des Lösungsmittels zu berücksichtigen, so enthält ein cc der Gasphase nur — -y — - — — cc. k ist nun das Verhältnis der Konzentrationen des Gases in der flüssigen und in der gasförmigen Phase, also k' — — , 1 — at0 1 , kcp d 760 dco2 p — p k wurde immer nur aus den Mittelwerten von k' berechnet. Als Beispiel folgt hier die Berechnung einer an Äthylacetat gemachten Messungsreihe. Äthylacetat. — t0° = — 78° d4— 78 = 1,017 P-re <0,1 mm d = 1,42. Berechnung der k\ Gewicht der Pipette mit Flüssigkeit: 34,6488 g leer: 33,9660 * 1. Versuch: Pi a = 0,6828 g. = 0,7 cc 19,2 — 0,7 = 18,5 cc. 50,0 mm tj = 19,2° v, = 210,2 cc 1 + a 19,2 18,5 1 — a 78 27,7 182,5 182,5 -- = 249,7. 85 > 1 (1 + a 19,2) 0,683 2. Versuch: p2 = 99,2 mm t2 == 19,7° v'2 = 109,5 cc 50,0 1 + a • 19,7 v2 = 109,5 -(- 210,2 99,2 1 + a • 19,2 vg = 27,8; v2 — vg = 186,4 186,4 = 214,2 kg (1 -f a • 19,7) 0,683 254,5. 3. Versuch: p3 = 202,4 mm t3 - 19,9° V3 — 120,5 cc v3 = 120,5 + 214,2^^- | = 225,5 202,4 1 + a 19,7 27,8; v3 — vg = 197,7 = 269.8. k' 197^7 3 (1 + a 19,9) 0,683 28 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 4. Versuch: p4 = 404,6 mm t4 = 20,0 °v'4 = 142,0 cc . 404,6 1 + a 20,0 = 225’5 57« k'. 202,4 1 -f a 19,9 vg = 27,8; v4 — vg = 227,2 227,2 + 142,0 = 255,0 = 309,9. (1 + a 20,0) 0,683 5. Versuch: v- = 649,6 mm t- = 20,1° v'- = 151,5 cc 151,5 „ 404,6 1 -j- a 20,1 255,0 — ----- — - f- — V- = 309,3 649,6 1 + a 20,0 vg = 27,8; v4 — Vg = 281,5. 281,5 1 -j- a 20,1) 0,683 - = 383,9. 8. Die Genauigkeit der Messungen. Für die Versuche kommen folgende möglichen Fehlerquellen in Betracht. Der Fehler bei der Wägung der Flüssigkeit beträgt höchstens 1 mg und verursacht selbst bei den kleinsten benutzten Flüssigkeitsmengen einen Fehler von weniger als 0,2 °/0. Die Unsicherheit bei der Ablesung des Druckes beträgt 0,1 bis höchstens 0,2 mm, was selbst bei 50 mm erst einen Fehler von 0,4 °/0 ausmacht. Bei höheren Drucken verschwindet dieser Fehler vollständig. Die Volumablesung ist auf mindestens 0,1 cc genau, kommt also als Fehlerquelle gar nicht in Betracht. Dagegen kann ein kleiner Fehler dadurch entstehen, daß das tote Volumen (Spirale, Röhren etc.) während der Messung seine Temperatur ändert. Während der ca. eine halbe Stunde dauernden Messung änderte sich die Zimmer- temperatur höchstens um 1 °, das tote Volumen beträgt ca. 50 cc, also der Fehler weniger als 0,2 cc, was bei einem absorbierten Volumen von 200 cc 0,1 °/0 ausmacht. Außerdem wurden bei der Umrechnung des bei dem vorhergehenden Versuche absorbierten Volumens auf den Versuchs- druck die Gasgesetze angewandt, was bei 700 mm einen Fehler von weniger als 0,2 °/0 verursacht. Alle diese Fehler, die in den meisten Fällen nur einen kleinen Bruchteil der hier geschätzten Höchstwerte aus- machen, treten an Einfluß gegenüber dem bei der Temperaturmessung gemachten Fehler zurück. Die Temperatur schwankte während einer Messung innerhalb von 0,1°, was infolge des starken Temperaturkoeffi- zienten der Löslichkeit bei tiefen Temperaturen einen Fehler von etwa 1 °/0 verursacht. Ausnahmsweise, besonders bei höheren Drucken und großen Löslichkeiten (Aceton), bei denen der Temperaturkoeffizient sehr hoch ist, kann der Fehler auf über 2 °/0 steigen. Die Messung der absoluten II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 29 Temperatur ist, namentlich bei — 59°, etwas unsicherer — um vielleicht 0,5° — so daß die Absolutwerte der Löslichkeit dadurch ziemlich ungenau werden. Auch sind die Temperaturen für verschiedene Messungs- reihen, besonders bei — 59°, mitunter etwas verschieden. Es kommt jedoch für den vorliegenden Zweck nur auf einen Vergleich der bei der- selben Messungsreihe erhaltenen Werte an, bei denen wie gesagt die Temperatur innerhalb von 0,1° konstant war. Die Genauigkeit der Messungen beträgt also, was auch aus der Übereinstimmung der ver- schiedenen Versuchsreihen resp. ihres Ganges hervorgeht, im allgemeinen etwa 1 °/0, wird jedoch in manchen Fällen etwas kleiner sein. Ein gutes Kriterium für die Genauigkeit der Messungen bietet auch die von mir in vielen Fällen festgestellte Gültigkeit des Henryschen Gesetzes innerhalb 1 °/0. 9. Die Resultate der Messungen. In den folgenden Tabellen sind die Resultate der Messungen dar- gestellt. Wie im Vorhergehenden angegeben ; sind d und p' Dichte und Dampfdruck der Flüssigkeit, dCo3 die Dichte des gelösten Kohlendioxyds und p der Versuchsdruck, k' ist der oben (Abschn. 7) definierte Ab- sorptionskoeffizient, der für sämtliche endgültigen, mit römischen Ziffern numerierten Versuchsreihen wiedergegeben ist, und k der aus den unter ÜD7. angegebenen Mittelwerten der k' berechnete Ostwaldsche Löslichkeits- koeffizient. Äthylalkohol. d417 = 0,7914 d4~78 = 0,872 d4~ 59 = 0,856 p/ 78 <0,1 mm P — 59 = 0,2 mm dco” = 1,42 dröf = 1,85. — 78°. p I k II III IV 3K. k 1 v1) VI1) 50 _ 107,0 106,5 100 111,0 112,1 110,0 112,9 111,8 68,4 108,5 — 200 114,0 1 17,4 — 117,0 115,7 69,5 112,4 110,8 400 122,6 125,1 — 124,7 123,8 71,4 120,4 — 700 — — 137,0 140,2 138,6 74,7 137,5 133,8 i) Die Versuchsreihen V und VI wurden mit absolutem, mit metallischem Calcium getrockneten Alkohol ausgeführt. 30 Jahresbericht der Scliles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. — 59°. p k I II m. k 100 41,6 39,7 40,85 27,27 200 42,0 40,0 41,0 27,16 400 43,5 41,2 42,35 27,65 740 45,3 43,0 44,15 28, lo Methylalkohol. d418 = 0,7930 d4~ 78 = 0,8 8 4 d4~ 59 = 0,866 p _ 78 = 0,1 mm p _ 59 = 0,4 mm ücol* = 1,42 d^of = 1,35. — 78°. P 1 k' II III SR. k 50 193,8 194,2 194,0 120,5 100 195,1 195,8 194,2 195,0 119,6 200 203,3 202,5 — 202,9 120,1 400 220,1 222,9 — 221,5 122,2 500 — — 226,4 — — 700 255,9 264,9 255,5 260,0 126,8 — 59°. P I II m. k 100 63,6 62,3 63,0 42,5 200 64,9 63,5 64,2 42,7 400 67,1 65,4 66,3 43,1 700 69,9 68,0 69,0 43,35 Aceton. d418 = 0,7935 d4~ 78 = 0,900 d4~59 = 0,879 p’— 78 = 0,3 mm p'_ 59 = 1,3 mm dco™ = 1,62 dcof = 1,52. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 31 — 78°. p I II 111 au. k 50 311,2 313,2 309,0 311 196,6 100 322, S 323,3 320,0 322 198,1 200 348,0 341,3 344.5 344,5 201,5 400 304,4 396,0 400,0 400 208,8 640 — 478 495,3 4S7 215,7 700 545,5 — — — — — 59°. P I II au. k 100 100,6 95,0 97,8 67,2 200 104,0 98,4 101,2 68,0 400 109,1 104,1 106,6 69,2 700 120,9 116,6 118,8 72,8 Aethylacetat. d4— 78= 1,017 d4-59 = 0,994 p _ 59 = 0,3 mm dräf = 1,35. — 78°. P I rf II au. k 50 249,7 250,6 250,2 177,5 100 254,5 256,6 255,6 177,1 200 269,8 273,8 271,8 179,2 400 309,9 311,9 310,9 183,2 650 383,9 389,8 386,9 191.2 — 59°. P I I II k1) 100 83,2 85,3 65,6 200 — 86,3 65,3 300 400 88,8 91,6 66,7 700 97,7 101,5 69,7 d417 = 0,9033 p'_78 <0,1 mm dcol“ = 1.42 x) Die Werte von k sind aus II berechnet. 32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Methylacetat. d416 = 0,9367, d4-78= 1,056 d4~59 = 1,032 P — 78= 0,2 mm p'_59 = 1,2 mm d cot = 1 .42 d“^o! = 1,35. — 78°. p I II m. k 50 303,9 305,9 304,9 224,1 100 31 6,6 313,3 315,0 224,3 200 340,1 334,7 337,4 223,1 400 391,3 387,3 389,3 225,6 650 501,1 496,1 498,1 . 231,2 — 59°. P k I II m. k 100 94,3 94,3 75,8 200 98,7 98,2 98,45 77,1 400 103,5 103,7 103,6 77,6 700 113,0 112,7 112,9 79,0 Die in diesen Tabellen enthaltenen Ergebnisse lassen sich folgender- maßen aussprechen. Das Henrysche Gesetz gilt unvergleichlich viel besser in der Ostwaldschen Formulierung als in der Bunsenschen. Dieses Re- sultat hat auch Sander (1. c.) bei seinen Untersuchungen erhalten. In dem hier untersuchten Gebiet ergibt sich, daß das Gesetz, daß das Ver- hältnis der Konzentrationen des Gases in der flüssigen und in der gas- förmigen Phase konstant und unabhängig vom Drucke ist, in vielen Fällen innerhalb der Versuchsfehler bis zu Drucken von 200 mm gilt. Aber auch bei höheren Drucken sind die Abweichungen nicht groß und betragen im Höchstfälle etwa 10 °/0. Die Abweichungen liegen alle in derselben Richtung und zwar so, daß der Löslichkeitskoeffizient mit wachsendem Druck an- scheinend linear zunimmt. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 33 111. Zusammenfassender Teil. Der osmotische Druck konzentrierter Kohlendioxydlösungen. Nachdem wir nun die Löslichkeit des Kohlendioxyds in ihrer Ab- hängigkeit vom Drucke kennen, sind wir imstande, seinen osmotischen Druck mit Hilfe folgender durch einen einfachen Kreisprozeß ableitbarer Formel *) : zu berechnen. Der osmotische Druck tz einer beim Drucke p gesättigten Gaslösung ergibt sich hiernach zu: p tz = f kdp , O wobei k das Verhältnis der Konzentrationen des Gases in der flüssigen und in der gasförmigen Phase, also der Löslich keitskoefflzient, als Funktion von p bekannt sein muß. Da sich aus den Messungen schließen läßt, daß k bis zu einem bestimmten Drucke p0 konstant ist und sodann etwa linear zunimmt, kann ich — um möglichst einfach zu rechnen — in dem bis p0 reichenden Intervall k = k0 und in folgenden k == k0 -J- a(p — p0) setzen. Dann ergibt sich: Po P tz =/ k0dp +/[k0 + a(p— p0)]dp O Po = koP + | (P — Po)i) 2- Würde nun der osmotische Druck den idealen Gasgesetzen gehorchen, so wäre er einfach gleich kp, da die Konzentration der Lösung k mal so groß ist als die des Gases. Setze ich also kp = 7tth> so ist: Tith = kp = k0p + a(p — p0)p Nun ist: * = k0P + \ (P — Po)2» also ist: 7Cth — tz = * (p2 — p02). Dieser Ausdruck stellt die Abweichungen des osmotischen Druckes von den idealen Gasgesetzen dar. Mit seiner Hilfe sind für die bei — 78° ge- machten Versuche die folgenden Tabellen berechnet, in denen die zu p und k gehörigen Werte von iz} TZth, TCth — u in Atm. und c, die Konzentration der Kohlendioxydlösung in Mol pro Liter, angegeben ist. pw stellt zum Ver- gleich den nach van der Waals berechneten Druck dar, den das Kohlen- i) Nernst, Theor. Chemie, 5. A., S. 144. 1912. 3 34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. dioxyd als Gas bei dieser Konzentration ausüben würde. Für p0 wurde bei Aceton 5 cm, für Äthylalkohol und Äthylacetat 10 cm, für Methyl- alkohol 20 cm und für Methylacetat 25 cm angenommen, woraus sich die k k Werte von a aus derFormel a = in derselben Reihenfolge zu 0,366 — 0,105 — 0,252 — 0,136 — 0,208 ergeben. Äthylalkohol. p k c TCth TCth — TZ Ti Pw 100 68,4 0,562 8,99 0 8,99 7,6 200 69,5 1,143 18,3 0,20 18,1 13,8 400 71,4 2,35 37,6 1,04 36,6 18,8 700 74,7 4,30 68,8 3,4 65,4 7 Methylalkohol. P k c TCth -Hh TZ TZ Pw 50 120,5 0,495 7,93 0 7,93 7,05 100 119,6 0,983 15,7 0 15,7 12,1 20,0 120,1 1,97 31,6 0 31,6 18,1 400 122,2 4,02 64,3 1,16 63,1 10.8 700 126,8 7,30 116,8 3,6 113,2 — 44 Aceton. P k c TCth ^ TZ Pw 50 196,6 0,803 12,85 0 12,85 10,6 100 198,1 1,625 26,0 0,18 25,8 16,7 200 201,5 3,31 52,9 0,93 52,0 14,3 400 208,8 6,87 109,8 3,9 105,9 — 56 640 217 11,35 181,6 10,1 171,5 — II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 35 Ätliylacetat. p k c ^th TTth ^ TZ Pw 50 177,5 0,73o 11,68 0 11,68 9,80 100 177,1 1,456 23,30 0 23,30 15,8 200 179,2 2,95 47,2 0,52 46,7 18,2 400 183,2 6,03 96,4 2,5o 93,9 — 33 650 191,2 10,2 163,5 6,9 156,6 — Methylacetat. P k c ^th Uth — k TZ Pw 50 224,1 0,918 14,69 0 14,69 11,8 100 224,3 l,84o 29,45 0 29,45 17,5 200 223,1 3,66 58,6 0 58,6 11,2 400 225,6 7,42 118,7 1,3 117,4 — 75 650 231,2 12,35 198 4,9 193 — Aus den Tabellen ersieht man mit größter Deutlichkeit, daß der osmotische Druck selbst bei den höchsten Konzentrationen noch bis auf wenige Prozent den Gasgesetzen gehorcht, während der Druck im Gas- zustande sich bei dieser Konzentration bereits auf dem negativen Ast der van der Waalsschen Isotherme befindet. Dieses Resultat ist ein rein empirisches und folgt direkt aus den Messungen mit Hilfe der Thermo- dynamik. Genau dasselbe Resultat habe ich aber am Schlüsse des theo- retischen Teils erhalten. Es darf also als wichtigstes Ergebnis dieser Arbeit der theoretisch sowie experimentell bewiesene Satz ausgesprochen werden: Der osmotische Druck eines gelösten Stoffes gehorcht den idealen Gasgesetzen viel besseralsder Gasdruck desselben Stoffes bei derselben Konzentration und Temperatur. Zusammenfassung. Die Resultate der vorliegenden Arbeit können kurz folgendermaßen zusammengefaßt werden: 1. Es wurde die aus der van der Waalsschen Theorie folgende Formel für den osmotischen Druck konzentrierter Lösungen abgeleitet. 2. Es wurde die Löslichkeit von Kohlendioxyd in Äthylalkohol, Methyl- alkohol, Aceton, Äthylacetat und Methylacetat bei — 78° und — 59° 3* 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. und bei Drucken von 50 mm bis zu einer Atmosphäre hinauf gemessen. 3. Hierbei ergab sich, daß für konzentrierte Lösungen das Henry sehe Gesetz in der Ostwaldschen Form recht gut erfüllt wird, in der B unsen sehen dagegen gar nicht. 4. Es wurde gezeigt, daß in Übereinstimmung mit der im ersten Teil der Arbeit gegebenen Theorie der osmotische Druck der konzen- trierten Kohlendioxydlösungen nur geringe Abweichungen von den idealen Gasgesetzen zeigt und ihnen viel besser gehorcht als der entsprechende Gasdruck gleicher Konzentration. Über die Absorption von Spektrallinien. Von Herrn Privatdozent Dr. E. Ladenburg (nach gemeinsam mit Herrn Dr. Heiche-Berlin angestellten Überlegungen). Einleitung. § 1. Georges -Louis Gouy1) hat wohl als Erster darauf hingewiesen, daß auch die schärfsten Spektrallinien einen endlichen Wellenlängenbezirk umfassen und innerhalb desselben eine gewisse Intensitätsverteilung be- sitzen müssen. Entsprechend hat auch die Absorption an verschiedenen Punkten einer Spektrallinie verschiedene Werte. Verwendet man daher bei der Messung der Absorption eines selektiv absorbierenden Körpers als Licht- quelle einen Spektralstreifen aus einem kontinuierlichen Spektrum, so findet man andre Werte der Absorption, als wenn man eine Spek- trallinie als Lichtquelle benutzt. (Diese muß natürlich dieselben Wellen- längen emittieren, die der zu untersuchende Körper absorbiert.) Nur wenn man „unendlich schmale“ Wellenlängenbezirke aus einer beliebigen Lichtquelle ausschneidet und deren Absorption Punkt für Punkt innerhalb der „aufgelösten Spektrallinie“ untersucht, wird man offenbar eindeutige Resultate über den Verlauf der Absorption im Innern der Spektrallinie erhalten. Gewöhnlich mißt man aber die Gesamtabsorption einer unauf- gelösten Spektrallinie, wobei als Lichtquelle entweder eine gleiche Linie oder ein Spektralstreifen eines kontinuierlichen Spektrums dient. Wie diese beiden Arten von Absorption theoretisch definiert werden können und welche Schlüsse man daraus auf den Verlauf der Absorption innerhalb der Absorptionslinie ziehen kann, soll in der vorliegenden Arbeit erörtert werden. Theorie. § 2. Untersucht werde i. f. ein — selektiv absorbierender — Körper, der in einer Richtung (der Z- Richtung) die Länge 1 besitze und von zwei zur Z-Axe senkrechten parallelen Ebenen begrenzt sei. Er sei charakte- risiert durch den Brechungsquotienten n und den Extinktionskoeffi- i) G. L. Gouy, C. R. 88, 418, 1879. II Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 37 zienten1) nz; letzterer soll jedoch stets klein im Vergleich zu 1 bleiben. Durch diese Beschränkung erreichen wir, daß wir von einer Reflexion an dem untersuchten Körper absehen können. Wir bezeichnen mit 2tüc die Frequenz und nehmen an, daß unser Körper in der Umgebung der Frequenz v0 einen isolierten Absorptionsstreifen besitze. Unsern Betrach- tungen soll ferner die gewöhnliche Drudesche Dispersionstheorie zugrunde liegen, in der, gerade für den vorliegenden Fall geeigneten, neuen Be- zeichnungsweise von Voigt1). Charakteristisch ist dieser Theorie das durch Helmholtz rein formal eingeführte, der Geschwindigkeit proportionale Dämpfungsglied in der Schwingungsgleichung des Resonator-Elektrons: (1) x" -j- vV -f v02x = - X ; m e hier bezeichnet x eine der Elongationskomponenten des Elektrons, — seine spezifische Ladung, v0 seine Eigenfrequenz, X die wirksame elek- trische Komponente des äußeren Feldes und V den a priori unbekannt gelassnen Dämpfungsfaktor. Infolgedessen wird unser Resultat formal un- geändert bleiben und seine Gültigkeit behalten, wenn man statt dieser Dämpfung mit Planck die rein elektromagnetisch begründete Strahlungs- dämpfung einführt, die bei periodischer Bewegung des Elektrons in erster Näherung seiner Geschwindigkeit proportional gesetzt werden kann2). Schließlich umfaßt der Drudesche Ansatz (1) formal auch die Lorentzsche Theorie der Stöße3), nach der die regelmäßigen Schwingungen des unge- dämpft mitschwingenden Elektrons durch Zusammenstöße von Zeit zu Zeit gestört werden; denn die Wirkung dieser Störung läßt sich nach Lorentz im Zeitmittel formal durch ein der ersten Ableitung x' proportionales Glied darstellen. Lediglich die Größe des Faktors V wird“ für die eine oder andere Theorie entscheiden können. Auf Grund dieses Ansatzes sowie unter der Annahme eines isolierten mäßig starken Absorptionsstreifens erhält man die von Voigt 1. c. angegebnen einfachen Formeln (19 u. 29) für die Abhängigkeit der Größen n und nx von der Frequenz in der Umgebung der einzig als wirksam angenommnen Eigenfrequenz v0. Für uns wird lediglich die Funktion nx von Bedeutung sein, die in der Voigtschen Bezeichnung folgende Form hat: v p v' v (2) n x = r - 7—, . 2n0 (v0 1 — v ") 2 — j— v 2 v 2 B Bezeichnung hier wie stets i. f. ebenso wie bei Voigt, Magneto- u. Elektro- optik, Leipzig 1908. 2) Vgl. M. Planck, Sitzgsber. d. Berl. Akad. 1902. S. 370 . ., 1903, S. 480. 3) H. A. Lorentz, Absorption and Emission of spektral lines. Amst. Proc. 1905. 38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Hierin hängt die Größe p mit der Ladung unsres Elektrons e, seiner spezifischen Ladung — sowie mit der Zahl der Elektronen dieser Gattung m durch die Gleichung (2a) p = An 9c — 1 m zusammen und n0 bedeutet den Brechungsquotienten, der in der Umgebung von v0 herrschen würde, wenn die Elektronen dieser Gattung nicht vor- handen wären. Die Formel (2) gilt, wenn der Brechungsquotient im Be- reiche des Absorptionsstreifens nur wenig variiert, d. h. wenn (2b) n2 — n02 = 2n0(it — n0) gesetzt werden kann, wo n den komplexen Brechungsindex vorstellt1). Auf unsern so definierten selektiv absorbierenden Körper soll in der Z- Richtung ein nahezu paralleles Strahlungsbündel auffallen, dessen In- tensität im Frequenzbereich v....v-|-dv gleich @adv sei. Unser Körper wird dann nach dem Biot-Lambertschen Absorptionsgesetz den Bruchteil (3) @ddv = <5adv-e-2kl hindurchlassen, wobei nach dem Vorangehenden k — ny. also (4) 2 k 1 = o ist, falls zur Abkürzung (4a) (v02 — v2)2 -[- V2V pv'l nn c gesetzt wird. § 3. Zur Berechnung der Gesamtabsorption, die eine beliebige Licht- quelle innerhalb der spektral unaufgelösten Spektrallinie erleidet, ist Gl. (3) über v zu integrieren, und zwar wollen wir als Grenzen dieses Integrals v0 — 5 und v0 -j- 6 wählen, wobei über 3 zunächst nur die An- nahme gemacht werde, daß 3 ^ 2v0 ist. Wir unterscheiden nun die zwei schon genannten Arten von Gesamt- absorption : 1. diejenige Absorption — i. f. als Gesamtabsorption schlechthin, mit A bezeichnet — , die ein kontinuierliches Spektrum bezw. ein gewisser, nicht unendlich schmaler Frequenzbereich desselben in dem betrachteten Körper erfährt, 2. diejenige Absorption — i. f. als Linienabsorption A^ bezeichnet — , die das Licht einer Spektral linie erleidet, das von einem dem absorbierenden völlig gleichen, leuchtenden Körper herrührt. J) Diese Bedingung ist im wesentlichen identisch mit der bereits eingeführten, daß nx klein gegen 1 ist. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 39 Zur Berechnung der ersten Art, der Gesamtabsorption A, setzen wir (n Gl. (3) @a als konstant im untersuchten Intervall v0 — S bis v0 -f- 5 vor- aus und erhalten durch Integration vo -f- S vo -j- 8 /@ddv = 2kldv , v0 — 5 v0 — ö so daß v0 -f- 6 vo + 8 2 k 1 d V 1 . — 2kl )dv vo — v0 — o v0 + S e, v0 — S (Ö) /dv 5 ß>~ 4p,2 V ,) 2 8 op, 28 wird, falls v0 — v = p, und, auf Grund der Voraussetzung 8 <<( 2v0, im In- tegrationsintervall ( | jx } < 8) v0 -j- v = 2v0 gesetzt wird. Das auf der rechten Seite von Gl. (5) stehende Integral R' zerlegen wir zur Berechnung in 3 Teile: + 6 „ + * R'= A-28 = /(l e 4g2 -j- v *>>-A 1 — e 4 g2 -j- v' 2 ^ dp. (6) 1 — e 4 g2 -\- v'2 ^ d (X — 1 — e 4 g2 -j- v'2 ^ d p, » +5 = R — I — II. Durch partielle Integration und mit Hilfe der Integraldarstellung der Besselschen Funktionen1) i 1 ” / iz cos cp Jn Kz) — ~ ~ / e ‘ cos n cp d cp wird nach einigen Umformungen zunächst (7) wobei (7a) R = tz r — e Jj pl o n0cv gesetzt ist und J0 bz. Jj die Besselschen Funktionen 0. bz. I. Ordnung sind. J) Vgl. z. B. E. Jahnke u. F. Emde, Funktionentafeln, S. 169, Leipzig' 1909. 40 Jahresbericht der Schl es. Gesellschaft für vaterl. Cultur. (8a) Für sehr kleine Werte von r wird _ ^rv' _ rcp1 0 2 2 n0 c’ und für große Werte von r (etwa von r — 1 0 an) (8b) (R) = v V T:v = V^q. co Die beiden andern Integrale der Gleichung (6) sind leicht zu be- rechnen, falls man /2 < (|f) , wobei (u) Ist speziell (10a) so wird (10b) 2 v^Je dx- 0 4o2 « 1 ’ I = II = 45 Die Bedingung (10a) oder die mit ihr identische Ungleichung 4o2 » r-v'2 ist praktisch in vielen Fällen leicht erfüllbar3), da erstens 482 )>> v'2 bereits in Gl. (9a) vorausgesetzt ist und da zweitens r nach oben hin dadurch bereits beschränkt ist, daß eingangs der Maximalwert von nz als klein im Vergleich zu 1 vorausgesetzt wurde („mäßig starke Absorption“); denn es ist dadurch in erster Näherung: (11) _JP = rc = rX0 2 n0 v0 v' 2 1 v0 4 n 1 x) Da v' ein Maß für die Breite der Absorptionslinie einer unendlich dünnen absorbierenden Schicht ist (v' ist nämlich gleich dem Halbwertsintervall der Funktion nx; vgl. Voigt 1. c. S. 114 u. f.), so besagt die Bedingung 4<52 v' 2, daß das untersuchte Spektralgebiet wesentlich größer als die „Breite“ des Absorptions- streifens sein muß. 2) Jahnke-Emde 1. c. S. 31. 3) Nach oben hin ist 5 nur durch die Ungleichung S 2 v0 beschränkt, d. h. für rotes Licht muß ö, in Wellenlängen umgerechnet, klein sein i. Vgl. zu einem Bezirk von etwa 1000 pp. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 4? vorausgesetzt, also rv 2 wie oben: (16) 0 == r v r f - tt r* > i ' a l I [j0 (j) — i Ji (y)] — e 1 [Jo (i r) ~ i Ji 0 r)J }> für große Werte von r (praktisch etwa von r = 10 ab) (16a) (Q). = VTkÖ (Vi — l) und (17a) III = IV = 1 — e 452 Wenn speziell wieder (17 b) // 1 ist, wird 4 o- (17 c) III = IV = 48 o 3 ‘ Daher ergibt sich in 1 . Annäherung (15b) R' 2 e 2 [J0 (i r) — i J, (i r)] R J. Cp - * Cp ein Ausdruck, der mit Hilfe der von Jahnke-Emde veröffentlichten Tabellen der Exponential- und der Besselschen Funktionen für beliebige Werte von r leicht berechnet werden kann. In 2. Annäherung, bei Berücksichtigung von Gliedern der Ordnung G 4S2 (15c) wird 0 R-; dem r dem Ausdruck 0 V2 ( 1 4- ) , so daß sich Al mit wachsen- \ R 2 o/ )l'+hiVi asymptotisch nähert. Da aber auch jetzt noch 1 sein soll, so ist mit großer Annäherung als Grenzwert von Al bei wachsendem r der Ausdruck ( 1 5 d) (Al) = 2 — FT= 0,58575 .. . CC anzusehen. Dies bemerkenswerte Resultat sagt also aus, daß sich bei 44 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. geeigneten Versuchsbedingungen (geeigneter Wahl von 6) der Wert der p 1 / 4 ö2\ . Linienabsorption mit wachsendem r = — - 1 aber r // — --- ) bei allen n0 c v \ v 2 / Körpern, die unsern Bedingungen genügen, dem universalen Grenzwert von etwa 58,6 °/0 — und nicht etwa dem Werte 100 °/0 — nähern muß. Andrerseits ist für sehr kleine Werte von r (r <<( 1) A, = r = P'1 L 2 2 • c • v' n0 Wir können unser Resultat auch folgendermaßen formulieren: Setzt man zwei in jeder Beziehung gleiche, leuchtende Schichten desselben Körpers, dessen Spektrum aus isolierten Spektrallinien besteht, — also vor allem eines leuchtenden Gases, — hinter einander und be- zeichnet mit i die bolometrisch oder photometrisch gemessne In- tensität einer Spektrallinie (die Integralintensität der spektral nicht „auf- gelösten“ Linie) einer der beiden Schichten, mit i' die ebenso gemessne Intensität, die von beiden Schichten zusammen ausgesandt wird, so ist (18 a) f = + * C. Al) — 2 — Al 1 1 und unter den oben genannten Voraussetzungen, besonders der Gültigkeit der Gl. (2) und (14), nähert sich f mit wachsendem r dem Ausdruck (18b) (f) = f2 = 1,41425 . , . CC § 5. Genau dasselbe Resultat ergibt sich, wie eine kleine Rechnung zeigt, wenn innerhalb des untersuchten Frequenzintervalls 2 5, nicht eine Linie, sondern zwei oder mehr Linien liegen, unter der Voraussetzung, daß nun für jede einzelne Linie dieselben Bedingungen gelten, wie bisher für eine Linie, und falls die Linien so weit auseinander liegen, daß die Absorptionskurven sich gegenseitig nicht merklich beeinflussen. Dies ist für die tatsächlichen Messungen wichtig, da es häufig nicht ohne weiteres möglich sein wird, bei derartigen Messungen eine Linie von Nachbarlinien zu trennen. Wichtig ist es ferner zu untersuchen, wie genau die beiden Schichten des Körpers — die emittierende und die absorbierende — übereinstimmen müssen, damit Al = 777 ist. Angenommen der Wert von v' sei in beiden R Schichten identisch, dagegen die Größen p und 1, also die an der Emission und Absorption der beiden Schichten beteiligte Elektronenzahl nicht gleich; ferner werde die emittierende Schicht durch den Index 1, die absorbierende durch den Index 2 charakterisiert, und es sei f« i _ ai _Pi 1 v' 1 / 2 2 ki 1; = 4 p.2 / 2 i = 1,2. ■! I R'i= /(i- — 2 k c 4 fx 2 -j- V : L,h) dt*. 4 p.2 -j- v'; II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 45 S' = ( l _e~2klll>)e_2k212 d [jl — 5 und T' = f (l — e“2bl11) (l - e“2k212) d (x = F,\ — S\ — 5 so ist (19a) Al = pk. Beschränken wir uns auf die erste Annäherung und auf große Werte von rt und r2, so ergibt sich + ce (T!=rÜ“ /(l-e-!l‘>>) (l-e CO = v TZ { Vo1 + Vo2 —Vq1 + a2 } und (19b) (AL)=l+M-f7T^; ce Pi h Pi (19c) (!)= l+yi+e&A co » Pi i Pi ]l Zu verschiedenen Werten des Quotienten ^2 2 findet man folgende Pi h in Tabelle I zusammengestellte Zahlen für (Al) bz. (f) (s. a. Figur 1): T abeile I. P2 ^2 Pl h (Al) CO (f) CD 0,01 0,095 1,905 0,05 0,202 1,798 0,125 0,293 1,707 0,25 0,382 1,618 0,5 0,482 1,518 1,0 0,586 1,414 2,0 0,679 1,321 4,0 0,760 1,240 8,0 0,830 1,170 15 0,873 1,127 99 0,950 1,050 46 Jahresbericht der Schl es. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Mithin weicht (f) nur um 6 — 7 °/0 vom Werte V’2 ab, wenn die ce absorbierende Schicht doppelt bz. halb so lang oder so ,, dicht ‘ ist, wie die emittierende Schicht, und erst wrenn das Verhältnis 2 99 ist, beträgt Pi ]i die Linienabsorption 95 °/0. Diese Vergrößerung der Linienabsorption mit wachsender Dicke oder Dichte der Schicht wird ohne weiteres verständlich, wenn man die gleichzeitig eintretende Verbreiterung der Absorptionslinien berücksichtigt, wie sie kürzlich von dem einen von uns1) in verschiedenen Fällen des näheren erörtert worden ist. Dadurch erklärt es sich auch, daß das Biot-Lambertscne Absorptionsgesetz (Gl. 3), angewandt auf die Linie als Ganzes, streng nicht gelten kann2); denn es muß sich die Absorption als nicht unabhängig von der einfallenden Intensität ergeben, falls man diese z. B. durch veränderte Schichtdicke variiert — wie in der Tat Versuche an leuchtendem Wasserstoff zeigen. Zugleich sei noch auf eine interessante Konsequenz hingewiesen, die sich ergibt, wenn man als emittierende Schicht eine sehr dünne Schicht 1) R. Ladenburg, Ann. d. Phys. 1912. 2) Vgl. R. Ladenburg, Verh. d. D. phys. Ges. 9. S. 550, 1908. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 47 wählt, für die also r einen sehr kleinen Wert besitzt und die deshalb durch den Index (0) charakterisiert sei. Es ist nämlich (*< «).= 2 kl = ü?T7* und wenn wieder gesetzt wird, ergibt sich in erster Annäherung /(«WXO— r . (20 a) «Lo = — = > - o 2 Jo (y) / C« (!*.>). d p. — cc wobei sich r auf die absorbierende Schicht bezieht. Wenn r wieder groß ist, wird 1 ~VT~r- 1 (20 b) so daß die Messung von (^l) eine Möglichkeit gibt bei bekanntem p und 1 CC die Konstante V zu messen. Schließlich folgt aus Gl. (14) in Verbindung mit den Gl. (5) bis (9b) eine einfache Beziehung für die gesamte innerhalb einer Spektrallinie enthaltne Energie : + ^ E = / @ (JJL) d (X = e • R — 3 (2! a) = e 1 7t r v'/2 • e - ä [^J0 (y) — i 3t (y)] — VtzÖ (f) + 2 5 (l — e ~ 4öi)| , falls 2 v0 o v'/2 ist (vgl. S. 3 u. 5). ln erster Annäherung wird bei großen Werten von r (21b) E — e • Vk g = tV 71 ^ V * , 1 n0 c in zweiter Annäherung während für sehr kleine Werte von r (2 1 c) E tc r v e • — — - = e TC p 1 2 n0 c 2 48 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. wird; mit andern Worten: nur bei sehr geringer „Dichte^ (p) der Reso- natoren, ist die Helligkeit einer Spektrallinie dieser Dichte proportional, bei großer Dichte dagegen der Wurzel aus p — vorausgesetzt, daß sich die Dämpfung v' mit der Dichte nicht ändert. Wir kommen hierauf und auf die Diskussion hierüber zwischen Arrhenius und Ebert u. a. im folgenden Teile der Arbeit zurück. Experimente. § 6. Eine Reihe der im vorangehenden theoretischen Teil gezogenen Konsequenzen ist experimentell leicht zu prüfen. In der Tat hat bereits vor mehr als 30 Jahren Gouy1) eine ebenso schöne wie ausführliche Unter- suchung ausgeführt, betitelt: Recherches photometriques sur les flammes colorees, in der er gerade die oben berechnete Helligkeitsvermehrung mißt, die man beobachtet, wenn man die Dicke einer mit Metallsalzen gefärbten, möglichst homogenen Flamme verdoppelt. Die sehr exakten spektralphoto- metrischen Versuche von Gouy liefern direkt die oben mit f == 2 — Al be- zeichnte Größe, indem Gouy sowohl zwei möglichst gleiche, gefärbte Flammen hinter einander setzte als auch mittelst eines Spiegels die Dicke einer Flamme verdoppelte. Betreffs der höchst einfachen und übersicht- lichen Versuchsanordnungen und aller weiterer Einzelheiten verweisen wir auf die ausführliche Originalarbeit und begnügen uns hier mit Angabe der wichtigsten Ergebnisse, die z. T. übrigens auch in Kaysers Handbuch der Spektroskopie, Bd. II (s. S. 56 u. S. 299) aufgenommen sind2). Am sorgfältigsten hat Gouy Natriumflammen untersucht und bei Be- nutzung verschiedener Salze (des Chlorids, Nitrats, Hyposulfits u. a.) das übereinstimmende Resultat erhalten, daß mit wachsender Natriumdampf- dichte und entsprechender Zunahme der Helligkeit die Größe f nicht dem Werte 1 zustrebt — entsprechend Al = 1 — , sondern bereits bei mäßiger Dampfdichte einen Grenzwert von etwa 1,4 erreicht, um den es bei weiterer Steigerung der Dichte „oszilliert, ohne sich weit von ihm zu entfernen“. In einer Anmerkung (S. 65) vermutet Gouy bereits, daß V2 dieser Grenzwert von f sei. Die in Figur 2 eingezeichneten Kreise stellen die von Gouy gefundenen Werte von f vor, in ihrer Abhängigkeit von der Flammen- helligkeit i, deren Einheit einer willkürlichen, sehr kleinen Dichte entspricht. Die ausgezogene Kurve stellt die von unsrer Theorie gelieferte Ab- hängigkeit f (i) vor, indem aus den Gleichungen (15 b) und (21) mit B G. L. Gouy, Ann. de chirnie et physique (5) 18, 1879, p. 5—101, s. a.C. R. 83, p. 269, 1876; 85, p. 70, 1877; 86, p. 878 u. 1078, 1878; 88, p. 418, 1879; Journal de phys. 9, p. 19, 1880. 2) Ein Teil dieser Ergebnisse wurde durch Versuche des einen von uns vor Jahresfrist durchaus bestätigt. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 49 Benutzung der Jahnke-Emdeschen Tabelle f = 2 — Al und i = const. E (Def. vgl. Gl. 21) als Funktionen von r berechnet und daraus ! als Funktion von i abge-^ leitet wurde. Der Wert i= 11, bei dem der konstante Wert von ! bereits bis auf etwa 2 °/0 erreicht ist, entspricht ^ etwra einem Werte r = 10. Ob die von Gouy gefundenen Maxima und g Minima, die er selbst verschiedentlich hervorhebt, und ob die bei sehr hohen 2 Dampfdichten gefundenen Werte 1,37, 1,36 .. . „reell“ sind, müssen weitere s Versuche entscheiden. Von ihnen ab- gesehen, liefern die Gouyschen Experi- mente eine gute Bestätigung unsrer ein- „ fachen Annahmen. Während die bisher verwandten o Versuche mit dem Lichte beider Natrium- linien angestellt wurden (vgl. § 5, Anf.), ° lieferten Versuche Gouys mit den ge- trennten Linien Dx und D2 ganz ähnliche Resultate; die für größere Dampfdichten „ gefundenen Mittelwerte von f waren 1,39 (DJ bz. 1,38 (D2). Die Resultate g der mit diesen und andern Metallsalzen gefärbten Flammen enthält Tabelle II. g Sie zeigt, wrie bei allen Salzen die Werte von f mit wachsender Dampfdichte S abnehmen und in ein Gebiet kommen, ^ in dem sie einigermaßen konstant sind. “ Die Grenzwerte von f sind teils etwas größer, teils etwas kleiner als 1,41. “ Nimmt man aus allen von Gouy an- s o gegebenen Werten von ! (52 Zahlen), die in jenen Grenzgebieten liegen, das s Mittel, so erhält man die Zahl 1,41 03 . während unsre Theorie 1 (f) =1,414, ö 0D C3 geliefert hatte. T'J -T CJ» 03 '» 1912. Fig. 2. 4 50 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Tabelle II. Na 589.6 Na 589,3 Ru 420,2 K 769,9/6,5 Li 670,8 Sr blau Ca violett i k ; i j k i k i k i k i k i k 0,20 2,04 0,38 1,88 1,25 1,79 2 1,96 1,1 1,85 0,95 1,72 0,57 1,86 1,1 1,82 1,40 1,73 — 7,5 1,81 2,4 1,71 1,7 1,54 1,44 1,66 2,6 1,58 2,20 1,64 16 1,63 1 5 1,68 4,o 1,55 2,5 1,47 3,40 1,52 3,2 1,53 3,30 1,50 17 1,64 25 1,51 6,0 1,44 3,1 1,43 4,86 1,41 5,2 1,43 4,0 1,47 26 1,58 34 1,47 8,0 1,39 3,5 1,41 5,60 1,41 6,4 1,34 6,3 1,41 38 1,50 57 1,33 12,0 1,34 4,7 1,35 7,9 Ü41 7,6 1,39 6,7 1,43 41 1,47 88 1,32 — — — — 10,9 1,42 10,0 1,44 7,0 1,45 50 1,46 107 1,36 — — — — 14,8 1,36 14,8 1,41 — — 66 1,49 115 1,37 — — — — 17,6 1,35 19,4 1,34 — — 85 1,48 130 1,38 — — — — 19,2 1,41 22,0 1,38 — — 131 1,48 155 1,39 — — — — 25,5 1,30 24,9 1.32 — — 177 1,49 — — — — — — 34,8 1,42 — — — 220 1,52 — — — — — Gouy selbst schließt aus diesen Versuchen: ,,Ces resultats etablissent entre les diverses raies metalliques une parente remarquable; les plus grandes differences qui existent entre elles sont relatives ä l’etendue de la function f que peuvent donner les Hammes employees“. Die außerordentlich geistreich angestellten Versuche Gouys erlauben ferner eine Prüfung unsrer theoretisch abgeleiteten Beziehung (21) zwischen Linienhelligkeit (E) und Dampfdichte, obwohl letztere direkt von Gouy nicht gemessen wurde; Gouy stellte nämlich folgende Überlegungen: Wenn die optischen Eigenschaften speziell das Emissions- und Absorptionsvermögen einer gefärbten homogenen Flamme nur von dem Produkte Dicke X Dichte abhängen, so muss die gleiche Helligkeitsvermehrung, die bei den Ver- suchen tatsächlich durch Verdopplung der Schichtdicke (1) erzielt wurde, auch durch verdoppelte Dampfdichte (q) erzielt werden können. Unter obiger Voraussetzung muß also, da f * i (2 q) i (21) * 0) ist, f auch die Gleichung . . . erfüllen. i(q) Setzt man nun z. wo B. für i = 1, q = 1 so ergibt sich iq =: 2 = (]q = l) ' Ü ~‘l > ^ __ p a^s0 experimentell bestimmt ist. So läßt sich aus der Kurve f = f(i) (s. Fig. 2) die Funktion i = f(q) berechnen. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 51 Gouy hat jene Voraussetzung über die Abhängigkeit der optischen Eigenschaften der Flamme — die man auch als Gültigkeit des Beer- schen Gesetzes bezeichnen könnte — durch verschiedene Reihen von Ver- suchen, besonders am Natriumdampfe, geprüft und innerhalb seiner Ver- suchsfehler richtig gefunden. In der Sprache der Elektronentheorie würde dies bedeuten, daß mit wachsender Dichte des Dampfes in der Flamme die Dämpfungskonstante (V) ungeändert bleibt, da die uns hier interessierenden optischen Eigenschaften außer von p, 1, e/m und v0 nur noch von v' abhängen. Diese Konsequenz scheint auf den ersten Blick der bekannten Tat- sache der Linienverbreiterung bei Vergrößerung der Dampfdichte zu wider- sprechen; wie jedoch grade kürzlich von Ladenburg1) gezeigt wurde, kann wenigstens bei Natriumdämpfen in der Flamme eine derartige Linien- verbreiterung als direkte Folge der Vermehrung der Zahl der wirksamen Zentren angesehen werden, ohne daß eine gleichzeitige Zunahme der Dämpfung V angenommen zu werden braucht2). Macht man nun noch außer der Voraussetzung der Konstanz von v' die Annahme, daß mit wachsender Dampfdichte die Größe e unsrer Gleichungen (14) und (21c) unverändert bleibt — eine Annahme, die vor kurzem durch exakte noch nicht veröffentlichte Messungen der Umkehrungstemperaturen der Natriumlinien bei stark variierter Dampfdichte (Variation der Helligkeit i. Verh. 1 : 150) von Frl. H. Kohn3) bestätigt wurde — so liefert GL (21) die Abhängigkeit E (r), die mithin direkt mit der Gouyschen Funktion i (q) vergleichbar ist. In Figur 3 sind deshalb die beiden Funktionen graphisch dargestellt, die ausgezogene Kurve ist die theoretisch berechnete, die kleinen Kreise repräsentieren die Gouyschen Beobachtungen. Dabei sind die Abscissen so gewählt, daß einem Werte r= 10, q = 42 entspricht, da die Gouysche Kurve f (i), wie oben erwähnt, von der Stelle i = 1 1 ab als praktisch konstant anzusehen ist und diesem Punkte die Werte r = 10 und q = 42 entsprechen; im übrigen ist, nach der Definition von r, q proportional (r) v’ = konst. gesetzt. Das Verhältnis der Ordinaten E zu i ist dadurch bestimmt, daß ein Punkt der theoretischen und der experimentellen Kurve zur Deckung gebracht wurden. Als theoretische Kurve wurde die erste Annäherung E = e-R verwendet, die unabhängig vom Bezirk o ist. In der Kurve II (der Figur 3) ist der Maßstab von r 100 mal so groß als in Kurve I, so daß II als Fortsetzung von I in vergrößertem Maßstabe anzusehen ist. *) R. Ladenburg, Ann. d. Phys. (4) 1912. 2) Eine der Grundlagen der dortigen Betrachtungen ist die in der hier zitierten Arbeit von Gouy beobachtete Verbreiterung der Natriumlinien bei Vergrößerung der Flammendicke (1. c. S. 77). 3) In einer auf Veranlassung der Herren Professoren Lummer-Pringsheim im physik. Inst. d. Univ. Breslau ausgeführten Doktorarbeit. 4* 200 «fOO 1000 1500 2000 2500 3000 52 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. CD ^ ^ •? CT> CB o N ? Ön & O SO Man sieht, bis zum Werte r = 1000 liegen die beobachteten Werte genau auf der theoretischen Kurve, als spektralphotometrische II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion Messungen erwarten lassen können. Von r = 1000 ab zeigen die Gouy- schen Werte systematische Abweichungen, und zwar in demselben Sinne, wie die 2. Annäherung erwarten läßt, da R' < R ist. Die prozentische Abweichung der 2. Annäherung von der ersten: — -.100 TZ entsprechend Gl. (21c) — berechnet sich für r zwischen 2000 und 4000, wenn man V zu etwa 10 10 und den dem Rereich ö entsprechenden Wellenlängenbezirk zu 20 A annimmt, zu 1 — 2 % (in der Figur 2 durch liegende Kreuze be- zeichnet XX), so daß auch die Größenordnung dieser Korrektion mit den Beobachtungen übereinstimmt § 7. So stellen die Gouyschen Messungen eine vorzügliche Bestätigung unsrer theoretisch gewonnenen Beziehungen dar. Doch wäre es nicht richtig, hieraus auf die Gültigkeit der zugrunde liegenden Funktion nx(v) (Gl. 2) zu schließen; diese stellt offenbar nur eine mögliche Form dar, und es ist zunächst keineswegs unwahrscheinlich, daß auch andre Funktionen zu den nämlichen oder sehr ähnlichen Resultaten führen, da diese nur durch Integration jener Funktion nx gewonnen sind. Was sich aber schließen läßt, ist folgendes: Wenn sich die Be- ziehung (1)^= 1,41 experimentell als streng gültig erweist, so ist sie als notwendige — aber nicht als hinreichende — Bedingung anzusehen, der eine Funktion nx(v) genügen muß, wenn sie den Extinktinktionskoeffizient und damit die Intensitätsverteilung von Spektrallinien darstellen soll. So läßt sich mit grosser Wahrscheinlichkeit sagen, daß die Rayleighsche Intensitätsverteilung p • e — ff!12 die man bekanntlich unter Zugrundelegung des Dopplerschen Prinzipes erhält1), die Erscheinungen leuchtender Metalldämpfe in Flammen nicht dar- stellt2). Denn der dieser Verteilung entsprechende Wert von t (als Funktion von p) ist schon für mäßige p bedeutend kleiner, als der experimentell gefundene. So ergeben3) sich für p = 10, 100, 1000 die Werte f = 1,13; 1,07; 1,05. Wenn sich andrerseits auch die Gouyschen Ergebnisse bestätigen sollten, die an einzelnen Metalllinien für f Werte liefern, die von 1,41 merklich abweichen, so würden unsre Betrachtungen notwendig zu dem Schluß führen, daß entweder die zugrunde gelegte Funktion n%(v) der !) p ist, dabei im wesentlichen mit unserm r (s. Gl. 7 a) identisch, falls man für die Dämpfung hz. die Geschwindigkeit der bewegten Zentren die bei unsrer heutigen Kenntnis wahrscheinlichsten Werte benutzt. 2) Ein anderes, und wie uns scheint gewichtiges Argument gegen die Gültigkeit der Rayleighschen lntensitätsverteilung im Falle farbiger Flammen ist die Tatsache, daß diese Verteilung keine wesentliche Linienverbreiterung bei Vergrößerung der Schichtdicke oder der Dichte liefert, im Gegensatz zur Erfahrung (vgl. Anm. 1 u. 2 S. 18). 3) Diese mühsamen Rechnungen hat Herr cand. phys. H. Senftleben ausgeführt, wofür wir ihm auch an dieser Stelle unsern herzlichen Dank sagen. 54 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. gewöhnlichen Dispersionstheorie diese Erscheinungen nicht vollständig dar- zustellen vermag — ; in der Tat ist ja in dieser Theorie die Bewegung der absorbierenden Zentren unberücksichtigt geblieben — oder daß die vorausgesetzte Proportionalität von (£ (v) und 31 (v) nicht streng erfüllt ist. In der Tat ist diese Proportionalität seit den Untersuchungen Pringsheims aus dem Jahre 1892/93 an leuchtenden Gasen nicht ohne weiteres als gültig anzusehen; im Falle von Metalldämpfen in der Bunsenflamme aller- dings ist sie nach den Untersuchungen von Fery, Kurlbaum-Schultze, Bauer und den erwähnten Messungen von Frl. H. Kolm erfüllt. § 8. Andrerseits liefert die genannte Funktion nx zweifellos eine erste Annäherung für die besprochenen Erscheinungen; führt sie doch in so einfacher Weise auf das Wurzelgesetz lim. (E) = e-Vna, ein Gesetz, das übrigens von Gouy selbst aus seinen Versuchen abgeleitet worden ist, wenigstens in der Form, daß die Linienhelligkeit proportional der Wurzel aus dem Produkt Dicke X Dichte ist, wenn dieses nicht zu kleine Werte be- sitzt und die verschiedenen untersuchten Flammen gleiche Temperatur haben1). Später ist dies Gesetz2) Gegenstand einer Diskussion geworden. Arrhenius3) beobachtete nämlich, daß die Helligkeit von Natriumlinien proportional der Wurzel aus der Konzentration der Salzlösungen zunahm, die zur Speisung des Luftleuchtgasgemisches der untersuchten Flammen diente, und indem er die Annahme machte, daß die Konzentration der Salzlösung derjenigen des Dampfes in der Flamme proportional sei, be- trachtete er seine Versuche als Bestätigung des Gouyschen Gesetzes. Ebert dagegen bestritt4) die allgemeine Gültigkeit dieses Gesetzes, auch auf Grund von Versuchen, die Gouy selbst angestellt habe5), und Beckmann- Waentig6) zeigten gelegentlich einer größeren Untersuchung an gefärbten Flammen, daß deren Helligkeit nur in einem gewissen Konzentrationsbereich der Wurzel aus der Konzentration der verwandten Salzlösung6) proportional sei. Diese scheinbaren Widersprüche erklären sich vollständig durch den schon von Gouy (1. c. S. 93) gezogenen und von Arrhenius3) zitierten Schluß, daß „die Menge von farbigem Dampf in der Flamme nicht so rasch wächst, wie die mit der Leuchtgasmischung mitgeführte Salzmenge“, während letztere — wie Messungen von Beckmann -Waentig zeigen — der Konzentration der verwandten Lösung in weiten Grenzen direkt proportional ist; zudem wissen wir heute durch die Untersuchungen von Hallo, Geiger u. a., daß höchstwahrscheinlich sogar nur ein geringer Bruchteil der vom 1) Gouy, Ann. chem. et phys. (5) 18, Anm. 1 S. 65 a. a. O. 2) Wenn i proportional Kq-k so folgt übrigens ohne weiteres 3) Sv. Arrhenius, Wied. Ann. 42, 23, 1891, 44, 383, 1891. 4) H. Ebert, Wied. Ann. 43, 797, 1891. 5) Gouy, 1. c. S. 92, woselbst ebenfalls der Zusammenhang zwischen Helligkeit und Lösungskonzentration untersucht wird. G) E. Beckmann u. P. Waentig, Zeitschr. f. phys. Chem. 68, 434, 1910. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 55 Gasgemisch der Flamme zugeführten Natriummenge an der Absorption der Flamme beteiligt ist. § 9. Zusammenfassung. 1. Es werden zwei verschiedene Arten der Absorption definiert: die Gesamtabsorption schlechthin, wenn die Lichtquelle ein schmaler Streifen aus einem kontinuierlichen Spektrum ist; die Linienabsorption, wenn als Lichtquelle eine Spektrallinie dient, die von einem Körper emittiert wird, der mit dem absorbierenden identisch ist. Beide Arten von Absorption können unter Voraussetzung der Gültigkeit der Drudeschen Dispersions- theorie und der aus ihr abgeleiteten Absorptionskurve berechnet werden. 2. Die Gesamtabsorption schlechthin ergibt sich auf diese Weise der Breite des ausgeschnittenen Spektralstreifens umgekehrt pro- portional; bei geringer Zahl der absorbierenden Zentren ist sie ferner dieser Zahl proportional und von der Dämpfung unabhängig; bei großer Zahl der Zentren dagegen ist sie (in erster Näherung) der Wurzel aus dieser Anzahl und der Wurzel aus der Dämpfung proportional. 3. Für die Linienabsorption ergibt sich unter der weiteren Voraus- setzung der Proportionalität von Emissions- und Absorptionsvermögen das bemerkenswerte Resultat, daß sie in erster Näherung bei wachsender Zahl der absorbierenden Zentren, unabhängig von der Breite des beobachteten Spektralgebietes, dem universalen Grenzwert 2 — V 2, also etwa 60 °/0 zustrebt. 4. Infolgedessen nähert sich das Verhältnis der Helligkeit zweier hintereinander gestellter identischer Schichten eines selektiv emittierenden und absorbierenden Körpers zur Helligkeit der einfachen Schicht mit wachsender Zahl der absorbierenden Zentren dem Grenzwert V2. 5. Die Gesamthelligkeit einer Spektrallinie ferner (Pro- portionalität von Emissions- und Absorptionsvermögen wieder vorausgesetzt) ist bei geringer Zahl der emittierenden Zentren dieser Zahl proportional und von der Dämpfung unabhängig; bei großer Anzahl der emittierenden Zentren der Wurzel aus dieser Anzahl und der Wurzel aus der Dämpfung proportional, 6. Die Messungen Gouys an „gefärbten Flammen“ bestätigen die vorangehenden Resultate der Nummern (4) und (5) in bemerkenswerter Weise. 7. Die aufgestellten „Integralgesetze“ bilden somit einen Prüfstein für die möglichen Formen der Absorptionskurve und der Emissionskurve. Die Rayleighsche Intensitätsverteilung, die zu einem andern Integralgesetz für die Linienabsorption führt, stellt demnach die Erscheinungen leuchtender Metalldämpfe in Flammen höchstwahrscheinlich nicht dar. Sitzung am 1 4. Mai. nterferenzmethode zur Untersuchung von Fehlern optischer Systeme. Von Herrn Privatdozent Prof. Dr. E. Wätzmann. 56 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Die Bedeutung des elementaren Wirkungsquantums für die Gastheorie und für die Berechnung chemischer Gleichgewichte. Von Herrn Privatdozent Prof. Dr. 0. Saekur. Einige Vorlesusigsversuehe. Von Herrn Geheimrat Prof. Dr. 0. Lummer. Sitzung am 17. Juli. Untersuchungen über die Oberflächenspannungen einiger tautomerer und assoziierter Flüssigkeiten. Von Herrn Felis Wilborn. Theoretischer Teil. Die molekulare ©foerflächenenergie und ihr Temperaturkoeffizient. Bestimmen wir die Steighöhe h einer Flüssigkeit in einer Kapillare, so verstehen wir unter der spezifischen Kohäsion der Flüssigkeit das Produkt aus dem Piadius der verwendeten Kapillare (r) und dieser Steig- höhe: r h = a2. Da sich die Steighöhen in den Kapillaren bei gleicher Temperatur umgekehrt wie die Radien verhalten, so ist die spez. Kohäsion eine Konstante der untersuchten Flüssigkeit und von den verwendeten Kapillaren unabhängig. Die Oberflächenspannung steht mit der spez. Ko- häsion in folgender Beziehung: = 1/2 a2 g s, wenn g die Beschleunigung der Schwere und s die Dichte der Flüssigkeit ist. Unter der molekularen Oberflächenenergie (M. 0. E.) verstehen wir die Größe y wenn M das Molekulargewicht der Substanz bedeutet. Zwischen der molekularen Oberflächenenergie und der Temperatur besteht eine zuerst von Eötvös1) gefundene Abhängigkeit, die sich durch die Gleichung ausdrücken läßt: /M\2/ y ^ — J 3 = k • (t — d), wobei x den Abstand von der kritischen Tem- peratur, d eine Konstante, die für die verschiedenen Stoffe nahezu konstant ist und etwa 5 beträgt, k ist eine Konstante, die nach den Untersuchungen von Eötvös und Ramsay und Shields2) unabhängig von der Temperatur und für alle Flüssigkeiten nahezu gleich ist, wenn man in genügendem Abstande (etwa 35°) von der kritischen Temperatur mißt, und den Wert 2,121 besitzt. Die auf empirischem Wege gefundene Tatsache wird gestützt durch theoretische Betrachtungen von Eötvös3), van der Waals4) und van’t Hoff5). !) Eötvös, Wiedemanns Ann. 27, 448. (1886.) 2) Ramsay und Shields, Zt. f. phys. Chem. 12, 443. (1893.) 3) Eötvös a. a. O. 4) van der Waals, Zt. f. phys. Chem. 13, 713. (1894.) 5) van’t Hoff. Vorlesungen III, 2. Aufl. S. 72. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 57 Gültigkeit der Eötvösschen Gleichung. Die Gültigkeit der Eötvösschen Gleichung knüpft sich an folgende Bedingungen: 1. Die Moleküle dürfen keine bevorzugte Ausdehnung in einer Dimen- sion haben, die den Betrachtungen, auf denen Eötvös die Formel aufgebaut hat, widersprechen würde. 2. Das Molekulargewicht darf von der Temperatur nicht abhängig sein. 3. Die Substanz darf bei Temperaturerhöhung keine intramolekulare Umwandlung erleiden, dabei ist es gleich, ob diese reversibel oder irreversibel ist. Als eine vierte Bedingung kommt die von Einstein1) aufgestellte hinzu, daß jedes Molekül nur auf die unmittelbar benachbarten Attraktionskräfte ausübt; bei Substanzen mit kleinen Molekülen, die auch von den überein- stimmenden Zuständen Abweichungen zeigen, sollte man auch hier Ab- weichungen erwarten. Trotz der ersten Bedingung konnte Schenck2) nachweisen, daß bei Substanzen, die imstande sind, flüssige Kristalle zu bilden, und bei denen man langgestreckte Moleküle annehmen muß, wie p-Azoxyphenetol und p-Azoxyanisol nur wenig zu hohe Werte des Temperaturkoeffizienten auf- treten. Ist die zweite Bedingung nicht erfüllt, d. h. handelt es sich um Flüssigkeiten, die assoziieren oder dissoziieren, dann erhalten wir zu kleine bzw. zu große Werte für den Temperaturkoeffizienten. Aus den so er- haltenen Werten sind von Ramsay und Shields u. a. die Assoziationsfaktoren berechnet worden, diese Berechnungen können jedoch, wie Guye3), van der Waals4), Flade5), Batschinski6) und Tyrer7) gezeigt haben, nur qualitatives Interesse beanspruchen. Von den Substanzen, die sich bei einer Temperaturänderung um- wandeln, interessieren uns vor allem die, bei denen eine reversible Um- wandlung zu beobachten ist. Es sind die sogen, tautomeren Substanzen. Unter dieser Bezeichnung verstehen wir Flüssigkeiten, deren Verhalten sich nicht durch eine chemische Formel ausdrücken läßt, die vielmehr nach zwei (oder auch mehreren) Formeln reagieren. Sind beide Formen be- kannt, dann spricht man von Desmotropie als dem engeren Begriff. Das Verhalten der desmotropen Substanzen der Eötvösschen Gleichung gegenüber ist zuerst von Schenck und Ellenberger8), dann vonFlade9) untersucht worden. *) Einstein, s. Lit. Verz. Nr. 19. 2) Schenck, Zt. f. phys. Chem. 25, 346. (1898.) 3) Guye und Baud. Arch. d. Sc. phys. et nat. (4) t XI. (1901.) 4) van der Waals a. a. 0. ö) Flade a. a. 0. S. 21. 6) Batschinski, s. Lit.-Verz. 18. D Tyrer, s. Lit.-Verz. 24. 8) Schenck u. Ellenberger. Berichte d. dtsch. chem. Ges. 37, 3443. (1904.) 9) Flade a. a. O. 58 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Wir bedienen uns nach dem Beispiele von Schenck der graphischen Darstellung und nehmen an, daß die Substanz zunächst praktisch aus- schließlich aus der Form A besteht, sich bei einer Temperaturerhöhung in die Form B verwandelt, und daß am Schlüsse die Form B praktisch aus- schließlich vorhanden ist. Da beide Formen verschiedene physikalische Eigen- schaften haben, mithin auch verschiedene kritische Temperaturen — und zwar möge A die höhere haben — so erhalten wir, wenn wir die molekulare Oberflächenenergie auf der Abszisse, die Temperatur auf der Ordinate auf- tragen, 2 parallele Grade. Da die Form A sich in die Form B umwandeln soll, so nimmt die gemessene molekulare Oberflächenenergie den in Fig. 1 gezeichneten Verlauf. Eine entsprechende Betrachtung gilt natürlich auch, wenn sich die Form B in die Form A umwandelt (Fig. 2). Bei dieser Umwandlung kann der Temperaturkoefüzient nicht konstant bleiben, sondern muß im ersten Falle ein Maximum, im zweiten ein Minimum durchlaufen. In allen Fällen, in denen ein Maximum oder Minimum zu beobachten ist, ist daher auf Desmotropie zu schließen; doch ist nicht in allen Fällen» wo Desmotropie vorliegt, auch auf einen Gang des Temperaturkoeffizienten zu schließen. Liegen nämlich die kritischen Temperaturen beider Formen nahe beieinander, oder ist das Gleichgewicht von der Temperatur nur wenig abhängig, oder besteht schließlich die zu messende Substanz während der ganzen Versuchsreihe praktisch nur aus einer Komponente, so muß der Temperaturkoeffizient einen normalen Verlauf nehmen. Die theoretischen Betrachtungen über den anormalen Verlauf des Temperaturkoeffizienten konnten die genannten Forscher bestätigen, so fanden Schenck und Ellenberger ein Maximum des Temperaturkoeffizienten beim Dibenzoylazeton, ein Minimum bei Azetylazeton; Flade ein Maximum bei Azetaldoxim, Nitroazettoluid und Formylphenylessigester, ein Minimum bei Azetylazeton. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 59 Abhängigkeit der kapillaren Größen vom Radius der Kapillaren. Bei seinen Messungen bediente sich Flade, um eine größere Genauig- keit zu erlangen und gleichzeitig eine Kontrolle über die Rundheit der Kapillarlumina zu haben, gleichzeitig zweier Kapillaren. Hierbei gaben beide Kapillaren übereinstimmende Resultate in den Kapillarengrößen; in einigen Fällen jedoch hatte es den Anschein, als sei die Übereinstimmung gerade dann, wenn der Temperaturkoeffizient ein Maximum oder Minimum zeigte, geringer. Diese Andeutungen fanden sich beim Azetylazeton, Formylphenylessigester und Nitroazettoluid und gaben Anlaß zu folgenden Betrachtungen : Wir haben es bei den desmotropen Substanzen mit einem Gemisch zweier Flüssigkeiten zu tun, die sich reversibel ineinander umwandeln. Beide Komponenten besitzen verschiedene physikalische Eigenschaften, so auch verschiedene Dichte und verschiedene Oberflächenspannung. Die Zusammensetzung eines derartigen chemisch-elastischen Systems ist nicht nur von der Temperatur, sondern auch vom Druck abhängig. Vergrößern wir den Druck, unter dem das Gemisch steht, so muß das Gleichgewicht nach der Form hin verschoben werden, die die größere Dichte hat. Ver- ringern wir dagegen den Druck, so wird das Gleichgewicht nach der Form mit der kleineren Dichte verschoben. Stellen wir eine Kapillare in ein derartiges System, so steht innerhalb der Kapillare die Flüssigkeit unter einem Zuge, das Gleichgewicht muß sich daher nach der Form mit der geringeren Dichte verschieben, wir hätten somit eine Diskontinuität zwischen Oberfläche in der Kapillare und freier Oberfläche zu erwarten. Messen wir nun mit zwei Kapillaren mit verschieden weiten Radien, so steht in beiden die Flüssigkeitsoberfläche unter verschiedenen mechanischen Be- dingungen, wir haben also in dem Meniskus der einen Kapillare ein anderes Mischungsverhältnis der beiden Komponenten als in dem Meniskus der anderen. Daher haben wir Differenzen zwischen den Werten der spez. Kohäsion, die durch beide Kapillaren gefunden werden, zu erwarten. Diese Unterschiede können, da die mechanischen Ki’äfte verhältnismäßig gering sind, nur sehr klein sein, am stärksten dann, wenn beide Formen etwa in gleicher Menge vorhanden sind, was die Ergebnisse auch zu bestätigen schienen. Eine derartige Abhängigkeit der kapillaren Werte von dem Kapillarradius ist nicht auf desmotrope Stoffe beschränkt, sondern dürfte sich auch bei assoziierenden und dissoziierenden Flüssig- keiten finden. Tritt nämlich mit der Verminderung der Molekülzahl durch Asso- ziation eine Verringerung des Volumens der Flüssigkeit ein, wie das wohl in den meisten Fällen der Fall sein dürfte, so würde bei einem geringeren Drucke oder größeren Zuge das Gleichgewicht nach der Flüssigkeit mit den einfachen Molekülen verschoben werden. 60 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Überhaupt messen wir ja, wie schon Guye1) erwähnt hat, nur die Verhältnisse in der Oberfläche; daß diese Verhältnisse mit denen innerhalb der Flüssigkeit identisch sind, dürfen wir nicht ohne weiteres annehmen, da ja vom kinetischen Standpunkte die Oberfläche eine Sonderstellung ein- nimmt. Ist nun eine Diskontinuität zwischen Oberfläche und Flüssigkeits- inneren vorhanden, so müssen auch die Bedingungen, unter denen die Oberfläche steht, von Einfluß sein. Die anomalen Werte von k. Wir legen uns nunmehr die Frage vor, ob der Temperaturkoeffizient in allen nicht ausgenommenen Fällen stets normale Werte aufweist. Von den von Ramsay und Shields untersuchten einfachen Substanzen fanden sich zu hohe Werte bei Paraldehyd (2,37) und Chinolin (2,43). Dutoit und Friderich2) fanden zu hohe Werte bei Diphenylamin (2,57), symmetrisches Diphenyläthan (2,49) und Benzophenon (2,63). Homfray und Guye3) fanden zu hohe Werte vor allem bei Derivaten des Malonsäureäthylesters und zwar beim Propyonylderivat bis zu 2,64, beim Polargonylderivat bis 3,68, Carrara und Ferrari4) zu hohe bei Thiophen (2,94), Oktylalkohol (3,02) u. a. Die höchsten Werte fand Waiden5) beim Tristearin (6,21) und Tripalmitin (5,43). In einer weiteren Arbeit6) fand Waiden bei einer großen Reihe von Stoffen übernormale Werte von k, so bei Triphenyl- phosphin (bis 3,32), o-Phtalsäurediamylester (bis 3,32), Malonsäurediamyl- ester (2,67), Maleinsäurediamylester (2,66), Maleinsäurediäthylester (bis 2,52) u. a. m. Dabei weisen Triphenylstibin, Triphenylphosphin und Phenol- propiolsäureäthylester ein Ansteigen des k -Wertes, o-Phtalsäureäthylester und o-Phtalsäurediamylester ein ausgesprochenes Abfallen auf, wie es auch beim Tristearin und Tripalmitin beobachtet worden war. Trotz des vor- liegenden, sehr großen Tatsachenmateriales scheint es schwierig, eine Er- klärung für diese Abweichungen zu finden. Wenn wir von einigen Stoffen, wie Thiophen und Chinolin absehen, finden sich Abweichungen bei Sub- stanzen mit höherem Molekulargewicht, die mit einer Vergrößerung des Molekulargewichtes, besonders durch Einführung von Benzoylresten, sowie langgestreckten Ketten zunehmen. Es ist nun klar, daß hier durch das Molekül eine stärker ausgeprägte Ausdehnung und damit eine Abweichung von der Kugelgestalt erfährt. Damit entsteht aber ein Widerspruch mit den Voraussetzungen, auf denen die Formel beruht. Auffallend sind dabei freilich die nur wenig übernormalen Werte, die Schenck bei p-Azoxyanisol D Guye, s. Lit. Verz. 20. 2) Dutoit u. Friderich, Contes rendus, 130, 327. s) Homfray u. Guye, Journ. de Phys. 1, 505. 4) Carrara und Ferrari, s. Lit. Verz. 1. 5) Waiden, s. Lit. Verz. 17. 6) P. Waiden u. R. Swinne, s. Lit. Verz. 23. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 61 und p-Azoxyphenetol fand. Auch finden wir keine Erklärung für die starke Temperaturabhängigkeit einzelner normaler Temperaturkoeffizienten. Wir können daher nicht umhin, zur Erklärung dieser Erscheinung Veränderungen in der gegenseitigen Lagerung der Atome im Molekül oder auch der Mole- küle zu einander anzunehmen. Es ist das nicht so zu verstehen, daß die Atome, wie bei desmotropen Stoffen ihre Plätze vertauschen, sondern wir müssen vielmehr eine Änderung in der gegenseitigen Beeinflussung im Molekül annehmen. Beobachtungen, die von Drude1) am Benzalmaionsäure- äthylester gemacht worden sind, nämlich eine abnorm starke Absorption von elektrischen Wellen bei höheren Temperaturen, die chemisch mit unseren heutigen Anschauungen nicht zu vereinbaren sind, würden für diese Vermutung eine Stütze liefern. Spekulationen wie die obigen stehen freilich noch auf sehr unsicherem Boden, wir haben aber Grund zu hoffen, daß gerade die Abweichungen von dem Eötvösschen Gesetz uns neue Auf- schlüsse über die physikalischen Verhältnisse in Flüssigkeiten geben können. Die Veranlassung zu vorliegender Arbeit boten die schon erwähnten Beobachtungen Flades, daß sich in dem Temperaturgebiet, wo bei des- motropen Substanzen der Temperaturkoeffizient ein Maximum oder Minimum aufweist, sich größere Abweichungen zwischen den Messungen in beiden Kapillaren ergaben. Waren die Vermutungen Flades zu Recht bestehend, so mußten die Abweichungen bei Kapillaren, die sich noch mehr unter- scheiden als die von Flade verwandten (diese standen im Verhältnis von 2 : 3), stärker hervortreten. Zugleich erschien es angebracht, da sich diese Vermutungen auf Messungen, die mit verhältnismäßig einfachen Mitteln angestellt waren, stützten, diese nach einer möglichst genauen Methode zu prüfen. Im Anschluß daran wurden die Temperaturkoeffizienten der molekularen Oberflächenenergie ausgerechnet und aus ihrem Verlauf Schlüsse über das Verhalten der Flüssigkeiten gezogen. Versuchsanordnung. Der Kapillarapparat. Die Messung der kapillaren Steighöhe geschah in dem in Fig. 3 ab- gebildeten Apparate. Er bestand aus einem weiteren Rohre von ca. 2,2 cm lichter Weite, in dem sich die Kapillaren befanden, dieses weitere Rohr stand mit einem engeren parallelen Rohre von ca. 1 cm lichter Weite in Verbindung, von dessen oberem Ende eine zweite Verbindung in Form einer ziemlich englumigen Spirale nach dem ersten Rohre führte. Diese zweite Verbindung hatte den Zweck, eine leichtere Reinigung der Rohre zu ge- statten, die Spiralform hatte sich als nötig erwiesen, da sonst leicht bei höheren Temperaturen ein Springen des Glases an den Ansatzstellen er- *) Drude, Ber. d. dtsch. chem. Ges. 30, 959. 62 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. folgte. In dem engeren Rohre befand sich ein allseitig geschlossener Hohl- körper aus dünnem Glase, an dessen innerer Wandung ein Ring aus weichem Eisenblech fest angepreßt war. Zu den ersten Messungen be- diente ich mich einer Eisenplatte, die durch einen eingeschmolzenen Platinstift von unten gehalten wurde, doch traten hier leicht infolge ton Spannungen Risse an der Einschmelzstelle auf. Dieser Senkkörper hatte den Zweck, die Menisken in einfacher Weise zu erneuern und so stets für eine gründliche Benetzung der Kapillaren zu sorgen. Es befanden sich nämlich die Pole eines starken Elektro- magneten etwa 1 V2 cm über der Mitte des Eisenringes, die ihn während der Messung in Schwebe hielten. Wurde der Magnet ausgeschaltet, so fiel der Senkkörper herunter und drückte den Meniskus im weiteren Rohre und da- mit die Menisken in den Kapillaren in die Höhe. Darauf wurde der Magnet wieder eingeschaltet und, nach- dem sich Gleichgewicht eingestellt hatte, gemessen. Verfasser glaubt die merkwürdige Erscheinung beobachtet zu haben, daß der Stand der Menisken in den Kapillaren nach der Erneuerung zunächst um einige Hundertel mm ~j tiefer war und dann erst wieder auf — 1 den endgültigen Stand hinaufging. Die Entfernung des Senkkörpers von der Wandung des umschließenden Rohres durfte nicht zu weit sein, da sonst die magnetische Wirkung zu sehr ge- schwächt worden wäre, andererseits durfte sie aber auch nicht zu eng sein. !— v i— — e/T)- Beim Emporziehen des Senkkörpers Figur 3# bildete sich nämlich infolge der momen- tanen Auseinanderzerrung der Flüssig- keit eine Gasblase, die, Avenn genügend Raum zwischen Senkkörper und Wandung vorhanden war-, sofort entwich, bei ungenügendem Zwischenräume jedoch hängen blieb, und, weil ihr Volumen nicht konstant blieb, ein genaues Ablesen unmöglich machte. Je viskoser die Flüssigkeit war, desto größer mußte der Abstand genommen werden. Die Beschaffung von geeignetem Material für die Kapillaren bot Schwierigkeiten, da kein Kapillarmikroskop zur Verfügung stand. Es wurde versucht, von den ausgesuchten Kapillaren Dünnschliffe herzustellen II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 63 und sie mit dem Mikroskop auf die Rundheit des Lumens zu unter- suchen. Diese zeitraubende Arbeit erwies sich jedoch als wenig geeignet, und es wurden daher von Arno Haak, Jena, Kapillaren bezogen, die dort an beiden Enden auf ihre Durchmesser in zwei senkrechten Axen geprüft worden waren, die Abweichung dieser beiden Durchmesser von einander sollten 5/10 oo mm nicht überschreiten. Von diesem Material wurden nur solche ausgewählt, die beim Durchziehen eines Quecksilberfadens von 3—5 cm Länge keine merklichen Abweichungen in dem für die Messung in Betracht kommenden Bereiche zeigten, wobei eine Ablesegenauigkeit von i/10 mm angenommen wurde. Die Kapillaren wurden darauf mit sorgfältig gereinigten Quecksilber 4 — 6 mal ausgewogen, indem 4 4 — 6 cm lange Fäden in ihnen mehrmals genau gemessen, dann in einem Wäge- glase gewogen wurden. Unter Berücksichtigung der Temperatur ergab sich dann auf einfache Weise der Radius. Die Abweichungen der einzelnen Werte vom Mittel betrugen höchstens yi0000 mm. Die Kapillaren wurden in der von Ramsay und Shields1) angegebenen Weise mit Äther und Alkohol geöffnet und mit einem Fuße versehen; an diesem Fuße befanden sich unten bunte Glasperlen zur Unterscheidung. Um den Kapillaren in dem weiteren Gefäße einen festen Halt zu geben, befand sich je eine Gruppe von 3 Füßchen über und unter dem Meß- bereich, die bezüglich senkrecht übereinander standen. Über je einem dieser Füßchen befand sich eine ledernde Spirale aus Platiniridium (90: 10), die die anderen Füßchen gegen die Rohrwandung drückte und so ein Wackeln verhinderte. Die zweite Kapillare war an die erste mit 2 Platin- drähten genau parallel festgebunden, bei diesem Festbinden wurde ein Be- rühren der Kapillaren mit der Hand tunlichst vermieden; zum Anfassen des Platindrahtes diente eine Nickelpinzette. Nach jedesmaligem Gebrauche wurden Rohr, Kapillaren und Platin- drähte auf das sorgfältigste gereinigt, zunächst mit organischen Lösungs- mitteln, dann mit einer Auflösung von Kaliumbichromat in konzentrierter Schwefelsäure event. in der Hitze längere Zeit stehen gelassen und mit Wasser nachgespült. Das Rohr und die Kapillaren wurden dann mit der Ostwaldschen Dämpfvorrichtung längere Zeit ausgedämpft und die Kapillaren durch Durchsaugen eines trockenen Luftstromes getrocknet. Die An- wendung von Alkohol und Äther wurde völlig vermieden. Die Kapillaren wurden nun aneinander befestigt und mit einem sauberen Glasstabe auf den Grund des weiteren Rohres gestoßen ; dann wurde noch einmal visiert, ob sie sich in ihrer gegenseitigen parallelen Stellung nicht verschoben hatten. War das nicht der Fall, dann wurde das zweite Rohr einige Zentimeter über der Ansatzstelle der Glasspirale verengt, und die zu untersuchende Substanz mit einem Kapillartrichter J) Ramsay und Shields a. a. 0. S. 448. 64 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. eingefüllt; darauf wurde es an der verjüngten Stelle zu einer Kapillare ausgezogen und mit einer Kapselpumpe1) evakuiert. Wurde die Flüssigkeit nicht unmittelbar nach einer Vakuumdestillation eingelüllt, so dauerte es einige Zeit, bis alle inzwischen gelöste Luft aus ihr entfernt war; Blasen- bildung trat besonders an der untergetauchten Platiniridiumspirale auf. Konnte angenommen werden, daß alle Luft aus dem Apparate verdrängt worden war, so wurde an der verjüngten Stelle mit der Gebläseflamme ab- geschmolzen. Leicht siedende Flüssigkeiten wurden auch an der Wasserstrahlpumpe abgeschmolzen, dabei wurde die Flüssigkeit vor dem Abschmelzen in leb- haftes Sieden gebracht; damit hierbei die herausdestillierende Flüssigkeit nicht durch Berührung mit dem Kautschukstopfen Verunreinigungen herunter- spülte, war das Rohr oberhalb der verjüngten Stelle spitzwinklig um- gebogen. Zeigten sich nach dem Abschmelzen in den Kapillaren noch Blasen, so ver- schwanden diese entweder bei leicht beweglichen Flüssigkeiten nach längerem Stehen von selbst oder ließen sich durch Neigen beseitigen, bei viskosen Flüssigkeiten hingegen war in diesem Falle ein Neufüllen des Rohres unerläßlich. Feste Substanzen füllten sich bedeutend schwerer in das Rohr ein, sie wurden zunächst geschmolzen, dann wurde das Rohr, ohne die Kapillaren hinunterzustoßen, evakuiert, um die gelöste Luft aus der Sub- stanz zu entfernen, und erst, nachdem das geschehen war, wurden die vor- gewärmten Kapillaren hinuntergestoßen. Es machte sich hier der Übel- stand geltend, daß die Substanzen nur sehr schwer im Vakuum entgasten und demzufolge oft in den Kapillaren nach dem Abschmelzen zur Ent- stehung von Blasen Veranlassung gaben. Ein Erstarren und Wieder- schmelzen der Substanzen im Rohr mußte stets vermieden werden, da sonst die Gefahr bestand, das umfassende Rohr und den unteren Teil der Kapillaren zu zersprengen. Aus diesen Gründen wurde schließlich auf die Untersuchung weiterer fester Substanzen verzichtet. Besser eignet sich hierfür wohl die Ellenbergersche2) Anordnung des Kapillargefäßes. Der Thermostat Da das vollständige Versenken des Rohres in eine siedende Flüssig- keit Schwierigkeiten geboten hätte, wurden die Untersuchungen in einem Thermostaten ausgeführt. Die ursprüngliche Absict t, ein Dewarsches Gefäß oder ein Becherglas zu benützen, mußte wegen der Fehler, die 1) Zum Schutze der Pumpe befand sich ein mit Holzkohle gefülltes Rohr zvvischengeschaltet, das mit einer Kältemischung, meist Äther und fester Kohl- n- säure, gekühlt wurde. 2) Ellenberger, Allg. Chem. Ztg. 51. Auch Flade a. a. 0. S. 37. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 65 durch eine Verzerrung der Glaswände auftreten konnten, aufgegeben werden. Der verwandte Thermostat (Fig. 4) bestand aus einem Kasten aus Kupferblech von 16X25 cm Grundfläche und 25 cm Höhe. Um infolge der verschiedenen Ausdehnung von Glas und Metall ein Springen der Fenster zu vermeiden, wurden diese nicht fest eingekittet, sondern auf- gepreßt Das geschah in folgender Weise: Auf der vorderen und hinteren Seite des Kastens befand sich je eine starke Messingplatte mit 2 Aus- schnitten, auf die die Fenster aufgelegt und durch kleine Winkelchen auf- gedrückt wurden. Zwischen den Scheiben und der Messingplatte befanden sich Rahmen aus Asbest, der mit Syndetikon getränkt war. Diese Dichtung bewährte sich bis zu Temperaturen von etwa 130 0 gut, dann bildeten sich im Syndetikon Risse, die ein geringes Durchsickern der Heiz- flüssigkeit (Paraffmum liquidum) zuließen, das aber weiter nicht störte. 1912. 5 66 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Zwischen den Scheiben und den Winkeln befand sich ebenfalls Asbest- papier. Die vorderen Scheiben waren planparallel. Die Scheiben hielten auf diese Weise Temperaturen bis etwa 160° gut aus, doch mußte genau darauf geachtet werden, daß sie gleichmäßig aufgedrückt wurden. Das geschah, indem man das Fensterkreuz sich auf der Scheibe spiegeln ließ, und so eine etwaige Verzerrung feststellte. Während aller Versuche sprang nur eine Scheibe. Es wurden auch an Stelle des Syndetikons andere Dichtungsmittel versucht, die sich jedoch meist wegen ihrer Löslichkeit in dem Paraffin nicht bewährten. Zum Schutze gegen Zugluft war der Thermostat mit einem Holz- mantel umgeben, gegen den er durch Holzkeile gestützt war. An diesem Holzmantel befanden sich auch die Halter für die Heizkörper und den Motor und Klemmen für den Heizstrom. Der Holzkasten trug unten einen Blecheinsatz mit einem Ausfluß, so daß das durchsickernde Paraffin auf- gefangen werden konnte, er ruhte auf Klötzen in einer Blechwanne, die das heraustretende Öl im Falle des Platzens einer Scheibe auffangen sollte. Das Ganze stand auf einem Gaußschen Stative. Die Heizung. In dem Thermostaten befanden sich an beiden Seitenwandungen 2 elektrische Heizkörper aus 0,45 mm starken Manganindraht, der über ein viereckiges Glasgestell gewickelt war, das gegen eine Berührung mit den Kupferwänden durch Glasknöpfe geschützt war. Die Heizkörper hatten je einen Widerstand von 0,45 Q und waren parallel geschaltet, ebenso war der Draht auf jedem Heizkörper selbst mehrmals parallel ge- schaltet. Zum Heizen diente der Strom einer Batterie von 16 Volt Spannung und großer Kapazität, die höchst verwandte Stromstärke betrug 45 Ampere. Selbstverständlich riefen auch die Ströme in den Windungen der Magneten eine Erwärmung des Bades hervor, so daß die Temperatur, wenn sie nur allein eingeschaltet waren, auf etwa 38° stieg. Als Badflüssigkeit wurde ausschließlich, wie schon erwähnt, Paraffinum liquidum angewandt, das bis etwa 1 20 0 ein angenehmes Arbeiten gestattete. Darüber hinaus machten sich freilich die Dunkelfärbung und die auf- tretenden Dämpfe oft recht übel bemerkbar. Sehr sorgfältig mußte vor allem auf das Vermeiden eines Lichtbogens innerhalb der Heizkörper ge- achtet werden, da sonst das Öl sehr schnell dunkelte. Rührung' und Temperaturmessung. Die Rührung geschah durch einen kräftigen Turbinenrührer, der die Flüssigkeit von oben nach unten saugte und mit einem kleinen Stark- strommotor durch eine biegsame Welle verbunden war. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 67 Die Temperaturbestimmung geschah durch kleine Anschützthermometer, die vollständig in die Flüssigkeit versenkt wurden. Sie waren in einem Becherglasthermostaten mit von der physikalisch-technischen Reichsanstalt geprüften Normalthermometern verglichen worden. Aufhängung des Kapillarapparates. In diesem Thermostaten hing das Rohr nun in folgender Weise: Zunächst wurde an dem oberen Ende des Rohres ein Papierstreifen mit ein wenig Syndetikon festgeklebt und das Rohr dann in die Messing- tülle (T) hineingeschoben. Über der Tülle befand sich ein kleiner Zylinder aus Pockholz (P), der sich als unbedingt notwendig erwiesen hatte, da sonst infolge der guten Wärmeleitung der Metallteile eine Temperaturdifferenz zwischen dem oberen und unteren Teile des Rohres erfolgte, die ein Kondensieren des Dampfes am Ende der Kapillaren veranlaßte. Über dem Pockholz befand sich ein Kugelgelenk (K), das an einem Messingbalken (B) befestigt war. Beide waren durch eine wärmeisolierende Schicht von Speckstein (Sp) getrennt. Auf der anderen Seite des Messingbalkens befand sich ein gleicher Apparat, so daß immer zwei Beobachtungen neben einander gemacht werden konnten. Da es unmöglich war, die Kapillaren innerhalb des Thermostaten senkrecht einzustellen, so bediente ich mich folgender Vorrichtung: Der Messingbalken (B) und ein ähnlicher Balken für den Magneten befanden sich auf einem horizontalen Messingstabe, der durch einen verstellbaren Schlitten an einem senkrechten dreikantigen Messingrohre befestigt war. An der anderen Seite des Schlittens befand sich ein Gegengewicht. Dieses Dreikantrohr war durch einen zweiten Schlitten an einem wagerechten dreikantigen Messingrohre, das in die Wand eingelassen war, befestigt, Die Senkrechtstellung geschah außerhalb des Bades durch zwei Lote, dann wurde die herausgezogene Apparatur, ohne daß eine Verschiebung zu befürchten war, in das Bad gesenkt. Die Vorrichtung hatte den Vorteil, daß die Meßröhren von den Erschütterungen von Motor und Rührer frei blieben. Beleuchtung und Ablesung. Die Beleuchtung der Meßröhren geschah von hinten durch eine Metall- fadenlampe. Ihr Licht ging zunächst durch eine Wasserküvette, die die Wärmestrahlen absorbieren sollte, dann durch einen geölten Papierschirm. Zur Ablesung diente ein Kathetometer der Societe Genevoise, das 1/50 mm genau abzulesen gestattete. Um das Kathetometer gegen eine etwaige Erwärmung durch das Bad zu schützen, war zwischen beiden eine hölzerne Wand aufgestellt, die einen Ausschnitt zur Beobachtung hatte. (Siehe Abb. 5.) 5* i 68 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 69 Dichtehestiniinungeii. Die Dichten eines Teiles der untersuchten Stoffe waren noch nicht für alle Temperaturen bekannt. Ihre Bestimmung geschah in einem uförmigen Dilatometer1), das an dem einen Schenkel einen weiteren zylindrischen Teil trug, während der übrige Apparat aus einer 1,6 mm weiten Kapillare bestand. Oberhalb des erweiterten Teiles waren beide Kapillaren gleichmäßig mit einer 13 cm langen Teilung versehen. Ein Ablesefehler von */4 mm entsprach bei einer Dichte von 1 noch nicht einem Fehler von 1 in der dritten Dezimalstelle. Da die Ablesegenauigkeit jedoch größer war, ist die dritte Stelle noch als genau zu betrachten. Das Volumen des Apparates wurde von cm zu cm durch Auswägen mit gereinigtem Quecksilber festgestellt. Um immer eine stets gleiche Tempe- ratur zu haben, wurden die Messungen im Nullgradthermostaten vor- genommen. Aus den gefundenen 12 Werten wurden die anderen intrapoliert und das Volumen für die jeweilige Temperatur umgerechnet. Das Volumen betrug ca. 2 cm3. Das Dilatometer hing zur Messung in einem Thermo- staten, der aus 2 ineinandergehängten Bechergläsern bestand und durch einen elektrischen Heizkörper in der üblichen Form2) geheizt wurde. Das mit der zu messenden Flüssigkeit gefüllte Rohr wurde nach der Messung noch einmal gewogen, um einen etwaigen Verlust an Substanz zu kon- statieren, das war jedoch nie der Fall; nur Cyclopentadiem mußte im ab- geschmolzenen Bohre gemessen werden. Die Dichten wurden im Abstande von 10 — 20° bestimmt. Die Messung der kapillaren Größen. Die Messungen der kapillaren Größen geschahen in der Weise, daß bei einer Temperatur immer etwa 7, zuletzt 10 mal die Steighöhe in beiden Kapillaren gemessen wurde. Jeder Meniskus wurde bei der ein- zelnen Messung etwa dreimal abgelesen, um einen Irrtum zu vermeiden, und stets auf die genaue Stellung des Fernrohres geachtet. Die Über- einstimmung der einzelnen Werte war verschieden, sie war bei weniger viskosen Flüssigkeiten im allgemeinen besser, die Abweichungen der ein- zelnen Messungen vom Mittel betrugen etwa 4/100 mm im Durchschnitt. Diese so erhaltenen Steighöhen bedurften noch zweier Korrektionen, so daß sich die wirkliche Steighöhe als hkorr = hbeob. -j- h' -f- h" ergab3), h' war die Korrektion, die eingeführt werden mußte, weil das weitere Rohr nicht frei von Kapillarität war, sie betrug je nach der Größe der spezif. Kohäsion 4/100 bis 1[iQ0 mm, die zweite ist = r'3, wenn r der Radius der Kapillare ist. Zwischen den Werten der spez. Kohäsionen in beiden 0 Siehe Pick. Ztschr. f. phys, Chem. 77, 583. 2) Siehe Pick a. a. 0. S. 583. 3) Waiden. Lit. Verz. 23. 70 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Kapillaren ergaben sich konstante Abweichungen, die sich dadurch erklären lassen, daß die Lumina der verwandten Kapillaren noch Abweichungen von der Kreisform zeigten. Diese Abweichungen fallen bei engen Kapillaren stärker ins Gewicht als bei weiten, weil ja die Meßgenauigkeit immer die gleiche bleibt. Aus diesem Grunde ist auch die Verwendung noch engerer Kapillaren, die ja auch sonst größere Schwierigkeiten bieten, nicht emp- fehlenswert. Die Werte der weiten Kapillaren sind als relativ genau zu betrachten, da die Differenzen der beiden Durchmesser mit dem Kapillarmikroskop nicht mehr festgestellt werden konnten. Daher habe ich die Radien der engen Kapillaren aus den Steighöhen der weiteren Kapillaren nach der Gleichung r'2 = rj li1/h2 ausgerechnet, wenn rx und hx die Werte in der weiten Kapillare, r'2 und h2 die in der engen Kapillare bedeuten. Auf diese Weise erhalte ich mit einander vergleichbare Werte der spezif. Kohäsion. In dieser Korrektion liegt eine gewisse Willkürlichkeit, da die Werte der weiten Kapillare sicherlich noch etwas zu hoch sind, aber diese Ab- weichungen dürften die Versuchsfelder nicht überschreiten. Die Messungen wurden mit ganz wenigen Ausnahmen bei ansteigender Temperatur aus- geführt, indem das Bad zunächst wenige Grade über die gewünschte Temperatur erwärmt, dann die gewünschte Temperatur durch Abkühlen erreicht, und der ihr entsprechende Heizstrom eingestellt wurde. Merkwürdige Schwierigkeiten bot der Versuch, Formamid zu messen, da diese Substanz stets einen Beschlag an der äußeren Wandung der Kapillaren und der inneren Glaswandung bildete, der auch nach der Ent- fernung (durch Abkühlung des unteren Teiles des Rohres) immer wieder auftrat. Diese Erscheinung, die eine Messung unmöglich machte, konnte nicht erklärt werden. Alle anderen Rohre blieben vollständig klar, voraus- gesetzt, daß sie sich nicht zu nahe an der vorderen Wandung befanden und so eine Abkühlung erlitten. Die Ergebnisse der Messungen. Die verwendeten Kapillaren hatten bei 20° folgende Radien in cm: Kapillare 6 : r — 0,022025, Kapillare 8 : r = 0,022223, Kapillare 9 : r = 0,010632 F = 0,010629, Kapillare 10 :r = 0,010565 F = 0,010511, Kapillare 11 : r = 0,014776 r' = 0,014705. Die angeführten Größen sind in folgenden Maßen ausgedrückt: Die Temperatur (t) in Cels. -Graden, die spez. Kohäsion (a2 = r hkorr.) in cm2, die Oberflächenspannung (= 1/2 a2 g s) in dyn/cm, die molekulare Ober- 2/q flächenenergie (M. O. E.) = y \s) 3 m II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 71 Formylphenylessigsäureäthylester. CH • CH • COOC2H5 CH : C • COO C2H5 || | und | M= 192,1. 0 C6H5 OH C6H5 Das Präparat wurde vom Verfasser nach der Vorschrift von W. Wisli- cenus1) hergestellt, in die Kupferverbindung übergeführt, diese aus Alkohol umkristallisiert und zersetzt. Der so erhaltene Ester ist durch dreimalige Vakuumdestillation gereinigt. Das verwandte Produkt war zwischen 135° und 136° bei 19 mm übergegangen. Dichte nach Flade. 1. Kapillaren 8 und 10, Steighöhen. t h1 beob. h, korr. h2 beob. h2 korr. 37,3 2,957 2,968 6,256 6,263 49,6 2,862 2,873 6,064 6,071 68,9 2,735 2,745 5,7945 5,8005 78,3 (2,676) (2,686) 5,665 5,671 118,9 2,358 2,368 5,708 5,714. Spezif. Kohäsionen. t a 2 a, a2 2 a2 2 ai2— a2'2 37,3 0,06597 0,06618 0,06585 0,00012 49,6 0,06386 0,064155 0,06384 0,00002 68,9 0,06103 0,06130 0,06100 0,00003 78,3 (0,05972) 0,05994 0,05964 0,00008 118,9 0,05267 — — — . Oberflächenspannungen. t s Ti T2 37,3 1,103 35,69 35,81 49,6 1,090 34,15 34,31 68,9 1,069 31,93 32,15 78,3 1,060 31,07 31,17 118,9 1,019 27,12 — . Die molekulare Oberflächenenergie und ihr Temperaturkoeffizient. t M. O. E.j ki M. O. E2 k2 37,3 1113 3,25 1117 3,17 49,6 1073 2,90 1078 2,80 68,9 1017 1024 2,72 78,3 (994,5) 2,50 998,4 118,9 891,5 — . x) Wislicenus. Ann. 291, 164. 72 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Bei dieser Substanz fand Flade ein Maximum des Temperaturkoeffizienten zwischen 60 und 79°, während aus meinen Messungen eines zwischen 37° und 50° auftritt. Ob Unterschiede in der Reinheit der Präparate oder eine zu langsame Umwandlungsgeschwindigkeit die Differenzen be- dingen, läßt sich nicht entscheiden. Bei 119° trat eine Störung in der engen Kapillare, bei 78° eine in der weiten ein. Sieht man von dieser ab, so zeigt sich ein Abfallen des Temperaturkoeffizienten, der seinen normalen Wert im untersuchten Gebiet noch nicht erreicht, was mit den Fladeschen Messungen im Einklänge steht. Die Substanz gehört zu denen, bei welchen Flade eine Abhängigkeit der Oberflächenspannung vom Röhrenradius an der Stelle, wo k ein Maximum aufweist, vermutet hatte. Da die von Flade benutzten Kapillaren sich in ihren Radien wie 3 : 4, meine dagegen wie 1 : 2 verhalten, hätte diese Ab- weichung sich stärker bemerkbar machen müssen, was jedoch nicht der Fall ist. Azetylazeton. CH3 • CO • CH2 • CO • CH3 und CH3 • C : CH • CO • CH3 • OH M = 100,1. Kahlbaumpräparat, noch 3 mal im Ladenburgschen Kolben fraktioniert, die verwandte Menge war zwischen 137,4 und 137,8 bei Atmosphärendruck übergegangen. Dichten nach Schenck und Ellenberger. 1. Messung. Kapillaren 10 und 11. Steighöhen. t h3 beob. h, korr. h2 beob. h2 korr. 40,5 4,152 4,160 5,813 5,823 70,0 3,829 3,837 5,3585 5,3685 80,6 3,7085 3,7165 5,202 5,211 100,9 3,492 3,499 4,896 4,905 Spezifische Kohäsionen t ai2 ai'2 a 2 d2 a '2 a2 t o r 2 — a2 40,5 0,061486 0,06118 0,06153 0,06108 0,00010 70,0 0,056725 0,05645 0,05664 0,05623 0,00022 80,6 0,054875 0,054605 0,05508 0,05468 —0,00008 100,9 0,051735 0,05148 0,05186 0,05148 0,00000 Oberflächenspannungen. t s Ti Y2 40,5 0,959 28,93 28,95 70,0 0,930 25,88 25,89 80,6 0,920 24,86 24,86 100,9 0,899 22,82 22,87 73 II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. Die molekulare Oberflächenenergie und ihr Temperaturkoeffizient. t M. O. E.x kt M. O. E.2 k2 40,5 640,7 1,87 641,1 1,88 70,0 585,5 1,81 585,7 1,81 80,6 566,5 1,89 566,7 1,86 100,9 528,1 2. Messung. 528,9 Kapillaren 9 und 6. Steighöhen. t hx beob. hx korr. h2 beob. h2 korr 40,0 2,755 2,765 5,738 5,744 59,3 2,619 2,629 5,456 5,462 84,2 2,436 2,446 5,072 5,078 125,4 2,144 2,153 4,486 4,473 145,6 1,987 1,996 4,143 4,148 Spezifische Kohäsionen. i V a 2 “2 a2'2 a, 2— a2 40,0 0,06091 0,06128 0,05966 0,00025 59,3 0,05792 0,05825 0,05806 0,00026 84,2 0,05390 0,05417 0,05399 — 0,00009 125,4 0,04746 0,04773 0,04757 — 0,00011 145,6 0,04401 0,04427 0,04413 Oberflächenspannungen. — 0,00012 t s Ti Y2 40,0 0,959 28,65 28,82 59,3 0,940 26,71 26,86 84,2 0,916 24,22 24,34 125,4 0,873 20,28 20,44 145,6 0,851 18,37 18,48 Die molekulare Oberflächenenergie und ihr Temperaturkoeffizient. t M. O. E.t kt M. O. E.2 k2 40,0 635,2 1,82 638,9 1,83 59,3 600,1 603,5 1,87 1,89 84,2 553,7 1,83 556,3 1,79 125,4 478,6 1,84 482,4 1,84 145,7 441,0 443,7 74 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Schenck und Ellenberger hatten bei dieser Substanz ein Minimum des Temperaturkoeffizienten zwischen 60 und 80° gefunden, ebenso konnte Flade dieses Resultat bestätigen, jedoch fand sich das Mischungsgebiet sehr groß und erstreckte sich über das ganze Beobachtungsgebiet. Aus den vorliegenden Messungen ergibt sich ein Minimum zwischen 80 und 90, bezw. zwischen 84 und 125°. Worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind, ist ohne weiteres nicht zu entscheiden, ein zu langsames Einstellen des Gleichgewichtes würde gerade das umgekehrte Ergebnis erwarten lassen, da in dem Paraffinbade die Substanz sicher längere Zeit in der Wärme gestanden hatte als bei der Verwendung von Siedeflüssigkeiten bei den genannten Forschern. Die Werte der 2. Messung über 125° sind nicht mehr einwandsfrei, da sich die Substanz gelblich gefärbt hatte. Auch bei diesem Stoffe hatte Flade eine Abweichung zwischen den Ergebnissen in beiden Kapillaren bei dem Minimum des k-Wertes gefunden und daher eine Abhängigkeit der Oberflächenspannung vom Röhrenradius vermutet. Methylazetylazeton. CH3 • CO • CH • CO • CH3 | und CHS M = 115.1 CH3 • C : C • CO . CH3 I I OH CH3 Kahlbaumpräparat. Wurde noch 2 mal unter vermindertem Druck frak- tioniert, die verwandte Fraktion war bei 13 mm zwischen 61 und 62° übergegangen. Dichte selbst bestimmt. Steighöhen. t hj beob. h, korr. h2 beob. h2 korr. 36,3 2,937 2,948 — — 65,8 2,727 2,737 5,796 5,802 75,7 2,655 2,665 5,632 5,638 98,1 2,486 2,495 5,277 5,283 120,7 2,313 2,321 4,912 4,917 Spezifische Kohäsionen. t V a2 2 a2'2 a,2 — a2'2 36,3 0,06552 — — — 65,8 0,06084 0,06131 0,06101 — 0,00017 75,7 0,05921 0,05959 0,05929 — 0,00008 98,1 0,05548 0,05584 0,05556 — 0,00008 120,7 0,05162 0,05194 0,05171 — 0,00008 II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 75 Oberflächenspannungen. s 36,3 0,964 30,97 — 65,8 0,9345 27,93 28,10 75,7 0,925 26,89 27,04 98,1 0,903 24,57 24,74 120,7 0,8815 22,33 22,48 molekulare Oberflächenenergie und ihr Temperaturkoeffizient. t M. O. E.x kx M. O. E.a ^2 36,3 755,6 (2,03) 65,8 695,6 699,7 2,18 2,15 75,7 674,0 677,9 2,14 2,13 98,1 626,0 . 630,2 2,13 2,13 120,7 577,9 582,0 Sieht man von dem zu niedrigen Werte zwischen 36 und 66° ab, wo wohl ein Versuchsfelder vorliegt, so zeigt sich ein sehr schwaches Abfallen des Temperaturkoeffizienten, aus dem man vielleicht schließen könnte, daß das Maximum der Umwandlung zwischen 66 und 76° liegt. Vergleicht man die kapillaren Werte dieses Stoffes mit denen des Azetyl- azetons, so findet man eine Vergrößerung der Werte der Oberflächen- spannung, der molekularen Oberflächenenergie und ihres Temperatur- koeffizienten. Azetaldoxim. CH3 • CH CH3 • CH und NOH HON M = 59,08. Kahlbaumpräparat. Die verwandte Fraktion war zwischen 113° und 114° übergegangen. Dichten nach Flade. ' Kapillaren 8 und 10. Steighöhen. t hj beob. hj korr. h2 beob. h2 kori 40,3 2,801 2,811 — — 63,6 2,622 2,632 5,568 5,574 84,2 2,451 2,460 5,208 5,213 112,3 2,213 2,222 4,701 4,706 145,2 1,912 1,920 4,065 4,069 76 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Spezifische Kohäsionen t % 2 a 2 a2 a2 2 a) a2 40,3 0,06248 — — — 63.6 0,05851 0,05891 0,05862 — 0,00011 84,2 0,05470 0,05505 0,05482 — 0,00012 112,3 0,04942 0,04976 0,04949 — 0,00007 145,2 0,04271 0,04304 0,04279 — 0,00008 Oberflächenspannungen. t s Ti y2 40,3 0.946 29,00 — 63,6 0,923 26,49 26.67 84,2 0,900 24,15 24,31 112,3 0,868 21,04 21,19 145,2 0,830 17,39 17,52 Die molekulare Oberflächenenergie und ihr Temperaturkoeffizient. t M. O. E.! kx M. O. E.2 k2 40,3 456,4 — 1,43 63,6 423,9 426.8 1,51 1,53 84,2 392,9 395.4 1,49 1,50 112,3 350,8 353,2 1,63 1,59 145,2 298,7 301,0 Die kapillaren Größen dieser Substanz wurden zuerst von Dutoit und Fath1) gemessen. Die von Flade berechneten k- Werte sind: t 33,05 77.47 107,55 1,43 1,38 k 1.42 Flade fand bei seinen eigenen Messungen ein Maximum des Temperatur- koeffizienten zwischen 79 und 108°: t 12,3 35,4 60,2 79,4 107,8 135,7 151,7 169,3 k 1,47 1,51 1,40 1,70 1,58 1,47 1.46 und schloß daraus auf eine Umwandlung der einen Form in die andere. Die von mir gefundenen k-Werte weisen ein Maximum jedoch ebensowenig wie die von Dutoit und Fath auf; worauf diese Abweichungen beruhen, läßt sich nicht erklären. Die Substanz ist offenbar assoziiert. Die Asso- ziation geht nach meinen Messungen im Gegensatz zu denen der anderen Forscher mit steigender Temperatur zurück. x) Dutoit u. Fath, Journ. de Phys. 1,367. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 77 Methylazetessigsäuremethylester. CH3 . CO • CH . COO • CH3 | und CH3 M= 130,1 CH3 C : C • COO • CH3 I I OH CHS Das Kahlbaumpräparat wurde einer mehrfachen Destillation unter ver- mindertem Druck unterworfen, die verwandte Menge war bei 73 18 mm übergegangen. Dichten selbst bestimmt. Kapillaren 8 und 10. Steighöhen. t hj beob. hj korr. h2 beob. h2 korr. 36.0 2,764 2,774 5,843 5,849 67,5 2,532 2,542 5,367 5,373 97,1 2,304 2,313 4,879 4,884 119,5 2,134 2,143 4,518 4,523 139,7 1,976 1,985 4,190 4,194 151,4 1,883 1,891 3,997 4,001 Spezifische Kohäsionen. t ai 2 a2 2 a2'2 ai 2— a2'; 36,0 0,06166 0,06180 0,06150 0,00016 67,5 0,05651 0,05678 0,05650 0,00001 97,1 0,05144 0,05163 0,05138 0,00006 119,5 0,04766 0,04783 0,04759 0,00007 139,7 0,04416 0,04436 0,04414 0,00002 151,4 0,04207 0,04232 0,04202 0,00005 Oberflächenspannungen. t s T2 Ti 36,0 1,012 30,61 30,68 67,5 0,980 27,17 27,30 97,1 0,948 23,92 24,02 119,5 0,924 2 1 ,60 21,67 139,7 0,904 19,58 19,67 151,4 0,891 18,39 18.50 Die molekulare Oberflächenenergie und ihr Temperaturkoeffizient. t M. O. E.x kx M. O. E.2 k2 36,0 779,6 2,30 781,4 2,26 67,5 707,0 2-, 3 9 710,3 2,42 97,1 636,4 2,31 638,8 2,33 78 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 119,5 584,7 586,65 2,33 2,30 139,7 537,7 540,1 2,38 2,33 151,4 509,9 512,8 Die Temperaturkoeffizienten sind höher als die normalen, lassen jedoch keinerlei Gang erkennen. Demnach besteht der Ester in dem untersuchten Gebiet weit vorwiegend aus der einen Form, oder es sind zwar beide Formen vorhanden, die Umwandlung ist jedoch aus einem der auf S. 3. angeführten Gründe nicht zu erkennen. Da man bei Substanzen von diesem Typus nach anderen Messungen stets zu dem ersten Ergebnisse gelangt ist, dürfte auch vielleicht aus diesen Messungen eine Bestätigung dafür erhellen. Aethylazetessigsäureätliylester. CH3 • CO • CH • coo . c2 h5 c2 H5 und CH3 • COH : C • COO • C2 H5. C2H5. Die Substanz wurde nach der Vorschrift von W. Wislicenus vom Verf. hergestellt, zweimal unter gewöhnlichem und zweimal unter vermindertem Druck fraktioniert. Die verwandte Fraktion war zwischen 82 und 83° bei 12 mm übergegangen. Dichten selbst bestimmt. Kapillaren 9 und 6. Steighöhen. t hj beob. hx korr. h2 beob. h2 korr. 38,8 2,677 2,687 5,545 5,551 61,6 2,5 1 1 2,521 5,225 5,231 81,6 2,366 2,375 4,926 4,931 97,8 2,249 2,258 4,682 4,687 133,0 1,993 2,002 4,157 4,162 148,3 1,879 1 ,88 1 3,925 3,929. Spezif. Kohäsionen. t a2i ax2 a2 a2j — a22 38,8 0,05919 0,05920 0,05900 0,00019 61,6 0,05554 0,05579 0,05560 — 0,00006 81,6 0,052115 0,05260 0,05242 — 0,00031 97,8 0,04976 0,05000 0,04984 — 0,00012 133,0 0,04413 0,04442 0,04427 — 0,00014 148,3 0,04160 0,04194 0,04180 — 0,00020. ) Wislicenus, Ann. 186. S. 187. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion 79 Oberflächenspannungen. t s Ti T2 38,8 0,960 27,88 27,88 61,6 0,938 25,56 25,67 81,6 0,919 23,59 23,71 97,8 0,904 22,07 22,175 133,0 0,867 18,78 18,89 148,3 0,852 17,39 17,53. Die molekulare Oberflächenenergie und ihr Temperaturkoeflizient. t M. 0. E.., k. M. 0. E.2 k2 38,8 837,5 837,6 2,48 2,38 61,6 779,9 783,3 2,505 2,49 81,6 729,8 733,5 2,44 2,46 97,8 690,3 693,6 2,43 2,45 133,0 603,6 607,5 2,47 2,43 148,3 565,8 570,3. Ebensowenig wie bei dem von Schenk und Ellenberger sowie Flade ntersuchten Azetessigsäureäthylester zeigt das Aethylderivat irgend einen Gang in den Temperaturkoeffizienten, die allerdings höher als die normalen liegen. Allylazetessigsäureäthylester. CH3 • CO • CH • COO • C2 H5 C3 H5 und M = 170,11. CH3 • COH : C • COO • C2 H5 Cs H5- Der Ester wurde analog dem Aethylazetessigester vom Verf. dar- gestellt und durch viermalige Destillation beim gewöhnlichen und zweimalige bei vermindertem Druck gereinigt. Die verwandte Menge war zwischen 88° und 91,5° bei 10 mm übergegangen. Dichten selbst bestimmt. Kapillaren 6 und 9. Steighöhen. t hx beob. hx korr. h2 beob. h2 korr. 39,2 2,695 2,705 5,580 5,586 62,9 2,541 2,551 5,270 5,276 80,4 2,409 2,419 5,004 5,010 105,7 2,240 2,249 4,645 4,650 121,2 2,1255 2,1345 4,420 4,425 140,0 1,993 2,002 4,1455 4,1505. 80 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultui Spezif. Kohäsionen. t a2i a22 r 9 9 '9 a2 aT a2 2 39,2 0,05959 0,05957 0,05951 0,00008 62,9 0,05620 0,95627 0,05608 0,00012 80,4 0,053305 0,05344 0,05326 0,000045 105,7 0,04957 0,04961 0,04945 0,00012 121,2 0,04704 0,04722 0,04706 0,00002 140,0 0,04417 0,04430 0,04415 — 0,00002. Oberflächenspannungen. t s Ti Ta 39,2 0,970 28,35 28,34 62,9 0,948 26,13 26,10 80,4 0,931 24,34 24,41 105,7 0,906 22,04 22,05 121,2 0,892 20,58 20,65 140,0 0,873 18,90 18,07. Die molekulare Oberflächenenergie und ihr Temperaturkoeffizient. t M. O. E.x ki M. O. E.2 k2 39,2 888,4 2,47 888,1 2,48 62,9 829,7 2,67 828,9 2,44 80,4 783,9 2,43 785,9 2,475 105,7 722,5 2,63 723,2 2,475 121,2 681,9 2,48 684,9 2,52 140,0 635,3 637,6. Die Temperaturkoeffizienten der molekularen Oberflächenenergie zeigen hier eine geringere Übereinstimmung in den beiden Kapillaren als gewöhnlich, diese Differenzen scheinen auf ein teilweises Versagen der weiteren Kapillare zurückzuführen zu sein. Betrachtet man die Werte der engen Kapillare allein, so dürfte man auf ein schwaches Ansteigen und damit auf ein Abnehmen der vorwiegend vorhandenen Form schließen, jedoch ist die Zunahme so gering, daß dieser Schluß etwas gewagt erscheinen muß. Isoaoiylazetessigsäureäthylester. CHS . CO • CH • C„ H5 I C5 H1X und CH3 • COH : CH • C2 H5 M = 200,16 C, H1X. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 81 Kahlbaumpräparat. Wurde einer mehrfachen Destillation unter ver- mindertem Druck unterworfen. Dichten nach einer noch unveröffent- lichten Messung von A. Oelsner. Kapillaren 9 und 6. Steighöhe. t hj beob. hx korr. h2 beob. h2 kori 35,6 2,631 2,641 5,477 5,483 67,2 2,445 2,455 5,091 5,091 97,5 2,252 2,261 4,680 4,680 (119,3) 2,105 2,114 4,375 4,375 139,0 1,967 1,975 4,095 4,095 Spezif. Kohäsionen. t V a2 2 a/2 ax2 — a2'2 35,6 0,05818 0,05847 0,05827 — 0,00009 67,2 0,05409 0,05430 0,05412 0,00003 97,5 0,04983 0,04993 0,04976 0,00007 (119,3) 0,04660 0,04669 0,04653 0,00007 139,0 0,04354 0,04371 0,04356 — 0,00002 Oberflächenspannungen. t s Ti Y2 35,6 0,931 26,57 26,70 67,2 0,903 23,96 24,05 97,5 0,8765 21,42 21,47 (119,3) 0,857 19,59 19,62 139,0 0,840 17,945 18,01 Die molekulare Oberflächenenergie und ihr Temperaturkoeffizient. t M.O.Ej ki M.O.E.2 k2 35,6 953,5 958,4 2,34 2,41 67,2 879,0 882,3 2,59 2,65 97,5 800,5 802,1 119,3 766,2 2,67 767,6 2,65 139,0 689,6 692,2 Bei 119° liegt offenbar ein Irrtum in der Temperaturmessung vor. Die Temperaturkoeffizienten zeigen hier ein deutliches Ansteigen zu einem Maximum, das nicht überschritten wird. Leider hatte sich die Substanz bei 139° schon etwas gefärbt, daß von einer Messung bei höherer Temperatur abgesehen werden mußte. Vergleichen wir die von Schenck und Ellenberger und Flade ge- fundenen kapillaren Werte des Azetessigesters mit den von mir bei seinen 1912. 6 82 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Derivaten gefundenen Werten, so erkennt man mit der Größenzunahme des Moleküles eine Zunahme der molekularen Oberflächenenergie und ihres Temperaturkoeffizienten. Eine Gesetzmäßigkeit auf die zuerst Ramsay und Aston1) hingewiesen haben. Sämtliche Substanzen scheinen vorwiegend aus der einen Form zu bestehen, erst beim Alylderivat machen sich Andeutungen beim Amylderivat sichere Kennzeichen einer zunehmenden Beimischung der anderen Form bemerkbar. Cyclopentadien und Dicyclopentadien. H H HC — CH HC — C — C — CH HC CH und HC C — C CH M = 66,05 (bezw. 112,10). \/ \/H H\/ ch2 ch2 ch2 Das Rohprodukt stammte von der Fabrik Rütgers Werke, Erkner bei Berlin, und war vor der Verwendung zweimal bei gewöhnlichem Druck und einmal im Vakuum fraktioniert worden. Der intensive, unangenehme Geruch ging dabei in einen mehr kampferartigen über. Beim Erhitzen der Substanz scheiden sich geringe Mengen eines braunroten Produktes an der Glaswandung ab, das gut gereinigte Präparat hält sich dagegen gut, Schmelzpunkt unscharf bei 32,5°. Dichten selbst bestimmt. Kapillaren 9 und 6. Steighöhen. t hj beob. hx korr. h2 beob. h2 korr. 40,4 2,979 2,990 6,184 6,191 60,7 2,8345 2,845 5,875 5,881 81,7 2,6655 2,6755 5,5335 5,5395 101,1 2,518 2,528 5,222 5,227 125,8 2,303 2,312 4,792 4,797 139,9 2,190 2,109 4,552 Spezif. Kohäsionen. 4,557 t V a22 a2 2 ai 2 — a2'2 40,4 0,06586 0,06602 0,06580 0,00006 60,7 0,06268 0,06272 0,06251 0,000017 81,7 0,05896 0,05896 0,05909 0,00013 101,1 0,05571 0,05577 0,05571 0,00000 125,8 0,050965 0,05119 0,05102 0,00004 139,9 0,04848 0,04864 0,04848 0,00000 D Ramsay und Aston, Ztschr. f. phys. Ch. 15, 89. (1894.) II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 83 Oberflächenspannungen. t s Ti Ta 40,4 0,968 31,27 31,35 60,7 0,946 29,09 29,11 81,7 0,934 27,01 27,07 101,1 0,916 25,04 25,06 125,8 0,894 22,36 22,45 139,9 0,874 20,78 20,85 Die molekulare Oberflächenenergie (bezogen auf Ciklopentadien) und der Temperaturkoeffizient. t M. O.E.j ki m.o.e.2 k2 40,4 522,2 1,43 523,5 1,48 60,7 493,2 1,49 493,5 1,45 101,1 430,4 1,49 430,8 1,44 81,7 461,9 1,63 463,0 1,66 125,8 393,55 1,51 395,3 1,51 139,9 371,5 372,7 Die Substanz wurde untersucht, weil auch polymere Flüssigkeiten genau wie desmotrope Abweichungen zeigen dürften, aber auch hier stimmen die in beiden Kapillaren gemessenen Werte innerhalb der Versuchs- fehler überein. Die Temperaturkoeffizienten zeigen an, daß die Flüssigkeit zum größten Teil aus Dicyclopentadien besteht, und daß sich das Gleichgewicht mit der Temperatur nur wenig verschiebt. Tristearin. ch2 • c18h35o2 CH C18H„02 ch2 c18h35o2 Das Kahlbaumpräparat wurde dreimal aus Benzol und Benzol-Ligroin- gemischen umkristallisiert und schmolz bei 71,1° unkorrigiert. Dichten nach Waiden1) Kapillaren 8 und 11. Steighöhen. t hx beob. hj korr. h2 beob. h2 korr. 65,1 3,050 3,061 4,562 4,571 74,7 2,998 3,009 4,493 4,502 102,0 2,868 2,878 4,291 4,299 133,2 — — 4,057 4,065 x) Waiden, s. Lit.-Verz. 17. 6* 84 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Spezif. Kohäsionen. t ax 2 a9 2 a '2 a2 ai 2 — a2 2 65,1 0,06744 0,06757 0,06724 0,00020 74,7 0,06630 0,06655 0,06623 0,00007 102,0 0,06321 0,06356 0,06325 — 0,00004 133,2 — 0,06012 0,059465 Oberflächenspannungen. t s Ti Y2 65,1 0,8718 28,84 28,90 74,7 0,8650 28,13 28,20 102,0 0,8486 26,40 26,46 133,2 0,8301 — 24,48 molekulare Oberflächenenergie und ihr Temperaturkoeffizient. t M.O.E.x k1 m.o.e.2 k2 65,1 2922 2927 5,41 5,32 74,7 2870 2876 5,03 5,12 102,0 2728 2733 5,35 133,2 — 2566 Das Tristearin war von Waiden1) untersucht worden, der hier abnorm hohe Werte des Temperaturkoeffizienten fand, die auf eine starke Dissoziation schließen lassen. Guye2) nimmt an, daß eine solche Dissoziation in der Oberfläche, die ja hier allein eine Rolle spielt, wohl denkbar ist. Tritt ein solcher Zerfall, der sich freilich mit den chemischen Begriffen nicht recht vereinbaren läßt, wirklich ein, so liegt der Gedanke nahe, daß die Bedingungen, unter denen die Oberfläche steht, hier eine Rolle spielen, und sich in den kapillaren Größen geltend machen. Leider bereiteten die Messungen der Substanz aus den auf S. 9 angeführten Gründen große Schwierigkeiten und die erhaltenen Werte machen keinen Anspruch auf sehr große Genauigkeit. Es ist jedoch klar ersichtlich, daß ein derartiger Einfluß nicht vorhanden ist, die Ergebnisse beider Kapillaren stimmen innerhalb der Fehler gut überein. Beim Tristearin und anderen Estern des Glyzerins war von mehreren Forschern3) die merkwürdige Erscheinung des doppelten Schmelzens be- obachtet worden. Um diese Erscheinung zu studieren, wurde die Substanz in einem Schmelzröhrchen und gleichzeitig in einem weiteren Rohr im 0 Waiden, s. Lit.-Verz. 17. 2) Guye, s. Lit.-Verz. 20. 3) S. Bartoli. Gaz. chim. it. 24, II, 16S. Scheij, Rec. trav. Pays-Bas 18, 169 und die dort angegebene Literatur. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 85 Wasserbade langsam erhitzt, sie schmolz bei 71°. Schnell abgekühlt, aber auch schon beim Erkalten an der Luft schmolz die Substanz schon wieder bei 55°, wurde dann fest und schmolz zum zweiten Male wieder bei 71°. Es handelt sich also ganz offenbar um zwei verschiedene Modifikationen, von denen die bei 71° schmelzende die stabile ist, in die sich die meta- stabile, bei 55° schmelzende, umwandelt. Es wurden nun beide Modifi- kationen unter dem Mikroskop untersucht. Hier bereitete die zur Her- stellung der metastabilen notwendige Unterkühlung Schwierigkeiten, und diese Modifikation wurde erst erhalten, als das Tristearin auf einem Objekt- träger von der Dicke eines Deckglases geschmolzen und dieser dann auf eine blanke Quecksilberoberfläche geworden wurde. Beide Modifikationen kristallisieren in sternförmigen Aggregaten und konnten durch die Kristall- form auch im polarisierten Licht nicht unterschieden werden. Identifiziert wurden sie, indem sie zwischen Objektträger und Deckglas im Wasserbade geschmolzen wurden1). Überblicken wir die Gesamtheit der Ergebnisse, so finden wir, daß die Abhängigkeit der Oberflächenspannung vom Kapillarradius in keinem Falle gezeigt werden konnte. Die Vermutungen Flades, daß die von ihm gefundenen Abweichungen auf den auseinandergesetzten Gründen beruhen, haben sich als irrtümlich herausgestellt, da sie bei der vorliegenden Ver- suchsanordnung stärker hätten hervortreten müssen. Die spezifischen Kohäsionen zeigen Abweichungen bis 0,5 °/0. Die Differenzen zwischen den in der weiteren Kapillare gemessenen spezifischen Kohäsionen mit den in der engeren Kapillare gemessenen werden mit steigender Temperatur meist kleiner. Eine Erklärung dafür dürfte vielleicht darin liegen, daß die Kalibrierung der Kapillaren noch zu ungenau ist und daher ein schwach kegelförmiges Lumen, wie es ja durch die Herstellung der Kapillaren ver- ursacht wird, besonders bei weiteren Kapillaren störend in Erscheinung tritt. Über das Protopin. Von Herrn Dr. P. Dankworth. *) Nach Abschluß der Arbeit gelangte dem Verfasser zur Kenntnis, daß die Erscheinungen des doppelten Schmelzens bei einer Anzahl von Glyzerinestern schon von Böhmer (Zeitschr. f. Nahrungsmittelch. XIV, 97 [1907]) erklärt worden war. 86 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Betrachtungen über photochemische Gleichgewichte und ihre Beziehung zu den Dunkeigleichgewichten. Von Rudolf Schenck. (Vorläufige Mitteilung.) In der großen Zahl photo chemischer Vorgänge muß man zwei ver- schiedene Gruppen unterscheiden, solche, in denen das Licht einen auch im Dunklen von selbst verlaufenden Vorgang lediglich beschleunigt und solche, bei denen die Strahlungsenergie Arbeit gegen die chemischen Kräfte leistet. Die chemischen Veränderungen, welche im letzteren Falle durch das Licht bewirkt werden, gehen im Dunklen vollständig, bei der Verminderung der Strahlungsintensität teilweise wieder zurück. Derartige Lichtreaktionen sind in den letzten Jahren des öfteren untersucht worden. Ich nenne hier die Untersuchungen Regeners1) über die Bildung des Ozons im ultravioletten Licht, die Beobachtungen Luthers2) über das System Anthracen ^ Dianthracen und die interessanten Arbeiten Coehns3) über die photochemische Spaltung des Salzsäuregases und des Wasser- dampfes in seine Elemente sowie die Zerlegung des Schwefeltrioxydes in Schwefeldioxyd und Sauerstoff. Über die Gleichgewichtsverhältnisse des letztgenannten Systemes im Dunklen ist man durch sorgfältige Messungen einer ganzen Reihe von Forschern4) vorzüglich orientiert, man kennt die Gleichgewichtskonstanten in ihrer Abhängigkeit von der Temperatur genau und ist auf Grund dieser Kenntnisse auch in der Lage, die Gleichgewichtskonstanten für die tieferen Temperaturgebiete, in denen die Einstellung von Gleich- gewichten durch die geringe Reaktionsgeschwindigkeit erschwert und ihre Messung durch die weitgehende Verschiebung nach einer Seite analytisch unmöglich gemacht wird, rechnerisch zu ermitteln. Die Berechnung er- gibt, daß in der Umgebung der Zimmertemperatur das Gleichgewicht praktisch vollständig zugunsten des Schwefeltrioxydes verschoben ist, das Trioxyd ist hier praktisch undissoziiert. 1) E. Regener, Ann. d. Pliys. [4] 20, 1033 (1904). 2) R. Luther und F. Weigert; Sitzungsber. der Kgl. Preuß. Akad. der Wissen- schaften 25. 828 (1904). 3) A. Coehn, Nachrichten der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen 1907; Ber. d. D. Chem. Ges. 43. 880; 130; 42, 3183; Jahrb. der Radioact 7. 577—639 (1910). 4) M. Bodenstein u. W. Pohl, Z. f. Elektrochem. 11, 373 (1905). II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 87 Bei der Bestrahlung mit ultraviolettem Licht aber wird es weitgehend gespalten und zwar bis ein neuer von der Intensität des Lichtes, nicht aber von der Temperatur der Umgebung abhängiger Gleichgewichtszustand erreicht ist. Um unsere Betrachtungen ganz allgemein zu halten, denken wir uns eine umkehrbare Reaktion zwischen den gasförmigen Stoffen A, B und D, welche Elemente oder Verbindungen sein können. Das Gleichgewicht des Reaktionssystemes A + B^D bei einer konstanten Temperatur der Umgebung im Dunklen sei charakterisiert durch die Beziehung ca • Cb 1) Ivd = cd (Konstante des Dunkelgleichgewichts). Das photochemische Gleichgewicht in einem mit Strahlung von der Wellenlänge X erfüllten Raum sei bestimmt durch 2 1 k = c a c i, ^onstante ^gg Lichtgleichgewichtes), wobei k ’ A cD 7 von der Intensität abhängt. Nun ist es ohne Zweifel experimentell durchführbar, in ein und dem- selben Gefäße den durchstrahlten Raum an den Dunkelraum angrenzen zu lassen; man hat ja nur nötig, einen monochromatischen Lichtstrahl der Wellenlänge X, durch den Gefäßraum zu senden. In dem durchstrahlten Teil des Raumes wird sich Lichtgleichgewicht, in den angrenzenden dunklen Teilen Dunkelgleichgewicht einstellen. Die Temperatur sei dabei in allen Teilen konstant gehalten gedacht. Ehe die Gleichgewichte er- reicht sind, werden sich natürlich Diffusionsvorgänge zwischen durch- strahltem und Dunkelraum vollziehen, welche zur Ruhe gelangen, wenn die den Gleichgewichten entsprechenden Konzentrationen der Stoffe A, B und D sich eingestellt haben. Alsdann besteht auch Gleichgewicht zwischen den beiden Räumen. Die Verhältnisse liegen ganz ähnlich wie bei Gleichgewichten des- selben Reaktionssystemes in zwei aneinander grenzenden Lösungsmitteln. Der durchstrahlte Raum läßt sich gegenüber dem Dunkelraum als ein be- sonderes Medium, als eine besondere Phase1) behandeln. In unserem System erhalten wir also zwei aneinander grenzende Phasen, die Licht- phase und die Dunkelphase. Die Konzentrationen der einzelnen an der Reaktion beteiligten Molekülarten müssen, da das Gleichgewicht ein all- seitiges ist, in einem Verteilungsgleichgewicht zu einander stehen, es be- steht im einfachsten Falle ein dem Henryschen Gesetz analoges Verteilungs- gesetz. i) Baucroft 1906. 88 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Wenn wir mit ca"? Cb , Cd die Konzentrationen der Stoffe A, B, D in der Dunkelphase, mit c'a, c'b, c'd in der Lichtphase, mit a, ß, 5 die Verteilungskoeffizienten bezeichnen, so ist 3) cA = a • c'A Cb = ß * C B cd = o • c'd . Durch Einführung dieser Beziehungen in die Gleichung 1) erhalten wir k a • c a • ß • c'b _ a • ß k d ~ 5 • c'd ~ o ~ X 4) k d k X a • ß d. h. das Verhältnis des Dunkelgleichgewichtes zu dem Lichtgleichgewicht hängt nur ab von den Verteilungskoeffizienten a, ß und 6. Diese Größen sind Funktionen der Lichtintensität, so daß zwischen verschieden stark beleuchteten Teilen des Raumes ganz ähnliche Beziehungen wie zwischen Dunkelraum und bestrahltem Raum bestehen, welche wir ganz allgemein schreiben wollen. ß' Wie wir aus der Verteilung der Stoffe zwischen zwei verschiedenen Lösungsmitteln wissen, sind die Verteilungsgleichgewichte, so lange es sich um verdünnte Lösungen handelt, für jede einzelne Molekülart un- abhängig von der Anwesenheit anderer Molekülarten. Wir machen jetzt die Annahme, daß das Gleiche der Fall ist bei den einzelnen Molekülarten, welche bei photochemischen Gleichgewichten beteiligt sind. Dann gilt auch bei Abwesenheit etwa von B und D für die Verteilung des Stoffes A zwischen der Dunkelphase und der Licht- phase die Konzentrationsbeziehung Ca — sc • c a bei der Abwesenheit von A und D, bezw. A und B cB = ß • c'B und cd = o • c'd . Sind z. B. A oder B Stoffe, auf welche das Licht, wenn sie allein vor- handen sind, eine chemische Wirkung nicht ausüben kann, so werden, falls der gemachte Analogieschluß Berechtigung besitzt, beim Belichten Konzentrations- bezw. Druckänderungen sich vollziehen. Das Licht würde also unter b estimmten Verhältnissen anstatt chemischer mechanische Arbeit zu leisten imstande sein. Beobachtungen über solche Effekte liegen bisher noch nicht vor1), sie würden völlig neu sein und würden wegen ihrer nahen Beziehungen zu den photochemischen Erscheinungen eine sehr erhebliche Bedeutung be- sitzen. Es ist daher notwendig, die wichtige Konsequenz unserer Gleich- D Es Hegt aber nahe, Beziehungen zu dem Lichtdrucke anzunehmen. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 89 gewichtsbetrachtungen experimentell zu prüfen. Eine Reihe von Wegen, welche zum Ziele führen können, ist denkbar und wir gedenken sie zu beschreiten. Sie an dieser Stelle schon zu diskutieren, erscheint uns aber unnötig. Es erscheint also möglich, die photochemischen Veränderungen eines chemischen Systems herzuleiten aus den mechanischen Einflüssen, welche das Licht auf die einzelnen Molekülarten des Systems äußert. Die Messung der Verteilungskoeffizienten zwischen Licht- und Dunkelraum für die Einzelstoffe wird den Schlüssel zu dem Verständnis des photochemischen Verhaltens chemischer Reaktionssysteme liefern. Freilich würde es verkehrt sein, einen meßbaren Effekt bei jeder Melekülart und bei jeder Strahlungsart zu erwarten. Die Beeinflussung eines Stoffes durch Licht von einer gegebenen Wellenlänge X wird nur unter ganz bestimmten Bedingungen eintreten können und mit diesen wollen wir uns jetzt beschäftigen. Zunächst erscheint es erforderlich, den Begriff des Dunkelgleich- gewichtes etwas näher zu bestimmen. Wir wollen darunter das für eine gegebene Temperatur T bestehende thermodynamische Gleichgewicht ver- stehen, wie es sich im Innern eines schwarzen Körpers von der Temperatur T einstellen würde. Dort besteht thermodynamisches Gleichgewicht zwischen den chemischen Vorgängen und den Strahlungsvorgängen. Die Strahlung von der Wellenlänge X hat in ihm eine ganz bestimmte Intensität J^0 . Lassen wir nun durch eine kleine Öffnung einen Strahl der Wellen- länge X von der höheren Intensität J in den Raum des schwarzen Körpers A einfallen, so tritt in der Bahn des Strahles eine Verschiebung des chemischen Gleichgewichtes ein, unter Umständen würde daneben eine Verschiebung des Strahlungsgleichgewichtes nach der Seite der höheren Temperatur erfolgen. Durch einen geeigneten Thermoregulator aber sind wir imstande, die Temperatur T in dem Raume aufrecht zu erhalten, und diesen Spezialfall wollen wir annehmen. Dann handelt es sich um das Problem, die Bedingungen und den Sinn der isothermen Gleichgewichtsverschiebung durch Erhöhung der Strahlungsintensität vom Betrag J0 auf den Betrag J festzustellen, welches wir zurückführen auf das Problem der Verschiebung des Verteilungs- koeffizienten der an der Reaktion beteiligten Molekülarten. Wie hängen die Koeffizienten a, ß, y von der Lichtintensität ab? Da nur solche chemische Systeme lichtempfindlich sind, welche Licht von der Wellenlänge X zu absorbieren vermögen, so ist ohne weiteres die Annahme berechtigt, daß man Konzentrationsverschiebungen in einem durchstrahlten Raume nur bei denjenigen Molekülarten erwarten darf, welche Licht von der Wellenlänge X absorbieren; die nicht absorbierenden Molekülarten werden durch das Licht nicht beeinflußt. Wir haben also 90 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. mit einem von dem Werte Eins erheblich abweichenden Verteilungskoeffi- zienten nur bei absorbierenden Stoffen zu rechnen. Besitzt in unserem System A, B, D nur A Absorptionsvermögen, so ist nur a von 1 verschieden. Es geben also die Gleichungen 4) und 5) über in die einfacheren k k' 6) = a bezw. 7) — — a. k k X X Wir haben also bei unseren Gleichgewichtsbetrachtungen nur auf den absorbierenden Stoff Rücksicht zu nehmen. Bei zwei absorbierenden Stoffen, welche bei dem stark selektiven Charakter des Absorptionsvermögens aber wohl nur selten neben einander auftreten werden, sind die Gleichungen sinngemäß unter Berücksichtigung von ß bezw. (V zu ändern. Um die Frage zu entscheiden, ob a größer oder kleiner als 1 sein wird, knüpft man am besten an bestimmte Beobachtungen an. Wir wählen den Vorgang der Ozonbildung im ultravioletten Lichte. Die Gleichgewichts- konstante der Reaktion 3 0„ 2 Oa ist für das Dunkelgleichgewicht sehr groß, da die Ozonkonzentration, welche bei Zimmertemperatur mit Sauerstoff im Gleichgewicht ist, un- meßbar klein ist. Letztere steigt in kurzwelligem violetten Lichte sehr stark an, so daß die Konstante c'3o k = X c 20 3 sich wesentlich verkleinert. Setzen wir c02 — oc • c o2 und c0s — [j • c o3 so folgt _ a3 • c'30o _ a3 d “ ß2 • c 203 ~ ß2 X Durch die Untersuchungen von Kreusler1) ist festgestellt, daß das Absorptionsvermögen des Sauerstoffs für Wellenlängen unterhalb 193 p,p, liegt und daß dort die Bildung des Ozons vorzugsweise erfolgt. Das Ozon besitzt für diese Strahlen kein Absorptionsvermögen, denn der ultraviolette Absorptionsstreifen des Ozons liegt nach E. Meyer2) bei größeren Wellen- !) Kreusler, Ann. d. Phys. [4] 6, 419 (1901). 2) Edg. Meyer, Ann. d. Phys. [4] 12, 855 (1903). Ferner F. Krüger und M. Moeller. Phys. Ztschr. 13, 729 (1912). II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 91 längen, bei 240 — 270 p.fx. In dem ganz kurzwelligen Gebiete können wir daher ß = 1 setzen und schreiben k d _ 3 k ~ a ’ X Da nach unseren Ausführungen k^ )> k. ist, so folgt a )> 1 d. h. der Sauerstoff vermindert seine Konzentration im kurzwelligen ultravioletten Lichte, er verdünnt sich dort, indem er nach Stellen geringerer Licht- intensität wandert. Von Regener1) ist der Nachweis erbracht, daß ultraviolettes Licht von den Wellenlängen, welche im Absorptionsgebiet des Ozons liegen, selbst auf sehr verdünntes Ozon desozonisierend wirkt. In diesem Gebiete absorbiert der Sauerstoff nur in geringem Maße. Es nähert sich dort also a wieder dem Werte 1, dagegen ist ß groß. Es folgt kd a3 T~ = ~ß*~* X' Die Verteilung des Ozons zwischen dem Dunkelraum und dem mit Strahlung von der Wellenlänge 257 jap, erfüllten Raume würde wieder zugunsten des Dunkelraumes verschoben sein. Leider sind wir über die anderen photochemischen Reaktionen, was die Lichtabsorptionsverhältnisse anbetrifft, nicht so gut orientiert. Wir dürfen aber annehmen, daß allgemein Erhöhung der Lichtintensität auf eine Verminderung der Konzentration des lichtabsorbierenden Stoffes hin- wirkt, nicht allein in chemischer, sondern auch in mechanischer Hinsicht. Vermutlich verdünnt sich ein lichtabsorbierender Stoff, dem man eine chemische Umlagerung unmöglich macht, im Lichtfelde, und zwar um so mehr, je höher die Lichtintensität und je kürzer die Wellenlänge ist. Das Licht übt auf die absorbierenden Stoffe einen Zwang aus, dem diese sich durch Verdünnung (Auswanderung nach Stellen geringerer Lichtintensität) oder wenn die Umstände es zulassen, durch Umlagerung in nichtabsorbierende Stoffe zu entziehen streben. Es gilt auch hier das Prinzip vom kleinsten Zwange2). Nach diesen Ausführungen ist es nun nicht schwer, sich eine Vor- stellung von dem Verhalten eines absorbierenden, an chemischen Um- lagerungen verhinderten Gases in einem isothermen Raume, in welchem eine monochromatische Lichtquelle von hoher Intensität brennt, zu machen. Die Strahlung breitet sich nach allen Seiten aus und nimmt mit wachsendem Abstand von der Quelle ab. Der durch die kugelförmige Ausbreitung be- 1) 1. c. 2) Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß umgekehrt die Kompression licht- absorbierender Gase von Lumineszenz begleitet ist. 92 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. dingten Abnahme überlagert sich die durch die Lichtabsorption bedingte. Wir haben in diesem Raume also ein starkes Gefälle der Lichtintensität. Ihr würde, falls unsere Überlegungen richtig sind und einen Fehler nicht enthalten, ein Konzentrationsgefälle des Gases entsprechen und zwar derart, daß an den Stellen höchster Lichtintensität die geringste, an den Stellen geringster Lichtkonzentration die höchste Stoffkonzentration besteht. Die Verhältnisse würden ähnlich liegen wie bei einem Gas, welches wir unter einem bestimmten Druck von einem Lösungsmittel, dessen Zu- sammensetzung sich von der Oberfläche nach dem Boden zu stetig ändert, etwa einer Lösung, wie sie durch Diffusion einer konzentrierten Salzlösung in übergelagertes reines Wasser allmählieh entsteht, absorbieren lassen. Im Gleichgewichte zeigen die Konzentrationen des gelösten Gases von der Oberfläche nach dem Boden zu ebenfalls eine stetige Änderung. Die Anschauung bietet keinerlei Schwierigkeit, wenn wir einen durch- strahlten Raum als ein Medium auffassen, dessen Eigenschaften andere sind als die des nichtdurchstrahlten, wenn wir den durchstrahlten quasi als Lösungsmittel betrachten, dessen Beschaffenheit von der Lichtintensität abhängt. Wenn ich auch weitere Spekulationen, solange wir nicht festeren experimentellen Boden unter den Füßen haben, als unangebracht erachte, so möchte ich es doch nicht unterlassen, auf eine Konsequenz der ent- wickelten Anschauung hinzuweisen. Wenn wir das Lichtfeld als eine Art von Lösungsmittel ansehen, so ist auch die Annahme berechtigt, daß der Übertritt eines Gases aus dem Dunkelraum in das Lichtfeld mit einer Wärmetönung, einem Analogon zu der Lösungswärme, Hand in Hand gehen wird. Der Energieinhalt eines absorbierenden Gases im Lichtfeld würde danach ein anderer sein als der im Dunkelraum bei der gleichen Stofftemperatur. Nun hat Herr Trautz1) in letzter Zeit am Chlorgas einige eigentümliche Beobachtungen gemacht, die, wenn sie sich auch an anderen Stellen re- produzieren lassen, mit der Materie dieser Abhandlung im engen Zusammen- hänge stehen dürften. Er beobachtete nämlich eine deutliche Beeinflussung der Schallgeschwindigkeit im Chlorgas beim Belichten mit einer Quarz- lampe. ImKundtschen Rohr ergaben sich beim Bestrahlen andere Wellen- längen und damit andere Verhältnisse der spezifischen Wärmen als im Dunklen. Der Vollständigkeit wegen sei erwähnt, daß auch in einer Arbeit aus dem physikalischen Institut der Universität Marburg2) ein Ein- fluß der Rüntgenstrahlung auf die spezifische Wärme des Sauerstoffs be- schrieben wird. Derartige Effekte können wir verstehen, wenn wir eine !) Trautz: Zeitschr. f. Elektrochemie. 18. 519. (1912. 2) Richarz: Sitzungsber. der Gesellschaft zur Beförderung der gesamten Natur- wissenschaften zu Marburg, 4. Aug. 1910. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 93 Übergangswärme beim Übertritt von Gas aus einem minderbelichteten in einen höher belichteten Raum als möglich ansehen. Die weitere Aufgabe wird es nun sein, die Beeinflussung der Gas- konzentration durch die Belichtung experimentell einwandsfrei nachzuweisen und weiter die Beziehungen zwischen der Lichtintensität, den optischen Konstanten der beeinflußten Stoffe und der Größe des Effektes zu studieren. Derartige Studien haben nicht allein photochemisches Interesse, sie sind geeignet, auch weiter Material zu liefern für die Frage nach der freien Energie1) der Strahlung. Zur Theorie der Lumineszenz2). Von E. Pringsheim. In der modernen Strahlungstheorie nehmen wir an, daß die Spektral- linien der Gase von schwingungsfähigen Gebilden bestimmter Eigen- periode ausgesandt werden, die einen Bestandteil des Atoms bilden und mit den Dispersionselektronen der Dispersionstheorie identisch sind. Diese Gebilde haben genau den gleichen Charakter wie die Resonatoren, die Planck bei der Herleitung seines Strahlungsgesetzes benutzt. Diese Resonatoren betrachtet Planck als ruhend, so daß sie keine Zusammen- stöße erleiden. Da die Gesetze der schwarzen Strahlung aber bloß unter der Annahme reiner Temperaturstrahlung gelten, so muß man, damit die Resonatoren durch Temperaturstrahlung überhaupt zur Emission gelangen können, die Planckschen Voraussetzungen dahin ergänzen, daß durch irgend einen, für die Theorie gleichgültigen, Mechanismus ein Aus- tausch der kinetischen Energie der Körpermoleküle mit der Schwingungs- energie der Resonatoren erfolgt. Wir können uns, um die Anschauung zu fixieren, die Sache etwa so vorstellen, daß die durch Absorption gewonnene Schwingungsenergie eines Resonators vollständig in Molekular- bewegung übergeht und die durch Molekularbewegung dem Resonator zugeführte Energie in Form von Strahlung emittiert wird. Bei der Ähnlichkeit der Dispersionselektronen mit den Planckschen Resonatoren liegt die Vermutung nahe, daß ähnliche Betrachtungen wie sie Planck auf seine Resonatoren anwendet, auch für die Emission der Gase gelten werden, und zwar auch für den Fall, dass diese Emission nicht als Temperatur Strahlung, sondern als Lumineszenz auftritt. Mit !) Vergl. hierzu van t’Hoff: Die chemischen Grundlehren nach Menge, Maß und Zeit. Braunschweig, Vieweg und Sohn, 1912, pg. 63 — 66. 2) Die in dieser Mitteilung niedergelegten Resultate sind in anderer Form schon in einem Artikel: „Temperaturstrahlung und Lumineszenz“ enthalten, den ich im Mai 1912 an die Zeitschrift „Scientia“ in Mailand gesandt habe, der aber noch nicht erschienen ist. 94 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft ftir vaterl. Cultur. solchen Lumineszenzvorgängen haben wir es zweifellos zu tun bei den Geißlerschen Röhren, ebenso bei der Funken- und Bogen-Entladung, wo die Emission der Strahlung nicht von rein thermischen Bedingungen sondern von elektrischen Vorgängen abhängt. Vielen Beobachtern ist es aufgefallen, daß auch in diesen Fällen häufig — wenn auch keineswegs immer — die relative Intensität der kurzwelligen Strahlung gegenüber der langwelligen mit der Stärke der Erregung zunimmt, und dies hat manchmal sogar zu der Annahme geführt, daß es sich auch hier um Temperatur- strahlung handelt, weil es eine charakteristische Eigenschaft der schwarzen Strahlung und damit der Temperaturstrahlung überhaupt ist, daß die relative Intensität der kürzeren Wellen mit steigender Temperatur wächst. Diese charakteristische Eigenschaft der schwarzen Strahlung theo- retisch herzuleiten, hat die größten Schwierigkeiten gemacht. So lange man an dem aus der statistischen Mechanik übernommenen Satze von der Gleichverteilung der Energie unter die verschiedenen Freiheitsgrade festhält, muß jede Strahluugstheorie zu der schon von Kayleigh auf- gestellten Formel führen, nach der die Intensität aller Schwingungszahlen gleichmäßig mit der Temperatur fortschreiten würde. Um zu einer mit der Erfahrung in Übereinstimmung stehenden Formel zu gelangen, mußte Planck den Satz von der Gleichverteilung der Energie aufgeben und seine Quantenhypothese einführen. Ganz analog gelangt man auch bei der Lumineszenz der Gase mit Hilfe der Quantenhypothese zu dem gleichen Resultate, daß i. A. die Strahlung größerer Schwingungszahl gegenüber der geringerer Schwingungs- zahl um so mehr bevorzugt wird, je stärker der die Strahlung erregende Vorgang ist. Die einem Resonator von einem erregenden Impulse im Mittel zugeführte Schwingungsenergie wird nämlich cet. par. desto größer sein, je größer die Intensität des die Strahlung erregenden Vorgangs ist. Da nun nach der Planckscnen Hypothese ein Resonator nur Energie- quanten von bestimmter Größe auszustrahlen vermag, und da die Größe eines Energiequantums proportional der Schwingungszahl ist, so werden mit steigender Stärke der Erregung die Fälle, in denen einem Resonator von großer Schwingungszahl ein für die Emission genügendes Energie- quantum zugeführt wird, immer zahlreicher werden. Dieser Gedanke läßt sich unter gewissen Annahmen auch quantitativ weiter durchführen. Im thermodynamischen Gleichgewichtszustände ist nach Planck die mittlere Energie eines Resonators von der Schwingungs- zahl v (abgesehen von der „latenten“ Energie) e kT _ l wovon die Hälfte auf die kinetische Energie entfällt, hv = £ ist das II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 95 27 — 16 0i’p’ Elementarquantum, li = 6,5 • 10 erg. sec und k = 1,3 • 10 — grad Diese mittlere Energie erhält der Resonator bei der Temperaturstrahlung dadurch, daß ein fortwährender Austausch zwischen seiner Energie und der kinetischen Energie der Körpermoleküle stattfindet. Der einzige Ausdruck in der Formel 1), der mit der Energie der Körpermoleküle zusammenhängt, ist die Größe kT, die proportional ist der mittleren kinetischen Energie eines Moleküls, durch welches der Resonator zur Strahlung erregt wird, also proportional der mittleren Energie des er- regenden Impulses. Das gleiche gilt auch noch dann, wenn wir als Strahlungserreger nicht die Moleküle, sondern freie Atome oder Elektronen annehmen. Auch bei Lumineszenzstrahlung kann ein stabiler Gleichgewichtszustand eintreten. Denken wir uns einen unendlich ausgedehnten, homogenen und homogen zur Strahlung erregten Körper, also z. B. ein unendlich großes, von einem elektrischen Strome gleichmäßig durchflossenes Geißlerrohr, so muß sich, sofern nur das Emissionsvermögen E^ und das Absorptionsvermögen A^ von der vorhandenen Strahlungsdichte unabhängig ist, ein stationärer Strahlungszustand ausbilden, bei dem im Mittel für jeden Resonator die absorbierte Energie gleich der in der gleichen Zeit emittierten ist. Denn wäre die eine größer als die andere, so würde in dem ganzen Körper die Strahlungsdichtigkeit und damit die in jedem Resonator ab- sorbierte Energie dauernd ab- oder zunehmen, ohne daß die emittierte Energie eine Veränderung erfahren würde. Das Strahlungsgleichgewicht stellt sich also automatisch ein. Damit der Zustand aber wirklich stationär ist, haben wir noch eine Vorsorge zu treffen. Da nämlich bei einem reinen Lumineszenzvorgang jedem Volumenelement von außen so viel Energie zugeführt werden muß, als zur Emission verbraucht wird, und da außerdem in jedem Volumenelement durch Absorption die gleiche Energiemenge zugeführt wie durch Emission entzogen wird, so würde die Energiedichte dauernd um den gleichen Betrag steigen, der vom Volumen Eins emittiert wird. Um dies zu verhindern, müssen wir uns vorstellen, daß durch irgend einen, im übrigen ganz beliebigen Mechanismus einem jeden Volumenelemeute die ihm durch Absorption zugeführte Energie wieder entzogen wird. Darin liegt keine theoretische Schwierigkeit, auch im Falle der Temperaturstrahlung mußten wir ja jedem Planckschen Resonator die von ihm absorbierte Energie dauernd entzogen und den Körpermolekülen zugeführt denken, damit der Resonator in einer Weise zur Emission angeregt wird, die den Bedingungen der Temperaturstrahlung entspricht. Haben wir nun einen solchen, unendlich ausgedehnten, lumines- zierenden Körper im Gleichgewichtszustände, so wird auch hier die Strahlung durch den Austausch der Energie der erregenden Impulse 96 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. mit der Schwingungsenergie der Resonatoren zustande kommen, es muß sich also eine bestimmte Verteilung der Energie zwischen beiden Systemen ausbilden. Auch liier werden die Gesetze der Statistik gelten und es muß daher eine ganz analoge Beziehung zwischen der mittleren Energie eines Resonators und der mittleren Energie eines erregenden Impulses gelten, wie bei der Temperaturstrahlung, vorausgesetzt, daß alle strah- lenden Resonatoren durch einen einheitlichen Mechanismus nach dem gleichen Gesetze erregt werden. Unter diesen Voraussetzungen wird daher die mittlere Strahlungsenergie eines Resonators durch den Aus- druck gegeben sein: e f(i) — 1 wo f(i) für jeden Lumineszenzvorgang eine bestimmte Funktion der In- tensität des die Lumineszenz erregenden Vorgangs ist. Für einen Körper, in dem die Gleichung 1) des thermodynamischen Gleichgewichts gilt, ist nach dem für die Temperaturstralilung grundlegenden Kirchhoffschen Gesetze: Exx wo E^x und A^x das Emissions- bezw. Absorptionsvermögen des strah- lenden Körpers für die Wellenlänge X und die ihm zukommende absolute Temperatur T, e^x das Emissionsvermögen des schwarzen Körpers für die gleiche Wellenlänge und Temperatur bedeuten. Wenn wir in der Gleichung 2) f(i) = kTx . . .3) setzen, so geht sie in die Form der Gleichung 1) über, für unsere lumi- neszierende unendlich ausgedehnte Lichtquelle muß daher EX ÄX = ^ sein. Wenn ferner, wie angenommen, E^ und A^ von der vorhandenen Strahlung unabhängig sind, so wird E^/A^ eine für den Strahlungszustand des Körpers charakteristische, von seiner räumlichen Ausdehnung unab- hängige Größe. Bei einem solchen lumineszier enden Körper also wird sich das Verhältnis des Emissions- un d Ab Sorption s- vermögens für alle Wellenlängen, für welche überhaupt Dis- persionselektronen vorhanden sind, für welche also Emission auftritt, von einer Spektrallinie zur andern in der gleichen Weise mit der Wellenlänge ändern wie das Emissionsver- mögen des schwarzen Körpers für die durch Gleichung 3) definierte Temperatur Tx. Danach wäre also in vielen Fällen ein weitgehender Parallelismus zwischen den Erscheinungen der Lumineszenz und dev Temperaturstrahlung II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 97 zu erwarten und zum Nachweis der Gültigkeit des Kirchhoffschen Gesetzes genügt es daher nicht, zu zeigen, daß es eine bestimmte Temperatur Tx gibt, für welche bei verschiedenen Wellenlängen eXTi i8t> sondern es muß noch gezeigt werden, daß diese Temperatur mit der thermisch bestimmten Temperatur T des strahlenden Körpers übereinstimmt. Bei Lichtquellen, bei denen es nicht möglich ist, eine bestimmte Temperatur des strahlenden Körpers thermisch festzustellen, ist es gegenstandslos, von der Gültigkeit des Kirchhoffschen Gesetzes und von Temperatur- strahlung zu sprechen. Unsere Betrachtungen gelten wie gesagt nur für solche Lumineszenz- vorgänge, bei denen Emissions- und Absorptionsvermögen von der Strahlungsdichte unabhängig sind. Daher können wir bei den Erschei- nungen der Fluoreszenz und Phosphoreszenz und der Resonanzstrahlung der Gase, bei denen die Emission von der auffallenden Strahlung ab- hängt, keine Gesetzmäßigkeiten der gefundenen Art erwarten. Bei diesen Erscheinungen ist in der Tat keine Spur einer Analogie mit der schwarzen Strahlung beobachtet worden. Unabhängig von jeder Hypothese können wir allgemein als „spezi- fische Temperatur“ eines strahlenden Körpers für die Wellenlänge X die- jenige Temperatur Tx definieren, für welche das Emissionsvermögen e^ Ex des schwarzen Körpers gleich dem Verhältnis - — für den strahlenden. AX Körper ist1). Dann gibt uns die Abweichung zwischen der spezifischen und der wahren Temperatur des Strahlers ein Maß für die Größe der Abweichung der betreffenden Strahlung vom Kirchhoffschen Gesetze und somit ein Maß für den Grad der Lumineszenz. Dieses Maß würde sich am besten wohl durch die Größe Tt — T T ausdrücken lassen. Die oben (Gleichung 3) eingeführte Größe T, würde mit dieser spezifischen Temperatur identisch sein. Sitzung am 19. November 1912. Reversible bimolekulare Reaktionen. Von Herrn Privatdozent Prof. Dr. W. Herz. *) Nachträglich ist mir eine Arbeit von E. Bauer (Piecherches sur le rayonne- ment. Theses. Paris, Gauthier -Villars, 1912) bekannt geworden, in der dieselbe Größe als temperature d’emission definiert wird. 1912. 7 98 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Eine einfache photometrische lethode zur Ausmessung der Schwärzung photographischer Platten. Von Herrn G. Neumann. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 99 Allgemeine Übersicht der meteorologischen Beobachtungen auf der König!. Universitäts- Sternwarte zu Breslau im Jahre 1912. Mitgeteilt von Dr. G. Rechenberg. Höhe des Barometers über Normal-Null = 147,03 m. 1912. I. Barometerstand, reduziert auf 0° Celsius in Millimetern II. Temperatur der Luft in Graden nach Celsius Monat s Q 5 C/) o o s *3 Q s in tß "3 der Charakter des Menschen selbst von ihm frei (= ursachlos) gewählt sein. Hier stimmt zunächst der Indeterminismus sicherlich nicht zu unserem Gefühl (anders gesprochen: zu unserer Erfahrung), das eine Willensfreiheit in dem Sinne, daß sich der Mensch seinen Charakter selbst gewählt habe, nicht kennt. Freilich kann der Mensch an der Vervollkommnung seines Charakters arbeiten. Aber auch diese Arbeit ist kausal bedingt durch Veranlagung, Erziehung und sonstige äußere Umstände. Wenn trotzdem Wollensfreilieit im Sinne der ursachlosen Selbstwahl des Charakters be- hauptet wird, so ist dies nur erklärlich durch die Verkettung unseres Problems mit dem der Verantwortung; man glaubt, um dieser willen jene Meinung zu brauchen. Da sie mit der Erfahrung nicht übereinstimmt, wird ihre Begründung in metaphysischen Spekulationen („Aseität“ der ein- zelnen Persönlichkeit) gesucht, Spekulationen, die selbst auf dem Gebiete der Metaphysik sich in Widersprüche ebenso zu den Erfordernissen der Ein- heitlichkeit des Weltbildes, wie zu denen einer jeden monotheistischen Religion stellen. Mit der gleichen Entschiedenheit, mit welcher so die Freiheit des Willens im Sinne der Ursachlosigkeit abzulehnen ist, ist aber auf der andern Seite die Tatsache der Verantwortlichkeit, das Recht einer sittlichen Wertung des Menschen (nicht nur das Vorhandensein eines Verantwortlichkeitsgefühls, das ja vielleicht ein irriges sein könnte!) festzustellen. Auch diese Tatsache ist eine letzte, apriorische. Wie aber sind beide zu vereinen? Der Kantsche Versuch, der darin gipfelt, daß die Determiniertheit des Willens für den Menschen als Erscheinung gälte, während die Freiheit für die intelligible Persönlichkeit gelte, ist abzu- lehnen, weil er einmal die Verantwortlichkeit des empirischen Menschen nicht erklärt, sodann mit Gesetzlichkeiten der intelligiblen Welt arbeitet, welche doch unserem Erkennen völlig verschlossen ist. Die Lösung wird vielmehr darin zu suchen sein, daß sich die Fragestellung als unrichtig erweist. Zwischen kausaler Bestimmtheit des Willens und Berechtigung einer sittlichen Wertung des Menschen nach seinen Willensentschlüssen besteht kein Widerspruch. Zunächst ist der Gegensatz anders abzustellen, nämlich auf Erkenntnis des Seins und Werdens einerseits und seiner Wertung andererseits. Die Tatsache der Wertung ist von der Annahme eines ursachlosen Geschehens aus ebenso wenig zu erklären, wie von der entgegengesetzten Annahme aus. Der Schein, daß sie sich mit der ersteren besser vertrüge, beruht nur auf der Verwechselung der Wahl- freiheit im Sinne der Ursachlosigkeit mit der oben anerkannten deter- ministischen Freiheit zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit. Das Vor- liegen dieser verlangen wir freilich, um sittlich zu werten; aber gerade deshalb, weil nur dann die Zurechnung der Handlung zu dieser Per- sönlichkeit begründet ist. Nicht dagegen macht der (unvollziehbare!) 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Gedanke, daß unabhängig vom Charakter und seinem Gegensein für den Menschen, überhaupt ohne irgend welche Ursache, also ganz zufällig, dieser oder jener Wille vorhanden ist, uns dessen Bewertung irgendwie erklärlicher; im Gegenteil, er macht schon die Zurechnung unverständlich. Ist aber der Gegensatz auf die Erkenntnis einerseits, das Werten andererseits abzustellen, so ergibt sich, daß ein eigentlicher Gegensatz überhaupt nicht besteht. Die Wirklichkeit kann vielmehr unter beiden Gesichtspunkten aufgefaßt werden; die beiden Gesichtspunkte selbst sind inkommensurabel, also auch nicht gegensätzlich. An der Diskussion beteiligten sich die Herren Privatdozent Dr. Friedrich Wagner, Oberlandesgerichtspräsident Dr. Vierhaus, Professor Dr. Stern, Professor Dr. Kühnemann, Rechtsanwalt Dr. Heilborn, Geh. Justizrat Professor Dr. Leonhard und Geh. Justizrat Prof. Dr. Gretener. Sitzung vom 12. Februar 1912. Vortrag des Herrn Geheimen Regierungsrat Professor Dr. Julius Wolf über ,,Die Teuerung und ihre Ursachen.“ Die Teuerung, so führte der Redner aus, beschäftigt die Geister in Deutschland und im Ausland schon lange. Unser Reichstag und unsere Regierung haben sich damit befaßt, der Präsident der Vereinigten Staaten, Taft, will sie zum Gegenstände einer internationalen Enquete machen, und der „Vorwärts“ hat auch bereits das einzige Mittel zur Abhilfe ent- deckt, das darin bestehen soll, daß sämtliche Frauen sich der Sozial- demokratie anschließen. Was die Ausdehnung der Teuerung anlangt, so erstreckt sie sich fast auf das gesamte Gebiet der Rohstoffproduktion, in erster Linie auf das Gebiet der tierischen Nahrungsmittel. Das ist von außerordentlicher Bedeutung, weil nicht mehr wie früher der Brotpreis die Lage der arbeitenden Klassen entscheidet, sondern durch die moderne Lebenshaltung der Fleischpreis in diese Rolle eingerückt ist. Als Ursachen der Teuerung sind von der politischen Agitation die Reichsfinanzreform und die Zölle bezeichnet worden. Aber die Reichsfinanzreform hat zweifellos damit nichts zu tun, w*eil die neuen Steuern, die sie brachte, die Waren, die Gegenstände der Teuerung sind, gar nicht treffen, wenn man von den Zündhölzern absieht. Die Zölle haben zwar eine preissteigernde Wirkung, und unsere landwirtschaftlichen Zölle sind ja als Schutzzölle gedacht. Daß sie aber als Ursache der letzten Teuerung nicht gelten können, ergibt sich daraus, daß sie schon vor dieser Teuerung inkraft waren, daß auch England über Teuerung klagt, obgleich dort die Zufuhren aus aller Welt zollfrei und zu viel niedrigeren Frachten als bei uns eingehen, und daß man sich sogar in Amerika zu III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 5 einer Teuerungsenquete veranlaßt sieht. Es müssen also andere Ursachen vorliegen. Englische Gelehrte und Staatsmänner führen sie auf die Ver- mehrung des Geldes, auf die erhöhte Goldproduktion zurück, während z. B. Professor Lexis in Göttingen und der frühere französische Minister Yves Guyot Gegner dieser Auffassung sind. Da die Geldvermehrung in ihren Wirkungen noch enorm gesteigert wird durch die modernen Geld- ersatzmittel — Scheckverkehr, Giroverkehr usw., — so scheint der Welt- wirtschaft mehr Geld zur Verfügung zu stehen, als zur Besorgung des Marktgeschäftes nötig wäre, und so ist wohl ein Teil der Teuerung auf dieses Mehr an Geld zurückzuführen. Die Hauptursachen aber liegen auf anderem Gebiete. Zu unterscheiden ist zwischen temporären Ur- sachen und dauernden Ursachen, die darauf liinweisen, daß wir auf ein gewisses Maß der Teuerung auch weiter zu rechnen haben. Zweifellos ist, daß die Teuerung unserer Tage sich mit zurückführt auf die letzten Mißernten, aber dauernde und allgemeine Momente der Teuerung beruhen auf Erscheinungen weltwirtschaftlichen Charakters. Der amerikanische Kontinent geht in seiner Ergiebigkeit für unseren Nahrungsmittelmarkt zurück, im Westen der Vereinigten Staaten sind die Produktionskosten für vegetabilische und animalische Produkte bereits höher, als zu der Zeit, da Amerika auf unseren Markt trat, und sogar in Kanada und Argentinien steigen die Bodenpreise enorm. Wenn auch bessere Ernten vorübergehend wieder niedrigere Preise bringen können, so muß doch wegen der eintretenden Knappheit an besiedelungsfähigem Lande und der Zunahme der Bevölkerungsziffer damit gerechnet werden, daß die Mehrproduktion an Nahrungsmitteln, auf welche die steigende Bevölkerung der Welt Anspruch macht, nur mit einem Mehr an Pro- duktionskosten zu schaffen ist. Ferner kommt das Gesetz der „technisch- ökonomischen Entwickelungsgrenze“ in Betracht. Ein einfaches Beispiel: die Seefrachten für Getreide, die allmählich von 33 auf 8 Cents pro Bushel zurückgegangen sind, können in aller Zukunft nicht mehr in gleicher Weise zurückgehen. Das Hauptmaß der verbilligenden Ent- wickelung durch die Technik liegt hinter uns, und wir haben mit dem Steigen der Produktionskosten der Nahrungsmittel als mit einer Tatsache zu rechnen, gegen die sich keine Entwickelungen mehr aufbieten lassen, die sie zu neutralisieren vermöchten. Danach scheint sich hier der von Malthus prophezeite Widerstreit zweier Entwickelungstendenzen anzumelden, der die Not unausweichlich nach sich ziehen soll; eine Vermehrungstendenz der Menschen, welche die Vermehrung der Subsistenzmittel übersteigt. Zwei Möglichkeiten des Ausgleichs hierfür zog der Vortragende in Betracht. Eine Überkom- pensation der Steigerung der Produktionskosten durch eine Hebung der Produktivität auf anderen Gebieten, also eine Steigerung der Ein- 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. kommen über das Maß der Steigerung der Lebensmittelpreise hinaus erhofft er nicht mehr, weil der technische Fortschritt uns in wirtschaft- licher Hinsicht nicht mehr soviel leisten könne, wie er uns in den letzten Jahrzehnten geleistet habe. Nur ein Moment schaffe einen Ausgleich, und das sei das mächtige Sinken der Geburtenfrequenz in allen Kulturstaaten unseres Erdteils. Nach allen Zeichen der Zeit zu urteilen, werde der Geburtsüberschuß noch weiter merklich abnehmen, und dieser Umstand werde, so sehr das unserem Empfinden widerstrebe, einiger- maßen kompensierend wirken gegenüber gewissen Schwierigkeiten der Nahrungsmittelproduktion. An der Diskussion beteiligten sich die Herren Rittergutsbesitzer Dr. Brößling, Dr. Wagner und Dr. Dyhrenfurth. Sitzung vom 26. Februar 1912. Vortrag des Herrn Professor Dr. Schott über „Die Erbschaftssteuer der Frauen und Kinder und unser bürgerliches Recht.“ Die Frage der Nachlaßsteuer für Gatten und Kinder — so führte der Vortragende aus — ist nur ein Teil aus dem Kampfe gegen das Erb- recht, der in letzter Zeit geführt wurde. Der 1909 abgelehnte Reichs- gesetzentwurf über das Erbrecht des Staates wollte das Erbrecht der entfernteren Verwandten überhaupt beseitigen und sogar als Erben dritter Ordnung nur die Großeltern übrig lassen, also schon die Vettern von der Erbfolge ausschließen. Die Regierung erachtete es für sozial ungerecht, wenn „lachende Erben“, an die der Erblasser nie gedacht habe und die man oft erst suchen müsse, plötzlich eine ganz unverdiente Einnahme hätten. Gegen dieses Argument wurde eingewendet, daß namentlich bei der Landbevölkerung das Gefühl verwandtschaftlicher Zusammengehörigkeit bis zu den Vettern reiche. Der Entwurf bedeute daher kein Beseitigen extremer Folgen mehr, sondern schon einen Kampf gegen das Erbrecht selbst, und solche direkt umstürzlerische Gesetze dürfe man nicht in Gegensatz zu den Anschauungen großer Bevölkerungsteile machen. Nun war schon 1907 auf Anordnung des Bundesrats eine Erbstatistik im Deutschen Reiche aufgenommen worden, die ein überraschendes Resultat ergab. Danach fallen von den Summen, die jährlich vererbt werden, — 1910 waren es etwa 5700 Millionen — 75 Proz. an Frauen und Kinder, 20 Proz. an Geschwister, Geschwisterkinder und Großeltern, weitere 3Y2 Proz. an testamentarisch eingesetzte Erben — Schwägersleute, Stif- tungen usw. Übrig bleiben also im ganzen 1 1/2 Proz. Wieviel davon speziell auf die Vettern entfällt, ist von der Regierung nicht angegeben; es dürfte 1 Proz. betragen, so daß auf die sogenannten „lachenden Erben“ im ganzen x/2 Proz. kommt! Das zeigt, daß unser Erbrecht sich bewährt III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 7 hat; man kann den kleinen Fehler von 1/2 Proz. korrigieren, aber dem Erbrecht als solchem läßt sich kein Vorwurf machen. Diese Statistik macht es verständlich, weshalb die Regierung nun solchen Wert darauf legt, die Nachlaßsteuer von Frauen und Kindern zu erheben. Sonst wäre sie nicht lohnend, denn von den weiteren Ver- wandten erhebt man schon soviel, daß man nichts mehr nehmen kann. Der vorgeschlagene Steuersatz war mäßig, er sollte bei 20 000 Mk. mit V2 Proz. beginnen und schließlich bis 3 Proz. steigen. Der Kampf und Streit drehte sich hauptsächlich um die Begründung. Sonst pflegte man immer nur die Erträgnisse, nicht aber den Stamm eines Vermögens mit der Steuer anzugreifen. Hier wollte man gegen diese volkswirtschaftliche Regel handeln und gab zwei Gründe an. Die Steuer sollte als Nach- steuer gerechtfertigt sein, weil man vom Menschen bei Lebzeiten gewöhnlich nicht alles herausbekomme, was er an Steuern von Rechts- wegen zu entrichten hätte. In den Vordergrund aber stellte man ihren Charakter als Bereicherungssteuer, als Abgabe von einem ohne eigene Arbeit und eigenes Verdienst erlangten Vermögenszuwachs. Idee und Begründung der Nachsteuer hat man aus England geholt. Dort allerdings hat die Steuer ihren guten Sinn, denn England hat eine zweifellos unzureichende Einkommensteuer; es hat überhaupt keine allgemeine Einkommensteuer, sondern mehrere Steuerarten, wobei manches einfach durchschlüpft, und es hat keine Progression und keinen Deklarationszwang. Wir aber haben Deklaration, Progression und allgemeine Einkommensteuer. Weiter sagt man, die Steuer solle eine nachträgliche Kontrollmaßregel für die richtige Entrichtung der Steuern bei Lebzeiten bilden. Man dachte sich die Sache wie in England, wo die Erbschaft durch einen „trustee“, einen Treuhändler, ausgeteilt wird. Aber wir haben das Prinzip der privaten Erbschaftsregulierung; man müßte also, um eine genaue Vermögenskontrolle zu haben, erst die eidesstattliche Versicherung oder die fiskalische Verwaltung des Nachlasses einführen. Also als Nachsteuer, entnommen aus englischen Verhältnissen, paßt sie nicht auf die unseren. Wie steht es nun mit der Bereicherung? Bei weiteren Verwandten liegt eine solche natürlich vor — ob aber auch bei Frau und Kindern? Das Vermögen des Mannes besteht — wie der Vortragende an Hand der güterrechtlichen Bestimmungen desB. G. B. darlegte — aus seinem eigenen Kapital, seinem Einkommen daraus, ferner aus seinem Arbeitseinkommen. Dazu kommen das gesamte fundierte Einkommen der Frau, auch das Arbeitseinkommen der Frau, und weiter steckt darin das fundierte Ein- kommen der Kinder und zum Teil auch Arbeit der Kinder. In der Praxis fällt sogar auch ein großer Teil der vorbehaltenen Einkünfte von Frau und Kindern in das Mannesvermögen. Und wenn ein so entstandenes Vermögen als Nachlaß an Frau und Kinder fällt — sollte das eine un- 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. verdiente Bereicherung sein? Diese Anschauung ist ebenfalls hergeholt aus den Rechtszuständen des Auslandes, paßt aber auch nur wieder auf diese, denn in England herrscht das vollkommene Prinzip der Güter- trennung, selbst zwischen Eltern und Kindern, ebenso in Österreich, Ruß- land und den romanischen Ländern; unser deutsches Familienrecht hat nur die Schweiz übernommen. Die schließlich von den Politikern nur aus einem Steuerinteresse heraus vorgeschlagene Änderung unseres Güterrechts aber würde ebenfalls nicht für uns passen. Der Mann ist bei uns nun einmal das Haupt der Familie, und sein durch das Güter- recht erweitertes „Eigentum“ ist nicht Selbstzweck, sondern nur eine Form für den wirtschaftlichen Zweck der bequemen Verwaltung des gesamten Familienvermögens. Er hat auch mit seiner Arbeit gar nicht für sich allein schaffen, sondern auch für Frau und Kinder sorgen wollen über sein Lebensende hinaus. Und in seinem Nachlasse steckt auch das, was Frau und Kinder durch Mitarbeit über den bloßen Unterhalt hinaus verdient und nicht erhalten haben. Wie sollte man also bei der Erbschaft den „ver- dienten“ und den „unverdienten“ Vermögenszufall sondern können? Wir haben zwar nicht das Wort „Familieneigentum“, wohl aber die Sache; die Familie ist bei uns ökonomisch der kleinste Wirtschaftsbetrieb, den wir haben, und das Fließen von Vermögenserträgnissen und Arbeits- einkommen von Frau und Kindern in den späteren Nachlaß des Mannes erfordert, die Nachlaßbesteuerung bei Frau und Kindern zu unterlassen, wenn man nicht krasse Ungerechtigkeiten begehen will. Andere Steuern, die gerecht wären — so schloß der Vortragende — gebe es genug. Die Wehrsteuer, die Junggesellensteuer, und auch die kinder- losen Ehepaare könnten etwas mehr bezahlen als die mit Kindern. Im Verlaufe seiner Ausführungen hatte der Vortragende übrigens nicht nur die rein rechtlichen Momente der Frage erörtert, sondern auch die Schwierigkeiten und Verdrießlichkeiten beleuchtet, die mit der Steuer ver- bunden wären. Insbesondere würde diese dazu führen, daß die Über- tragung des väterlichen Geschäftes auf den mitarbeitenden und zum künftigen Geschäftsherrn bestimmten Sohn von diesem noch bei Lebzeiten des Vaters verlangt werden würde, oder aber die Zuschreibung einer festen Arbeits- vergütung, und beides schaffe unerquickliche Verhältnisse. An der Diskussion beteiligten sich die Herren Oberlandesgerichts- präsident Dr. Vier haus, Professor Dr. Klingmüller, Amtsgerichtsrat Dr. Freund, Geh. Justizrat Professor Dr. Fischer und Justizrat Hentschei. Sitzung vom 6. März 1912. Vortrag des Herrn Justizrat Dr. Heilberg über das Thema „Zur Frage der Organisation der Rechtsanwaltschaft“. Von den Gesetzen, die in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die Justizorganisation des Deutschen Reiches schufen, III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 9 ist die Rechtsanwaltsordnung das einzige, das inzwischen keine irgendwie erhebliche Änderung erfahren hat. Die Organisation der Anwalt- schaft beruhte auf drei Prinzipien: es sind dies die Freiheit der Advokatur, d. h. ihre Zugänglichkeit für jeden, der bestimmten gesetzlichen Bedingungen genügt, die Lokalisierung der Anwaltschaft — d. h. daß der Anwalt, soweit er dem Anwaltszwange unterliegende Geschäfte wahr- nimmt, nur bei einem bestimmten Gerichte tätig sein darf — und schließlich die Selbständigkeit und Selbstverwaltung der Anwaltschaft, der Besitz eigener Aufsichts- und Disziplinarbefugnisse. Diese drei Grundsätze gelten noch heute, obgleich sie in der ganzen Zeit bekämpft wurden, und am stärksten ist der Kampf gegen die Freiheit der Advokatur, weil man glaubt, dem übermäßigen Andrange zur Anwaltschaft entgegenwirken zu müssen. Man sagt, daß wegen der Überfüllung des Anwaltsberufes ein Teil der Anwälte sich in wirtschaftlicher Not befinde, und dies dazu führen könnte, auch die Qualität dieser Anwälte und damit die Interessen der Rechts- pflege zu gefährden. Der vorjährige Würzburger Anwaltstag hat alle Anregung auf Wiedereinführung des numerus clausus, der Festsetzung einer zulässigen Höchstzahl von Anwälten für jedes Gericht, abgelehnt. Der Vortragende erörterte die Gründe, mit denen der numerus clausus befürwortet und bekämpft worden war und behandelte als wichtigste der zahlreichen Gegengründe besonders eingehend den Umstand, daß dann stetig eine zahlreiche Anwärterschaft vorhanden wäre, deren tüchtigste Elemente bald zur Verwaltung und zur Industrie abschwenken würden, während ein Teil sich notgedrungen dem Winkelkonsulentum zuwenden müßte. Das Publikum würde gegen diese Assessoren und Doktoren kein Mißtrauen haben, ohne doch bei ihnen gegen Übervorteilungen so geschützt zu sein, wie bei der Anwaltschaft. Für die zugelassenen Anwälte aber würde mit dem numerus clausus die bisherige Freizügigkeit aufhören. Das Ergebnis seiner Darlegungen faßte der Vortragende dahin zusammen, daß ein nicht unerheblicher Teil der Anwaltschaft in den Großstädten sich in wirtschaftlich ungünstiger Situation befinde, aber ohne daß diese Notlage in irgendwie erheblichem Umfange zu moralischen Defekten in der Anwalt- schaft geführt hätte. Die Gescheiterten seien zum großen Teil gerade solche, die ganz gut hätten leben können, aber zu unwirtschaftlich oder moralisch brüchig gewesen seien, und auch die Anwälte, die als „Reißer“ unliebsames Aufsehen erregten, hätten gewöhnlich eine große Praxis, aber nicht die erforderlichen moralischen Qualitäten. Was man zur Beseitigung der wirtschaftlichen Notlage in Aussicht nehmen könnte, seien teils stumpfe Mittel, weil man mit ihnen doch die Haltlosigkeit mancher Persönlichkeiten nicht beseitigen könne, teils seien es Mittel, deren Wirkungen noch schlimmer wären als das Übel, das man beseitigen wolle. An wirklichen Hilfsmitteln ließen sich nur vorschlagen: eine Revision der Anwaltsgebühren- ordnung, deren Sätze seit 1879 unverändert geblieben, obwohl seitdem 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. für Personal und Bureaukosten das Doppelte aufgewendet werden müsse, Zulassung der Anwaltschaft auch zu den Kaufmanns- und Gewerbe- gerichten, Selbsthilfe der Anwaltschaft durch Ausdehnung ihrer Tätigkeit, und zwar durch allgemeinere Übernahme von Vermögens- Verwaltungen, Treuhandgeschäften, Testamentsvollstreckungen usw. Eine absolute Abhilfe gebe es nicht, die akademischen Berufe seien eben alle überfüllt. Eine tüchtige, selbständige und selbstbewußte Anwaltschaft werde sich aber im wesentlichen selbst zu helfen wissen; einzelne freilich, die nicht vorwärts kommen, werde es immer geben, und diese könne man bedauern, aber man könne nicht ihretwegen an die Gesetzgebung appel- lieren. Unter diesen Umständen werde die Grundlage der Rechts- anwaltsordnung unberührt bleiben müssen. Aber zu wünschen sei eine Änderung der Rechtsanwaltsordnung, die es der Anwaltschaft ermögliche, diejenigen Elemente abzulehnen, die sich, nachdem sie anderwärts gescheitert seien, der Rechtsanwaltschaft zuwendeten. In dieser Beziehung stehe die Anwaltschaft mit gebundenen Händen da. Ferner sei zu wünschen eine Erweiterung der Selbstverwaltung, damit die Anwaltschaft die Möglichkeit bekomme, nicht nur im ehren- gerichtlichen, sondern auch im Aufsichtsverfahren auf rein tatsächlichem Gebiete Feststellungen treffen zu können. Erhalte die Anwaltschaft diese Befugnisse, dann werde sie mehr als bisher den Stand freihalten können von Elementen, die sie wider Willen dulden müsse und die ihren Ruf beim Publikum schädigten. Aber jeden- falls seien diese Elemente nur Ausnahmen, und im übrigen habe der Stand in den Jahren seit 1879 seine Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit doch genügend bewährt, daß man ihm auch weiter die Möglichkeit der freien Entwickelung lassen könne. Eine Diskussion fand nicht statt. Sitzung vom 21. März 19 12. Vortrag des Herrn Rechtsanwalt Dr. Lemberg über „Die Sicherungsübereignung und die Vorschläge bezüglich ihrer gesetz- geberischen Behandlung.“ Der Vortragende behandelte zunächst die bisherige reichsgerichtliche und untergerichtliche Judikatur bezüglich des Sicherungskaufs und der Sicherungsübereignung, wobei die Unterschiede in der Entwickelung der Rechtsprechung bis zum 1. Januar 1900 und in der Zeit seit dem 1. Ja- nuar 1900 scharf hervorgehoben wurden; er beschäftigte sich sodann ins- besondere mit der Entwickelung der Rechtsprechung bezüglich der Siche- rungsübereignung von ganzen Warenlägern, wobei betont wurde, daß in- soweit die reichsgerichtliche Judikatur eine klare Richtung vermissen lasse. Nach Erörterung der in der Hönigerschen Broschüre über die Sicherungs- III Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 11 Übereignung an Warenlagern geltend gemachten Auffassung, welche dahin geht, daß schon nach der bisherigen Gesetzgebung eine Sicherungsüber- eignung an ganzen Warenlägern begrifflich nicht möglich sei, beschäftigte sich der Vortragende mit den Schäden des Sicherungskaufs und der Siche- rungsübereignung, die er hauptsächlich in der Heimlichkeit erblickte, mit welcher diese vertraglichen Maßnahmen der Außenwelt, insbesondere der Gläubigerschaft gegenüber behandelt werden, und vertrat den Standpunkt, daß ganze Warenläger als Gesamtheit keine Basis für einen gesunden wirt- schaftlichen Kredit seien. Nachdem sodann noch zu den von anderer Seite vorgeschlagenen Mitteln zur Bekämpfung der auf dem Gebiete der Sicherungsübereignung hervorgetretenen Schäden (Anfechtung, Haftung des Erwerbers aus § 419 B. G. B., neuere reichsgerichtliche Judikatur über die Anwendung von § 826 auf Sicherungskäufe) Stellung genommen worden war, präzisierte der Vortragende seine Vorschläge dahin, daß die Sicherungs- übereignung an ganzen Warenlägern überhaupt gesetzlich für unzulässig zu erklären und im übrigen die Gültigkeit von Sicherungskäufen — ent- sprechend den Vorschlägen des Deutschen Handelstages — von der Re- gistrierung abhängig zu machen sei, wobei noch hervorgehoben wurde, daß der Verkehr durch möglichste Publizität der Registereintragungen wirksam geschützt werden müsse. An der Diskussion beteiligten sich die Herren Oberlandesgerichtsrat Dr. Salinger, Rechtsanwalt Dr. Löwisohn, Rechtsanwalt Peiser und Justizrat Bielscho wsky. Sitzung vom 1. April 1912. Vortrag des Herrn Dr. Otto Fischer über „Deutschlands finanzielle Kriegsbereitschaft.“ Der Vortragende erläuterte zunächst den Begriff der finanziellen Kriegsbereitschaft. Sie bedeutet einmal die Bereitstellung der für den kriegführenden Staat erforderlichen Mittel dergestalt, daß der Staat schon mit Beginn des Krieges über die Gelder disponieren kann, und weiterhin bedeutet sie, daß die für die Geldzirkulation maßgebenden Stellen, in erster Linie also die Banken, so gerüstet sind, daß trotz starker Geldentziehungen die Grundlage unserer Wirtschaft, insbesondere unserer Kreditorganisation erhalten bleibt, und dem schwer arbeitenden Staatskörper die nötigen Mittel zur Ernährung zugeführt werden. Beim Staatsbedarf ist zu unterscheiden zwischen den bei Kriegs- beginn, etwa in den ersten sechs Wochen, und den weiterhin erforder- lichen Mitteln. Vom Kredit wird der Staat auch im Kriege Gebrauch machen, und er wird auch in der Lage sein, sich auf Grund des Kriegs- leistungsgesetzes vom 13. Juni 1873 eine Menge Kriegsbedarf ohne sofortige Barzahlung zu verschaffen, — aber das Typische des Kriegsbedarfs ist, 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. daß der Staat in der Lage sein muß, bar zu zahlen, weil sonst kostbare Zeit verloren geht. Eine sichere Berechnung des eventuellen Geldbedarfs selbst ist natürlich unmöglich, weil es hier unzählige Fehlerquellen gibt. Nimmt man an, daß wir den Landkrieg nur nach einer Front zu führen haben, aber zugleich stets die ganze Flotte gefechtsbereit halten müssen, und rechnet man mit einem Durchschnittsbedarf von drei Millionen Mann für Flotte und Heer zusammen, so ergeben sich bei Zugrundelegung der Erfahrungen des deutsch-französischen Krieges als Kriegskosten 18 Millionen Mark pro Tag, 540 Millionen Mark pro Monat, also rund 6y2 Milliarden Mark im Jahre. Ein besonders hoher Prozentsatz dieses Bedarfs wird sich voraussichtlich auf die ersten sechs Wochen konzentrieren, so daß man für diese Zeit mit einem Geldbedarf von 1 x/2 Milliarden rechnen kann. Nun bewirkt der Krieg in unserem wirtschaftlichen Leben ein Ver- sagen des Kredits und der auf dem Kredit beruhenden Zahlungsmittel so- wie einem plötzlichen, der Panik entsprungenen Angstbedarf an Bargeld. Allerdings pflegt die Panik nicht lange anzuhalten, so daß der Angstbedarf kein dauernder sein dürfte. Jedenfalls würden unter ihm die Bankiers der kleinen Leute, die Sparkassen und Genossenschaften, mehr zu leiden haben, als die Banken, die es meist mit ruhig denkenden Geschäftsleuten zu tun haben. Andererseits wird natürlich der Realbedarf gerade die Banken um so härter treffen. Aber gerade in diesen kritischen Zeiten wird es eine ihrer Hauptaufgaben sein, unser Kreditsystem nach Möglich- keit aufrecht zu erhalten, und deshalb ihrerseits mit Kreditkündigungen nach Möglichkeit zurückzuhalten; sie werden sogar vielfach einen erhöhten Kredit geben müssen, weil viele Bankkunden dann Kriegsbedürfnisse zu liefern haben, und erhebliche Mittel zur Aufrechterhaltung ihrer Produktions- fähigkeit brauchen. Zudem wird ja durch die völlige oder teilweise Still- legung vieler Zweige des Wirtschaftslebens, z. B. der Bautätigkeit, eine erhebliche Krediteinschränkung und Geldersparnis ganz von selbst eintreten. Aber jedenfalls ist in den ersten Wochen eine außerordentlich schwere Belastung für die gesamte deutsche Bankwelt zu erwarten. Was nun die Deckung des Staatsbedarfs anlangt, so hatten wir 1870/71 noch keine finanzielle Führerin, aber jetzt haben wir die Reichs- bank, die sich schon wiederholt in Krisen bewährt hat. Die Ansprüche an sie werden außerordentlich sein, denn zu dem Kriegsbedarf der ersten sechs Wochen mit lx/2 Milliarden kommt der Realbedarf von Handel, In- dustrie und Landwirtschaft für die Vorbereitung und Durchführung der Kriegslieferungen, der auf mindestens eine Milliarde zu schätzen ist. Weiter wird auch der zunächst bei den Privatbanken sich geltend machende Angst- bedarf zum Teil sich auf die Reichsbank fortpflanzen, so daß auch hier noch mit einem weiteren Bedarf von x/4 Milliarde zu rechnen ist. Ins- gesamt hat die Bank dann einen Bedarf von etwa 23/4 Milliarden in den ersten sechs Wochen zu befriedigen. Bei der Frage nach der Deckung III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 1 3. wird man davon ausgehen müssen, daß die Noten der Bank ihren Friedenswert behalten. Sollte aber das Publikum sich wirklich ab- lehnend gegen die Scheine verhalten, so bliebe nichts anderes übrig, als die Einlösungspflicht der Reichsbank zu suspendieren. Der Normal- bestand der Bank an Barmitteln ist gegenwärtig auf etwa 1200 Millionen anzunehmen. Dazu kämen die 120 Millionen aus dem Juliusturm, macht zusammen 1320 Millionen. Darauf können 3960 Millionen Mark Noten ausgegeben werden, oder abzüglich des auf etwa 1 500 Millionen anzunehmenden gewöhnlichen Notenumlaufs 2460 Millionen Mark, und damit würde der sofortige Realbedarf schon gedeckt sein, da ja die etwa 2 s/4 Milliarden als Bedarf für die ersten sechs Wochen berechnet sind. Zudem besitzt die Reichsbank einen Durchschnittsvorrat von etwa 150 Millionen Golddevisen, wovon natürlich ein erheblicher Teil bei der Bank einkommen und als Notendeckung wird benutzt weiden können. Schließlich wird man, ebenso wie schon 1866 und 1870, Kriegslombard- Darlehnskassen gründen, mit deren Hilfe die Reichsbank einen Teil der bisherigen Lombard-Einreichungen von sich abwenden und dadurch auch ihren Goldbestand noch verstärken kann. Der Organisationsplan hierfür müßte allerdings vorher fertig sein. Endlich wird die Reichsbank durch vorübergehend vermehrte Ausgabe von Silbergeld, Gold aus dem Verkehr ziehen können, so daß man wohl sicher darauf rechnen kann, daß der Realbedarf des Staates ohne besondere Schwierigkeit glatt gedeckt wird. Die Frage nach unserer wirtschaftlichen Bereitschaft wird identisch sein mit der Frage, ob die Schuldner in der Lage sein werden, ihre Ver- bindlichkeiten zu erfüllen und die Gläubiger, die zur Aufrechterhaltung der Produktion erforderlichen Betriebsmittel weiter zur Verfügung zu stellen; beide Fragen vereinigen sich zu dem Problem, ob die Banken die Krisis überwinden können. Ausländische Finanzschriftsteller haben die Situation der deutschen Banken für recht schlecht angesehen. Diese Auffassung des Auslandes scheint nun im Widerspruch zu stehen zu der bekannten Reich- tumsvermehrung in Deutschland. Diese aber hat sich vorwiegend auf in- dustriellem Gebiete vollzogen, infolge der Industrialisierung Deutschlands haben auch die Banken einen stark industriellen Charakter angenommen, und das hat natürlich entsprechend auf die Liquidität ihrer Mittel gewirkt. Dennoch ist die Behauptung der ausländischen Schriftsteller, daß die ge- samten Aktiva der deutschen Banken in Spekulationswerten angelegt seien, falsch, und wir können auch bei den Banken auf eine ruhige Abwicklung der Geschäfte ohne wirtschaftlich ruinöse Folgen rechnen, wenn die Haltung der Bankkundschaft die Aufrechterhaltung des Giroüber- weisungssystems ermöglicht — d. h. es darf weder eine Zurückziehung der Guthaben, noch vor allen Dingen eine Einziehung der Forderungen ohne gleichzeitige Bezahlung der Schulden stattfinden. Zur Stärkung des 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Vertrauens werden im Kriegsfälle die Banken selbst dadurch beitragen können, daß sie unter Außerachtlassung ihrer sonstigen Konkurrenzrück- sichten dem Publikum gegenüber gewissermaßen wie eine Bank erscheinen, eventuell sogar ihre Überweisungen und Schecks gemeinschaftlich garan- tieren. Das durchgreifendste Mittel zur Stärkung des Vertrauens ist natürlich die Hebung der Liquidität und die Schaffung soviel barer Mittel, daß die ersten Tage eines Krieges spielend überwunden werden können. Von dem Versuch, auf gesetzgeberischem Wege die Banken zu erhöhter Liquidität anzuhalten, ist man im allgemeinen abgekommen. Direkt in den Geschäfts- betrieb eingreifend sind die in letzter Zeit viel diskutierten Vorschläge des Reichsbankpräsidenten Havenstein, die einmal auf das Halten größerer Barvorräte hinausgehen, andererseits aber anscheinend die Effekten- spekulation beschränken wollen. Da durch diese viel Geld festgelegt wird, könnte man ihre Einschränkung mit Freuden begrüßen. Es besteht auch die Notwendigkeit einer Beschränkung der übertriebenen Industrie- kredite, die aber nur schonend vorgenommen werden darf; ein Bestreben zu solcher Einschränkung ist auch schon bemerkbar. Wenn nun auch die Bilanzen der deutschen Banken unter ihren Werten verhältnismäßig viel industrielle Kredite aufweisen, besteht doch die Möglichkeit einer glatten Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten, wenn das Publikum die Ruhe bewahrt. Anderenfalls würde es natürlich notwendig sein, ein Mora- torium zu erlassen, d. h. von Staats wegen die Stundung sämtlicher For- derungen zu verfügen, um einer Verschleuderung von Werten zu sinnlosen Preisen vorzubeugen. Wenn nun die Reichsbank 2 x/2 Milliarden aufbringt, bleiben noch etwa 4 Milliarden im Laufe eines Jahres zu beschaffen. Hier wird man fragen müssen, ob es uns möglich sein wird, nach dem Beispiel Frankreichs, Englands, Rußlands und Japans in den letzten Kriegen lJ3 der Kriegskosten durch erhöhte Steuern und 2/3 durch Anleihen aufzu- bringen. Die Steuerstatistik ergibt, daß es Deutschland sehr wohl möglich sein würde, sich 1 bis 1 V2 Milliarden durch Kriegssteuern zu verschaffen. Bezüglich der Anleihe wären wir wohl ganz auf uns allein angewiesen. Aber nachdem die R.eichsfinanzreform uns die erforderliche Deckung für unsere Ausgaben gebracht hat, ohne daß eine wirtschaftlich destruktive Wirkung eingetreten wäre, sind unsere Verhältnisse derart konsolidiert, daß bei einigermaßen geschicktem Vorgehen der Regierung die Anleihe sich unterbringen lassen würde. Wenn die Kriegsanleihe von 1870/71 nur zum Teil gezeichnet wurde, so lag es daran, daß sie zu früh — noch während der ersten Unruhe — und zu einem verhältnismäßig zu hohen Kurse aufgelegt worden war, und ein weiterer Fehler dabei war die öffent- liche Subskription und die Ausschaltung der Mittelsmänner. Heute würden die Banken voraussichtlich fünf bis sechs Wochen nach Kriegsbeginn einen Teil der Anleihe übernehmen können; für das Gros aber würde man sich III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 15 in erster Linie an die Spekulation wenden müssen, die in friedlichen Zeiten bedeutungslos und als Drohne erscheinen mag, in kritischen Zeiten aber, wenn sie kapitalkräftig ist, sehr nützlich sein kann. Der Vortragende resümierte sich wie folgt: „Die Beschaffung des realen Kriegsbedarfs durch die Reichsbank wird voraussichtlich ohne besondere Schwierigkeiten vor sich gehen. Bei der Abwickelung der Geschäfte durch die Banken werden mancherlei Schwierigkeiten zu über- winden sein, wenn auch andererseits die Behauptung mancher ausländischer Finanzschriftsteller, daß die Überwindung einer Kriegskrisis auf finanziellem Gebiete eine Unmöglichkeit sei, keineswegs zutrifft. Wie bei jeder schwie- rigen Situation ist nun aber letzten Endes nicht allein die bloße materielle Stärke das Ausschlaggebende, sondern der Geist, der die Materie leitet und beherrscht. Daß dieser Geist in den Leitern unserer deutschen Bankwelt steckt, ist oft genug bewiesen worden. Aber nicht nur auf diese kommt es an, sondern sie sind dabei auf die Mitwirkung und das Vertrauen des Publikums angewiesen. Wenn bei diesem der stolze Satz unseres Bismarck, daß der Deutsche nichts Irdisches fürchtet, beim Geldpunkte aufhört und schwächlicher Skeptizismus und Pessimismus einreißt, so wird den Banken die Erfüllung ihrer Aufgabe möglicherweise unüberwindliche Schwierigkeiten machen. Nur wenn es den Banken möglich ist und bleibt, daß sich der finanzielle Aufmarsch mit derselben Ruhe und Größe voll- zieht wie der militärische, sind alle Voraussetzungen zum Siege gegeben, und wir werden dann in der Lage sein, den zu erhoffenden Sieg zu einem erfolgreichen zu gestalten. An der Diskussion beteiligten sich die Herren Geheimrat Schüler, Dr. Kurt von Eichhorn und Professor Dr. von Wenckstern. Sitzung vom 2 9. April 1912. Vortrag des Herrn Rechtsanwalt Justizrat Bielschowsky über das Thema: „Für und wider Parteibetrieb und Mündlichkeit als Grundlage des deutschen Zivilprozesses.“ Mit seinen positiven Reformvorschlägen beschränkte sich der Vortragende aus sachlichen Gründen auf das Verfahren bei den Landgerichten und Oberlandesgerichten, nachdem er eine Charakteristik der Ergebnisse der bezüglichen Beratungen des Deutschen Juristentages von 1902 und des Deutschen Anwaltstages von 1903 vorausgeschickt hatte. In der Haupt- sache kommen als prozeßverzögernde Momente fünf die Grundlage des Parteibetriebes bildende Vorschriften in Betracht, die folgendes sta- tuieren: Das Recht der Parteien, die Abänderung richterlicher Fristen, die Aufhebung eines Termins und das Ruhen des Verfahrens zu vereinbaren, die Vorschrift, daß ein Ausbleiben beider Parteien als Ruhen des Verfahrens 16 Jahresbericht äer Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. gilt, und das Recht der Partei, bei Säumnis des anderen die Vertagung zu beantragen. Man hat nun den radikalen Vorschlag gemacht, an Stelle des Partei- betriebes den Amtsbetrieb, an Stelle des Bestimmungsrechtes der Par- teien, wann sie den Prozeßstoff Vorbringen wollen, die Eventualmaxime einzuführen, d. h. den Grundsatz, daß alle Klagegründe, Einreden usw. bis zu einem bestimmten Punkte des Verfahrens vorgebracht werden müssen, widrigenfalls sie ausgeschlossen bleiben. Aber das beides galt schon früher einmal und wurde dann ein überwundener Standpunkt. Auch beim Offizial- betriebe kamen Verschleppungen vor, und die Eventualmaxime ist die Feindin jeder Wahrheit und macht das Verfahren, das ein schriftliches sein muß, sehr schwerfällig, weil dann alsbald alle nur erdenklichen Gründe oder Einwendungen vorgebracht werden. Der Vortragende verwarf auch vermittelnde Vorschläge, die gemacht worden sind, und entwickelte schließlich die folgenden: Der Parteibetrieb, der heute Befugnis ist, müßte zur Pflicht umgestaltet werden. Damit würden schon alle die Termine wegfallen, die heute anberaumt werden, obwohl man genau weiß, daß es zur Verhandlung noch nicht kommen kann. Die Aufrechterhaltung der Befugnis, daß die Partei zum Termin laden kann, auch wenn die Sache noch nicht genügend vorbereitet ist, erscheint entbehrlich. Auf die Klage wird Termin anberaumt, auf die Berufung ebenfalls. Bis zu diesem Vor- termin muß bei Gericht eine schriftliche Anzeige der Parteien eingehen, binnen welcher Frist in erster Instanz die Klagebeantwortung, in zweiter die Berufungsrechtfertigung da sein wird. Kommt es nicht zur Einigung darüber, dann muß der Vorsizende nach Anhörung der Parteien die Fristen bestimmen. Geht ein Schriftsatz ein, so muß der Gegner sich binnen bestimmter Frist erklären, ob er eine Erwiderung zustellen will, und für eine solche Erwiderung muß abermals eine Frist vereinbart, andern- falls vom Vorsitzenden bestimmt werden. Weitere Schriftsätze werden ebenso behandelt, und nach beendetem Schriftwechsel findet der Termin eine vorbereitete Sache. Wenn die Parteien später noch Neues Vorbringen wollen, so müßte das mit einem Kostennachteil für sie verbunden sein. Weiter müßte man die Vorschrift beseitigen, wonach ein neues Vorbringen mindestens eine Woche vor dem Termin angezeigt sein muß. Diese Frist ist oft zu kurz, oft zu lang. Auch die Gegenpartei, die sich auf ein neues Vorbringen trotz der Voranzeige nicht prompt erklärt, müßte mit einer Gebühr belegt werden. Das Ruhen des Prozesses auf Vereinbarung der Parteien kann man allerdings nicht einschränken, denn dem überein- stimmenden Wollen der streitenden Parteien müsse Folge gegeben werden; auch bestehe darin ein unentbehrliches Korrektiv gegen eine über- mäßige Besetzung der Terminsrolle. Der letzte Grund aller Verzögerungen aber liegt darin, daß in unserem, auf dem Prinzip der Mündlichkeit be- ruhenden Verfahren reichlich ebensoviel geschrieben wird, als in einem III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 17 schriftlichen Verfahren zu schreiben gewesen wäre. So lange hierin nicht Wandel geschaffen wird, dürfte die erwünschte Konzentration und Be- schleunigung des Verfahrens undurchführbar sein. An der Diskussion beteiligten sich die Herren Senatspräsident Klöer, Geheimrat Feige, Oberlandesgerichtspräsident Dr. Vierhaus, Justizrat Dr. Heilberg und Justizrat Lemberg. Sitzung vom 20. Mai 1912. Vortrag des Herrn Professor Dr. Klingmüller über ,, Gesamtschuld Verhältnisse und die Rechtsprechung des Reichsgerichts.“ Wenn an einem Rechtsverhältnis mehr als zwei Personen beteiligt — so führte der Vortragende aus — so treten sofort Verwickelungen ein, die wir mit unserem begrifflichen Denken nicht so leicht zu lösen imstande sind; die Materie ist schwierig und noch sehr streitig. Die Rechtslehrer Keller und Rippentrop haben die alte Unterscheidung zwischen Korreal- und Solidarschulden in folgender Weise formuliert: eine Korrealobli- gation — die gemeinsame Verpflichtung mehrerer z. B. für dieselbe Dar- lehnsschuld — ist nur eine einheitliche Obligation, aber mit einer Mehrheit von subjektiven Beziehungen; eine Korrealobligation — die z. B. aus einem gemeinsamen Delikt entsteht, bei dem die Täter für den Schaden solidarisch haftbar sind — ist eine Mehrheit ganz selbständiger Obliga- tionen, nur durch die Identität der Leistung verbunden. Der Vortragende erklärte diese Unterscheidung für einen gezwungenen schematischen Dua- lismus. Das Bürgerliche Gesetzbuch habe den Gegensatz zwischen Korreal- und Solidarschulden einfach totgeschwiegen, aber damit sei die Frage nicht aus der Welt geschafft. Vor allem sei jetzt ein neuer Gegensatz in die Lehre von den Gesamtschuldverhältnissen hineingetragen worden: den Gegensatz zwischen echten und unechten Gesamtschulden. In ein- gehender Darlegung entwickelte der Vortragende seine eigenen Theorien vom Charakter dieser beiden Kategorien von Schuldverhältnissen. Als echte Gesamtschuldverhältnisse bezeichnet er eine Mehrheit von einzelnen Schuldverhältnissen, welche durch die Identität des Leistungsgegen- standes und durch die Identität des obligatorischen Zweckes mit einander verbunden sind; unecht nennt er die, bei denen trotz Identität des Leistungsgegenstandes eine subjektive Zweckgemeinschaft zwischen den mehreren Schuldnern nicht gegeben ist. Auf Grund dieser Begriffs- bestimmungen erörterte der Vortragende sodann die Anwendbarkeit der auf die Gesamtschuldverhältnisse bezüglichen Bestimmungen des Bürger- lichen Gesetzbuches auf die echten und unechten Gesamtschuldverhältnisse, wobei er gegen eine den § 421 B. G. B. betreffende Entscheidung des Reichsgerichts Stellung nahm. 1912. 2 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. An der Diskussion beteiligten sich die Herren Professor Dr. Schott, Amtsgerichtsrat Dr. Neumann und Geh. Justizrat Professor Dr. Leon- hard. Sitzung vom 21. Mai 1912. Vortrag des Herrn Syndikus Dr. Freymark über „Die Oder in ihrer gegenwärtigen und künftigen Bedeutung für das Wirtschaftsleben Schlesiens“. Der Vortragende streifte zuerst allgemein die Bedeutung der Wasser- straßen als der billigsten Transportwege für Massengüter und zeigte, wie wichtig die Oderwasserstraße für das hochentwickelte gewerbliche Leben Schlesiens ist, und das daher in allen seinen Zweigen das größte Interesse an der Leistungsfähigkeit der Oder und der dadurch bedingten billigen Güterfrachten haben muß. Besonders betonte er, daß der Industrie, der Landwirtschaft und dem Handel dieser Wasserweg zugute kommt, und daß durch ihn weite Kreise ihre Beschäftigung erhalten. Die Hauptgüter im Talverkehr sind Kohle, Eisen, Zink, Zucker und Mühlenprodukte, im Berg- verkehr Eisenerz und Düngemittel. Der erheblich größere ist der Tal- verkehr. Von den beiden Wegen des Oderverkehrs steht für den Tal- verkehr der nach Berlin und Hamburg an erster Stelle, während im Bergverkehr der von Stettin wegen der großen Erztransporte den Vor- zug hat. Der Redner führte nun aus, wie nach der im Jahre 1874 erfolgten Einsetzung der Oderstrombaudirektion die Regulierung der Oder von Breslau bis Fürstenberg vorgenommen und wie in den neunziger Jahren von Fürstenberg ausgehend der Oder — Spree- Kanal gebaut wurde und durch beide Maßnahmen der Verkehr von 400-Tons-Kähnen von Breslau bis Berlin ermöglicht wurde, und wie dann durch die Anlegung von 12 Staustufen auf der oberen Oder und den Bau des Breslauer Um- gehungskanals die Möglichkeit geschaffen wurde, mit diesen Kähnen schon von Cosel aus die Fahrt nach Berlin anzutreten, allerdings nur in einem Teile der Schiffahrtsperiode mit voller Ladung. Inzwischen sind an den 12 Staustufen der oberen Oder neben den kleinen Schleusen große Schleppzugschleusen errichtet, und die Kanalisierung der Oder von Neißemündung bis Breslau mit 8 Staustufen, die sämtlich mit großen Schleusen ausgestattet sind, geht ihrer Vollendung entgegen. Er wies dann weiter auf den bevorstehenden Bau des zweiten Großschiffahrts- weges bei Breslau und die vom Minister angekündigte Durch- regulierung der Oder von Breslau bis Fürstenberg sowie die eben- falls in Aussicht gestellte Anlage von Zuschußwasserbecken an Nebenflüssen der Oder hin. Alle diese Maßnahmen sollen es ermöglichen, mit voller Ladung zu fahren; um einen derartig hohen Wasserstand das III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 19 ganze Jahr hindurch zu erreichen, meinte der Redner, werde es aber erforderlich sein, mehr Staubecken anzulegen. Trotzdem werde die Oder- straße hinter den anderen Strömen zurückstehen, denn auf der Elbe ver- kehren Kähne von 1000 Tonnen und auf dem Rhein von 4000 Tonnen. Im Anschluß daran streifte der Redner die Frage der Benutzung des 600-Tonnen-Kahns auf der Oder, für den auf der Oder selbst durch die neuen großen Schleusen der Weg geebnet sein würde. Ein Hindernis finde er leider in den kleinen Schleusen des Oder-Spree-Kanals, für die größere Abmessungen durchzusetzen bisher nicht möglich gewesen sei. Er betonte, um wie viel wirtschaftlicher die Verwendung des 600-Tonnen- Kahns für die Oderschiffahrt sein würde, schon wegen der damit ermöglichten Freizügigkeit des Kahnparks der verschiedenen Stromgebiete. Schließlich erörterte der Vortragende noch den vergeblich gewesenen Kampf gegen die Erhebung von Befahrungsabgaben auf freien Strömen. Auf der Oder würden sie nicht vor der etwa 10 Jahre erfordernden Regulierung zur Einführung kommen, von ihrer Höhe würde es abhängen, ob sie die Vorteile der Regulierung nicht wieder zunichte machen. Auch die Einwirkung der Eisenbahntarife auf den Wasserverkehr behandelte er und erkärt sich dabei mit der jetzt befolgten Tarifpolitik nicht einverstanden. Er wünscht, daß die Eisenbahn durch niedrige Umschlagtarife den Wasser- verkehr unterstützt und nicht durch billige Tarife nach den Zielstationen der Schiffahrt den Verkehr an sich ziehe. An der Diskussion beteiligten sich die Herren Reedereidirektor Rischowski und Regierungsrat Dr. Meyer. Sitzung vom 10. Juni 1912. Vortrag des Herrn Professor Dr. Heilborn über das Thema „Sind die deutschen Kolonien Inland oder Ausland?“ Der Vortragende erörterte das Rechtsverhältnis der Kolonien zum Reiche, für das man zeitig das Schlagwort hatte: Die Kolonie ist völker- rechtlich Inland, staatsrechtlich Ausland. Zweifellos, so führte er aus, sind die Kolonien völkerrechtlich Inland, d. h. im Verhältnis des Reiches zu fremden Staaten nehmen sie dieselbe Stellung ein wie irgend ein Teil des europäischen Reichsgebietes, für die staats- rechtlichen Verhältnisse der Kolonien aber kommt in Betracht, daß mit ihnen nicht wie sonst bei Annektionen verfahren wurde, wo sich dem völkerrechtlichen Erwerbsakt drei reichsgesetzliche Bestimmungen an- schlossen: 1. die förmliche Einverleibung der erworbenen Länder in das Reich, 2. die Anordnung einer Regierungsgewalt, 3. die Fest- setzung eines Termins für das Inkrafttreten der Reichsverfassung in dem neuen Gebiet. Von diesen drei Maßnahmen aber wurde bei der gesetzlichen Ordnung unserer Schutzgebiete nur die zweite getroffen, 20 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. ndem das Reich dem Kaiser die Ausübung der Schutzgewalt, d. h. die Ausübung der Staatsgewalt des Reiches, in den Schutzgebieten übertrug. Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, sein Verfassungs- und Verwaltungs- recht, gilt also nicht ohne weiteres auch in den Kolonien; nur soweit sie besonders eingeführt sind, finden einzelne Gesetze oder Gesetzes- aestimmungen Anwendung. Sofern diese Gesetze sonst zwischen In- und Ausland unterscheiden, werden die Schutzgebiete dem Auslande gleich oehandelt. Für Privat-, Straf- und Prozeßrecht läßt sich dagegen eine allgemeine Regel nicht aufstellen, sondern die Bedeutung der einzelnen Vorschrift entscheidet darüber, ob in ihrem Sinne die Kolonien als Inland ader Ausland zu behandeln sind. Auf diesen Rechtsgebieten, bei denen allgemein menschliche Lebensverhältnisse in Frage kommen, ist denn auch äine Gleichstellung der Landsleute in den Kolonien mit denen des Mutter- landes in weitem Umfange möglich und durchaus wünschenswert. Aber nur als Phantasiebild ist es möglich, daß die Kolonien auch an unserer Verfassung und unserem politischen Leben teilnehmen. Von einer wirk- lichen Geltung der Reichsverfassung in den Kolonien könnte doch nur die Rede sein, wenn die Schutzgebiete Abgeordnete in den Reichstag ent- sendeten, die dort bei der Gestaltung der Dinge im europäischen Deutschland mitzureden hätten, und daraus würde umgekehrt eine Er- weiterung der Zuständigkeit des Reichstags für die Kolonien folgen. Vor den Tatsachen des Lebens müssen solche Ideen weichen. Freilich plant man z. B. ein Greäter Britäin, einen über dem Vereinigten Königreiche und seinen Kolonien schwebenden Bundesstaat, doch soll dieser nur wenige gemein- same Angelegenheiten wahrnehmen und keineswegs die eigentümlichen Verfassungen beider Teile durch eine einheitliche Reichsverfassung ersetzen. In Japan und in Frankreich herrscht dagegen das Assimilationsprinzip, das auf allmähliche Verschmelzung der Kolonien mit dem Mutterlande gerichtet ist. So entsteht schließlich die Frage: Was ist eine Kolonie im Rechts- sinne des Wortes, und welchen Wert hat die Aufrechterhaltung einer eigentümlichen Kolonialverfassung? Der Vortragende definierte die Kolonie als das einem Staate gehörige, von ihm abhängige und mehr oder minder beherrschte, aber nicht seiner, sondern einer eigentümlichen Rechtsordnung unterstehende Gebiet. Das Recht des Mutterlandes gilt hier nicht grundsätzlich, sondern ausnahmsweise, und der Geltungsgrund ist ein anderer. Ein neues Straf- gesetzbuch z. B. wird im europäischen Reichsgebiet auf Grund der der Reichsverfassung entsprechenden kaiserlichen Verkündigung in Kraft treten, in den Kolonien hingegen automatisch nach § 3 des Schutzgebietsgesetzes in Verbindung mit § 19 des Konsulargerichtsbarkeitsgesetzes, also kraft eines Spezialgesetzes. Übergänge kommen selbstverständlich vor; das französische Assimilationsprinzip sucht sie zu schaffen, um Separations- gelüsten vorzubeugen. In Deutschland ist eine Verwischung des Gegen- III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 21 satzes zwischen Mutterland und Kolonien vor der Hand ausgeschlossen angesichts der Unfertigkeit der Entwickelung unserer Kolonien, der Ver- schiedenheit der wirtschaftlichen Interessen und Verhältnisse und des Gegensatzes in der Bevölkerung. Nach dem Statistischen Jahrbuch für 191 1 stehen in unseren sämtlichen Kolonien einer weißen Bevölkerung von rund 24-000 Köpfen 13 920 000 Farbige gegenüber. Von einer territorialen Geltung unserer bürgerlichen und Strafgesetze in den Schutzgebieten kann man also nicht reden; für die überwiegende Mehrzahl der Bewohner gelten sie nicht. Genau gesprochen gibt es dort Bürger und Untertanen ohne Bürgerrecht, ein Element, das unsere heimische Rechtsordnung nicht kennt. Diese setzt ein einheitliches Staatsvolk voraus. Eine Aus- dehnung des öffentlichen Rechts auf die Kolonien würde entweder den Interessen der Farbigen nicht gerecht werden oder ihnen Rechte gewähren, für die sie in keiner Weise reif sind. Unsere Landsleute in den Kolonien müssen wir selbstverständlich mit deutschem Rechte begaben. Trotzdem kann das Ziel nicht Rechtseinheit, sondern nur Rechtsgleichheit sein, und auch diese nur bis zu einem gewissen Grade. Auf die deutschen Rechtsgedanken kommt es an. Eine vorwärts schreitende Kolonie fühlt sich dem Mutterlande gegenüber sehr bald als ein besonderes Indi- viduum mit eigenen, von denen des Mutterlandes abweichenden Interessen, denn das koloniale Leben bringt ein eigenartiges, selbstbewußtes und selb- ständiges Volk hervor, und dazu kommen die abweichenden ökonomischen Grundlagen und die räumliche Entfernung. Eine Kolonie muß deshalb anders regiert werden als die Heimat. Die Kolonie ist ein Kind, das groß und selbständig werden, aber trotzdem in Gemeinschaft mit der Mutter bleiben soll. Selbständigkeit bei Aufrechterhaltung der Gemein- schaft, das ist das Problem. Sicherlich müssen dem deutschen Ansiedler in den Kolonien die unserer Kultur, unserem Rechtsgefühl und Heimat- recht entsprechenden Garantien individueller und staatsbürgerlicher Freiheit über kurz oder lang gewährt werden. Aber nicht durch Er- streckung der Reichsverfassung und der sie ergänzenden Gesetze auf die Kolonien, sondern durch Schaffung einer besonderen Kolonialverfassung, vielleicht auch in militärischer Hinsicht. Auch der gegenwärtige Zustand prinzipieller Geltung automatischen Inkrafttretens des bürgerlichen Straf- und Prozeßrechts in den Schutzgebieten ist auf die Dauer schwerlich haltbar, denn es ist bedenklich, die verschiedenen Kulturverhältnisse z. B. mit demselben Strafgesetzbuch meistern zu wollen. — Eine einheitliche Beantwortung der das Thema bildenden Frage ist also unmöglich, während die Fassung vieler Gesetzesbestimmungen immer wieder zu ihrer Aufwerfung nötigt. Wie bei der Seemannsordnung und bei der Reichsversiche- rungsordnung muß der Gesetzgeber bei jedem neuen Gesetze die Wirkung auf die Schutzgebiete ins Auge fassen und regeln. Jedenfalls aber müssen unsere Kolonien, so eng sie auch mit der Heimat verwachsen sollen, doch 22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur auf dem Gebiete des Rechts — - wie auf anderen Gebieten — ihre Eigenart haben und bewahren. Eine Diskussion fand nicht statt. Sitzung vom 25. Juni 19 12. Vortrag des Herrn Professor Dr. Herbert Meyer über „Die rechtshistorische Bedeutung der Rolandbilder in den deutschen Städten.“ Über das Rolandsproblem ist schon viel gestritten worden: der Vor- tragende hat in Gemeinschaft mit seinem Kollegen Prof. Dr. Rauch, der kürzlich von hier nach Jena ging, diesen Gegenstand eingehend erforscht, wobei eine Reihe tüchtiger Studierender, mit denen die einschlägigen Fragen im Seminar behandelt wurden, Anregungen und gesammeltes Material beisteuerte. Danach haben die Rolandsstatuen, von denen die in Bremen und Halle die bekanntesten sein dürften, im Laufe der Zeiten verschiedene Deutungen erfahren. In früheren Jahrhunderten galten sie als Darstellungen des bekannten Paladins Karls des Großen und wurden als Symbole der Reichsfreiheit der betreffenden Städte betrachtet. Spätere Auffassungen bezeichnen sie als Kaiserbilder, als Richterbilder, als Bilder Königs Ottos des Zweiten, als Marktfreiheitszeichen, und auch — da ein Teil der Rolandssäulen aus Holz ist, und die jetzigen Steinsäulen meist hölzerne Vorläufer hatten — als Reste und Modifikationen mittelalterlicher Spielfiguren, wie man sie zu dem sogenannten Rolandsspiel gebraucht hatte. Die vom Vortragenden und seinen Mitarbeitern vorgenommenen Untersuchungen weisen in ihren Ergebnissen mit aller Bestimmtheit darauf hin, daß die Rolandssäulen Zeichen der Gerichtsbarkeit sind. Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie auf dem Markte, am Rathause oder sonst einer Gerichtsstätte stehen. Alle Rolande, bis auf wenige Barockfiguren tragen ein Schwert ohne Scheide und Schwertgehänge, es ist kein Ritter- schwert, sondern ein Richterschwert, wie es der Richter als Abzeichen der ihm vom Könige verliehenen hohen Banngewalt, der Blutsgewalt führte und mit dem er bei Eröffnung des Things den Königsfrieden verkündete. Aus den Bäumen, unter denen einstmals die Gerichte tagten, wurden späterhin Säulen, die man monumental gestaltete, und an denen man das Schwert anbrachte, das einst auf den Richtertisch gelegt oder an den Baum gehängt worden war. Der Name Roland aber stammt nicht von Kaiser Karls Paladin, sondern ist aller Wahrscheinlichkeit nach daraus entstanden, daß die rote Farbe die Gerichtsstätte symbolisierte und diese also „rotes Land“ war. Vielfach findet sich auch die Bezeichnung „Roland“ für die Gerichtsstätte selbst vor. Zum Schlüsse erklärte der Vortragendees auch für rechtshistorisch berechtigt, daß man in neuerer Zeit Bismarckdenkmäler als Rolandsäulen gestalte, denn Bismarck sei es III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 23 gewesen, der dem Deutschen Reiche mit Blut und Eisen den Frieden gewahrt habe. — Eine Diskussion fand nicht statt. Sitzungen vom 15. und 2 2. November 1912. (Gemeinsam mit der Medizinischen Sektion.) Vortrag des Herrn Geheimrat Professor Dr. Julius Wolf über das Thema „Der Geburtenrückgang und seine Bekämpfung“. Seit einiger Zeit ist die öffentliche Meinung Deutschlands beunruhigt durch das Sinken der Geburtenziffer, das vor etwa 30 Jahren eingesetzt hat und in dieser Weise in der Zeit vorher unbekannt war. Der relative Rückgang seit Ende der 70er Jahre beträgt durchschnittlich 25 Proz.; an einzelnen Orten ist er auf 75 Proz. gestiegen. Die Wahrscheinlichkeit spricht auch für ein weiteres Zurückgehen der Geburten, weil unser Volk immer mehr ein Stadtvolk wird und gerade die Städte den stärksten Rück- gang zeigen, vor allem die Großstädte. In Berlin z. B. ist in den Jahren 1880 — 1910 die auf 10 000 Einwohner entfallende Geburtenzahl von rund 400 auf 215 zurückgegangen, in Breslau ist die Ziffer etwas günstiger und entspricht ungefähr dem Reichsdurchschnitt. Wir nähern uns darin immer mehr den französischen Verhältnissen. Dabei kann die Verminde- rung der Sterblichkeit durch die moderne Medizin und Hygiene aus natür- lichen Gründen auf die Dauer nicht soweit gehen, daß der Geburten- rückgang dadurch ausgeglichen würde. Die Ursachen sieht der Vor- tragende zum kleinen Teil in der physischen Degeneration, die das Stadtleben bewirkt, hauptsächlich aber in gewissen Erscheinungen unserer modernen Kultur: dem Neumalthusianismus, dem gewollten Zwei- und Einkindersystem. Die stärksten Geburtenziffern haben immer noch die griechisch-orthodoxen Länder, hauptsächlich Rußland, und in Deutsch- land die vorwiegend katholischen Gebiete; die katholische Kirche verbietet die Prävention und kontrolliert die Innehaltung des Verbotes durch die Beichte. Im Gegensatz dazu zeigen die Länder und Landesgebiete, die als atheistisch angesprochen werden müssen, das andere Extrem des stärksten Geburtenrückganges . Im Interesse der Wahrung unserer nationalen Existenz muß ver- sucht werden, einen weiteren Rückgang der Geburtenziffer möglichst auf- zuhalten. Der Vortragende sieht drei Wege dazu gegeben: 1. Be- kämpfung des Rationalismus und Malthusianismus durch die Geistlichkeit und die Ärzte, strengeres Vorgehen von Verwaltung und Gesetzgebung gegen den in riesigem Umfange und mit großer Reklame betriebenen Handel mit Präventivmitteln. 2. Heiratsförderung durch steuerliche Begünstigung und Bevorzugung von Familienvätern im öffent- 24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. liehen und privaten Dienst. 3. Bekämpfung der Geschlechtskrank- heiten, die namentlich in den Großstädten grassieren und viel Unfrucht- barkeit verschulden. Das Hauptgewicht legt der Vortragende auf eine Umwandlung der gegenwärtig zu sehr von rationalistischen und egoistischen Theorien beeinflußten Anschauungen auf diesem Gebiete und deshalb richtete er besonders an die Ärzte einen Appell, in ihrer Eigenschaft als Berater der Familien in diesem Sinne tätig zu sein. An der Diskussion beteiligten sich die Herren Geh. Medizinalrat Pro- fessor Dr. Küstner, Geh. Medizinalrat Professor Dr. Partsch, Dr. med. Martin Chotzen, Geh. Medizinalrat Dr. Wolffberg, Privatdozent Dr. med. Oettinger, Sanitätsrat Dr. K ays e r, Sanitätsrat Dr. med. Carl Alexander, Primärarzt Dr. Asch, Oberlandesgerichtspräsident Dr. Vierhaus und Dr. Bondy. — Ein vollständiges Referat enthalten die Berichte der Medi- zinischen Sektion Teil I, S. 58 und Teil II, S. 119. Sitzung vom 2 5. November 1912. (Gemeinsam mit der Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hütten- wesen.) Vortrag des Herrn Berghauptmann Schmeisser über „Gewinnung und Austausch der wichtigeren mineralischen Bodenschätze bei den Völkern der Erde.“ Der Vortragende gab eine ausführliche Übersicht über die Verteilung und die Wichtigkeit der bergbaulich gewonnenen Stoffe, insbesondere Kohle, Eisenerz, Manganerz, Steinsalz, Kalisalz, Kainit, Gold, Silber, Kupfer, Dia- mant, Zinn und Erdöl. Aus dem außerordentlich reichen statistischen Material, das dem Vortrage zugrunde lag, ging u. a. deutlich hervor, wie Deutschland vermöge seiner reichen Bodenschätze und seiner regen In- dustrie England vielfach in der Ausbeutung und Verarbeitung der Mine- ralien weit überflügelt hat; insbesondere in der Eisenproduktion, in Stein- und Kalisalzen nimmt Deutschland eine unbestrittene Führung vor allen Ländern ein und wird sie aller Voraussicht nach für immer behaupten. Die Amerikaner versuchen vergebens, der deutschen Kaliindustrie durch künstliche Düngemittel, hergestellt aus Meerespflanzen, Abbruch zu tun. Bei der Kohlenerzeugung wies der Redner u. a. auf die schier unerschöpf- lichen oberschlesischen Fundgruben hin, wie darauf, daß Deutschland in Europa das kohlenreichste Land ist. Auch die Mineralschätze unserer Kolonien, worüber Berghauptmann Schmeisser seinerzeit in der Schlesischen Zeitung ein umfassendes Bild gegeben hatte, wurden eingehend gewürdigt, insbesondere die Diamantenausbeute in Südwestafrika, die sich nach neuer- lichen Feststellungen als recht .ergiebig herausgestellt hat. Hinsichtlich der Förderung des Goldes, das auf dem Weltmärkte einen konstanten Wert hat, sprach der Redner die Ansicht aus, daß die Ausbeute auch III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 25 weiterhin, wie bisher, steigen werde. Es sei nicht unmöglich, daß infolge neuer rationeller Methoden sich die Gewinnung des Goldes auch dort lohne, wo es bisher nicht der Fall gewesen sei. Von besonders aktuellem Inter- esse waren die Ausführungen über die Erdölgewinnung. Der Redner ging dabei auf den Trust der Standard-Oil-Compagnie näher ein und hob hervor, daß ihr bisher eine österreichische Industriegruppe und die hollän- dische Erdölindustrie, die über reiche Mittel verfüge, Stand gehalten habe. Die Österreicher sollen sich neuerdings hinsichtlich der Preise mit der amerikanischen Standard-Oil-Compagnie auseinandergesetzt haben. Im Jahre 1910 betrug die Gewinnung von Erdöl insgesamt 4 3 3/4 Millionen Tonnen, davon entfielen auf die Vereinigten Staaten 28, auf Rußland 93/4, auf Österreich 1 3/4, auf Rumänien lJ/4 Millionen, auf Deutschland 145 000 Tonnen. Der Vortragende sprach die Ansicht aus, daß Deutschland das jetzt vom Staate aufgestellte Monopol des Vertriebes des Erdöles mit Hilfe von Österreich und Rumänien durchführen, also die amerikanische Industrie ganz ausschalten könne. Schwierig könne es allerdings während eines Krieges werden, wenn der Seeweg von Rumänien versperrt wäre. Darin müßte die Industrie helfen, indem die Raffinerien hauptsächlich Heizöl hersteilen. Im Anschluß an den Vortrag über die Mineralschätze ver- breitete sich Berghauptmann Schmeisser noch eingehend über die Gründe, infolge denen wir England industriell überflügelt haben. Eine Diskussion fand nicht statt. Der Vortrag gelangt im Bericht der Sektion für Geologie S 108 zum Abdruck. Sitzung vom 2. Dezember 1912. I. Die bisherigen Sekretäre (die Herren Oberlandesgerichtspräsident Dr. Vierhaus, Geh. Justizrat Professor Dr. Leonhard und Geh. Regie- rungsrat Professor Dr. Julius Wolf) wurden wiedergewählt und nahmen die Wahl an. Zu den Delegierten in das Präsidium wurden gewählt die gewählten drei Sekretäre und Herr Mathematiker Dr. Wagner. II. Vortrag des Herrn Justizrat Dr. Bitta über „Parlamentarismus und wirtschaftliche Gegensätze, unter Berücksichtigung des neuen Wassergesetzentwurfes.“ Der Vortragende erwähnte zunächst die Angriffe gegen den heutigen Parlamentarismus, welche dahin gingen, daß bei dem bekannten Fraktions- und Parteienhader keine ernste Arbeit geleistet werde, und das Wenige, was zustande komme, nichts als schwächliche Kompromisse seien. Es würden deshalb vielfach Interessentenvertreter statt der gegen- wärtigen Parteivertreter als Mitglieder des Parlaments in Vorschlag gebracht, es sei jedoch sehr zweifelhaft, ob hierdurch die Verhältnisse gebessert werden würden. Auch jetzt schon trete das Bestreben zutage, den Kandi- 1912. 3 26 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. daten auf die Wünsche einzelner Berufe oder Interessentengruppen zu verpflichten; so z. B. hätten bei den letzten Reichstagswahlen die ost- deutschen Handwerkskammern von den Kandidaten Ablehnung jeder irgend- wie gearteten Arbeitslosenversicherung sowie Ablehnung der Arbeitskammern in jeder Form verlangt, obgleich sich damit der Kandidat in einen unüber- brückbaren Gegensatz zu den Wünschen der industriellen Arbeiter gesetzt haben würde. Auch der preußische Städtetag habe in seiner letzten Düsseldorfer Tagung eine gleiche Einseitigkeit in der Vertretung seiner Interessen bezüglich des neuen Wassergesetzes bewiesen und sich deshalb lieber für das Scheitern des ganzen Wassergesetzes ausgesprochen, als von seinen angeblichen Rechten irgend etwas zum Wohle des Ganzen aufgeben wollen, denn es könne doch darüber kein Zweifel bestehen, daß gerade die Städte mit ihren umfangreichen und zum Teil wenig gut eingerichteten Kanalisationen viel zur Verschmutzung der Wasserläufe beigetragen haben. Auch der weitere Anspruch der Städte, die durch die bestehenden Wasser- leitungsanlagen hervorgerufenen umfangreichen Schäden auch weiterhin ohne Entschädigung zufügen zu dürfen, könne nicht wohl als der Billig- keit entsprechend betrachtet werden. Diese zähe Vertretung einseitiger Interessen beweise, daß bei einer parlamentarischen Vertretung der Berufs stände sich die Gegensätze nur verschärfen und zu einer ungerechtfertigten Majorisierung der Minder- heit führen würden. Dagegen beweisen gerade die Kommissionsverhand- lungen über das neue Wassergesetz, daß die Kommissionsmitglieder ohne jede Rücksicht auf die Parteiinteressen durchweg bestrebt gewesen seien, die widerstreitenden Interessen nach bestem Wissen und Gewissen auszu- gleichen. Die wichtigsten Beschlüsse seien einstimmig gefaßt worden. In der Öffentlichkeit sei viel die Rede von dem grundsätzlichen Gegen- sätze zwischen Landwirtschaft und Industrie. Ein solcher Gegensatz sei in der Kommission durchaus nicht in dieser Schärfe hervor- getreten, denn die Industrie ist zwar diejenige, welche ganz besonders die Wasserläufe verschmutzt, anderseits braucht sie aber auch reines Wasser zur Kesselspeisung sowie für einzelne Betriebe, z. B. Bleichereien und Papierfabriken. Ebenso braucht die Landwirtschaft zwar vorwiegend reines Wasser zum Tränken des Viehes und zur Wiesenberieselung, anderseits trägt sie aber auch ihrerseits zur Verschmutzung der Wasserläufe bei durch ihre Nebenbetriebe wie die Ziegeleien, Brennereien und Stärke- fabriken. Die Gegensätze zwischen Landwirtschaft und Industrie seien hiernach nicht in den Betrieben selbst begründet, sondern hätten sich historisch entwickelt. Die bestehende Wassergesetzgebung datiere nämlich aus einer Zeit, in welcher die Industrie noch von so geringer Bedeutung gewesen sei, daß auf sie keine besondere Rücksicht genommen wurde. Die damalige Gesetzgebung sei deshalb fast ausschließlich auf die Interessen der Landwirtschaft zugeschnitten, und es sei daher natürlich, daß nunmehr, III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 27 wo die Industrie mit Rücksicht auf ihre gestiegene Bedeutung den Anspruch erhebe, paritätisch behandelt zu werden, damit ein gewisser Eingrilf in die bisherigen Vorzugsrechte der Landwirtschaft verbunden sei. Solche Vorzugsrechte sind insbesondere das in dem Vorflutedikt von 1811 gegebene Zwangsrecht zur Erweiterung der bestehenden und Schaffung neuer Vorflut imlnteresse derLandeskultur, dessen Ausdehnung für andere Zwecke das Oberverwaltungsgericht bisher grundsätzlich abgelehnt habe. Diese Ausdehnung auf die Abwasser der Industrie sowie ländlicher und städtischer Ortschaften werde durch das neue Wassergesetz allgemein durchgeführt, was natürlich zum Teil den Widerspruch der beteiligten Grundbesitzer errege, wenn sich auch das Königliche Landes-Ökonomiekollegium schon 1906 mit dieser Ausdehnung einverstanden erklärt habe. Ein weiterer Gegensatz werde dadurch begründet, daß die Landwirtschaft naturgemäß das Grundeigentum zu stärken suche, während die Industrie ein entgegen- gesetztes Bestreben betätige. Dagegen seien bei den Beratungen über das Wassergesetz tiefgreifende Gegensätze zwischen dem Fiskus und den Staatsangehörigen im all- gemeinen hervorgetreten. So habe insbesondere der von dem Fiskus auf Grund seines bisherigen Regals beanspruchte Wasserzins einen viel um- strittenen Streitpunkt gebildet und schließlich zur Ablehnung dieses Wasser- zinses in dem § 54 geführt. Auch die vom Staate beanspruchte Zustän- digkeit der Minister in letzter Instanz für das neue Rechtsinstitut der Verleihung habe große Schwierigkeiten verursacht und schließlich zu dem Kompromiß geführt, daß über die Verleihung in erster Instanz der Bezirksausschuß und in zweiter Instanz das neue Landes-Wasseramt zu entscheiden habe, dem Staate dagegen im Interesse des öffentlichen Wohles, insbesondere der Schiffahrt, bei gewissen Wasserläufen erster Ordnung ein unbedingtes Vetorecht zustehe. Auch die Unterhaltungslast des Staates bei den Wasserläufen erster Ordnung habe einen bedeutsamen Streitpunkt gebildet und schließlich dahin geführt, daß dem Staate auch die Beseitigung von Schiffahrtsschäden, dem Anlieger dagegen die einfachen Einebnungs- und Berasungsarbeiten an den Ufergrundstücken auferlegt worden seien. Auch zwischen den Unternehmern — und zwar gleichgültig, ob landwirtschaftliche oder gewerbliche, und den Flußeigentümern bezw. der Allgemeinheit seien bedeutende Gegensätze hervorgetreten. Im Interesse besonders der kleinen Besitzer seien die polizeilichen Machtbefugnisse ver- mehrt, eine verschärfte zivilrechtliche Haftung bei unerlaubter Verunreini- gung der Wasserläufe eingeführt und die zur Durchführung der gesetzlichen Vorschriften vorgesehenen Strafbestimmungen erheblich verschärft worden. Auch bei dem neuen Institut der Verleihung, das im wesentlichen nur dort in Betracht komme, wo der erstrebte Vorteil den Nachteil erheblich übersteige, habe die Verunreinigung der Wasserläufe eine besondere Rolle gespielt, indem bei solcher die Verleihung in der Regel nur auf Zeit und 28 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. stets unter Vorbehalt erhöhter Anforderungen im Interesse der Reinhaltung erfolge. Auch bei der Genossenschaftsbildung seien noch Gegensätze hervorgetreten, da nach dem neuen Wassergesetz zu den zu bildenden Genossenschaften auch solche Unternehmer herangezogen werden können, welche den Wasserlauf verschmutzen oder von ihm Vorteile haben. Die Gegensätze zwischen dem Eigentümer und der Allgemeinheit treten besonders hervor bei der Gestaltung des Gemeingebrauchs, welcher ein klagbares Recht nicht gebe, vielmehr lediglich dem Schutze der Polizei anvertraut sei. Hierbei ist nach langem Streit das Eisläufen und das Kahn- fahren, soweit es bisher üblich war, dem Gemeingebrauch hinzugerechnet. Wie das neue Wassergesetz für die Benutzung der Wasserläufe die Wahrung des öffentlichen Wohles an die Spitze stelle, so führe es bezüglich der widerstreitenden privatrechtlichen Interessen den Grundsatz durch, daß, wo nicht besondere Rechte entgegenstehen, auch der privatwirtschaft- liche Vorteil dem entsprechenden Nachteil vorgehen müsse, soweit er ihn erheblich überwiege, allerdings gegen vollständige Entschädigung. Der Ausgleich widerstreitender Interessen habe nicht nur in den §§ 82 u. IT. eine in dieser Art einzig dastehende Behandlung erfahren, sondern habe auch bei den anderen Bestimmungen des Wassergesetzes zu wichtigen Kompromissen geführt, durch welche die widerstreitenden Interessen nach Möglichkeit ausgeglichen seien. Man möge das „schwächliche Kompromisse“ nennen, wenn man die Stärke darin sehe, die Schwächeren zu majorisieren. Die wahre Stärke liege aber gerade darin, die eigenen Interessen so weit zurückzustellen, daß die entgegenstehenden Interessen anderer daneben bestehen können. Der ganze Zweck der Rechtsordnung und Rechtsprechung bestehe ja wesentlich darin, das gesellschaftliche Zusammenleben zu er- möglichen und zu sichern, ein solcher billiger Ausgleich der widerstreiten- den Interessen würde aber durch Interessentenvertreter im Parlament sicherlich nicht erleichtert werden. Der Vortragende schloß hiernach mit dem Wunsche, daß der starke Geist der „schwächlichen“ Kompromisse auch fernerhin über unserer Gesetzgebung walten möge zum Wohle des Ganzen. An der Diskussion beteiligten sich die Herren Justizrat Dr. Ri emann, Geh. Regierungsrat Professor Dr. Wolf und Geh. Justizrat Professor Dr. Leonhard. ■oogfio- Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. ÜT'2' 90. Jahresberich t. 1912. c IV. Abteilung. a. Philologisch-archäologische Sektion. iJä) Sitzungen der philologisch- archäologischen Sektion im Jahre 1912. Sitzung am 25. November. Der Vorsitzende widmete dem Andenken des verstorbenen Sekretärs und Delegierten der Sektion Professor Dr. Skutsch Worte der Erinnerung. Hierauf fand die Neuwahl der Sekretäre und des Delegierten statt. Als Sekretäre wurden gewählt die Herren Geh. Regierungsrat Professor Dr. Foerster und Geh. Regierungsrat Provinzialschulrat Dr. Thalheim, letzterer wurde als Delegierter in das Präsidium gewählt. An die Wahl schloß sich eine Besprechung allgemeiner Sektionsangelegenheiten. In dem wissenschaftlichen Teile dieser Sitzung, welcher gemeinsam mit der philo-ophisch-psychologischen Sektion gehalten wurde, sprach Herr Professor Dr. Ziegler über: Die Descendenztheorie im Griechischen Altertum. Sitzung am 16. Dezember Herr Dr. Franz Heinevetter hielt einen Vortrag: Aus Eduard Schauberts Nachlaß. 1. Die Herkunft einiger Denkmäler der Sc haubertschen Sammlung. Als der Kgl. Ministerialrat Eduard Schaubert, über dessen Wirken in Griechenland und Bedeutung für die Archäologie schon an anderer Stelle1) gesprochen ist. im Jahre 1860 in Breslau starb, hinterließ er uns wohl eine reichhaltige Sammlung wertvoller Antiken, sowie eine große Anzahl Zeichnungen, Stadtpläne und Reiseberichte, aber die Kunde von der Herkunft der Denkmäler starb mit ihm. Wollen wir deren Heimat bestimmen, so müssen wir sie aus den Denkmälern selbst oder aus anderen Quellen schöpfen. Zunächst versprachen die Zeichnungen, die Schaubert während seines Aufenthaltes in Griechenl nd machte und von denen er viele (165 Blätter) 9 S. Rieh. Foerster: Ein deutscher Architekt im Lande der Hellenen. Ztschrft. „Schlesien1- Jhrg U, S. 139 ff. 1912. 1 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. mit Ortsangabe versah, Aufklärung zu geben. Leider jedoch ließen sich nur 3 Zeichnungen finden, welche noch nicht publizierte Stücke der Schaub ertschen Sammlung wiedergeben. Es ist also anzunehmen, daß Schaubert Antiken, die in seinem eigenen Besitz waren, nicht zeichnete, sodaß er die drei Ausnahmen erst erworben hat, nachdem er sie schon früher, als sie an anderem Orte waren, abgezeichnet hatte. Dies gilt aber nicht von den drei Zeichnungen, die Schaubert von der bekannten Äginetischen Vase mit „Herakles und der Hydra“ anfertigte. Diese Zeichnungen machte er wohl zur Fixierung der nur bei günstiger Be- leuchtung gut erkennbaren Darstellung, von der sich nur die eingeritzten Umrißlinien erhalten haben. Das erste der oben genannten drei Denk- mäler ist gezeichnet auf Blatt 15 der Mappe III1): ein Bruchstück einer bemalten, tönernen Sima, dessen Höhe 12 cm, Länge 12 1j2 cm beträgt. Das Blatt trägt von Schauberts Hand die Ortsangabe „Philadelphi“. Damit kann jedoch keine der uns bekannten Städte mit dem Namen Philadelphia gemeint sein, denn Schaubert ist weder nach Kleinasien noch nach Ägypten gekommen; es ist auch schwer glaublich, daß er aus einer dieser Städte Altertümer bekommen hätte. Man hat wohl eher an eine Örtlichkeit Philadelphi auf dem griechischen Festlande zu denken, wenn ich auch noch nicht in der Lage bin diese selbst zu bestimmen. Das Bruchstück zeigt eine sehr schöne Palmettenkomposition mit verschlungenen Bändern. Die Farben sind gelb auf braunschwarzem Unteigrunde, mit dunkelgelber Deckfarbe im Herzen der Palmetten. Das Ornament ist Umrissen und ausgespart; die Farbe des Deckfirnisses ist, besonders wenn man sie etwas anfeuchtet, ein Braun von hervorragend schöner Tönung. Das Material des Bruchstücks ist ein gelber, nicht gerade stark gebrannter Ton. Schauberts Zeichnung gibt uns das Stück in noch etwas besser erhaltenem Zustande, was leicht erklärlich ist bei den schädlichen Einflüssen, denen die Schaubertschen Antiken im Laufe von 80 Jahren ausgesetzt gewesen sind, zumal sie mehrmals ihren Aufenthaltsort gewechselt haben. Ein zweites von Schaubert gezeichnetes Stück ist ein „bemalter Dach- ziegel aus Theben“. (Mappe III, Blatt 34.) Das Bruchstück, dessen Höhe und Länge ca. 10 cm betragen, zeigt ein Palmettenornament, ab- wechselnd Palmette und Lotosblüte. Das Ornament ist ausgespart, der Firnis des Grundes dunkelbraun. Im Herzen der Palmette ist ziegelrote Deckfarbe aufgesetzt. Das Material des Ziegels ist ein scharf gebrannter rötlich-gelber Ton, dem dunkelrote Chamotte-Stückchen zum Magermachen zugesetzt sind. Die Dicke des Ziegels, sowie die sorgfältige Ausführung i) Die Schaubertschen Papiere sind von Ko epp in sieben Mappen geordnet, von denen Mappe I und II Pläne von Athen, sowie Aufrisse von einzelnen Bau- werken Athens und anderer Orte enthalten; die Mappen III, IV, VI und VII ent- halten Zeichnungen von zerstreuten Denkmälern. Mappe V enthält Briefe, Aus- grabungs- und Reiseberichte. IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. des Schmuckes lassen darauf schließen, daß dieses Bruchstück einem bedeutenden Bauwerke Thebens angehört haben muß. Die dritte Zeichnung, deren Gegenstand sich in der Sammlung der Schaubertschen Antiken befindet, ist Mappe IV, Blatt 3; ein Akroterion, nach Schauberts Beischrift aus Athen. Es ist ein billiges Fabrikat aus Ton*, der rote Grund ist mit weißem Ton überzogen. Der Schmuck be- steht aus der für solche Krönungen üblichen Palmette mit Wurzel- verzierungen. Die rechte untere Ecke ist abgebrochen. Quast bildet dieses Akroterion in seinem Werke „Das Erechtheion zu Athen II, Tafel XI, Fg. 1 ab, jedoch ohne die Beschädigung. Aus einer anderen Abbildung dieses Werkes (II, Tf. IX, 6, 7, 8.) können wir auch die Provenienz eines zweiten tönernen Akroterion, das sich unter den Schaubertschen Antiken befindet, erweisen. Quast a. a. 0. sagt in dem Text über dieses: „Stirnziegel aus gebrannter Erde, welcher zwischen dem Theater und dem Heilissos gefunden worden ist“. Daß Schaubert seine Zeichnungen über polychrome Architektur nicht herausgab, hat sicher nicht den Grund gehabt, den Fenger „Dorische Poly- chromie“ (Berlin 1886) S. 8 angibt, nämlich daß „weder Schaubert noch Hansen sich eine auf vergleichender Kritik beruhende Totalanschauung über die Dekoration der Tempel gebildet hätten.“ Vielmehr hatte Schaubert, wie aus seinen Briefen und Berichten hervorgeht, mit Reisen, Gipsabgüssen und Bauausführungen alle Hände voll zu tun; zweitens hatte sich die Publikation des Niketempels durch Roß, Schaubert und Hansen als ein schlechtes Geschäft erwiesen und drittens waren inzwischen viele inter- essante Stücke schon veröffentlicht. II. Im Jahre 1839 nämlich kam der Architekt Carl Poppe nach Griechen- land und lernte Schaubert kennen. Im Jahre 1845 gab er das Werk heraus: „Sammlung von Ornamenten und Fragmenten antiker Architectur, Sculptur, Mosaik und Toreutik, auf einer Reise durch Griechenland, Italien und Sicilien aufgenommen von Carl Poppe, Architecten, Berlin, bei G. Reimer, 1845“1). Eine Erwähnung Poppes in Schauberts Papieren ist nur in einem später hier zu veröffentlichenden Berichte über eine Reise durch Böotien i. J. 1840 zu finden, in dem er sagt, daß er „Freund Pope (sic!) mit seinem Engländer getroffen“ habe. Ludwig Roß schreibt „Archäologische Aufsätze I, S. 73“ über das Verhältnis Poppes zu Schaubert: „Ein zweites Heft2), die mut- maßlichen Reste der vorpersischen Propyläen und des alten Parthenon, *) Das Werk ist jetzt vergriffen. Ein Exemplar befindet sich in der Uni- versitätsbibliothek zu Halle, eines im Archäolog. Museum zu Breslau. 2) Unter dem l.Heft versteht Roß die oben genannte Niketempel-Publikation. 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. architektonische Fragmente anderer alter Bauten, polychrome Kapitale, bemalte Dach- und Stirnziegel aus gebrannter Erde und aus Marmor, Skulpturen, Bronzen, Vasenscherben usw. zusammenfassend, ist in den Zeichnungen und in den Handschriften liegen geblieben. Roß führt dann die Gründe hierfür auf und fährt fort: .. teils hatten mehrere Blätter den Reiz der Neuheit bereits dadurch verloren, daß ein bremischer Architekt, Herr Poppe, der in Athen bei mir gewohnt und dem meine Freunde und ich die bereits gezeichneten Blätter zur Erleichterung seiner Studien mit- geteilt hatten, die Abbildung mehrerer der polychromen Architekturstücke von der Akropolis in Athen herausgegeben batte, die zum Teil selbst in der Auffassung und in den Maßen genau mit den Zeichnungen der Herren Schaubert und Hansen zusammenfielen“. Was hier Roß sehr deutlich durchblicken läßt, soll im Folgenden bewiesen werden. Die zusammen- gehörigen Schaubertschen und Poppeschen Zeichnungen suchte zuerst Koepp heraus und spricht darüber in dem Aufsatz: „Heber Eduard Schauberts handschriftlichen Nachlaß“ im Archäolog. Anz, V, 1890, S. 129. Poppe gibt in dem Vorwort seines Werkes seine Blätter als eigenes Produkt aus und erwähnt Schaubert nur in seiner Besprechung des Erechtheions. Es kann jedoch kein Zufall sein, daß Poppe größtenteils dieselben Architekturfragmente veröffentlicht, die auch Schaubert gezeichnet hat; ferner, daß er sie in derselben Ansicht wiedergibt, und endlich, daß er an Farbresten und Profilen nie mehr, höchstens weniger gibt als Schaubert. Doch dieses wäre noch kein Beweis, daß Poppe ein Plagiator ist. Was ihn aber sehr verdächtig macht, ist der Umstand, daß er sich nicht scheute, die Denkmäler selbst unrichtig wiederzugeben; und zwar änderte er die Zeichnungen ganz, wie es ihm zu einer schönen, ab- gerundeten Publikation paßte. Teils vergrößerte oder verkleinerte er die ganze Zeichnung, manchmal nur einzelne Teile, teils ließ er Stücke des Denkmals fort, die auf dem Blatt keinen Platz mehr hatten, oder die nichts sonderlich bemerkenswertes boten. Beschädigungen gab er bei den meisten Denkmälern überhaupt nicht wieder. Daß wir uns bei Schauberts Zeichnungen ganz auf ihre Treue ver- lassen dürfen, ist schon oben gesagt. So wie die oben besprochenen Zeichnungen die Originale in einer bewundernswerten Feinheit und Genauig- keit, sowohl in den Größenverhältnissen, als auch im Zustande der Er- haltung resp. Zerstörung wiedergeben, so machen auch sämtliche anderen Zeichnungen Schauberts den Eindruck völliger Zuverlässigkeit1). Ihre i) Die Zuverlässigkeit läßt sich auch nachprüfen durch einen Vergleich mit Wiegands Abbildungen von bemalten Terrakotten: „Die arch. Porosarchitektur der Akropolis zu Athen“ S. 185, Abb. 194, 195, 196, 197 u. 199; die Zeichnungen Schauberts geben sämtlich andere, aber unzweifelhaft zu denselben Architektur- teilen gehörige Fragmente wieder. Die Größenangaben Wiegands stimmen mit Schauberts Zeichnungen aufs genaueste. IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. 5 peinliche Herstellungsweise geht aus einer Anzahl von Blättern, die den- selben Gegenstand darstellen, sehr deutlich hervor. Semper behauptete (Vier Elemente der Baukunst S. 33), daß diejenigen Zeichnungen, welche Schaubert in Berlin vorzeigte1), Kopien der seinigen und Gourys gewesen seien. Fenger (Dorische Polychromie S. 6) hält diese Angabe für wahr- scheinlich. Gegen diesen Vorwurf aber müssen wir Schaubert in Schutz nehmen: angesichts seiner Handzeichnungen bedarf es keiner weiteren Beweise für die Originalität seiner Arbeiten. Die Übereinstimmung mit den Zeichnungen Sempers und Gourys zeigt höchstens, daß auch diese beiden Künstler gut und genau kopiert haben. Betrachtet man dagegen Poppes Zeichnungen, so gewinnt man den Eindruck, als ob das gar nicht Wiedergaben von Fragmenten wären. Poppe kam es, wenigstens bei den Terrakotta-Fragmenten, nur auf die Ornamente an, die er nach den erhaltenen Resten rekonstruierte. Trotzdem nennt er sie in seinem Inhalts- Verzeichnis „Architectur-Fragmente“. Andrerseits gibt er die Marmor-Fragmente als solche wieder, begeht aber hierbei direkte Fälschungen, indem er bei einigen ganze Ecken, die keine Farbspuren enthielten, fortläßt und Phantasiebrüche konstruiert. Die übereinstimmenden Zeichnungen sind folgende: Poppe: Schaubert Poppe: Schaubert: Tf. IV 1 = Mappe III 30 Tf. XIV unten = Mappe III 22 * IV 2 = S III 31 * XVIII 1 = * III 28 = IV 3 = s III 27 * XVIII 2 = s III 21 = IV 5 = 5 III 26 = XVIII 3 = = III 25 = X oben = s III 24 = XVIII 4 = s III 14 = X unten = = III 23 = XVIII 5 = 5 III 2 * XIV oben = 5 III 26 * XVIII 6 = 5 III 29. Die vielen Ungenauigkeiten, die sich Poppe zu Schulden kommen ließ, einzeln aufzuführen, würde zu weit führen. Nur die gröbsten seien herausgegriffen. So zeichnet Poppe Tf. X (oben) einen sinnlosen Stern, der erst zu verstehen ist, wenn man Schauberts Zeichnung damit ver- gleicht: es sollen die Mähnenreste des einst über der Ausgußöffnung sitzenden Löwenkopfes sein2). Auf Tafel XVIII 1 gibt Poppe ein Fragment einer Marmorsima wieder und zwar mit genauen Farbresten. Nach Schauberts Zeichnung ist an diesem Fragment nur noch ein Stück der röhrenartigen Ausgußöffnung erhalten. Poppe rekonstruiert diese Ausgußöffnung, und zwar wahr- scheinlich nach einer anderen Zeichnung Schauberts (III 39). Ausführlicher muß über die Marmorsima gesprochen werden, die Schaubert III 13 und 14 und Poppe XVIII 4 wiedergeben. Es ist die !) Wahrscheinlich 1833. (Vgl. Museum hrsg. v. Dr. Kugler, 1833 S. 251: Nach- richten aus Griechenland nach mündlichen Nachrichten des Herrn Schaubert.) 2) Vgl. Wiegand, a. a. 0. Abbld. 199. 1912. 2 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. altertümliche Sima, die in einer ganzen Reihe von Werken abgebildet ist1). Schauberts farbige Zeichnung III 14, sowie diejenige Poppes zeigen jedoch die Farben des Ornamentes in anderer Anordnung, als die jetzt noch er- haltenen Bruchstücke der Sima sie aufweisen. Mit diesen stimmt dagegen die Farbangabe Schauberts auf dem Abklatsch III 13 überein. Koepp a. a. 0. glaubte aus der Verschiedenheit des Abklatsches und der ausgeführten Zeichnung vielleicht eine Unzuverlässigkeit Schaubertscher Arbeitsweise herleiten zu können, machte jedoch schon selbst auf die Unterschiede in den beiden Blättern aufmerksam. Der Abklatsch und die Zeichnung ge- hören nicht zu demselben Fragment, denn erstens sind die Bruchlinien ganz andere, und zweitens stimmt auch das Ornament nicht bei beiden überein, indem die untersten Palmettenblätter bei der Zeichnung auf dem Flechtband aufliegen, beim Abklatsch aber etwas abstehen. Die genaue Höhe beider Ornamente läßt vermuten, daß es sich um ein und dieselbe Sima handelt. Die Variierung kam daher, daß die Bruchstücke zwei verschiedenen Seiten der Sima angehörten. Diese Vermutung stellte Wiegand auf, der auch „Arch. Porosarchitektur der Akropolis zu Athen“ S. 67 Schauberts Zeichnung in Photographie wiedergibt. III. Im Kataloge des Breslauer Archäologischen Museums von A. Roßbach (S. 123) ist als Nr. 10 aufgeführt ,,ein unbekannter Gegenstand, rund, in der Mitte ein Loch mit verloschener Inschrift“. Der Gegenstand ist ca. 7 mm dick, hat einen Durchmesser von 35 mm und ein Gewicht von 57 gr. Das Loch hat einen Durchmesser von 4 mm. Das Material ist Blei, das jedoch mit einer gelblichen, steinfarbenen dicken Oxydschicht überzogen ist. Die „verloschene Inschrift“ sind 15 strahlenförmig aus- gehende erhöhte Striche. Auf der anderen Seite ist der Gegenstand mit 9 erhabenen herzförmigen Blättern geschmückt, deren Stengel in einen um das Mittelloch herumlaufenden Ring enden. Dieser Schmuck scheint Roßbach entgangen zu sein. Der Gegenstand stimmt in der Form mit manchen Spinnwirteln so genau überein, daß wir ihn als solchen an- sprechen dürfen. Bisher ist außer den unzähligen Tonwirteln nur eine Anzahl steinerne bekannt geworden, aber wohl noch kein Wirtel aus Metall. Durch Material also und reiche Verzierung steht dieser bleierne Wirtel wohl einzig da. Spuren von Benutzung sind nicht zu bemerken. !) Z. B.: Antike Denkmäler ITf. 50. F enger, Dorische Polychromie Tf. VI 1; Durm, Ztschr. f. Bauw. XXIX, 1879, Tf. 57. Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. (S'T' 90. Jahresbericht. 1912. IV. Abteilung. b. Orientalisch-sprachwissen- schaftliche Sektion. Fest- sitzungen der orientalisch-sprachwissenschaftlichen Sektion im Jahre 1912. Sitzung vom 14. November. Im Anschluß an eine Besprechung geschäftlicher Angelegenheiten der Sektion fand die Wahl der Sekretäre und des Delegierten für die Jahre 1913/14 statt. Als Sekretäre wurden die Herren Professor Dr. Schräder und Pro- fessor Dr. Meissner gewählt. Ersterer auch als Delegierter der Sektion in das Präsidium. 1912. Sitzungen der Sektion für neuere Philologie im Jahre 1912. Die Sektion hielt am 5. Dezember eine Sitzung ab, in welcher Herr Privatdozent Oberlehrer Dr. Hilka sprach über: Neue Beiträge zur Erzählungsliteratur des Mittelalters. Seit langem ist die Aufmerksamkeit der Forscher auf dem Gebiete der mittelalterlichen Erzählungskunst auf eine große Sammlung lat. Ge- schichten gelenkt worden, die in einer Hs. auf der Stadtbibliothek in Tours liegen, aber außer einigen kurzen Andeutungen und spärlichen Aus- zügen war es bisher nicht gelungen, über den Inhalt genauere Kunde zu bekommen, so daß das Ganze noch immer als ein Ineditum betrachtet werden muß. Nachdem ich an Ort und Stelle die Texte gelesen und durch die Vermittlung des Herrn H. Omont und der Pariser National- bibliothek, vor allem auch des liebenswürdigen Bibliothekars in Tours, Herrn Collon, eine Photographie wenigstens von der größeren Hälfte erworben habe, mögen die folgenden als Prolegomena zu einer baldigen Gesamtausgabe gedachten Mitteilungen dazu dienen, einen Einblick in die einzelnen Teile der Sammlung zu gewähren. Zu diesem Zwecke drucke ich einige Stücke ab, die ihrem Stoffe nach der mittelalterlichen Literaturgeschichte neue und erwünschte Parallelen zuführen dürften. Inzwischen hat ein glücklicher Fund mein Material dahin erweitert, daß ich dieselbe Sammlung in einer zweiten Hs. in Bern nachweisen und kopieren konnte, so daß die Hs. in Tours kein Unikum mehr darstellt und die Schwesterhs. in der Schweiz über die dortigen Lücken und sonstigen Mängel der Überlieferung uns vortrefflich hinweghilft. Die Hs. Tours 46 8 (früher als Nr. 178 in der Kathedralbibliothek des hl. Martin von Tours) zählt 194 Papierblätter, die mit einer nachlässigen Schrift des XV. Jhdts. bedeckt sind. Auf jeder Seite steht nur eine Kolumne, keinerlei Ausschmückung mit Ausnahme der sehr häufigen, aber einfach gehaltenen Initialen. Wie eine spätere Aufschrift auf dem Rücken des schlichten Pappeinbandes „Compilatio Singularis Exemplorum“ lehrt, besteht der Inhalt aus einer großen Zahl von Erzählungen für den Predigtgebrauch in der Form des meist zusammengedrängten Exemplum; es sind mehr rasch hingeworfene Skizzen beliebter und schon bekannter Stoffe als erstmalige Darstellungen aus dem Kreise der weiten Erzählungs- literatur: in bunter Reihe stehen da historische Anekdoten, Schwänke, selbst banale Scherze neben Legenden, Mirakeln, Fabeln und allerlei Motiven aus der erbaulichen wie heiteren Literatur Altfrankreichs. Vieles scheint aus den verschiedensten und oft zitierten Quellen zusammengetragen 1 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. zu sein, das Meiste darin jedoch ist völlig neu, zumal wo es sich um zeitgenössische und kulturgeschichtliche Stoffe handelt. Was nämlich den Reiz des Ganzen erhöht, ist die Anordnung der Erzählungen nach be- stimmten Standes- und Berufsgruppen, wie sie uns sonst in den Predigt- sammlungen eines Jacques de Vitry, Etienne de Bourbon oder in den späteren großen Kompendien wie Specqlum Exemplorum, Abundantia Exemplorum, Alphabetum Narrationum, Scala celi u. a. (vgl. jetzt Ward, Catalogue of Romances, vol. III by J. A. Herbert, London 1910) nirgends entgegentritt, in denen vorwiegend eine alphabetische Einreihung nach geist- lichen Stichworten angewandt wird. Den von ihm durchgeführten Plan resümiert der Kompilator am Schluß in seiner Ordinacio tractatus istius libri, die von dem trefflichen L.Delisle in seiner unten zitierten Studie abgedruckt und in den neuen Katalog der Tours-Hss. (Cat. gen. des mss., t. XXXVII, S. 220) übergegangen ist. Darnach haben wir 9 Teile: I. Marienmirakel — II. Epistole beati Ygnacii — III. miracula de Domini corpore — IV. exempla angelorum — V. exempla crucis transmarine, demnach Nachhall der Kreuzzüge — VI. u. VII. Gruppe der geistlichen Stände (VI. exempla de papis, de cardinalibus et legatis, de archiepiscopis, de episcopis, de archidiaconis, de presbiteris, de clericis, de examinatis, angeschlossen jedoch de philosophis, de ysopo et fabulis eius, de physicis,de aduocatis — VII. exempla de abbatibus, de monachis, de here- mitis, de nouiciis, de conuersis, de abbatissis, de monialibus, de beguinis). Weit interessanter sind im längsten VIII. Teile jene Geschichten über die weltliche und bürgerliche Gesellschaft, rund 410 an der Zahl, deren Text nunmehr in meinen Händen sich befindet: exempla de imperatoribus (4), de regibus (37), de comitibus (6), de militibus (31), de armigeris (9), de seruientibus (5), de iudicibus (5), de burgensibus (23), de ruralibus (12), de pueris (20), de executoribus (6), de cecis (9), de hystrionibus (32), de questuariis (4), de usurariis (25), de latronibus (19), de pugilibus (8), de fatuis (10), de hereticis (9), de diabolis (23), de iudeis (4), de paganis (13), de blasphematoribus (4), de periuriis (4), de excommunicatis (6); hierauf de reginis (3), de comitissis (3), de dominabus (11), de domicellis (10), de mulieribus (4), de mulieribus ignobilibus (31), de maquerellis (6), de carminatricibus et sortilegis (15). Zum Schluß kommen (IX.) lat.-franz. Sprichwörter, die lustigen und vielbeachteten Verse des Primaten (darunter das improvisierte Orlalientum, vgl.Ztschr. f. rom, Phil. XXXV [191 1], 638), Grabinschriften und allerlei Scherzverse. Zu Anfang des XVIII. Jhdts. hat Baluze einzelnes aus der Hs. abgeschrieben, doch haben diese auf der Bibi. Nat. liegenden Fragmente keinen Wert für uns. Erst 1868 widmete L. Delisle der Compilation einen gründlichen Excurs (Acad. des Inscriptions et Belles-Lettres, compte-rendu de la seance du 27 novembre, p. 395 — 405, auch Bibi, de l’Ecole des Chartes, XXIX e Annee, Paris 186S, p. 598 — 6071. 3 IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. Er gelangte dort zu folgenden Ergebnissen: 1. Die Kopie ist spät, doch datiert das Werk bestimmt aus der 2. Hälfte des XIII. Jhdts., weil König Ludwig noch ohne das Attribut des Heiligen auftritt (1297 erfolgte die Kanonisation) und zeitliche Ereignisse, wie ein Tournier in Meaux 1264 und ein Mirakel in Nogent-le-Rotrou 1267, erwähnt werden. Dies wird noch genauer nachzuprüfen sein. 2. Der Kompilator ist ein Dominikaner, der mit den Lokalitäten in der Touraine, im Maine und Anjou recht gut vertraut ist. Seitdem verrät eine eingehendere Kenntnis der Hs. nur noch gelegent- lich Lecoy de la Marche (Anecdotes historiques, legendes et apologues tires du recueil inedit d’Etienne de Bourbon, Paris 1877, p. 23. 64. 132. 134. 243. 283. 380. 388. 396) 1). Das Exempel vom Arzte wider Willen verwertete hieraus kürzlich C. Zipperling (Das altfranz. Fablel du Vilain Mire, Halle 1912, S. 17). Eine ganze Reihe von Geschichten sind in den letzten Teil, eine Schwänkesammlung, des Volksbuchs Mensa philosoph ica (ich zitiere nach dem Druck 1508) übergegangen, was bisher unbekannt geblieben ist. Nach L. Stiefel (Archiv f. d. Stud. d. neuer. Spr. u. Lit. 95, S. 62) hat erst A. Wesselski (Mönchslatein, Leipzig 1909, p. XLI sq.) Genaueres über die Mensa und besonders über den IV. Traktat darin sowie die Abfassungszeit (wohl Anfang des XIV. Jhdts.) ermittelt. Wenn dort neben Albertus Magnus und den Vitae patrum als Quellen auch eine Chronik der Dominikaner (fratrum predicatorum) genannt wird, so denken wir ohne weiteres an unsere Kompilation, die hierdurch einen terminus ante quem erhält. Die Hs. Bern, Univ. Bibi. 679, Pergament, in Duodez, zeigt auf 96 Blättern zu je 2 Kolumnen in einer Schrift vom Anfang des XV. Jhdts. (Katalog falsch: s. XIII — XIV) eine elegante Ausstattung mit abwechselnd roten und blauen Initialen und roten Überschriften. Leider ist der Anfang verloren gegangen und der Text setzt erst mitten in den Klerikerexempeln ein. Auf fol. 1 oben hat eine moderne Hand die Überschrift gesetzt: Liber Exemplorum cum fabulis Aesopi. Manches ist hier umge- stellt, so sind die Aesopfabeln ans Ende hinter einen fremden Sermo ge- rückt, auch die Abschnitte II und III der Hs. Tours stehen hier hinter IX. Der Text ist weitaus besser, vor allem auch vollständiger. Somit ist die Hs. Bern von der größten Bedeutung für die Textkritik. Beide Hss. gehen aber sicher auf eine ältere Vorlage zurück, und man braucht die Hoffnung nicht aufzugeben, daß noch andere Abschriften in den Hss. Sammlungen sich werden aufstöbern lassen. Zunächst ist dies nur möglich, wenn die Hss. Kataloge recht ausführlich angelegt werden. Diesem Vorzüge des Verzeichnisses allein bei Hagen (Cat. codd. Bernensium, Bern 1875, S. 500), 0 Auch, worauf mich Wesselski aufmerksam macht, in L’Esprit de nos al'eux, Paris s. d. (mir nicht zugänglich). 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. der die Reihenfolge der Exempla nach unseren Gruppen getreulich mit- geteilt hat, habe ich meine Entdeckung der Parallelhs. zu verdanken. Aus alledem ergibt sich die Notwendigkeit einer baldigen Gesamt- ausgabe unseres Werkes, das für die Literatur- wie Sittengeschichte des Mittelalters wichtig ist. Eine solche ist von mir für die ,, Sammlung mittel- lateinischer Texte“ (Heidelberg, Winter) in Aussicht genommen. Doch schien es geraten, schon jetzt in einigen Auszügen der Fachwelt zu zeigen, daß wir bei dem eigenartigen Charakter dieser Compilation auf manches Thema stoßen, das der Weltliteratur angehört und hier durch mündliche Überlieferung eine eigentümliche Form angenommen hat. Beim Abdrucke folgen wir der mittelalterlichen Schreibung, weniger der damaligen Zeichensetzung. Eigennamen sind mit großen Anfangs- buchstaben versehen worden. Der Wortlaut ist nach der Hs. Tours gestaltet und durch die Hs. Bern gebessert. Doch wurde auf die Mitteilung der Varianten für diesen Zweck verzichtet. In den Anmerkungen ist das wichtigste literargeschichtliche Material verwertet worden. I. (Exempla de regibus, nr. 27). Das schlaue Milclclieil. Rex Sabba nimis diligens vxorem audiuit in sompnis vocem clamantem: Symia dormit cum vxore tua. Veniens ad locum vbi erat vxor, cauit ne ibi essent symie. Iterum dormiens idem vocem audiuit. Et tune fecit interfici omnes symias in terra sua. Tercio similiter et quarto et sepissime illam vocem audiuit. Consuluit super hoc quendam militem sibi valde fidelem. Qui respondit: Si fraus est aliqua ex parte regine, per aliam mulierem melius inueniretur; et ego iam diu est uidi quandam puellam nobilem sapientissimam: si placet, ego ibo et eam adducam. Placet, ait dominus rex. At ille veniens cum magno apparatu quasi ad duas leucas illius castri in quo manebat puella inuenit turbam magnam militum et armigerorum, qui sociabant quendam qui ibat accipere in vxorem puellam predictam. Tune iste sociauit se aliis et cum illo sponso cepit loqui inquirens: Quantum est vsque ad castrum quo tendimus? Eciam dixit: Abreuiate nobis viam. Ac sponsus indignans et pro fatuo eum reputans respondit: Pulchra est via et hreuis, et quomodo possum eam abreuiare? Iterum dixit illis miles regis: Portate me aliquantulum de via ista et ego tantundem portabo uos. Tune sponsus se transtulit ad socios suos dicens: Ego inueni bonum fatuum: hoc et hoc dixit michi, uolo amplius audire ab ipso. Et rediens ad ipsum cepit laudare quandam culturam segetum pulchram et longam, et quesiuit miles regis cuius esset. Ille respondit: Talis militis. Tune quesiuit: Numquid iam collecta est? Qui respondit: Pro deo, uos uidetis eam adhuc in herba et multum est vsque ad messem. Tandem habuerunt obuiam quoddam funus vnius nobilis qui portabatur ad sepulchrum. Quesiuit miles a sponso: Numquid iste totus mortuus est? Tune ille, vt plures fatuitates ab illo extorqueret, quesiuit: Quo itis, vnde IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 5 estis? Miles respondit: Ego vado ad siluam illam quam videtis pro venacione cuiusdam cerue quam inueni bene sunt decem anni. At ille : Pro deo, ego et multi alii milites venamur ibi cotidie, et creditis illam ceruam inuenire? Tune reliquit eum pro fatuo et ad socios dixit veniens ad eos: Hic est fluuius paruus: transeamus eum currentes clausis oculis ita quod nullus querat vadum. Sic transierunt et multi ibi ceciderunt ita quod fere submersi fuissent, nisi vnus alium iuuaret. Tune miles regis cum suis ascendens ad superiorem partem fluminis precepit vni armigero quod uadum cum lancea temptaret, et sic sine periculo transierunt redeuntesque ad societatem inuenerunt eos desiccantes vestimenta sua. Et sponsus ei occurrens quesiuit: Qualiter transistis uos? Qui ait: Per pontem francineum. Tune magis fatuum reputauit eum sciens quod vsque ad duas leucas non esset pons super fluuium illum. Intrauerunt castrum, miles autem regis separauit se ab eis, intrans burgum in quo hospitatus est. Nunciatum est Castellano quod milites erant in burgo qui non venerant ad nupeias filie sue. Qui misit armigerum, rogans vt ascenderent. Et inuenit armiger illum militem cum pulchra societate pascentem auem suam. Qui rogauit eum ex parte castellani vt ascenderet, ac ille curialiter dicebat: Non possum ascendere; rogo vos, excusetis me. Et dedit ei auem quam pascebat pulcherrimam. Armiger rediens excusabat eum. Dixit autem sponsus Castellano: Pro deo, adhuc mittatis pro eo, quia optimus fatuus est. Qui misit militem vnum, apud quem sicut ante excusauit se et dedit vnum equum pulchrum. Tune castellanus ipse iuit et rogauit fortiter, immo exegit dicens: Ego prohibebo, ne aliquis vendat vobis cibos vel equis cibaria: ascendite ad nupeias filie mee vestra gracia. Tune ascendit cum eo, et fecit eum sedere in capite mense cum filia sua. Parum loquutus est et sapienter in mensa. Et circa finem mense, cum vino incalluerunt, sponsus nutibus et signis aliorum increpabatur, quia eum tenuerat pro fatuo. Tune sponsus: Immo vos audietis ab ipso. Et ait: Nonne dixistis michi quod abreuiarem uobis viam illam et quod portarem vos et vos me portaretis? Respondens miles regis dixit puelle: Ego rogo vos vt pro me respondeatis. Ac illa: Quando duo milites equitant et vnus narrat aliquod pulchrum exemplum, dicitur socium portare eum et viam abreuiare. Yere, dixit miles regis, hoc fuit intencio mea. Dixerunt omnes: Hic non est fatuus. Sponsus adiecit: Nonne dixisti michi de illa segete que adhuc est in herba, an iam collecta esset? Tune secundo rogauit puellam vt pro eo responderet. Ac illa: Quando aliquis miles prodigus multis debitis obligatus habet pulchras seget.es, quamuis adhuc sint in herba, dicuntur iam collecte. Tune sponsus: Obuiam habuimus quoddam funus (ille enim bonus miles ferebatur ad sepulturam): quesiuit a me vtrum esset totus mortuus. Herum rogauit miles puellam vt pro eo responderet. Que ait: Quando aliquis bonus moritur et bonum heredem reliquit, tune dicimus, pater: non est totus mortuus. Iterum sponsus: Dixit michi quod transierat 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. aquam illam per pontem francineum, et scitis quod nullus est ibi pons. Puella respondit: Forte cum lancea de francino temptauit uadum. Tune omnes audientes prudenciam puelle admirati sunt et militem a fatuitate recte excusabant. Tune sponsus indignatus ait: Ego oblitus eram fatui- tatem quam totus mundus non posset excusare: ipse dixit micki quod veniebat ad venandum hic quandam ceruam quam viderat in silua ista bene sunt iam decem anni elapsi. Tune miles regis ait puelle: Adhuc non respon- debitis, sed ego: vos estis illa cerua. Et extractis litteris cum sigillo regis tradidit Castellano dicens: Rex mandat uobis vt filiam uestram ei addu- catis. Et sponso dixit: Meliori marito dabitur quam vos sitis. Venerunt ad regem pater et filia. Rex puelle reuelat secretum suum, quomodo audiuerat illam tociens vocem: symia dormit cum vxore tua. Puella respondit: Faciatis me per aliquod tempus habitare cum regina. Quod fecit. Tercia autem die venit ad regem dicens: Inueni proposicionem vestram: faciatis cras ludum fieri in palacio vestro, et presentes sint omnes puelle regine cum ipsa. Quod factum est. Tune ista puella sapiens surrexit coram rege et Omnibus astantibus. Incepit cantilenam dicens: Domine rex, non possum sola ludere coram uobis: date michi sociam illam puellam regine. Cepit regina contradicere et blasphemare istam saltatricem. Rex autem coegit illam surgere; et cum simul manu ad manum eundo redeundo cantarent, dixit puella: Non possumus aperte ludere cum mantellis. Et deposuerunt eos. Tune iterum ibant et redibant, et dixit puella: Auferamus tunicas. Et deposuerunt eas et in pelliciis nobilibus remanserunt et cantauerunt. Ad vltimum dixit: Oportet nos exuere pellicias. Tune regina incepit surgere, sed rex hoc fieri coegit. Cum igitur essent in camisiis, puella fortiter trahens cubitum camisie socie sue rupit eam vsque ad pedes, et omnibus apparuit illam esse virum. Et ait puella: Domine rex, ecce symia qui dormiebat cum vxore tua. R.ex autem statim iusticiam fecit de mecho ac mecha, et videns sapienciam puelle accepit eam in vxorem, Que suscepit ab eo prolem, quam religiöse doeuit et nutriuit. Et marito mortuo hec fuit illa regina que venit audire sapienciam Salomonis. Durch diese Erzählung vermutlich oriental. Ursprungs erhalten wir eine neue Parallele zu der von R. Köhler (Kl. Schriften II 6ü2 ff. „De magna prudentia“) behandelten Erzählungsgruppe. Hauptvertreter: 1. Joseph ihn Sahara (jüd.-span. Dichter aus der Mitte des XII. Jahrh.). Vgl. A. Sulzbach, Dichterklänge aus Spaniens besseren Tagen. Frank- furt a. M. 1873, S. 91—93: „Die weise Parsentochter“ aus dem „Buch der Tändeleien“. Die 3 weisen Aussprüche sind hier: Trage mich — reifes Weizenfeld — schwache Felsenburg. Der König träumt, ein Körper hüpfe auf seinen Frauen und Weibern herum. Kein Bräutigam tritt auf, sondern der Reisebegleiter des Abgesandten ist der Vater des fünfzehnjährigen Mädchens selbst. Die Entdeckung des verkappten Jünglings ist nur kurz angedeutet. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 7 Urteil: Der König schlachtet ihn vor seiner Weiber Augen, besprengt sie mit seinem Blute und läßt sie dann alle verbrennen. Er heiratet das kluge Mädchen. 2. Episode im altfranz. Roman vom Zauberer Merlin. Vgl. Val. Schmidt, Die Märchen des Straparola, Berlin 1817, S. 335 ff. Dem Kaiser Julius Caesar in Rom träumt, er sehe eine gekrönte Sau mit langen Zotten und zwölf junge Löwen, welche er zusammen verbrennen läßt. Das Motiv der weisen Aussprüche ist durch das Lachen Merlins ersetzt, durch den (in Gestalt eines Hirsches mit 5 Geweihen und späterhin eines Waldmanns) unter Beistand einer als Ritter verkleideten Herzogstochter die Entdeckung herbeigeführt wird. Die Kaiserin wird nebst den zwölf verkleideten Jünglingen verbrannt und die Herzogstochter von Caesar geheiratet. 3. Daraus stammt die 1. Fabel der 4. Nacht bei Straparola. Vgl. außer Schmidt besonders G. Rua, Giorn. stör. XVI (1890), S. 234. 4. Die 4. Geschichte bei Sercambi (ed. R. Renier, Torino 1889, p. 22. ,,De magna prudentia“). König Costanzo von Portugal träumt, eine große Eidechse liege bei seiner Frau. Einer seiner drei Abgesandten tut jene weisen Aussprüche zu einem armen Ritter aus Florenz, dessen kluge Tochter das Rätsel löst. Sie heißen hier: Steige auf unser Pferd und wir auf das deinige — Brücke machen — Mann nicht ganz tot. Das Mädchen spielt den Arzt und entlarvt auf spaßhafte Weise den Buhler; nach Verbrennung der Schuldigen wird sie Königin. 5. [Die 8. Novelle in der Vaticanhs. (E. Langlois, Nouvelles francaises inedites du XV e siede, Paris 1908, p. 46). Vossler, in den Studien zur vgl. Litgesch. II (1902), S. 10.J König Alphons wird von der Gemahlin mit einem Ritter hintergangen: „Elle l’appeloit Singe, pour ce qu’il estoit tres semilleux“. Der getreue Gadifer ruft dem Könige dreimal durch ein Loch in der Mauer zu: „La royne est avecques le singe“. Die weitere Erzählung stimmt auffallend genug allein zu unserem lat. Exempel, da in beiden die klugen Aussprüche zum Bräutigam geäußert werden. Demnach muß die Ansicht von E. Langlois bezweifelt werden: „C’est une alteration du conte primitif, empruntee ä celui des fiances (nr. 3 derselben Sammlung), et suggeree par Fexistence dans les deux contes des propos enigmatiques; eile paralt imputable ä l’auteur du recueil du Vatican (p. 51). Hier sind aber nur zwei Scharfsinnsproben (Weg abkürzen — Brücke). Die schlaue Braut Girarde veranstaltet dann bei einem Feste einen Ringkampf mit der „damoiselle Singesse“, wobei sich schließlich beide völlig entkleiden. Das schuldige Paar wird ertränkt und Girarde vom Könige geheiratet. Demnach scheint die Vatikannovelle auf eine dem lat. Text ähnliche Überlieferung zurückzugehen. 6. Verknüpft mit dem indischen Motiv des Lachens des männlichen Fisches, den die heuchlerische Königin nicht kaufen will, in einem Kaschmir- Märchen. Vgl. Köhler, a. a. 0. S. 605. Die weisen Aussprüche rühren vom Sohne eines Veziers an einen Alten her (Trage mich — Korn schon gegessen), dessen Tochter das Lachen des Fisches dahin erklärt (nicht aber die Rätsel), daß im Palaste ein Mann sich bei der Königin versteckt halte. Alle Frauen des Königs sollen über eine Grube springen, was nur der Verkleidete tun kann. Der Vezierssohn heiratet die kluge Jungfrau. Zu den rätselhaften Antworten vgl. besonders Gesta Romanorum (ed. Oesterley, nr. 193 nebst weiteren Nachweisen, übersetzt bei Wesselski, Mönchslatein, nr. 117) in 4 Formen: Haus mitnehmen bei Regenwetter = Regenmantel — Brücke mitnehmen — Furt absuchen — seine alten Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Eltern auf die Preise mitnehmen = Brot und Wein — Netz ausgeworfen = Tochter des Kaisers als Braut. Vgl. ferner E. Langlois, a. a. 0., nr. 3, p. 15, sodann die Dichtung Jehan et Blonde Philipps von Beaumanoir, den Prosaroman Jehan de Paris, ein gälisches und ein ossetisches Märchen (Analysen bei Köhler a. a. 0. 607). Vgl. auch J. Bolte, Montanus, S. 631. [Meissner, Neuarab. Geschichten, Leipzig 1903, nr. 22. Radloff, Proben, IV, S. 201, VI, S. 211.] In einen ähnlichen Gedankenkreis gehören II — V : II. (Exempla de militibus, nr. 13). Disputation. Miles quidam dotatus redditibus magnis omnia consumpsit in armis. Cum nichil haberet vltimo, fuit in quodam torneamento, in quo misit rex quendam militem qui fecit preconizari quod ipse offerebat Omnibus qui vellent disputare cum filia astutissima quam habebat dimidiam partem regni sui ad presens et post mortem totum, si posset eam deuincere; sin autem, decollaretur. Ille audiens illud illuc iuit quasi desperatus et in euentu forsitan potens omnia recuperare. Veniens ad disputandum presente rege et omnibus iuxta domicellam, oblatus est truncus ad decollacionem capitis disputancium sanguinolentus. Ait ipsa: Do vobis opcionem proponendi tres questiones vel ego proponam. Qui elegit proponere iuramento prestito de veritatis recognicione. In hac, inquit, uia obuiaui militi, cui dixi quod portaret me per leucam et ego ipsum per aliam. Non est, inquit domi- cella, difficilis questio: dixistis ei exemplum et ipse uobis aliud. — Iterum veniens et frigus magnum paciens descendi in domum ad calefaciendum; et cum ignis paruus esset, accendi eum minutis verbis. Quod non valens domieella exponere quesiuit et peciit inducias vsque mane. Qui dedit. Ipsa attonita et confusa misit domicellas plures ad militem, que facerent quicquid vellet, dummodo exposicionem reuelaret. Qui renuit. Ipsa tandem veniens, consensit ei et reuelauit, illa promittens se non exponere. Cras venientes ad disputacionem, ipso querente ipsa statim exposuit dicens quod minuta verba erant littere libelli de horis quas combusserat; petatis terciam questionem. Qui ait: Veni in siluam vbi erant fere pulchre se michi appropinquantes et iungentes; nullam lesi nisi vnam quam sagittaui. Respondit ipsa: Nescio. Et sic preualuit et omnia que in armis expenderat recuperauit. III. (Exempla de dyabolis, nr. 22 u. 23). Merlin. Dyabolus vt dicitur generauit Merlinum ex semine rapto in vase mulieris. Qui quesitus a quodam rege per seruientes respondit vni qui intrauit domum cum equo dicenti: Quis est hic? respondit: Homo est dimidius equus, quia non ad plenum intrauerat. Post inquit: Vbi est pater tuus? Extra, inquit. — Quid facit ibi? — De vno dampno suo facit duo (et ob- IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 9 turabat semitara in blado et transeuntes statim fecerunt aliam). — Vbi est iterum mater tua? Extra, inquit, vbi plorat risus pristinos (et laborabat in partu). — Vbi est frater tuus? — Extra, vbi venatur: et quicquid capit, ipse perdit; et quicquid non capit, remanet sibi (quia expediculabat se ad solem extra domum). Das ist eine wohlbekannte Episode aus dem Volksbuche Salomon et Mar- co lphus. Beide Gestalten (Merlin und Markolf) erscheinen oft miteinander ver- mischt. Vgl. R. Köhler, Kl. Schriften I 84. 151. Wesselski, Mönchslatein, nr. 102 nebst Anm. S. 235. [Nachträge in dessen Ital. Volkes- und Herrenwitz, S. 265.] Scala celi, s. v. Sapiencia. W. Hertz, Ges. Abhandlungen, Stuttgart 1905, S. 357 ff. Idem risit ter vt dicitur. Vadens per forum et videns hominem sotulares ementem pariter et tacones risit et sic ait: Non consumet sotulares et emit tacones. Iterum videns balliuum ducentem furem qui modicam vestem furatus fuerat ad patibulum, risit et ait: Vere, mirabile est, quia magnus latro ducit minorem ad patibulum (nam balliuus multo maiora furatus est, redditus et possessiones). Item videns sacerdotem ducentem puerum ad tumulum et cantantem et patrem et matrem sequentes et flentes, risit et ait: Video mirabilia, quia ille qui plorat deberet cantare, et ille qui cantat deberet flere (erat enim puer filius sacerdotis). Dies ist in die obige Novelle des Straparola durch Contamination über- gegangen. Vgl. Rua, a. a. 0. S. 235. (Priesterkind — Große Diebe läßt man laufen). Unser Text steht gleichfalls in der Mensa philos ophica, fol. 40r, doch ist statt Merlin ein demoniacus eingetreten (übers. Wesselski, Mönchslatein, nr. 153 nebst Anm. 254, wo außerdem auf den Prosaroman Merlin von Robert de Boron, die Vita Merlini, ein Sirventes des Peire Cardenal (Anfang des XIH. Jahrh.) und den 400 n. Clir. entstandenen talmudischen Traktat Gittin (die Stelle Merlins nimmt hier der Dämonenkönig Aschmedai ein) u. a. m. ver- wiesen wird. [P. Pieri, La storia di Merlino, ed. Sanesi, Bergamo 1898, p. 62. I due primi libri della istoria di Merlino ristampati per cura di G. Ulrich, Bologna 1884, p. 97.] IV. (Exempla de regibus, nr. 36). Der Knabe Salomo. Rex Salomon puer erat. Eundo per viam vt dicitur obuiauit homini deferenti tres vuas et pro tribus vuis illum docuit tres sensus: quod nunquam iret per pontem equitando, quin descenderet; quod non iret cum homine per dimidiam leucam, quin peteret nomen eius; et quod nunquam poneret cum homine plus quam vnum denarium. Vadens inde ille per pontem nec descendens de equo fregit tibiam; post litigans cum homine qui diligebat vxorem suam posuit quod equus eius cicius curreret quam suus, et qui cicius veniret ad terminum, in domo alterius rem illam acci- peret quam primo acceptaret. Qui perdens et dolens multum fuit, alius 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. ad domum eius veniens ex pacto inter eos facto vxorem eius acceptauit. Tune ille dolens et recolens de sensibus sibi datis cucurrit ad scolas et nesciuit nomen pueri et requirebat et se in non obseruando quod docuerat fatuum reputabat. Tandem puerum inueniens, ad iudicem veniunt. Et probauit Salomon per pactum inter eos factum quod primo acceptauerat trabem in domo cuiusdam gradus per quam ascendebatur ibi. Et sic fuit mulier liberata. [Rua, a. a. 0. S. 218. Sacchetti nr. 16. Cent nouv. nouv. 52. Köhler, Kl. Sehr. II, S. 402. Liebrecht, Zur Volkskunde, S. 36. Chauvin, Bibliogr., VIII, nr. 136.] V. (Exempla de reginis, nr. 3). Die Königin von Saba. Dicitur quod regina Sabba adinuenit vestes longas mulierum, eo quod veniens ad Salomonen! vidit pauimentum aule regie plenum speculis, per que forte posset manifestari aliquod indecens mulieris. Als Erfinderin einer den Geschlechtsunterschied verbergenden Tracht gilt ursprünglich Semiramis. Dieser Zug (Kleiderwechsel) ist auf die Königin von Saba übertragen, seitdem jene Sage durch die Vermittlung von Alexandria in die byzantinischen Kreise Eingang gefunden hat. Im Koran wie in der rabbinischen Überlieferung steht der Zug, daß die Königin, in der Meinung, der Glasboden des Audienzsaales sei ein Wasser, das sie zu durchwaten habe, ihr Gewand bis zur Entblößung der Beine aufschürzt, wobei die Sage von ihrem Tierfuß und sogar von ihrer tierischen Behaarung verwendet wird. Vgl. G. Rösch, Die Königin von Saba als Königin Bilqis, Jahrb. für protest. Theologie VI (1880), S. 524ff., 570ff. und besonders W. Hertz, Gesamm. Abhandlungen, S. 421 ff. in der schönen Studie ,,Die Rätsel der Königin von Saba“. Berühmte Themen der vergleichenden Literaturgeschichte sind in unserer Sammlung gleichfalls vertreten, wenn auch oft nur ganz flüchtig verzeichnet. VI. (Exempla de armigeris, nr. 1). Fridolin. Armiger nobilis fuit seruiens militi industrie, vt erudiretur ab eo, et ideo ab ipso et vxore est dilectus et honoratus, sed ab emulis est accusatus apud dominum quod domine familiaris erat. Qui mittens eum ad quosdam seruos suos in nemore, vt interficeretur ; declinauit ad missam audiendam. Ille autem qui eum accusauerat missus a domino, vt sciret finem, precessit et combustus est. Alius innocens vltimo veniens saluatus est et per eum serui domino mandauerunt rem gestam. Qui videns dei iudicium super illum laudauit deum et amplius dilexit eum. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 11 Zur Liter, vgl. Chauvin, Bibliogr. des ouvrages arabes, VIII nr. 143. Etienne de Bourbon, nr. 373. Scala celi, s. v. Missa. Wesselski, Mönchslatein, nr. 34 nebst Anm. S. 212. Herbert, Cat. of romances, III 198. 524. Landau, Quellen des De- kameron2, S. 103 ff. VII. (Exempla de Judeis, nr. 2). Die verräterischen Rebhühner (Ibykus). Iudeus quidam in periculo positus cominisit se custodie cuiusdara nobilis et dedit ei de suo satis. Nobilis autem cum residuo commisit eum cuidam seruienti suo ad deducendum ad certum locum. Qui temptatus propter pecuniam ait: Ego volo te interficere — et statim volauerunt perdices. Vere, ait Judeus, perdices te accusarent. Nichilominus interfecit eum et bona que habebat et deferebat habuit. Et rediens dixit quod bene eum conduxit. Quadam die perdices assabantur coram domino, et ipse scindebat et suborta quadam vesica in scorio perdicis incepit sibulare. Et recordatus armiger de verbo Judei cepit totus tremere. Tune dominus fecit eum capere, et recognoscens totum suspensus est propter infideli- tatem suam. Vgl. R. Köhler, Kl. Schriften II 563. Dazu Scala celi, s. v. Furtum in etwas geänderter Form. [Chauvin, Bibliogr. II, p. 123. VII, p. 146.] W. Hertz, Ges. Abln, S. 334. VIII. (Exempla de burgensibus, nr. 19). Der muntere Nachbar. Burgensis fuit quidam, habens pauperem vicinum. Qui omni die in sero cantabat. Quadam vice turbata vxor diuitis ait: Vtinam fuissem vxor istius pauperis: nunquam tantum gaudium habui de Omnibus diuiciis nostris quantum vxor istius. Vna die respondit maritus: Tantum faciam quod non cantabit. Crastina die deposuit sacculum pecunie ad hostium ipsius cum testibus. Quam pauper aperiens hostium cepit et per triduum non cantauit, semper cum vxore loquens. Et repetens homo pecuniam que ei ceciderat et quam ille videntibus aliis acceperat, reddidit pauper diuiti dicens: Maledicta sit vestra pecunia, quia, postquam habui, gaudium in corde meo non intrauit. Diese Fassung weicht von der bei Jacques de Vitry (Crane nr. 66), Etienne de Bourbon nr. 409, 506, auch im AlphabetumNarrationum (Herbert, Cat. of romances III, p. 433) insofern ab, als die R.uhe und der heitere Gesang des Armen auf Anstiften der Frau des reichen Nachbarn gestört wird. Eine andere von J. Klapper (Mittg. der schles. Ges. f. Volkskunde, XX (1908), 281 abgedruckte Fassung (aus einer Hs. der Bresl. Univ.-Bibl.) ist nicht die älteste bisher nachgewiesene, denn vgl. Cranes Nachweise. Letzterer Text weist nach Montpellier hin; dort wohnt der arme R.ubin unter der Treppe eines steinreichen Geizhalses und spielt allabendlich auf der Fiedel. Aber er ist lediglich eine Kopie; diese Version findet man ganz gleichlautend 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. in einer Hs. der Stadtbibi. Arras (XIV. Jhdt.) ; die dortigen Exempel beziehen sich zumeist auf Südfrankreich, speziell die Provence und sind ebenda in der 2. Hälfte des XIII. Jhdts. abgefaßt. Vgl. Delisle, Hist, litter. de la France, XXXI 50. [Ztschr. d. Ver. f. Volkskunde, XIII, S. 421 Anm. 2.] IX. (Exempla de burgensibus, nr. 22). Koffer mit Kolben. Burgensis quidam totum dedit filiabus, et pauper factus et visitans filiam quamlibet, cum mansisset in domo eins per biduum, ante triduum est fugatus. Qui de consilio cuiusdam amici sui sapientis fecit archam ferratam et lapidibus ponderosis impleuit. Quam videntes fdie et credentes tliesaurum magnum esse et eum post mortem patris habere, patrem honorauerunt et ei vsque ad mortem in omnibus optime prouiderunt. Ipse moriens precepit quod archa et quicquid in ea erat esset filiabus, sed non aperiretur donec post ipsius sepulturam. Sepultura igitur a filiabus solempniter celebrata filie ad archam accedunt et intus lapides ponderosos inueniunt et malleum ferreum in quo erat ita scriptum : De cest mail ou d’autre si grant Soit tue qui a son viuant A donne tant a son enfant Que il s’en vet puis repentant. Alius dixit: Ce nous man de Habert [de] Frace: Se il a nul en ceste place Qui pour ses enfans se desface, Que Ten le tue en ceste mace. Vgl. Scala celi, s. v. Filii. Hier lautet die provenzalische Inschrift: D’aquest martel sy’ ensucat Qui per sos enfans s’es des heretat. De isto martello sit excerebratus qui pro filiis est exhereditatus. Vgl. zu diesem Spruche Revue des langues romanes 1881, p. 100 (die Pariser Hs. liest: D'aquest martel aiat lo cap trussat). Chergegangen in die eine der beiden altfrz. Versversionen der Disciplina clericalis (ed. Labouderie, Paris 1824, p. 180 ff.). [Pauli, nr. 435 nach Bromyard. Wright, Latin stories, nr. 26.] X. (Exempla de mulieribus, nr. 12). Die Milcllfrau. Mulier quedam vadens perante domum cuiusdam vicine sue quam odio habebat et deferens potum lactis ad mercatum, vt venderet, cogitauit de precio emere gallinam que haberet pullos, de pullis emere suem que haberet porcellos, de porcellis equam qua equitaret eundo ad mercatum IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 13 perante vicinam, in contemptu eius dicendo: io, io! Et percuciens pede sic dicendo quasi equitando effudit lac et potum fregit. Vgl. Jacques de Vitry (ed. Crane, nr. 51). Etienne de Bourbon, nr. 271. Herbert, Cat. of romances III 572. Wendunmuth (ed. Oesterley) 1, 171. Dazu Ei Conde Lucanor (ed. H. Knust, ligb. Birch-Hirschfeld, Leipzig 1900, S. 316). Unserer Version ist die Feindschaft mit der Nachbarin eigentümlich. XI. (Exempla de regibus, nr. 32). Die unschuldig verfolgte Frau. Rex quidam liabens vnicam filiam sollicitauit eam. Que cum euadere non posset, fugit cum nutrice. Hane videns senescalcus cornitis cuiusdam et compaciens duxit ad domum suam et duabus filiabus commen- dauit et propter deum necessaria ei ministrauit. Et audiens comes quidam de pulchritudine sua venit ibi, promisit quiequid potuit. Que renuit; tandem inflammatus duxit eam in uxorem. Que coram deo et hominibus laudabiliter se habuit. Recedens de terra eam pregnantem balliuo suo commendauit precipiens, cum peperisset, quod sibi scriberet. Quod fecit laudabiliter, scribens quod fdium elegantem pepererat. Nuncius autem vadens per sororein dicti cornitis indignantem quod mulierem ignotam duxisset, inebriatus ab eo dormiuit. Et pixide furata littera con- traria ibi reposita est, vbi continebatur quod vxor eius meretrix pessima erat et quod pepererat monstrum. Quam deferens ad dominum, turbatus est dominus; scripsit quod, quiequid fecisset, ipsa et puer seruarentur ei. Rediens per sororem, ipsa vt prius furata est litteram et scripsit aliam quod interficeretur ipsa et puer, alioquin in aduentu suo moreretur balliuus. Recepta littera exposuit eam quibusdam ad interficiendum in silua. Qui videntes eam cum puero innocente pepercerunt ei, dicentes quod de cetero non inueniretur. Que iuit in quandam ciuitatem, vbi episcopus sibi et filio necessaria ministrauit, vt caueret de peccato. Rediens dominus tradicione comperta de vxore et filio summe doluit et veste mutata ad querendum iter arripuit, et veniens ad ciuitatem inuentus est ab episcopo. Qui causam sue tristicie inquirens vxorem et filium ei restituit. De fletibus et lacrimis effusis inter eos et pasmis longum esset enarrare. Tune presente episcopo qui auunculus eius erat, frater regis, confessa est illa genus suum. Et mortuus erat pater eius, et ipsa querebatur vbique. Tune episcopus summe gaudens omnia ei necessaria quesiuit, ad regnum duxit et in possessionem posuit eos. De tanta tristicia versa in tantum gaudium deum laudauerunt. Diese Geschichte gehört zur Gruppe VI des von H. Suchier in seiner Aus- gabe der Man ek ine (Oeuvres poetiques de Philippe de R.emi, sire de Beaumanoir, I Paris 1884, p. XXXVIIff.) untersuchten großen Kreises des „Mädchens mit den abgehauenen Händen“, da dieser Gruppe das Motiv der Verstümmelung 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. fehlt. Denn sieht man genauer zu, so entdeckt man leicht, daß es sich hier um einen bisher unbekannten Text handelt, dessen Inhalt als eine der Quellen des inedierten altfranzös. Romans La Comtesse d' Anjou (aus d. J. 1316, ca. 8000 v.) gelten muß. Der Dichter Jehan Maillart gibt selbst zu, den Rahmen aus der mündlichen Überlieferung genommen zu haben. Vgl. Hist, litter. de la France, XXXI (1893), 3 18 ff. Zu diesem Zyklus vgl. ferner J. Klapper, Mittg. d. schles. Ges. f'. Volkskunde XIX (1908), 29ff. (Salvatica-Exemplum aus einer Breslauer Hs.), 39 ff. (Parallele aus der Scala celi, s. v. Castitas) ; XX (1908), 6, dazu Sammlung mittel- lat. Texte, Heft 2, Heidelberg 1911, nr. 1. Vgl. ferner R. Lenz, Un grupo de consejas chilenas, Santiago de Chile 1912, S. A. p. 33 ff. „La niha sin brazos.“ XII. a) (Exempla de dominabus, nr. 3). Die unterschobene Braut (Finger abschueiden). Domina quedam comitissa, a marito cuidam homini suo recedente ipso de terra tradita, infestata est ab eo intantum quod, cum ipsa non vellet consentire, retraxit ei cibos et vestes et omnia necessaria. Tandem ipsa timens confusionem, eo quod mundus crederet quod ipsa hoc faceret propter culpam suam, dixit ei quod faceret quod vellet. Ipso autem veniente supposuit domicellam; cui ille completa libidine abscidit digitum. Domina autem emittens eam apud aliquem amicum suum ligauit proprium digitum suum, semper habens eum absconditum. Veniente marito balliuus ei vadens obuiam eam diffamauit, dicens quod vnus de ribaldis suis ei digitum absciderat. Qui dominus veniens in plena mensa presentibus amicis et parentibus domine peciit iudicium quid de tali domina fieret que sic se habuerat. Dicentibus Omnibus dignam eam esse combustione ait: Hoc faciatis de ista parente uestra. Que videns amicos confusos ait: Non confundamini. Et extrahens digitum dixit: Qui sain lie son doy, sain le deslie. Tune narrans per ordinem falsitatem balliui, statim dominus fecit eum suspendi. Et ob hoc dicitur vulgariter prouerbium: Qui sain lie son doy, sain le deslie. Auch in der Mensa philosophica, fol. 36 r. Zum Thema der verstümmelten Stell- vertreterin innerhalb dieses Kreises vgl. Arfert, Das Motiv von der unterschobenen Braut in der internationalen Erzählungsliteratur, Diss. Rostock 1897, S. 52 u. 54 ff. Unser Text, der ein franz. Vorbild haben muß, ist neu, auch wohl Quelle zu von der Hagen, Gesamtabenteuer, nr. LXVIII; innerhalb dieser Gruppe der Imogenerzählungen ist er aber dadurch bemerkenswert, daß er noch nicht kon- taminiert ist mit dem Motiv der Wette, deren Ausführung eben das Unterschieben einer treuen Magd bedingt. Der ganze Kreis verdiente eine erneute Untersuchung auf noch breiterer Basis als bei Arfert. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 15 XII. b) (Exempla de domicellis, nr. 10). Die unterschobene Braut (der treulose Seneschall). Domicella cjuedam innubilis data est militi in vxorem. Qui vadens vltra mare ipsam et totam terram in manu cuiusdam senescalci dimisit. Cum autem illa creuisset et pulchra existeret, senescalcus sollicitauit eam et tandem furtiue cameram eius intrans eam corrupit. Que summe dolens ipsum dormientem iugulauit. Que hoc cuidam armigero, compatriote suo, ab amicis eidem ad ministrand um dato, reuelauit. Qui eam homicidam pessimam acclamauit et ait se eam in hoc casu nullatenus veile adiuuare* nisi ei consentiret. Que promisit facere ore, non corde. Qui accipiens mortuum in sacco et in collo portans ad proiciendum desuper pontem in aquam, cum proicere vellet, domicella in eum impingens ambos in aquam proiecit, et mortuus est. Tandem veniens maritus, et sciens ipsam non esse virginem ac timens domicella unam virginem loco suo marito suppo- suit, ei magna dona promittens. Quam cum cognouissit et obdormiret, ait domicelle quod recederet. Que penitus renuit, dicens se lectum lucratam fuisse et cum marito perpetuo veile manere. Et cum ipsa obdormisset, domicella duo fortissima pepla in collo eius posuit et ad pedem arche iuxta lectum posuit ignem supponens, et tune accedens ad maritum ait: Surgamus, domine, combusti sumus. Et interim illa combusta et extincta fuit, et illa sic secura permansit. Tandem remordente consciencia sua cuidam cappellano, confessori domini sui qui videbatur deuotus et sanctus, omnia confessa est et penitenciam accepit ieiunare sexta feria in pane et aqua et cilicium induere. Quod deuote fecit. Tandem a confessore sug- gerente dyabolo sollicitata fuit. Que nullatenus consensit. Cui ipse commi- natus est quod, nisi consentiret, marito confessionem per ordinem reuelaret. Que ait quod expectaret misericordiam dei, quia nunquam consentiret ei. Qui marito totum dixit simulando ei fidelitatem tenere, obligans se quod ei miles oculos extraheret, nisi eam sexta feria talem penitenciam facientem inueniret. Qui miles cum confessore sexta feria veniens in domum eam in camera comedentem solam inuenit, et gustans de potu eius et dans con- fessori vinum delicatissimum iudicauerunt quod uirtute diuina de aqua in vinum fuerat permutatum. Post miles eam expoliare fecit et cilicium quod habebat ad carnem deus in camisiam tele delicatissime permutauit. Tune miles ait confessori: Recordaris, inquit, quod de hac domina dixisti michi? Et nisi hoc inuenirem, ad eruendum inde oculos tuos obligasti, et certe nichil aliud reportabis. Et statim ei oculos extraxit. Et sic deus dominam penitentem et peccatum renuentem innocentem custodiuit et misericordia sua liberauit. Bei R. Köhler, Kl. Schriften, II 393, 397 ff., wo eine umfängliche Literatur zu- sammengetragen ist, fehlen jegliche Angaben über lat. Versionen. J. Klapper teilte in Übersetzung einen lat. Text aus einer Breslauer Hs. (Mitte d. XIV. Jhdts.) 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. mit, der aber sicherlich nicht die älteste Fassung darstellt (a. a. 0. XX (1908), 18ff.). Unser Text gehört zu den von Arfert (a. a. 0. S. 39 ff.) untersuchten Bran- gäneerzählungen. Letztere lassen sich folgendermaßen gliedern: A. Schuldige Königstochter. 1. pers. Novelle im Bahär Danush (ed. Jonathan Scott, III, Shrewsbury 1799, S.293), leider dort nur oberflächlich analysiert. 2. altirische Erzählung im Book of Leinster (Mitte des XII. Jhdts.). Die Handlung spielt in Griechenland. B. Unschuldige Braut. 1. afrz. conte devot (Meon, Nouv. recueil, II 256 ff.). Die Handlung ist nach Ägypten verlegt. Daraus stammt auch das frz. Marienmirakel. 2. dt. Gedicht des Heinrich Kaufringer. Vgl. Karl Euling, Studien über H. K., in Germanist. Abhandlungen, XVIII. Heft, Breslau 1900, S. 87 ff. 3. engl. Prosa der Gesta Romanorum (ed. Herrtage, London 1S79, p. 394 ff.). Unser neuer Text gehört zu B3, wie vor allem das denouement des doppelten Wunders beweist. Er kommt sicher als Quelle dafür in Betracht, da er auch größere Vollständigkeit zeigt. Man beachte ferner mit Köhler, daß die lat,-engl. Erzählung am besten zum Persischen stimmt (pers. Neger entspricht dem ribaldus Hs. Tours -)- Gesta Rom.). Die lat. Version ändert nur die Zinnen des Palastes, von denen der Bediente herabgestürzt wird (pers. und Klappers Text) oder die Felsklippe (ir.) oder den Brunnen resp. die Zisterne (afrz., dt., G. R.) in eine Brücke um. XIII. (Exempla de dominabus, nr. 4). Die Wette. Domina quedam famosa erat de valore magno. Et cum coram rege milites loquerentur de mulieribus in malum, domina illa proposita est in medium. Tune ait vnus: Ego pono terram meam quod infra quindenam faciam de ea quiequid voluero et per bona indicia hoc probabo. Maritus eius contradixit et terram suam posuit. Alius vadens ad castrum intrare non potuit, sed per fraudem domicellam domine seduxit. Que ei anulum quem maritus ei dederat furata tradidit et signum vnum quod habebat in coxa reuelauit. Et veniens ad hec intersignia se fecisse dixit. Maritus audiens et confusus et nimis credulus recedens et eam ad quoddam manerium ducens in aquam proiecit. Que euadens et de veste sua vestem virilem faciens, ad abbaciam monachorum declinans, conuersum se fecit et optime se haben s per abbatem traditus est regi pro elemosinario ; qui optime et graciose officium illud fecit. Tandem elemosinam erogans et maritum qui fugerat inter alios considerans, ad partem trahens recreauit et factum suum peciit. Qui sibi omnia reuelauit et inter alia se dolere dixit quod circa sociam suam sic se habuerat. Que ei similiter factum suum dixit. Tune ipsa repatriandi a rege licenciam accepit et equum et arma querens in decenti muliebri liabitu rediit et militem illum de prodicione appellauit, quod eam violenter oppressit. Qui iurauit et negauit se unquam illam vidisse. Tune ipsa: Rex, faciatis ergo michi iusticiam, cum hec michi imposuerit et per eum maritus meus terram amiserit et ego exulata fuerim. Judicatus fuit miles ille ad suspendium et terra est ei restituta, et rediit cum marito ad propria. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 17 Vgl. G. Paris, Le cycle de la Gageure, Romania XXXII (1903), 499. Eine andere altertümliche Version ist abgedruckt von A. Hilka und W. Söderhjelm, Disciplina clericalis, Helsingfors 1911, Anhang S. 71. Wir widmeten derselben eine knrze Betrachtung, die in den Neuphil. Mitteilungen, Helsingfors 1913, S. 16 ff., soeben erschienen ist. XIV. Eine reiche Ausbeute bietet das Kapitel de liiulieribus ignobilibus. Ich beschränke mich auf die Mitteilung der Überschriften: 1. Der hl. Martin von Tours und die Eitle. — 2. Trauer bei Ver- mögensverlust. — 3. Rückfall im Ehebruch. — 4. Christus als Bräutigam hilft aus Armut. — 5. Pracht von Paris = Paradies. — 6. Zu große Bescheidenheit. — 7. Zänkische Frau fällt ins Wasser, vgl. Crane nr. 227. Etienne de B., nr. 244. 299. Scala celi, s. v. Femina. — 8. Zänkische Frau wirft Mann Ungeziefer vor, vgl. Crane 221, Etienne de B., 242. — 9. pre tondu, vgl. Crane 223, Etienne 243. Du Meril, Poesies inedites, p. 154. 452. — 10. Ungehorsame Frau und der Ofen, vgl. Crane 236. Scala celi, s. v. Femina. — 11. Finger im Ofen, vgl. Crane 228, Etienne 300. — 12. Milchfrau (s. o.). — 13. Bei der Beichte. — 14. Verlassene weint um den letzten Rock, vgl. Crane 199. Etienne 472. Scala celi, s. v. Femina. Herbert, Cat. of rom. III 555. Wesselski, Mönchslatein, nr. 42. — 15. craticula. — 16. Trinkerin ge- warnt. — 17. Frau läßt sich in Kot fallen, vgl. Crane 230. Etienne 457. Mensa phih, fol. 38 v. Wesselski, nr. 19. — 18. Waldvogel. — 19. Stinkender Zahn, vgl. Crane 248. Komödie Lydia (Du Meril, Poesies inedites 5 Cloetta, Beitr. zur Litgesch. I 83, Anm. 1). Wesselski nr. 115. — 20. Mönch wider Willen, vgl. Crane 231. Etienne 458. Scala celi, s. v. Femina. Wesselski nr. 21. — 21. Witwe von Ephesus, vgl. Crane 232. Etienne 460. Köhler, Kl. Sehr. II 564. 583 etc. — 22. Nüsse als Gegengift. — 23. Prügelnder Gatte fällt ins Feuer. — 24. Arzt wider Willen, vgl. Crane 237. 254. Mensa phil., fol. 38v. Wesselski nr. 99. Zipperling (s. o.). — 25. Wird der Tote nicht bald kalt? Vgl. Etienne 424. Scala celi, s. v. Femina. Mensa phil., fol. 38 v. 4Vesselski nr. 72. — 26. Mann übernimmt Buße für Frau, vgl. Mensa phil., fol. 38 v. Wesselski nr. 74. — 27. Tres diafeoli mplmnati. Mulier quedam habens maritum et ab eo audiens se fuisse captum a quodam tyranno et iurasse se ei redditurum trecentas marcas infra talem terminum vel tres ayabolos inplumatos, audiens eciam quod plus affligebatur de periurio quod incurrebat quod soluere non poterat quam de pecunia, si haberet, respondit mulier: Captus sitis et ego vos liberabo; sunt eilim in ecclesia propinqua nobis tres sacerdotes qui me infestare a longo tempore non cessauerunt et in hoc dyaboli sunt. Ego mandabo pro 2 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. eis et faciam quemlibet poni in dolio pleno plumis, et sic erunt inplumati, et reddetis eos tres dyabolos ad literam inplumatos. Ipsa parauit balneum cum glutine et tria dolia plena de dumeto. Et marito stante in insidiis mandauit pro primo. Qui cum esset in balneo, statim pulsauit maritus. Ponatis vos in dolio, mulier inquit. Et venientibus aliis posuit eos similiter in doliis. Tandem maritus intrans ait: Non curatis de menagio: oportet ponere fundus in doliis ad mittendum vina. Et sic reclusit omnes in doliis, et vadens cum quadriga ait tyranno: Non possum soluere pecuniam, sed adduco dyabolos inplumatos. Tyrannus audiens veritatem rei ait: Yere dyaboli sunt hoc faciendo et inplumati sunt ad literam. Quitto te, et ego bene cognosco eos, quia diuites sunt, et antequam euadant manus meas, soluent michi trecentas marchas. Zum orientalischen Motiv der Unterbringung dreier Liebhaber vergl. besonders Job. Prinz, A Tale of a Prioress and her three Wooers, Literar- hist. Forschungen, 47. Heft, Berlin 1912, S. 65 ff., 113 ff. [Chauvin, Bibliogr., VI, p. 12. Ztschr. d. Ver. f. Volkskunde, XIII, S. 420. Meissner, Neuarab. Geschichten, nr. 13. Lidzbarski, Gesell, u. Lieder aus neu-ara- mäischen Hss. Weimar 1906, S. 188. Thorburn, Bannü, or our Afghän Frontier, London 1876, S. 214.] 28. Hartes und weiches Brot. — 29. Nach der Beichte. — 30. Schnee- kind, vgl. R. Köhler, KL Sehr. II 564. Du Meril, Poesies inedites, p. 418, usw. — 31. Knabe in Chartres Maria geweiht. XV. (Exempla de maquerellis, nr. 2). Doppelt sehen. Maquerella sciens hominem cum vxore alterius qui eos viderat et exitum expectabat, veniens ad eum ait: Dominus vobiscum sit, domine. Cui ille: Ad quid salutatis pluries, cum sim vnicus? — Ha, domine mi, non turbemini, quia hora est in qua homo vel mulier credit videre duos, et non est nisi vnus. Et ipsis colloquentibus fugit adulter, et ipse sic est delusus. Vgl. Crane, nr. 251. Wesselski, nr. 103. Unser Text erscheint arg gekürzt. Dasselbe Motiv steht bereits in der altind. Sukasaptati (Textus simplicior, übs. R, Schmidt, Kiel 1894, nr. 28). XVI. (ibid., nr. 3). Catula II. Alia sollicitans mulierem vxoratam pro quodam clerico ad consensum induxit. Et cum eam ad domum propriam adduxisset et pro clerico misisset et non habere posset, videns iuuenem hominem aptum et pulchrum ait: Quid dabitis, inquit, michi, si vobis tradam pulchriorem mulierem de IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 19 Parisius? Qm promisit salarium, et duxit eum ad domum. Quem intuens mulier ipsum esse proprium maritum, subito surgens et alapis cedens ad terram, per capillos trahens aiebat: Modo, latro, video falsitatem tuam; tantum exploraui et feci cjuod te cepi. Qui se excusabat dieens nunquam vsque modo hoc attentasse. Et sic euasit ipsa per maliciam, et ipse fuit inculpatus. Es ist der II. Teil der berühmten Geschichte vom weinenden Hündchen (Catul a) aus dem oriental. Zweige der Sieben weisen Meister (vgl. Sammlung mittellat. Texte, Heft 4, nr. 5). Ihre Zerlegung hierselbst in Teil I (s. u.) u. Teil II ist recht merkwürdig, denn diese nebst der Reihenfolge H u. I kommt nur noch im pers. Sindibäd-nämeli vor, wozu besonders Comparetti, Ricerche intorno al libro di Sindibäd, Milano 1869, p. 25 ff. ^ Eine selbständige Existenz hat Catula II nur beim Perser Nachschebi in der achten Nacht seines Tüti-nämeh (Comparetti, a. a. 0.), doch bereits in der alt- indischen Sukasaptati (Textus simplicior, nr. 1); desgleichen im Occident in der dt. Erzählung Konrads von Würzbur g (XHI. Jlidt.) in Hägens Gesamtabenteuer I, nr. 9, vgl. besonders Landau, Die Quellen des Dekameron 2, Stuttgart 1884, S. 87, zu Dekam. III 6. Sicherlich kommt unser lat. Text als eine der Quellen Konrads und Roccaccios in Betracht. XVII. (ibid., nr. 4). Ehelicher Unfriede gestiftet (Haare ausreißen). Dyabolus non valens discordiam inter virum et vxorem ponere accessit ad maquerellam, promittens precium hoc faciendo. Que obuiam habens hominem illum, eundo iuxta eum aiebat: Quantum dampnum quod talis homo habet talem sociam que sic seruit ei! Quod audiens homo et inuestigans, ait quod vxor non erat ei fidelis et ad hoc perciperet quod nullum ita pulchrum sicut consueuerat non faceret. Que iterum vadens ad vxorem similiter dixit. Et venientes in sero ambo ex suspicione concepta se non bene mutuo respiciebant et quod dictum erat eis verum credebant. Tune vadens illa ad vxorem ait: Docebo te qualiter habebis pacem eius: accipies tres pilos barbe eius cum nouacula dormiendo et facies sic de eis et pacem habebis. Marito autem dixit quod vxor volebat eum interficere cum nouacula, et quod non dormiret. In sero simulans se dormire, et ipsa credens cum nouacula tres pilos eius accipere, surrexit homo et interfecit vxorem et se ipsum tandem. Tune illa ad dyabolum vadens super stagnum petiit salarium. Et proiecit eam in profundum stagnum. Vgl. Etienne, nr. 245 (ausführlicher, aber Schluß abweichend), dazu Wesselski, nr. 22. Scala celi, s. v. Locutio inordinata (= Etienne). Wright, Latin stories, nr. 100. Herbert, Cat. of romances, III 399, 507. Germania 33 (1888), 261. Goedeke, Dichtungen von Hans Sachs, I 195. Eine treffliche Darstellung dieser Er* zählung findet man bei H. Knust, El Conde Lucanor, Leipzig 1900, S. 386 ff. 20 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Tötung der Frau = Adolphus und Herolt (Serrnones de tempore). Die von Wes- selski, S. 207 aus der Mensa philosophica für den Schluß (pertica) beigebrachte Stelle stammt aus unserer Sammlung, wo sie in exemplis de dyabolis (nr. 6) zu lesen ist. Schließlich teile ich eine Fassung aus einer Hs. Liegnitz 51 mit (Exemplahs.): Contigit in ciuitate Argentina quod erant duo homines in matrimonio, inter quos nec dyabolus potuit seminare inimiciciam, et quod per se facere non valuit hoc, per quandam fetulam ordinauit, quam pro tribus obolis conuenit. Hec abiit ad prefati viri vxorem, dicens ei menciendo quod vir eius esset cum alia comprehensa in adulterio. Super quo mutier ingemuit. Quod antiqua fetula uidens voluit eam consolare dicens: Non turbemini! Non est primum nec vltimum quod legittimi adulterantur ; sed si vultis michi sequi, vobis consulam. Mulier super eo gauisa dixit: Yolo. Antiqua: Sub gutture eius sunt crines: illos abradite et michi eos presentate et uobis faciam tortam, de qua si comederit, nunquam aliam cognoscet. Domina respondit se facturam. Mulier illa recessit et venit ad virum et dixit sibi suspirando quod mulier eius esset deprehensa in adulterio cum adulescentulo et iam omnes domine super eo pessime loquerentur. De istis rumoribus vir multum obstupuit. Cui anus iterato loquitur: Domine, si non vultis mihi credere, ueritatem percipietis: dum comederitis, locate [uos in sinum uxoris et simulate vos dormire; tune ipsa propter concubinos eius vobis vult abscidere guttur. Yir multum tristis recessit et uenit ad hospi- cium suum. Facto prandio reclinauit se ad sinum uxoris, quasi dormire vellet, et incepit sternutare. Quod mulier audiens, accepto rasario volens viro sub gutture abradere crines. Quod ubi sensit, de sinu uxoris prosiliit et eam vehementissime occidit. Res gesta iudicem et amicos non latuit, et uiro apprehenso eum occidere uolebant. Qui tandem quod anus eum instruxerat 4 omnia dixit. Deinde vetula comprehenditur, et cum ad cremandum ducere- tur, totam perfidiam eius in publico recitauit. Interim dyabolus in aere clamauit: Dignus est mercenarius mercede sua. Et super caput misere mulieris proiecit tres obolos dicens: Accipe, misera, mercedem tuam et da mihi animam tuam. Et sic ista mulier priuata fuit corpore et anima. Vir autem propter preces hominum datus fuit ultra mare, ubi dies suos feliciter consummauit. XVIII. (ibid., nr. 5). Catula I (das weinende Hündchen). aquerella rogata a quodam pro muliere capienda, quam non poterat inclinare. pauit caniculam de pane de synapi et vadens visitare illam iuuenculam, canicula lacrimas emittebat propter vim synapis. Cui iuuen- cula: Quare lacrimatur canicula? Respondit cum lacrimis: Merito, nam filia mea fuit, et rogata a iuuene languente propter ipsam non consensit; et ideo deus in caniculam eam conuertit. Quod audiens illa et timens sibi simile accidere, ei reuelauit amorem iuuenis et quod eum adduceret et ipsa consentiret. Vgl. Disciplina clericalis, nr. 13. Jacques de Vitry, nr. 250. Mensa philos., fol. 38 v. Scala celi, fol. 87. V. Chauvin, Bibliogr. des ouvrages arabes, VIII (Syntipas), nr. 13. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 21 XIX. (ibid., nr. 6). Auberee. Üuedam alia supertunicale cuiusdam iuuenis, quo fuerat in quodam festo paratus, in camera cuiusdam mulieris vxorate, acu in eo posita et filo, reliquit. Reperiens maritus illud, quod viderat illi iuueni habuisse in festo, vxorem verberans in sero de domo eiecit. Quam illa pessima pro- nuba statim in domo recepit et iuueni per duos dies exposuit. Tune illa vadens ad domum mariti clamabat: XXX. s., lasse! XXX. s., lasse! Qui querens quid hoc esset, ait: Iuuenis talis tradidit michi ad reparandum supertunicale, et ego veniens visitare dominarn huius domus et cum ea colloquens obhuioni dedi et in camera dimisi, et modo a me repetit .XXX. s. Qui delusus reddidit. Et tune petens ubi domina esset, rogata est ab illo vt eam quereret, quia in eam deliquerat credens illum in camera fuisse et supertunicale dimisisse. Que adducens eam ait: 0 quam sancta mulier! istam inueni in ecclesia rogantem deum pro reconciliacione uestra et innocencia sua manifestanda, quam aperte videtis. Et sic delusus dilexit eam amplius. Dies scheint die Quelle für das berühmte altfrz. Fablel Auberee (hgb. Ebeling, Halle 1895) abgegeben zu haben. Dieser Annahme stände der frz. Ausruf: trente sous, lasse! nicht entgegen, da auch sonst Ausdrücke der Volkssprache unter unsere lat. Exempel gemengt sind. Schließlich läßt sich aber auch mündliche (franz.) Überlieferung des Auberee-Stoffes vermuten, die ebensosehr das Gedicht wie unser Predigtmärlein veranlaßt hat. Zur oriental. Herkunft der Erzählung (Mischle Sendabar) vgl. Sammlung mittellat. Texte, Heft 4, S. XVII. Chauvin, Bibliogr. des ouvrages arabes, VIII, nr. 23. XX. (Exempla de ruralibus, nr. 12). Die dankbaren Tiere. Üuidam diues, nomine Adrianus Mediolanensis, proponens facere nupeias filie sue, iuit venatum. Et currens per deuia nemoris cecidit in foueam profundam valde; equus autem euasit et reuersus est domum. Queritur diues et non inuenitur. Altera die vel tercia quidam pauper cum asino querebat ligna, vt afferret uenalia ad ciuitatem. Qui veniens prope foueam audiuit planctum diuitis et inquisiuit quid esset. Ille respondit: Ego sum Adrianus; rogo te vt extrahas me extra foueam istam. Respondit ille qui vocabatur Mados: Quomodo possem te solus trahere, cum non habeam nisi asinum mecum? At ille: Colliges cortices et facies ex illis simul ligatis vnam magnam laqueariam, ita quod possit descendere vsque ad profundum fouee. Mados ita fecit. Cui Adrianus: Faciatis duo collaria, tibi et asino, et trahatis simul. Ita autem contigit quod in eadem fouea ceciderunt a casu symia, leo et serpens. Cum autem Adrianus posuit pedem in laquearia, clamauit: Trahe, trahe! Et cum symia, que callidum animal est, videret ipsum trahi, saltauit super caput eius et tenuit se fortiter ad laqueariam, Adrianus autem perterritus cecidit et 22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. symia pertracta sursum ascendit. Et cum venisset ad summum, fugit Mados; ergo videns symiam clamauit: Ve michi, dyabolus illusit michi! Tune Adrianus clamorem ingeminans ait: Ne timeas: ego sum Adrianus, miserere mei! proice michi laqueariam sicut prius. Quod fecit, sed fecit leo sicut symia fecerat, et Adrianus vt ante cecidit. Extractus leo fugit. Tercio similiter fecit serpens. Tune Mados animo desperatus putauit illusionem esse et nolebat audire Adrianum clamantem et rogantem et multa promittentem. Tandem ad vltimum traxit eum et ei dedit de pane suo ad comedendum. In crepusculo noctis veniunt ad ciuitatem. Qui cum gaudio magno familie et amicorum receptus est: posite sunt mense et multi cibi parati, discumbunt diuites. Mados autem a remotis stabat. Quem videns diues stantem parum curauit; tandem dixit vni ministro: Da illi panem et frustum carnium. Cena facta recesserunt amici, Mados non recessit. Ideo graue sustinuit Adrianus et dixit ministro: Queras ab illo rustico quantum potest singulis diebus lucrari. Qui respondit: Duo- decim denarios, quando possum bis ire ad nemus. Dixit Adrianus: Da illi. XVIII. denarios. Mados vero prope accedens cepit flere dicens: Ego et asinus rneus confracti sumus propter vos, et tarn parum datis michi? Peccatum magnum facitis. Adrianus ait: Non propter me tantum laborastis, sed propter alios quos extraxistis; quare ego tantum dabo vobis quantum et illi. Sic Mados recessit et veniens ad domum suam ab vxore male receptus est et litigio vexatus: Quare ita tarde venisti? quare asinus noster habet pectus ita exeoriatum? Ac ille flens vt liomo simplex narrauit ei totum factum et quomodo male retribuit ille diues seruicium suum. Et mulieri dedit illam pecuniam. Tune illa compaciens consolabatur eum, diuiti increpans maledicciones. In crastino Mados fatigatus de lecto surgere non potuit nec asinus per rnultos dies. Tandem conualescens iuit ad opus suum vt solebat et lucrabatur panem quatuor pueris quos habebat. Infra breue tempus Mados et asinus intrauerant siluam, et permittens asinum pascentem herbam secessit, parum prospiciens huc et illuc ligna quibus asino honus facere posset. Et respiciens vidit symiam tenentem asinum per capistrum et currentem, ac ille clamans secutus est eum. Et stetit symia cum asino et respiciens Mados motu labiorum applaudebat, ei ostendens ligna parata ad portandum. Et cepit symia iuuare ad asinum honerandum, et multis diebus sic parabat symia ligna, sic quod Mados ter vel quater in die poterat redire de silua et lucrabatur tres solidos ali- quando, et aduertit ille quod hic erat symia quem traxerat de fossa. Quadam die venit in eodem nemore leo, et timens Mados ascendit arborem. Leo autem duxit asinum ad quandam vallem. Tandem Mados vadens timide valde, descendens a longe, prospiciens et credens quod leo asinum interfecisset. Et vidit leonem mansuete tenentem asinum et vnum ceruum mortuum iuxta eos, et venit Mados cogitans propter exemplum symie: Forte leo est iste quem extraxi. Et apportauit ceruum mortuum, valde IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 23 pinguem, ad domum super asinum et Mados vt simplex cum. securi frusta fecit, diuidens scorium sicut carnes. Igitur leo parabat illi ceruos et apros et symia ligna. Contigit autem quod ei serpens lapidexn preciosum attulit ante eum et fugit. Quem accipiens rediit letus ad vxorem, ostendens ei et dicens: Credo quod bonos sotulares de cordubano poteris habere pro lapide. Mulier autem prudencior venit ad cambium, et obtulerunt ei vnus viginti libras, alius triginta. Mulier autem rediit et dixit marito : Vos ibitis ad imperatorem qui est in villa et dabitis illi lapidem quem inuenistis. Iuit et imperator agnoscens virtutem lapidis et pulcritudinem valde gauisus est et dedit pauperi centum libras. Qui rediens cepit edificare sibi domum et ditatus prudencior effectus est. Infra paucos dies imperator amisit lapidem et Mados eum inuenit et reportauit imperatori. Imperator precium duplicauit: sepe amisit lapidem et Mados semper inuenit, quia talis virtus erat lapidis quod nulli emptori posset remanere, nisi emeret tantum quantum valebat. Mados igitur per lapidem illum ditatus familiaris factus est imperatori et ei conquestus est de Adriano. Qui vocatur ad curiam: proponit contra eum Mados quomodo extraxerat eum de fouea et symiam et leonem et serpentem: Cum autem Adrianus dederit duodeuiginti denarios micbi murmuranti quod plus essem accepturus, quia tantum vexatus eram in seruicio suo, respondit michi: Non tantum pro me fuisti vexatus, sed eciam pro aliis, et tantum vobis reddam quantum et illi. Post symia dedit michi ligna, leo ceruos et apros, serpens istum lapidem. Et iudi- cabant principes quod valebat ille lapis plus quam omnes diuicie Adriani. Quod audiens Adrianus totum negauit. Mados autem contra eum proponens duellum dedit gagium. Assignata est dies belli, imperator ipse voluit campum terere, et exierunt iuxta nemus prope ciuitatem. Et ecce leo, serpens et symia subito exeuntes de silua irruerunt in Adrianum et eum frustatim interfecerunt. Sic illi Mados vt victori adiudicata est tota possessio et Adriani hereditas. Die Geschichte dieses aus dem Orient (vom Pancatantra aus über Kalila we Dimna nebst Übersetzungen, vgl. Chauvin, Bibliogr., II nr. 71) herübergewanderten Motivs behandle ich an einem anderen Orte. Zur westlichen Gruppe gehören mit unserem lat. Texte, dem sicher ein höheres Alter und größere Ursprünglichkeit (z. B. im Namen Adrianus, der später zu Dryanus, Drianus wird) zukommt, gehören hauptsächlich folgende Texte: 1. Speculum Stultorum des Nigel Wireker of Canterbury (2. Hälfte d. . XII. Jhdts.), ed. T. Wright, London 1872, 134 — 144. Die Szene ist nach Cremona verlegt, der Reiche heißt Dryanus, der Arme Bernardus. 2. Matthaeus Parisiensis ad annum 1195 in Opera, Londini 1640, fol. 179 bis 180. Der reiche Vitalis stammt aus Venedig, der arme Köhler heißt Sylvanus. 3. Gesta Romanorum, Ingratus et Guido sowohl in der kontinentalischen (Oesterley, nr. 119, Dick nr. 145) als auch in der englischen (ed. Herrtage, London 1879, nr. 65) Gruppe. 4. dt. in Versform als „Der dankbare Lindwurm“ in Germania 33 (1888), 276 — 297. 5. engl, in Gowers Confessio amantis, V 4937 — 5162 (ed. Macaulay, London 1901, II 81—89). Des Reichen Name lautet auch hier Adrianus, des Armen aber verstümmelt Bardus. 24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Dem liebenswürdigen Bibliothekar in Tours, Herrn P. Collon, sage ich für seine freundliche Bereitwilligkeit, mit der er mich beehrte, als ich in den Räumen der schönen Stadtbibliothek arbeitete, und fernerhin als er die Sendung der Hs. nach der Pariser Nationalbibliothek verstattete, meinen verbindlichsen Dank, desgleichen dem unermüdlichen Herrn Konservator in der letzteren, H. Omo'nt, der mir die Photographie besorgte. Dem hochverehrten Vorstände der Berner Stadtbibliothek, der mir die Benutzung des neuen Codex in den Räumen der Breslauer Kgl. und Univ.- Bibliotliek mehrere Monate lang gütigst gewährte, gebührt der Ausdruck meiner besonderen Erkenntlichkeit. Eine ganze Reihe literarischer Belege steuerte in liebenswürdiger Weise der treffliche Kenner dieses Gebietes, Herr Albert Wesselski, während des Druckes bei, die ich durch [] kenn- zeichne. Dem Verfasser gereicht es zur hohen Ehre, daß es ihm vergönnt ge- wesen ist, dem hochverehrten und hochverdienten Präsidenten unserer Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur, Herrn Geheimrat Pro- fessor Dr. Richard Foerster, zur Feier seines siebzigsten Geburtstags (2. März 1913) den Sonderdruck des so erweiterten Vortrages als schwaches Zeichen seiner unverbrüchlichen Dankbarkeit und steten Verehrung zu- zueignen. Schlesische Gesellschaft für vaterländische Gultur. ( ' (S.c 90. Jahresbericht. 1912. Ttq) V. Abteilung. a. Mathematische Sektion. x>3 Sitzungen der mathematischen Sektion im Jahre 1912. Die Sektion hielt im Jahre 1912 zwei Sitzungen ab: 1. Gemeinsame Sitzung mit der philosophisch-psychologischen Sektion am 22. November. Tagesordnung: Dr. Rückle, Demonstrationsvortrag über seine außerordentliche Rechenfähigkeit. 2. Am 7. Dezember. Tagesordnung: Prof. Dr. Hessenberg, Über die Quadratur des Kreises. In dieser Sitzung wurden ferner die beiden Sekretäre wiedergewählt, Realschuldirektor Dr. Peche und der Unterzeichnete; letzterer wurde auch zum Delegierten in das Präsidium gewählt an Stelle des Geh. Regierungs- rats Dr. Sturm, der eine Wiederwahl aus Gesundheitsrücksichten im voraus abgelehnt hatte. A. Kneser. oOO^OOo- 1912 (^T T-q) 90. V. Abteilung. Jahresbericht. b. Philosophisch -psychologische 1912. Sektion. . __ Sitzungen der Philosophisch-psychologischen Sektion im Jahre 1912. Sitzung am 29. Januar 1912. (gemeinsam mit der rechts- und staatswissenschaftlichen Sektion). 1. Vortrag des Herrn Rechtsanwalt Dr. K. Steinitz: Bas Problem der Willensfreiheit und Verantwortlichkeit. 2. Diskussion. Sitzung am 21. Februar 1912. 1. Vortrag des Herrn Privatdozenten Dr. E. Waetzmann: Einige Probleme der Tonpsychologie. 2. Diskussion. Sitzung am 22. Mai 1912. 1. An Stelle des nach Berlin übergesiedelten Schriftführers der Sektion, Herrn Privatdozenten Dr. Kramer, wird zum Schriftführer Professor Dr. Hönigswald gewählt. 2. Herr Prof. Dr. Kühnemann feiert einleitend das Andenken Fichtes. 3. Vortrag des Herrn Prof. Dr. M. Baumgartner: Zur Erkenntnistheorie Augustins, 4. Diskussion. Sitzung am 26. Juni 1912. 1. Vortrag des Herrn Dr. S. Marek: Die Philosophie Henri Bergsons. 2. Diskussion. Sitzung am 7. November 1912. 1. Auf eine Anfrage des Herrn Prof. Dr. W, Stern wird beschlossen, den Rechenkünstler Dr. G. Rückle in einer gemeinsamen Sitzung mit der mathematischen Sektion vorzuführen. 1912. 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 2. Vortrag des Herrn Privatdozenten Dr. W. Kabitz: Die Bildungsgeschichte des jungen Leibniz. 3. Diskussion. Sitzung am 22. November 1912. (gemeinsam mit der mathematischen Sektion). 1. Wahlen. Es werden gewählt: a) zu Sekretären: die Herren Proff. Baum- gartner, Kühnemann und Stern; b) zum Vertreter der Sektion im Präsidium: Herr Prof.Dr.M. Baumgartner; c) zum Vorsitzenden: Herr Prof. Dr. W. Stern; d) zum Schriftführer: Herr Prof. Dr. R. Hönigswald. 2. Herr Prof. Dr. W. Stern gibt eine orientierende Darstellung über die psychische Eigenart des Rechenkünstlers Dr. G. Rückle. 3. Demonstrationsvortrag von Dr. G. R ü c k 1 e über seine außergewöhnliche Gedächtnis- und Rechenfähigkeit. Sitzung am 25. November 1912. (gemeinsam mit der philologisch-archäologischen Sektion). 1. Vortrag des Herrn Prof. Dr. K. Ziegler: Zur Descendenztheorie im griechischen Altertum. 2. Diskussion. Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultnr. 90. J ahr esbericlit. 1912. V® V. Abteilung. c. Sektion f. katholische Theologie. -J^S) Sitzungen der Sektion für katholische Theologie im Jahre 1912. In der auch von zahlreichen Gästen besuchten Sitzung am 31. Januar sprach Dombenefiziat Dr. Karge über Meine Ausgrabungen am See Genesareth. Den Vortrag erläuterten eine Fülle von Lichtbildern nach eigenen Aufnahmen des Verfassers. Der Vortrag ist abgedruekt in der Schlesischen Volkszeitung 1912, Nr. 52, 54, 56, 58 (2., 4., 6., 7. Februar). Am 7. Mai sprach in einer auch von Gästen stark besuchten Sitzung Religions- und Oberlehrer Hoffmann über seine Sinaireise. Den Vortrag illustrierten zahlreiche Lichtbilder. Am 21. Mai sprach Pfarrer Weidner aus Oltaschin über Die päpstlichen Kommuniondekrete in ihren katechetischen Wirkungen. Der Vortrag ruft eine ausgedehnte Debatte hervor. Am 20. Juni unternahm die Sektion einen Ausflug nach Münsterberg, an dem sich gegen 50 Herren beteiligten. Präfekt Heisig übernahm die Führung in der Stadt, dem Kloster und der Kirche der Elisabethinerinnen, Pfarrer Dr. Starker im Georgsmünster. Im Schützenhaus sprach Prof. Dr. Nikel über Die biblischen Patriarchenerzählungen und ihr geschichtlicher Wert. Der Vortrag ist in der von Heinisch und Rohr herausgegebenen Sammlung Biblische Zeitfragen als 3. Heft der 5. Folge erschienen. Am 1 2. November sprach P. Dr. Lambertus Schulte 0. F. M. über Kritische Streifzüge durch die mittelalterliche Geschichte des Breslauer Bistums. Teil I. Er sprach über die Geschichtskonstruktionen des Krakauer Historikers Dlugos und über das, was die Quellen über die Anfänge und die erste Geschichte des Breslauer Bistums berichten. Am 26. November beendete P. Lambertus Schulte seinen Vor- trag vom 12. November. Der zweite Teil galt dem Breslauer Bischof Konrad Senior von Oels, dem Nachfolger des Herzogs Wenzel von Liegnitz, dem bestverleumdeten Breslauer Bischof. 1912. 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterh Cultur. Das traditionelle Urteil über diesen Bischof geht auf den Krakauer Chronisten Dlugos zurück, der den Bischof ebenso häßlich wie gehässig gezeichnet hat. Kritische Quellenforschung führt zur Widerlegung der meisten Vorwürfe, die Dlugos dem Bischof gemacht hat. Konrad war ein Mann seiner Zeit, aber kein Lebemann. Der Bischof, der erste Landes- hauptmann von ganz Schlesien in der schweren Zeit der Hussitenkriege, war die Seele aller größeren Unternehmungen der Schlesier gegen die Hussiten. Jahr für Jahr führte er neue Truppen gegen die böhmischen Ketzer ins Feld, führte sie oft selber an. Kein Wunder, wenn die Schuldenlast des Bistums von Jahr zu Jahr wuchs. Er begann seine Re- gierung mit hohen Schulden, ohne ererbte Mittel und war von vornherein auf die Hinopfernng seines Handgutes, auf die Inanspruchnahme seiner Brüder und auf die Verpfändung von Bischofsland angewiesen. Aber seine Politik hat verhütet, daß Polen und Hussiten über Schlesien hinweg sich die Hand reichten. Der Bischof hatte die Diözese Breslau in der schweren Zeit des Baseler Konzils zu leiten, das im Kampf mit Papst Eugen IV. stand. Das Breslauer Kapitel stand auf seiten des Konzils, der Bischof Konrad auf seiten des Papstes. Im Jahre 144G hielt Konrad eine Diözesan- synode, deren Verhandlungen Privatdozent Dr. Seppelt eben herausgegeben und kommentiert hat; diese Synode nahm die Obedienz Eugens IV. an. Somit war der Sieg der bischöflichen und päpstlichen Autorität entschieden. Bischof Konrad gehört zu den Kirchenfürsten des Mittelalters, die öfter das Fürstenkleid und die Kriegsrüstung, als das bischöfliche Gewand trugen. In den Hussitenkriegen hat er sich mannhaft und persönlich geopfert, in den kirchlichen Wirren seiner Zeit hat er treu bis zum Ende zum Papste gestanden. Am 12. Dezember sprach Pfarrer Prof. Dr. Buchwald Über die Brevierreform des Papstes Pius X. vom geschichtlichen und vom praktischen Standpunkt. Redner beleuchtete zunächst die geschichtliche Entwicklung des heutigen Breviers, dessen Bestandteile in den Apostolischen Konstitutionen zum ersten Male erwähnt sind. Die letzte Reform, die vom 1. Januar 1913 ab verpflichtend ist, bringt als Hauptänderung die, daß fortan in jeder Woche alle 150 Psalmen zu beten sind. Auch die übrigen Lesungen aus der hl. Schrift werden fortan mehr als bisher alle Bücher der hl. Schrift berücksichtigen. Dieser große Gewinn, daß das Breviergebiet jetzt ab- wechselungsreicher und vor allem mehr an die hl. Schrift sich anschließt, also biblischer wird, machte allerdings manches Opfer nötig, z. B. die Loslösung der Laudes, der ältesten Höre, von ihrer geschichtlichen Ent- wickelung, den Verzicht auf den Zusammenhang der Psalmen mit der Bedeutung der Iloren und der Antiphonen mit dem Sinn der Psalmen. In der Besprechung wurden eine Reihe von praktischen Einzelfragen erörtert. -ooofgOO« Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. <£Ll_ 90. J ahresbericht. 1912. V. Abteilung. Evangelisch-theologische Sektion. Sitzungen der evangelisch-theologischen Sektion. Folgende Sitzungen wurden im Jahre 1912 gehalten: Am 23. Januar sprach Herr Pastor Lic. Konrad Müller über: Schellings Beziehungen zur alttestamentlichen Wissenschaft. Zu den Aufgaben der alttestamentlichen Disziplingeschichte, welche als vorbereitende, Grenzlinien ziehende und den historischen Zusammenhang aufrecht haltende Hilfswissenschaft der biblisch-theologischen Forschung eine nicht zu unterschätzende Bedeutung besitzt, gehört die Darstellung der Ansichten, welche führende Geister im Rahmen ihrer Weltanschauung über das Alte Testament geäußert haben. Durch solche monographische Arbeiten wird einerseits der Anteil nachgewiesen, den das Alte Testament am Geistes- inhalt späterer Kulturperioden besitzt, und andererseits für eine Gesamt- geschichte der alttestamentlichen Forschung, wie sie von Diestel1) in groß- zügiger Weise bis zum Jahre 1869 gegeben wurde, Material geliefert. Im folgenden sollen Schellings Beziehungen zur alttestamentlichen Wissen- schaft genauer besprochen und, wohl zum ersten Male, seine hierher ge- hörigen Ausdrücke zusammengestellt werden. Die ersten Studien und Veröffentlichungen Schellings sind fast aus. schließlich dem Alten Testament gewidmet. Das hat schon darin seinen Grund, daß Schellings Vater Orientalist gewesen ist. Dieser, Magister Joseph Friedrich Schelling2), 1771 — 1777 Diakonus in Leonberg, 1777 — 1792 Prediger und Professor an der theologischen Bildungsanstalt in Beben- hausen, 1792 — 1802 Superintendent oder, wie man damals sagte, Spezial und Dekan in Schorndorf, 1802 Prälat in Murrhardt, 1807 Prälat in Maulbronn, gestorben im Jahre 1 8 1 2 3) , hat sich viel und erfolgreich mit semitischen Sprachen beschäftigt und als Schüler von J. D. Michaelis eine philosophisch -kritische Richtung vertreten4). Schon 1771 hat er als Repetent in Tübingen eine „Abhandlung von dem Gebrauche der arabischen Sprache zu einer gründlicheren Einsicht in die hebräische“ veröffentlicht und in ihr die entscheidende Bedeutung der arabischen Sprache so klar, sachkundig und gründlich geschildert5), daß der billige Spott Nicolais6), !) Diestel, Geschichte des Alten Testamentes in der christlichen Kirche, 1869. 2) vgl. Kuno Fischer, Schellings Leben, Werke undLehre, 2. Au fl. 1899, S.8, 19. 3) Schellings Werke, Band 16, Abt. I, S. 325 ff. 4) vgl. Richter in Fichtes Zeitschr. f. Philos., Bd. 60, 1872, S. 241. 5) Diestel, 1. c. S. 572. 6) Nicolai, Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz, Bd. 11, 1796, S. 118 f ; dazu Schellings Werke. Bd. 15, S. 115, Bd. 7, S. 118, Bd. 5, S. 23, auch Fichtes und Schellings philosophischer Briefwechsel 1856, S. 72. 1912. 1 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. den jener 25 Jahre später über diese Schrift ausgoß, völlig unberechtigt war und den heftigen Tadel des mitangegriffenen Sohnes verdiente. Außer- dem schrieb Schellings Vater Arbeiten über Jesaia und die Salomonischen Schriften1), die sich vieler Anerkennung erfreuten2). Auch in seinem Lehr- amt zu Bebenhausen wirkte er mit gutem Erfolg. Die bekannten Gelehrten Storr und Schnurrer waren seine Schüler, und letzterer erwähnte noch in der Gratulation zur Dissertation des Sohnes den Vater in sehr ehrenvoller Weise3). Endlich machte Schellings Vater seine alttestamentlichen Studien auch für das kirchliche Leben Württembergs fruchtbar und legte für die zu Vesperlektionen bestimmten Summarien alttestamentliche Schriften aus. Den Unterricht des Vaters hat auch Schelling in Bebenhausen ge- nossen. Hier war der frühreife Knabe 1786 nach kurzer Vorbildung zu Mürtingen4) von seinem Vater in die Klasse viel älterer Schüler aufge- nommen worden und nahm an den damals gebräuchlichen Exerzitien teil. So hat er am 20. Oktober 1786 ein lateinisches Exerzitium über den gött- lichen Ursprung der Heiligen Schrift anzufertigen gehabt und dabei be- sonders die Erfüllung der Weissagungen betont, die er zum Schluß in den Vers zusammenfaßt: Historiam legisse putes, non carmina vatum. So findet sich im 8. Hebdomadar der Schule eine Übung Schellings „Versio metrica cap. XIV Jesaiae in Hexametros ex Lowtliii lyricis facta“. So hat er am 28. Mai 1790 ein originelles Gedicht über den Ursprung der Sprache an- gefertigt, in dem er die damals von ihm sehr fleißig gepflegten orientalischen Sprachen besonders gepriesen und die wissenschaftliche Lieblingsfrage seines Vaters besprochen hat5). Die Schlußverse lauten : ... Tu quisquis es ergo Disce probe linguas, ne sis confusus in illis. Ardua res molisque gravis, graviorque videtur Forsan structura Babylonis. Sed labor omne Vincit, nec facinus Babyloniaque ausa quereris Porro, quod haud mansit sermo primaevus in orbe, Quem (sic confudit linguas supremus) adhucdum Haud invenerunt, et adhuc sub judice lis est. Interea huc Hebraeus ades Chaldaeus Arabsque Tuque Syrus! ridete virum conamina porro, 1) Diestel, 1. c. S. 669. 2) Schelling W. W. Bd. 15, S. 4f„ 22. 3) W. W. Bd. I, S. 40. 4) W. W. Bd. 15, S. 15 ff. 5) W. W. 15, S. 19 ff. Recht interessant ist, daß Schelling viele Jahre später vor der Berl. Akademie der Wissenschaften nach einer einleitenden Kritik des Herder-Hamannschen Streites über den Ursprung der Sprache ohne ausdrückliche Autornennung ein eigenes lat.. Gedicht über die gleiche Materie verlesen hat, das er seinen Söhnen als Diktat gegeben haben will. Vgl. W. W. Bd. 10, S. 419 ff. (Rede aus dem Jahre 1S50.) V. Abteilung. Evangelisch-theologische Sektion. 3 Qui primaevorum linguam reperire parentum Conantur! mihi sed sic vos faveatis, ut ipse Doctas emittam quondam vestro ore loquelas. Oktober 1790 kam Schelling nach Tübingen. Die Vorliebe für semi- tische Sprachen, die er in den letzten Bebenhausener Jahren noch durch Privatunterricht des Vaters verstärkt hatte, beeinflußte die ersten Jahre seiner Studien. Er war damals im besten Zuge gelehrter Orientalist zu werden. Besonders wurde er von seinem Lehrer Christian Friedrich Schnurrer angesprochen. Dieser namhafte Forscher, dessen Arbeiten über die allgemeine Einleitung, über Jeremia und Hiob einflußreich wurden1), ein ehemaliger Schüler von Schellings Vater, fand an dem Sohn einen überaus fleißigen Hörer. In Privatpräparationen und Kollegheften legte Schelling den Ertrag seiner exegetischen Arbeiten für sich nieder und suchte auch mit den Ansichten der damals berühmtesten Alttestamentler Herder, Michaelis, Eichhorn vertraut zu werden2). Das Ergebnis dieser mit eindringender Akribie und hypothesenfreudiger Genialität zugleich ge- triebenen Arbeiten bildet die Magister-Dissertation, welche Schelling ent- gegen der damaligen Praxis und zum Erstaunen seiner eigenen Lehrer in kurzer Zeit selbständig verfaßte3). Sie behandelt den Titel: Antiquissimi de prima malorum humanorum origine philosophematis Genes. III explicandi tentamen . criticum et philosophicum und vereinigt philosophische Gesamt- anschauung, biblisch-theologische Einzelbemerkungen, exegetische Gründlich- keit und religionsgeschichtliche Stoffsammlung. Ihre Absicht war, die Erzählung vom Sündenfall als ein in Geschichte eingekleidetes Philosophen!4), als einen philosophischen Mythus darzustellen, in Genesis III den Ursprung des physischen wie moralischen Übels geschildert zu sehen und mit seinem Bericht, der erst zu Moses Zeiten entstanden und dessen Urkunde als selbständiges Fragment in den Zusammenhang der Genesis eingearbeitet sei, die Sagen anderer Völker vom goldenen Zeitalter zu vergleichen. Schelling hängt in dieser Arbeit besonders von Kant5), ,, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“ ab, jenem in der Berlinischen Monats- schrift von Januar 1786 veröffentlichten Aufsatz, der den Übergang des 1) Dies tel, S. 594, 651, 666. 2) W. W. 15, S. 26 f. 3) vgl. J. H. Fichte, Hegels phil. Mag. Dissertation und sein Verhältnis zu Schelling, Aufsatz in der Zeitschr. f. Philos. u. specul. Theol., Bd. 12, 1844, S. 444 bis 454, bes. 448 f. 4) vgl. W. W. 15, S. 34 ff. 5) a. a. 0. S. 1 — 27, bes. S. 5 ff., S. 20, 24 ff. Kant sagt vom Menschen: „künftig wird ihm die Mühseligkeit des Lebens öfter den Wunsch nach einem Paradiese, dem Geschöpfe seiner Einbildungskraft, wo er in ruhiger Untätigkeit und beständigem Frieden sein Dasein verträumen oder vertändeln könne, ablocken. Aber es lagert sich zwischen ihm und jenem eingebildeten Sitz der Wonne die rastlose und zur Entwickelung der in ihn gelegten Fähigkeiten unwiderstehlich treibende Ver- nunft “ (S. 12). Vgl. Schelling W. W. I, S. 6, Anm. etc. 1* 4 Jahresbericht der Scliles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Menschen ,,aus dem Zeitabschnitt der Gemächlichkeit und des Friedens in den der Arbeit und der Zwietracht“ behandelte, im Sündenfall die Wirkung der Vernunft und einen Fortschritt der Menschenentwicklung sah und die Übel der Kultur in Gen. III angedeutet fand. Er zitiert gern Herders ,, Älteste Urkunde des Menschengeschlechts“, deren phantastisch-großartige Behauptungen, deren kühne religionsgeschichtliche Parallelen und genialische Stoffverwendung mit ihrem begeisterten Stil Schellings jugendlichen Geist anziehen mußten, und deren Willkürlichkeiten und Ungereimtheiten er wohl übersah1). Diese Schrift, von der einmal Cornill sagt, daß sie etwas „Vulkanisches“ besitze, mußte auf Schellings Feuerseele wirken. Ihre kritische Freiheit und kombinatorische Fülle, ihre exegetische Poesie und prophetische Ahnung künftiger Erkenntnisse mußten ihm imponieren. Daneben hängt Schelling von Eichhorns Arbeiten in der ,, Allg. Bibi.“ und in seiner Einleitung ab, zitiert Grotius und Hamasa, Dathius und Heyne, Lessing und Schnurrer, Rosenmüller und Paulus, Gamborg und Leibniz, Clericus und Bochart, Michaelis und Doederlein und bringt Stellenangaben aus klassischen und nachklassischen, patristischen und mittelalterlichen Werken. Die Arbeit zerlegt sich in 7 Paragraphen und enthält eine Menge interessanter und feiner Einzelbemerkungen. So nimmt er etwa mit Eichhorn wegen der Satansfigur in Hiob I an2), daß der Prolog des Hiobbuches nachexilisch sei. So handelt er im Paragraph 2 eingehend über die hebräischen Gottes- namen3), will dem vormosaischen Israel keinen reinen Monotheismus zu- erkennen und Jahve nur als den höchsten der Elohim-Mächte in der vor- exilischen Zeit verehrt wissen. Erst nach der babylonischen Verbannung habe sich der reine Monotheismus im Volke durchgesetzt. Vorher sei er nur die Religion der Heroen, wie etwa eines Mose, gewesen und die Be- zeichnung El saddai bedeutet nicht Deus omnipotens, sondern bloß Deus potentissimus. So nimmt er an, daß die Genesis aus mehreren monumenta und fontes zusammengestellt sei, und will, unter ausdrücklicher Beziehung auf Gamborg4), einzelne dieser monumenta aus ägyptischen Hieroglyphen er- !) Herders sämtl. Werke. Zur Religion und Theologie V u. VI, Cotta 1806; Cornill, „Die Scliles. Gesellsch. für vaterl. Cultur“ 1904, S. 111 ff.; Schelling 1. c. S. 13 ff. u. öfters. 2) W. W. Bd. 1, S. 4, Anna. 3) 1. c. S. 7 ff., bes. Anm. Nach einer Darstellung verschiedener Erklärungen des Wortes Elohim schreibt Schelling: Quid, si veritas in medio posita fuerit? si majores Israelilarum naturas sublimiores, Elohim, horurn autem praecipue aliquem principem adoravisse dixerimus? Certe haec conjectura et analogia historica et ipsis Geneseos testimoniis adjuvatur. Etiarn post Mosen non rudiores tanturn Israelitas, sed sapientiores etiarn multos et religioni suae quam maxime deditos Jovam non pro uno solo Deo, sed tanturn pro principe Deorum ceterorum habu- isse constat. 4) Gamborg, Nysa oder philos. -hist. Abhandlung über Gen. 2 — 3, 1790; vgl. Eichhorn, Allg. Bibi., Bd. 5, 1793, S. 996 f. Schelling 1. c. S. 11 ff. 5 V. Abteilung. Evangelisch-theologische Sektion. klären, die Mose, durch seine gelehrte Ausbildung befähigt, für seine Dar- bietungen verwertet habe. So handelt er gelegentlich Gen. 3 eingehend über die Etymologie der Wurzel und leitet sie in der später durch Gesenius aufgenommenen Weise vom arabischen säfa her1). So trägt er aus den Urzeitsagen verschiedenster Völker ein mannigfaches Material zu. sammen, sucht den Mythus von Genesis 111 philosophisch2) umzudeuten und endet in allgemeinen Ausführungen über die Entstehung und Bedeutung des Übels. Daß diese Arbeit Schellings in vieler Hinsicht den Stempel ihrer Zeit aufweist, ist selbstverständlich. Ähnliches hat in einzelnen Punkten Schiller3) nach Decius wenige Jahre später ausgeführt, ähnliches in größerem Zusammenhang von ihrem Standpunkte aus Bendavid und Lorenz Bauer geschildert, Ähnliches in gewissem Sinne schon vorher Warburton und andere betont4). Die Arbeit gibt sich selbst als Erstlingsschrift, als Specimen diligentiae et eruditionis und ist heute in ihren meisten Ansetzungen natür- lich überholt. Aber sie hat bei ihrem Erscheinen berechtigtes Aufsehen gemacht, hat die freilich den Kritizismus des Verfassers ein wenig zügelnde Anerkennung Schnurrers gefunden, ist durch mehrere Rezensionen bekannt geworden und hat nach vieler Ansicht „das Gepräge des selbständigen, kühnen und erkenntnisfreudigen Genius“ getragen5). In dem auf diese Magisterdissertation, deren Diplom vom 26. Sep- tember 1 79 2 6) datiert ist, folgenden Jahre veröffentlichte Schelling in Paulus’ Memorabilien eine späterhin von Strauß7) vielgerühmte Abhandlung „Mythen, Historische Sagen und Philosopheme der ältesten Welt“8). In ihr behandelt er nach geistvoll geübtem rationalistischem Schema die ältesten Erzählungen der Mythologie, ohne zwischen Mythus und Sage deutlich zu scheiden. Er gliedert den Stoff in einen Abschnitt über mythische Ge- schichte, bei der er die Bedeutung der mündlichen Tradition betont, sowie 1) 1. c. S. 28, Anm.; vgl. Gesenius Thesaurus III, Sp. 1380b. 2) z. B. Cherubi autem, felici horto homines arcentes, labem mali omnibus congenitam et naturalem amini humani pravitatem, quae nos semper a reditu ad felicem innocentiam prohibeat, denotaverint. 1. c. S. 17. 3) Schiller, Die Sendung Moses, 1794; Decius, Die hebräischen Mysterien, oder die älteste religiöse Freimaurerei, 1788, S. 84. 4) Warburton, Göttliche Sendung Moses, übersetzt von J. Chr. Schmidt, 1751; Bendavid, Über die Religion der Ebräer vor Mosis, 1812, S. 17 f., 38 f.; 46 f. ; Lor. Bauer, Handbuch d. Geschichte der hebr. Nation, 1S00 — 1804, Bd. 1, auch Meiners, Beck u. a. 5) Fichte, Zeitschrift . . . , S. 148, Anm., Tübinger Gelehrte Anzeigen 1793, Oberdeutsche Literaturzeitung 1793, Stück 29, Theol. Annalen 1793, 2. Beil., S. 23. Schnurrers Urteil bei Schelling 1 S. 39 f. 6) W. W. 15, S. 36. 7) Strauß, Leben Jesu 4. Aufl., S. 30. 8) W. W. Bd. I, S. 41—83. 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. den naiv- kindlichen und historischen Mythus heraushebt, und in einem Abschnitt über mythische Philosophie, in dem er der allegorischen Sym- bolisierung, dem gedanklichen Inhalt der Berichte und ihrer äußeren Form nachgeht. Zumeist exemplifiziert er dabei freilich auf die griechische Mythologie, doch bleiben auch die alttestamentlichen Urzeitberichte nicht außer Betracht. So sucht er gelegentlich die hohen Lebenszahlen der Patriarchen aus dem Verlangen nach einer ungestörten Kontinuität1) der Tradition bis zum Beginn der Zeiten zu erklären, so will er die Sintflut 2)- Erzählung der Bibel als Erinnerung an eine partielle Flut asiatischer Länder verstehen, so werden gewisse Ausdrücke der alten Zeit als konkrete Um- schreibungen abstrakter Dinge gedeutet3), so wird etwa auch die allgemein- verbreitete Sage eines paradiesischen Urzustandes psychologisch ausgelegt und beispielsweise der Begriff des Chaos als zum primitiven Vorstellen nötig erklärt4). Schelling hat später über diese Jugendarbeit selbst ziemlich absprechend geurteilt, und ihre Flüchtigkeit ist auch von anderen getadelt worden5), aber seinerzeit fand sie Hegels Anerkennung und enthält auch wirklich großzügige und interessante Gedanken6). Zu diesen beiden Erstlingsarbeiten stellt sich zu dritt eine erst nach Schellings Tode veröffentlichte Vorrede, welche er 1793 — 1794 für eine damals geplante Ausgabe historisch-kritischer Abhandlungen niederschrieb. In ihr legt er Recht und Art der historischen Bibelinterpretation dar,7) betont ihre Zeitgemäßheit, ihre Abgrenzung gegen unklare philosophische Spekulationen und ihre Bedingtheit durch neue historische Einsichten, wo- bei er freilich unbewußt die eigene exegetische Methode seiner letzten Werke verurteilt8). Daraufhin gliedert er solche Exegese in grammatische und speziell-historische Interpretation. Die erstere, als deren Hauptvertreter Ernesti genannt wird, dürfe nicht überschätzt werden, weil bloße Wort- forschung ohne Kontakt mit der historischen Darstellung eine falsche Dog- matisierung der Bibel in sich schließe. Davon schreibt Schelling: ,,Man betrachtete nur gar zu oft die heiligen Urkunden als Schriften, die plötzlich vom Himmel gefallen wären, die man aus allem Zusammenhang heraus- 1) 1. c. S. 48. 2) 1. c. S. 56, Anm., S. 60 f. 3) Lebenshauch gleich Seele, 1. c. S. 77 f. 4) 1. c. S. 74. 5) A. Richter in der Zeitschrift für Philos. u. philos. Kritik, von Fichte, Ulrici u. Wirt, Neue Folge, Bd. 60, 1872, S. 247, W. W. 15, S. 73. 6) Es sei angemerkt, daß er sich in ihr auf Herders „ Ursprung der Sprache“, auf Eichhorns Arbeiten und auf Heß „Grenzen, Bestimmung dessen, was in der Bibel Mythus und was wahre Geschichte ist“ (Bibi. d. heil. Geschichte, Teil H) beruft, also weiterhin mit alttestamentlichen Werken Bekanntschaft zeigt. 7) W. W. Bd. 15, S. 39 — 46. — Kuno Fischer, Schellings Leben, Werke und Lehre 2, Aufi. S. 12 ff. 8) 1. c. S. 39 f. V. Abteilung. Evangelisch-theologische Sektion. 7 nehmen und als isolierte Denkmale betrachten müsse, die unabhängig von den Vorstellungen, den Bedürfnissen und allen Umständen derjenigen Zeit, in der sie entstanden, nur auf ein in entfernten Jahrhunderten erst voll- kommen auszubildendes System berechnet wären, in die man also auch alle mögliche Weisheit ohne Rücksicht auf die Empfänglichkeit derjenigen Menschen, denen sie zunächst bestimmt wären, hineintragen dürfte, wenn sie nur zuvor durch das hergebrachte System geheiligt wären, das dann doch wieder nur aus jenen Schriften geschöpft sein sollte.“1) Dem gegen- über verlangt Schelling2) eine historische Interpretation im weiteren Sinne, welche die grammatische und die speziell-historische Interpretation in sich fasse. Zeitgeschichtliche Beläge seien zu berücksichtigen. Durch sie seien manche Berichte als geschichtlich oder geschichtsähnlich dargestellte Ver- sinnliclmngen von Begriffen zu erkennen, durch sie seien die im Laufe der Zeitalter verschiedenen Formen derselben Geschichten zu verstehen, durch sie das Bleibende von dem Temporären zu scheiden. Wenn diese Ausführungen Schellings auch wohl eine Reihe neutestamentlicher Arbeiten einleiten sollten, können sie doch auch für seine alltestamentlichen An- schauungen Wichtigkeit bewahren. Mit diesen Arbeiten schließt die orientalistische Jugendperiode in Schellings Publikationen. Schon in seiner historischen Examenschrift über Marcion3) berührt er nur gelegentlich das Alte Testament und betont bloß, daß sich Marcion schon nach Tertullians Urteil in seiner negativen Stel- lung zum mosaischen Gesetz und den opiniones judaicae von Paulus unter- scheide. In einem Brief an Hegel4) spricht er es dagegen gleichzeitig deutlich aus, daß überhaupt seine theologischen Arbeiten stark zurück- getreten seien5). Wir sehen Schelling also um 1795 in den gewöhnlichen *) 1. c. S. 43 f. Wie hat sich später Schellings eigene Auslegung verändert! 2) 1. c. S. 45 f. 3) De Marcione Pauliniarum epistolarum emendatore 1795, W. W. Bd. 1 S. 113—148, bes. S. 137, 146. 4) W. W. Bd. 15, S. 73; „Wir müssen weiter noch, als zu einem persönlichen Gott“, Brief an Hegel, ebenda S. 80. 5) Zu Schellings erster Periode vgl. die Äußerung W. W. 15, S. 30f. : „Man hat erzählt, Schelling habe in Tübingen nur für einen ausgezeichneten Kenner der alten Sprachen gegolten, woraus Mißgünstige einen bloßen Hebräer gemacht haben. Dies ist nun wohl auch richtig. Aber es liegt darin doch nur dies, daß vor seiner auffallenden philologischen Begabung sein philosophisches Talent, das erst in der Ausbildung begriffen war, ganz verschwand oder im Hintergrund blieb. Einmal hatte Professor Uhland, ein zwar gelehrter Mann, der besonders in den antiquitatibus christianis sehr gute Kenntnisse hatte, aber durch hohes Alter schwach geworden, eine Stelle im Propheten Hosea als verdorben und unver- ständlich bezeichnet. Da proponierte (in öffentlicher Disputation) Schelling sofort eine überraschend gute Konjektur, die auf der Herstellung eines sog. Parallelismus der Glieder beruht. Dies ärgerte den alten Mann, und er rief mit der ihm eigenen Fistelstimme, er redete nur lateinisch: „Quid mihi parallelismus verborum?“ — 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Bahnen des damaligen Rationalismus als gut unterrichteten, mit semitischen Sprachkennlnissen begabten, in kühner und genialer Religionsvergleichung arbeitenden, die Betrachtungsweisen der berühmtesten historisch-kritischen Alttestamentler seiner Zeit verwertenden Orientalisten vor uns. Man konnte berechtigte Hoffnungen für die biblische Exegese auf ihn setzen, und wäre er in seinen Forschungen fortgefahren, würde man seinen Namen wohl heute mit Meiners, Lorenz Bauer, von Cölln, Daumer etc., vielleicht auch mit De Wette, Gesenius und Ewald zusammen nennen. Aber von nun an beginnen philosophische Untersuchungen mehr und mehr sein Interesse in Anspruch zu nehmen. Seine naturwissenschaft- lichen Studien und seine pantheistischen Neigungen finden im Alten Testa- ment keine Nahrung, und so scheidet es für die allermeisten Arbeiten seiner Mannesjahre fast gänzlich aus. Aber in einzelnen Aufsätzen zeigt er bisweilen seine bleibende Bekanntschaft mit orientalistischen Problemen, und gelegentlich finden sich in seinen Werken und besonders in seinen Briefen alttestamentliche Notizen verstreut. Zunächst sei erwähnt, daß sich hier und da in verschiedensten Schriften hebräische Ausdrücke finden, daß er beispielsweise einmal die Bamot* 1) Israels oder die Chokma2) des Alten Testaments erwähnt, daß er die Gottesnamen Elohim und Jahve3) öfters berücksichtigt4) und gelegentlich in seinen Briefen recht gewagte Kabiren6) - unter Mißdeutung von Hiob 40,30 vorschlägt. Dann sei hingewiesen, daß Beziehungen auf biblische Ausdrücke sich nicht ganz selten im Verlauf andersartiger Abhandlungen und Notizen vorfinden. So erwähnt er einmal Hiob 28 als Stelle eines morgenländischen Gedichtes und im selben Zusammenhang Verse aus den Proverbien und der Weisheit Salomos mit freilich völlig erkünstelter Ausdeutung7). So gebraucht er einmal, in Erinnerung an Genesis 6,1 und Röm. 8,19 für die ewigen Ur- Dagegen sei auch notiert aus der Encycl. Britannica 9. Auf!., Bd. 21, 1886, S. 389 f. über Schelling: The influence of these early studies over his later literary career has been often exaggerated, but doubtless they contributed to strengthen bis natural tendency to dwell rather on the difficulties of abstract thinking.“ 1) W. W. Bd. 9, S. 351. 2) W. W. Bd. 16, 2, S. 230. 3) W. W. Bd. 16, 2, S. 229 f., S. 20. 4) W. W. Bd. 16, 1, S. 333. e) W. W. Bd. 16, 2, S. 159. 6) W. W. Bd. 16, 1, S. 445 f. 7) W. W. Bd. 9, S. 223 f., 243, 245. Er deutet Hiob 28, 23a: „Selbst Gott weiß nur den Weg zu ihr“ (d. h. Weisheit), nämlich sie ist ihrer Natur nach nichts Stillstehendes, und auch bei Gott kann sie nicht als ein Stillstehendes sein. „Gott weiß nur den Weg zu ihr, denn er sieht die Enden der Erde“, d. h. alles menschlichen Lebens, und die Weisheit ist nicht im Anfang, nicht im Mittel, nicht im Ende allein; sie ist im Anfang, Mittel und Ende. Etymologien aus dem Hebräischen z. B. Herakles5) oder Y. Abteilung. Evangelisch-theologische Sektion. 9 bilder der Dinge den Vergleich mit den „unmittelbaren Söhnen und Kindern Gottes“1). So führt er bei der Emendation einer homerischen Stelle, die übrigens gegen Creuzer polemisiert, die messianischen Weis- sagungen Jes. 2,4, Mich. 4,3, Jes. 9,5 an2). So zitiert er die alttestament- liche Bezeichnung Gottes als eines wunderlichen Gottes3) und bezieht sich bisweilen auf biblische Berichte wie Sündenfall, Paradiesesgeschichte4), Samuels Beschwörung durch Saul etc.5). Ferner kann man nachweisen, daß Schelling in der morgenländischen Religionsgeschichte lebenslang gute Kenntnisse besessen hat. Er versteht die Neugier, die in den Wüsten6) Persiens oder in Indiens Einöden nach Trümmern uralter menschlicher Herrlichkeit forscht. Er kennt den Toten- dienst Ägyptens7) und den Enthusiasmus der phrygischen Priester8), er hat sich mit Schlegels9) Buch über Indien eingehend beschäftigt und sich darüber stark geärgert, weil er in seinem „höchst krassen und allgemeinen Begriff des Pantheismus“ eine versteckte Polemik auf sich selber heraus- hörte10). Er kennt die Mythologie der Hindus11) und den persischen oder manichäischen Dualismus12). Er erwähnt einmal ein sinniges arabisches Märchen13), nach dessen Worten die Einwohner der arabischen Sandwüste von schlecht gearbeiteten Statuen ihrer Gegend sagten, sie würden am jüngsten Gericht von ihren Urhebern die Seelen fordern, womit diese sie zu begaben vergessen hätten. Er hat in einem sehr interessanten Aufsatz14) über die arabischen Namen des Dionysos gehandelt und anknüpfend an Herodot III, 8 und I, 131 Alilat als al-ilat = Göttin, Dionysos — OupoxaAx in Ableitung von u. als Patronymikon erklärt, hat ferner den von Hesychius für Dionysos überlieferten Namen AouaapY]? aus dem Arabischen als „Besitzer des Saatkorns“ und sogar Bacchus als Abform von bah = euye, Dionysos als ^ „Herrgott der Menschen“, d. h. des wahr- haft menschlichen Lebens“ und seinen Beinamen Bassareus als Derivat von nra = awxyjp gedeutet. Er hat auch dabei, wie wohl schon in diesem Zusammenhang bemerkt werden darf, von den Arabern behauptet, daß sie !) W. W. Bd. 4, S. 222. 2) W. W. Bd. 9, S. 323 ff. 3) W. W. Bd. 10, S. 172. 4) W. W. Bd. 10, S. 77, W. W. Bd. 6, S. 42 u. a. m. 5) w. W. Bd. 9, S. 87. 6) W. W. Bd. 9, S. 33. 7) W. W. Bd. 9, S. 16. 8) W. W. Bd. 7, S. 356 f. 9) W. W. Bd. 7, S. 338, 352. 10) W. W. Bd. 16,1, S. 153 f., S. 156 f. 11) W. W. Bd. 1, S. 405, Bd. 5, S. 423. 12) W. W. Bd. 16,1, S. 153 f. 13) W. W. Bd. 6, S. 571. H) W. W. Bd. 9, S. 328—335. 10 Jahresbericht der Schies. Gesellschaft für vaterl. Cultur. „jenem ältesten Monotheismus, der nur ein Prinzip, nämlich das große Prinzip der Natur (des Himmels und der Erde) verehrte“, am nächsten stünden und in ihrem Dualismus der Urania und des Dionysos „das eigent- liche Zwischenglied zwischen jenem ältesten Monotheismus (den ich freilich nur in einem relativen Sinne so nennen kann) und dem späteren ent- schiedenen Polytheismus“ besäßen. Schelling hat ferner die Schriften des Salomo Maimon1) und die Lehre der jüdischen Kabbala2) gekannt. Er hat gelegentlich eines Auf- satzes über Arnobius3) ein Zitat aus dem arabischen und persischen Lexikon des Castellius gegeben und den Wert des Alten Testaments für die An- schauung des Arnobius betont. Er hat einmal gegen Hume den arabischen Roman Philosophus Autodidactus4) erwähnt, hat in einer Besprechung des Hegelschen Systems die Legende von Wischnu5) und Mahabala angeführt, die bloße Notwendigkeit der spinozistischen Lehre mit der Verschlossen- heit des Alten Testaments verglichen und von ihr gesagt: „die Philosophie des Spinoza6) ist wie das Hebräische eine Schrift ohne Vokale, eine spätere Zeit hat erst die Vokale dazu gesetzt und sie aussprechlich ge- macht“. Schelling hat sich immer wieder mit der griechischen Mysterien- Religion beschäftigt, hat von ihr etwa einmal den Satz geschrieben: „Die esoterische Religion ist ebenso notwendig Monotheismus, als die exoterische unter irgend einer Form notwendig in Polytheismus verfällt. Erst mit der Idee des schlechthin Einen und absolut Idealen sind alle anderen Ideen gesetzt“7), und damit eine schon frühzeitig in ihm beginnende Erkenntnis formuliert8). Den Begriff eines menschlich leidenden Gottes hat er als Gemeingut aller Mysterien und Religionen der Vorzeit hingestellt, hat auch einmal für die Volksreligion den Ausdruck Pandämonismus9) gebraucht und in seinen kunstgeschichtlichen Arbeiten10) die griechische Kunst mit Hilfe der äginetischen von der ägyptischen hergeleitet. Er hat in der Er- klärung der Religionen überhaupt an verschiedenen Stellen seiner Werke „an der äußersten dämmernden Grenze der bekannten Geschichte schon eine von früherer Höhe herabgesunkene Kultur, schon entstellte Reste vor- 1) W. W. Bd. 1, S. 208 Anm. 2) W. W. Bd. 10, S. 52. 3) W. W. Bd. 9, S. 253 ff., 299 (Zitat aus Castellius), 283, bez. auf das Alte Testament. 4) W. W. Bd. 10, S. 78. 5) W. W. Bd. 10, S. 144 ff. 6) W. W. Bd. 10, S. 40. 7) W. W. Bd. 6, S. 67. 8) W. W. Bd. 1, S. 296 f. 9) W. W. Bd. 7, S. 355. 10) W. W. Bd. 9, S. 120 ff. V. Abteilung. Evangelisch-theologische Sektion. 11 maliger Wissenschaft“1) angenommen und den Ursprung der Religion wie jeder andern Erkenntnis und Kultur aus dem Unterricht höherer Naturen begreiflich gemacht, damit also die Versuche2), die erste Idee von Gott oder Göttern aus Furcht und Dankbarkeit oder aus schlauer Erfindung der Ge- setzgeber abzuleiten, von sich gewiesen. Er spricht in diesem Geiste lieber von der „verönstertsten“ als von der unentwickeltsten Religion3). Wohl hat Schelling auch in den späteren Perioden seines Lebens der Kritik je und je ihr Recht gelassen. Wohl hat er von dem vernunftmäßigen Ge- brauch der Offenbarung4) nicht viel wissen wollen, wohl auch, wie in seiner Jugend Mythen5) im Alten Testament zu erkennen geglaubt, aber die Wertung der ältesten Zeiten hat sich für ihn immer mehr entwickelt, und er hat die kulturelle Höhe der Anfangsperioden betont. Es sei in diesem Zusammenhänge auf die verschiedenen Wortbilder verwiesen, die Schelling durch Zusammensetzung mit der Vorsilbe Ur ge- wonnen hat und deren Vorhandensein für seine Anschauung charakteristisch bleibt. Ich kann aus seinen Werken die Worte Urbild6), Urwissen7), Ur- bewußtsein8), Ureinheit9), Urständ10), Urwesen11), Urvernunft12), Urbegriff13), Ursubjekt14), Urvolk15), Uridee16) belegen und dadurch auf jeden Fall nachweisen, daß solche Zusammensetzungen für Schelling gebräuchlich waren und daß das Wort Urmonotheismus, selbst wenn es in dieser Form bei ihm nicht auffindbar ist, mindestens in seinem Geiste gebildet wurde. 4) W. W. Bd. 6, S. 58 f. „Jenen Zustand bewußtloser Glückseligkeit sowohl als den der ersten Milde der Ei’de haben die Sagen aller Völker in dem Mythus des goldenen Zeitalters erhalten.“ 2) W. W. Bd. 5, S. 286 f., 224 f. 3) W. W. Bd. 10, S. 273, D W. W. Bd. 1, S. 474—482. 5) Fichtes und Schellings philosophischer Briefwechsel 1856, S. 103; W. W. Bd. 5, S. 412 ff.; S. 425: „die jüdische Mythologie, welche sich erst, nachdem diese Nation durch ihre politische Unterjochung mit fremden Völkern in nähere Be- rührung kam, einigermaßen geläutert hatte — indem sie alle höheren Vorstellungs- arten, selbst den philosophischen Monotheismus bloß fremden Völkern verdankte — war in ihrem Ursprung und an sich eine ganz realistische Mythologie“. Den Mosaismus im spezifischen Sinne hat Schelling nicht hoch geachtet, W. W. Bd. 6, S. 556, 559. 6) W. W. Bd. 5, S. 227, Bd. 4, 222. 7) W. W. Bd. 6, S. 42, Bd. 5, S. 220, 248, 280. 8) W. W. Bd. 9, S. 236, 237, 244. 9) W. W. Bd. 6, S. 35, 44, 51, Bd. 9, S. 237. 10) W. W. Bd. 10, S. 377 f. 11) W. W. Bd. 7, S. 354, Bd. 6, S. 58. 12) W. W. Bd. 6, S. 42. 13) W. W. Bd. 10, S. 21. ii) W. W. Bd. 10. S. 307. 15) W. W. Bd. 5, S. 224. 16) W. W. Bd. 6, S. 41. 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Ergibt sich so aus den Werken Schellings, daß er den Kontakt mit alt- testamentlichen Fragen niemals verloren und seine orientalistischen Kennt- nisse immer wieder vertieft und angewendet hat, so zeigt sein Briefwechsel, daß er mit vielen Alttestamentlern seiner Tage im Verkehr gestanden und an vielen Publikationen seiner Zeit Anteil genommen hat. Da ergibt sich z. B., daß er Oettinger’s Theologia es idea vitae deducta und sein Buch De corporatismo S. Scripturae in seiner Bibliothek gehabt habe1), daß die Arbeiten seines Vaters von ihm zum Druck befördert und genau studiert worden sind2), daß er das äußerst wunderliche Buch von J. A. Kanne3): Erste Urkunden der Geschichte oder allgemeine Mythologie 1808, eine Arbeit in der alle Patriarchen, Richter und Propheten Israels zu Göttern gestempelt, in der unmögliche Parallelen zwischen verschiedenen Religionen gezogen und sonderbarste Kombinationen vorgenommen werden, einigermaßen gekannt und erstaunlicherweise geschätzt hat4). Da ist besonders hervorzuheben, daß nach der Abfassung der unten zu betrach- tenden Abhandlung über die Samothrakischen Gottheiten Schelling Sonder- exemplare dieser Arbeit an viele bedeutende Gelehrte gesandt hat, daß er dabei in einer Zuschrift an Georgii des verstorbenen Exegeten Rieger gedenkt5), daß er in besonders ehrender Weise einige Jahre später Johann Conrad Orelli für die Erklärung der Dii Consentes seinen Aufsatz zuschickt und den dortigen Anmerkungen Zusätze beifügt, wrelche fortgesetzte Be- schäftigung mit diesem Gegenstände bekunden6). Interessant ist auch, daß er ein solches Sonderexemplar an Silvestre de Sazy7) geschickt und sich ihm dabei in einem sehr schmeichelhaften lateinischen Briefe vor- gestellt hat. Darin schreibt er: „Me inde a tenera juventute non modo graecarum verum etiam orientalium literarum studia tenuere, quarum primus magister pater mihi exstitit jam defunctus, in hoc doctrinae genere quondam apud nos haud ignobilis auctor, deinde doctissimus Schnurrerus, quem scio etiam a te magni fieri et amici loco haberi.“ Er knüpft dann an die Arbeiten von Gerhard Voss und Bochart über den phönizischen Ursprung der Kabiren an, betont die Wichtigkeit des behandelten Gegen- standes und zitiert Freretus und Sancta-Cruz. Später hat er in der Münchener Akademie auch Silvestre de Sazy einen warmen Nachruf ge- widmet und die Bekanntschaft mit dessen Arbeiten, auch mit dessen ägyp- tischen Studien, bewiesen8). Interessant ist ferner, daß Schelling mit 1) W. W. 16, 1 S. 180 f. 2) W. W. 15, S. 186, 214 f., 257, W. 16, 1 S. 100. 3) Aus seinem Werk vgl. besonders S. 11, 38, 112, 199, 336, 440, 116, 135, 458, 334 ff., 207. Diestel, Geschichte S. 696 Anm. 36. *) W. W. 16, 1, S. 160 f. 5) W. W. 16, 1, S. 359. 6) W. W. 16, 1, S. 408 f. 7) W. W. 16, 1, S. 361 f. 8) W. W. 10, 299 f. V. Abteilung. Evangelisch-theologische Sektion. 13 Victor Cousin in Briefwechsel gestanden und sich dabei einmal ziemlich scharf über Baader und Görres und das Werk eines gewissen Molitor ausgesprochen hat1), sowie daß er 1826 in einem Brief an Neander eine eingehende Untersuchung über die Hypsistarier bietet. Als Hauptsache betont er dabei die ursprüngliche Existenz eines der eigentlichen Viel- götterei vorausgegangenen aber doch mit Sabäismus versetzten Monotheis- mus, weist auf die alttestamentliche Verwendung des Wortes Elohim für die Engel, schildert den Sabäismus als uralt, sehr reell und sehr praktisch und gibt unter Anlehnung an Cyrill eine Schilderung von dem Glauben der ältesten Gottesfürchtigen wie Jethro und Melchisedek, in der er diesen keinen Theismus, sondern etwa das, was er später unbewußten Monotheis- mus nannte, was er hier mit dem „Heidentum vor dem eigentlichen Heidentum“ vergleicht, zuerkennt2). Höchst bedeutsam ist weiterhin, daß Schellings Briefwechsel zeigt, wie er mit Creuzer in lebhaftem Gedankenaustausch und enger Geistes- gemeinschaft gestanden hat. Schelling weiß zwar, daß er in manchen Anschauungen von Creuzer abweicht, und spricht das auch einmal an Cousin aus3), aber er fühlt sich durch die Zueignung der Arbeit Creuzers über Proclus hochgeehrt, er bedankt sich herzlichst für die Zuschickungen der Symbolik und rühmt deren Bedeutung aufs wärmste. Er hat also in Berührung und wohl auch in Abhängigkeit von Creuzer seine letzten mythologischen Arbeiten ausgeführt und viele seiner Anregungen über- nommen4). Erwähnenswert scheint auch, daß er gelegentlich seiner „Gottheiten von Samothrake“ mitteilt, wie mit dieser Arbeit langgehegte Pläne zur Ausführung kämen5), daß seine Korrespondenz auch zeigt, wie lange er mit den Vorbereitungen seiner Philosophie der Mythologie6) be- schäftigt gewesen, wie zornig er über die unbefugte Weitergabe ihrer Kolleghefte7) geworden, wie heftig er sich gegen verständnislose Angriffe8) auf dieselben gewendet hat, wie die Arbeit an der Philosophie der Mytho- logie den Hauptgegenstand der Briefe an seinen Schüler Dorfmüller bildet9), wobei er sich einmal bezeichnenderweise den Ausdruck Urvordenkliches für sich selbst reserviert, weil ihm diese Wortbildung fast ebenso eigen- tümlich sei als für Paulus rcpo nöxo'Aoe, xxi'aew?. Und wird endlich noch angeführt, daß in einem Briefe an Georgii die Etymologie von 1) V/. W. 16, 2, S. 97, 2) W. W. 16, 2, S. 19—23. 3) W. W. 16, 1, S. 362 f., 16, 2, 18 f. 4) W. W. 16, 1, S. 445 f., 16, 2, S. 4 f., 12 f. 6) W. W. 16, 1, S. 363 f. 6) W. W. 16, 2, S. 188, 209, 231. 7) W. W. 16, 2, S. 1 10 f., 1 14. 8) W. W. 16, 2, S. 189-191, 16, 2, 131. 9) W. W. 16, 2, S. 139, 147 f., 159, 181 f. 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Ex. III1) zur Begründung einer Entfaltung und Entwicklung Gottes benützt und damit pantheistisch verdeutet wird, daß sich in einem Briefe an Windischmann2), anknüpfend an Friedrich Schlegels Indien die Behauptung findet, ,,daß gerade der recht verstandene Pantheismus das älteste System ist, wie er das wahre ist, und daß der Dualismus der frühesten Zeit ent- weder eins mit jenem war (wie sich denn vernünftigerweise ein Dualis- mus nur innerhalb des Pantheismus, d. h. eines Systems der Einheit denken läßt), oder doch ein Abkömmling von ihm, und ein durch Iso- lierung entstandenes aber darum entweder schon gleich anfangs verdorbenes oder doch zum Falschen hinführendes Denksystem“ und daß Schelling diese Tatsachen „die seltsam wechselnde Gestalt des einen Urglaubens“ nennt, wird zuletzt noch bemerkt, daß Schelling in einem Brief an seinen Sohn Fritz3) durch eine beinahe an Renan erinnernde Weise den Gottes- namen Jahve Elohim dahin interpretiert, Elohim sei der Name des Seienden, des Allgemeinen, Jahve der Name des individuellen Wesens, des Gottes als absoluten Einzelwesens, Jahve sei das Angesicht Ex. 23, 20, Elohim das, wodurch sich Gott a posteriori erkennbar mache: so wird es fraglos sein, daß gerade Schellings Briefwechsel seinen bleibenden, wenn auch zeitweise latenten Konnex mit der alttestamentlichen Wissenschaft offenbart und eine Fundgrube wichtigen Materials bildet. Nachdem bisher aus Schellings Werken verstreute Notizen und Einzel- heiten orientalistischen Inhalts zusammengetragen wurden, müssen nun- mehr zwei seiner Arbeiten besonders betrachtet werden. Es ist die schon mehrfach erwähnte Abhandlung über die Gottheiten von Samothrake und sein nachgelassenes Werk über Philosophie der Mythologie und Offenbarung. Die erste Arbeit4), die in einer Sitzung der Münchener Akademie vom Jahre 1815 verlesen wurde, bildete ursprünglich eine Beilage zu den Weltaltern, jenem unvollendeten theosophisch-mythologischen Werke, das Schellings ganze spätere Lehre nach einem Worte Kuno Fischers5) schon in nuce enthalten sollte. An den Gottheiten von Samothrake wollte er die Richtigkeit seiner Theorie praktisch beweisen. Er versuchte das Göttersystem dieser Insel auf phönizische und vorderasiatische Einflüsse6) zurückzuführen und definierte die kabirische Lehre als ein „von unter- geordneten Persönlichkeiten oder Naturgottheiten zu einer höchsten, sie alle beherrschenden Persönlichkeit, zu einem überweltlichen Gott auf- steigendes System“7). Dabei polemisierte Schelling gelegentlich gegen die 1) W. W. 16, 1, S. 333. 2) W. W. 16, 1, S. 163 f. 3) W. W. 16, 2, S. 229 f. 4) W. W. Bd. 8, S. 345—423. 5) 1. c. S. 700 ff. 6) W. W. Bd. 8, S. 351, 358 ff. 7) 1. c. S. 361. V. Abteilung. Evangelisch-theolugisclie Sektion. 15 übertriebenen Anschauungen Warburtons und meinte, daß der ganz ab- strakte ,, nicht alt- nicht neutestamentlich, nur etwa mohammedanisch zu nennende Monotheismus“ der alten Kultur widerstrebe, daß auch kein direkter Einfluß israelitischer Vorstellungen anzunehmen sei. Schelling sieht in der Götterlehre der Kabiren ,, Trümmer einer Erkenntnis1), ja eines wissenschaftlichen Systems, das weit über den Umkreis hinausging, den die älteste durch schriftliche Denkmäler bekannte Offenbarung gezogen hat“, „eines Ursystems“, das die gemeinschaftliche Quelle aller religiösen Lehren und Vorstellungen mindestens sein könnte und dessen genaue Er- forschung späteren Studien Vorbehalten bleibe. Er bestreitet also die Be- hauptungen von Gerhard Voss, Bochart2) und Anderen, nach denen die Lehre des Heidentums nur Verunstaltung der alttestamentlichen Geschichte und der an das Volk Gottes ergangenen Offenbarung sei, und möchte sie im Gegenteil für einen nach einmal eingetretener Verderbnis und unauf- haltsamer Entartung in Vielgötterei mit weisester Einschränkung vom Ur- system erhaltenen Teil erklären. Dabei schiebt er das Alter der griechisch- pelaskischen Götterlehre möglichst hinauf, noch über die ägyptische und indische. Die Geheimlehren Griechenlands will er von den Phöniziern herleiten, bei denen dafür mehr Material als bei den Ägyptern vorhanden sei und auf die auch schon mehrere Götternamen hinwiesen. Die Bedeu- tung des Wortes Kabiren3) will er nicht von hebräischen T33 als die Mächtigen ableiten, sondern als „eine das Tiefste mit dem Höchsten ver- bindende Zauberkette“ aus der Wurzel -on als ein zusammengehöriges Ganzes von Göttern, als Dii Consentes oder Complices, deuten. Sie ver- körpern so „den Grundgedanken, unverkennbar das Ganze der ursprüng- lichen Lehre, einen aus ferner Urzeit geretteten Glauben, den reinsten und der Wahrheit ähnlichsten des ganzen Heidentums“4). Sie werden mit andern Göttern zusammengestellt und hochbewertet. Daß die Be- hauptungen Schellings zum Teil nur dem künstlichen Aufbau seines Systems ihre Entstehung verdanken und ohne wahre Berechtigung sind, leuchtet ein. Kuno Fischer5) hebt als Mängel der Arbeit die Ignorierung kritischer Fragen und die falsche Identifikation des unterweltlichen und oberweltlichen Dionysos, der samothrakischen und etruskischen Gottheiten und des etruskischen und orphischen Zeus hervor, und schon Goethe6) hat im 2. Teil des Faust die Kabiren satirisch verwendet. Für meinen Zweck sind die spezifisch-orientalistischen Bemerkungen im vorliegenden Aufsatz besonders interessant und darum die Anmerkungen der Arbeit D 1. c. S. 365 und S. 401. 2) 1. c. S. 362. 3) 1. c. S. 366 ff. 4) 1. c. S. 369. 5) 1. c. S. 703. 6) Faust, II. Teil, 2. Akt, Vers 1602—1640, Gespräche mit Eckermann II, S. 186- 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. berücksichtigungswert. Hier zeigt Schelling ausgedehnte philologisch- mythologische Quellen- und Literaturkenntnis, zitiert Sainte-Croix1) und Münter2), Creuzers Symbolik3) und Buxtorfs Lexikon4), Bochart5) und Hydes religio Persarum6), Pausanias7) und Diodor8), Euseb9) und Sancho- niathon10), Eisenmengers Entdecktes Judentum11) und Barthelemys Reflexions sur quelques monuments Pheniciens12). Er bietet eine Fülle an- ziehender Bemerkungen und gibt eine nicht geringe Menge eigener Ety- mologien. Er verbindet die Wurzel mit £?n13) und nimmt an, daß bei ihr „der Begriff des Mangels, des Hungers der erste ist, dem der des Ansichziehens, Besitzergreifens, Festhaltens erst folgt“ und liefert eine ebenso wunderliche Erklärung des Namens Ahasver. Er will und Ti'38 in inneren Zusammenhang bringen und führt als Parallele den Doppelsinn des deutschen „Schmachten“ an14). Er erklärt Ceres15) als Ableitung von und ist gegenüber allen sonstigen Deutungen auf diese Erklärung sichtlich stolz. Er führt für Magie persische und arabische Wurzeln an und verbindet Freja mit den persischen Peris16). Über die Bedeutung des ägyptischen Phtha gibt er eine umfängliche etymologische Anmerkung und will dabei die deutsche Vorsilbe Ur mit dem hebräischen „dem inneren Feuer, gleichsam dem, was im Feuer das Feuer ist“ verknüpfen17). Auch Osiris soll auf hebräische Wurzeln zurückgehen und Kadmilo^ eine Erklärung in seinen Weltaltern, in der er daran anschließend die unglaubliche Behauptung aufstellt, „es zeige sich die Lehre von der Ein- heit des göttlichen Wesens in der Zweiheit tiefverwebt in das Innerste 1) 1. c. S. 372. 2) 1. c. S. 374 f., 422. 3) 1. c. S. 401, 396 u. a. o. *) 1. c. S. 391. 5) 1. c. S. 377. 6) 1. c. S. 377. 7) 1. c. S. 379. 8) 1. c. S. 373. 9) 1. c. S. 381 u. a. o. 10) 1. c. S. 392. 11) 1. c. S. 416. 12) 1. c. S. 387, 389 ff. 13) 1. c. S. 377 f. ii) 1. c. S. 378 f., 380 Anm. 39, auch pfniX soll daher stammen (!). 15) 1. c. S. 384 f. 16) 1. c. S. 385. ii) 1. c. S. 386 ff., bes. 388. 18) 1. c. S. 392 f. io) 1. c. S. 393, 272 ff. Für den lTJSH • T — T und den rprp auf V. Abteilung. Evangelisch-theologische Sektion. 17 selbst der Sprache des Alten Testaments“, und geradezu kabalistische Spekulationen an das Wortbild des Tetragramms anschließt. Creuzers Symbolik wird einmal als ausgezeichnetes Werk gerühmt und sehr oft benützt, übrigens in erster Auflage, während Creuzers zweite Auflage sehr anerkennend von Schellings Arbeit spricht1). Über Melchisedek findet sich anknüpfend an ein Zitat aus Sanchoniathon und in Anlehnung an eine Ausführung Creuzers die Behauptung, es sei der Name des höchsten Gottes selbst und enthalte einen kabirischen Emanationsgedanken, Malkisedek sei der erste bekannte Kabir, dem das System bis in die vierte Zahl eröffnet war, das im Lauf der Zeiten zu vollendeter Klarheit bis in die Sieben — , ja in die Achtzahl aufgeschlossen werden sollte2). Die ü’n^n nn in Gen. 6, 1 erklärt er für „Verehrer des wahren Gottes, die gleichsam als abgesondert von den übrigen Menschen und als ein eigenes Geschlecht vorgestellt werden, als die Eingeweihten der ersten und ältesten Mysterien; von Anfang an war etwas abgeschlossen, nur einem Teil des Menschengeschlechts vertraut, das sich erst allmählig wie von einem Mittelpunkt aus verbreiten sollte“. Die Dioskuren ent- sprächen ihnen3). Die schon angeführte Ableitung der Kabiren wird mit vieler sprachlicher Gelehrsamkeit gestützt und dabei die bezeichnende Wendung geschrieben: „Es ist fast traurig zu sehen, wie man auch in diesen Forschungen von den wahren Quellen so ganz sich abgewendet hat. In Ägyptens selbst dunklen und unenträtselbaren Hieroglyphen hat man den Schlüssel aller Religionen suchen wollen; jetzt ist voll nichts, als Indiens Sprache und Weisheit die Rede; aber die hebräische Sprache und Schriften zuvörderst das Alte Testament, in welcher die Wurzeln der Lehre und selbst der Sprache aller alten religiösen Systeme bis ins Einzelste deutlich erkennbar sind, liegen unerforscht. Sehr zu wünschen ist, daß diese ehrwürdigsten Denkmäler bald aus den Händen bloßer Theologen in die der reinen Geschichtsforscher übergehen, da sie hoffen dürften, dieselbe unbefangene Würdigung zu erfahren und als Quellen doch wenigstens ebenso viel zu gelten als die homerischen Gedichte oder Herodots Er- zählungen“4)- Im ganzen betrachtet, zeigt die Arbeit viele geistvolle Verknüpfungen, aber auch viele abstruse Willkürlichkeiten, vielen Spekulationszwang und viele Sprachmengerei. Der Einfluß Creuzerscher Ideen ist evident, der Vergleich mit* modernsten Arbeiten über die Semiten als Kulturträger sehr bedenklich. Es ist ein Wirrwar sonderbarer Behauptungen, in denen wir uns heute kaum zurechtfmden, die aber in der damaligen Zeit nicht allein standen. x) 1. c. S. 395. 2) 1. c. S. 398-400. 3) 1. c. S. 407 f. 4) 1. c. S. 409 ff., bes. 416 f. 2 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Den gleichen Geist zeigt nun auch das letzte für uns in Betracht kommende Werk Schellings, in dem Gesamtauffassung und Einzelbemer- kungen der alttestamentlichen Disziplingeschichte interessant werden. Das ist die Philosophie der Mythologie und Offenbarung, durch deren Aus- führungen Schelling in gewissem Sinne zum Vertreter der Lehre geworden ist, die man im modernen Verständnis Urmonotheismus nennen kann. Zuerst sei versucht, nach den Vorstellungen des ersten Teils der Mytho- logie die Gesamtauffassung1) zu skizzieren. Schelling geht von der Frage aus, ob Monotheismus oder Polytheismus das Primäre in der Menschheits- entwicklung sei. Sicherlich müßte ja der Mythologie als der Entstellung geoffenbarter Wahrheit2) nicht nur Theismus, sondern ausgesprochener Monotheismus vorangesetzt werden, doch sei diese Auffassung der Mytho- logie mit Recht umstritten. Und auch Schelling nimmt sie nicht restlos an. Unter Ablehnung der Humeschen3) Ansicht von der Priorität des Poly- theismus gibt er vielmehr eine eigene Konstruktion. Nach seinem Er- messen ist der Polytheismus sicherlich so alt wie die Verschiedenheit der Völker4). Da nämlich die Mythologie jedes Volkes zugleich mit ihm selbst entstanden sein muß und niemals in abstracto, sondern stets als Sonderart existierte, ist ein Monotheismus nur in der Periode vor der Völkertrennung möglich5). Für sie ist diese Annahme aber auch notwendig, denn nur „das Bewußtsein Eines allgemeinen und der ganzen Menschheit gemein- schaftlichen Gottes“ konnte die ursprüngliche Einheit des Menschen- geschlechtes erhalten, wenn auch der Gott dieses Bewußtseins noch nicht „der im Sinne eines geoffenbarten Monotheismus Eine“ war, der alles Mytho- logische von sich ausschloß. Zur Erklärung dieses Anfangsmonotheismus unter- scheidet dann Schelling zwei verschiedene Arten des Polytheismus 6). Es gibt nach seiner Ansicht einen simultanen Polytheismus, der eine gewisse Anzahl von Göttern annimmt, diese aber gleichzeitig einem Gott als Oberhaupt unter- ordnet und daher kein absoluter Polytheismus ist. Es gibt aber auch einen successivenPolytheismus7), der mehrere Götter zeitlich aufeinander folgen läßt, dadurch die Einheit jedes derselben bestimmt aufhebt und so allein der wahre, eigentliche Polytheismus ist. Dieser letztere ist aber auch der wahr- 1) W. W. Bd. 11 — 12, 13 — 14; ich benütze in Folgendem z. T. bisher noch ungedruckte Ausführungen meiner Lic. -Dissertation über die Hypothese eines israelitischen Urmonotheismus. 2) 1. c. Bd. 11. S. 83. 3) 1. c. Bd. 11, S. 75, 80. 4) 1. c. S. 92. 5) 1. c. S. 105. Dabei spezielle Beziehung auf die Genesiserzählung der Sprachverwirrung und die Behauptung, auch ganz unabhängige historische For- schung führe darauf, daß in Babylon der Übergang zum eigentlichen Polytheismus geschehen sei. 6) Vgl. die prinzipiellen Ausführungen S. 119 ff. 7) z. B. Uranos — Kronos — Zeus. V. Abteilung. Evangelisch-theologische Sektion. 19 haft geschichtliche Polytheismus, und an ihn lehnt Schelling seine weitere Konstruktion. Jeder successive Polytheismus muß selbstverständlich ein erstes Glied der Götterreihe haben, d. h. einen Gott, bei dessen Satzung im Menschengeiste noch kein anderer ihm vorangehender oder nach- folgender gegeben ist, der also für die Dauer seiner Sonderherrschaft ein einziger Gott ist1). Dies ist aber der Gott des ältesten oder relativen Monotheismus2 3), ein Gott, der zwar durchaus nicht unmythologisch, aber noch ohne alle gleichen ist, der am Beginn aller Entwicklung steht und daher dem ganzen Menschengeschlecht gemeinsam sein muß. Solcher Monotheismus erklärt, besser als der absolute Monotheismus oder über, haupt allein, die Einheit und das spätere Auseinandergehen der Völker8). Daher nimmt Schelling eine erste Periode an, da ,,im Bewußtsein der ursprünglichen, noch völlig ungetrennten Menschheit“ ein Gott A herrschte, dem bald ein anderer Gott B folgen sollte, aber noch nicht gefolgt war, und der deshalb als der „über die stille vorgeschichtliche Zeit herrschende Gott“ der einzige, bis dahin seiende Gott war und so sich „zwar potentia schon als mythologischer bewies, actu dies aber erst in der kommenden Entwicklung wurde“4). Und solchen relativen Monotheismus, dessen Auf- hebung der Polytheismus ist und auf den erst nach der Zwischenstufe des Polytheismus der ganz abstrakte Monotheismus folgt, findet Schelling auch im Alten Testament angedeutet. Dabei verwendet er Gen. III in folgen- der wunderlicher Ausführung: „Gott sagt, siehe der Mensch ist worden wie einer von uns, also — wie kann man die Worte "anders verstehen? — er ist nicht mehr der ganzen Gottheit, sondern nur noch Einem von uns Elohim gleich. Wie aber das Sein des Menschen, so ist auch sein Be- wußtsein (und das Verhältnis, welches der Mensch in seinem Bewußtsein zu Gott hat, beruht eben auf der Gleichheit seines Seins mit dem Gött- lichen,) also liegt, ohne das Axiom, daß das Erkannte wie der Erkennende ist, herbeizurufen, in den Worten zugleich, daß das Bewußtsein nur noch zu Einem von der Gottheit, nicht mehr zu der ganzen ein Verhältnis hat; was kann dies aber anders sein, als was wir relativen Monotheismus ge- nannt haben“5)? Schelling legt ferner auf die Unterscheidung von Elohim und Jahve6) wert und behauptet, freilich im Gegensatz zu seinen oben angeführten früheren Bemerkungen, daß Elohim Gott als unmittelbaren Inhalt des Bewußtseins, Jahve Gott als wahren bezeichne. Die ersten 1) 1. c. S. 125. 2) 1. c. S. 127. „Versteht man unter Monotheismus nur das Gegenteil von Vielgötterei, so ist im Bewußtsein noch wirklich Monotheismus; aber es ist leicht einzusehen, daß dieser zwar für die in ihm begriffene Menschheit absoluter ist, an sich und für uns aber bloß relativer . . .*• 3) 1. c. S. 128 f. 4) 1. c. S. 137. 5) 1. c. S. 142 f. 6) 1. c. S. 145. 20 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Menschen hätten also nicht „die vollkommene Erkenntnis und Verehrung des wahren Gottes“1) besessen, sondern diese setze erst mit dem zweiten durch Enos begründeten Menschengeschlecht ein und sei nur unter Gefahr des Polytheismus erlangt2). Die Sintflut3) bilde die notwendige Krisis der Vielgötterei, in welcher dem Gott A = Elohim, ein anderer Gott B substituiert wird, um durch dessen Betrachtung zum absoluten Gott Jahve zu führen. Den erkenne Abraham4) und bete ihn als neue Einsicht in wichtigen Augenblicken des Lebens an, ohne damit freilich dem Gott der Vorzeit untreu zu werden; „denn der wahre Gott ist ihm selbst nur in jenem offenbar geworden und daher von demselben untrennbar, untrennbar von dem Gott, der von jeher war, dem El olam, wie er genannt wird.“ Melchisedek5) sei freilich noch ein Anhänger des relativen Monotheismus, wie sein Name schon bedeute ,,den, der unbeweglich bei dem Einen bleibt“ und wie er „aus jenem einfach ohne Zweifel und ohne Unter- scheidung an dem Urgott hangenden und in ihm unwissend den wahren Gott verehrenden Geschlecht“ hervorträte, eine Anschauung, die freilich von der in den Gottheiten von Samothrake geäußerten wiederum weit ab- steht. Der reine eigentliche Monotheismus Abrahams weise ferner, obwohl er selber noch „unter der Bedingung der Mythologie“ stehe, auf den Gott, der sich Mose offenbarte6). In der alttestamentlichen Betonung der Aus- schließlichkeit und „strengsten negativen Einzigkeit“ Gottes ist hingegen ein Zeichen der Periode zu erblicken, in welcher der relative Mono- theismus mit dem Polytheismus im Kampfe lag und der abstrakte Mono- theismus noch nicht seine volle Sicherheit erlangt hatte7), so daß auch dadurch Schellings Grundanschauung bestätigt erscheint. Weil also die Offenbarungsreligion den Grundsätzen des Denkens nicht widerspricht8), glaubt Schelling deren Berechtigung nachgewiesen zu haben und schließt diese Ausführungen mit dem bezeichnenden Satze: „Wenn nun die schlechthin vorgeschichtliche Zeit keinen weiteren Unterschied von Zeiten in sich zuläßt, so ist jenes Bewußtsein der Menschheit, dem der relativ- Eine Gott noch der schlechthin - Eine ist, das erste wirkliche Be- wußtsein der Menschheit, das Bewußtsein, vor dem sie selbst von keinem andern weiß, in dem sie sich findet, so wie sie sich findet, dem der Zeit 1) 1. c. S. 147. 2) 1. c. S. 148, 155. So erklärt nämlich Schelling Gen. 4, 26, eine Stelle, deren vieldeutige Auslegung in der alttestamentlichen Disziplingeschichte von höchstem Interesse ist. 3; 1. c. S. 155. 4) 1. c. S. 161 ff., S. 163: Elohim — der ursprüngliche semitische Name des Urgottes; S. 165. 5) 1. c. S. 166 f. 6) 1. c. S. 171. 7) 1. c. S. 137 f. 8) 1. c. S. 178 f. V. Abteilung. Evangelisch-theologische Sektion. 21 nach kein anderes vorauszudenken ist; und es folgt also, daß wir dem Polytheismus keinen geschichtlichen Anfang wissen, denn im ersten wirk- lichen Bewußtsein ist er zwar noch nicht wirklich, aber doch potentia vorhanden“1). Übrigens bleibt Schelling eigentlich auch bei diesem rela- tiven Anfangs -Monotheismus nicht stehen, sondern will über ihn hinaus den Grund unseres Verhältnisses zu Gott jenseits des ersten wirklichen Bewußtseins da finden, wo der ,, Mensch oder das Bewußtsein in seiner reinen Substanz vor allem wirklichen Bewußtsein“ noch nicht Bewußtsein von sich ist, aber doch Bewußtsein von etwas sein muß und daher nur Bewußtsein von Gott selbst sein kann, in rein substanzieller Hinsicht2). Ihm gilt das Urbewußtsein also als das „Gott in seiner Wahrheit und ab- soluten Einheit Setzende“ und der Monotheismus als letzte Voraussetzung aller Mythologie, aber in übergeschichtlichem Sinne und nicht als Erwerb des menschlichen Verstandes, sondern als Besitz der menschlichen Natur, der daher entsteht, daß der Mensch in seinem innersten Wesen die gott- setzende Natur ist. Durch diesen „Monotheismus des Urbewußtseins“3) verwickelt sich also für Schelling die Frage nach dem Verhältnis von Monotheismus und Polytheismus noch mehr. Er behauptet von der ur- sprünglichsten Religion, sie sei „Monotheismus zwar4), aber der noch nichts von seinem Gegenteil, also auch sich selbst nicht als Monotheismus weiß und weder, in dem er sein Gegenteil ausschließt, sich bereits zum ab- strakten gemacht, noch in dem er es überwunden und bewältigt in sich hat, schon wirklicher sich selbst wissender und besitzender Monotheismus ist“. In allem wirklichen Bewußtsein habe Gott schon bestimmte Eigen- schaften und trete z. B. als Gott der Kraft, als El saddai auf, nur im rein substantiellen Bewußtsein gäbe es eine monotheistische Empfindung, die schließlich durch den theogonischen Prozeß bedingt würde. Doch führt die genauere Darstellung dieser Anschauung eigentlich über den Rahmen der vorliegenden disziplingeschichtlichen Arbeit hinaus und erfordert eine philosophische Würdigung der letzten positiven Periode des Schellingschen Systems, wie sie hier nicht gegeben werden kann. Für unsern Zweck erscheint vielmehr erwähnenswert, daß Schelling diese seine mythologischen Konstruktionen im zweiten Teile seiner Philo- sophie der Mythologie auf die verschiedensten heidnischen Religionen an- gewendet und ihre Entwicklung vom relativen Monotheismus durch den Polytheismus zum abstrakten Monotheismus dargestellt hat. Dabei schien x) 1. c. S. 182. In der eigentlichen „Philosophie der Mythologie“ (Schelling, W. W. Bd. 12, S. 9) sagt er charakteristischer Weise von dem relativen Mono- theismus, daß es „im Grunde schon Polytheismus“ sei. 2) 1. c. S. 184 f„ S. 187 f. 3) vgl. E. v. Hartmann, Schellings philosophisches System 1894, S. 44 ff. 4) 1. c. S. 188. 22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. ihm der Gott des Urbewußtseins J) , der alte Himmelsgott der unge- schiedenen Menschheit, mit dem ägyptischen Nu, dem vorchaldäischen Anu, dem vorwedischen Djaus, dem chinesischen Thian, dem griechischen Uranos und dem homerischen Okeanos identisch zu sein. In einer Form der Sternverehrung, dem Zabismus1 2), sieht Schelling in fast moderner Weise eine älteste Religion von relativem Monotheismus, eine astrale Religion, an welche der mythologische Prozeß sich anschließt3). Mit ihm beginnt erst die eigentlich geschichtliche Periode. Im Turmbau zu Babel erfolgt die Krisis der Völkertrennung, nun haben die einzelnen Nationen ihre eigene Geschichte. Die chinesische Kultur4) ragt unter ihnen aus grauer vorgeschicht- licher Zeit wie ein Überbleibsel der ursprünglichen Menschheit herüber. Bei allen anderen Religionen erlitt der alte Himmelsgott Wandlungen und entstand Mythologie5). Der Fetischismus bildet den letzten Rest eines viel- verbreiteten Glaubens, der eine Vergröberung der ältesten Vorstellungen ist. Kronos und Allah6) sind Ableitungen des alten Himmelsgottes und neben Götter treten Göttinnen7)- Aus Dyotheismus entwickelt sich Polytheismus, selbst Tiergötter wie in Ägypten und Indien treten auf. In vielen Einzel- ausführungen wird über Mythologien gehandelt, z. B. vom ägyptischen Typhon, Osiris und Horus8 *), von den Mysteriengöttern, sogar auch von den Germanen gesprochen. Auf das Alte Testament wird öfter zurückgegriffen; gelegent- lichwird eine Exegese von Deut. 6, 4#) geliefert, gelegentlich das Paradies10) mit der Sage Persephone verbunden, gelegentlich an den Begriff der nCOn11) angeknüpft. Aus der Philosophie der Offenbarung12) sei ebenfalls nur Einzelnes notiert. Da übersetzt Schelling einmal ^"ip13) durch ,,aus der Potenz wecken“ und 1) vgl. Fr. Sch aper. Schellings Philosophie der Mythologie, Schulprogramm aus Nauen 1893 S. 14 ff., 17 ff. 2) Schelling, W. W. 12, S. 174, 179 ff. Das Wort Zabismus bildet Schelling ausdrücklich vom hebräischen und greift auf die Bedeutung Zebaoth — Himmelsheere zurück, S. 185 ff. 3) Die Vergleichungen mit Hommelschen Anschauungen unserer Zeit drängen sich auf. O Sch aper, 1. c. S. 19; Schelling W. W. 12, S. 521 ff. 6) Schaper, 1. c. S. 21 ff. 6) W. W. 12, S 254, Beziehung auf seine Arbeit über Urotalt-Alilat. 7) Babylonien: Baal und Mylitta, Alt-Persien: Mitbras und Mithra, Phönicien: Baal und Astarte. 8) W. W. 12, S. 364 ff. ») W. W. 12, S. 47. 10) W. W. 12, S. 158. 11) W. W. 12, S. 656. 12) Vgl. Schaper, Schellings Philosophie der Offenbarung, Programm aus Nauen 1894 S. 14, 23 ff. 13) W. W. 13, S. 293 Anm., 294ff. V. Abteilung. Evangelisch-theologische Sektion. 23 bezieht sich auf Proverbien 8, 22 ff., um die Weisheit als Potenz des Anfangs zu schildern und dabei den für seine Spekulationen charakteristischen Satz zu schreiben : „Jenes Prinzip des Anfangs in seiner Latenz ist der Urständ — der Vorstand, das Prius der ganzen Bewegung, aber ohne sich selbst als solchen zu wissen. In der Wiederkehr ist es auch wieder der Urständ, aber nun der sich selbst wissende Urständ, d. h. der Verstand der ganzen Bewegung“1). Da bietet Schelling noch einmal einen Abriß seiner Philosophie der Mytho. logie und erwähnt seine Anschauungen über den Zabismus, die Perser, Babylonier, Araber, die Phönizier, Ägypter, Indier und Griechen, da führt er seine Untersuchung zur genauen Betrachtung der Mysterien fort und liefert eine Menge allgemein-religionsgeschichtlichen Materials, verknüpft auch einmal eine Stelle der Paradiesesgeschichte2) mit dem Kult der Demeter und zitiert wenigstens die orientalische Etymologie des Wortes Homer3) von iDssn, das Tohuwabohu4) und den Gottesnamen Jah5). Da bringt Schelling aber besonders im zweiten Teil des Buches eine Bestimmung der Offenbarungsweise6) im Alten Testament und betont dabei, daß der un- mittelbare Gott auch des Alten Testaments nicht der wahre, sondern der Gott sei, dessen Einzigkeit sich später als eine ausschließliche darstellt. Für Schelling steht auch das Bewußtsein des jüdischen Volkes unter der Gewalt des natürlich-heidnischen Prinzips, da die gesamte Menschheit nur zu dem falschen Urgotte, der als verzehrendes Feuer erscheint, ein un- mittelbares Verhältnis hat7). Aus ihm muß die Erkenntnis des wahren Gottes erst hervorgebracht werden. Und ein Beispiel dafür ist die Geschichte Abrahams8). Hier ist der Elohim des ersten Befehls der Urgott des Be- überhaupt im Alten Testament durch den falschen vermittelt und gleichsam an diesen gebunden, das ist die Schranke der alttestamentlichen Offen- barung. Die Entwicklung geschieht rein innerlich, und daher besteht eine immerwährende Spannung, „ja die ganze mosaische Einrichtung und Re- ligionsverfassung beruht nur auf der Realität jenes Prinzips, das wir das konträre, das widergöttliche genannt haben“9). Dabei knüpft die alt- testamentliche Entwicklung an den allgemeinen mythologischen Prozeß an und ist die durch die Mythologie durchwirkende Offenbarung, die im Mo- ll 1. c. S. 296. 2) 1. c. S. 420. 3) 1. c. S. 430. 4) i. c. S. 435. 5) 1. c. S. 486. S) W. W. 14, S. 119 ff. 7) Vgl. Schaper, Offenbarung S. 33ff. 8) W. W. 14, S. 121 ff.; man wird geradezu an Daumers Molochdienst der alten Hebräer 1842 erinnert. 9) W. W. 14, S. 124. T wußtseins, neu Erscheinendes. Der wahre Gott ist 24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. saismus immer noch einen Rest Heidentum zugrunde gelegt hat. Als solch heidnische Reste erwähnt Schelling die Ausschließlichkeit des israelitischen Gottesbegriffes1), den Polytheismus, dem Israel in Ägypten oder sonst verfiel2), die Beschneidung, die Speiseverbote3) und gewisse Opferriten4). Im mrr sieht Schelling nicht unmittelbar die zweite göttliche Person, sondern die zweite Potenz, das durch A2 bestimmte B, das auf den ältesten Zabismus des El olam, das Himmelsprinzip Abrahams, als neue Gottesoffenbarung folgt und von Jahve als A2 ersetzt wird; im nirP 'US sieht er den Zorn des sich durchsetzenden Gottes. Er nimmt also ein Successives in den Potenzen für die Religion des Alten Testaments an und will dadurch ihre Realität und relative Wahrheit5) beweisen. Der vielfältige Rückfall in falsche Vor- stellungen, das nie erlöschende Heidentum oft gerade in den führenden Kreisen und das Ungeklärte der israelitischen Vorstellungen lassen 'sich daraus begreifen und werden von Schelling genau behandelt. Dabei erwähnt er Spencer und Bochart6), dabei behandelt er den Azazel7) (Lev. 16) als bösen Geist, als Repräsentanten mythologischer Elemente und schildert das ständige Schwanken des Gottesglaubens in der Geschichte Israels. Über die Erwählung Israels schreibt er dabei die eigentümlichen Sätze8): „Ge- schichtlich schrieb sich das allerdings von den persönlichen Vorzügen ihres Stammvaters und den schon dem Abraham geschehenen Verheißungen her. Aber absolut betrachtet, kann man keinen anderen Grund der Erwählung Israels finden als den, daß das israelitische Volk nach dem Maßstabe der anderen Völker gerade am wenigsten bestimmt war, eine eigene Geschichte zu haben, am wenigsten erfüllt von jenem Weltgeist, der die anderen Nationen zur Stiftung der großen Monarchien hinriß, das, unfähig sich einen großen, immer dauernden Namen in der Weltgeschichte zu erwerben, eben aus diesem Grunde mehr sich eignete, der Träger der göttlichen Geschichte (im Gegensatz der Weltgeschichte) zu sein; denn so schlaff und weich zeigte sich dieses Volk, daß es trotz der ausdrücklichen göttlichen Befehle nicht einmal das ihm bestimmte Land völlig eroberte und so in Berührung mit den abgöttischen Völkern blieb, anstatt, wie ihm befohlen war, einsam zu wohnen, wie sein Gott einsam war; gleichwie auch dies merkwürdig ist, daß dieses Volk den Verführungen der anderen abgöttischen Völker fast beständig unterlag, während sich kaum eine Spur nachweisen 1) W. W. 14, S. 125. 2) 1. c. S. 126 ff. Der ägyptische Gott Typhon soll von besonderem Einfluß gewesen sein. 3) 1. c. S. 135. *) 1. c. S. 137 ff. 5) 1. c. S. 129 ff, besonders die lange und sonderbare Anmerkung ist zu beachten. 6) 1. c. S. 134 ff. 7) 1. c. S. 137 ff. 8) 1. c. S. 148; man fühlt sich an Renansche Ausführungen erinnert. V. Abteilung. Evangelisch-theologische Sektion. 25 läßt, daß es durch seine Verfassung und seinen Gottesdienst irgend eine religiöse oder moralische Wirkung auf die anderen Völker ausgeübt hat.“ Ja, Schelling schätzt am Ende seiner Ausführungen das Judentum so gering, daß er den Satz schreibt1): „Eine allgemeine Bekehrung der Juden zum bloßen Theismus oder der reinen sogenannten Vernunftreligion ist schwerlich zu erwarten“. Mit den bisherigen Ausführungen sind Schellings Beziehungen zur alt- testamentlichen Wissenschaft leidlich vollständig2) herausgehoben. Nur ein kurzes Schlußwort sei noch zugefügt. Natürlich kann darin nicht jede Anschauung Schellings auf ihre Richtigkeit und ihren bleibenden Wert untersucht und bestätigt oder widerlegt werden. Das ist nicht die Auf- gabe der Disziplingeschichte. Wohl fordern besonders die letzten Be- hauptungen Schellings aus seiner positiv-theosophischen Periode zur Kritik geradezu heraus, wohl können wir Zellers3) Urteil verstehen, der sie eine wortreiche, verworrene, abstruse Scholastik nennt, können es be- greiflich finden, daß sie schon zu Lebzeiten Schellings Widerspruch er- regten4) und daß auch Kuno Fischer5) ihren philosophischen Inhalt gering schätzt. Indessen lassen sich auch Anhänger und Verteidiger jener Schellingschen Ansichten namhaft machen und nicht nur Beckers6) ist für sie eingetreten, nicht nur Schaper7) schreibt von ihnen: „Man muß ge- stehen, daß diese Schellingsche Entwicklungslehre der heidnischen Religionen nicht nur geistreich ist, sondern auch im höchsten Grade wahrscheinlich“. Auch spätere Gelehrte, wie von Strauß und Torney8) und Wolf Baudissin9), ja auch Eduard von Hartmann10) haben nicht unwichtige Gedankengänge Schellings übernommen oder wenigstens seine Anregungen verwertet, und noch heute wird Schelling in modernen Handbüchern11) als Begründer der spezifisch Urmonotheismus genannten Lehre bezeichnet. Für uns steht aber das biographische Interesse voran, und dafür läßt sich der Ertrag dieser Untersuchung in folgende Sätze zusammenfassen: Schelling hat der alt- 1) W. W. 14, S. 150f. 2) Absolute Vollständigkeit kann nicht beansprucht werden. 3) Zeller, Geschichte d. deutsch. Philosophie seit Leibniz (Geschichte der Wissenschaften in Deutschland, Bd. 13) 1873, S. 696. 4) vgl. die anonymen Streitschriften: Schelling und die Offenbarung, 1842, S. 38 ff., und Schellings Offenbarungsphilosophie, 1843, S. 9 ff. 5) 1. c. S. 794 ff. 6) Beckers, Schellings Geistesentwicklung in ihrem inneren Zusammenhang 1875, S. 9 ff., 57, 77. 7) Schaper, Philosophie der Mythologie, S. 23. 8) Strauß u. Torney, Essays zur allgem. Religionswissenschaft, 1879, S. 10 f., 15, 23 ff., 39 f., 45 f. 9) Baudissin, Jahve et Moloch, 1874, S. 5ff., 77 f. 10) Hartmann, Schellings philosophisches System, 1894. u) z. B. Sieb eck, Religionsphilosophie, 1893, S. 56; Chantepie de la Saussaye, Religionsgeschichte, 3. Aufl. 1905, I, S. 15. 3 26 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. testamentlichen Wissenschaft und der Orientalistik überhaupt zeitlebens Interesse entgegengebracht, in ihr ein umfängliches sprachliches und religionsgeschichtliches Wissen besessen und gelegentlich andersartiger Arbeiten auf ihre Probleme zurückgegriffen. Am Anfang und am Ende seines wissenschaftlichen Wirkens hat er sich besonders eingehend mit dem Alten Testamente befaßt. Beide Male zeigt er den Einfluß der zeit- genössischen Literatur. Um 1792 wirken auf ihn die Hypothesen der rationalistischen Kritik und der beginnenden Religionsgeschichte. Er ist Verehrer Herders und Kants, Schüler Eichhorns und Schnurrers. In seiner späteren Periode beherrscht ihn die ungeordnete Parallelisierung der heidnischen Religionen und der spekulative Überschwang jener Jahre. Er hängt stark von Creuzer ab, er erinnert in einzelnen Ausführungen an Daumer, Planck, Noack und auch an Renan. Ungereimtheiten und Wider- sprüche lassen sich zahlreich nachweisen und prinzipielle Irrtümer belegen. Statt philologischer Exegese pflegt er mystische Theosophie. Der Fort- schritt der Wissenschaft hat seine meisten Annahmen widerlegt und nur in einzelnen Punkten scheint er Allermodernstes zu ahnen. Ich erinnere an seine Bewertung der astralen Religion des Zabismus, an seine Stellung zum Prolog des Hiob etc. Die Hoffnungen, die man auf den jungen Orientalisten setzen konnte, hat er in gewissem Sinne enttäuscht. Aber seine Beziehungen zur alttestamentlichen Wissenschaft sind charakteristisch für den Werdegang seiner gesamten Weltanschauung überhaupt, sind ein wertvoller Beweis von der Bedeutung, die das Alte Testament in einem universalen Geiste einnehmen kann. Schelling begann als Kritiker und endete als Gnostiker der alttestamentlichen Wissenschaft. Am 26. Februar sprach Herr Privatdozent Dr. Roeder über: Die christliche Zeit Nubiens und des Sudans (vom VI. — XVI. Jahrhundert) (abgedruckt in der Zeitschrift für Kirchengeschichte). Am 24. Juni und 8. Juli sprach Herr Prof. D. Dr. Rothstein über: Die Anfänge der jüdischen Gemeinde nach dem Exil und die Elephantine-Papyri. Am 25. Nov. sprach Herr Privatdozent Pastor Lic. Hans Schmidt über: Die Stellung des Propheten Jeremia zur Kultusreform des Königs Josia. Am 10. Dezember sprach Herr Pastor prim. Lic. Konrad über: Das Ordinationsalbum des Breslauer Stadtkonsistoriums (erscheint in der Zeitschr. d. Vereins f. Geschichte d. evang. Kirche Schlesiens). An sämtliche Vorträge schlossen sich Diskussionen an. Anstelle des die Wiederwahl ablehnenden Herrn Geh. Konsistorialrat Professor D. Dr. Arnold wurde Professor D. von Dobschütz zum 1. Sekretär und Delegierten in das Präsidium gewählt; als 2. Sekretär wurde Herr Kircheninspektor Propst D. Decke wiedergewählt. Schlesische Gesellschaft für vaterländische Gultur. (e)A t 90. Jahresbericht. 1912. VI. Abteilung. a. Technische Sektion. Sitzungen der technischen Sektion im Jahre 1912. Sitzung am 19. November 1912. Wahl der Sekretäre und des Delegierten. An Stelle des Herrn Prof. ©tpl.^ng. Ko sch, der aus Gesundheits- rücksichten gebeten hatte, von seiner Wiederwahl abzusehen, wurde gewählt als erster Sekretär und Delegierter Herr Professor Schilling an der Technischen Hochschule, als zweiter Sekretär wurde wiedergewählt Herr Prof. SDipt^ng. Wohl. Vortrag des Herrn Prof. Dr. von dem Borne: Technische Aufgaben der Erdbebenforschung. Die verschiedenen Bewegungen, die der Erdboden ausfiihrt und deren Studium die Aufgabe der Erdbebenkunde ist, sind, wie ich an einigen Beispielen darlegen will, häufig nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für die Praxis von erheblichem Interesse. 1. Die Abhängigkeit der seismischen Einwirkungen auf Gebäude von der Eigenart der Bodenbewegung. Das für die wissenschaftliche und für die technische Seismik zweck- mäßigste Intensitätsmaß sind nicht die auftretenden Gesamtverrückungen, auch nicht die Geschwindigkeiten der Bebenbewegungen, sondern die zeitlichen Geschwindigkeitsänderungen, die „Beschleunigungen“ und ins- besondere der Höchstwert, den sie während des betrachteten Ereignisses erreichen. Denn von diesem Werte hängen die Wirkungen eines Bebens in erster Linie ab. Interessieren dabei den Theoretiker in erster Linie die Vorgänge im Erdboden, so wird der Techniker vor allem sein Augen- merk auf das betroffene Gebäude zu richten und eventuelle Messungen an und in ihm auszuführen haben. 1912. 1 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Die folgende Tabelle gibt einige wichtige Schwellenwerte der Be- y schleunigungsmaxima (y). Der in ihrer Kolonne 2 angeführte Bruch -A- sagt uns, wie groß sie im Verhältnis zur Erdschwere g sind. T Y (mm/sec3) g 1 2,5 4000 1 50 200 1 100 TöcT Wirkungen: Wird von einzelnen empfindlichen Personen gefühlt. Wird allgemein gefühlt. Vereinzelte Schadenwirkungen an Gebäuden beginnen. Die für die Praxis wichtigsten Bodenbewegungen haben horizontale Richtung. Wenn sich die dabei auftretenden Beschleunigungen über die ständige Beschleunigung durch die Erdschwere lagern, so sind die Wirkungen gleichwertig mit Neigungen des Lotes, oder wTas praktisch dasselbe ist, mit Neigungen der gefährdeten Gebäude gegen das ruhend gedachte Lot. Aus unserer Tabelle sehen wir, daß diese Neigungen bereits bei unerwartet niedrigen Beträgen, nämlich von etwa 1/2 0 ab anfangen gefährlich zu werden. Um zu verstehen, wie das möglich ist, müssen wir uns zuerst klar machen, daß die Messung sich auf Bewegungen des Bodens bezog, während der Schaden durch solche des beschädigten Gebäudes verursacht wurde. Es fragt sich, wie diese von jenen abhängen. Zunächst ist es klar, daß ceteris paribus eine größere Bodenbeschleunigung des Bodens auch größere Beschleunigungen in dem Gebäude zeitigen wird. Ferner aber ergibt sich das folgende: Die Erfahrung lehrt, daß die Bebenbewegungen in den meisten Fällen aus Schwingungen bestehen, bei denen die jeweilige Verrückung x sich durch Summen von der Gestalt darstellen läßt: x = Ax sin 2 Ti - — -j- A2 sin 2 tz * ~jl — -{-.... •*■1 -*-2 Es genügt, wenn wir ein Einzelglied betrachten: . . 2 71 t xn = An sin — — n Man nennt An die Amplitude, Tn die Periode dieser Elementar- schwingung. Die größte Beschleunigung y in ihr ist: A. 4 n2 A. y = — 7^2 — oder annähernd: y = 40 • ^ Wir erkennen daraus, daß die Wirksamkeit einer seismischen Be- wegung abhängig ist von Amplitude und Periode, in dem Sinne, daß ein bestimmtes Ausmaß der Schwingung desto gefährlicher ist, je schneller sie verläuft. Die folgenden Zahlenbeispiele mögen diesen Zusammenhang belegen : VI. Abteilung. Technische Sektion. 3 Es liegt die Fühlbarkeitsgrenze bei einerPeriodevon 1 sec bei einer Amplitude von 0,06 mm = * s 0,4 S S S = 0,01 s s SS 5 s 6 s s s = - 2,2 . Gefahrengrenze SS S s 1 s s ' ~ 2 , Ö £ = ? s: S 0,4 = S * * 0,7 . Ein bekannter Satz der Mechanik besagt, daß die Amplituden er- zwungener Schwingungen — um solche handelt es sich bei seismisch gefährdeten Gebäuden — dann besonders anwachsen, wenn in dem er- regten System Eigenschwingungen möglich sind, deren Periode mit der der erregenden Periode identisch ist. Derartige „Resonanzerscheinungen“ spielen nun offenbar bei Erdbebenschäden eine wichtige Rolle. Auch technische Erschütterungen, die an sich geradezu unfühlbar sind, können so die verblüffendsten Folgen haben. Es ist z. B. der Fall vorgekommen, daß ein über 100 m von einer Großgasmaschine stehendes Gebäude durch deren Betrieb in gefährliche Schwankungen geriet, während in dazwischen liegenden Häusern nichts zu merken war. Eine kleine Änderung der Tourenzahl des Motors half dem Übelstande ab. In den seismischen Diagrammen treten gewisse Perioden besonders häufig auf. Diese hätte der Praktiker als Eigenschwingungsperioden seiner Schöpfungen zu ver- meiden. Dem seismischen Forscher aber erwächst eine doppelte Aufgabe: festzustellen, wie sich die Perioden der seismischen Bewegungen räumlich und zeitlich verteilen und welche Perioden in den Eigenschwingungen von Gebäuden auftreten. Insbesondere wären dabei exponierte Objekte, wie Fabrikschlote und Kirchtürme zu berücksichtigen. Auf einen Punkt möchte ich zum Schlüsse dieser Betrachtung noch hinweisen. Neben den sporadisch auftretenden Erdbeben im eigentlichen Sinne kennen wir in der sogenannten „mikroseismischen Unruhe“ eine Erscheinung, die den Boden wochen- ja monatelang in schwingender Bewegung erhält. Die Amplituden dieser Bewegungen bleiben stets klein (in Krietern unter 0,01 mm) und ihre Periode ist verhältnismäßig lang (etwa 6 sec). Die Beschleunigungen bleiben demgemäß sehr klein. Da aber ihre Perioden nur geringen Schwankungen unterliegen, ist der [Verdacht auf Resonanz- wirkungen bei ihnen besonders naheliegend. Ist es nicht denkbar, daß, wenn solche eintreten, „Ermüdungserscheinungen“ die Festigkeit eines Bauwerks vor der Zeit vernichten und dieses einem vorzeitigen Verfalle entgegenführen? 2. Ein anderes wichtiges seismisch-technisches Problem ergibt sich bei der Beurteilung gewisser Schäden, von denen vermutet wird, sie seien durch den Bergbau veranlaßt. Es sind in der Regel sehr erhebliche materielle Interessen, die sich dabei schroff gegenüberstehen : der Besitzer eines beschädigten Hauses wird sich bemühen, den Bergbau als Schadens- ursache nachzuweisen und so den Grubenbesitzer haftbar zu machen 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. während der letztere versuchen wird, diese Auffassung zu widerlegen. In sein- zahlreichen Fällen mußte eine unbefangene Beurteilung der Sach- lage dazu führen, dem Hausbesitzer Recht zu geben. Doch erscheint mir die Annahme berechtigt, daß recht oft eine genaue Prüfung zu einer Modifikation dieser naheliegendsten Ansicht führen kann. So haben sich z. B. in Oberschlesien gerade in den letzten Jahren vielfach Schadens- fälle gezeigt, deren bergbaulicher Ursprung zunächst sicher erschien, bei genauerem Zusehen aber zum mindesten zweifelhaft wurde. Schon ungeübten Beobachtern fiel die Ähnlichkeit der Bewegung, die bei ihnen die unmittelbare Schadensursache war, mit wirklichen Erdbeben auf. Exakte Untersuchungen, die vor allem Herr Bergrat Knochenhauer in Kattowitz anstellte, erwiesen diese Übereinstimmung als eine geradezu überraschende. Kurzdauernde Erschütterungen wurden über weite Strecken hin ge- fühlt. Wie bei tektonischen Erdbeben wurden gewisse Stellen, vor allem solche mit an sich lockerem oder durch den Bergbau aufgelockertem Untergründe vorzugsweise heimgesucht. Waren solche Ereignisse durch bergmännische Tätigkeit verursacht, so konnte es sich nur um den Zu- sammenbruch größerer abgebauter Feldesteile handeln. Das kommt an sich nicht selten vor. Die Wirkungen aber, die ein solcher ,,Glocken- brucli“ in der Grube selbst hervorruft, sind derartig augenfällige, daß es geradezu unmöglich ist, sie zu übersehen. Wenn also die Nachforschungen nach derartigen Wirkungen unter Tage gerade bei den heftigsten derartigen Erschütterungen durchaus negativ ausfielen, so war damit ein neuer gewichtiger Grund für die An- nahme gegeben, daß es sich um natürliche, von menschlicher Tätigkeit unabhängige Vorgänge handele. In einem Sonderfalle wurde mir nun von dem zuständigen Gerichte die Frage vorgelegt, ob die beobachtete Bewegung nicht so heftig gewesen sei, daß schon deshalb deren technischer Ursprung unwahrscheinlich er- scheine. Bei der Antwort benutzte ich das von der Erschütterung iu Krietern aufgezeichnete Diagramm und ließ mich bei dessen Beurteilung von den folgenden Erwägungen leiten. Das Ausmaß der Bewegungen, die der Erdboden bei einem bestimmten (natürlichen oder künstlichen) Beben ausführt, wird in erster Linie eine Funktion der Entfernung zwischen Beobachtungsort und Bebenherd sein und zwar in dem Sinne, daß die Heftigkeit der Bewegung mit zunehmendem Herdabstand abnimmt. Da über die Form dieser Funktion im übrigen Erfahrungen noch nicht vorliegen, so müssen spekulative Erwägungen ein- greifen. Es muß aber unser Bestreben sein, sie möglichst bald durch Beobachtungsreihen zu ersetzen. Die Analyse der Bewegungen, die von sehr entfernten Herden aus- strahlen, zeigt, daß ein Teil der Bebenergie durch das Erdinnere VI. Abteilung. Technische Sektion. 5 wandert. Hierbei muß es sich um eine Ausbreitungsform handeln, bei der, wenn von Absortionserscheinungen abgesehen wird, eine Intensitäts- abnahme proportional dem Quadrate des Herdabstandes zu erwarten ist. Andere Wellen wandern längs der Erdoberfläche. Bei ihnen läßt sich unter der gleichen Voraussetzung eine sehr viel langsamere Abnahme, nämlich mit der ersten Potenz des Herdabstandes erwarten. Dem- entsprechend finden wir, daß die Oberflächenwellen in einem Bebenbilde desto mehr hervortreten, je weiter der Herd entfernt ist. Immerhin repräsentieren die ,,' Tiefenwellen“ selbst bei Abständen bis zu etwa 10 000 km noch sehr erhebliche Energiemengen. Daraus folgt, daß sie in Herdnähe den bei weitem größten Teil der Energie tragen. Ich nahm deshalb bei meiner Berechnung für den uns unmittelbar benachbarten Oberschlesischen Herd die „Tiefenwellen“ als allein vorhanden 2 7t t an. Ist die Bewegung eine Schwingung von der Gestalt: A • sin — — und in 3 aufeinander senkrechten Komponenten gleich, ist ferner V die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Wellen und p die Dichte der bewegten Materie, so fließt durch die Flächeneinheit in der Richtung vom Herde in der Zeiteinheit eine Energiemenge J ab: J = Ti • P • V. Ist der Herdabstand R, so flutet dieser Energiestrom durch eine Fläche: 2 R2 u (Halbkugeloberfläche vom Radius R), so daß insgesamt eine Energiemenge E „ 12 • A2 R2 7t3 E= w P • V. in der Zeiteinheit, oder wenn wir annehmen, daß die Amplituden bis zur Größe A gleichmäßig an- und abschwellen, während der ganzen Diagrammdauer T 4 A2 R2 tc 3 E = — p • V • T. abfließt. Nehmen wir als Längeneinheit grundsätzlich das Meter, so ergibt sich eine Gesamtarbeit von 4 A2 R2 tu3 p • V • T. A = tonmetern. T 2 . g. Mit den in Krietern beobachteten Bebendauern, Amplituden und Perioden berechnete ich so unter Annahme eines Herdabstandes R = 150 km für einige Oberschlesiscbe Erschütterungen die Arbeitsmengen mit dem folgenden Ergebnisse: Datum des Bebens Arbeitsmenge tonmeter 14, IV. 1912 1,25 X 106 16. IX. 1909 2,3 X 106 15. X. 1909 O X CO 1912. 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Diese Zahlen geben lediglich Minimalwerte, denn ein sehr großer Teil der Bebenergie wurde zweifellos am Bebenherde und auf dem Weg bis Krietern absorbiert, d. h. in Wärme umgesetzt und war damit als reine Bewegungsenergie verschwunden. Daraus folgt mit voller Sicherheit, daß, wenn die Voraussetzungen meiner Berechnungen richtig sind, ein natürlicher Ursprung der beobachteten Erschütterungen vorliegt. Der Zukunft liegt die Aufgabe ob, meine Annahme über die Ver- breitungsart der Bebenwellen auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen. In ein- wandsfreier Weise wird das nur möglich sein dadurch, daß ein Netz von Beobachtungstationen in verschiedenen, nicht allzugroßen Entfernungen von dem Oberschlesischen Erschütterungsherde organisiert und durch dieses der Gang der Erschütterungsenergie als Funktion des Herdabstandes experimentell festgelegt wird. Nur dadurch kann die Energie am Herde selbst eindeutig bestimmt und so die vorgelegte Frage ohne Vorbehalte und Voraussetzungen beantwortet werden. Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. dLi. 90. Jahresbericht. 1912. VI. Abteilung. b. Sektion fiirKunst der Gegenwart. Sektion für Kunst der Gegenwart. Die Vorträge des Jahres 1912 begannen mit dem am 17. Februar nachm. 5 Uhr gehaltenen Vortrage des Herrn Dr. Löschmann in der Galerie Ernst Arnold-Breslau, Tauentzienplatz 1 ,, Führung durch die Ausstellung mit besonderer Berücksichtigung und Besprechung der Bilder von van Gogh.“ Der geschäftsführende Sekretär der Sektion Architekt Henry eröffnete die Sitzung kurz nach 5 Uhr mit einem Danke an Herrn Gutbier, den Inhaber der Galerie Arnold, daß er Gelegenheit gebe und weiter geben wolle vor den Werken der Gegenwartskunst in der Sektion zu sprechen. Herr Dr. Loeschmann zeigte in seinem einleitenden Vortrage und dann bei der Führung die Wege, die zu van Gogh’s Kunst führen. Für die zweite Sitzung war allgemein eingeladen in den großen Saal des Gesellschaftshauses auf Mittwoch, den 6. März 1912 abends S Uhr, zum Vortrage des Herrn Privatdozenten Prof. Dr. Kinkeldey Hugo Wolf und seine Lieder. (Am Klavier Herr Reinhold Bulgrin.) Anwesend waren gegen 180 Mitglieder der Gesellschaft. Den Vorsitz führte Arch. Henry. Der Vortragende brachte in lebendigster Schilderung einen kurzen Abriß vom Leben des Komponisten und erläuterte das Wesen Wolf scher Kunst nicht bloß mit Worten sondern durch Vortrag einer Reihe von Liedern. Der Vortragende wies nach, wie der Komponist stets vor allem dem Inhalt des Gedichtes gerecht werde, wie er in ihm auf- gehe und aus der poetischen Stimmung des Gedichtes heraus das Lied gestaltet habe. Der Vortragende gab zunächst den Inhalt des Gedichtes wieder, las es dann vor, die Worte schon im Tonwert der Liedkomposition sprechend, um dann jedes einzelne Lied unter fein abgestimmter Be- gleitung vorzusingen. Zum Vortrag kamen von Mörike-Gedichten : ,,Der Trommler“. „In einer kleinen Stadt“. „Auf ein Jesusbild“. VonEichen- 1912. 1 2 Jahresbericht der Sehles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. dorf-Gedichten : ,,Der Musikant“ und , , S ehr e ck ent) arger“. Von Goethe- Gedichten, deren Wolf 51 komponiert hat u. a. : „So lang man nüchtern ist“ und „Wo die Rose hier blühet“. Er sang weiter: „Nun wandere Maria“ mit der schönen an Sebastian Bach anklingenden Begleitung, und dann als ein Beispiel für den herbesten Ausdruck des Schmerzes das Lied in Dissonanzenstimmung: „Herr, was trägt der Boden hier“. „Dann wieder aus dem italienischen Liederbuche das übermütige: „Geselle, wollen wir uns in Kutten hüllen“. Von Kellerschen Gedichten sang er: „Die alte Weise“, „Wie glänzt der belle Mond so kalt“ und schließlich: „Sterb ich, so hüllt in Blumen meine Glieder“. — Der Vortragende und Sänger bewies, daß für Wolf die Poesie Urheberin seiner Musik ist und nannte ihn bezeichnend den Wagner des Liedes. Für die 3. Sitzung Sonnabend, den 4. Mai 1912 abends ö1/, Uhr, in der Galerie Arnold, Tauentzienplatz 1, hatte Herr Ludwig Gutbier aus Dresden den Vortrag Führung durch die Ausstellung „Stätten der Arbeit“ übernommen. Anwesend waren gegen 80 Mitglieder der Sektion und Gäste. Den Vorsitz führte Arch. Henry, der gleich eingangs dem Vor- tragenden dankte, daß er uns in so rascher Folge mit bedeutungsvollen und zielbewußten Ausstellungen beschenke und aus Dresden zur Sitzung gekommen sei. Der Vortragende besprach in einleitenden Worten, daß es ihm nicht darum zu tun sei, sogenannte Namen zu bringen. Er wolle besonders die Werke heraussteilen, die mit genialer Hand geschaffen, das Ringen um die Lösung neuer Probleme in neuen Anschauungen zeigen. Sein Ziel sei die Besucher der Ausstellungen mit dem in die Zukunft weisenden Empfinden des modernen Künstlergeschlechtes bekannt zu machen. In dieser Ausstellung sei die „Arbeit“ der Gegenstand bildlicher Darstellung. Das Zeichen unserer Zeit sei Arbeit. Sie sei ein Dar- stellungsobjekt der modernen Künstler geworden, die sich mehr und mehr vom Historienbilde abwendeten. In der Arbeit und den „Stätten der Arbeit“ würde ein inhaltsreiches Kapitel aus der Geschichte der Gegenwart gemalt. Der Redner schloß seine erläuternden Worte bei der Führung mit dem Gedanken, daß sich mit den Bildern „Stätten der Arbeit,“ ein Ersatz gefunden habe für das alte Historienbild. Die 4. Sitzung Mittwoch, den 27. November 1912, begann mit einer engeren Mitgliederversammlung zwecks der Wahlen. Es wurden als Sekretäre einstimmig wiedergewählt: VI. Abteilung. Sektion für Kunst der Gegenwart. 3 Königl. Baurat Architekt Grosser für Abteilung „Architektur und Kunstgewerbe“, Architekt Henry für Abteilung „Denkmalspflege und Heimatschutz.“ Geh. Regierungsrat, Universitäts-Professor Dr. Koch für Abteilung „Dichtkunst und Theater.“ Neugewählt: An Stelle der Herren Prof. Dr. Dohm und Prof. Maler Ir mann, die eine Wiederwahl wegen Zeitbedrängnis nicht wünschten: Professor Kinkeldey für Abteilung „Musik,“ Privatdozent Dr. phil. Landsberger für Abteilung „Malerei und Bildhauerkunst.“ Zu Delegierten der Sektion in das Präsidium wurden wiedergewählt: Architekt Henry und Geh. Rat Prof. Dr. Koch. Zum geschäftsführenden Sekretär wurde Architekt Henry wieder- gewählt. Am gleichen Abend 8 Uhr hielt Dr. Alfred Guttmann seinen Vortrag: „Die Wirklichkeit und ihr künstlerisches Abbild.“ Anwesend waren ungefähr 30 Mitglieder der Sektion. Den Vorsitz führte Arch. Henry. Der Vortragende entwickelte in rascher Folge, in knapper Übersichtlichkeit die Grundgedanken seines in Kürze über dieses Thema erscheinenden Buches. Er entwickelte eingehend die Ergebnisse seiner Forschungen über Farbenblindheit und Farbenschwäche. Er gab allgemeinen Einblick in seine Lehre, gestand aber am Schlüsse, daß nach seinem Verstehen keine Brücke von der Wissenschaft hinüberführe zum Geheimnis künstle- rischen Schaffens. An der Besprechung beteiligten sich die Herren Pro- fessoren Stern und Rosenfeld. Die Reihe der Vorträge schloß 1912 mit dem Vortrage des Herrn Privatdozenten Dr. Franz Landsberger „Das Problem der mittelalterlichen Kunst.“ Den Vorsitz führte Architekt Henry. Erschienen waren weit über hundert Mitglieder der Gesellschaft. Die Gedankenfolge des Vortrages war: Von der Renaissance- bis in unsere Zeit hinein ist die Kunst des Mittelalters mit Ausnahme seiner Architektur nicht richtig eingeschätzt und gewürdigt worden. Die bis- herige Kunstbetrachtung ging von der Annahme aus, daß die möglichst wahrheitsgemäße und möglichst lebendige Wiedergabe der Natur Wert- messer der darstellenden Künste sein müsse. Man schätzte die mittel- alterliche Kunst auf dem Gebiete der darstellenden Künste gering ein, 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. weil ihr nach allgemeiner Meinung nicht gelungen wäre, die Natur gut nachzuahmen, obwohl es ihre Künstler gewollt hätten. Und selbst die Freunde mittelalterlicher Kunst freuten sich wohl der Naivität und hoben das „Primitive“ als einen gewissen Vorzug hervor, kamen aber über den Standpunkt, daß das Mittelalter in gewisser Weise unvermögend sei, nicht hinaus. Erst in jüngster Zeit gewann man besseres Verständnis für das Mittel- alter. Eine streng historisch betrachtende Wissenschaft mißt nicht mehr mit dem Kanon und dem ästhetischen Maßstabe, der aus der Kunst einer anderen Zeit übernommen ist, sondern sucht aus den Werken und der Gesamtkultur der Zeit festzustellen, was wollte die Zeit mit ihrer Kunst, „was war das ihr eigene Kunstwollen?“ Sodann half zu einem besseren Verständnis die Wandlung, welche sich in der modernen Kunst vollzogen hat. Dem Impressionismus, der seine Formel in Zola’s vielgebrauchtem Worte: „Das Kunstwerk ist ein Stück Natur, gesehen durch ein Temparament“, fand, folgte als jüngste Kunstäußerung der Expresionismus. Er will nicht ein Stück Natur oder den Naturausschnitt in seinem Eindruck wiedergeben und wirken lassen, sondern er will sich mit „Hilfe“ der Natur aussprechen. Damit nähert sich die Kunst unserer Zeit dem Problem der mittelalterlichen Kunst. Ihr Kunstwollen wurde erkannt und anerkannt als abhängig von der gesamten christlichen Kultur damaliger Zeit. Sie kannte nicht die ästhetische Freude an der Kunst als solcher, ja, sie hielt diese Freude für sündig. Die Kunst sollte Dienerin der Kirche sein, der damals alles dienstbar war in dem Gedanken an das Jenseits. Das weitabgewandte war das erstrebenswerte, das ideale, nach dem auch die Kunst gerichtet war. Die Kunst des Mittelalters wollte sich aussprechen in nur schwacher Anlehnung an die Natur und predige nicht ein Natürliches, sondern ein Übernatürliches. So wurde diese Kunst von selbst didaktisch und asketisch. Dem Künstler galt nichts die Mannigfaltigkeit der Umwelt, nichts die Eigenart des eigenen Wesens, nichts die fest umrisseue Persönlichkeit anderer. Ihm galt es, das Typische herauszubringen und ganz beherrschte ihn die Freude an der Symbolik. Dahin zielt auch die Technik dieser Künstler, die ihren höchsten Glanz in der Darstellung durch das Mosaik erhält. Der Goldgrund umstrahlt fast überirdisch die scharf kontourierten Gestalten, die in streng regelmäßige Vorderansicht oder scharf ins Prolil gestellt sind. Jede Verkürzung ist vermieden. In starrem Neben- oder Übereinander wird ohne Überschneidung komponiert. Es ist eine sakrale Kunst geworden, die in Symbolen redet. Monumentalkunst! Aber aus der Strenge dieser Auffassung büchtet der mittelalterliche Künstler hinüber zur Mutter der bildenden Künste, zur Architektur, und VI. Abteilung. Sektion für Kunst der Gegenwart. 5 gießt seine phantastische und persönliche Stimmung über Baukunst und Ornamentik hin. Als Schönheit der mittelalterlichen Kunst pries der Vortragende „Aus- druckskraft von Linie und Farbe“. Fein gewählte Lichtbilder begleiteten den Vortrag, der mit größtem Beifalle aufgenommen wurde. Außer den genannten Sitzungen fand am 22. November 1912 eine Sitzung der Sekretäre statt, in der die Vortragsarbeit fiir 1912/13 be- sprochen wurde. Henry. Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cnltor. (©'T " ~ ^ 90. VI. Abteilung. J ahresbericht. c. Sektion für Geologie, Geographie, 1912. Berg- nnd Hüttenwesen. Sitzungen der Sektion für Geologie, Geographie, Berg* und Hüttenwesen im Jahre 1912. Gründungs-Sitzung am Freitag, den 26. Januar. Professor Dr. Frech eröffnete die Sitzung mit der Mitteilung, daß die Zahl der für die Sektion angemeldeten Mitglieder 79 betrage, worunter 53 neue Mitglieder der Gesellschaft sind. Er schlägt vor, zum Vor- sitzenden Sekretär der Sektion Herrn Berghauptmann Schmeißer zu wählen, welcher Vorschlag von den Mitgliedern gutgeheißen wird. Berghauptmann Schmeißer schlägt ferner vor: Als stellvertretenden Vorsitzenden Sekretär Herrn Professor Dr. Frech, als Sekretäre die Herren Professor Dr. Supan, Professor Simmersbach und Bergrat Williger; als geschäftsfülirende Sekretäre die Herren Dr. Taeger, Dr. Dyhrenfurth, Dr. Lachmann und Bergassessor Rösing. Die Vorgeschlagenen werden von der Versammlung gewählt. Als Delegierte der Sektion für das Präsidium der Schlesischen Gesell- schaft für vaterländische Cultur werden die Herren Berghauptmann Schmeißer und Professor Dr. Frech vorgeschlagen und gewählt. Bei der Diskussion über die Aufgaben der Sektion wird auf Anfrage festgestellt, daß auch außer der physischen Erdkunde auch Fragen der politi- schen Verkehrs-Geographie und der Meteorologie in den Bereich der Sektionsaufgaben fallen. Die Vorträge sollen monatlich im Winter stattfinden und zwar am zweiten Dienstag jeden Monats um 8 Uhr. Versammlungsort soll der Hörsaal im geologischen Universitäts-Institut sein. Die Sektion soll Exkursionen veranstalten, welche im Sommer ins Gebirge, im Winter nach Ober- oder Niederschlesien zu richten sind. Die Veröffentlichungen der Sektion, welche, abgesehen von dem Ab- druck im Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur, separat zu veröffentlichen sind, sollen Beilagen erhalten, deren Kosten durch eine Extraumlage bei den Sektionsmitgliedern gedeckt werden sollen. Der Betrag dieser Umlage wird auf 2 Mk. für jedes Mit- glied festgesetzt. 1912. 1 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Alsdann erteilt der Vorsitzende Sekretär Herrn Professor Dr. Frech das Wort zu seinem Vortrag über die Beziehungen zwischen Erdbeben und Architektur, erläutert an den Ruinen von Baalbek. Sitzung am Dienstag, den 13. Februar. Nach Vorlage und Genehmigung des Protokolls der Gründungs-Sitzung wird auf Vorschlag des stellvertretenden Vorsitzenden Sekretärs der Sektion Herr Professor Dr. Klaatsch zum Sekretär der Sektion gewählt. Hierauf erhält Herr Professor Dr. Supan das Wort zu seinem Vor- trag über „Die Bedeutung der Tiefseelotungen für die Entwickelungsgeschichte der Erdoberfläche“. Die allgemeine Vorstellung von der Configuration des Meeresbodens geht heute dahin, daß mit Ausnahme der unmittelbar dem Festlande benachbarten Teile des Meeresbodens, welche versenkte Stücke des Fest- landes darstellen und mit Ausnahme des Abfalls von den eigentlichen Kontinentalsockeln die Neigung des Meeresbodens eine außerordentlich geringe ist. Diese Vorstellung ist durch einen einfachen Versuch von Thoulet in Nancy ins Wanken geraten. Thoulet hat 308 Höhenpunkte aus ganz Frankreich zusammengestellt und willkürlich davon 15, 32, 153, und schließlich alle zusammen herausgegriffen und daraus Isohypsen in der Art und Weise zusammengestellt, wie solche aus den Lotungen auf dem Meeresboden gewonnen werden. Während die ersten Bilder eine voll- kommen verfehlte Vorstellung von der Oberfläche Frankreichs darstellten, waren die letzten zwar in großen Zügen richtig, aber jede Einzelheit, wie die Gliederung in Täler, bleibt noch vollkommen aus. Man muß daraus schließen, daß man erst nach Herstellung eines außerordentlich dichten Netzes von Lotungen, welche über größere Teile des landfernen Ozeans ausgedehnt werden müßten, zu einem abschließenden Urteil über die Frage berechtigt ist, ob überhaupt größere Teile der Kontinente auf den Grund des Ozeans gesenkt wurden, bezw. ob nicht vielleicht durch Auffüllung oder Abrasion die feineren Formen der Land- oberfläche verwischt wurden. Letzteres war z. B. wahrscheinlich der Fall für die tiefsten Teile der Nordsee, welche eine umgekehrte Neigung besitzen als die Landoberfläche Englands. In der Diskussion bemerkt Professor Dr. Frech, daß in Oberschlesien die Nivellierung durch Auffüllung tiefer kontinentaler Täler bei der Ingression des Mediterranmeeres gegenüber der Abrasion offenbar die größere Rolle gespielt habe. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 3 Sodann erfolgen wegen der vorgeschrittenen Zeit an Stelle des an- gekündigten Vortrages nur zwei kürzere Mitteilungen von Dr. 0. E. Meyer über „Die Ostafrikanische Bruchstufe südlich von Kilimatinde.“ Als Geologe der Ugogo-Expedition, die Dr. Vageier im Aufträge des Reichskolonialamtes leitete, hatte ich Gelegenheit, den bisher so gut wie unerforschten südlichen Teil des Großen Ostafrikanischen Grabens im Sommer 1911 an mehreren Stellen zu kreuzen. Ich teile hier nur einige der Hauptergebnisse mit, wie sie sich vor- läufig auf Grund meiner Beobachtungen darstellen, und behalte mir vor, ausführliche Belege und Einzelheiten, vielleicht unter neuen Gesichts- punkten, in einer späteren Arbeit zusammenzustellen. Der Name ,, Ostafrikanische Bruchstufe“ ist von Carl Uhlig1) für den Teil des Großen Grabens, der südlich von 2° 30' s. Br. liegt, mit guten Gründen eingeführt worden. Weder die von mir untersuchten Randbrüche des Gneißgebirges von Mpapua noch der westliche Steilabfall des Rubeho- gebirges nach der vom Umerohe durchströmten Rumpffläche Süd-Ugogos können als „Ostrand des Grabens“ angesehen werden. Die Verwerfung ist bei Kilimatinde, wie bekannt, in zwei deutlich geschiedenen Stufen ausgebildet und hat lokal einzelnen Intrusionen Raum gegeben, was ich nur kurz erwähne. Doch kann ich ein eigenartiges sands tei nähnliches Gebilde nicht übergehen, das Obst2) vorläufig als „Kilimatinde-Konglome- rate“ bezeichnet hat. Der Name scheint mir nicht glücklich gewählt zu sein, da dies Vorkommen weder an die Umgebung von Kilimatinde ge- bunden, noch in der Mehrzahl der Fälle als Konglomerat zu bezeichnen ist. Diese Pseudosandsteine sind vielmehr ein eluviales, d. h. nicht um- gelagertes Verwitterungsprodukt des Granites, das in ganz Ugogo auftritt, ohne, wie Obst meint, an Flüsse und ihre Tätigkeit gebunden zu sein. Daß es die Flußufer oft in besonderer Mächtigkeit begleitet, kann wegen der größeren Einwirkung der Feuchtigkeit nicht wundernehmen. Grade der von Obst erwähnte Aufschluß der „Schönen Aussicht“ bei Kilimatinde legt es nahe, das eigenartige Gebilde als extreme Verwitterungsform des Granites aufzufassen. Deutlich sind noch die beiden für diese Gegenden typischen Klüftungsrichtungen des Granites (WSW — ONO und NNW — SSO) ausgeprägt und zu oft über meterbreiten und ebenso tiefen „Hohlwegen“ zwischen den stehengebliebenen Rücken mit lotrechten Wänden ausge- wittert. Diese Tatsache, das Vorhandensein von Klüften, deren Richtung sich genau mit den Kluftrichtungen des unverwitterten anstehenden Granites deckt, wäre allein schon für die eluviale Natur des Gebildes beweiskräftig. Doch bin ich auch im Besitz von Handstücken, die alle Übergangsformen x) Hettners Geographische Zeitschrift 1907, S. 498. 2) Mitteilungen der Hamburger Geographischen Gesellschaft, XXV, 2. 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. vom unverwitterten Granit in das oft mehrere Meter mächtige Endprodukt des Pseudosandsteins veranschaulichen. Lokal kommen allerdings auch echte, durch Wasserkraft umgelagerte und später verfestigte Konglomerate in schmalen Streifen an Flußläufen vor. Doch gehören zu dieser Gruppe nicht die Pseudosandsteine, wie sie beispielsweise durch den Bahnbau westlich von Makatupora vorzüglich aufgeschlossen sind. Hier können allerdings grobe Gerolle, die in der sonst homogenen Masse eingeschlossen und, wie ihre Umgebung, sandsteinartig verwittert sind, die Annahme allu- vialer Entstehung nahelegen. Doch fand auch hier keine Umlagerung mehr statt, seit in regenreicherer (posttertiärer) Periode die tiefgreifende Ver- witterung einsetzte. Schematische Skizze der Ostafrikanischeii ßruchstufe in der Um- gebung von Kilimatinde. Die Pfeile deuten auf die abgesunkenen Schollen. Die Linien aa, bb, cc bezeichnen drei von den Brüchen zerlegte Bergkämme. Es handelt sich hier wie in anderen Fällen um eine vielleicht durch eine Wüstenperiode geschaffene Blockstruktur des Untergrundes, die für zahlreiche Senken Ugogos charakteristisch ist. Die erwähnten Profile bei Makatupora dürften neben Beobachtungen anderer Art für diese Auffassung sprechen. Diese Aufschlüsse zeigen dort, wo kleine Bodenwellen, d. h. ehemalige Gebirgskämme, durch den Bahnbau angeschnitten sind, hier und da den anstehenden Granit, der WSW — ONO und NNW — SSO klüftet, in allmählichem Übergang in den mächtig entwickelten Pseudosandstein, der oft mehr als 3 m tief aufgeschlossen ist. Sein Oberrand schneidet VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 5 nicht gradlinig gegen die ihn überlagernden Böden ab, sondern zeigt einen vielfach gezackten Rand, dessen oft 1 m breite und ebenso tiefe Kerben mit sandigen Quarzkonglomeraten oder, auf den Hügelrücken, mit nicht sehr intensiv gefärbter Roterde gefüllt sind. Tiefer unten bemerkt man gelegentlich ganz oder fast ganz zu Pseudosandstein verwitterte grobe Kon- glomerate oder Blöcke in diesen eingelagert. Nur die äußere, vormals abgeplatzte Schale unterscheidet sie durch dunklere Färbung von dem gleichartigen umgebenden Material. An einzelnen weniger verwitterten Bänken der sonst ungegliederten Masse ist noch die ehemalige Klüftung des Granites zu erkennen. Sie verläuft wie bei diesem von WSW nach ONO und rechtwinklig dazu. Einzelne der groben eingelagerten Blöcke werden von alten Kluftlinien getroffen und durchsetzt. Diese sind also wohl an Ort und Stelle entstanden (nicht umgelagert). Andere kleinere wieder liegen regellos eingebettet und sind anscheinend in die „Kerben“ hineingeschwemmt. Unter diesen finden sich vereinzelt auch unverwitterte Blöcke eines dunklen Gesteins (Diabas?). Diese Verhältnisse legen die folgende Auffassung nahe. Das ursprüng- liche Granitgebirge wurde abgetragen und nahezu eingeebnet. Aus den Schuttmassen ragten, wie auch heute noch häufig zu sehen, zahlreiche Felstürme heraus, während die dazwischen liegenden Senken von Block- geröllen erfüllt wurden. Die eingeebnete Oberschicht verwitterte zu dem Pseudosandstein. Auch der anstehende Granit mußte in weiten Ge- bieten Ugogos, denen die Blockstruktur des Untergrundes fehlt, häufig die gleiche Umwandlung erleiden. Die Einebnung der Oberfläche würde der Wüstenperiode entsprechen, die Sandsteinbildung späteren feuchteren Zeitläuften. Andere Beobachtungen sprechen dafür, diese „Pluvialperiode“ ins Diluvium zu setzen, sodaß die Bildung des Verwitterungsgesteins nach der Entstehung der Bruchstufe beginnen würde und nicht, wie Obst annimmt, vorher zum Abschluß kam. Doch kann ich die komplizierten Verhältnisse hier nur in Kürze streifen, da ein genaueres Eingehen die Berührung anderer Fragen erfordern würde, die außerhalb meines heutigen Themas liegen. Ehe man auf dem Wege von Kilimatinde nach Mgunduko den Grund der großen, mit grauen Tonen erfüllten Salzsteppe erreicht, führt der Weg einen ziemlich sanften Hang hinab, der sich, etwa vom Dorfe Mena ge- sehen, als deutliche weithinziehende Verwerfung darstellt. Ihre Sprung- höhe dürfte kaum ein Drittel der Höhe der unteren Grabenstufe erreichen. Diese Verwerfung beginnt in dem rechtwinkligen Knick (bei 6° s. Br.) der Kilimatindestufe, um nach kurzem nordöstlichem Verlaufe allmählich nach Osten umzubiegen. Ich halte es für wahrscheinlich, daß diese Verwerfung mit dem deutlichen Randbruch zusammenhängt, der das Ngombiaplateau im Osten begrenzt und in nordnordöstlicher Richtung einen großen Teil des nördlichen Ugogo durchzieht. Das Ngombiaplateau ist also eine nicht 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. völlig abgesunkene Scholle der ,, Grabensohle“. Oder mit anderen Worten: Die große Krustenbewegung der Ostafrikanischen Bruchstufe kommt etwa zwischen 5° 35' und 6° südlicher Breite durch drei Störungslinien zum Ausdruck: Die beiden Hauptstufen westlich über und östlich unter Kili- matinde, und die untergeordnete Verwerfung, die das Ngombiaplateau öst- lich und südlich begrenzt. Die Skizze gibt diese Verhältnisse schematisch wieder. Die ostafrikanische Bruchstufe ist als doppelte Verwerfung bis in die Gegend von Mahaka nach Südosten zu verfolgen. Doch kann schon südlich von Kilimatinde die obere, stark verwischte Stufe sich an Höhe nicht mehr mit der unteren messen. Diese nur beherrscht von der Salz- steppe bei Mahaka gesehen das Bild der Landschaft und ist wohl aus diesem Grunde allein auf der Karte im Großen Kolonialatlas (Nr. 20) zur Darstellung gebracht, während die obere völlig fehlt. Von besonderem Interesse sind drei Granitberge, die westlich von Mahaka dem Stufenrande aufgesetzt erscheinen. Doch dürfen sie nicht als randliche Aufwulstungen der stehengebliebenen Scholle gedeutet werden. Sie sind auf einer ostwestlich verlaufenden Linie angeordnet, während ihre langgestreckten Kämme sämtlich von NNO nach SSW streichen. Die Kämme der beiden westlichen Berge werden von der oberen Bruchlinie, der des östlichen Berges von der unteren in etwa rechtem Winkel durchschnitten. Sie sind also älter als die Verwerfung. So erklärt sich zwanglos die Entstehung eines niedrigen Hügelrückens, der, scheinbar aus dem Steilhang der unteren Bruchstufe entspringend, sich wie ein Vorgebirge in die ebene Steppe hinausschiebt. Er ist nichts anderes als der nördliche abgesunkene Teil des östlichen Berges, dessen südliche Hälfte noch auf der Terrasse zwischen den beiden Verwerfungen steht. In ähnlicher Weise sind durch die obere Verwerfung die beiden westlichen Kämme zerlegt. Ich habe versucht, auch diese Verhältnisse auf der Skizze zum Ausdruck zu bringen. Vermutlich gehörten diese drei Berge ursprünglich einem ostwestlich streichenden Gebirgszug an, der in Inselberge mit nordsüdlich verlaufenden Kämmen zerlegt wurde, in der Weise, wie ich gleichzeitig in Petermanns Mitteilungen darzustellen ver- sucht habe. Über den weiteren Verlauf der Ostafrikanischen Bruchstufe ist kurz folgendes zu sagen: Südlich von Mahaka ist sie als einfache Verwerfung ausgebildet. Die obere Stufe ist nicht mehr nachzuweisen. Auch die untere nimmt rasch an Höhe ab und verläuft sich südwestlich des Kum- buruberges etwa in der Mitte zwischen diesem und dem Simba Ngulu. Eine Fortsetzung in südöstlicher Richtung vom Kumburu über den Manda- berg ist nicht nachzuweisen. Immerhin bleibt zu berücksichtigen, daß sich die große Steppensenke, die südlich von Kilimatinde beginnt, einheitlich über Hussi bis zum Kisigo VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 7 erstreckt, daß also die große tektonische Störung auch noch dort, wo sie nicht mehr sichtbar zu Tage tritt, ihre Wirkungen im Antlitz der Land- schaft erkennen läßt. Keinesfalls besteht ein Zusammenhang der Ostafrikanischen Bruchstufe mit dem Nyassa- oder Ruaha-Graben1). Die große tektonische Störung, die in Palästina beginnt und das östliche Afrika durchzieht, erreicht in Süd-Ugogo, etwa unter 6° 35' s. Br., ihr Ende. Herr R. Lachmann machte eine vorläufige Mitteilung über die Re- sultate einer gemeinsam mit Herrn Professor Dr. Svante Arrhenius in Stockholm unternommenen Arbeit „Über die Bildung und Umbildung von Salzgesteinen“. Die leitenden Gesichtspunkte dieser Arbeit sind die folgenden: A. Erklärung der inneren Deformationen der Salzlager. 1. Es wird davon ausgegangen, daß die Zechsteinsalze in einem ab- geschnürten Meeresteil bei einer Temperatur von unter 25° zur Ablagerung gekommen sind. 2. Die Abweichungen von der durch van’t Hoff festgestellten Kristalli- sationsfolge der Meeressalze erklären sich: a. quantitativ durch geologische Veränderungen während und nach Abschluß des Kristallisationsprozesses, b. qualitativ dadurch, daß die Salzlager im Laufe des Mesozoikums durch mehrere Kilometer mächtige Sedimente eingedeckt wurden und unter dem Einfluß der Erdwärme z. T. ihr Kristallwasser verloren, z. T. zu neuen Mineralverbindungen zusammentraten. 3. Infolge der dabei auftretenden Volumenänderungen stellten sich Druckverschiedenheiten ein, denen die Salzgesteine in Berührung mit dem freigewordenen Wasser als Kristallbrei durch Verbiegung der Schichtung nachgaben. Derartige Vorgänge, nicht der hypo- thetische faltende Gebirgsdruck, haben die beobachteten inneren Deformationen der Salzlager hervorgerufen. 4. Die Umwandlungen machten sich am radikalsten in der heutigen Carnallitregion der Kalisalzlager geltend. Hier wurde großenteils der ursprüngliche Schichtenverband vollkommen zerstört und es entstand die von Everding als „Hauptsalzkonglomerat“ beschriebene Gesteinsstruktur. R Demnach bestätigt sich in vollem Umfange die Annahme Uhligs: „Sollte der Mpangali, der Oberlauf des Großen Ruaha, wirklich in einer Grabensenke fließen, so ist sie ihren Formen nach außerordentlich viel älter als der Große Graben, hat auch ihrer Richtung nach nichts mit ihm zu tun, und die Formen beider hängen räumlich nicht miteinander zusammen“, a. a. 0. S. 498. 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. B. Erklärung der äußeren Deformationen der Salzlager. 5. Das Grundwasser bewirkt lokale Auflösungen der Salzlager, welche aber in größeren Tiefen nicht, wie etwa bei Kalken, zur Entstehung von Hohlräumen führen. Vielmehr werden infolge von Druckver- schiedenheiten bei der leichten Verschiebbarkeit (Rekristallisations- Plastizität) der Salzmassen die entstehenden Hohlräume in statu nascendi geschlossen. 6. Im weiteren Fortgang der subterranen Salzauflösung tritt rings um die Angriffspunkte des Grundwassers eine Mächtigkeitsabnahme in den Salzlagern ein. Alsbald macht sich die Schwerkiaft geltend, indem die spezifisch leichteren, in sich beweglichen Salzmassen von einem Auftrieb gegenüber den schwereren Deckschichten er- griffen werden. 7. Der Salzauftrieb formt die Steinsalzmassen zu zylindrischen Körpern (Ekzemen), welche bei ständiger randlicher Auflösung in langsamen Aufsteigen die hangenden Schichten emporheben. Im Niveau der oberen Hauptauflösung bildet sich eine Gleichgewichtsfläche aus, der sogenannte Salzspiegel, über welchem die unlöslichen Bestand- teile der Ekzeme aufgestapelt werden. 8. Die Bildung von Ekzemen wird durch tektonische Vorgänge (Brüche, Flexuren) begünstigt, sodaß Ekzeme häufig in reihenförmiger An- ordnung entstehen. 9. Durch die wechselnden Verhältnisse der äußeren und inneren Reibung, ferner durch die Zusammensetzung der Salzstöcke aus spezifisch leichteren und schwereren, mehr oder minder löslichen Salzarten werden Differentialbewegungen innerhalb der Ekzeme be- wirkt, welche sich als stehende Falten von teilweise sehr großen Dimensionen in den Kalibergbauen kenntlich machen. Sitzung am Mittwoch, den 20. März. Auf Vorschlag des Vorsitzenden wird zum Sekretär der Sektion für Niederschlesien gewählt: Herr Bergwerksdirektor Eckert zu Weißstein bei Waldenburg. Der Vorsitzende teilt mit, daß in der Sitzung des Präsidiums der Gesellschaft vom 12. März 1912 die Erhebung einer Extra- umlage von 2 Mk. jährlich für Beilagen zum Jahresbericht genehmigt worden ist. Zum Zwecke der Verwaltung dieses Sektionsfonds wird auf Vorschlag des Vorsitzenden Herr Dr. Lachmann gewählt. Herr Professor Dr. Leonhard erhält sodann das Wort zu seinem angekündigten Vortrag: ,,Über Reisen im nördlichen Kleinasien.“ In der Diskussion führt Herr Professor Dr. Frech das folgende aus: VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 9 Es besteht zunächst ein Unterschied zwischen den pontischen Gebirgen östlich und westlich des Halys (Kisil Irmak). Im Westen herrscht Bruch- bildung, welche im Gebirgsbau vorwaltet und noch in den Einbruchstälern zum ägäischen Meer sich ausprägt. In dem sogenannten ostpontischen Bogen, der tatsächlich eine Bruch- scholle darstellt, sind dagegen nur reine Erosionstäler vorhanden. Diese Erosionstäler stehen genau senkrecht auf der regelmäßig verlaufenden Bruchküste. Sie täuschen durch ihre besonders zwischen Trapezunt und Ordu ausgeprägte Parallelität das Vorhandensein einer Faltungskette vor, von welcher der Gebirgsbau keine Spur aufweist. Weit beträchtlicher noch ist der Unterschied zwischen der nördlichen und südlichen Begrenzung des kleinasiatischen Hochplateaus. In den taurischen Gebirgen besteht die Sedimentationsreihe aus Unter- silur (im Amanos), Devon (bei Hatjin und Telke) und Kohlenkalk. Darüber folgt mit einer gewaltigen Diskordanz Cenomanquader und die mächtigen, im oberen Teile mit Pläner wechsellagernden Radiolitenkalke. Im Gegensatz zum Taurus sind Gebirgsbau und geologische Entwickelung im pontischen Gebirge etwa dem der Karpathen verwandt. Die gewaltige Lücke des Taurus wird hier durch eine vollständige Serie: Trias von Ismid, Lias von Angora, Oxford, Unterkreide ergänzt. An die Karpathen erinnern auch die Kerngebirge, insbesondere der granitische Olymp von Brussa. Die jüngeren Formationen der westpontischen Gebirge bestehen aus Ober- kreide (mit Gosau-Entwickelung bei Amassia); darüber lagert Nummuliten- kalk, der das letzte marine Formationsglied darstellt und am Ende des Eocäns oder in dem einer Lücke entsprechenden Obligocän aufgefaltet wurde. Das westpontische Gebirge lehnt sich im Norden an die aus Urgebirge bestehende rumelische Scholle derart an, daß das Devon des Bosporus den Übergang zwischen Sedimenten und Urgesteinen darstellt. Der südlichste Ausläufer der rumelischen Masse ist ein weißer klein- körniger Granit, der in Kütschük Tschekinedje westlich von Kon- stantinopel gebrochen wird. Im östlichen Teile der westpontischen Gebirge und zwar an der Küste des Schwarzen Meeres zwischen Heraklea und Amastra wird die palaeo- zoische Schichtenfolge noch durch eine ziemlich vollständige Entwickelung des Karbon ergänzt, das durchweg deutlich gefaltet ist. Über Kohlenkalk mit Versteinerungen der Vise-Stufe folgen die kontinentalen flözreichen Saarbrücker und sudetischen Schichten in einer an Waldenburg und Saar- brücken erinnernden Entwickelung. Nur an der Küste selbst ist marine Unterkreide bei Songuldak zwischen StafFelbrüchen erhalten. Weiterhin folgt die junge Hauptverwerfung der pontischen Küste. Die beigefügte Tabelle enthält eine Kombination aller im westpontischen Gebirge zwischen Konstantinopel und dem Halys beobachteten Schichten. 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. In morphologischer Hinsicht bestellen dieselben Gegensätze zwischen den nördlichen und südlichen kleinasiatischen Randgebirgen wie in der erd- geschichtlichen Entwickelung: Der Norden Kleinasiens enthält ausschließlich Mittelgebirge, in denen nur hie und da die durch rezente Erdbeben belebte Erosion schroffe Schluchten eingeschnitten hat, die an alpine Landschaften erinnern. ln den taurischen Gebirgen sind dagegen Mittelgebirgsformen auf die alten Schiefergesteine der inneren kappadokischen Zone beschränkt, welche gleichzeitig der Niederschlagsarmut des anatolischen Hochlandes ent- spricht. Die zentrale Kalkzone und die zu bedeutenden Höhen auf- gewölbten Kreidekalke des Kilikischen Taurus zeigen überall die schroffen Formen des Hochgebirges. Ganz eigenartig ist die Kanonlandschaft am Absturz des Kilikischen Taurus gegen die Ebene. Auch hier hat die jugendliche Erosion der Küstenfiüsse Schluckten und Wände geschaffen, ■wie wir sie sonst nur im fernen amerikanischen Westen zu finden gewohnt sind. Der Energie der jugendlichen Erosion entspricht die gewaltige Ausdehnung der unabläßig in das Meer vorgeschobenen Flußdeltas; doch ist auch hier die bedeutendere Aufschüttungsarbeit im Süden geleistet, wo die ganze Kilikisclie Ebene der postquartären Arbeit der kurzen aber zur Schneeschmelze überaus wasserreichen Küstenflüsse ihre Entstehung verdankt. Immerhin zeigen auch im Norden Anatoliens die Deltaebenen des Halys und Iris ein überaus rasches Wachstum, ist doch die Jugendlichkeit der Küstenbrüche und die hierdurch bedingte gewaltige Arbeit der Erosion der einzige gemeinsame Zug zwischen den sonst grundverschiedenen Küsten- gebirgen des Nordens und Südens. Die einzige Analogie zwischen westpontischem und taurischem Gebirge besteht darin, daß von N nach S jüngere gefaltete Gesteine auf ältere folgen. Diskordant auf allen liegt an der Propontis sarmatischer Kalk und Ton mit brakischen und Süßwasserconcahylien, während die diskordante Auflagerung im Innern Anatoliens aus den etwa gleich alten Salzen, Gipsen und Mergeln besteht (Mio-Pliocän, nicht Eocän). Die Analogie der nordpontischen Gebirge mit den Karpathen reicht von den granitischen Kernmassen bis zu der im Innern der ungarischen Ebene ungefalteten sarmatischen Bedeckung. Jedoch ist ein direkter Zu- sammenhang zwischen diesem westpontischen Gebirge von karpathischem Typus und den eigentlichen karpathischen Faltenzügen nicht vorhanden, vielmehr liegt die rumelische Masse dazwischen. Dagegen bildet der Taurus in tektonischer Hinsicht einen Ausläufer der indischen Faltengebirge, — speziell des Hindukusch und der süd- persischen Ketten — und gliedert sich an das in seinem Kern aus Ur- gestein bestehende anatolische Hochland in ähnlicher Weise an wie der VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. ] 1 Himalaya an das ebenfalls im Untergründe aus Urgebirge und Paläozoikum bestehende Tibet. Der Taurus weicht auch darin von den Alpen ab, daß keine Spur von größeren Überschiebungen sichtbar ist, vielmehr zeigt die zentrale, am höchsten aufragende Kette des kappadokischen Taurus sehr steile, vorwiegend senkrecht stehende Falten des Kohlenkalkes und älteren Paläozoikums. Derselbe Kohlenkalk unterlagert mit ziemlich steiler Schichtenstellung die Oberkreide der Kilikischen Zone, die in ihren tiefem Teilen etwas gefaltet ist, während nach dem Hangenden zu flache Lagerung folgt. Das tertiäre aus marinem Miocän bestehende Glacis neigt sich von bedeutenden Höhen zur kilikischen Ebene hinab, ohne daß eine eigentliche Faltung wahrnehmbar wäre. Schon innerhalb der Kreideschichten macht sich ein Ausklingen der Faltung aus dem Liegenden ins Hangende derart bemerkbar, daß die von Rutschflächen durchsetzten tieferen Schichten von der Faltung betroffen sind, während die oberen horizontal lagern. Schichtentafel des westpontischen Gebirges zwischen Konstantinopel und dem Halys. Quartär: Terrassenbildungen am Bosporus. Tertiär: Unterpliocän bis Obermiocän: (Pontische Stufe) Schotter- ablagerungen im Belgrader Walde bei Therapia nördlich Konstantinopel. Obermiocän: Binnenseeablagerungen der sarmatischen Stufe i. W. von Konstantinopel. Hauptfaltung der westpontischen Ketten in der jüngeren eocänen oder oligocänen Zeit. Eocän: Marine Entwicklung (Nummulitenkalk); letzte Meeresbedeckung des inneren Kleinasiens bis nach Transkaukasien (Tiflis) und Hocharmenien verfolgbar. Kreide: Oberkreide: Senon: Obersenon mit Pachydiscus subrobustus bei Eski-Basar und Dede-dschame bei Ordu, und mit Anachytes und Inoceramus auf der Bithynischen Halbinsel. Untersenoner Plänerkalk mit Micraster cor anguinum bei Eski-Basar und Dede-dschame. Turon: Gosauentwicklung (Oberturon) bei Amasia mit Actaeonella gigantea, Glaconia Kefersteini, Columnastrea striata, Phyllocoenia exsculpta etc. Im übrigen Gebiet Oberkreide als Hippuriten- und Radiolitenkalk ent- wickelt. Unterkreide: Marin entwickelt z. B. bei Koslu und Songuldak. 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Jura: Oberer Jura: (Oxford): Mergel und Kalksandstein mit Pelto- ceras arduennense d’Orb. (nach d’Arehiae, Leonhard, Frech) in den Gebieten von Balyk-Kojundäi und Mudurlu, SW und NO von Angora. Dogger: Bisher unbekannt. Lias: Oberlias: Graugrüner Kalk mit Coeloceras limatum Pomp, bei Kessik-tasch (W. v. Angora). Mittellias: Adnetlier Fazies im Umfang der mediterranen Zone der Terebratula Aspasia bei Kessik-tasch, Merzifoun, Jakadjik. Hierlatzfazies (Brachiopoden und Crinoidenkalke) bei Kessik-tasch und Jakadjik. Unterlias: Oxynoticeras-Zone bis Bucklandi-Zone bei Merzifoun. Arietenkalk bei Kessik-tasch. Lias a und ß und Margaritatus-Zone bei Jakadjik. Trias Obertrias: Nicht nachgewiesen. Unt. Muschelkalk: Mit reicher alpiner Cephalopodenfauna (Ceratites aff. elegans, Arcestes, Monophyllites cf. Suessi Mojs., Beyrichites, Sturia, Spiriferina Menzelii De. var. propontica etc.) am Golfe von Ismid und auf der Bythinischen Halbinsel. Werfener Schichten: Sandig-mergelige Entwicklung mit Gervilleia cf. incurvata Leps., Myophoria ovata etc. am Golf von Ismid und auf der Bythinischen Halbinsel. Dyas: Unterrotliegendes: Kontinentale Fazies mit Taeniopteris multi- nervia Weis, im Pontischen Ak-Dagh bei Merzifoun. Carbon: Obercarbon: Zwischen Heraklea und Amasra. Ohne marine Ein- lagerungen. Saarbrückener Stufe: Mit sehr mächtigen Flözen. Sudetische Stufe: Im oberen Teil flözreich (Ma- riopteris muricata), im unteren flözleer. Untercarb. (Vise-Stufe) : Kohlenkalk bei Songuldak mit Syringopora ramulosa Goldf. Devon: Am Bosporus (Bythin. Halbinsel) Adabasar und bei Pera enthält: Höheres Devon: In einer noch nicht näher untersuchten Entwicklung. Mittlere und ob. Coblenzschichten: Schieferig-sandige Entwicklung mit Quarzit-Einlagerungen bei Skutari. Tiefstes Devon: In kalkiger Ausbildung. Granit: Von unbekannter Altersstellung: Olymp von Brussa und von Kütschtik Tsckekmedje. Zu Punkt 3 der Tagesordnung erteilt der Vorsitzende Herrn Dr. Lachmann das Wort zu Mitteilungen über VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 13- „Den Bau des niederhessischen Berglandes bei Hundeisbausen“. Einleitung. Tektonik der Gegend. Zwei Probleme von allgemeiner Bedeutung sind es vor allem, welche bereits frühzeitig das Auge der Geologen auf Niederhessen gezogen haben: das Auftreten der tertiären Basalte und die verwickelten Verhältnisse des Gebirgsbaus. Für beide Erscheinungen bietet gerade der nordöstliche Teil von Niederhessen an der Werra die lohnendsten Aufgaben in dem mächtigen Basaltnapf des Meißners einerseits und in dem Übergreifen der tektonischen Bruchzone Leinetal-Gelstertal über das prävaristische Rumpfgebirge bei Hundelshausen andererseits. Die erste der beiden erwähnten Aufgaben, sowie die neuerdings mit neuen Beobachtungen wieder von Grupe aufgerollte Frage nach dem Ver- hältnis beider Phänomene zu einander1) bleibt hier außer Betracht. Für die Tektonik ist in erster Linie der prinzipielle Gegensatz zu berücksichtigen, welcher im Gefüge der vor und nach der varistischen Faltung gebildeten Gesteine besteht. Jene sind bekanntlich in verschiedenen Phasen, namentlich am Ausgange der Steinkohlenzeit und zu Beginn des Rotliegenden, in West- und Mitteldeutschland zu einem gegen Ostnordost streichenden Faltengebirge zusammengeschoben worden, während sich die mesozoische Hülle mit Einrechnung der Zechsteinablagerungen, die auf dem eingeebneten varistischen Gebirgssockel zur Ablagerung gelangt sind, in weiten Flächen Mitteldeutschlands zwischen dem Rheinischen Schiefer- gebirge, Spessart, Thüringer Wald und Harz ihre schwebende Lagerung bewahrt hat. Es ist für die dynamische Geologie von großer Wichtigkeit, fest- zustellen, ob etwa die Brüche, von denen dieses Plateau angeschnitten istr als Nachklänge jener großen Faltungsperiode aufgefaßt werden können ungefähr in der Weise, wie gewisse Dislokationen des westfälischen Stein- kohlenbeckens. Diese verlaufen hier normal zur varistischen Faltungsrichtung und in ihrem Parallelismus zu den der Faltung gleichaltrigen Querver- schiebungen geben sie eine Gleichheit der Ursache zu erkennen. Die aufgeworfene Frage hat allerdings keine Aussicht beantwortet zu werden, bevor nicht eine Entscheidung darüber vorliegt, ob die am Tage festzustellenden Verwerfungen auch wirklich den varistischen Untergrund mitbetroffen haben, oder ob sie als Einstürze zufolge von Auslaugungen *) Über das Alter der Dislokationen des Hannoversch-hessischen Berglandes und ihren Einfluß auf Talbildung und Basalteruptionen. Zeitschrift d. geol. Ges. 63. 1911, S. 264—816. 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. der den Decksedimenten zwischengelagerten Steinsalz-, Gips- und Kalklager aufgefaßt werden müssen. Seitdem durch Kirschmann für den bisher lediglich als tektonische Form aufgefaßten Allertalgraben nachgewiesen wurde, daß er seine morphologische Ausbildung in erster Linie solchen Aus- laugungsvorgängen verdankt1), schien es notwendig, auch für die größeren solcher Grabensysteme eine Neuuntersuchung nach dieser Richtung hin anzustellen. Im Falle des Aller tals konnte der geologische Nachweis auf Grund von zahlreichen Tiefbohrungen geführt werden. Für die übrigen Gräben scheint nach dem gegenwärtigen Stande der bergbaulichen Untersuchungen eine Prüfung nur auf einem anderen Wege möglich. Es mußte zunächst ein Graben aufgesucht werden, der auf einen prävaristischen Gebirgsrumpf hinausläuft, und hier mußte das Verhalten der beiden differenten Gebirgs- glieder gegenüber dem Einbruchssystem untersucht werden. Unter diesem Gesichtspunkt bin ich im Herbst des vorigen Jahres an die Aufnahme der Gegend von Hundelshausen gegangen, von welcher die bereits aus den 70iger Jahren des vorigen Jahrhunderts vorliegende Dar- stellung von Moesta2) ergeben hatte, daß dort wertvolle Aufschlüsse zu erwarten seien. Die allgemeinen tektonischen Verhältnisse der Gegend sollen zunächst geschildert werden. Das Buntsandsteinplateau des östlichen Hessens, welches durch den Kaufunger und Seulungswald gekennzeichnet wird, erleidet durch eine Reihe von Aufwölbungen des paläozoischen Gebirges Unterbrechungen, die im Gegensatz zum Thüringer Wald orographisch nicht besonders her- vortreten. Der Grund dafür dürfte weniger in der geringen Größe dieser Areale alten Gebirges, als darin begründet sein, daß die letzte Phase der Bruch- bildung, welche in postmiocäner Zeit vornehmlich die heutigen Gebirgs- konturen des Thüringer Waldes gebildet hat, in diesen westlichen Kuppeln von geringerer Wirkung gewesen ist. Daß diese jungen Bewegungen übrigens nicht ganz fehlen, wird durch den Einbruch von Braunkohlen- schollen auf der Höhe des Richelsdorfer Gebirges erwiesen. (Moesta a. a. 0., S. 76.) Von ungleich größerer Bedeutung für die Oberflächengestaltung des hessischen Berglandes sind die Grabenbrüche. Ein Graben in nordöstlicher Richtung setzt am Nordabhang des Knüllgebirges bei dem Dorfe Wichte ein und verläuft tangential zu dem Zechsteinrumpf, welcher zwischen Roten- burg und Altmorschen von der Fulda durchschnitten wird. Von Spangen- 1) Geologische Rundschau 1911, S. 110. 2) Das Liasvorkommen bei Eichenberg in Hessen etc. Jahrb. d. Landesanst. für 1883, S. 57—80. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 15 berg bis Lichtenau weist der Graben einem Zufluß der Fulda, der Esse, Nebenfluß der Pfiefe, den Weg und öffnet sich sodann zu einem napf- förmigen Kessel, welcher hier mit einem von Eisenach über den Ringgau hinziehenden nordwestlich gerichteten Graben zusammentrifft. Bei Ungsterode, zwischen Hirschberg und Meißner, tritt eine aber- malige Erweiterung der hier hauptsächlich aus Keuper zusammengesetzten Grabenfläche ein. Es ist dies der Ausstrahlungspunkt des nach Westen zu bis Helsa und weiterhin bei Kassel, Altenhasungen und Volkmarsen bis nach Börlinghausen am Rande der westfälischen Kreidemulde verlaufenden Seitengrabens. Weiter nördlich fließt die Geister bis in die Nähe von Hundelshausen in dem auf dieser Strecke einseitig ausgebildeten Graben, welcher im Westen eine Bruchfläche und im Osten eine Flexurbegrenzung aufweist. Bei Hundelshausen findet das weiter unten ausführlich zu schildernde Auftreffen des Gelstertalgrabens auf den Allendorfer Rundhorst4) statt. Das Paläozoikum bei Hundelshausen ist das nordwestliche Ende einer elliptisch gestalteten Kuppel mit nordwestlich längerer Achse, die sich im allgemeinen parallel der Werra von Eschwege bis Ermschwerd in einer Länge von 25 km und einer Breite von bis zu 5 km hinzieht. Im Bereich der dieser Arbeit beigegebenen Karte schwankt die Breite des Horstes, gemessen zwischen den Ausbissen des untersten Buntsandsteins von 1,7 bis 3,7 km. Die Flachheit des Aufbruches prägt sich darin aus, daß in dieser Kuppel die peripherisch gelagerte Zechsteinformation, deren gesamte Mächtigkeit unter Abrechnung der ausgelaugten Schichtglieder auf nur 200 m sich beläuft, fast zwei Drittel der Grundfläehe einnimmt. Der Emergenzwinkel der Aufwölbung beträgt demnach durchschnittlich nicht mehr als 15°. Die Verbreitungsfläche der Zechsteinformation wird noch dadurch ver- mindert, daß einige Raudbrüche, welche in nordwestlicher Richtung ver- laufen, die Zechsteinformation zum Ausfall bringen und den Buntsandstein unmittelbar neben das alte Gebirge legen. Es erhellt aus diesen Angaben, daß wir es mit einer ganz flach gewölbten Kuppel zu tun haben, die nur eben am Scheitel von der Erosion angeschnitten worden ist. Schräg gegenüber Hundelshausen auf der anderen Seite des Rumpfes ist bei Wendershausen der Beginn eines neuen großen Bruchsystems inseriert: des Leinetalgrabens. Beim Übersetzen über die Werra besitzt der Graben nur 2 km Breite, verbreitet sich aber sogleich bei Werleshausen auf 4 und, nach Ein- beziehung der Störungszone Gotha — -Eichenberg auf 6 km. 4) Unter ,, Rundhorst“ versteht der Verfasser einen Horst, der überwiegend von Flexuren begrenzt ist. 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Die Tiefe des Grabens ist allerdings gleich anfangs eine recht beträcht- liche, indem im Westen unterer, im Osten sogar mittlerer Keuper in Kontakt mit der mittleren Buntsandsteinformation gelangt. (Siehe Profil 1.) Die Oberflächenwirkungen dieses tektonischen Elementes sind ja be- kannt genug. Der Graben gibt für die Leine auf eine Länge von 35 km die Richtung an, und die Fruchtbarkeit der Talmulde dieses Flusses wird sowohl durch die morphologischen Verhältnisse eines tiefgelegenen Graben- gebietes, wie durch die Zusammensetzung des Bodens aus den Tonen und Mergein des Keupers sowie der jüngsten Schwemmgebilde gewährleistet. Ebenso ist die tiefe Furche bei Eichenberg zwischen Werra und Leine, von alters her eine natürliche Verkehrsstraße, ein Werk dieser graben- artigen Schollenversenkung. Die Einwirkung des tertiären Vulkanismus ist in dem zu beschreibenden Kartengebiet auf einen isolierten Durchtrittspunkt von Basalt am Schwimel- stein beschränkt. Das Vorkommen liegt hier außerhalb der sichtbaren Spaltenverwerfungen und ist offenbar von der eigentlichen Grabenbildung ebenso wenig beeinflußt, wie im westlich benachbarten Kaufunger Wald der große Steinberg oder weiter im Süden der Meißner und Hirschberg. Oberflächengestaltuug. In zweiter Linie war über die Oberflächenformen des zu behandelnden Gebietes eine Untersuchung anzustellen. In doppelter Hinsicht erleidet das Bild des durch Werra, Fulda und ihre Nebenflüsse tiefzerteilten niederhessischen Berglandes in der Umgebung des Meißners eine Unterbrechung. Die Basaltdecken des Meißners selbst liegen auf einer Hochfläche, welche offenbar schon ihres hohen Alters wegen (Mitteltertiär), dann auch wegen ihrer Ebenheit in großer Höhe mit dem gegenwärtigen Erosions- zyklus nicht in Zusammenhang steht. Da Reste der Tertiärbedeckung auch im Kartengebiete auftreten, so war Art und Alter dieser Fläche zu diskutieren. Außerdem finden sich östlich des Meißners in ca. 300 m Seehöhe ebene Gebiete, welche mit einer etwa 50 qkm großen zusammenhängenden Fläche inmitten von geneigten Gehängeformen sich ausbreiten und in ihren Ausläufern bis östlich von Hundelshausen verfolgbar sind. Davis und Braun1) haben hier eine Fastebene angenommen, welche noch vor dem Einsetzen der Erosion durch die Werra zur Reife gelangt sein soll. Bei der Bedeutung, welche der Davis’schen Theorie von dem Pene- plain zukommt, schien es angemessen, einige Gründe gegen deren An- wendung im vorliegenden Falle namhaft zu machen, zumal da die Annahme D Grundzüge der Physiogeographie 1911, S. 179. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 17 eines abgeschlossenen Erosionszyklus in spättertiärer Zeit unsere sonstigen Auffassungen über die geologische Geschichte der Gegend vollkommen umgestalten müßte. Hauptteil. I. Stratigraphie der auftretenden Formationen. Nur kurz berühren wir im Folgenden die stratigraphischen Verhält- nisse der Gegend, indem wir uns im einzelnen auf die Erläuterungen zur geologischen Spezialkarte von Preußen, sowie auf die neuere Arbeit von Grupe „Zur Stratigraphie der Trias im Gebiete des oberen Wesertals“ *) beziehen. Grauwacke (Gr.). Der prävaristische Kern des alten Rumpfes setzt sich aus Grauwacken, Grauwackenschiefern und Tonschiefern zusammen, welche wie in Mittel- deutschland die Regel ist, gegen Nordost streichen und mit 40 — 60°, so weit die mangelhaften Aufschlüsse ein Urteil gestatten, gegen Südosten einfallen. Die Schichtung ist besonders in den Grauwacken sehr undeutlich aus- geprägt. Sie zeigen im Aufnahmegebiet keine Spur einer Metamorphose und bestehen überwiegend aus gröberen eckigen Quarzkörnern in einer mittel- bis feinkörnigen sandsteinartigen Grundmasse. Seltener ist das Auftreten von feinschichtigen Tonschiefern als Zwischenlagerung der Grauwacken. Die Grauwacke ist von dunkelgrauer bis brauner, durch Verwitterung ins Rötliche übergehender Farbe. Im Grauwackengebiet tritt ein Gangsystem mit nordwestlichem Streichen auf, welches sporadisch Kupfererze führt und als solches zu einem Berg- bau vielfach Anlaß gegeben hat. Die Gänge zeigen sich besonders im Geistertal am Ostabhang gegenüber der Söhre. Hier liegen neuerdings Schürfungen auf Schwerspat vor, der früher als Anzeichen eines ab- nehmenden Erzgehaltes gemieden wurde und gegenwärtig unter den gleichen geologischen Verhältnissen im Richelsdorfer Gebirge mit Vorteil abgebaut wird. Ein Schurfschacht ist an der angegebenen Stelle im Ausstreichen des Zechsteinkalkes angesetzt und hat einen Gang mit gut ausgebildetem liegendem Salband erschlossen, welcher sich im Hangenden zertrümmert. Er hat nördliches Streichen bei einem Einfallen von 70° gegen Ost und 1,5 — 3 m Mächtigkeit, scheint aber infolge der durch Nebengesteinsbrocken verunreinigten Beschaffenheit des Schwerspates nicht mehr als einige Meter im Fallen verfolgt zu sein. 2) 4. Jahresber. d. niedersächs. geol. Vereins. 1911. 1912. 2 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Es ist bezeichnend, daß dieser kupfererzhaltige Schwerspatgang parallel der auf der Karte eingetragenen Verwerfung verläuft und außerdem das Kupferschieferflöz anschneidet, das möglicherweise von hier seinen Erz- gehalt bezogen hat. Die Grauwacke ist wegen der Scharfkantigkeit ihrer Verwitterungs- produkte zur Feldkultur ungeeignet, sie trägt dagegen besonders an der Söhre einen gut bestandenen Buchenwald. An organischen Einschlüssen sind die Grauwacken des Allendorfer Rumpfgebirges sehr arm. Nur schlecht bestimmbare Asterocalamiten sind bekannt geworden. Für die Altersbestimmung kommen also mehr strati- graphische, als paläontologische Gründe in Frage, welche für manche dieser Grauwackenschiefer einen Vergleich mit der Gründer oder Tanner Grauwacke des Harzes in hohem Grade wahrscheinlich machen. In der südöstlichen Fortsetzung unseres Vorkommens bei Albungen sind Einlagerungen von Quarziten, Kieselschiefern, kristallinischen Kalken und Roteisensteinen vorhanden neben Diabasen und deren Kontaktgesteinen, welche den Vergleich mit gewissen unterkarbonen Schichten im Harze fast zur Gewißheit machen. Da nun anzunehmen ist, daß das gleichmäßige und steile Einfallen gegen Südosten einer Isoklinalfaltung der Schichten entspricht, so darf man folgern, daß die allerdings schwer zu trennenden Sattelkerne aus devonischen Schichten bestehen, indessen die offenbar jüngeren und wenig veränderten Grauwackensandsteine außer den erwähnten Schichten mit der Unterkarbonformation des Oberharzes zu parallelieren sind. Die Vorkommen in unserem Aufnahmegebiet sind übrigens nicht geeignet, die schwierige tektonische Frage nach der relativen Stellung der Grauwacke gegenüber den Wieder Schiefern in irgend einem Sinne ihrer Lösung entgegenzuführen. Die Zechsteinformation. Die allgemeine Verbreitung der Zechsteinformation wird durch die in nordwestlicher Richtung sich erstreckende Längsachse der Grundgebirgs- aufwölbung des Allendorfer Rundhorstes geregelt. Im einzelnen richtet sich die Breite des entblößten Streifens nach zwei Gesetzen. 1. Nach der Neigung der Sattelachse. Da diese Neigung eine geringere ist, als das Abfallen der Sedimenthülle von den Flanken der Aufwölbung, so ist es erklärlich, daß sich der breiteste Saum an den äußersten Enden der Grundgebirgsinsel, bei uns also im Nordwesten entfaltet. 2. Nach der Neigung der Sattelflanken. Es ist ein Gesetz, welches sowohl beim Thüringer Wald als auch beim Harz und hier beim Allen- dorfer Rundhorst wiederkehrt, daß am Nordsaum der Horste die mesozoische Decke schneller in die Tiefe gezogen wird, als am Südsaum. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 19 An letzterem bildet sich (Gegend von Bleicherode und Schmalkalden, in unserem Gebiet die Gegend von Hundelshausen) eine ganz flach ab- fallende Flexur aus; am Nordosthang treffen wir überbogene Flexuren (Harz) sowie Längsbrüche an, die einen Teil der Grenzschichten zum Aus- fall bringen (Thüringer Wald bei Eisenach). Die Zechsteinformation hat nach den klassischen Untersuchungen von Beyrich (1868) am Ausgehenden folgende Gliederung; Obere Abteilung. Obere Letten mit Gips zo3 Oberer Dolomit (Plattendolomit) zo2 Unterer Letten mit Gips zox Mittlere Abteilung. Dolomit des mittleren Zechsteins (Hauptdolomit) . zm Älterer Gips und dessen Äquivalente (Letten, Dolomit- ausscheidungen, Aschen) * Untere Abteilung. Zechsteinkalk zu Kupferschiefer * Zechsteinkonglomerat * Die auch im Text zuweilen gebrauchten Abkürzungen (zo3 etc.) be- ziehen sich auf die Signaturen der Karte und der Profile. Zechsteinkonglomerat (zu). Das Zechsteinkonglomerat, um mit der liegendsten Stufe zu beginnen, ist nur in sehr geringer Mächtigkeit entwickelt. Es erreicht an gut auf- geschlossenen Punkten 5 — 10, seltener 15 cm Mächtigkeit und bleibt so beträchtlich hinter seiner normalen Entwickelung zurück1). Am Wege, welcher nördlich von der Domäne Piückerode zum Klepper- berg hinüberführt, ist es in feinsandiger Beschaffenheit, von hellgrauer Farbe und mit dünnplattiger Absonderung aufgeschlossen. Es wird her- vorgehoben2), daß das Gestein aus den schwer zerstörbaren Bestandteilen seiner Unterlage zusammengesetzt ist. Ob das Konglomerat tatsächlich, wie Beyschlag vermutet, zum Teil vollkommen fehlt, konnte nicht mit Sicherheit festgestellt werden. Kupferschiefer (zu). Der Kupferschiefer tritt in der üblichen Beschaffenheit in unbedeutender Mächtigkeit von 15 — 20 cm, aber mit großer Gleichmäßigkeit auf. Der *) vergl. Meinecke, Das Liegende des Kupferschiefers. Jahrb. d. geol. Landes- anst. 1910. XXXI, 2. S. 275—291. 2) Erläuterung zu Blatt Witzenhausen S. 11. 2* 20 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Erzgehalt ist ein so geringer, daß ein dauernder Bergbau sich nicht ein- bürgern konnte. Trotzdem wird durch einzelne Pingenzüge dem kundigen Auge verraten, daß selbst diese geringen Vorkommen für die Schürfer im Mittelalter von Wert gewesen sind. Z echstei nkalk fzu). Der Kalk des unteren Zechsteins, von welchem bekanntlich die ganze Formation ihren Namen erhalten hat, ist in seiner unteren Partie als blau- schwarzer Kalk in grobgeschichteten Bänken entwickelt. Die oberen Lagen bestehen aus Schiefern und schiefrigen Kalken, die von bituminöser und mergeliger Beschaffenheit sind und in ihrer Ausbildung an gewisse Vor- kommen im Richelsdorfer Gebirge erinnern. Es ist für diese Stufe überaus kennzeichnend, daß sie auf dem süd- westlichen Flügel der Zechsteinverbreitung besonders in ihrer unteren Abteilung mächtiger entwickelt ist, als auf dem Werra-Gegenflügel. Bei dem gleichen Verhalten, welches in der Fortsetzung des Allendorfer Rund- horstes obwaltet, ist der Gedanke naheliegend, daß einige Bodenuneben- heiten bereits zur Ablagerungszeit dieser Bildungen in der betrachteten Gegend existiert haben. Die Gänge des Grauwackengebirges setzen bei dem Gut Rückerode bis in den unteren Zechstein hinein und sind hier als brauneisenstein- und schwerspatführend erschlossen. Einige Schurfschächte mit verhältnismäßig frischer Zimmerung, von den Pingen auf Kupferschiefer deutlich unter- scheidbar, scheinen vor allem durch das Vorkommen des neuerdings technisch wertvollen Schwerspats veranlaßt zu sein, ohne daß ein gewinn- bringendes Vorkommen aufgewiesen worden wäre. Älterer Gips und dessen Äquivalente (zm). Der mittlere Zechstein leitet in seiner unteren Abteilung die Stein- salz- und Gipsausscheidungen ein, welche weiterhin zu den Kristallisations- zyklen des oberen Zechsteins führen. Allerdings ist im Gebiete der Karte in diesen Schichten weder Steinsalz noch Gips aufgeschlossen, aber die Solquellen des unmittelbar benachbarten Allendorf stammen ausweislich neuerer Bohrungen aus diesen Schichten, und die Quellen, welche im Flachsbachtal an den Randspalten des Rundhorstes in dieser Formations- stufe entspringen, sind ebenfalls schwach salzhaltig. Es sind lediglich die Beimengungen der früheren Steinsalz- und An- hydritlager, welche heute die Äquivalente dieser Stufe darstellen. Handelt es sich doch um die den löslichen Salzen eingeschalteten bituminösen, tonigen und sandigen, sowie um die papierdünnen dolomitischen Lagen, die bei der Auslaugung zurückgeblieben sind. Als dolomitischer Kalkstein, Stinksteinbreccie, Dolomitstaub (Asche), hauptsächlich aber als farbiger VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 21 Letten entwickelt, dokumentiert diese als ständige, in der Mächtigkeit überaus wechselnde Unterlage des Hauptdolomits die einstige große Ver- breitung der salinischen Sedimente des mittleren Zechsteins, die ja auch in der Gegend des Kyffhäusers eine nicht unbeträchtliche Bedeutung erlangt. Die Rückstandsbildung erreicht heute wohl nur einige, bis höchstens 10 m Mächtigkeit; über die Ausdehnung des ursprünglichen Anhydrit- und Steinsalzlagers ist man nur auf Vermutungen angewiesen. Dolomit des mittleren Zechsteins (Hauptdolomit; zm). Nach den vorstehenden Ausführungen ist es nicht verwunderlich, wenn auch der Dolomit des unteren Zechsteins, der in erster Linie von den Auslaugungsvorgängen seiner Unterlage in Mitleidenschaft gezogen wurde, sehr häufig nur in überstürzten und isolierten Partien festzustellen ist, deren ursprünglicher Zusammenhang häufig kartographisch unbestimm- bar bleibt. Die Mächtigkeit des hier zu Unrecht als „Hauptdolomit“ benannten Gebirgsgliedes, das bei Allendorf noch 35 m erreicht, geht in unserem Gebiet auf 10 — 15 m zurück. Auch ist charakteristisch, daß besonders in den hangenden Partien eine deutliche Schichtung sich einstellt, während die gleiche Gebirgsstufe in anderen Teilen Deutschlands eine mehr kom- pakte Zusammensetzung aufweist. Es ist das Zusammenfallen der aus- geprägten Schichtung mit der Reduktion der Mächtigkeit ja eine auch sonst des öfteren zu beobachtende Erscheinung. Trotz seiner reduzierten Mächtigkeit ist der Dolomit des mittleren Zechsteins als Träger steilwandiger Geländeformen von morphologischer Bedeutung. Auf beiden Seiten des Geistertales, ferner in den isolierten Partien bei Hundelshausen hebt er sich von den unter- bezw. überlagern- den Lettenschichten leicht erkennbar heraus. Sehr bezeichnend für den „Hauptdolomit“ ist seine Art der Ver- witterung. Es pflegen sich im Inneren der anstehenden Massen Hohlräume auszubilden, welche sich am Boden mit Dolomitasche füllen. Die wider- standsfähigen Wände der Hohlräume bestehen dann aus einem Kalk mit sehr geringem Magnesiumgehalt. Auf diese Weise manifestiert sich bereits äußerlich der mit der Mächtigkeit auch seinerseits abnehmende Magnesium- gehalt dieser Dolomite. Der Hohle Stein bei Hilgershausen, eine altheidnische Opferstätte, ist auf einen ähnlichen Verwitterungsvorgang in seiner Entstehung zurück- zuführen. Der nämlichen Ursache wird auch das scheinbar vollkommene Fehlen von Versteinerungen zuzuschreiben sein, welches mit den zu er- wähnenden einen der Gründe bildet, derentwegen diese Abteilung von dem oberen Dolomit so schwer zu unterscheiden ist. 22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Unterer Letten mit Gips (zOj). Eine richtige Würdigung der Bedeutung dieser Stufe konnte erst in neuerer Zeit Platz greifen infolge der Tiefbohrungen, welche im Leinetal- gebiet auf Kalisalze unternommen worden sind. Aus einer Kombination von Bohrungen bei Sudershausen und Duder- stadt ergibt sich das folgende von Auslaugungen nicht oder wenig be- troffene Zechsteinprofil1) : 1. 24 m rote Letten mit Dolomiteinlagerungen, 2. 70 m jüngstes Steinsalz, 3. 36 m roter Salzton mit Steinsalz und Anhydrit, 4. 69 m jüngeres Steinsalz, 5. 56 m Hauptanhydrit, 6. 40 m grauer Salzton, 7. 5 m Kalisalze, 8. 37 m älteres Steinsalz (wohl durch besondere Umstände stark reduziert), 9. 6 m älterer Anhydrit, 10. 38 m Hauptdolomit, 11. ? Steinsalzlager, 12. 48 m Anhydrit des mittleren Zechsteins, 13. 5 m dolomitisch entwickelter Zechsteinkalk, 14. 2,5 m Zechsteinkonglomerat, 1 5. Grundgebirge. Es entsteht nun die Aufgabe, die am Tage beobachteten Stufen mit den von Auslaugungsprozessen noch wenig beeinflußten Bohrprofilen zu parallelisieren. Die Stufen 10 — 12 bezw. 13 und 14 entsprechen natürlich unseren Stufen zm bezw. zu. Ebenfalls ist der ältere Anhydrit wenigstens zum Teil noch zum mittleren Zechstein zu ziehen, soweit er nämlich nicht etwa auch ausgelaugte Jahresringe im älteren Steinsalz repräsentiert. Zweifel indessen können darüber entstehen, wo die Grenze zwischen unseren Zechsteinletten und Plattendolomit zu legen ist. In der Dissertation von Reidemeister „Über Salztone und Platten- dolomite im Bereich der norddeutschen Kalisalzlagerstätten“ (Leipzig 1911) wird auf die große Ähnlichkeit der Thüringer Plattendolomite mit dem sogenannten grauen und roten Salzton im nördlichen Hannover vom chemischen und petrographischen Standpunkt hingewiesen und die Ver- mutung ausgesprochen, daß es sich um gleichaltrige Ablagerungsprodukte in einzelnen Salzpfannen handelt, die nicht in räumlichem Zusammenhang zueinander standen. !) Nach Grupe, Über die Zechsteinformation und ihre Salzlager im Unter- gründe des hannoverschen Eichsfeldes und angrenzenden Leinegebietes etc. Zeitschr. für praktische Geologie. 1909. S. 185 ff. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 23 Vom stratigraphischen Standpunkt aus erscheint es jedenfalls sicherer, mit Grupe eine strenge Scheidung zwischen den einzelnen Horizonten zu machen1), und es ist dem letztgenannten Forscher gelungen, auf Grund der Bohrungen den Nachweis zu führen, daß die dolomitischen Tonein- lagerungen, welche die oberste Zechsteinschicht unter dem Buntsandstein enthält (Nr. 1 in obigem Profil), vom Leinetal aus nach Süden zu an Zu- sammenhang gewinnen und schließlich — nach Ansicht Grupes — die Bänke des thüringisch -hessischen Plattendolomits zusammensetzen. Hin- gegen hatte von Koenen Tlen Plattendolomit mit dem grauen Salzton und Everding mit dem Hauptanhydrit parallelisiert. Eine Entscheidung über die endgültige Gleichstellung kann naturgemäß hier nicht in Frage kommen, weil dazu umfangreiche Erhebungen und Vergleiche mit Bohrprofilen notwendig wären. Nach der Auffassung von Grupe, welcher sich auf das Material von neueren Bohrungen stützen kann, ist die Schichtenfolge der unteren Letten der Auslaugungsrückstand der ganzen mächtigen Schichtenreihe, welche in dem angeführten kombinierten Bohrprofil von 1 — 8 aufgezählt worden ist und in dem erwähnten Fall eine Gesamtmächtigkeit von 280 m auf- weist. In Wirklichkeit dürfte jedoch diese Angabe noch viel zu gering sein, falls man die recht wahrscheinliche Annahme macht, daß die 37 m älteren Steinsalze in der Bohrung Sudershausen eine durch sekundäre Vorgänge reduzierte Menge darstellen. Nach dem Angeführten ist es nun nicht weiter verwunderlich, daß die unteren Letten von außerordentlich wechselnder Beschaffenheit sind. Auch die Unregelmäßigkeiten der Lagerung, welche die Karte zeigt, ist nun wohl ohne weiteres verständlich. Der Stufe zox gehören zunächst die großen Mengen von Gips an, welche besonders im Kessel um Hundelshausen angehäuft sind. Sie ent- sprechen den durch Wasseraufnahme umgewandelten Anhydriten in den Jahresringen des älteren Steinsalzes, dem älteren Anhydrit und dem Haupt- anhydrit. Der ältere Anhydrit scheint in den Steinbrüchen am Gottesberg nicht mehr aufgeschlossen zu sein. Man unterscheidet hier eine untere stark gefaltete und eine obere mehr kompakte Gipsregion von hellweißer Farbe. Es ist recht wahrschein- lich, daß die unteren Lagen aus den zusammengesinterten Jahresringen des Steinsalzlagers bestehen, bei denen infolge des dazwischenlagernden Steinsalzes die Deformationen bei der Umbildung aus Gips in Anhydrit2) und von Anhydrit wieder in Gips lebhafter zur Ausbildung gelangen konnten. x) Zur Plattendolomitfrage. Zeitschr. d. D. geol. Ges. 63. 1911. S. 629—31. 2) vergl. Arrhenius und Lachmann, Die physikalisch-chemischen Bedingungen bei der Bildung von Salzlagerstätten etc. Geologische Rundschau 1912. 24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Aus der Grupeschen Parallelisierung folgt ferner, daß die Gipslager in den weitaus meisten Fällen nur im zot erhalten sein können und nicht oder nur wenig im zo3, eine Folgerung, welche sich im Bereich der Karten- aufnahme auch durchaus bestätigt findet. Es lassen sich zuweilen in den unteren Letten unregelmäßige Dolo- mitknauern von teilweise bedeutender Größe verstreut auffinden. Sie ent- sprechen vielleicht dem unteren dolomitischen Teil des ausgelaugten grauen Salztons direkt über den Kalilagern. Die Färbung der Letten ist durchaus eine wechselnde. Eine Über- lagerung von grau gefärbten durch rot gefärbte Letten, die aus den salz- haltigen Bohrprofilen geschlossen werden müßte, ist wohl infolge der viel- fachen Umlagerung der Schichten bei der unregelmäßig vor sich gehenden Salzablaugung in diesen Schichten nicht mehr nachweisbar. Die Mächtigkeit der Schichtengruppe zo1 dürfte auf bis zu 30 m zu veranschlagen sein. Die Verbreitungsgebiete des unteren Lettens sind allgemein durch das Vorkommen von Erdfällen als Beweis dafür ausgezeichnet, daß die Aus- laugung der umgewandelten Gipslager auch heute noch ihren Fortgang nimmt. Oberer Dolomit (Plattendolomit; zo2). Der obere Dolomit verdient seinen Namen „Plattendolomit“ so wenig, wie der „Hauptdolomit“. Er besteht nämlich nur in seiner oberen Hälfte aus geschichteten Gesteinen. Die untere Hälfte baut sich aus massiven Bänken auf, in denen die deutliche Schichtung vollkommen verloren geht. Die Verwitterungsformen in dieser unteren Partie sind durchaus den geschilderten des mittleren Dolomits ähnlich, beruhen aber auf einer anderen Ursache. Es ist nämlich weniger der Kalkgehalt, als vielmehr ein nesterhafter Zusatz von Gips, welcher in diesem oberen Dolomit die Porosität und die Neigung zur Bildung von Hohlräumen bewirkt. Durch alle diese Eigenschaften, auch durch seine 15 — 20 m betragende Mächtigkeit, wird dieser obere dem mittleren Dolomit zum Verwechseln ähnlich, da besonders die seltenen und undeutlichen Hohlkerne von Schizodus und Gervilleia, welche in ihm gefunden werden, keineswegs zur Unterscheidung ausreichen. Es ist deshalb erklärlich, daß die Kartierung von Dolomiten des mittleren und oberen Zechsteins, wo sie nicht, wie an der Chaussee im Gelstertal an den Wichtelsteinen, einander in parallelen Streifen überlagern, in dieser Gegend zur großen Schwierigkeit wird, so daß häufig, wie Bey- schlag mit Recht betont1), lediglich die Lagerung entscheiden kann, mit welchem von beiden Vorkommen man es zu tun hat. *) Erläuterung zu Blatt Witzenhausen S. 15. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 25 Oberer Letten (zo3). In noch erhöhterem Maße, wie der untere Letten, ist der obere wegen seiner leichten und tiefgründigen Verwitterung und der daraus sich er- gebenden Fruchtbarkeit der Träger der Feldkultur im Bereiche der Allen- dorfer Kuppel. Er nimmt in seinen hangenden Teilen rote Farbe an und leitet da- durch zu den Bröckelschiefern, der Grenze zum unteren Buntsandstein hinüber. Die oberste Stufe des Zechsteins enthält am Fuße des Schmachteberges ein hängendstes Gipslager. Die wirtschaftliche Bedeutung der Stufe vermindert sich dadurch, daß nur zu leicht ein Abwaschen der Tone und ein Heraustreten der oberen Dolomite erfolgt, welche jedem Versuche einer Kultivierung Widerstand leisten. Die Buntsandsteinformation. Bröckelschiefer (zs). Die braunroten Schiefertone an der Basis der Triasformation charak- terisieren sich dadurch als Übergang von der Zechstein- zur Buntsand- steinformation, daß in ihren liegendsten Partien noch Dolomite in Knollen eingeschaltet sind. Sie zeichnen sich im übrigen durch verhärtete Be- schaffenheit der vornehmlich grusigen Schiefertonlagen aus. Weiter im Süden, z. B. im Richelsdorfer Gebirge, enthalten die tiefsten Schichten deutlich ausgeprägte Lagen von blauschwarzen Dolomitknollen, und in den oberen Schichten treten bis fingerdicke Bänke eines zerreib- lichen Quarzsandsteins auf. Diese Charakteristika sind unserer Gegend durchaus fremd, und besonders das Vorwalten der braunroten Schiefertone, welche als Einlagerungen auch im unteren Buntsandstein auftreten, macht die Abgrenzung dieser sonst leicht erkennbaren Stufe zu einer häufig schwer lösbaren Aufgabe. Bemerkenswert ist, daß die Stufe der Bröckelschiefer, welche am Nordwestende des Allendorfer Rundhorstes südlich von Ermschwerd in einem gleichmäßigen Gürtel die Ausbisse des obersten Zechsteins umrahmt und welche auch am Südostabschnitt des Horstes durchgehends nachweisbar bleibt, gerade in unserem Gebiete zwischen den beiden Gräben fast überall zum Ausfall kommt. An den Grenzspalten des Horstes am Habichtstein und Hainskopf und dem Joch zwischen Sengelhardt und Roggenberg ist dieses Verhalten ja leicht verständlich, weil hier auch die ganze Zechsteinformation strecken- weise durch die Randverwerfungen versenkt ist. Schwieriger ist schon das Ausbleiben dieser Übergangsstufe auf den Talhängen bei Hundelshausen und bei Vollung zu erklären, wo bereits die Moesta’sche Karte eine stratigraphische Diskordanz enthält. 26 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterh Cultur. Am Hartlopsborn unter dem hintersten Höheberg ist in einem Hohl- weg eine Partie von rotbraunen Schiefertonen und Sandsteinschmitzen an- geschnitten, welche nach der Moesta’sclien Karte zur Stufe der Bröckel- schiefer zu ziehen wäre. Ich habe sie als unteren Buntsandstein kartiert, hauptsächlich wegen der durch eine Störung nicht gerechtfertigten un- mittelbaren Nachbarschaft von Schichten des mittleren Buntsandsteins, dann auch wegen des Fehlens der die Bröckelschieferstufe bezeichnenden Ein- lagerungen. Unterer Buntsandstein (su). Eine leichtere Unterscheidung ist zwischen unterem und mittlerem Buntsandstein gegeben nach dem Vorkommen von eckigen Quarzsandkörnern. Die ersten derartiger Vorkommen, welche vom Liegenden aus feststellbar sind, müssen dem mittleren Buntsandstein zugerechnet werden. In der unteren Abteilung überwiegen die roten tonigen Lagen und spielen hier auch als Bindemittel eine wichtige Rolle. Die Mächtigkeit dieser Stufe gibt Beyschlag auf 450 Fuß an. Nach Bohrungen bei Kassel und auf Grund der Angaben von Grupe aus dem oberen Wesertal muß diese Angabe als zu gering gelten. Nach Schätzungen am Südwesthang des Roggenberges gelange ich zu Mächtigkeiten von 200 bis 250 m. Der untere Buntsandstein ist durchweg für die Feldkultur in unserem Gebiete, wo die zusammenhängenden Partien von Schieferton durch Sand- stein überall unterbrochen werden, in der Regel nicht geeignet. Am Sülzberg trägt der Boden einen jungen Fichtenbestand. Mittlerer Buntsandstein (sm). Man unterscheidet wie überall eine untere, als Bausandstein bezeich- nete Zone, welche an der Ruine Ludwigstein in Steinbrüchen gewannen wird, und eine obere Schicht aus weißlichem sogenannten Chirotherien- sandstein. Diese Stufe findet ihre Hauptverbreitung auf beiden Seiten des Süd- endes des Leinetalgrabens in unserem Bezirk. Außerdem setzt sie die höchsten Spitzen der südlichen Anlagerung an den Allendorfer Rundhorst und eine Reihe von Schollen zusammen, welche dem Geistertalgraben zu- fallen. Oberer Buntsandstein (Röt; so). Die oberste Stufe der Buntsandsteinformation ist als toniger Mergel von meistens rötlicher Färbung entwickelt. Es finden sich gewebeförmige Partien von Gips besonders den hangenden Teilen zwischengeschaltet. Der Übergang gegen den Muschelkalk macht sich durch Einschaltung von dünnplattigen dolomitischen Kalken bemerkbar. Der Röt ist als Quellenhorizont von Wichtigkeit. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 27 Als Ganzes ist die Lagerung des Buntsandsteins in weitem Umkreis um unser Kartengebiet eine überaus regelmäßige. Nach schmaler Umrahmung durch den unteren Buntsandstein breitet sich im Westen im Kaufunger Wald auf breite Strecken und eintönig die mittlere Stufe dieser Formation aus. Dieselbe herrscht auch vor in dem östlichen Gebiet zwischen der Werra und der Gothaer Bruchzone. Für die Gesamtmächtigkeit der Buntsandsteinformation gibt Grupe im oberen Wesertal 1050 — 1200 m an, von ähnlicher Mächtigkeit ist der Buntsandstein in der erwähnten Bohrung bei Kassel nachgewiesen 1). Bei Hundelshausen dürfte die Mächtigkeit auf etwa ein Viertel weniger (850 m) anzugeben sein, nachdem die Bohrungen am Harzrand (Menterode) für die gleiche Schichtengruppe etwa 650 m ergeben haben. Die Muschelkalkformation. Gegenüber der ebenen Verbreitung der Buntsandsteinzone ist das Auf- treten des Muschelkalks in der weiteren Umgebung von Hundelshausen, wie auch die des Keupers, an tektonische Senkbewegungen geknüpft. Sein Auftreten in den beiden Grabenzonen, die sich in unserem Gebiet scharen, ist ja ohne weiteres verständlich, außerdem aber lagert er sich bei Witzen- hausen in eine nordwestlich gerichtete Mulde, in welche die Werra ihren Lauf verlegt hat. Eine dritte Art des Vorkommens, welche uns tektonisch noch aus- führlicher beschäftigen wird, ist diejenige innerhalb des Zechsteinstreifens zwischen Hundelshausen und Wendershausen. Unterer Muschelkalk (mu). Es ist überflüssig, die bekannte Untergliederung der Wellenkalkstufe hier zu wiederholen. Auch bei uns ließe sich eine Einteilung in unteren und oberen Wellenkalk mit seinen Schaumkalkbänken leicht durchführen, indessen wurde von einer solchen Trennung auf der Karte Abstand ge- nommen, weil sie für die hier zur Entscheidung stehenden Frage nach dem Bau der Gegend ohne Belang ist. Wegen seines Mangels an tonigen Zwischenlagen ist der Muschelkalk dieser Stufe ein „hitziger“ und zur Feld- wie auch zur intensiven Wald- kultur ungeeigneter Boden. Die Mächtigkeit des unteren Muschelkalk kann auf 100 m geschätzt werden. Mittlerer Muschelkalk (mm). Der mittlere Muschelkalk, in seiner Bildung einer negativen Strand- verschiebung zwischen zwei marinen Epochen entsprechend, ist auch im U Nach Beyschlag, Erl. zu Blatt Wilhelmshöhe, ist dort der Buntsandstein durch Bohrungen in über 1185 m Mächtigkeit nachgewiesen. 28 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Gebiete der Karte als hellgrauer, gelblich verwitternder mergelig- dolomi- tischer Kalk mit Zellenstruktur entwickelt. In seiner mittleren Abteilung sind Gipsablagerungen beispielsweise an der Flachsbachmühle zu beobachten. Die Mächtigkeit beträgt 30 — 40 m. Infolge der selektiven Erosion pflegt sich an Gehängen, an denen sämtliche Glieder des Muschelkalks ausstreichen, die mittlere Stufe wegen ihrer leichten Angreifbarkeit durch die Atmosphärilien als Hohlkehle aus- zuprägen. Als solche ist sie besonders in den gestörten Partien am Hains- kopf und am Heubel kenntlich. Oberer Muschelkalk (mo). Der Trochitenkalk, das untere Glied dieser Stufe, ist trotz seiner nur geringen Mächtigkeit von etwa 15 m eines der wertvollsten Gebirgsglieder bei der Kartierung, weil er wegen seiner Zusammensetzung aus kristalli- nischem Kalk den zersetzenden Einflüssen der Denudation einen erheb- lichen Widerstand entgegensetzt. So tritt er denn, besonders in stark zerfurchtem Gebirge, als Grat bei steiler Aufrichtung oder als ringförmiger Vorsprung bei schwebender Lagerung aus den Berghängen hervor. Er wird überlagert von den aus Tonplatten bestehenden Ceratiten- schichten, welche aus dünnen Kalkbänkchen und grauen Letten bestehen und gegenüber dem liegenden Glied einen guten Ackerboden abgeben. Sie erreichen 40 m Mächtigkeit. Die Keuperformation. Im Gegensatz zur Muschelkalkgruppe, welche wenigstens strecken- weise noch als normale Bedeckung eingesenkter Buntsandsteinflächen auf- tritt, ist der Keuper im Bereich der Plateaus zwischen Leine und Weser bis zum rheinischen Schiefergebirge nur an die tiefen Grabeneinbrüche geknüpft. Bei Wendershausen und Oberrieden tritt er in seiner untersten Stufe im Leinetalgraben auf und bei Trubenhausen werden dieselben Schichten noch eben von dem Einbruch des Gelstertales aufgenommen. Unterer Keuper (ku). Der liegendste Teil der Formation, der Kohlenkeuper, besteht an der Grenze gegen den Muschelkalk aus dolomitischen Kalklagen, die noch mit Schiefertonen in der Art der Ausbildung der Nodosusschichten wechsel- lagern. Weiterhin im Hangenden stellen sich feinkörnige und kohlige Schichten (Lettenkohlenflöz) ein, welche von Schiefertonen und Mergel abgelöst werden. Die insgesamt 30 — 40 m mächtige Serie wird durch eine Folge von dolomitischen Bänken abgeschlossen (Grenzdolomit), die ihrerseits wieder mit Schiefertonen wechsellagern. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 29 Mittlerer Keuper (km). Diese hängendste Schichtengruppe ist nur in einem tiefgründig ver- witterten Ackerboden am Steinkreuz unterhalb des Ludwigssteins vor- handen. Es treten hier auf rotgefärbte Mergel, welche noch hier und da körnig-dolomitische Zwischenlagen zu enthalten scheinen. Daneben zeigen sich als Gipsresiduen anzusprechende hellere Lagen. Die Tertiärformation. Auf der Söhre im Westen des Geisterbaches lagern einige Denuda- tionsrelikte von Tertiär auf dem Zechstein und der Grauwacke. Die Reste bestehen aus einzelnen Blöcken eines grobkörnigen Sandsteins, der wahr- scheinlich mit der Knollensteinschicht im Liegenden des obersten der am Hirschberg ausgebeuteten drei Braunkohlenflöze zu identifizieren ist. Über das Alter dieser Bildung ist bei uns natürlich keine Entscheidung zu treffen. Bei Großalmerode und am Meißner sind diese Süßwasser- schichten zusammenhängender entwickelt und gehören hier, wenn man sie wie üblich mit den Ablagerungen im Hangenden des marinen Tertiärs bei Oberkaufungen gleichstellt, entweder dem obersten Oligocän oder dem untersten Miocän an. Die diluvialen und alluvialen Bildungen, die die Karte nicht ver- zeichnet, bieten nichts bemerkenswertes. II. Beschreibung der Aufschlüsse. a. Das Werratal bei Wendershausen. Bei dem Dorfe Wendershausen treten wir in unser Gebiet ein. In den Feldern hinter dem Dorfe ist der Untergrund durch Diluvium verhüllt. Die Obstgärten, welche sich am Hainskopf hinaufziehen, stehen auf Letten- schiefern des unteren Keupers. Der höhere Teil des Berges wird von den Schichten des oberen Muschelkalkes gebildet, welche in einer schüssel- förmigen Lagerung gegen Wendershausen zu einfallen. An der Chaussee unmittelbar an der Werra, kurz vor der Abzweigung des Flachsbach-Talweges, sind die gegen Nordost streichenden Lagen des Trochitenkalks, unterlagert von den dünnplattigen mittleren Muschelkalk- schichten, vorzüglich aufgeschlossen. Den Talgrund bei der Flachsbach- mühle setzen Schichten der Schaumkalkzone zusammen, deren Fortsetzung jenseits der Werraaue am Südwestabhang des Halbesberges zu suchen ist. Bei der ersten Wegabzweigung im Flachsbachtal tritt im Talgrund selber mit verändertem, nordwestlichen Streichen mittlerer Buntsandstein auf, welchen wir bei einer Wanderung südlich um den Hainskopf herum im Kontakt mit den einzelnen Schichten der Hainskopfmulde bis nach Wendershausen hinunter verfolgen können. 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Der Bausandstein, begleitet von den Schichten des unteren Buntsand- steins, zieht vom Flachsbachtale aus über den Hellenberg und Strubekopf zum hinteren Höheberg hinüber. Gegen Nordosten zu folgen die einzelnen Bänder von Röt und Muschelkalk mit einer steilen Neigung gegen Nord- osten der Art, daß das Bild einer vom Urgebirge abfallenden Flexur sich ergibt (Heubelflexur). Erst mit den Schichten des Ceratites nodosus stellt sich eine flache Neigung ein, bei welcher die Trochitenkalkbank am Hessel- berg, Grubenberg und weiterhin an der Ruine Ludwigstein als steile Ge- ländeform herauspräpariert worden ist. Am Teichborn und Rodenbach wird der Keuper in seinen unteren und mittleren Schichten in der hier flach gegen Osten eingesenkten Mulde sichtbar. Am Ostgehänge gegen die Werra am Ludwigstein bis zum Höheberg ist wieder in einzelnen Steinbrüchen der mittlere Buntsandstein aufgeschlossen, welcher oberhalb Oberrieden mit dem liegenden Gliede der geschilderten Heubelflexur in Verbindung tritt. Das gleiche Gebirgsglied setzt auch an dem scharfen Werraknie auf das Nordufer über und bildet hier die „Hasenkanzel“ bei Werleshausen. In der Richtung der Chaussee unterhalb des Grubenberges haben wir auch die Fortsetzung der am Ausgang des Flachsbachtales angetroffenen Verwerfung zu suchen, gegen welche im Südosten die Glieder der Heubel- flexur und der Rodenbachschüssel ausstreichen. Der Bausandstein westlich des Hainskopfes, welcher hier ein steiles Einfallen gegen Osten angenommen hat, ist unterhalb der Felder bei Wendershausen zu vermuten und zieht sich am Ostgehänge des Sülzberges mit flachem und gegen Norden gedrehtem Einfallen hinauf. Jenseits der Werra ist am Appenborn und am ,, tiefen Graben“, als Fortsetzung der Schichten in den Wendershäuser Obstgärten, wieder unterer Keuper zu sehen, an welchen sich mit nordsüdlichem Streichen über den Liebenberg und Herbstberg die einzelnen Etagen des Muschelkalks anschließen. Es ist deshalb zu vermuten, daß unterhalb Wendershausen die Werra jener den Hainskopf durchsetzenden Störung folgt, an welcher hier zwei verschiedene Gebirgsglieder , nämlich mit ostwestlichem Streichen der mittlere Buntsandstein und mit nordsüdlichem Streichen der untere Keuper nebeneinander liegen. Wir haben es hier mit der westlichen Hauptspalte des Leinetalgrabens zu tun und gelangen also auf Grund der Aufschlüsse bei Wendershausen zu folgender Auffassung über die Natur des Südendes des Leinetalgrabens: Der Graben setzt in einer Breite von 2 Kilometern zwischen Wenders- hausen und Werleshausen über die Werra. Er ist in der Höhe des Halbesbergs als ein Einbruch zwischen zwei Schollen aus mittlerem Bunt- sandstein aufzufassen, bei welchem die Verwurfshöhe an der westlichen Grabenspalte 500 m beträgt, während sich der Verschiebungsbetrag im Fi ff. 2 Fi ff. £, C 200 7 00 NM. 300 200 WO . N.N. D Thal des Flarhsbaches jqo Gr 200 — 700 -NN. Fiff i J 300 T\oo 200-A Sl >oo 700- 6 oo N.N, IN. 1 a e d 1- ;e ir m n- d- le ih en im he on ht- er- de- ;en der ilts its) Jen Profile nach Moesta. Fi ff. 2. 7:12500. Fi ff. 5. p^adruck F PI ETSCH, Brcalaut Ring 51 VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 31 Osten zufolge eines muldenartigen Heraushebens der Muschelkalkschichten auf 150 m reduziert. (Siehe Profil Fig. 2.) Im Süden des Flusses teilt sich der Graben in zwei Schollen. Die westliche Hainskopfscholle ist als direkte Fortsetzung der nördlichen Leinetal-Grabenmulde in schüsselförmiger Lagerung ausgebildet, wobei sich die Schichten gegen den südlich gelegenen alten Gebirgsrumpf heraus- heben, von dem sie durch ein in nordwestlicher Richtung vorbeiziehendes Band aus Buntsandstein getrennt sind. Die am Hainskopf selbst aus- keilende westliche Leinetalspalte einerseits, andrerseits ein mit ostnord- östlichem Streichen das Flachsbachtal durchziehender Sprung bilden die beiden Begrenzungsflächen, welche die Hainskopfscholle gegen die dem Rumpfgebirge anlagernde Buntsandsteindecke isolieren. Ein Durchgreifen des Grabens auf das Grundgebirge findet hier nicht statt. Bei dem östlichen Zipfel des Einbruchsgebiets liegen die Verhältnisse noch klarer. Hier bildet die Heubelflexur das tektonische Bindeglied zwischen Rumpf und Graben. Die Schichten fallen, wie überall, in nord- östlicher Richtung vom Rundhorst her ab; während aber normalerweise der mittlere Buntsandstein jenseits der abfallenden Flexur in horizontaler Lagerung im heutigen Erosionsniveau erscheint, sinken die Schichten dem Graben gegenüber vermittels einer scharfen Flexur bis zum Keuper ein. Die Trennung der beiden südlichen Zipfel des Leinetalgrabens von- einander geschieht durch eben die Flachsbachtalverwerfung in ihrer nord- östlichen Fortsetzung, welcher wir als Südbegrenzung der Hainskopfscholle begegnet sind. b. Die Hochfläche vom Schmachteberg über Rückerode nach Vollung. Das Südgehänge des Sülzberges wird von den flach nordwärts fallenden Schichten des unteren Buntsandsteins zusammengesetzt, welcher von einem schmalen Saum von Bröckelschieferletten unterzogen wird. Die Bodenfläche des unteren Buntsandsteins wird hier, wie vielerorts in Niederhessen, von Nadelwaldkultur ausgenutzt. Das Plateau zwischen Sülzberg und Schmachteberg ist von frucht- baren Ackerfeldern eingenommen, zu welchen sich beiderseits vom Geister- tale und von Wendershausen her ein von Feldkultur belebter Gelände- streifen heraufzieht. Mehrere Ackerwege mit zum Teil guten Aufschlüssen durchziehen die Gehänge. Die Fruchtbarkeit dieser Felder wird durch das Ausstreichen der Letten des oberen Zechsteins bedingt, welche wegen ihres reichen Gehalts an Ton, Gips und Kalk (Bestreuung aus den Lagen des Plattendolomits) eine tiefgründig verwitterte und mit den wichtigsten chemischen Baustoffen für die Pflanzen versehene Ackerkrume gewährleisten. 32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. In unregelmäßigen Umrissen sind über das Plateau hin Streifen wacholderbestandenen Unlands verteilt, welche das Ausbeißen des den beiden Lettenschichtengruppen zwischengelagerten Plattendolomits kenn- zeichnen. Die unregelmäßige Verteilung, welche das Auftreten des Platten- dolomits im Gegensatz zu dem zusammenhängenden Streifen der Bröckel- schiefer beispielsweise besitzt, ist zweifellos darauf zurückzuführen, daß sowohl den oberen wie auch den unteren Zechsteinletten noch größere und unvollständig ausgelaugte Massen von Gips eingelagert sind, wovon in den oberen Letten an dem westlichen Wege des Wegdreiecks unmittelbar am Fuß des Sülzberges noch Reste zu finden sind. Man darf annehmen, daß in der Tiefe die Gipsmassen kompakter werden, und daß deshalb das isolierte Auftreten des Plattendolomits nicht auf tektonische Zerstückelung zurückzuführen ist — der Streifen der überlagernden Bröckelschiefer ist ja nicht davon tangiert — , sondern daß die Dolomite des oberen Zechsteins ihre Lagerung durch unregelmäßige Einsturzbewegung in die durch Gips- auslaugung geschaffenen Hohlräume in den unteren Letten verdanken. Die oberen Letten füllen dann die Unebenheiten zwischen dem Gerüst der ein- gesunkenen Dolomitstreifen aus. Das Fortstreichen der oberen Zechsteinschichten nach Wendershausen hinunter wird sehr bald durch eine Decke von Diluvium der Beobachtung entzogen. In der kartographischen Darstellung wird die Auffassung ver- treten, daß der Bröckelschiefer mit dem unteren und mittleren Buntsand- stein zusammen die Steilstellung und Umbiegung gegen Süden annimmt, welche wir oben als Einwirkung der westlichen Leinetalspalte beschrieben haben, während die oberen Zechsteinschichten anfänglich durch Über- lagerung des unteren Buntsandsteins, dem Hainskopf gegenüber durch einen hier auftretenden Längsbruch abgeschnitten werden. Die höheren Teile des Schmachteberges werden von den liegenden Dolomiten des mittleren Zechsteins (Hauptdolomit) gebildet, der hier nach Abspülung der weichen unteren Letten herausgearbeitet worden ist. Die Grenze zwischen mittlerem und oberem Zechstein, welche vom Geistertale herauf sich als Scheide zwischen Nadelwald und Feldkultur kenntlich macht, ist auch auf der Höhe des Plateaus als Grenze zwischen Wald und Feld festzulegen. Gegen Osten zu wird die Ausdehnung der Dolomite des mittleren Zechsteins stark eingeengt durch ein Heraustreten des Zechstein- kalkes (unterer Zechstein) in Halbinselform gegen Norden. In einem der Waldwege ist sogar die Grauwacke als Kern der Aufwölbung er- schlossen. Da die Umrahmung dieses Grauwackefleckens durch den Kalk eine ringförmige ist, so kann die Darstellung von Moesta, welcher hier einen ostsüdöstlichen Verwurf eingetragen hat, nicht anerkannt werden. Immerhin ist die Verfolgung der einzelnen Schichtenstreifen hier östlich des Weges Sülzberg-Klepperberg mit einigen Schwierigkeiten verknüpft, weil die Letten VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 33 des mittleren Zechsteins im Liegenden des Plattendolomits hier infolge des in diesen Schichten besonders wirksamen ,,Gekriechs“ mit den Letten des oberen Zechsteins (zox) scheinbar in unmittelbare Berührung getreten sind. Daß auch an dieser Stelle keine Verwerfung vorliegt, wird dadurch be- wiesen, daß die oben beschriebene Waldgrenze in zusammenhängender Linie den Plateauweg durchkreuzt. Im sogenannten Weidental, dem in südwestlicher Richtung in das Gehänge des Klepperbergs eingeschnittenen unteren Talgrund verläuft die Grenze Grauwacke-Zechsteinkalk talauswärts auf beiden Hängen in gleicher Höhe zusammen. Auch hierdurch wird die Konstruktion eines das Weiden- tal kreuzenden Sprunges zur Unmöglichkeit. Zwischen dem Weidental und dem zweiten Einschnitt am Klepperberg, dem Liesgrund, greift der Zechsteinkalk weit gegen Süden hinauf. Am Gehänge gegen das Wendershauser Haupttal sind noch als Decke des Kalkes die Tone und Gipsäquivalente des mittleren Zechsteins von der Erosion verschont geblieben. Der eigentliche Haupttalgrund wird gegenüber den Bausandsteinzonen unter dem Hainskopf von unterem Buntsandstein eingenommen, welcher hier an dem zum Liesgrund hineinführenden Holzweg unmittelbar in Kontakt mit dem Kalk des unteren Zechsteins gelangt. Wir sind also hier an eine in der Richtung des Tales streichende Randspalte des Horstes gelangt, welche sich von hier aus durchweg durch das Aufnahmegebiet in süd- östlicher Richtung verfolgen läßt. Der Talgrund findet sein Ende in den sogenannten Kroatenäckern, in denen durch das Herantreten der Tone des mittleren Zechstein an die Horstrandspalte die Bebaubarkeit des Grundes ermöglicht wird. Der Feld- weg, welcher diese Äcker durchzieht, verläuft zunächst im unteren Bunt- sandstein, der von dem durch kristallisierten Sandstein kenntlichen mittleren1) unterhalb der Stelle abgelöst wird, an welcher die Verwerfungen der Hainskopfmulde zusammenlaufen, — überschreitet nach einer recht- winkligen Biegung die Horstrandspalte und durchquert dann nach Er- reichung des Grundgebirges eine durch die Gipsäquivalente gekrönte Kappe von Zechsteinkalk, welche mit schwacher Neigung gegen Nordosten dem Hange des Klepperberges aufgelagert ist. Steigt man an diesem Hange herunter, so ist man höchst überrascht, nach Erreichung des mittleren Dolomits vor der hier scharf talabwärts ausbiegenden Horstrandspalte einige Bruchstücke von Kalken des oberen J) Der Grundbesitzer machte mich darauf aufmerksam, daß der mittlere Bunt- sandstein auf den: Kroatenäckern durch das häufige Auftreten von Erdfällen aus- gezeichnet ist, welche alsbald wieder zugefüllt werden. Vielleicht ist dies ein Hin- weis auf eine direkte Auflagerung des mittleren Buntsandsteins auf Zechstein (zoi) an der Endigung des Leinetalgrabens. 1912. 3 34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Muschelkalkes1) anzutreffen, der hier unmöglich durch Gehängerutsch her- geschafft sein kann, weil talaufwärts nur Grauwacken neben Zechstein anstehen und die äquivalenten Gesteine am Hainskopf erst am jenseitigen Gehänge nordfallend vorhanden sind. Im Grunde des Flachsbachtales, wo der Hauptweg nach Rückerode abzweigt, laufen unmittelbar vor der hier zum Habichtstein heraufsetzenden Horstspalte eine Reihe von Schichtgrenzen zusammen. Im Talgrund ist wahrscheinlich unter den Alluvionen der Dolomit des mittleren Zechsteins verborgen, welcher einerseits den Muschelkalkfetzen am Verwerfungswinkel bis zu den Kroatenäckern hinauf unterfüttert, andererseits gegen Süden zu beiderseits von der Schneise über den Mittelberg hinaufzieht. Die beiden Täler, welche hier zusammenlaufen, das Flachsbachtal und das Rückeroder Tal, sind in das Grauwackengrundgebirge eingeschnitten, und ein leicht verfolgbarer Streifen von Zechsteinkalk greift an den beiden Hängen des Mittelherges hinauf. Der östliche Streifen läßt sich im Grunde des zum Behälterskopf hinaufziehenden Seitentälchens feststellen und zieht alsdann oberhalb des Talweges an der Bachgabelung vorbei zum Westabhang über dem Rabental hinüber. Hier wird der untere Zechstein durch die südliche Randspalte abgeschnitten, welche das Grundgebirge des Sengelharths mit dem Bunt- sandstein des Roggenberges in Berührung bringt. Auf der andern Seite des Flachsbachtales entwickelt sich allmählich der Buntsandstein des Hellenberges jenseits der Nordrandspalte zu immer größerer Breite. Gegenüber dem Zusammenfluß der beiden Täler tritt dort das Grundgebirge an die Verwerfung heran. Weiter bergaufwärts, unter- halb des kleinen Habichtsteins, entwickelt sich mit flacher Neigung gegen Ostnordost der Zechsteinkalk, dessen Ausstreichen mit allmählich zu- nehmendem Abstand von der Randspalte in dem dichten Wald dieses nördlichsten Teiles des Allendorfer Forstes sich nur mit Mühe festlegen läßt. Immerhin ist zu erkennen, daß das Band von Zechsteinkalken in etwa 50 m Tiefe unterhalb des großen Habichtsteins am Gehänge heraus- tritt und nunmehr in fast horizontaler Lagerung in etwa 350 m Meeres- höhe den Schnellerskopf von Westen, Süden und Osten umläuft. Die auf diese Weise umrahmten drei Bergkuppen (kleiner Habicht- stein, großer Habichtstein und Schnellerskopf) werden zwischen dem unteren Zechstein und der nordöstlichen Randspalte von den Dolomiten des mittleren Zechsteins aufgebaut, unter denen das Band der Gips- äquivalente streckenweise vollkommen zu verschwinden scheint. *) Der Moesta’sche Text gibt hier, im Widerspruch mit der Karte, Wellenkalk an (a. a. 0., S. 73). Derselbe wurde hier auch durch Prof. Pompecky beobachtet — nach freundlicher mündlicher Mitteilung. Ich konnte keine Entscheidung mehr treffen. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 35 Im Hangenden der Verwerfung ist etwa an der Stelle, wo unterhalb des Strubekopfes die Waldwege zusammenlaufen, neben dem unteren Bunt- sandstein unmittelbar an der Verwerfung das Vorkommen der unteren Letten zu konstatieren, welche auch auf eine kleine Erstreckung im Buchen- wald die mittleren Dolomite entblößen. In dem Hohlwege, welcher von dem „Hartlopsborn“ genannten Kreuzweg zum Oberrieder Bach hinunter- führt, sind sehr dünnschichtige und tonige rote Sandsteine erschlossen, welche ich im Gegensatz zu Moesta den mittleren Lagen des unteren Buntsandsteins und nicht den Bröckelschieferletten zurechnen möchte. In einem gegen Südwesten geöffneten Bogen treten dann am Abhange des Schnellerkopfes zum Oberrieder Bach nacheinander die hier in einem zweiten Streifen entwickelten mittleren Dolomite, ferner die Letten und endlich der Buntsandstein an die Randverwerfung heran, um hier im spitzen Winkel zu ihrem Streichen abgeschnitten zu werden. Jenseits des Tales liegen wieder unterer Buntsandstein und Grauwacke unter Ausfall der gesamten Zechsteinformationen beieinander. Talaufwärts am Oberrieder Bach sind die einzelnen Kuppen beider- seits des Baches ausschließlich von dem scharfkantigen Verwitterungsgrus der Grauwackenformation eingenommen, auf denen eine Feldkultur unmög- lich ist. Am Sengelharth und an der Roßkuppe trägt dieser Boden einen dichten Laubwald, während der trocknere Boden des Plateaus über dem Rabental „Auf dem Gemenge“ von Fichten bestanden ist. Bei Hilgers- hausen erweitert sich das Oberrieder Tal mit dem Absenken der Zech- steinformation vom alten Gebirge. Von den westlichen Zuflüssen des Baches sind zwei benannt, der Sehlenbach, welcher mit mehrfachen Win- dungen das Grauwackengebirge durchzieht, und der kleine, oberhalb Hilgers- hausen auf diluvialem Boden entspringende Laudenbach. Der Sehlenbach erhält kurz unterhalb des Gehöftes Vollung in einer kleinen von Norden einmündenden Seitenrunse einen Quellenzufluß, in dessen Grunde die vom oberen Rabental her über das Plateau zwischen Roggenberg und Sengelharth herüberstreichende südwestliche Randspalte erschlossen ist. Die Grauwacke setzt hier das Ostufer der Runse bis zu ihrer Ein- mündung in den Sehlenbach zusammen. Unterhalb dieser Stelle greift aber von Süden her in einem bajonettartigen Einbruch, von spitzwinklig nach Norden zusammenlaufenden Sprüngen begrenzt, eine kleine Scholle von Hauptdolomit auf das nördliche Bachufer über. Der Vollunghof selber steht auf unterem Buntsandstein. Die in öst- licher Richtung vorgelagerten Acker sind aus unteren Letten zusammen- gesetzt, welche den Partien mittleren Dolomites am Weißenberg und im Zwickel zwischen den beiden in die Grauwacke eingreifenden Sprüngen aufgesetzt sind. Der etwa 250 m unterhalb Vollung die Straße kreuzende Dolomitzug gehört nicht den mittleren Dolomiten, sondern dem Platten- 3* 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. dolomit an und wird gerade östlich des Hofes von unterem Buntsandstein abgeschnitten. Zwischen Sandstein und Dolomit durchkreuzt noch der Fahrweg den sich hier einschiebenden Streifen von oberen Letten, welchem sich im Hangenden erst an der Grenze zwischen dem Fichtenwald und den oberen Hilgershausener Feldern gegen den unteren Buntsandstein zu der Streifen von Bröckelschieferletten vorlagert. Mit ganz flachem Abfall gegen Südwest ziehen sich nun die einzelnen Streifen von unterem Buntsandstein, von braunroten Schiefertonen und von oberen Letten in verhältnismäßig zusammenhängend verfolgbaren Streifen hinunter an den verschiedenen Vorsprüngen und Einschnitten des Peter- berges entlang bis zur Kammerbacher Chaussee, wo sie aus dem Bereich unserer Karte heraustreten. Im übrigen ist die Gegend um Hilgershausen ein beredtes Beispiel dafür, daß bei flacher Lagerung der Zechsteinformationen auch in tektonisch offenbar ungestörten Gegenden infolge der vielfachen und unregelmäßigen Einstürze innerhalb dieser früher so vielmals mächtigeren Formation das Kartenbild ein überaus buntes werden muß. Schon ein erster Blick in die Landschaft belehrt uns darüber, daß die Dolomitmassen, welche zu- meist dem mittleren Zechstein angehören, in insei- und halbinselförmigen Flecken im Gelände verteilt sind, wo sie besonders die von Buschwerk bewachsenen Ödlandpartien bekleiden. Im Gegensatz dazu sind die von den beiden Lettenschichten eingenommenen Geländeflächen von Feld- und Wiesenkultur ausgenutzt worden. Die Verbreitung des mittleren Dolomits ist hauptsächlich am Alken- berg nordöstlich von Hilgershausen zu verfolgen, wo die Lichtungen im Laubwald jeweils die Bedeckung durch zox markieren. Am Abhang des Alkenberges gegen den Oberrieder Bach tritt unvermittelt neben dem mittleren Dolomit die Grauwacke am Gehänge heraus. Wir müssen also annehmen, daß hier die Randspalte mit gegen Süden gedrehten Streichen herantritt. Der Verwerfungsbetrag kann hier allerdings nur ein geringer sein (etwa 20 m), weil östlich der Verwerfung unterhalb des Alkenberges der Zechsteinkalk in einem schmalen Streifen nachweisbar ist. Im Laudenbachtale ziehen sich dann mit ganz geringer Neigung Zech- steinkalk und Gipsäquivalente als Unterlagerung der Dolomite gegen Westen talaufwärts hinein, so daß also hier durch die Erosion die Randspalte bis zum beiderseitigen Herantreten des Grundgebirges bloßgelegt ist. Die Verwerfung am Osthang des Alkenberges setzt über den Ober- rieder Bach hinüber und keilt unter der diluvialen Decke am jenseitigen Gehänge aus. Hier streicht nämlich von Osten her aus dem Grunde des kleinen Seitentälchens bei Kammerbach der Zechsteinkalk mit seiner Auf- lage hinüber, welcher ja am Alkenberg infolge des Sprunges zum Ausfall gekommen ist. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 37 Der Wahlenberg zwischen Hilgershausen und Kammerbach besteht aus Hauptdolomit, welcher in normaler Weise von den Gipsäquivalenten und Zechstein unterlagert wird. Der Kalk entwickelt sich nördlich des Dorfes zu einem breiten Streifen von über 500 m, wodurch die flache Auflagerung dieses nur 20 m mächtigen Gebirgsgliedes auf das Grund- gebirge sich auf das deutlichste manifestiert. Der Grund des Kammerbacher Seitentälchens wird wieder von Grau- wacken eingenommen, denen nach Süden zu bis zur Chaussee unterer mittlerer Zechstein und, als wertvolle Ackerkrume, die Letten des zo, sich auflagern. Am Gehänge zum Oberrieder Bach, an welchem die Chaussee in einer Serpentine heruntersteigt, befindet sich in den Dolomiten der Kammerbacher Hohlestein, eine heidnische Opferstätte, über deren Ent- stehung wir uns weiter oben ausgesprochen haben (S. 1 1 unten). Jenseits des Tales durchquert die Chaussee den aus dem Allendorfer Forst sich herabziehenden Petersgrund; hier zeigt sich an dem von Vollung her vorüberziehenden Streifen der Plattendolomite ein Aufschluß von Bunt- sandstein, der sich in einem nach Norden zu verschmälerten Streifen bis zu der Dolomitparzelle am Südwestende des Dorfes Hilgershausen verfolgen läßt. Durch das sporadische Auftreten dieses Streifens inmitten des oberen Zechsteins bei unmittelbar benachbartem Aufschluß der Bröckelschiefer wird die Deutung eines durch vier Randverwerfungen begrenzten Schollen- einbruchs von geringfügiger Verwurfshöhe nach der Darstellung der Spezial- karte zur Wahrscheinlichkeit. Wir kehren auf dem Wege über Hilgershausen nach Vollung zurück. Im Allendorfer Forst vom Roggenberg bis zum Petersberg am Südrand der Karte breitet sich die mächtig entwickelte untere Buntsandsteinformation aus. Nur die höchsten Kuppen des Roggenberges, des Kümmelrotskopfes und des Krückenkopfes oberhalb etwa der Isohypsen von 480 m setzen sich aus den unteren Lagen des mittleren Buntsandsteins zusammen. Etwas südwestlich der Wegkreuzung zwischen Kümmelrotskopf und Krückenkopf tritt am Schwimelstein in scheinbar kreisförmiger Begrenzung Basalt zutage. Die Beobachtung von Bröckelschiefern im Fichtenwald zwischen Schwimel- stein und Vollung konnte nicht erneuert werden. Höchst auffallend sind am Nordwestabhange des Roggenberges eine Reihe von Erdfällen im Buntsandstein selber, welche sich 20 bis 30 m oberhalb der Buntsandsteingrenze über Zechstein befinden müssen. Ebenso merkwürdig ist aber die Tatsache, daß an der ganzen Nordseite des Roggen- berges der Kontakt zwischen Buntsandstein und Zechstein im großen und ganzen einer weit gegen Rückerode vorspringenden Linie folgt, welche nur schwach gegen die Horizontale geneigt ist, trotzdem aber mit sehr verschiedenen Schichten des oberen Zechsteins, niemals aber mit dem hängendsten Gliede, mit den oberen Letten, in Berührung tritt. Ferner kommt auf der ganzen Linie der Bröckelschieferletten zum Fortfall. 38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Nördlich des Horizontalweges am Roggenberg sind zunächst die mitt- leren Dolomite und die unteren Leiten festzustellen. Der Höhenzug des Elkenrods trägt wieder Dolomit, der dann auch zweimal am Wege hinunter zum Dominium Rückerode wieder in schmalen Zungen auftritt, um hier den breiteren Streifen zu bilden, welcher, wie wir oben gesehen haben, einerseits nach dem Mittelberge und andererseits zum Ellerstein verfolgt werden kann. Am Dominium ist wieder ein Zusammentreten dieses Dolomits mit dem Buntsandstein zu beobachten. Hier ist ferner das Auftreten einiger scheinbar ganz unvermittelter Schollen von Muschelkalk zu erwähnen, welche als Fetzen in dem Zech- steingebiet zwischen Roggenberg und Flachsbachtal liegen. Ganz im Norden, an der Spitze der sich verschmälernden Scholle von Hauptdolomit am Mittelberg, hat Moesta gegenüber dem Vorkommen an der nordwestlichen Randspalte durch Schürfgräben einen Fetzen von Muschelkalk aus der Etage des Ceratites nodosus erschlossen, von dem ich nur noch undeut- liche Handstücke auffinden konnte. Von beträchtlicher Ausdehnung ist hingegen die runde Scholle am Behälterskopf, in welcher etwa 6 Hektar von Schichten des Muschelkalks eingenommen werden. An der westlichen Seite tritt unterer Letten, im Osten die ausgedehnte Scholle von Plattendolomit am Mittelberge an das Muschelkalkgebiet des Behälterskopfes heran. Es läßt sich mit ziemlicher Sicherheit konstatieren, daß die Trias- schichten hier horizontal lagern, denn die Lagen des oberen Muschelkalkes sind nur auf dem höchsten Punkte des Kopfes, die Schichten des Trochiten- kalkes weiter unterhalb und die dolomitischen Schichten und Mergel des mittleren Muschelkalkes wenigstens im Westen auf den Feldern gegen Piückerode zu deutlich festzulegen, während das Durchstreichen der unteren Stufe im Buchenwald in den Saukuhlen nur vermutet werden kann. Von ähnlicher Vollkommenheit des Aufschlusses ist nur das Vor- kommen im Elkenrod, wo in den Schonungen an dem Vorsprung des Roggenberges zwischen den beiden Quellflüssen des Flachsbachtales Muschel- kalkschichten in einer Flächenausdehnung von 2 — 3 Hektar zutage treten. Der Fund von Röt und Wellenkalk, welchen Moesta hier verzeichnet, konnte nicht wiederholt werden, was vielleicht auf eine inzwischen statt- gehabte dichtere Bewraldung zurückzuführen ist. Wahrscheinlicher aber dürfte hier ein Beobachtungsfehler vorliegen, weil die über 100 m mächtige Wellenkalkformation bei der offenbar geringfügigen Neigung der beteiligten Schichten keinen Platz fände. Die kontrollierbaren Funde machen viel- mehr höchst wahrscheinlich, daß auch an dieser Stelle, wie am Behälters- kopf und am Gottesberg, die Muschelkalkserie mit der mittleren Zone beginnt und bis in die Nodosenschichten reicht. Eine große Ähnlichkeit zwischen den beiden geschilderten Vorkommen besteht ferner darin, daß auch im Elkenrod auf der einen Seite und zwar VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 39 im Süden, die unteren Letten, im Norden der Hauptdolomit an das Muschel- kalkvorkommen herantreten. Südlich der Domäne konnte ich noch folgende Vorkommen von Muschel- kalk, und zwar jeweils in seinen hängendsten Schichten feststellen: 1. Eine isolierte Scholle von Kalk mit den bezeichnenden Fossilien auf dem unteren Wege zur Wiese am Elkenrod ca. 200 m unterhalb des alten Gerichts. Das Vorkommen liegt im Walde zwischen dem Wege und der Wiese auf Hauptdolomit bis zur Grenze gegen die Letten hin. 2. Ein etwas ausgedehnterer Flecken begleitet den Fahrweg zum Dominium vom Austrittspunkt aus dem Roggenbergwald etwa 260 m ab- wärts. Die Obstgärten westlich des Weges bis zu einer kleinen Schlucht am Waldrand stehen auf Muschelkalk, während jenseits der gegen Rücke- rode vorspringende Teil von unterem Buntsandstein anhebt, von dem oben die Rede war. Auf der anderen Seite stellt sich nach Überschreitung des Muschel- kalks am Berge zunächst Hauptdolomit ein, welcher bergab den hangenden Letten mit zwei Durchragungen von Dolomit bis kurz vor Rückerode Platz macht. Über die gegenseitigen Lagerungsverhältnisse von Zechstein, Buntsand- stein und Muschelkalk ist hier keine rechte Vorstellung zu gewinnen. 3. Etwas günstiger in dieser Hinsicht ist das Vorkommen einer dritten Muschelkalkscholle, welche in allerdings nur ganz wenigen Fundstücken den Boden jenes tiefen Erdfalles einnimmt., welcher in dem Winkel zwischen den nach Südwest und Südost von der Domäne aus ausstrahlenden Wegen in das Buntsandsteinterrain eingesenkt ist. Hier liegt also höchst verwunderlicher Weise ein Denudationsrest von oberstem Muschelkalk auf den untersten Lagen des Buntsandsteins, welche in offenbar unmittelbarer Auflagerung auf Gipsen der unteren Letten des Zechsteins als Erd fall eingesunken sind! 4. Von diesem Punkte aus jenseits des Weges etwa 250 m südöstlich des Gutshofes ist in den Ackerfurchen eines auf den unteren Letten an- gelegten Feldes ein nur wenige Dekameter abmessender vierter Muschel- kalkfetzen festzustellen. Verfolgen wir die öfters erwähnte Buntsandsteinzunge, welche von Rückerode an ständig unter Ausfallen der höchsten Schichten des oberen Zechsteins und der Bröckelschiefer von den unteren zox- Letten begleitet wird, bis zu ihrem westlichen Rande, welcher mit der Grenze des Waldes zusammenfällt, so treffen wir knapp am Rande des Waldes ganz außer- ordentlich tiefe Erdfälle im Buntsandstein, aus welchen die uralten, wohl 30 m hohen Buchen nur eben zur Hälfte herausragen. Beim Verfolgen der Wege, welche von der Höhe viele hunderte von Metern durch die gewundenen und vielfach zerlaugten Gipsmassen aus der 40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Stufe der Z0j- Letten am Abhang gegen Hundelshausen hindurchfuhren, wird uns endlich eine Deutung der so wunderlichen Erdfälle, welche den Roggenberg an seinem Fuße wie tiefe Narben umgeben: die Gipsmassen streichen in ihrer ganzen Mächtigkeit in steiler Lagerung auf die Bunt- sandsteinzunge zu und diese liegt als offenbar ganz dünne Decke auf den schwindenden Gipsmassen. 5. Die fruchtbare Hochfläche im Westen von Rückerode wird bis zu der aus Hauptdolomit und den beschriebenen Gipsen zusammengesetzten Kante des Hundelshausener Kessels von den tiefgründigen Tonen der Z0j- Letten bedeckt. Knapp am Rande gegen den „Junkerstein“ benannten Tal- vorsprung ist in den Äckern ebenfalls noch eine Scholle von Nodosuskalk vorhanden. Der Feldweg, welcher nördlich von Rückerode um den Ostfuß des Ellersteins herumführt, bietet einen guten Aufschluß in den Schichten des Zechsteinkalks. Man sieht einzelne geringmächtige Gänge von Schwerspat das Grauwackengebirge und den unteren Zechstein durchsetzen. Auf der Höhe liegen westlich des Weges einige offenbar erst kürzlich verlassene Schurfschächte vor, vor denen die Lagen des Kupferschiefers, ferner in Brauneisenstein vererzter Zechsteinkalk und mehrere Gangstücke mit Schwerspat auf die Halde geworfen sind. In den Feldern nördlich vom Ellerstein reicht das Grundgebirge in einem Fenster durch den Kalk hindurch, während die Hauptgrenze gegen die Grauwacke in einer Isohypse unterhalb des Weges die beiden Abhänge zum Wechselgrund durchzieht. Von hier aus erhebt sich das Band von Zechsteinkalk über die Hoch- fläche und findet nach einer gegen Norden gerichteten Schlinge seinen Anschluß an das oberhalb Wendershausen beschriebene Vorkommen. Der Hügel westlich des von Rückerode aus führenden Weges ebenso wie der Wald südöstlich des Schmachteberges, bestehen aus Hauptdolomit. Die Feldparzelle rings um den Hügel bis zur Waldgrenze ist von den Gesteinen aus der Stufe der Gipsäquivalente eingenommen. Im Waide, parallel zur Feldgrenze, wenig unterhalb der Gehängekante zum Geistertal, streichen die Bänke des Zechsteinkalkes an, welche sich in einem gegen Süden zu geschlossenen Bogen quer über die Felder mit den Kalken über dem Wechselgrund in Verbindung setzen. Unterhalb der Kalkbänke am Geistertalabhang tritt die Grauwacke hervor. Der Untergrund der Hochfläche Schmachteberg-Rückerode-Vollung setzt sich nach Vorstehendem wie folgt zusammen: Die in nordwestlicher Richtung angeordneten Grauwackengebirgsinseln des Klepperberges und des Allendorfer Forstes werden durch einen Streifen von mittlerem Zechstein getrennt, auf dem einzelne Schollen von Muschel- kalk zu finden sind. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 41 Zwischen dem Klepperberg und dem nördlich vorgelagerten Sülzberg breitet sich am Schmachteberg ein Zechsteingebiet aus, in welchem die Lagerung der einzelnen Schichten vornehmlich durch Auslaugungsvorgänge bedingt erscheint, die aber trotzdem zu einem Plateau eingeebnet sind. Durch zwei Randspalten, welche im allgemeinen nordwestlich streichen und nur einen geringen Verschiebungsbetrag besitzen, ist das Hauptgebiet von Grauwacken im Südosten der Karte aus der Umgebung herausgehoben. Vom Buntsandstein des Roggenberges legt sich eine Zunge mit anormalem Kontakt auf die einzelnen Stufen des oberen Zechsteins, sowie auch beim Gehöft Vollung Grenzstufen der beiden Formationen unterdrückt bleiben. Es bleibt noch einiges zu sagen über den Plateaucharakter des be- handelten Gebietes. Ebene Formen trägt das Gebiet am Schmachteberg in etwa 270 m Höhe, 130 m über dem Spiegel der Werra. Zweitens trägt der Klepperberg und das Gebiet bei Rückerode in etwa 300 m Meereshöhe einen flächanhaften Charakter. Endlich ist die Gegend von Hilgershausen zu erwähnen, welche einen Ausläufer der Hochfläche von Orferode und Wölfterode im Südosten unseres Gebietes darstellt. Wie man sieht, sind diese ganzen Gebiete durch die Verbreitung der Zechsteinformationen ausgezeichnet. Braun und Davis geben für diese Geländeform die folgende Erklärung1). Man hat es nach ihnen in der Umgebung des Meißners mit drei ver- schiedenen Erosionsniveaus zu tun. Die älteste und höchste Landober- fläche lag mindestens 700 m über dem Meeresspiegel und in eine flache Hohlform dieser Oberfläche haben sich die basaltischen Laven ergossen. Bei 300 m hat sich die zweite Rumpffläche ausgebildet, welcher der Meißner als Monadnock entragte. Unter dieser Rumpffläche verstehen die Autoren das Gebiet um Orferode, von welchem die in unserem Karten- gebiet vorhandenen Ebenheiten eine Fortsetzung bilden. Diese Auffassung ist aber eine irrtümliche, weil diese angebliche Rumpf- fläche am Sülzberg, Roggenberg und jenseits der Werra am Höheberg von Buntsandstein um bezw. 40 m, 200 m und 150 m überragt wird. Auch die Grauwacke erreicht in der Roßkuppe ungefähr nördlich der sogenannten Rumpffläche 482 m, erhebt sich also fast 200 m über dieselbe. Da nun nicht einzusehen ist, warum außer dem Basalt auch noch Buntsandstein und Grauwacke an 200 m als Härtlinge über diese an- gebliche Rumpffläche emporgeragt haben sollen, so muß diese ganze Vor- stellung als irrtümlich fallen. i) Grundzüge der Physiogeographie. 191t, S. 179. Welche Bedeutung die Autoren gerade diesem Vorkommen für ihre Peneplain-Theorie beilegen, geht daraus hervor, daß das Diagramm des Meißners mit seinen 3 Erosionsniveaus die Titel- vignette ihres Lehrbuchs bildet. 42 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Die Deutung für diese Ebenheiten ist eine viel einfachere! Es handelt sich am Fuß des Meißners um nichts mehr als um eine in Gebieten flacher Lagerung im wassertragenden Zechstein angelegte Terrainstufe. Daß übrigens auch das obere von Davis und Braun vermutete Pene- plain hier nicht vorhanden ist, geht daraus hervor, daß dieselben tertiären Sandsteine, welche am Meißner etwa 600 m hoch unter den Basaltlaven liegen, in unserem Gebiete an der Söhre in etwa 8 km Entfernung in nur 200 m Seehöhe liegen. Von einer Fastebene kann also auch bei der Auf- lagerungsfläche der Basalte des Meißners nicht die Rede sein. (Näheres siehe S. 37 ff.) c. Der Talkessel bei Hundelshausen. Am Ostufer des Geisterbaches führt südlich von Hundelshausen ein Fahrweg entlang, welcher 200 m vom letzten Gehöft entfernt, an einem 20 m hohen Aufschluß von Dolomiten vorübergeht. Es sind die Platten- dolomite des oberen Zechsteins, die hier besonders in ihren unteren Lagen grob gebankt ausgebildet sind. Die Gesteine sind hier zu einem Gewölbe angeordnet, in dem sie einerseits dem Dorfe nordwärts zufallen, anderseits sich bachaufwärts unter die Buntsandsteinschichten des Roggenberges ein- schieben. An dem Fußpfade, welcher sich hinter dem Dolomitaufschluß in die höher gelegenen Äcker hinaufzieht, kommen die Gipse und Lettenschichten der zo3 -Stufe zum Vorschein, die nun auf der Höhe in breiter Fläche die Acker unterhalb des Forstes und in dem Tälchen zum Kümmelrotskopf hinauf bedecken. Weiter bergauf stellen sich unter den Schichten des unteren Bunt- sandsteins die Bröckelschiefer der Grenzstufe ein. Der südliche Teil der Ortschaft Hundelshausen steht auf mittlerem Dolomit. Seine Bänke sind aufgeschlossen an dem Feldwege, welcher im Südwesten das Dorf verläßt und bilden hier eine nach drei Richtungen nach Norden, Westen und Süden abfallende Kuppe. Einzelne Aufschlüsse sind auch weiter im Westen von Hundelshausen bis zu dem an der Schule vorbeiführenden Wege nachweisbar. Weitere Fundpunkte von Hauptdolomit können in den Höfen an der Dorfbrücke und in dem zum Gottesberg hinaufführenden Feldwege fest- gelegt werden. Auch hier fällt die Kuppe offenbar gegen Osten zu ein, indem sich weiter oberhalb im Hohlwege die Aschen- und Lettenschichten einstellen, welche als die Rückstände der Hauptsalzlager in der zOj -Stufe anzusprechen sind. Die Gipse und Letten dehnen sich dann weiter in den Feldern ober- halb der südlichen Gärten aus, und da sie hier mit der beschriebenen Platten- dolomitkuppel und den ihr aufgelagerten zo3 -Gipsen zusammenstoßen, so müssen wir hier eine in ostwestlicher Richtung streichende Verwerfung von etwa 50 m Sprunghöhe annehmen. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 43 Die Gehänge hinter dem Gottesberg werden durchweg von den unteren Letten bedeckt, in denen in auffallend starker Verbreitung die seltsam zerlaugten Gipsmassen auftreten. Nur an wenigen Stellen findet sich eine Unterbrechung durch Dolomite, welche mit Ausnahme eines schmalen Plattendolomitstreifens, der am Fuß der Roggenberges von den Bröckel- schiefern abgeschnitten wird, durchweg dem mittleren Dolomit angehören. Östlich vom Gottesberg ist eine solche Hauptdolomitmasse in steiler Aufrichtung durch Erosion entblößt. Sie streicht gegen Nordosten und in ihrer Fortsetzung verschwindet eine gleichartige Scholle unter der Bunt- sandsteinzunge nördlich des Roggenberges in der Gegend der oberen tiefen Erdfälle. Sonst ist diese Gegend durch das Auftreten großer Gipsmassen ausgezeichnet. Der Weg am Junkerstein nach Rückerode hinauf wird beiderseits von Hauptdolomitpartien flankiert, und aus gleichem Material besteht der Eller- stein, welcher in südwestlicher Richtung zwei Ausläufer von Dolomiten des mittleren Zechsteins gegen den Talkessel vorschiebt. Die Felder nördlich von Hundelshausen, welche durch den am West- abhang des Ellersteins vorbeiführenden Feldweg erschlossen sind, werden von unteren Letten eingenommen, deren Auftreten die Fruchtbarkeit der Felder in dem ganzen Talkessel nördlich der Ortschaft gewährleistet. Die Fläche, welche hier im Kessel von dieser Stufe eingenommen wird, trägt ebenso, wie das Rückeroder Plateau, einzelne Schollen von Muschel- kalk aus den gleichen Stufen. So konnte ich in den Feldern nördlich von Hundelshausen in flecken- förmiger Verbreitung das Vorkommen von Nodosuskalk auf zox -Boden im nördlichen Winkel des obersten Ackers am Ellerstein feststellen, und gelbliche Dolomite aus dem mittleren Muschelkalk fand ich auf der Parzelle, welche dem bastionartigen Vorsprung von Plattendolomiten am Südwest- fuße des Ellersteins vorgelagert ist. Am interessantesten sind aber die Verhältnisse des Gottesberges selbst, weil durch günstige Umstände die Aufschlüsse hier eine Beurteilung der gegenseitigen Lagerung von Muschelkalk und Zechstein gestatten. Der Gottesberg ist auf den beiliegenden Photographien aus allen vier Himmelsrichtungen dargestellt1). Auf der Abbildung 1 sieht man den Hügel von Westen. Im Vordergrund liegt die Ortschaft Hundelshausen. Im Hinter- gründe sieht man auf der linken Seite die bewaldeten Hänge des Junker- steins (Hauptdolomit). Die Hänge hinten an der rechten Seite gehören dem Buntsandsteinrücken des Roggenberges an. Wo die Grenze zwischen Wald und Feld ist, beginnt nach dem Beschauer zu die Verbreitung der Zechsteinformation. Der Hügel direkt hinter der Ortschaft ist der Gottes- R Die Photographien konnten nicht reproduziert werden. Dafür ist das Profil Figur 6 zu vergleichen. 44 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. berg. Er erhebt sich bis 282 m über dem Meere. Seine relative Höhe über der Geister beträgt 85 m. Auf der dem Beschauer zugewandten Westseite des Hügels befinden sich Gipsbrüche, welche hellweiße Färbung besitzen. Die hier in einer Mächtigkeit von über 50 m aufgeschlossenen Gipsmassen gehören der Stufe der unteren Letten an. Sie sind in ihrem unteren Teile der Auslaugung des älteren Steinsalzes und in ihrem kompakten oberen Teile dem Haupt- anhydrit sowie den anhydritischen Einlagerungen der jüngeren Salze zu verdanken. So ist es verständlich, daß der liegende Teil der Gipsmassen eine heftige Faltung aufweist, während die obere Partie verhältnismäßig ungestört geblieben ist. Die außergewöhnliche Mächtigkeit, welche der Gips einer einzelnen Zechsteinstufe hier erreicht, ist wohl nur durch eine lokale Zufuhr von Material durch horizontale Bewegung zu erklären. Die aufgeschlossene Mächtigkeit des Gipses beträgt 50 m. Sie erhöht sich noch durch den nicht aufgeschlossenen Teil und durch der Auslaugung zum Opfer gefallene Schichten auf vielleicht das Doppelte. Von dem Gipssockel des Berges hebt sich auf das deutlichste die Gipfelpartie ab, welche aus Schichten des Muschelkalkes besteht. Es lassen sich drei Gehängeformen unterscheiden: zu unterst eine einspringende Linie, welche den rückgewitterten Mergeln des mittleren Muschelkalkes entspricht, darüber die als steile Kante herauspräparierte Platte des Trochitenkalks und ganz am Gipfel in flach geneigten Schichten der Nodosuskalk. Ein ähnliches Bild zeigt ein Blick von Süden. Im Vordergründe zeigen sich Gipse der zo1 -Stufe. Am linken Hang des Gottesberges ist dasselbe Gestein in einem Steinbruch aufgeschlossen. Die Gipse und Letten bilden auch weiterhin die Grundlage und Umrahmung des Hügels. Auf der Höhe sieht man die Muschelkalkschichten in ihrer typischen Drei- teilung mit ganz flachem Einfallen gegen Osten ausstreichen. Der Gottesberg ist von Nordosten her aus der Gegend des Weges nach Rückerode zu betrachten. Wir sehen nur die durch ihre stärkere Widerstandsfähigkeit aus den Zechsteinletten herauspräparierte runde Scholle daliegen. Auch nach Norden zu ist der Fuß des Berges durch einen Gipsbruch aufgeschlossen. In den Ackern am Gehänge streicht Gips und Letten in vielfachem Wechsel aus. Die Deckscholle aus Muschelkalk setzt sich hier mit großer Deutlichkeit vom liegenden Zechstein ab. Es ergibt sich also, daß am Gottesberg eine fast kreisrunde Scholle, bestehend aus mittlerem und oberen Muschelkalk, welche noch etwa 35 m Mächtigkeit besitzt und einen basalen Durchmesser von nur etwa 200 m aufweist, durch Erosion von allen Seiten isoliert worden ist. In den Auf- schlüssen an diesem Hügel, welche auf drei Seiten durch Steinbrüche im Gips geschaffen sind, ist zu sehen, daß Schichten des Zechsteins (und VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 45 zwar nach meiner Auffassung Gipse und Letten der zOj- Stufe) rings um den Berg von unten an die Muschelkalkschichten herantreten. Wir folgern hieraus mit zwingender Notwendigkeit, daß der Muschelkalk dem Zechsteingips aufgelagert ist, wie das ja auch schon die Moestasche Darstellung im Gegensatz zu seiner Beschreibung ergibt. Der Talkessel von Hundelshausen wird nach der vorausgehenden Be- schreibung von mächtigen Gipsmassen aus der Stufe zox gebildet. Die aufsetzenden Dolomitpartien gehören Aufragungen des Hauptdolomits an, der als Folge stattgehabter Auslaugungen unregelmäßige Lagerungsformen zeigt. Der südliche Teil der Ortschaft steht auf einer zusammenhängenden Kuppel dieses Gesteins. Durch eine Ostwestverwerfung ist am Dorfausgang eine in sich ge- wölbeförmig gebaute Scholle von oberstem Zechstein abgetrennt. Muschelkalkpartien enthält der Talkessel am Ellerstein am Junkers- kopf, sowie am Gottesberg, wo der Zechsteingips von unten her allseitig mit mittlerem Muschelkalk in Kontakt kommt. Die Krönung dieses Hügels besteht aus oberen Schichten der Muschelkalkformation. d. Die Aufschlüsse im Geistertal. Bei der Witzenhausener Papierfabrik tritt die Geister kurz vor der Einmündung in die Werra in den Bereich der Karte ein. Vom Warteberg zum Sulzberg streichen hier die Schichten des unteren Buntsandsteins über den Fluß hinüber. Das Streichen der Schichten geht hier in west- nordwestlicher Richtung. Das Auftreten der Zechsteinformation macht sich durch den Abfall der Höhen auf beiden Seiten des Tales kenntlich. Sehr deutlich kommt hier der zweimalige Wechsel von Dolomiten zum Ausdruck. In den Wichtelsteinen westlich der Chaussee ist die Ausbildung des Plattendolomits zu beobachten, welche derjenigen der weiter talaufwärts auftretenden Dolomite des mittleren Zechsteins so überaus ähnlich ist. Letztere kommen in zwei tief eingeschnittenen Seitentälchen etwas oberhalb der Wichtelsteine zum Aufschluß. Nach Einschiebung der hier schwach entwickelten Gipsäquivalente treten dann an der Chaussee die eigentlichen Zechsteinkalke hervor. Sie ziehen über den Steinberg nach Südwesten hinauf und begleiten das nach Dohrenbach hinaufführende Tal. Unterhalb des Steinbergs ist der Geisterbach in das Gebiet der Grund- gebirgsgrauwacke eingetreten, in welcher er in einer Strecke von nicht ganz 2 km dahinfließt. Die Grauwacke hat ihre Hauptverbreitung in dem Buchenwalde zwischen Geister und Dohrenbach, welcher den Namen „die Söhre“ führt. Die höchsten Partien im Walde werden wieder von unterem Zechsteinkalk eingenommen, eine Folge der nur ganz flachen kuppel- 46 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. förmigen Aufwölbung des Grundgebirges, in welche der Geisterbach kaum 50 m tief eingeschnitten ist. Am östlichen Talhang zieht sich das Band von Zechsteinkalk bis etwra 30 m über dem Tal hinauf, um dann wieder nach Süden abzusinken. In dem Tälchen unterhalb des Schmachteberges zieht sich der Kalk ein wenig aufwärts. Dem Schmachteberg gegenüber befindet sich am östlichen Talhang des Geisterbaches ein kleiner Vorsprung, welcher durch die hier aufgelagerten Plattendolomite hervorgerufen wird. In gleicher Höhe etwas südlich trifft man auf Grauwacke, so daß also hier eine Verwerfung durchzieht. Sie läßt sich weiterhin parallel zum Gehänge verfolgen, indem auf 500 m Länge die Grauwacke mit abgesunkenem Hauptdolomit in Kontakt tritt. Der Verwerfungsbetrag berechnet sich maximal zu 100 m. Weiter nach Süden kommt Zechsteinkalk heran, und schließlich geht die Verwerfung in eine Flexur über, durch welche der Hauptdolomit des Ellersteins bis zur Auflagerung auf dem unteren Zechstein unten im Gelstertale herab- gebogen wird. Dieser untere Zechstein setzt hier über den Fluß hinüber und greift in zwei durch den Einschnitt des Fahrenbachs getrennten Bögen bis zur Ortschaft Dohrenbach hin, wo der Anschluß an das Kalkband vom Stein- berg her sich vollzieht. Im Südwesten lagern sich dann die höheren Bänder des Zechsteins auf, und noch weiter in dieser Richtung hebt sich der überlagernde Bunt- sandstein wieder zu größeren Höhen hinauf. Sehr interessant sind die besonders am Südhange zu konstatierenden Blöcke eines quarzitischen Sandsteins (Knollensteins), welcher sowohl auf dem Grundgebirge wie auf den einzelnen Stufen des Zechsteins auf- gesammelt werden kann. Diese Reste einer ehemals zusammenhängenden Schicht gehören der tertiären Braunkohlenformation an, welche am Meißner und bei Groß-Almerode zusammenhängende Verbreitung gewinnt. Man kann aus diesem Vorkommen nur den Schluß ziehen, daß das Grundgebirge hier bereits zur Oligocänzeit entblößt worden ist, daß also dieser Teil des Allendorfer Rundhorstes im Alttertiär bereits ausgebildet vorlag. Das Gleiche hat übrigens jüngst Grupe für den Gelstertalgraben bei Groß-Almerode dadurch erwiesen, daß er die diskordante Auflagerung der Braunkohlenbildung am Hirschberg auf den einzelnen Stufen des Grabens, wie auf seiner Buntsandsteinumrahmung betont hat. Mit Grupe bin ich auch damit einverstanden, daß die erwähnte prä- oligocäne Landoberfläche keine Fastebene gewesen sein muß. Wir können einen einfachen Beweis dafür aus den Verhältnissen an der Söhre ableiten. Die Knollensteinüberlagerung zieht sich hier bis auf etwa 200 m herunter. Tiefere Blöcke möchte ich als verrutscht betrachten. Dagegen VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 47 liegt die Überlagerung am Meißner (Schwalbental) bei 620 m und vom Kaufunger Wald her ziehen sich die Buntsandsteinhöhen in Erhebungen von 500 m bis unmittelbar an den Allendorfer Horst hinan, ohne daß auf ihm die Braunkohlenbildung erhalten wäre. Will man also nicht an- nehmen, daß der Horst noch seit der mittleren Tertiärzeit um erhebliche Beträge eingesenkt ist, was durch die Feldesaufnahme als widerlegt gelten kann, so bleibt nur die Vorstellung übrig, daß die präoligocäne Landober- fläche hier auf einer Strecke von 3 km ein Gefälle von mindestens 300 m besessen haben muß! Von einem Peneplain in alttertiärer Zeit, von welcher Philippi in Thüringen ausgegangen ist1), kann also keinesfalls die Rede sein. Im Vorbeigehen sei bemerkt, daß ganz ähnliche Betrachtungen auch für Thüringen gelten. So liegt z. B. am Boltendorfer Rundhorst, ganz wie an der Söhre, Tertiär auf Zechstein in einer Gegend, welche von Bunt- sandstein ohne Tertiärbedeckung um 150 m überragt wird. Philippi hat hieraus auf eine Versenkung des Horstes um mindestens den genannten Betrag in einer postoligocänen Störungszeit geschlossen. Mit Unrecht; denn der Rastenberger Bergbau beweißt vielmehr, daß die Zechsteinplatte die Tendenz zeigt, vom Horste her abzufallen. Man kann deshalb annehmen, daß sowohl in Thüringen, wie in Hessen eine unebene Landoberfläche mit mehreren Hundert Metern Höhenunter- schied etwa 200 m über der heutigen bestanden hat, in welcher die Zech- steinschichten auf den Rundhorsten wegen ihrer geringeren Widerstands- fähigkeit herauspräpariert worden sind. Südlich der Söhre streichen die höheren Schichten des Zechsteins in südöstlicher Richtung über die Kuppe zwischen Fahrenbach und Geister. Auf letzterer sind noch an dem von der Dohrenbacher Chausse herüber- führenden Wege die Bröckelschiefer der Übergangsschichten aufgeschlossen. Sie verlieren sich aber zwischen Buntsandstein und oberen Letten noch vor der Durchkreuzung mit dem Kammwege, und von hier weiter talabwärts tritt der Plattendolomit und weiterhin unterer Letten mit dem Buntsand- stein in Kontakt. Es ist damit das Hauptverbreitungsgebiet des zo, erreicht, welches sich, wie wir gesehen haben, über den Talkessel von Hundels- hausen bis nach Rückerode hinauf ausbreitet. Der eben genannte Kammweg entblößt bereits wenig oberhalb der Grenze zum Zechstein einen schmalen Streifen von Buntsandstein und verläuft demnach auf einer in der Richtung N 40° O streichenden Ver- werfungsspalte. Südwestlich von der Dorfschaft Hundelshausen gelangt man aus dem Bereiche der Zechsteinbedeckung des Allendorfer Rundhorstes in die *) Über die präoligocäne Landoberfläche in Thüringen. Zeitschr. d. d. geol. Ges. 62. 1910, S. 378 ff. 48 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Grabenzone des oberen Geistertales. Der Übergang vollzieht sich in folgender Weise: An dem südlichsten der drei nach Westen zu von Hundelshausen aus- gehenden Feldwege sind die nach Süden fallenden Lagen des Hauptdolomits entblößt. Der Weg, welcher nach Südwesten in einer Runse zum Wasser- werk Hundelshausen abzweigt, zeigt nun weiter aufwärts nacheinander die folgenden Schichten: untere Letten, grobkörnige Sandsteine des mittleren Buntsandsteins, Mergel und Kalke des mittleren Muschelkalks, weiterhin Trochitenkalk und Nodosusschichten. Endlich gelangt man wieder in mittleren Buntsandstein. Die letztgenannte Grenze zwischen mittlerem Buntsandstein und oberem Muschelkalk ist in der Richtung Südsüdwest weithin durch den Wald zu verfolgen und verläßt bei etwa 370 m Höhe das Kartenbild. Bei etwa 500 m vom Auftreten des Muschelkalks an gerechnet lösen die Stufen mOj und mm den obersten Muschelkalk ab. Die gleichen Schichten stellen sich dann wieder talabwärts ein. Es ist als Ganzes das Bild einer gegen Südsüdwest streichenden Mulde gegeben, welche sich in der gleichen Richtung verbreitert und vertieft. In den Wiesen unterhalb des Knüll wird auch noch Wellenkalk und Röt sichtbar und endlich tritt an einem Wiesenvorsprung nördlich der Einmündung des Bächleins aus dem Haital in die Geister sogar noch der mittlere Buntsandstein hervor. Am Liethenberge ist schließlich die Mulde soweit vertieft, daß noch unterer Keuper am Rande des Kartenfeldes am Wuhlberg erscheint. Jenseits der Chaussee nach Trubenhausen tritt dann eine starke Ver- breiterung des hier sehr flach dem oberen Buntsandstein aufgelagerten Wellenkalkstreifens ein. Der Buntsandstein am östlichen Talhang der Geister ist südlich von Hundelshausen in eine Reihe von gegen die Mulde geneigten Einbruchs- keilen aufgelöst. So schneidet gegenüber dem Liethenberg eine trapez- förmige und bei 800 m Länge nur 200 m breite Scholle von mittlerem Buntsandstein und Röt mit einer als Denudationsrest aufzufassenden Wellenkalkscholle in nordöstlicher Richtung in den Abhang des Roggen- berges ein. An der roten Liethe greift an einer Parallelverwerfung die Grenze von unterem und mittlerem Buntsandstein wieder höher hinauf. Die Rötmergel sind von Hundelshausen nach Süden zu dadurch kenntlich, daß in ihnen unter den Wellenkalkplatten des Iberges das ,, Langewiese“ genannte Tälchen nach Süden entlang führt Wie die Karte darstellt, wird vermutet, daß die nicht aufgeschlossenen Schichten des unteren und mittleren Buntsandsteins vom Abhang des Roggenberges her sich parallel zu den an der Chaussee Hundelshausen- Trubenhausen erschlossenen Rötschichten aus ihrer flachen Lagerung steil gegen Norden zu umbiegend aufrichten, und daß entsprechend dem Auf- VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 49 schluli östlich des Gottesberges hierbei der Buntsandstein die Schichten der Zechsteinformation der Reihe nach abschneidet. Die unmittelbar südlich von Hundelshausen mit ostwestlichem Streichen konstatierte Verwerfung ist vielleicht, wie die Karte zeigt, quer über das Geistertal zu verlängern und kann zur Erklärung der komplizierten Lagerung am Wasserwerk Verwendung finden. Der mittlere Buntsandstein jenseits der Verwerfung fällt von dem unteren im Westen von Hundelshausen normal ab. Der mittlere Muschelkalk, welcher sich im Osten aus der Knüllmulde heraushebt, verbreitert sich am Gehänge des Liethenberges und bildet in einem das Gelstertal kreuzenden Streifen den Untergrund für den nörd- lichen Teil der Ortschaft Trubenhausen. Die Aufschlüsse im Gelstertal lassen sich also wie folgt gruppieren: Von der Papierfabrik bis nach Gundelshausen ist der Geisterfluß etwas östlich von der nordsüdlich verlaufenden Hauptachse einer Gebirgskuppel eingeschnitten, an deren Grauwackenkern sich die Deckschichten von Zech- stein und Buntsandstein anschließen. Die Auflagerung von Braunkohlensandstein an der Söhre dient zum Beweise, daß diese Kuppel bereits zur älteren Tertiärzeit gebildet war und bloß gelegen hat. Südlich von Hundelshausen tritt an den hier verbreiterten Streifen der Zechsteinauflagerung des Allendorfer Rundhorstes ein südsüdöstlich streichender, vornehmlich mit Muschelkalk gefüllter Graben heran, der da- durch einseitig ausgebildet ist, daß im Westen eine Verwerfung parallel zur Grabenachse streicht, während die Schichten im Osten im allgemeinen ohne Bruch an einer Flexur hinabsinken. Der Graben ist ferner dadurch unsymmetrisch ausgebildet, daß die westliche Spalte gegen Nordnordost, die Flexur aber gegen Nordnordwest gerichtet ist derart, daß beide Dislokationen unmittelbar bei Hundelshausen in Kontakt mit dem Zechstein zusammenlaufen. Hier gelangen verschiedene der Einbruchsschichten des Grabens zum Ausfall. III. Die Moesta’sche Deutung. Von der oben gegebenen Darstellung weichen die Moesta’schen Beob- achtungen in einigen nicht unwesentlichen Punkten ab. Bei Wendershausen glaubt Moesta das Auftreten der Grauwacke in- mitten des Zechsteins westlich vom Weidental in einer nach N 70° W streichenden Verwerfung deuten zu müssen, welche auch die nördliche Begrenzung für die Scholle von mittlerem Zechstein zwischen Liesgrund und Weidental abgibt. Hier, wie auch in der Scholle am Osthang des Klepperberges ließ sich der Zechsteinkalk als Unterlage ringsher verfolgen, so daß also diese beiden Störungen bei der Darstellung entfallen. 1912. 4 50 Jahresbericht jder Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Die Verwerfung welche am Osthang des Gelstertales gegenüber der Söhre mit einem Streifen von N 20° 0 festgestellt wurde, führt nicht bis zum Plateau am Schmachteberg oder geht darüber hinaus, wie Moesta annimmt. Nach Süden zu geht sie in eine einfache Flexur über, denn die neu angelegten Waldwege unterhalb des Ellersteins, sowie hier vorgenommene Schürfungen auf Schwerspat haben gezeigt, daß der Hauptdolomit des Ellersteins hier mit einem Knick konform dem Gehänge sich hinunter erstreckt. Dadurch kommt der Streifen von zo2, den Moesta hier einträgt, in Fortfall, sowie auch die Scholle von oberem Muschelkalk hier nicht wiedergefunden werden konnte. Die westnordwestliche Störung nördlich des Ellersteins konnte ebenfalls nicht beibehalten werden, weil das untere Zechsteinband an den Äckern hier überall verfolgbar ist, und weil die Störung nach der Moesta’schen Darstellung sowieso unterhalb der Domäne tot ausläuft. In der Umgegend von Hundelshausen mußte mehrfach eine Umkartierung der einander ja allerdings sehr ähnlichen Stufen des Haupt- und Platten- dolomits stattfmden. Moesta hat übersehen, daß der Plattendolomit am Südausgang von Hundelshausen als Gewölbe angeordnet ist. Es sind deshalb die Letten zwischen diesem Aufschluß und dem Hauptdolomit in den südlichen Ge- höften der oberen Stufe zuzuordnen, und nach ihnen muß man eine ost- westliche Verwerfung annehmen. Die isolierten Dolomitpartien hinter dem Gottesberg habe ich durch- weg als Durchragungen von Hauptdolomit aufgenommen, weil sie nirgends den Gipsen aufgelagert sind. Moesta hatte sie hingegen zu einem Band von Plattendolomit vereinigt. Bei dem Hohlwege südwestlich des Gottesberges wird der Dolomit von Aschen überlagert, die sich dann in die Gipsbänke am Fuße des Hügels hineinschieben, so daß die gesamten Gipsmassen nicht älterer Gips sind, sondern wie die Letten rings herum der zox- Stufe angehören. Endlich lasse ich das Band von Plattendolomit nordwestlich von Hundelshausen auf der Kammhöhe endigen und ziehe die Dolomite am Mäuseborn zur mittleren Zechsteinstufe, wodurch dann die Lettenpartien nördlich von Hundelshausen als Ganzes der zox- Stufe anheimfallen. Auch scheint es mir recht wahrscheinlich, daß die Dolomitpartien am südlichsten der drei Feldwege mit dem Hauptdolomit am Südostausgang zu verbinden sind, wodurch dann die nach Norden abfallende Kuppel der Dolomite als normales Liegendes der Letten sich ergibt. Es wird durch diese Annahmen das tektonische Bild um Hundelshausen bedeutend ver- einfacht. Ein Hauptaugenmerk wurde bei der Aufnahme auf das Vorkommen von Muschelkalkschollen gelegt, die in der neuen Karte um mehrere Punkte VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und^Hüttenwesen. 51 vermehrt und am Behälterskopf sowie am Elkenrod abgerundet eingetragen wurden. Auch hier ergab sich eine Vereinfachung dadurch, daß mangels nach- weisbarer Verwerfungen die von Moesta hier eingetragenen Plattendolomite dem Verbreitungsgebiet des Hauptdolomits am Mittelberg zugewiesen werden mußten. Mit Ausnahme der hier erwähnten Punkte hat die durchgeführte Neu- aufnahme eine große Exaktheit in der älteren Kartierung ergeben, wie überhaupt diesen Aufnahmen, die als erste die Brüche verwertet, aber begreiflicherweise ihre Anwendung übertrieben haben, ein nicht hoch genug zu veranschlagender historischer Wert zukommt. Um so erstaunlicher ist, daß wir und zwar zum großen Teil schon auf Grund der eigenen Aufnahmen von Moesta zu ganz andern Ergebnissen gelangen müssen, als wie sie unser Vorgänger aus den beobachteten Tat- sachen gefolgert hat. Hören wir erst Moesta selber. In unserem Gebiete durchbricht, so meint Moesta, die Bruchzone Göttingen-Eichenberg das am Gelände der Werra auftretende paläozoische Gebirge und erleidet hierbei eine Veränderung ihrer Richtung aus Nordsüd nach Südsüdwest. Diese Änderung der Richtung sei in der Weise zu er- klären, daß die Kräfte, welche die Dislokationsursache bildeten, an dem alten Gebirge einen abweichenden und größeren Widerstand fanden und die Durchbrechung desselben sei in die Richtung des geringsten Wider- standes, nämlich diejenige der Schichtungsfugen abgelenkt worden; es sei diese neu angenommene Richtung die Streichungsrichtung des paläozoischen Schichtensystems. Dieser Meinung wird man sich keinesfalls anschließen können. Weder geht das paläozoische Streichen nach NNO, wie der Geistergraben, sondern nahezu nach ONO, — noch auch ist einzusehen, wie die doch überall gleichmäßig verbreiteten Grundgebirgsschichten gegenüber einer vertikal gerichteten Kraftgröße bei der Grabenbildung richtungsändernd hätten wirken sollen! Eine solche Einwirkung wäre wohl nur denkbar, falls die Gräben durch eine horizontale Kraft geschaffen wären, welche erst nach Auf- wölbung des Allendorfer Rundhorstes eingesetzt und dazu noch longitudinal gewirkt hätte. Was Moesta durch diese etwas schwer verständliche Hypothese hat zum Ausdruck bringen wollen, ist offenbar die Tatsache, daß die beiden an den Horst herantretenden Gräben ihre Erscheinungsform auf dem Horst selber vollkommen geändert haben. Moesta hat auf der Karte die Verbindung der beiden Gräben dadurch hergestellt, daß er die geringe Verwerfung, welche von der Flachsbach- mühle aus gegen Nordosten in den Ausläufer des Leinetalgrabens sich hineinzieht, mit einer schwachen Richtungsänderung über Mittelberg und 4* 52 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Behälterskopf geradlinig hindurchzieht und dadurch eine Verbindung her- stellt mit der östlichen Spalte der dem Gelstertalgraben zugeneigten Keil- scholle gegenüber dem Liethenberg. Diese Linie berührt tatsächlich etwa tangentiell zwei der Muschelkalk- schollen, deren Auftreten man durch Grabenbildung erklären könnte. Doch ist diese Erklärung nicht zulässig. Man betrachte nur das Profd, welches Moesta durch den Behälters- kopf hindurchlegt (Fig. 3). Die Scholle westlich der hypothetischen Haupt- verwerfung ist am Rande derart herunter gebogen, daß Nodosusschichten neben Hauptdolomit zu liegen kommen. Der vertikale Verschiebungsbetrag wäre an dieser Stelle 1000 m, während direkt nördlich und südlich des Behälterskopfes Zechstein auftritt, und die Verschiebung gleich Null wird! Diese Auffassung widerlegt sich wohl selber, zumal wo mehrere der- artige Muschelkalkschollen auch bei Moesta abseiten von Verwerfungen liegen. Diese Muschelkalkschollen sind es übrigens allein, welche die An- nahme einer Störung über den Rücken des Horstes rechtfertigen. Im übrigen verlaufen hier überall, auch dort, wo Moestas Hauptverwerfung durchzieht, Zechstein und Buntsandstein ungestört. Von einem Spalten- einbruch als Verbindung von Leinetalgraben und Gelstertalgraben wird man also nicht reden können. Unterhalb der Deckscholle der Muschelkalkschichten trägt Moesta in keilförmiger Lagerung die Buntsandsteinschichten ein, welche aber vor dem Ausstreichen zutage ausbeißen sollen. Diese willkürliche Annahme wird nur dadurch möglich, daß die Zechsteinunterlage ein sehr steiles Einfallen erhält. Dies widerspricht den Beobachtungen, welche die Karte auch richtig wiedergibt. Der Zechstein dieser Gegend lagert durchaus flach. Es ist auch keine Anordnung denkbar, bei welcher die gesamte Buntsandsteinformation mit 800 m Mächtigkeit unter der kaum 300 m im Durchmesser sich erstrecken- den Hügelkappe Platz fände. Für das Auftreten der anderen Muschelkalkschollen gibt Moesta folgende Erklärung: sie sollen als lokale Dislokationen entstanden sein an Stellen, wo die Verwerfungsspalten die Zechsteinformationen durch- schnitten. Sie gaben dadurch Veranlassung zu unterirdischen Wasserläufen, die Gipse wurden dadurch massenhaft fortgeführt und tiefe trichterartige Einstürze waren die Folge. Folgte die Nachsenkung der überlagernden Schichten von vornherein mit dem Schwinden der Unterlage, so blieb in dem eingesunkenen Schichten- komplexe die Regelmäßigkeit der Schichtenfolge erhalten. Auch diese Erklärung muß abgelehnt werden. Wäre es wirklich denkbar, daß durch trichterförmige Auslaugung ein horizontales Schichten- paket ohne Lagerungsstörungen in die Zechsteinformation hineinsinkt, so VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 53 könnten naturgemäß diese Bewegungen vertikal nur das Ausmaß der Mächtigkeit des Gipses, das heißt etwa bis 100 m, betragen. Völlig aus- geschlossen ist es, daß dadurch die Schichtstufe des oberen Muschelkalks in die Höhenlage der mehr als 1000 m tieferen Hauptdolomitstufe gelangte, wie mehrfach in unserem Gebiet nachweisbar. Erinnern wir uns auch der Verhältnisse am Gottesberg. Hier gerade ist die Gipsformation überaus mächtig entwickelt, so daß besondere Aus- laugungen nicht zu vermuten sind. Die Muschelkalkschichten verraten hier keineswegs durch ihre Lagerung einen trichterförmigen Einsturz in der Mitte des Berges, noch ist auch die geringste Veranlassung dazu vor- handen, die liegenden Schichten, namentlich Buntsandstein und Wellen- kalk, im Kerne des allseitig tief aufgeschlossenen Berges vergraben zu denken. Es ist auch bezeichnend, daß von den vielen Verwerfungen, mit welchen Moesta auf mehr oder weniger konstruktivem Wege das Karten- gebiet durchzogen hat, keine einzige den Gottesberg oder seine Flanken berührt. Eine solche Konstruktion wird auch schon dadurch zur Unmög- lichkeit, daß in Abständen von weniger als einem Kilometer der Ausbiß des unteren Buntsandsteins den Gottesberg in einem etwa 180° deckenden Bogen ohne größere Störungen umläuft. Man kann also auf keine Weise eine Verwerfung von einigem Belang konstruieren, welche das Absinken der Muschelkalkscholle am Gottesberg in den Bereich des oberen Zechsteins durch tektonische Vorgänge erklärlich machen würde. Im Widerspruch mit seinen Deutungen stellt denn auch die Moesta- sche Karte die Lagerungsverhältnisse hier und an mehreren Stellen voll- kommen anders dar. Auf dieser Karte liegt am Gottesberg der Muschelkalk horizontal und in übergreifender Lagerung auf den älteren Gipsen und den unteren Letten, welche ja allerdings nach unserer Auffassung derselben Stufe angehören. Nicht anders verhält es sich mit dem Vorkommen bei Rückerode, im Elkenrod und am Behälterskopf, welche, wenn man die seltsame Kon- struktion im Profil im Osten des Behälterskopfes beiseite läßt, auch nach Moesta’s Karte wohl nicht gut anders gedeutet werden können, denn als diskordante Auflagerungen von Muschelkalk auf Zechstein. Von merkwürdigen Schichtenlagerungen, welche die Moesta’sche Karte darstellt und die durch die Neuaufnahme bestätigt sind, seien noch die folgenden erwähnt: Beim Gehöft Vollung, ferner am Junkerkopf und westlich von Hundels- hausen greift der untere Buntsandstein derart auf die hängendsten Schichten der Zechsteinformation über, daß zunächst die Bröckelschieferletten, weiter- hin die oberen Letten, die Plattendolomite und ein Teil der unteren Letten neben der unteren Buntsandsteinformation verschwinden. 54 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Die Karte deutet dieses bei Vollung und am Junkerkopf durch eine diskordante Überlagerung, während westlich von Hundelshausen, wie an der ganzen Linie vom Hainskopf bis zum Ostrand der Karte Verwerfungen angenommen werden, welche den Kontakt der betreffenden Formationen verursacht haben sollen. Nicht anders ist die Deutung auf der Linie vom Habichtstein bis zum Oberrieder Bach, sowTeit hier unterer Buntsandstein und untere Letten in Berührung stehen. Es ist wohl an sich recht unwahrscheinlich, daß die in den Aufschlüssen einander durchaus gleichen Verhältnisse auf zwei ver- schiedene Ursachen zurückgeführt werden müssen. Im allgemeinen unterscheidet Moesta drei Kategorien von Verwerfungen: die Grabenbrüche, die Randverwerfungen und die Störungen durch Aus- laugung. Die Grabenbrüche verlaufen zonar und durchsetzen nach Moesta’s Ansicht sämtliche Schichtensysteme unabhängig von deren petrographischer Zusammensetzung. Sie sind entstanden in der Zeit als die Braunkohlen- bildung in Hessen stattgefunden hatte, d. h. in Miocän und sind ursäch- lich auf die Expansivkraft der zum Ausbruch drängenden Basaltmagmas zurückzuführen. Die Behauptung von dem miocänen Alter der Gräben ist deshalb nicht mehr aufrecht zu halten, weil das Tertiär nach Grupe sowohl auf den Horsten, wie in den Gräben liegt und damit entfällt auch der kausale Zusammenhang zwischen Vulkanismus und Grabenbildung im Sinne von Moesta. Ist schließlich auch die Behauptung Moesta’s richtig, daß die Graben- brüche alle Schichtensysteme, die zutage treten, gleichmäßig getroffen haben? Ich glaube, daß man diese Frage auf Grund der vorliegenden Karte verneinen muß. Falls sich wirklich die Verbindung des Leinetalgrabens mit dem dem Gelstertalgraben über den Allendorfer Rundhorst hinweg erstreckt hat, so kann man nur aussagen, daß die Verwerfungen die Schichten der Zechsteinformation und des Grundgebirges nicht mit affiziert haben. Würde dies der Fall sein, so müßte man zwischen Hundelshausen und Wenders- hausen mindestens den Buntsandstein in das Niveau des Zechsteins gerückt sehen, während tatsächlich, wie ein Blick auf die Karte zeigt, z. B. der untere Zechstein in der Achsenlinie des Rundhorstes in folgender Höhe ansteht: Bei Dohrenbach in 210 m Höhe, in der Söhre bei 260 m * im Geistertal, Osthang ... * 230 m * auf der Höhe nördl. des Ellersteins * 320 m = nördlich des Behälterskopfes . . * 320 m = im Flachsbachtal, Westabhang . in 260 m ; VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 55 Osthang in 320 m Höhe, am Schnellerskopf s 350 m » Wir sehen also, wie mit Ausnahme der Verwerfung um 100 m am Ellerstein ein ganz allmähliches Ansteigen der Schichten auf der Höhe des Rundhorstes von Nordwesten nach Südosten stattfindet. Dieses An- steigen findet auch gegenüber den beiden Grabenzonen statt und es bleiben demnach nur zwei Annahmen übrig: entweder die Gräben setzen dem Horst gegenüber aus, oder aber die Grabenbildung hat sich zwar in den jetzt erodierten Triasschichten, welche einst die Kuppel des paläozoischen Grundgebirges überkleidet haben, abgespielt, ohne aber aus irgend einem Grunde bis auf den Zechstein durchzugreifen. Die zweite Gruppe bezeichnet Moesta als Randverwerfungen und faßt darunter die nordwestlich streichenden Störungen zusammen, welche auf unserer Karte vcn Hilgershausen bis zum Rabental südlich und vom Hains- kopf bis zum Kartenrand am Oberrieder Bachtal nördlich das Grauwacken- gebirge begrenzen. So richtig nun auch die Deutung dieser Störungen als Begrenzungen des Horstgebirges ist, so wenig befriedigend ist die Erklärung Moesta’s für diese Erscheinung. Denn es ist wohl klar, daß wir Störungen, welche das Triasgebirge neben die Grauwacken legen und die somit doch auch die letzteren betroffen haben, nicht dadurch erklären können, daß das jüngere Sedimentgebirge infolge von Verlestigungs- und Auslaugungsvor- gängen in sich zusammengesunken ist. Daß hingegen die dritte der Moesta’schen Verwerfungskategorien, die lokalen Dislokationen infolge von in verschiedener Geschwindigkeit sich vollziehenden Auswaschungen von Steinsalz und Gips für die Oberflächen- verteilung der einzelnen Formationsstufen von großer Bedeutung sind, ohne mit der Tektonik des tieferen Untergrundes im Zusammenhang zu stehen, ist eine von Moesta richtig beobachtete Tatsache, die aus der Beschreibung der Aufschlüsse ohne weiteres hervorgeht. In den Erläuterungen zu Blatt Witzenhausen schließt sich Beyschlag den Moesta’schen Deutungen nur mit Vorbehalt an. Er ist der Ansicht, daß Leinetalgraben und Geistertalgraben zwei ver- schiedenen Systemen angehören, und daß die Erscheinungen des , Ver- brechens“ des alten Gebirges durch Nachstürze und Nachrutschungen in die Grabenendigungen erklärbar sei. Dadurch seien auch die Flanken- brüche des Horstes, Moesta’s zweite Verwerfungsgruppe, entstanden. Diese Deutung scheint uns insofern nicht allen Erscheinungen gerecht zu werden, als dadurch die vielen auffallenden Lagerungsverhältnisse, welche die Moesta’sche Karte enthält und die unsere Aufnahme bestätigt und noch erweitert hat, keine ganz genügende Erklärung finden. Moesta hatte zweifellos das Richtige getroffen, wenn er aus der Lagerung des Muschel- kalks im Bereiche der Zechsteinformation unter Ausfall einer an 1000 m 56 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. mächtigen Schichtenfolge im Elkenrod gerade auf der Verbindungslinie zwischen den beiden Gräben und im Scheitel der Horstaufwölbung auf außergewöhnliche Störungen des Horstes geschlossen hat, welche in irgend einer Weise mit der Ausbildung der Gräben in Zusammenhang stehen. Auch bleibt immer zu bedenken, daß durch die Annahme eines Aufhörens der beiden Gräben an dem Horste schräg einander gegenüber ein Zufallsmoment in die Deutung der Erscheinungen hineingerät. Vielmehr sind wir mit Moesta der Ansicht, daß zwischen Wenders- hausen und Hundelshausen allerdings eine Brücke von einem Graben zum andern hinüber zu schlagen ist. IV. Stratigraphische und erosive Diskordanzen. Bei der Deutung der Lagerungsverhältnisse um Hundelshausen sollen die gut aufgeschlossenen Punkte uns zur Erklärung der minder übersicht- lichen dienen. Die besten Einblicke hatten wir am Gottesberg. Verwerfungen, welche aus der Nachbarschaft zu dem Hügel hinüberlaufen, sind nicht vorhanden. Eine rein tektonische Erklärung der Lagerung müßte also zu der sonder- lichen Annahme kommen, daß eine in sich geschlossene kreisrunde Ver- werfung im Innern des Hügels existiert, und daß eine Säule von 200 m Durchmesser und an 1000 m Höhe sich in das Innere des Hügels wie der Kolben einer Dampfmaschine in den Zylinder hineingesenkt hätte. Die Erosion müßte dann heute gerade da Halt gemacht haben, wo der Gips des oberen Zechsteins mit dem Zylinderrand Zusammentritt!. Durch einen derartigen Notbehelf hat man ja seinerzeit auch die Klippe der Mythen auf dem Schweizer Flysch mit einer solchen ,, pilzförmigen“ Lagerung erklären wollen. Lehnt man diese Vorstellung als ungeheuerlich ab, so bleibt nichts anders übrig, als die Auflagerung des Muschelkalkes auf den Gipsen anzu- erkennen. Nicht anders wird es sich bei den weniger gut aufgeschlossenen Vor- kommen am Behälterskopf und bei Bückerode verhalten. Wir müssen uns also damit abfinden, daß zwischen Hundelshausen und Wendershausen durchweg mit einer erosiven Diskordanz in einem Gebiet, welches auf der Karte durch besondere Linien abgegrenzt ist, Muschel- kalk auf Zechstein auflagert. Es ist ferner aus der Karte zu entnehmen, daß in einem ähnlich gelegenen Verbreitungsgebiet auch schon der untere Buntsandstein in seiner Auflagerung Unregelmäßigkeiten zeigt. Am Abhang des Roggenberges bei Vollung und nach Hundelshausen zu, ferner westlich von Hundelshausen verschwinden unter völlig gleich- artigen Verhältnissen unter der liegendsten Stufe des Buntsandsteins zu- Fiy.6. Profil über den Gottesberg bei Hundelshausen. . 1:10000. H G W. Hundelshausen o N. Roggenberg Kümmel rotskopf Scbwimelstein S. Fi(f. 7 Schematisches Profil durch den AUendorfer Horst bei Hundelshausen Fici. 8 Schematisches Profil durch das Illertal * n der Amplituden bis Me 51 30 16 1 5 j zu 75 p. 14. i P 9 6 30 1.5 0.5 1 2.4 i S 10 29 . 2.0 1.3 2.5 e L 15% Ganz unsicher. M 24 % 6 4.0 (5.0) F 10 (0) 19. i 21 12 51 0.3 Wien. S 13 24 2.6 10 10 F 20 70 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft fQr vaterl. Cultur. März 1908. a a Zeit h m s Amplitude AE An 9 Az h 1000 km Bemerkungen 2. 2. 5. 11. 12. 13. 13. 14. i P e S e L M F i P S e L M F i P i S e L Mn Me F P L M F e S Me Mn F 15 41 23 5 (10) 16 7 10 ? 20 34 4 (45) 21 101/, 17 30 2 30 50 41 12 42 10 3 (8) 1572 20 > 10 9 V2 19 34.8 20 13 6 56 bis 7 0 18 31.5 37.5 41 (52) 19 31.3 34.6 39.5 40 20.0 1.5 4 10 8 1 5 13 2 4.5 1 1 25 22 17 11 7—9 0.6 2 1.5 4 2.5 14 125 <1 1 0.3 1.5 2 <1 1.3 2.5 1.5 2 8 230 <1 9.2 0.6 Nur in N festzustellen. Ausfall der Zeitmar- kierung; aus Sinj (Kroatien) gemeldet. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 71 März 1908. Datum Phase Zeit h m s “ Periode A ae mplituc an p le AZ A 1000 km Bemerkungen 15. e 7 41.5 0.7 Padua und Venedig. M 42.7 2 <1 F ? 15. n Ausfall der Registrie- rung. 15. e P 11 19.4 3 2 2 i 19.5 F 11.7 17. 1 36 Beben durch Unruhe gestört. 19. P 3 18 49 i 19 13 1.7 1.8 1.8 F 24 V* 23. e 12 41.4 Durch sehr starke Un- S 52 ruhe beeinträchtigt. M 13 20—30 F 14.0 24. e 22 15 Sehr starke Unruhe. S? 18.5 M? 35 F ? 25. e 19 11.9 S 18.2 M 40 — 50 F 20.4 26. i P 23 16.5 13 15 10 Chilapa, Mexico zer- 277 S? 27 stört. M 56.5 20 277 Es folgen viele M 0 5.5 18 175 Maxima. T? N Componente un- r 0.0 leserlich. 27. p 4 0.5 Gleicher Herd wie bei M 40—45 22 54 dem vorigen Beben. F 6.5 72 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. März 1908. Datum Phase h Zeit m s t« Periode j A ae b mplituc an b e AZ b A 1000 km Bemerkungen 27. P 19 0.5 1.6 <1 F ? In Unruhe. Apri I 19Ü* 1. i P 9 11 38 Nur in N. e L 14Va 3 1.8 4 M 1 6 3 6 F 25 2. i P 6 2 8 1.6 1.0 0.7 e L 24‘/2 M 25 14 5 8 F 7 0 4. i P 6 26 7 1 1.2 0.7 6.7 i S 34 23 5 <1 <1 e L 50 22 5 15 F 7 10 7. P 1 30.5 Sehr schwach. M 2 17 L 2 33.5 Unruhe. F ? 11 1 10. P 0 5.2 M 52 Durch Unruhe gestört. F 1.4 16. i P 17 46 6 h 51 50 1.5 0.7 0.7 h 55 (0) 10 5 7 F 13 25 10 10 5 VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 73 April 1908. 3 "3 Q CU Zeit h m s Amplitude A, A 1000 km Bemerkungen 19. 21. 2A, 237 26. i P R i S e L M F i P e LMj M0 i P i S e L M M2 m3 F i P e L M F 8 (9) (13) (17) (31) (35) 9 20 15 16 22 55 0 15 23 58 14 0 9 25 25 35 46 7 22 3 40 23 0 48 1.5 1.5 9 11 1.5 22 13 1.5 6 45-50 20 20 1.5 15 5.5 3.5 15 6 0.3 10 0.6 2.5 1 15 20 1 3.5 5.0 3.5 18 0.7 5 3 1 5 1 15 30 0.5 5 Die Zeitmarkierung versagt von 8h 0 bis 9 h 15. Min. sind interpoliert, daher unsicher. 10.3 Sehr scharfer Einsatz. Mai 1908. i p 1 0 19 1.7 1.2 2.2 8.4 i S 9 58 5 4 4 e L (25) Mi 32 18 6 10 m2 41 V* 15 20 m3 45% 15 20 F 2 25 74 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Mai 1908. Datum Phase Zeit h m s a» Periode Amplitud ae an a 1 p e AZ P A 1000 km Bemerkungen 5. i P 6 31 37 2 9.6 i S 42 18 9 5 5 e L M 7 8 28 75 80 Mn 15 21 80 Me 19 21 75 F 8 10 i P 11 26 36 1.7 0.7 0.7 Sehr deutlich. i S ? L M, (52) 35 15 15 m2 12 1 17 6 6 F 20 11. L !4 39‘/2 23 5 4 F 52 12. i 20 38 16 3.5 0.4 0.5 i 52 44 T sehr unregelmäßig. M 21 9 15 6.4 3.5 F 49 15. i P 8 42 35 0.5 1 1 9 R 45 30 10 6 6 i S 51 44 2.7 8 5 e L 9 8 25 7 16 Mn 15 17 57 37 M 18 17 50 F 10 20 In E folgen noch meh- rere Anschwellungen. 17. i P 12 34 44 2.0 5 7.5 1.3 Calabrien. i S 37 56 2 (1.9) e L «>74 8 22.5 12.5 M 42 8 o 5 22.5 F 13 20 20. L 8 40— 9h0 13 2 F 9 74 VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 75 Mai 1908. g '■O Amplituc e A 3 -4-> cS Q Phas( Zeit *2 o> Oh ae an AZ 1000 km Bemerkungen h m s s 9 28. i P 8 27 4 0.6 0.3 0.5 Kecskemet, Nagij- i 34 1.5 0.7 0.7 Köres Szegled (Un- garn). i 51 1.5 L? 28 27 2 3 5 F 33'/, 30. e L 15 0 11 2.5 3.0 Juni 1908 • 2. P 22 34.4 0.9 Sestola (Modena) sehr F 38 schwach. 3. i P 16 4 27 2 1.3 0.7 Registrierung undeut- M? 23'/, 21 18 4 lieh. m2 27 11 11 23 F 17 30 3. e 21 32 Nahbeben, sehr schwach. F 33 9. e L 10 5 M 15 13 2 F 30 e L 19 38 1.5 Aus Alfio (Catania) F gemeldet. Sehr 40 schwach ! 23. 1.6 3 Beben. 14h 143/4, 16h Smyrna. Zeit- markierung fehler- haft! 25. P 22 25.9 Sehr schwach. F 45 27. e 14 43 48 8 1 Einsätze sehr undeut- L 15 3 18 lieh. M 13 14 4 7 F 16 5 76 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Juli 1908. g O Amplitude A 3 ri Ö m £ Zeit 5 ae 1 an AZ 1000 km Bemerkungen h m s s 9 9 9 8. i p 12 56 49 3.4 i s 13 2 0 L 6 M 12 18 4 11 F 14 15 P 16 42.6 S? 48.0 M 53—55 14-22 3 4 F 17‘/4 10. P 2 15.3 M 17.6 4-6 13 10 0.5 Hohe Tauern. F 30 P 6 41.9 M 43.5 4 3 0.5 Hohe Tauern. F 55 13. i P 21 15 0 i S ? e L 34 M 47 14 5 7 F 22 (45) 21. P 8 14.0 0.6 Slatina b/Esseg (Kro- atien) F ? in Unruhe. 26. L M 16 56 17 4 16 2 F 40 L 18 12 F 40 31. P 7 35.4 0.6 Moggio (Udinese). M 36.5 3 2 3 F (40) VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 77 August 1908. Amplitude A 3 75 Q rt JZ CU Zeit <*> cu ae an AZ 1000 km Bemerkungen h m s s V- n 10. L 16 5 18 4 4 Stundenangabe un- M 9 15 4 sicher. F 16 20 14. i P 15 2(P) 4 7 3.7 (Jhrangabe fehlt! i S 8 7 i P — i S = 5.5 min. M 7 36 Dauer ca. I1/* Std. 20. i P 2 57 11 Stundenmarkierung L 3 22 fehlt, Minutenan- gabe unsicher. F 4 (15) 20. P 5 50.2 2 1 1 L 6 27 20 6 6 29 16 6 5 F 7 20 20. gegen 14h Vogtlandbeben. Zeit- angabe fehlt! 23. i P 20 21 5 2 10 2 5.4 iP, 23 0 i S 28 8 6 3 4 L (31) M 35 5 7 6 F 21 > In Unruhe. 24. i P 21 23 15 2 6 4.2 P2 25 10 2 15 2 i S 29 12 L 33 M 37% 6 11 10 F 22 15 30. i P 11 33 5 2.5 S 37 4 L 42 11 3 F 12 80 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. November 1908. Datum Phase Zeit 1 Periode A ae mplituc an e AZ A 1000 km Bemerkungen h m s S h h h 2. P 5 27 Uhrmarkierung aus- gesetzt. o.l 1 4.: 3 deutliche Nahbeben, Uhrmarkierung aus- gesetzt, im Vogtland gefühlt. 4.1 5.j Uhrmarkierung ausge- setzt, im Vogtland gefühlt, Uhrmarkie- rung ausgesetzt. 6. M 13 62 44 Uhrangabe fehlt. 6. M 18 9 8 dto. dto. 9.1 10.) L 18 3 dto. dto. n. 13 14 8 7 dto. dto. 12. • - 1 3 dto. dto. 19. M 6 Uhrangabe fehlt, durch Unruhe verdeckt. 22. M gegen l1/^ „ 8 Uhrangabe fehlt, durch Unruhe verdeckt. F »7* Uhrangabe fehlt. 23. „ 13V2 dto. dto. F .. dto. dto. 28. „ 22 Uhrangabe fehlt, in starker Unruhe. 30. „ 22 Uhrangabe fehlt, in starker Unruhe. 12. M 28. P M 13 4 Dezember 1908. 19 140 3 16 11 525 E unlesbar. Zeitmarkierung fehlt! Messina zerstört. Zeitmarkung fehlt ! VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 81 Im Januar Störungen in den Apparaten. Februar 1909. s 75 rung 22- M 5 22 12 3 3 F 6 10 • VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 83 April 1909. Datum CU s Amplitude ae an az |X fi [1 A 1000 km Bemerkungen 17. P gegen 8 15 Zeitmarkierung fehlt! F „ 10 30 25. e L 5 52 ca. 32 Mx 59 16 4 Me 6 0 14 3 F 6 30 26. M 6 2- 23 9 10 30. i P 6 16 57 M 23 10 bis 42 32 F 7 13 30. P 21 (15) S 19 7 2 Mn 22 5 21 6 Me 11 14 4 F 23 10 Juni 1909. 3. e P 18 53.7 e S 19 3.0 7 12 15 L 22 Mni 33.5 25 188 Mn2 36.5 18 114 mN3 37.7 17 94 Me 42.3 19 88 F 21 30 8. gegen 6 bis 9h 9. gegen lh 11. i, 21 27. e 7 30 M 23 22 15 Sumatra, \Zeitmarkierung ver- / sagt. Marseille. Zeitmarkierung ver- sagt. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 85 Bis 19. Juli außer Betrieb. Störungen in den Apparaten, vergl. Einleitung. Juli 1909. Datum Phase Zeit h m s 01 Periode Amplitude Ae I An | Az p, | p. [ p A 1000 km Bemerkungen 22. e P F 23 19.4 40 Vom 26. Juli bis Ende August Störungen vergl. Einleitung. September 1909. 7. S. 6. i P 4 38 5 1.8 1.0 i S 39 43 1.8 2.3 e L (47 Vs) 6 1.3 (55) 9 1.3 F 5 (10) i P 5 1 29 2.7 2.3 i S 11 16 3 1.8 e LMt (27) 25 18.3 m2 (48) 16 4 F G (29) 1 i P 19 2 24 2.0 0.5 1 i S 19 50 35 2.1 1.3 L M1 (20) 21.3 m2 (30) 15 3.6 F (50) 0.8 2.5 11.7 6.3 Starke Unruhe beson- ders auf der E-W- Komponente. In der Nord-Süd-Rich- tung lag die Masse fest. Zeitangabe unsicher, da die Linien des Seis- mogrammes mehr- fach durcheinander- laufen. VorEintritt des Bebens starke Unruhe. 86 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Oktober 1909. Datum Phase Zeit h m s Q O 3 r | s Amplitude ae 1 an az [i p. p A 1000 km Bemerkungen 3. e 13 10 26 1.8 1.6 1.0 L 19 58 2.1 0,5 1.0 F (30) 8. i P [10] 56 31 0.4 0.8 Stundenangabe infolge durcheinander lau- [11] 0 38 0.7 1.1 1.3 fender Linien un- M (3) 1.6 51 65 sicher; vor dem L (8) 4.6 2.1 2.8 Beben starkeUnruhe F nach (30) 10. e 5 39 18 1.8 0.3 0.5 M (40 V 2) 2.0 4.0 3.5 F (46) e 56 29 1.6 0.5 1.0 (59) 2.2 6.0 5.0 F 6 (3) 20. i P 23 49 44 1.9 1.3 1.5 i S 56 17 9.0 8.4 12.3 (59) 9.0 5.7 5.0 L 0 (4) 9.1 15 38 M (13) 16.4 196 296 (30) 10.8 10.2 23.3 F 1 (5) 29. i P 16 9 33 5.5 1.2 1.2 i L 11 39 8.5 1.5 12.0 F (20) i P 17 42 21 i L 44 53 10.2 4.2 M (45) 10.2 3.6 18.1 F 18 (10) 31. i P 10 40 18 3.9 1.8 7.4 i S 54 10 11.9 2.6 6.1 11 (6.5) 33.0 63 67 F (52) VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. S7 November 1909. Datum Phase Zeit h m s a. ae A-N AZ looo km h m s s b h 9 i P 18 58 15 Sehr schwach. i S 19 9 17 Kaum wahrnehmbar. e (28) M (37) 15.4 2.5 F (50) i P 5 8 5 12 6 Deutlich, aber sehr schwach. i S 19 21 M F (50) 6 (30) 16.5 8.2 4.6 5 h 22 bis 5 h 28 m Wechseln d. Bogens. Juni 1910 i P 6 15 24 e 7 (5) 22 12 11 i P F 7 7 44 8 (30) Liegt in den langen Wellen des ersten Bebens. i P i S 2 6 (26) 8 (28) ' Einsätze sehr schwer wahrnehmbar. e (11,5) 6.5 11 17 F 3 (26) i P i S 13 0 56 11 15 Bodenbewegung sehr schwach. e 32 i P 19 49 4 i S 56 53 e 20 6 17.4 13 7 14. 92 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 93 Juni 1910, g CD Amplitude A ~ct Q Phas< Zeit 0> Oh ae an AZ 1000 km Bemerkungen h m s s b b b 29. e F 9 8 25 Erdbewegung sehi schwach. i P 11 5 46 Bodenbewegung sehr schwach. i S Nicht auf findbar. e (20) 23 52.9 5.6 Mi 12 (21) 21.2 13 16 m2 (44) 11 17 F 13 14 i P 14 38 2 Schwache Bodenbe- F (55) wegung. 29. 50 44 59 58 18 20 42 25 53 0 (30) (15) 22 Juli 1910. 13 Vom 12. — 28. Juli an wurde dem Seismo- graphen eine Repa- ratur vorgenommen. August 1910. 1. 2. i P i S e F 10 (42) 1.5 5 (44) 2.0 23 10 (48) (11) Uhrmarkierung setzte kurz zuvor aus i S-i P = 2 m 15 s. Beben geg. 3h, nähere Zeitangabe unmög- lich. Dalum 94 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. August 1910. 5. 17. 21. i P i S e M F i P i S e M F i P i S e F e F Zeit h m s 1 39 33 49 49 2 (7) (15) 3 11 12 9 34 16 12 (28) (35) 13 (10) 5 56 58 6 6 26 (14) 7 29 16 15 30 36 16 An Amplitude Am ; A. 12 2 8 15 10 4.5 12 16 I 6 A 1000 km September 1910. Bemerkungen i p 0 57 8 i S 1 7 13 e (27) M (30) 14 18 10 F 2 (15) i P 14 33 19 m Zwischen 1 1 (/§ u. I3V2I1 häufig kleinere Ein- sätze, besonders deutlich in der N-S- Komponente. Ge- nauere Zeitangabe wegen Durcheinan- derlaufen der Linien und wegen Störung in der elektrischen Zeitübertragung un- möglich. Unregelmäßiges Ar- beiten der elektri- schen Zeitübertra- gung, daher Minuten und Sekundenan- gabe unsicher. Einsätze sehr scharf, aber schwach, i S stärker als i P. Uhrkorrektion un- sicher ! Sehr schwach. Sehr deutliche Ein- sätze. j Sehr schwach, aber deutlich. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 95 September 1910. Datum Phase Zeit h in s | ™ Periode Amplituc ae an p. 1 !-i le A Z b A 1000 km Bemerkungen 2. i S 43 27 e 15 (1) Mj (3) 16 12 9 In der Struktur dei Wellen dem vorher m2 (15) 6 7 gehenden sehr ähn m3 (23) 7 lieh. F (45) 6. i P 20 21 27 Sehr schwer erkenn- bar. i S 31 25 e (58) M 21 (9) 18 12 10 F (40) 7 P 7 30 5 Einsätze äußerst schwach. S' 40 27 e 8 (0) M 22—25 20 26 7 F 9 (0) 9. i P 1 25 17 i S 35 15 L (50) M, (58) 23 79 55 M2 2 (3) 16 21 14 F nach 3 h 16. P 23 21 (14) 2 2 2 Minutenlücke. 177 M 0 3 12 5 5 F 0 8 24. P 3 45.8 S 55.2 6 M 4 23 27 18 18 F 5 96 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur, Oktober 1910. 3 c3 Q Phase h Zeit m s tn Periode Amplituc AE I an IX [X le A Z ft A 1000 km Bemerkungen 4. L 23 15 10 2 F 24 5 26. ei 15 44 38 e2 45 55 M 46 9 3 F 16 Novem her V, )10. 6. e 21 (0) e 12 M 17 17 12 16 F (45) 9. i P 6 21.5 8.2 Vielleicht 2 Beben. P2 24.1 i S 31 L 50 Mx 7 10 25 42 57 m2 58 20 45 22 F 8 55 10. i P 12 42 2 In E sehr schwach. L 13 30 22 14 M 40 22 27 F 14 10 12. L nach 18h 14. i P 7 46 32 9.2 i S 56 52 L 8 15 Mi 20 14 8 10 m2 33 10 9 F 9 (5) In Unruhe. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 97 November 1910. Datum Phase Zeit h m s « Periode Aj ae mplituc an 9 e AZ 9 A 1000 km 15. i P 14 40 52 8.4 i S 50 31 i 56 44 L 15 10 M 25 19 13 23 F 50 26. i P 5 0 51 2.2 i S 4 30 L M 6 0 22 66 55 F 7 5 28. i P 2 38 41 9.0 i S 48 49 L 3 9 M 18 15 10 16 F 40 Dezember 1910. 1. e 16 1 L 30 19 F 17 (5) 4. i P 14 7 34 2 1 S? 12 L 15 F 20 5. i P 16 38 31 e L 17 (18) F 17 45 13. i P 11 44 56 i S 53 10 Bemerkungen Bogenwechsel. Schwach aber deutlich Unsicher. Sehr schwach. 1912. 7 98 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Dezember 1910. Datum Phase h Zeit m s t« Periode j A ae 9 mplituc an h le AZ h A 1000 km Bemerkungen 13. L 12 0 Mx 5 21 110 58 m2 13 20 106 43 m3 16 20 82 57 F 13 (0) 16. i P 14 58 40 San Salvador. ? 15 2 46 i S 10 (0) L 25 12 M 53 14 80 43 F 16 55 L 19 42 F 20 20 23. i P 0 19 40 S 27.8 M 44 15 28 F 1 20 29. L 14 3 In Motorstörung. F 23 30. i P 0 59 38 Zeit vielleicht */2 Min. i S 1 3 32 unsicher. L 10.5 F ? In Unruhe. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 99 Januar 1911. B Zeit O) O Amplitude A 3 "cS Q in a us CU & CU ae an AZ 1000 km h m s s P P- 1. i p 10 2 4 16 i s 30 8 L (36) M (45) 10 37 28 F 11 (17) i P 15 5 34 i S 11 L 19 M (27) 10 10 4 F 47 3. i P 23 28 25 i S 33 L 38 M 45 li 450 F 0 10 4. i P 9 40 i S 53 L 58 M 10 3 8 20 17 F 10 30 6. L 15 34 11 24 F 41 7. L 2 50 15 13 10 F 4 0 14. i P 18 1 42 i S 11 36 L 15 7 4 18 Mi 16 7 2 4 m2 27 F 50 Bemerkungen | Unsicher. Zeiten bis auf */2 Min. unsicher. Turkestan. Katastro- phales Beben. Schreibfedern stießen an die Sicherungen, N-Feder wurde be- reits zu Beginn aus der Gleichgewichts- lage geworfen. Einsätze in starker Unruhe. Sekundenangabe un- sicher. 100 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Februar 1911. 18./19. sehr starkes Beben. Uhrwerk nicht im Gange. März 1911. s O Amplitude A 3 rt Q in ci Oh Zeit o> Pu ae an AZ 1000 km Bemerkungen h m s s 9 P- P- 19. e P 15 51 (2) Nahbeben. M 51 24 3 4 F 52 Instrumente zeitweise außer Betrieb. April 1911. 10. 18. 29. i P 15 47 32 7 10 20 50 40 7 19 20 e L (52) Me 53 27 9 21 50 10 26 mn 54 30 7 10 F 16 (8) i P 18 54 39 3 2 L 58 M 19 5 9 11 F (17) i P 18 21 26 2.4 4 2 (i S) 26 46 2.4 e L 38 Me 48 15 32 mn 50 15 18 Me 51 15 47 e P 6 7 M 8.5 2.5 11 F 11 Sehr stark. Nahbeben. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 101 Mai 1911. Datum Phase h Zeit m s i “ Periode Amplitude Ae an az p 1 p p A 1 000 km Bemerkungen 4. i P 23 46 27 1.9 2 5. e S 55 35 18 132 M 56 48 16 190 0 11 46 16 143 F 1 10 i P 46.5 5 1 e L 55 M 58 10 3 F 2 30 Juni 1911. 7. e P 11 16 e L 26.5 M 12 5 18 646 377 F 15 8. i P 0 4 13 3.2 12 i S 8 42 6 22 Me 13.9 7.2 22 Mn 6.3 32 T 0 40 15. i P 14 34.5 M ca. 13 ca.]500 17. 5 30 Juli 1911. P 22 12.6 9.2 S 23.0 L 45 M 46.5 19 15 12 F 0 Mexiko. Zeitmarkierung sagt ! Zeitmarkierung sagt! ver- ver 1. 102 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Juli 1911. Datum Phase Zeit h m s j u Periode Amplitud ae an H 1 P- 1 e AZ V- A 1000 km Bemerkungen 4. Gegen 4h starkes Beben. M 12 >190 >200 Angeschlagen. 4. P 19 42.8 Sehr schwach. F 20 5. P 2 20 2 S 29 mn 39 17 32 Me 49 11 12 F 4 8. i P 1 3 5 M 5.5- ca. 4 68 Ungarn. F ? 8. i P 1 54 42 ? 2 3 9 F ? 12. 4 30 Sehr starkes Beben. Zeitmarkierung ver 19. P 10 20.5 sagt. M 38—40 7 2 F 12 25 19. P 20 34 M 21 20 ca. 18 12 F 23 29. gegen 10h M 22 7 Nur in E. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 103 August 1911. Datum Zeit O) ”0 o Amplitude A Bemerkungen 3 03 Q Ui a Oh 3 Oh ae an AZ 1000 km h m s s h b P 13. P 2 45 0 s 53.5 me 3 16 19 42 Mn 21 17 35 F 5 20 14. i P 12 37 56 Registrierung setztaus M ? F (15) 14. P 16 47.7 .. „ „ 14. P 23 33 11 1> '1 157 S 40 M ? F 1 15. P 12 2.8 11 M ? F 13 10 16. L 0 27 bis 32 19 19. e P 10 27 me 49 16 4 Mn 50 14 3 F 11 20 20. e P 18 20 Schlecht ausgeprägtes e S Seismogramm. 6.5 M 19 F 19 40 22. e P 22 36 M 43 12 15 > 12 F 23 20 29. ? 18 42 Mn 19 9 21 4 Me 10 21 5 F ? 106 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. November 1911. 2 0) Zeit a> o Amplitude A Bemerkungen a in 2 Ph QJ Ph ae an AZ 1000 km h m s s b h h l. e L 9 52 M 10 21 18 36 F 11 8. e P 14 23 (15) Zeitmarkierung ver- F 16 30 sagt ! 13. P 16 24.5 S 31 Me 17 0 16 53 6 14 46 Ms 17 1 14 25 7 14 25 F 18 30 14. i 14 0 41 S 4 45 Me 11 12 6 Mn 13 F 14 30 16. i 21 27.1 Großes Süddeutsches Beben, Pendel um- 18. e L 8 30 gefallen. F 9 20. Mn 14 44 24 11 Einsätze durch Un- Me 47 18 30 ruhe verdeckt! 22. i 23 24 32 237 Mn 28 6 5 F 0 28. e L 16 46 Me 56 20 10 F 17 30 VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 107 Dezember 1911. Datum Phase Zeit h m s “ Periode Ai ae P nplituc an P e AZ P A 1000 km Bemerkungen 4. e P 14 44.7 Zeitmarkierung zeit- e L 58 w'eise versagt. F 15 15 6. e L 23 54 7. 59.6 25 10 F 0 30 11. i P 11 13 0 i Se 27 26 2 i Sn 30 2 2 e L 52 F (13) 16. e P 19 27 (42) 2 Beben? i . 31 45 12 21 e L 46 Mei 20 13 20 220 Mn i 13 18 58 Mn 2 17 16 39 ME 2 24 15 112 F 22 30 20. i P 6 2 (18) 2 1 e L 25 Me 40.3 18 42 Mn 44.5 16 40 F (7) 22. L 13 — 15h 23. e 21 29 e L 49 bis 22 30 31. Me 7 18.5 17 29 F (8) Störung. 108 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Gemeinsame Sitzung (mit der Staats- und rechtswissenschaftlichen Sektion) am Montag, den 25. November. Herr Berghauptmann Schmeisser sprach über Gewinnung und Austausch der wichtigeren mineralischen Bodenschätze bei den Völkern der Erde. Die im Weltverkehr stehenden mineralischen Bodenschätze sind: Kohle, Eisen, Mangan, Gold, Silber, Blei, Zink, Kadmium, Kupfer, Diamant und andere Edelsteine, Zinn, Nickel, Aluminium, Platin, Kobalt, Chrom, Queck- silber, Wismut, Molybdän, Arsen und Antimon, Wolfram und Schwefel, Thorium und Cerium, Uran, Radium, Vanadin, Graphit, Bernstein, Erdöl, Glimmer, Asbest, Steinsalz und Kalisalze, Phosphate, Chilesalpeter. Zahlreiche Gesteine, ja sogar Wasser und Luft sind zu nennen, von denen man ersteres als „weiße Kohle“ zuweilen bezeichnet. Unter diesen heben sich nach Masse und Wert oder wirtschaftlicher Bedeutung Kohle, Eisen, Mangan, Kalisalze, Phosphate und Chilesalpeter, Gold, Silber. Blei, Zink, Kupfer, Diamant, Zinn, Nickel, Aluminium, Erdöl heraus. Diese möchte ich behandeln. Mit Rücksicht auf die politischen Spannungen, welche aus dem wirt- schaftlichen Wettbewerb der Nationen sich mehrfach ergeben haben, und auch zurzeit bestehen, werde ich die Vereinigten Staaten von Amerika, Deutschland, Großbritannien und Frankreich mehrfach in meinen Be- trachtungen einander gegenüberstellen. Kohle. Wenn ich von Kohle rede, ist in der Ptegel Steinkohle gemeint, da Braunkohle jener gegenüber an Bedeutung sehr zurücktritt und meist nur lokalen Wert hat. Die größte Steinkohlenablagerung des europäischen Kontinents beginnt bei Osnabrück und erstreckt sich, vielfach unterbrochen, durch das nördliche Westfalen, die Rheinprovinz, Holland und Belgien hindurch in die Departements des Nord und des Pas de Calais von Frankreich und ist jenseits des Kanals in England in der Grafschaft Kent nachgewiesen worden. 70 bis 76, höchstens 96 bauwürdige Flöze mit durchschnittlich je 90 cm Flözmächtigkeit stehen dort an. Während die größte Flözmächtigkeit dort nur bis zu etwa 2,50 m steigt, liegen die mächtigsten Flöze, bis zu 13 m Dicke, im zweitgrößten Kohlenbecken Preußens, in Oberschlesien. VI . Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 109 Dem niederrheinisch-westfälischen Typus gehören die Flöze des Walden- burg-Neuroder Bezirks, des Saarreviers und des Königreichs Sachsen bei Zwickau und Lugau an. Umfangreiche Braunkohlenlagerstätten liegen in den Provinzen Schlesien (Oberlausitz), Sachsen, Brandenburg, Posen, Hessen und Rheinland. Die preußisch-oberschlesische Steinkohlen-Ablagerung setzt hinüber nach Österreich und nach Rußland. Außerdem liegen in Österreich-Ungarn noch die Fortsetzung des Waldenburg-Neuroder Beckens, Felder in Mittel- und Westböhmen, sowie geringere Ablagerungen in Ungarn. In Rußland ist die Fortsetzung der oberschlesischen Ablagerung in Polen, ferner noch Kohlengewinnung im Donezgebiet, bei Moskau, im Ural, im Kaukasus, in Turkestan, in West- und Ostsibirien bekannt. In Frankreich befinden sich noch Steinkohlenablagerungen bei St. Etienne, Creuzot und Autun. Die Fortsetzung des Saarbeckens ist bei Pont-ä-Mousson, allerdings in großer Tiefe, erbohrt worden. In England-Schottland stehen Kohlen an in 3 Gruppen: 1. im Norden: in Durham, Northumberland und Schottland; 2. im Zentrum: in Yorkshire, Derbyshire, Staffordshire, Chestershire, Nottinghamshire, Worcestershire, Leicestershire, Warwickshire; 3. im Süden: in Südwales und Kent. Berühmt sind die fast rauch- losen Kohlen, die von Cardiff, Newport, Swansea in See gehen. In den Vereinigten Staaten Nordamerikas werden 6 Kohlenfelder- provinzen von der geologischen Landesanstalt unterschieden : 1. Die östliche Provinz mit den Anthrazitfeldern von Pennsylvanien und den Weichkohlenfeldern der appalachischen Region, also West-Pennsylvanien, Ohio, Virginia, Kentucky, Tenessee, Georgia, Alabama und Nord-Carolina. 2. Die innere Provinz mit den Weichkohlenfeldern von Michigan, Illinois, Indiana, West-Kentucky, Jowa, Kansas, Missouri, Okla- homa, Arkansas und Texas. 3. Die Golfprovinz mit den Braunkohlenvorkommen von Alabama, Mississippi, Louisiana, Arkansas und Texas. 4. Die Nordprovinz mit den Braunkohlen und subbituminösen Kohlen von Nord- und Süd-Dakota, Ost-Montana und Nordost-Wyorning. 5. Die Rocky-Mountain-Provinz mit den Weich- und subbituminösen Kohlen von West-Montana und West-Wyoming, Colorado, Utah und Neu-Mexiko. 6. Die Provinz an der pazifischen Küste mit Washington, Oregon und Californien. Die wichtigsten Kohlenvorkommen Canadas liegen in Neu -Schottland an der Küste des Atlantischen Ozeans, in Britisch-Columbien und an der Küste des Stillen Ozeans auf Vancouver-Island. ) Geschätzt. '*) Stein- und Braunkohle zusammen. 110 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. j> 3 P 3 CO ^ ST» 3 5 C.v-2 CD '-j'» UJ CfQ C/2 t0 ^ ^ -T CD »-* C/3 CD Q3 £ 2.p g 5-c - D C ^ pc 3 3 ?r 3 ^ O ^ ^ O 7? r c CD CD CD *— « i-* b© m ?3 w Cicocnaico4»»coQOGo»-»CiCi t© b© t© ^GO^I^OO^ »-> bSkö^isaiCaj^ovicoo^^w Mi-h*^ oo o co » 00 Ol CO Ol 00 GO m b© co 00 OlJ- Ci O O CO QI 00 O CJi I 00 CO I 00 CO ' 4* Ci 4* Ci O 00 4* o CO CO b© 00 CO 00 o b© b© 4* b© 4^ c Go 4* 4* ■— bs co © ooit»^ H* bS C0 >^i—bSbSCO£“i-‘'CO©COO<ü<''J cd oj^.^ooOkSi-w^a'^oco^icRü'O1 — . 0'0JCtO00^®^lCi-itS“QÜ>CJ'i-.|£i.Oe» 1-k i— H'i-bSl®C0i(>M0JCif‘O>— co cid co äs cr> bs Of co b© b& cn -*(f».-^lQ0C0C0CJ’05 00O^I,bsco©tscoco©©©of^jbsc?!coco»e»bs^i ©oco-obs©©-^^-^'0’^»©afH->co©^3©© bS I ■ 00 tS ►— i— i-KtSlSCOi(»^uj^*ii*UJUi'. t— i{a.h^.bs©fcsi(5«cj,co'jooa—3<©OObSOO©CHCO©©OObSC5C5*'3bS ©^3©>-*^~j'g>og>>‘g1g,-a bS »— IS l^> >-. i— — b£bSC0^^-CO — iP. 05 P5 <— >£»bSi-*t£i»C!fbS©t-‘U<£«CO>— ^iht».^i©©© aiht“>bSbs©©b0ü<^cni— >t».>-.»-o-^ooo‘'©^> ©©^■ODC5i— ^]©00g'00©tSOtsa5G000^3ie» © o © H o 3 3 a> 3 bS i— tSi^> *-*■ ^ _» _b b© bS co >f*> H*. CO t« Ot © © öt >t».i^b--co©bs^bsacooo^iü'bsb£bs©ooüf 'oafbScrf*.,<10©©,<10f00^j't5»i-*coco©,^ ©«J © i— 0©0£» © co © © 05©it-00i cn o< © © cn * VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. Hl Aus der westlichen Union setzen Steinkohlenlagerstätten nach Mexico hinüber. In Zentral- und Südamerika ist keine Kohlenablagerung größerer wirtschaftlicher Bedeutung bekannt. In Afrika kennt man Steinkohlenablagerungen in der Kapkolonie, in Natal, in der jetzigen Oranje-River-Colonie, im Transvaal, in Deutsch- Ostafrika, nordwestlich des Nyassa Sees, und in Katanga. Auch im Süd- osten von Deutsch-Südwestafrika sind Kohlen erbohrt worden, ohne daß sie aber bis jetzt wirtschaftliche Bedeutung haben. Ein Teil der kohle- führenden Karrooformation ist an Verwerfungen grabenartig in die devonische Namaformation eingesunken. In Australien wurden geringere Kohlenablagerungen in fast allen Kolonien, in Neu-Südwales und Neu-Seeland von größerer Bedeutung gefunden. In Asien kennt man (abgesehen von den bei Rußland genannten Vor- kommen) Kohlen in der kleinasiatischen Türkei, in Ostindien, in Tongking, in Japan, in China im Nordosten, in Liautung, Schansi und Schantung (von Tsingtau aus durch die deutsche Eisenbahn erreichbar), im Westen, in Kansu und Schensi; durch die Vorkommen in Schansi sollen alle anderen Kohlenfelder der Welt in Schatten gestellt werden. Der Professor der Bergbaukunde Vicomte Inouje, welcher mich besuchte, um Eingang in die Oberschlesischen Bergwerke zum Studium des Spülversatzbaus zu erhalten, erzählte mir, daß die Japaner in der Gegend von Mukden ein Steinkohlenflöz von 60 m Mächtigkeit abbauten. Die Rangordnung der Länder der Erde in der jährlichen Kohlen- erzeugung (einschließlich Braunkohle) war 1910 folgende: Kohlen-Welterzeugung 1910. Länder Steinkohlen Braunkohlen Zusammen t. t t Vereinigte Staaten von Amerika 455 041 000 — 455 041 000 Großbritannien 268 677 000 — 268 677 000 Deutschland 152 828 000 69 547 000 222 375 000 Österreich-Ungarn 16 816 000 31 133 000 47 949 000 Frankreich 37 642 000 708 000 38 350 000 Rußland 24 744 000 — 24 744 000 Belgien 23 917 000 — 23 917 000 Japan 15 535 000 — 15 535 000 China 14 592 000 — 14 592 000 Kanada . 11 609 000 — 11 609 000 Indien und die englischen Be- sitzungen in Asien. . . . . 12 437 000 12 437 000 112 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. t t t Australien Kapland, Transvaal und Natal 12 264 000 — 12 264 000 (Afrika) 6 538 000 — *) 6 538 000 Spanien 3 349 000 211 000 % 3 550 000 Neu-Seeland 2 233 000 — 2 233 000 Niederlande 1 292 000 — 1 292 000 Niederl. Indien 600 000% — 600 000 Italien. .......... 562 000 — 562 000 Französisch-Indien 380 000% — 380 000 Schweden 303 000 — 303 000 Britisch Borneo 99 000% — 99 000 1910 Summa 1 163 545 000 1911 = 1 165 000 000 In Deutschland selbst verteilte sich die Stein- und Braunkohlen- förderung 1910 wie folgt: Preußen: Steinkohlen Braunkohlen Koks O.-B.-A.-Bez. : t t t ^ ) Oberschlesien 23,97 % ) Breslau ) AT. , , , . ' % (Niederschlesien 3,85%) 39 916 099 1 341 740 2 436 853 Halle a. S 7 693 41 116 479 146 155 Claustal Dortmund (Ruhrbecken zuzüglich 889 909 1 028 746 85 346 Rheinpreußen 61,91%). . . . 86 846 599 — 17 424 169 g j Saarbecken 7,58% j ( Aachen-Büren 1,88%) 16 310 347 13 085 850 3 444 859 Preußen Summa . . 143 970 647 56 572 815 23 537 364 Bayern: Berginsp.-Bez.: München 861 846 Bayreuth 61 279 646 240 — Zweibrücken 741 714 — — Bayern Summa . . 802 993 1 508 086 — Sachsen: Berginsp.-Bz. : Zwickau I und 11 .... 2 646 201 — 50 404 Oelsnitz i. E 2 188 247 — — Dresden 545 012 762 328 12 594 Leipzig — 2 833 207 — Sachsen Summa . . 5 379 660 3 595 535 62 998 r) Schätzungsweise. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. H3 Steinkohlen Braunkohlen Koks t t t Hessen — 481 582 — Braunschweig ..... — 1 741 306 — Sachsen-Meiningen . . . 31 500 — — Sachsen-Altenburg . . . — 3 934 324 — ■ Anhalt — 1 126 438 — Elsaß-Lothringen .... 2 695 059 — — Baden 1 650 — — Reuß j. L. — 4 781 — Deutsches Reich Summa 1910 . 152 881 509 69 104 867 23 600 362 „ 1911 . 160 700 000 — — Überaus wichtig ist die Frage der voraussichtlichen Erschöpfungszeit der Steinkohlenvorkommen der Welt. Darüber sind mannigfache Berechnungen aufgestellt worden, zuletzt von Professor Dr. Frech zu Breslau im Jahre 1910, dessen Ausführungen ich wörtlich folgen lasse: „1. Die geringste Gesamtmächtigkeit der Schichten und die geringste Zahl der Flöze besitzen die Kohlen- reviere von Zentralfrankreich (100 Jahre), Zentral- böhmen und des Königreichs Sachsen; im Waldenburg- Schatzlarer Revier und vielleicht in den nordenglischen Revieren (Durham, Northumberland) ist die Produktions- dauer etwas größer zu veranschlagen. 2. Wesentlich größer ist die Zahl der Flöze und die Mächtigkeit der gesamten Schichten in den übrigen englischen Kohlenfeldern (250 bis 350 Jahre), Nord- frankreich (350 bis 400 Jahre), Saarbrücken (300 bis 500 Jahre) und Nordamerika (200 Jahre?). 3. Noch günstiger liegen die Verhältnisse für Belgien (rund 800 Jahre), für das Aachener Becken und das damit zusammenhängende niederrheinisch- westfälische Kohlenbecken (mehr als 800 Jahre), sowie für die österreichischen Anteile an dem oberschlesischen Revier. 4. Die größte Schichtmächtigkeit (rd. 5000m) ) Voraussichtliche und Flözzahl besitzt das Steinkohlengebiet in | Förderungsdauer mehr Preußisch-Oberschlesien. J als 1000 Jahre. Deutschland ist, wie die auf eingehenden Untersuchungen beruhenden Schätzungen zeigen, in bezug auf den Kohlenvorrat das reichste Land Europas und wird in der Menge des vorhandenen Brennstoffes nur von Nordamerika und Nordchina übertroffen; in England ist lediglich die 1912. 8 Voraussichtliche Förderungsdauer 100 bis 200 Jahre. Voraussichtliche Förderungsdauer 200 bis 500 Jahre. Voraussichtliche Förderungsdauer 800 bis 1000 Jahre. 114 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. zeitige Produktionsziffer höher und bedingt eine raschere Erschöpfung der Kohlenlager. Auch Amerika geht offenbar einer rascheren Erschöpfung seiner ungleich gewaltigeren Vorräte entgegen.“ Ich darf übrigens hinzufügen, daß dem Internationalen Geologen- kongreß zu Canada im Jahre 1913 eine neue Kohlenvorratsberechnung der Erde vom vorbereitenden Ausschuß vorgelegt werden wird. Mehrfach ist die Frage aufgeworfen worden, welcher Ersatz denn für die erschöpfte Steinkohle vorhanden sein werde? Meine Herren! Wenn einmal diese Frage brennend werden sollte, wird die fortschreitende Technik, des bin ich gewiß, eine befriedigende Lösung finden. Eisenerze. Wie bei der Kohle, so liegt auch bei den Eisenerzen die größte europäische Ablagerung im deutschen Zollgebiet, und zwar sind dies die zwischen Metz und Diedenhofen anstehenden und in Luxemburg hinein sich erstreckenden Minettelagerstätten. Daneben treten in Deutschland auf: Roteisensteinlager an Lahn und Dill, Spateisensteingänge im Sieger- land, Eisenerzflöze (fast erschöpft) in Westfalen, Bohnerze bei Ilsede und Salzgitter, Spateisensteinlager im Spessart und Roleisenerzlager im Harz, Spateisenstein im Thüringer Wald, Brauneisenerzlager in der Schwäbischen Alb und in Franken, Magneteisensteine bei Schmiedeberg, Brauneisenerz in Oberschlesien und sonstige kleinere Einzelvorkommen. Aus Lothringen erstrecken sich die Minettelagerstätten nach Frankreich hinein in die Bezirke von Nancy und Bricy in einem Umfange, daß sie denjenigen Lothringens gleichkommen. Großbritannien hat Eisenerze in Cleveland, Northamtonshire, Lincoln- shire und im Nordwesten in Cumberland und Lancashire. In Schweden erheben sich berühmte große Magneteisenerzberge in Lappland an der Eisenbahnlinie Lulea — Narvik zu Gellivare, Kürunavaara, Luossavaara usw. und lagern Erze im Danemora-Distrikt. Rußland führt Eisenerze in Südrußland (Kriwoj Rog), im Ui’al, im Moskauer Becken, in Polen, in Finnland; Österreich-Ungarn in Steiermark (der berühmte steirische Erzberg), zu Nucitz in Böhmen, Görnör und Hunyad in Ungarn und Vares in Bosnien; Spanien in den Provinzen Biscaya (Bilbao und Guipuzcoa), Alava, Lugo, Oviedo, Leon, Navarra, Santander, Logrono, Soria, Teruel und Huelva; Italien auf den Inseln Elba und Sardinien, in der Lombardei und in Calabrien. Die Haupteisenerzgebiete der Vereinigten Staaten von Amerika liegen, soweit bis jetzt festgestellt, am oberen See, und zwar insbesondere in der Mesabi Range und im Marquette-Bezirk, in Alabama, Pennsylvania, in den Adirondacks, im Mississippital und in den Cordilleren. In Canada, Neufundland, Mexico, Cuba, Brasilien, Chile liegen be- trächtliche Eisenerzmengen in verschiedenen Provinzen. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 115 1911 44 250 29 879 15 768 16 800 10 044 * o o 00 co Gl t>. co 6 154 1 166 1073 374 Gl 363 lO 372 o o o o co H l>. x* m 00 . co co co co m o o CO co co c o L'xx !>. CO kO co co Gl m m G0 ■xf lO CO co kO o o co in Gl co r-» 00 iO X* 00 in m x-h rH rH m Gl x* lO Gl o xO 00 m o lO in o CO 00 O CO o Gl O 05 Gl kO t>« Gl C5 co o o O 00 Gl o 05 iO o GO co H !>. o 05 00 in iO Gl Gl Gl m in rH 05 in CO rH m Gl 05 in Gl !>■ Gl , 05 co o GM CO 05 00 05 O X* lO CN 1^ in 05 CO kO co "n* 05 co CO CO L'xx GJ CO lO Gl Gl o Gl CO in 05 GO 05 m in o* Gl rH r“ 1 rH CT> in o 05 in CO Ol T"H 00 CO GO co kO CO Gl CO — ) co 05 CO o X* 05 oo o o Gl o 50 (/) co I>X co CO 05 kO CO 05 O GO m Gl co 00 CO 05 ( X) m o • Gl • co rH • Gl r^. m o 05 lO x* in Gl *“• lO 00 rH 00 CO kO 00 co o o co Gl CO 05 co x* GO xf< co kO 00 00 Gl co 05 05 in t^-x rH o co 05 CO !>■ !>. 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Im Norden Afrikas sind in Algerien und Tunis weitverbreitete Lager von wachsender Bedeutung; die Verhältnisse in Marokko sind noch un- geklärt. In Togo, in Deutsch-Ostafrika stellen Eisenerze an, wie die primitive Eisenindustrie der Eingeborenen, die ihre Waffen vielfach aus selbsterblasenem Eisen fertigen, nachweist. In Transvaal und in Natal sind ausgedehnte Lager. In fast allen Kolonien Australiens, in Persien, Indien und China kommen reichlich Eisenerze vor, weniger in Japan. Weitere Funde sind mir in diesen Ländern bei fortschreitendem Kulturaufschluß gewiß. Die Welterzeugung an Eisenerzen betrug 1909: 1321/ 4 Millionen Tonnen. Die deutsche Gewinnung, einschließlich Luxemburg, des Jahres 1910 von 28 709 654 t im Werte von 106 830 000 Mark verteilte sich auf: Elsaß-Lothringen. mit 16 652 144 t Luxemburg = 6 263 391 = O.-B.-A. -Bezirk Bonn (Sieg, Lahn, Dill) . . . . = 3 236 788 = = Clausthal (Ilsede, Harz, Spessart). = 911 688 = ' Dortmund = 408 489 = Hessen. = 338 469 = Bayern = 305 325 = O.-B.-A. -Bezirk Breslau (Oberschlesien) .... = 251 117 = Braunschweig ? 191 686 = die übrigen deutschen Staaten = 135 013 = O.-B.-A. -Bezirk Halle = 115 524 - Die große Bedeutung des Eisens für die Weltwirtschaft hatte die Leitung des Internationalen Geologenkongresses in Stockholm im Jahre 1910 veranlaßt, eine Berechnung der seither bekannt gewordenen Eisenvorräte der Welt aufzustellen. Gruppiert man auf Grund der im Kongreßbericht gegebenen Zahlen die Länder nach ihrem jetzt bekannten Eisenerzreichtum, so verfügen sieben über einen bekannten Vorrat von mehr als einer Milliarde Tonnen Erz; sie rangieren dabei wie folgt: Erz Eisen 1. Verein. Staaten von Nordamerika. . . . 4,3 Milliarden Tonnen 2,3 Milliarden Tonnen 2. Neufundland. . . . 3,6 - 5 1,9 = 3. Deutschland . . . . 3,6 = 1,3 ' 4. Frankreich . . . . 3,3 s 1,1 5. Cuba . . 1,9 = 0,9 6. Schweden . . . . . 1,2 * 0,7 7. Großbritannien . . . 1,3 £ 0,5 VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. H7 An diese bevorzugten Länder kann man eine zweite Gruppe von sieben Staaten anschließen, deren bekannte Eisenerzvorräte über 100 Millionen Tonnen betragen: Erz Eisen 1. Rußland . . 864 Millionen Tonnen 387 Millionen Tonnen 2. Spanien. . . 711 * 349 s 3. Norwegen . . 367 = 124 s 4. Luxemburg . 270 = 90 s 5. Österreich . . 251 s * 90 s 6. Algier-Tunis . 125 = 75 5 7. Griechenland . 100 * 45 S und endlich schließt sich eine dritte Gruppe an, deren bekannte Vorräte zwischen 100 und 1 Million Tonnen liegen, nämlich: Erz Eisen 1. Belgien . . . 62 Millionen Tonnen 25 Millionen Tonnen 2. Mexiko . . . 55 = = 30 s 3. Ungarn . . . . . . 33 = 13 5 4. Bosnien . . . . 22 = 5 5 5. Italien . . . 6 * 3,8 = 5 6. Schweiz. . . 1,6 * = 0,8 = * Hier muß indes hinzugefügt werden, daß zurzeit nur etwa 7i der Festländer und Inseln dei Erde hinsichtlich ihrer Eisenerzvorräte einiger- maßen bekannt sind. Die von der Königlich Preußischen Geologischen Landesanstalt zu Berlin aufgestellte Vorratsberechnung Deutschlands unterscheidet 1. Eisenerze, welche ohne jede Voraussetzung unter den gegenwärtig vorhandenen Bedingungen gewonnen werden können (Eisenerze erster Reihe): in Menge von 2 865 300 000 t. 2. Eisenerze, deren Gewinnbarkeit vom Eintritt weniger und leicht erfüllbarer Voraussetzungen abhängt (Eisenerze zweiter Reihe): in Menge von 1 044 829 000 t. 3. Eisenerze, deren Gewinnbarkeit vom Eintritt mehrerer oder weniger leicht erfüllbaren Voraussetzungen abhängt (Eisenerze dritter Reihe): das sind erhebliche Mengen. Da für die Gegenwart und absehbare Zukunft nur die Eisenerze erster und zweiter Reihe in Frage kommen, beträgt nach deutscher Berechnung somit der Eisenerzvorrat Deutschlands im volkswirtschaftlichen Sinne 3 910 129 000 t. Für die dritte Gruppe sind absichtlich keine Zahlen eingesetzt worden, weil man befürchten mußte, daß diese den veränderten Wirtschafts- bedingungen einer ferneren Zukunft vorbehaltenen Mengen schon jetzt rechnerisch verwertet werden würden. 118 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur Von den 3,9 Milliarden Tonnen des deutschen Gesamtvorrats lagern in Lothringen-Luxemburg . . 67 °/o (Die Minetteerze), * Preußen 25 = (an Sieg u. Lahn, zu Ilsede, in Oberschlesien a. a. 0.), = Bayern 4,9 * (Franken), = Württemberg 3 = = Hessen 0,4 * Der Jahreskonsum der deutschen Roheisenindustrie an deutschen Eisen- erzen beträgt 24 Millionen Tonnen. Wollte man nun den Jahresverbrauch in den Gesamtvorrat dividieren und so die zeitliche Nachhaltigkeit des Gesamtvorrats zu berechnen suchen, so würde man ein falsches Bild erhalten; denn zwei Drittel der Erzfelder sind im Besitz von Eisenhütten, und von dem übrigen Drittel ist auch nur die Hälfte, da die andere Hälfte der Gruppe 2 angehört, somit nicht ohne weiteres in Abbau genommen werden kann, für Hütten ohne Felderbesitz frei verfügbar. Während die Hütten mit Felderbesitz zum Teil Erzvorräte von mehreren Jahrhunderten Dauer besitzen, können die Hütten ohne Felderbesitz ihren Erzbedarf aus deutschen Quellen auf nur mehr als ein halbes Jahrhundert Zeitdauer decken. Für diese ist die Frage sehr wichtig, wie der Erzvorrat aus deutschen Quellen in Zukunft vermehrt werden kann. Gelingt es der Technik, ein eisenarmes Erz zu einem hochprozentigen Produkt ohne zu hohe Kosten anzureichern, so können noch große Mengen der dritten Erzgruppe, die nach Milliarden zählen, der Verhüttung nutzbar gemacht werden. Diese Behauptung bedarf etwas näherer Erläuterung, um mich dem für einen Bergmann sehr schlimmen Verdacht des Optimismus zu entziehen. Auf der Fränkischen Alb zwischen Nürnberg, Bamberg, Kulmbach, Regens- burg ist vor 3 bis 4 Jahren ein Eisenerzgebiet entdeckt oder, da zahl- reiche Vertiefungen der Erdoberfläche als Pingen und Schächte alten Bergbaus erkannt worden sind, wiederentdeckt worden, welches eine groß- artige Bedeutung erlangen kann. Meist von tertiären und quartären Lehmen, Tonen und Sanden von meist 1 bis 5, selten bis 20 m Dicke überdeckt, lagert in der karstartig modellierten Oberfläche des Juradolomits, also in flachmuldenförmigen oder trichterartigen Einmuldungen oder in wurm- oder schlauchartigen Vertiefungen mulmiges Brauneisenerz, in dem bis kopfgroße Stücke von Derberzen liegen. Die Lagerstätten sind sehr unregelmäßig, die Zusammensetzung des Erzes sehr wechselnd: 36 bis 42 % Fe, 0,3 bis 0,4 °/0 P, 19 bis 29 % Si02, 4 bis 7 % A1203. Zur- zeit nur für Gießereiroheisen beschränkt verwendbar, muß dies Erz zunächst durch eine ihm besonders angepaßte Aufbereitungsart auch für die anderen Hüttenprozesse (Bessemer- und Thomasverfahren) geeignet gemacht werden. Versuche sind im Gange. Ich zweifle nicht, daß sie im Laufe der Zeit erfolgreich sein werden. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 119 Mangan. Die Manganerze sind wegen ihrer großen Bedeutung im Eisenhütten- wesen zu erwähnen. Sie finden sich in vielen Ländern, häufig zusammen mit Eisenerzen, mit denen sie als Eisenmanganerze oft Übergänge bilden; daher haben sie auch mannigfaltigste Zusammensetzung. Die Höhe der Welterzeugung unterliegt großen Schwankungen je nach der Wirtschaftslage der Eisenindustrie und der politischen Lage der Er- zeugungsländer. Hauptproduktionsland war bis 1906 der westliche Kaukasus (1906: 1 015 686 t), und zwar insbesondere der Tschiaturi-Distrikt. Unzulängliche Abfuhr auf leistungsunfähigen Eisenbahnlinien und unkluge Preispolitik der dortigen Bergwerksbesitzer bewirkten indes forcierte Erschließung der Manganerze Indiens und Brasiliens, so daß Indien schon Rußland überholte und Brasilien sich ihm rasch nähert. Manganerzerzeugung der Welt (metr. t). 1907 1908 1909 1910 Indien 916 770 685 135 652 958 813 722 Rußland 995 282 362 303 574 938 735 000 Brasilien 236 778 250 000 240 774 253 953 Deutschland 73 105 67 692 77 177 80 559 Österreich Ungarn 16 756 8 198 16 656 ( 10 601 j 22 981 21 309 Frankreich 18 200 15 865 9 378 8 000 Spanien 41 504 16 745 7 827 8 607 Japan 20 586 11 130 6 660 5 300 Belgien 2 100 7 130 6 270 — Griechenland 11 139 10 750 5 374 — Schweden 4 334 4 616 5 212 5 752 Bosnien und Herzegowina . . 7 000 6 000 5 000 4 000 Italien 3 654 2 750 4 700 4 200 Cuba 30 486 1 492 2 976 — Großbritannien 16 356 6 409 2 812 5 554 Queensland 1 134 1 403 613 805 Vereinigte Staaten von Amerika 6 000 bis 7 000 t; das übrige sind Eisenmanganerze oder mangan. haltige Zinkerze. Austausch. Den Austausch von Kohle, Eisen und Mangan unter den Völkern will ich gemeinsam behandeln. Großbritannien zieht aus seiner insularen Lage im Weltverkehr ge- waltigen Vorteil und hat sich auf Grund dessen und seiner Bodenschätze schon frühzeitig zum Industriestaat entwickelt. Von mehr als 268 700 000 t 120 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Kohlenförderung im Jahre 1910 hat es 2 04 Millionen Tonnen im Inlande, über 64 Millionen Tonnen im Auslande abgesetzt. In fast alle Häfen der Erde, selbst nach China, Japan und Australien, tragen Englands Schiffe Englands Kohle und machen die Völker tributpflichtig. In welchem Umfange dies geschieht, geht aus nachstehender Zusammen- stellung hervor: 1910 Länder Ausfuhr Englands (englische Tonnen) Ausfuhr d. Rhein. -Westf. Kohlen - Syndikats t (1000 kg) Kohlen Koks Briketts Kohlen Koks Briketts Frankreich 9 588 892 10 724 154 375 1 743 401 1 866 873 182 456 Deutschland 9 005 515 17 739 1 810 Italien 8 784 504 53 731 222 059 441 980 121 226 193 789 Schweden 3 991 207 159 555 26 167 102 746 783 Rußland 3 224 344 39 082 1403 51 095 114 742 31 553 Argentinien 2 897 793 21 867 1 000 42 850 Spanien und Kanarische Inseln 2 876 276 113 768 144 651 67 174 4 110 13 599 Dänemark 2 712 681 141 947 2 131 784 30 642 49 933 Ägypten 2 564 570 24 318 27 744 116 775 2 020 44 765 Niederlande 2 243 658 12 760 31 5 060 651 130 746 168 268 Norwegen 1 982 599 137 918 172 18 738 40 908 3 664 Belgien 1 559 309 56 3 538 430 227 995 292 330 Brasilien 1 531 508 9 992 168 558 1 245 58 155 Portugal, Azoren und Madeira 1 136 496 29 022 2 117 51 567 5 467 Uruguay. 1 001 661 11 386 . 20 858 Algerien 977 0S3 1 184 145 198 80 881 240 37 162 Österreich-Ungarn. ..... 922 929 13 283 63 580 55 391 292 723 29 555 Chile 877 925 18 361 151 794 2 788 50 313 2 240 Westküste von Afrika . . 550 698 788 63 402 11 460 2 995 14 863 Griechenland 519 865 22 802 17 94S 56 269 28 235 29 867 Türkei 493 353 3 281 44 848 250 240 Malta 473 100 958 8 135 . Ceylon 309 862 - Gibraltar 274 60U 741 16 255 . Vorderindien 228 743 11 219 8 260 Rumänien 199 342 23 987 221 48 432 11 910 1 805 Kanal-Inseln 169 931 34 5 Aden 169 771 57 Tripolis und Tunis 109 946 5 231 30 278 160 450 Island und Grönland . . . 86 264 1 161 Südafrika 79 308 22 521 100 490 Westindien 75 972 2 503 21 623 100 Britisch-Nordamerika . . . 67 109 256 • China und Hongkong... 54 347 3 336 9 433 355 Australien 46 388 5 709 19 550 .VI Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 121 1910 Länder Ausfuhr Englands (englische Tonnen) Ausfuhr d. Rhein. -Westf. Kohlen-Syndikats t (1000 kg) Kohlen Koks Briketts Kohlen Koks Briketts Ostküste von Afrika .... 33 658 2 020 4 923 85 20 3 841 Niederländisch -Indien u. Java 32 533 1 940 1 945 Mauritius 30 852 603 949 . Bulgarien 29 241 232 800 2 200 4 805 100 Mexico 23 429 702 131 882 1 329 68 628 8 360 Japan einschl. Formosa. 22 353 6 572 • 11 470 Falklandinseln 21 131 806 . Peru 20 260 730 9 945 150 13 015 10 Madagaskar 14 565 . Y erein. Staaten von Nord- Amerika 13 669 22 890 71 554 Arabien-Muskat 12 603 1 8 240 5 071 Hinterindien 10 559 2 550 1 200 1 855 Inseln des großen Ozeans 4 009 443 . Persien 3 999 St. Helena 3 962 395 Bermudas 3 933 5 2 300 Hawaii ... 3 448 125 450 Spanische Häfen in Nord- afrika 2 702 410 131 . Schweiz 2 558 . 359 679 218312 75 740 Portugiesisch-Iudien .... 1 889 1 355 Siam 1 527 279 Seyclieles 1 371 Marokko 1 045 40 2 319 • Venezuela 823 101 8311 1 800 Himmelfahrtsinseln 695 Bolivia 358 Britisch-Borneo 196 10 Zentral-Amerika 170 87 Malayische Inseln 152 695 Ecuador 101 70 Panama 97 16 Columbien 39 4 3 934 • Neuseeland 102 Indo-China 50 Zypern 9 England 14 965 17 917 Serbien 55 17 999 4 003 Neukaledonien 8 530 Südgeorgien 200 5 645 Summe 62 085 476 964 053 1 470 791 11926073 3 493 472 ! 1 210 087 122 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Von den Küsten aus gehen die englischen Kohlen so weit landeinwärts, wie der Frachtzuschlag des Landtransports den Wettbewerb mit anderen Steinkohlenproduktionsgebieten gestattet. Die deutschen größeren Bergbaureviere an der Ruhr, in Oberschlesien, an der Saar und bei Aachen ordnen ihre Kohlentransporte in großen an der Peripherie der Kohlenbecken gelegenen Sammelbahnhöfen und senden Hunderte von Zügen täglich nach allen Richtungen; Schleppschiffflotten fahren rheinaufwärts bis Mannheim, Ludwigshafen und Straßburg, kleinere Schiffe sogar bis Basel, und rheinabwärts nach Amsterdam und Rotterdam oder auf dem Rhein — Ems-Kanal seewärts nach Emden. Weser, Elbe, Oder, Weichsel sind zum großen Teil schiffbar und durch Kanäle verbunden. In einem ziemlich breiten Küstengürtel der Nord- und Ostsee treten im Westen die westfälische, im Osten mehr die oberschlesische Kohle in Wettbewerb mit der englischen Kohle, die in jüngster Zeit namentlich auch nach Berlin einen bedeutenden Mehrabsatz in Gaskohle gegenüber Oberschlesien erzielt hat und nach Fertigstellung des Großschiffahrtswegs Stettin — Berlin noch mehr erreichen wird. Zwischen Elbe und Oder kämpfen westfälische und oberschlesische Kohle miteinander. Nach Süden sendet Westfalen Kohle nach der Schweiz und über die Alpen nach Italien und trifft dort wieder in der lombardischen Ebene auf über Genua und Savona geleitete englische Ausfuhr. In Süddeutschland, westlich des Rheins, kämpfen Ruhr- und Saarkohle, welch letztere außerhalb des eigentlichen Saarbezirks nach Elsaß-Lothringen und über die Westgrenze nach Frankreich geht, unter- stützt durch das weitverzweigte französisch -elsaßlothringische Kanalsystem. Viele Züge Kohlen und Koks gehen täglich von Ruhr, Niederrhein und Aachen nach Holland, Belgien und Frankreich, mehrere Gaskohlenziige nach Paris. In welchem Umfange dies stattfmdet, und in welchem Maße auch rheinisch-westfälische Kohle in ferneres Ausland geht, ist aus der Tafel auf Seite 120 ff. ersichtlich. Da die österreichischen Kohlenfelder den Bedarf des Kaiserreichs und Ungarns nicht zu decken vermögen, wirft Oberschlesien beträchtliche Mengen nach Österreich-Ungarn, nicht soviel nach Rußland, wo die polnischen Gruben und die des Donezbeckens ihm entgegentreten. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika haben zwar ebenfalls eine nicht unbeträchtliche Ausfuhr; doch bleibt sie fast ausschließlich an den Ost- und Westküsten Amerikas und beteiligt sich mit englischen, austra- lischen, japanischen und chinesischen Transporten an der Versorgung der Küsten und Inseln des Stillen Ozeans. Die südafrikanischen Steinkohlenfelder haben bis jetzt kaum mehr als lokale Bedeutung für den Bedarf ihrer Ursprungsländer. Die einzelnen Sorten der Kohlenreviere sind für die Sonderzwecke in verschiedenem Maße verwertbar. Verwendungsmöglichkeit, Preis, Ver- sandfähigkeit bestimmen die Verkehrsrelationen. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 123 Nur das rheinisch-westfälische Kohlensyndikat hat eine genauere Statistik über die einzelnen Verwendungsarten der Ruhrkohle aufgestellt. Danach dienten 1909 der t des in Prozent Gesamtabsatzes Gewinnung von Steinkohlen und Koks; Brikettfabrikation 4 684 609 7,42 Gewinnung und Aufbereitung von Erzen 291 279 0,46 Salzgewinnung, Salzbergwerke und Salinen 286 726 0,46 Metallhütten aller Art, Eisenhütten, Metall-, Eisen- und Stahlverarbeitung, Industrie der Maschinen, Instrumente und Apparate 25 268 118 40,02 Elektrische Industrie 939 706 1,49 Industrie der Steine und Erden .... 2 684 850 4,25 Glasindustrie 472 532 0,75 Chemische Industrie 2 094 269 3,32 Gasanstalten 2 061 247 3,26 Textilindustrie, Bekleidungs- und Reini- gungs-Gewerbe 2 098 044 3,32 Papierindustrie und polygraphische Gewerbe 726 670 1,15 Leder-, Gummi- und Guttaperchaindustrie 222 401 0,35 Industrie der Holz- und Schnitzstoffe . . 100 227 0,16 Rüben- und Kartoffelzuckerfabrikation und Zuckerraffinerie 378 027 0,60 Brauereien und Branntweinbrennereien . 676 294 1,07 Industrie der übrigen Nahrungs- und Genußmittel 629 980 1,00 Wasserversorgungsanlagen, Bade- und Waschanstalten 318 064 0,50 Hausbedarf 9 328 329 14,77 Eisenbahn- und Straßenbahn-Bau und -Betrieb 6 859 197 10,86 Binnenschiffahrt, See- und Küstenschiffahrt, Hochseefischerei, Hafen- und Lotsen- dienst, Kriegsmarine 3 023 224 4,79 Summe 63 143 793 100,00 Eisen wurde von alters her da erschmolzen, wo in der Nähe von Eisenerzlagerstätten Waldung zur Herstellung von Holzkohle anstand. Wieland, der Schmied, hatte seine Werkstätte im dunklen Forst. Fortschreitende technische Entwicklung forderte auch Wasserkraft zum Betriebe von Gebläsen, Aufzügen, Hämmern und Walzen. So entstanden die Eisenhütten in der Eifel, an der Sieg und Lahn, im Thüringer Wald, bei Schmalkalden, im Harz, in England (wo zu Königin Elisabeths Zeit 124 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. schwere Klage über die Verwüstung der Wälder geführt und durch Parlamentsbeschluß zeitweise die Holzverkohlung verboten wurde), im Danemoragebiet Schwedens, im Ural und an vielen anderen Orten der Erde. So errichtete noch Friedrich der Große Eisenhütten zur Herstellung von Kriegsmaterial und zur Hebung der Wohlfahrt seiner Lande. So sehen wir noch jetzt Eingeborene der Tropen (in Togo, Kamerun, im Sudan) das zu ihren einfachen Waffen und Geräten nötige Eisen erschmelzen. Als aber die Engländer im Anfang des 18. Jahrhunderts die Kunst, aus Steinkohle Schmelzkoks herzustellen, erfanden, als gar Eisenerzflöze in Wechsellagerung mit Steinkohlenflözen oder doch Eisenerzlagerstätten in der Nähe von Steinkohlenbecken gefunden wurden, da erstanden bald auch Eisenhochöfen, Gießereien, Puddel- und Walzwerke, später Stahlwerke jeder Art in allen Steinkohlenrevieren der bedeutenderen Kulturländer. Doch nicht nur, wo Kohle und Koks zum Eisenerz und wo Eisenerz zur Kohle gebracht werden konnte, sondern auch an anderen Orten, wo Kohle oder Koks und Eisenerz in billiger Fracht, namentlich Wasserfracht, zusammengeführt werden konnten, entstanden große Eisenwerke bei Ben- dorf, Neuwied, Urbach und Mühlheim am Rhein, bei Baltimore an der Chesepeak Bay, bei Hanyang bei Hankau am Jang-tse-Kiang, in jüngster Zeit bei Kratzwiek unterhalb Stettin an der Oder, bei Lübeck an der Ostsee, bei Emden am Dollart und bei Bremen, bei Servola bei Triest, bei Piombino, bei Neapel. In jüngster Zeit rüsten sich kohlenarme Länder, wie Schweden und Norwegen, auch Brasilien, riesige Wasserkräfte rasch talwärts eilender Flüsse in elektrische Kraft umzuformen zum Betriebe von Elektro-Eisen- werken. Im Wettkampf der Völker haben neben der persönlichen Tüchtigkeit und Schulung der Beamten und Arbeiter die lokalen Produktions- bedingungen, die Belegenheit der Rohstoffe zueinander oder die Möglichkeit, sie möglichst billig zusammenzubringen, die Gewinnung von Kraft aus- schlaggebende Bedeutung. Kein Land der Erde arbeitete diesbezüglich unter günstigeren Be- dingungen wie Großbritannien. Ausgedehnte Lagerstätten trefflicher Kohlen und Erze, leichter und billiger Bezug fremder Rohstoffe, günstige Lage für den Absatz, in Verbindung mit der sonstigen politischen und wirtschaft- lichen Stärke des Reichs begründeten die frühere Allmacht des Inselreichs auf dem Weltmärkte. Viel ungünstiger lagen in dieser Hinsicht lange Zeit die Verhältnisse in Deutschland, überhaupt auf dem europäischen Kontinent, und auch in Nordamerika und anderweit. In den Vereinigten Staaten liegen Kohle und Erz so weit von einander, daß nahe der Ostküste überseeische Erze (von Cuba, Spanien, Schweden, Neufundland) billiger stehen als einheimische. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 125 Ich will auf Deutschland etwas näher eingehen, wo die Rohstoffe, zum Teil auch noch minder wertvoll, auf weitem Eisenbahnwege zusammen- gebracht werden müssen, und die Fabrikate über den teueren Schienenweg hinweg Absatz finden. Es kam hinzu, daß unter einer von England her natürlich freudig geförderten Freihändlerströmung der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts, 1874, die Stabeisenzölle und 1 876 die Roheisenzölle, welche jene Ungunst der örtlichen Produktionsbedingungen doch einigermaßen ausgleichen konnten, aufgehoben wurden. Bis ins Herz des rheinisch- westfälischen Industriebezirks vermochte damals England seine Montan- industrieerzeugnisse zu senden. Die wachsende Not der Eisenindustrie im Verein mit der Notlage anderer Industriezweige verfehlte aber nicht ihre Wirkung. Im Reichstage vereinigten sich zuerst Wilhelm von Kardorff und Stumm im Bestreben, die Deutschlands Industrie verderbliche Freihandelspolitik zu bekämpfen. Kardorffs 1876 erschienene Schrift „Gegen den Strom“ erregte die Auf- merksamkeit Bismarcks; die Klagen der Industrie wurden von der Reichs- regierung als berechtigt erkannt; endlich kam wieder der Zolltarif von 1879 zustande; welcher u. a. einen mäßigen Roheisenzoll wieder ein- führte. Nebst anderen Gründen, auf die ich noch zurückkomme, führte dies zu fortschreitender Erstarkung der Montanindustrie, so daß die englische Einfuhr nicht nur zurückgedrängt, sondern Deutschland mehr und mehr Konkurrent Englands auf dem Vf eltmarkte wurde. Großbritannien hatte bis 1890 in der Roheisenerzeugung (Tafeln auf Seite 126 und 127) die Führung unter den Eisenindustrieländern; sie wurde ihm erstmalig von 1890 — 1893 durch die Vereinigten Staaten von Amerika streitig gemacht und von 1895 ab von diesen dauernd übernommen. Seit 1903 hat auch Deutschland Großbritannien überholt. Sind diese 3 Staaten allen anderen Ländern noch weit voraus, so wird die rasch steigende Roheisenproduktion Frankreichs die Rangstellung dieses Landes jenen 3 Ländern doch bald nähern. Von den übrigen Ländern der Erde möchte ich noch Japan, China und Australien namentlich erwähnen, von denen China wegen seiner Boden- schätze zweifellos ein gefährlicher Mitbewerber auf dem Weltmärkte werden wird. Die eifrigen Bemühungen Japans, dem es an Koks und Eisenerz in billig erreichbarer Nähe gebricht, waren seither noch unbefriedigend. Die bedeutendsten Bezirke der internationalen Großindustrie sind: Cleveland in England, Pennsylvanien in den Vereinigten Staaten von Amerika, Niederrheinland-Westfalen und Saar-Lothringen-Luxemburg im deutschen Zollgebiet. Die vielseitigen Bedürfnisse eines modernen Hüttenwerks, die Not- wendigkeit, den für den jeweils in Anwendung stehenden Hüttenprozeß geeigneten Möller durch Mischung von Erzen verschiedener Herkunft her- zustellen, veranlaßten die mannigfachsten Verkehrsbeziehungen im Bezüge ‘) Geschätzt. 126 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur, * Cß CJ: HH Cß Cß o to o= 30 O ü 3 CL P > 3 » s 3 3 er SL T3 P “5 p CD C/i c et 2 2 c? S o to CD P CD o r-v cd -* 3 ÖQ p 3. » 3 P & o* Ul Cß o P CD 0 t-j Dj o r PS 3 &■ . 3 • 3 3 1- 3C Zu 2. P* P CD Ul P P CD P PJ " C© — j 33 tr Q O o er ö CD P Ver. I© r^> D O er CD *-3 0© p OQ P 3 2. o P- 3 cn c n CD 3 £3 CD CD P- P 3 t*j P P CD P 2. 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Welche weitreichende Bezüge in Erzen und Zuschlägen da stattfinden, ergibt sich daraus, daß ein Hüttenwerk Oberschlesiens auf seinem Erzplatz Bestände lagern hat (nach den Mengen der Bezugsländer geordnet) aus Rußland, Schweden, Ungarn, Posen, Regierungsbezirk Liegnitz, Österreich, Galizien und Steier- mark, Brasilien, Regierungsbezirk Breslau, Braunschweig, Spanien, £ Bayern und Rheinland. Der europäische Eisenerz- ^ handel über See beträgt im Jahre etwa 12 Millionen Tonnen. Spanien, Griechen] and, Nord- frankreich, Schweden, Nord- afrika und Südrußland als Haupt- ausfuhrländern stehen in der Hauptsache Deutschland und England als Erzabnehmer gegen- über. Die Hauptausfuhrhäfen sind: in Nordspanien: Bilbao, Santander, . Rivadeo, Yivero, Passages; in Südspanien: Porman, Cartagena, Aguilas, Villaricos, Garrucha, Parazuelos, San Juan, Sagunto, Almeria, Ma- laga, Sevilla; Roheisenerzeugung der hauptsächlichsten Länder. '870 75 SO SS So OS 1300 OS 13J1 128 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. in Schweden: Oxelösund, Gefle, Lulea und Narvik (in Norwegen) ; in Südrußland: Nikolajew, Poti; in Nordfrankreich : Caen, St. Nazaire, Nantes; in den Pyrenäen: Port Vendres; in Griechenland: Laurium, Syra, Lärmes, Seriphos, Ergasteria, Limiona, Skyros, Arvelaki; in Algier: Benisaf, Algier, Nemour, Tenes, Bona, Bougie. Die Haupteinfuhrhäfen sind: für Deutschland: Rotterdam, Emden, Lübeck, Stettin (Kratzwiek) und Danzig (Neufahrwasser); für England: Newcastle, Cardiff, Middlesborough, Hartlepool, Stockton, Newport, Maryport; für Schottland: Glasgow, Adrossan, Ayr, Grangesmouth; für Frankreich: Dünkirchen, Boneau, Pauillac; für Belgien: Antwerpen. Es wurden 1910 in Deutschland eingeführt 9 3/4 Millionen Tonnen Eisenerze; davon kamen aus: Schweden Millionen Tonnen, Spanien 2% = = Frankreich und Belgien 2 - = Rußland 3/4 = = Algier und Tunis */4 =- = Österreich-Ungarn 1/i = - Neufundland 112 000 == Ausgeführt wurden 1910 aus Deutschland 2 950 000 Tonnen Eisen- erze, davon nach Belgien fast 2 Millionen Tonnen Frankreich = 1 Million - Den Eisenbahn- und Kanallinien der Kontinente stellen diese Massen- transporte schwere Aufgaben; große Flotten von Seeschiffen durchfurchen alle Weltmeere, um die Rohmaterialien und die Fabrikate in Sonderfracht, Rückfracht oder Ballast zu den Verbrauchsstätten oder Umschlaghäfen zu führen. Ausgezeichnete Einrichtungen sind in den Häfen zur Bewältigung des gewaltigen Umschlagverkehrs getroffen. Im eisfreien Hafen von Narvik sah ich ein Schiff von 7000 t Lade- fähigkeit für den Transport von Magneteisenerzen Lapplands nach Nord- Amerika bestimmt, liegen, das in drei Stunden beladen wrerden konnte und in meiner Gegenwart in 10 Minuten 240 t Erze aufnahm. Die Ent- ladung erforderte durch sinnreiche Vorrichtungen nicht mehr Zelt. Die Industriestaaten importieren in der Hauptsache viel Raum bean- spruchende Rohmaterialien für ihre industriellen Betriebe und exportieren im allgemeinen weniger Raum einnehmende Fabrikate; haben sie indessen noch, wie England, einen günstig gelegenen Exportartikel von der Masse VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 129 der Steinkohle, so gewährt dieser gewissermaßen eine Verkehrsbilanz zur befriedigenden Ausnutzung der Schiffe. Hierin liegt ein großer Vorteil der englischen Schiffahrt. Ich muß Abstand nehmen von näherem Eingehen auf die vielen Verkehrsbeziehungen des Mineralaustausches in Kohle, Eisen, Mangan und Zuschlägen und will nur noch einen Vergleich ziehen zwischen unsern inländischen Hauptmontanindustriebezirken. 1911 stand in Deutschland an der Spitze Rheinland-Westfalen (ohne Saar- und Siegerland) mit 43,97 °/o Roheisenerzeugung; es folgten Lothringen-Luxemburg mit 29,76 °/0, Saarbezirk * 7,85 = Schlesien = 6,21 = Sieg und Lahn ; 5,20 = Mittel- und Ostdeutschland s 5,15 = Bayern, Württemberg und Thüringen ... s 1,87 = Die Kohlen des Ruhrbezirks eignen sich vorzüglich für den Eisen- hüttenbetrieb. Neben trefflichen Kokskohlen sind dort beste Flamm- und Gaskohlen für Puddel-, Schweiß- und Siemens-Martinöfen. Lothringen-Luxemburg ist begünstigt durch sehr billig zu gewinnende Eisenerze und, wie auch der Ruhrbezirk, durch leichten Absatz der Produkte nach der See hin. Von den billigen Eisenerzen Lothringens ziehen auch die Hütten an der Saar neben der Nutzung der Saarkohle Vorteil. Die Seewerke bei Kratzwiek, Lübeck, Bremen und Emden haben den großen Vorzug billiger Frachten für Rohmaterialien und Fabrikate, Groß- Ilsede den einer ganz ausgezeichneten Erzlagerstätte. Die Kokskohle Oberschlesiens gibt geringeres Ausbringen und fordert wegen der größeren Zerreiblichkeit des Koks geringere Höhe der Hoch- öfen. Die langen Eisenbahnwege Oberschlesiens infolge seiner Lage im südöstlichen Winkel der Monarchie verteuern die Frachten der Roh- materialien und der im Inland abzusetzenden Fabrikate. [Die oberschle- sischen Eisenerze gehen der Erschöpfung entgegen. Kaum ein Zehntel des Bedarfs kann noch aus dem Bezirk gedeckt, die übrige Menge muß, wie ich schon vorher anführte, von weither herbeigebracht werden. Die russische Regierung aber sucht die Ausfuhr russischer Eisenerze im Interesse der eigenen Industrie tunlichst zu verhindern. Tarifanomalien bewirken, daß für Oberschlesien der Landzufuhrweg aus Rußland teurer ist als für Rheinland- Westfalen der nasse Bezugsweg aus Rußland über Odessa — Mittelmeer — Antwerpen. In dem lang auseinandergezogenen in- ländischen Absatzgebiete begegnet die oberschlesische Eisenindustrie dem Gegendruck des riesigen rheinisch-westfälischen Industriereviers, welches seinerseits im Westen von den Eisenrevieren in Lothringen-Luxemburg und an der Saar bedrängt wird. Schwer muß da überall von den Leitern der Industrie gearbeitet werden, um im Wettbewerbe zu bestehen. 1912. 9 130 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Die alte Montanindustrie an Sieg und Lahn nahm in den letzten Jahrzehnten eine ungünstige Wendung. Mit dem Vorrücken des Bergbaus in die Tiefe stiegen die Selbstkosten der Bergwerke. Nachdem das Thomas- verfahren die Verwendung phosphorreichen geringhaltigen Eisenerzes gelehrt hatte, verloren die Qualitätseisenerze des Siegerlandes und der Lahn an Wert. Für Brennstoff und Fabrikate bestanden hohe Eisenbahnfrachten. Die Staatsregierung sah sich daher zur Einführung eines Notstandstarifs veranlaßt. Die hier im kleinen skizzierten wirtschaftlichen Kämpfe wiederholen sich überall in der Welt. Kalisalze. In vielen Ländern der Erde in weiterer Verbreitung, oft in beträcht- licher Dicke, steht Steinsalz an; bisher nur Deutschland eigentümlich sind die meist Steinsalz überlagernden Kalisalze. Zunächst bei Staßfurt in der Provinz Sachsen entdeckt und nach ihrem wirtschaftlichen Werte erkannt, stellte man sie späterhin vielerorts in Braunschweig, Hannover, am Nieder- rhein, in Mecklenburg, weiter ostwärts in Norddeutschland, im Osten und Westen des Harzes, zwischen Harz und Thüringerwald, südwestlich des Thüringerwaldes, und sogar im Elsaß und in Baden fest. Dr. Ochsenius behauptete seiner Zeit, daß die Kalisalze in Nord- deutschland wie ein Tischtuch über dem Steinsalz, gleichmäßig und durchweg verbreitet — natürlich von jüngeren Schichten überdeckt — sich vorfänden; will man dieses Bild beibelialten, so kann man aber doch nur das Tischtuch eines sehr unordentlichen Haushalts, vielfach zerrissen und zerschnitten, örtlich gefaltet, gestört, verkneuelt, und mit vielen großen Löchern anerkennen. Vielfach sind zudem die Kalisalze durch die Faltung der Erdrinde in dem Bergbau unerreichbare Tiefen versenkt. Im Jahre 1911 wurden Kalisalze mit einem Kaligehalt von 939 927 t gewonnen und davon die Hälfte im Werte von 121 Millionen Mark aus- geführt. Diese Kalisalze erlangten in Landwirtschaft und chemischer Industrie große Bedeutung. Sie gehen als beliebte Düngemittel in alle Landwirtschaft treibenden Länder der Welt, vor allem aber — und zwar weit über die Hälfte der Ausfuhr — nach den Vereinigten Staalen von Amerika. In vielen Ländern, besonders in den Vereinigten Staaten, hat man sich daher die größte Mühe gegeben, Kalisalze selbst oder Ersatzstoffe für dieselben zu finden; bis jetzt vergeblich. Zwar ist Kali in Eruptiv- Gesteinen, die in großen Massen auftreten, auf der Erde und auch in Deutschland vorhanden, indes in geringem Prozentsatz und in schwer- löslichen Verbindungen. — Zwar kommen in Peru und Chile Kalisalze in gewissen Wüstendistrikten als Infiltrationen des Bodens vor, indes fast durchweg mit so geringem Gehalt, daß eine Nutjbarmachung ausgeschlossen VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 131 ist. — Zwar hat man bei Kalusz in Galizien, am Nordrande der Kar- pathen, und bei Wieliczka Ivainit, bei Hallein, Ischl und Hallstadt in den Alpen, bei Girgenti auf Sizilien, bei Naman in Persien, in den Maya- gruben im Pentschab andere Kalisalze gefunden, indessen in so geringen Ablagerungen, daß ihnen praktisch keine Bedeutung zukommt. Zwar setzen die Kalisalzfunde am Niederrhein anscheinend nach Holland durch, indes mit so geringer Mächtigkeit, verunreinigt, in solcher Tiefe und mit solcher Überlagerung durch jüngeres Gebirge, daß dem Bergbau dort große Schwierigkeiten begegnen würden. Zwar versuchen die Vereinigten Staaten durch Verarbeitung von Meerespflanzen (des Kelp, der bekanntlich kalireich ist) Düngemittel als Ersatz für Kalisalze zu beschaffen, indes praktisch-wirtschaftlich in größerem Umfang aussichtslos. — Es ist auch nicht anzunehmen, daß die eigenartige Barrenbildung im Zechsteinmeer und die anderen Begleitumstände (regen- armes Klima, geringe Süßwasserzuflüsse, säkulare Hebung der Barre), welche zur Ausscheidung der Mutterlaugensalze Anlaß gaben, irgendwo sonst auf der Erde zufällig entstanden sein könnte. Deutschland hat noch das Monopol und wird es nach aller Wahrscheinlichkeit behalten! Über 20 Milliarden Tonnen Kalisalze sollen nach einer vorsichtigen Berechnung der Preußischen Geologischen Landesanstalt in Deutschland vorhanden sein, die die gegenwärtige Jahresförderung weit über 2000 Jahre gewährleisten. Scheint dieser Vorrat nach menschlichem Ermessen fast unerschöpflich, so ist doch die pflegliche Hütung des großen Schatzes dringend geboten; leider ist dies trotz Kalisyndikats nicht ausreichend der Fall. Weit über das vorhandene Bedürfnis hinaus sind Schächte zur Er- schließung neuer Bergwerke niedergebracht worden und werden noch immer mehr abgeteuft. Über 90 (fast 100) Bergwerke sind schon tätig, das kostbare Material der Erde zu entreißen, während ein Viertel oder gar ein Fünftel derselben dazu ausreichen würden. Die große Zahl der Berg- werke erhöht aber die Gefahr der Verluste. Namentlich die Edelsalze sind in der Regel hoch gelegen und durch die Nähe der Grundwasser gefährdet. Wie viele Bergwerke wurden schon von einbrechendem Wasser ertränkt! Geschieht dies einem Erz- oder Steinkohlenbergwerk, so ist der Schaden nicht so groß. Die Pumpanlagen werden vergrößert und die Wasser ge- hoben. Ein Kalisalzbergwerk aber ist nach Einbruch des Wassers wegen der großen Löslichkeit- der Kalisalze mit seinen viele Millionen werten Bodenschätzen einfach erledigt. Da übrigens die von der Landwirtschaft in Nutzung genommenen Böden neben der Kalidüngung auch Stickstoff-, Phosphor- und Calcium- düngung in jeweilig geeignetem Verhältnis verlangen, unterliegen die Kali- salze dem „sozusagen friedlichen Wettbewerb“ von Chilesalpeter, Thomas- mehl, Superphosphat und auch Schwefelsäuren Ammoniak neben anderen Düngestoffen. 9* 132 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. So sind 1910 in Deutschland verbraucht worden: 1. Kalisalze 22 190 370 dz 2. Thomasmehl . 14 286 330 « 3. Superphosphat 12 670 600 * 4. Chilesalpeter 5 421 370 * 5. Schwefelsaures Ammoniak . . 2 683 300 * 6. Knochenmehl 810 630 s 7. Guano. . 402 700 = Von diesen ist Thomasmehl (hauptsächlich aus phosphorsaurem Kalk bestehend) die bei dein Thomasprozeß in den Stahlwerken fallende Schlacke, welche gemahlen in den Handel gebracht wird. Sliperphospliat wird hergestellt aus den in der Natur vorkommenden Rohphosphaten, welche in Belgien, Frankreich, Rußland, Norwegen, in Algier, Tunis, Florida, Tennessee, Carolina und auf den Südseeinseln Ozean und Nauru, Christmas, Angaur und Makatea sich vorfinden. Von da gelangten sie 1911 in folgenden Mengen in den Handel Algier : t The Constantine Phosphates (Kouif) . . 214 052 Societe franqaise (Kissa) 30 759 Tocqueville. 29 799 Verschiedene 58 287 Ganz Algier 332 897 Tunis : t Gafsa von Sfax 1 026 071 Gafsa von Sousse .......... 95 688 Maknassy 43 389 Kalaa-es-Senam 119 718 Kalaa-Djerda 235 252 Floridienne 27 965 Bir-El-Afou 27 382 . Gouraia . 20 886 Ganz Tunis 1 566 351 Ganz Afrika, Algier und Tunis 1 899 248 Amerikanische Phosphate: Florida : t Hard Rock 450 098 Land Pebble: Ausfuhr. 759 510 Land Pebble: Verbrauch der Ver. Staaten 569 941 Ganz Pebble 1 329 454 Tenessee 541 861 Carolina 200 000 Verschiedene Ursprungsländer 25 000 Gesamtphosphatproduktion in Amerika 2 428 552 VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 133 Pazifische Phosphate: t Ozean und Nauru 250 000 Christmas 153 000 Angaur 41 000 Makatea 12 000 Gesamtphosphatproduktion der pazifischen Inseln 456 000 Weniger bedeutende Lagerungen: Frankreich: t Phosphate und Kreidephosphate jeder Art 380 000 Belgien : Phosphat 190 000 Belgien: Kreidephosphate 50 000 Rußland 45 000 Verschiedene: Ägypten, Norwegen, Guanophosphat: Kanada usw 40 000 Gesamtsumme der weniger bedeutenden Lagerungen 705 000 Übersicht der Phosphatweltproduktion 1911: t Afrikanische Phosphate 1 899 248 Amerikanische = (hauptsächlich ausFlorida) 2 546 413 Phosphate des Stillen Ozeans 456 000 Phosphate weniger bedeutender Lagerungen . 705 000 Gesamtsumme 5 606 661 Für den Aufschluß dieser Phosphate findet die als lästiges Neben- produkt bei der Röstung der kupferhaltigen Schwefelkiese, der Kupfer-, Blei- und Zinkerze im Übermaß fallende Schwefelsäure nützliche Ver- wendung. Schwefelsaures Ammoniak ist ein sehr geschätztes Nebenprodukt aus den Gasen der Kokereien. Chilesalpeter (Natriumnitrat). Caliche, das Rohmaterial des Chilesalpeters, findet sich in der Provinz Tarapace von Chile in 1000 bis 1600 m Meereshöhe in einem Distrikt, der fast absolut regenlos ist. Diese reiche Provinz war 1880 Gegenstand eines blutigen Krieges zwischen Peru und Chile. Wie die Kalisalze Monopol Deutschlands sind, so ist der Caliche Monopol Chiles, denn ein anderes Land mit so geringem Regenfall, welches zudem die anderen zur Bildung des Salzes notwendigen Bedingungen besaß, dürfte es nicht mehr auf der Erde geben. Kein Baum, kein Strauch wächst dort oben in dieser trostlosen Trockenheit. 134 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. In Fabriken wird der Caliche ausgelaugt und der Chilesalpeter gewonnen. Eisenbahnen, Bremswerke bringen den Salpeter zu den Häfen Iquique, Junin, Caleta Buena, Pisagua, Tocopilla, Antofagasta und Taltal, von wo er den anderen Kulturländern zugeht. Seine Erschöpfung ist übrigens schon in 30 bis 40 Jahren bevor- stehend. Man erhofft, allerdings teureren Ersatz von der Stickstoffgewinnung aus der atmosphärischen Luft. Gold. Trotz des verlockenden Gegenstandes muß ich mir versagen, auf die alte Geschichte dieses Edelmetalles näher einzugehen, hinzuweisen auf die Königin von Saba, das Land Ophir, die Schätze der Inkas, der Atzteken, der Inder, welche beutegierige Europäer zu entsetzliche Menschenopfer fordernden Eroberungszügen veranlaßten. Ich beschränke mich auf die jüngste Zeit und knüpfe an Ereignisse im Beginn der neunziger Jahre an. Eine kleine, aber einflußreiche Partei des preußischen Abgeordnetenhauses (darunter v. Kardorff, Dr. Arendt, Leuschner, Schalscha u. a.) bekämpften die Goldwährung und forderten Doppelwährung, namentlich auch mit der durch den berühmten Wiener Geologen Eduard Süß unterstützten Be- hauptung, daß gar nicht Gold genug auf der Erde sei, um das für die Goldwährung aller Völker erforderliche Metall zu liefern. Süß behauptete, die Hauptmasse des Goldes finde sich auf sekundärer Lagerstätte im Schwemmlande als Seifengold; Berggold auf primärer Lagerstätte in Gängen oder Lagern sei selten; zudem seien diese Lagerstätten reich an der Ober- fläche, verarmten aber rasch in der Tiefe. Gold werde nur an den Grenzen der Kultur gewonnen; mit der Ausbreitung der Kultur erfolge rasch die Erschöpfung der Lagerstätten. Die preußische Staatsregierung wurde durch die lebhafte Agitation der Doppelwährungsmänner gezwungen, unter Be- rufung Sachverständiger in eine nähere Prüfung der Frage einzutreten, und auf Ersuchen des Finanzministers Miquel wurde mein Amtsvorgänger in der Leitung der Geologischen Landesanstalt und Bergakademie zu Berlin, Geheimer Oberbergrat Dr. Hauchecorne, vom Handelsminister beauftragt, in eine Berechnung des Gold- und Silbervorrats der Erde einzutreten. Dieser wiederum wünschte, daß das Goldfeld am Witwatersrand in Trans- vaal, welches in raschem Aufblühen begriffen war, an Ort und Stelle von einem zuverlässigen deutschen Beamten auf seine Nachhaltigkeit untersucht werde. Die Wahl fiel auf mich. So war ich in der Lage, 1893 während siebenmonatlicher Reise durch den Transvaal und zwei Jahre später während einjähriger Reise nach Australien, Tasmanien und Neu-Seeland, von wo ich über Nordamerika zurückkehrte, über Gegenwart und Zukunft zahlreicher Goldfelder mir persönlich Einblick zu verschaffen. Gold ist eins der weitverbreitetsten Metalle der Erde — birgt doch selbst das Meerwasser Goldgehalt — und doch ist das Metall nur an ver- VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 135 hältnismäßig wenig Örtlichkeiten derart konzentriert, daß es den Abbau lohnt. Die Bauwürdigkeit der fluviatilen, eluvialen, marinen oder gar glazialen Goldseifen, der Lager und Gänge ist sehr verschieden. Geographische Lage, Art der Lagerstätte, Umfang derselben, Arbeiter-, Brennmaterial-, Wasserverhältnisse, Möglichkeit bei Seifen Bagger zu verwenden, sind von großer Bedeutung. Unter günstigsten Bedingungen können Seifen, die im Kubikmeter Erdreich nur wenige Zehntel Gramm Gold (in Neu-Seeland selbst bis zu 0,6 g hinab) führen, noch mit Vorteil verarbeitet werden, während anderswo Gänge oder Lager selbst bei mehr als 30 g Gold im Kubikmeter Gestein unbauwürdig sind. In Australien macht eine unnatür- liche, von den Arbeitern geschaffene Gesetzgebung und die Unduldsamkeit der Arbeiter, welche den Arbeiterlohn auf 10 bis 12 Mark pro Tag hinauf- trieben und die billiger arbeitenden Kulis verjagten, manche reichen Gänge abbauunwürdig; im Transvaal ermöglichte die billige Arbeitskraft der Neger, die Reinheit des Erzes, welche die Anwendung des Mac Arthur- Forrest-Prozesses zuläßt, einen wirtschaftlichen Bergbau auf den im Durch- schnittsgoldgehalt ziemlich armen, aber in der Lagerung recht regelmäßigen Konglomeratflözen Johannesburgs. Meist muß man sich mit einer Gewichts- menge von 10 bis 20 g Gold in 1 t Gestein begnügen. Es ist ein eigenartig rauhes Leben, welches im Anfang auf den Gold- feldern sich entwickelt. Als Beispiel diene ein kleiner Auszug aus meinem Werke über die Goldfelder Australiens: „Hargraves, einem australischen Squatter, war es Vorbehalten, zuerst den Nachweis zu erbringen, daß in Neu-Südwales Gold in gewinnbaren Mengen auftrete. Durch die Dürre der Jahre 1844 — 1848 in seinem Wirtschaftsbetriebe fast ruiniert, hatte er, als er von großen Goldfunden in Kalifornien gehört, seinen Wohnsitz bei Bathurst verlassen, um im goldenen amerikanischen Westen sein Glück zu versuchen. Wie so viele andere war er erfolglos; überrascht aber von der Ähnlichkeit der ameri- kanischen geologischen Formationen mit denjenigen seiner Heimat, faßte er den Plan, zurückzukehren und in Neu-Südwales Untersuchungen auf das Vorhandensein von Goldlagerstätten anzustellen. Es gelang ihm am 12. Februar 1851 im Sommerhill Creek, 32 km von Bathurst, einen derart ausgiebigen Fund zu machen, daß ihm die von Neu-Südwales in Verbindung mit Victoria ausgesetzte Belohnung von 300 000 Mark verliehen werden mußte. Andere Goldwäscher aus Californien kamen ebenfalls nach Austra- lien, von derselben Hoffnung getrieben. Schon am 10. Juni 1851 gelang es William Campbell, auch in der Kolonie Victoria Gold in Quarz, und zwar auf Donald Camerons Ansiedlung bei Clunes, nachzuweisen. Nach- dem dieserart die Aufmerksamkeit geweckt worden war, mehrten sich bald die Nachrichten von Goldfunden. Eine stetig wachsende Erregung be- mächtigte sich der Bevölkerung. Bald verließen in Landwirtschaft und 136 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Viehzucht beschäftigte Arbeiter ihre Brotherren, Buchhalter und Beamte ihre Schreibstuben, Seeleute ihre Schiffe; Bergleute, Mechaniker, Studenten, politische Flüchtlinge aus Europa, Abenteurer aller Art, entwichene Sträf- linge, Angehörige verschiedenster Nationalitäten eilten zu den Goldfeldern. Wo irgend goldführende Alluvien entdeckt wurden, strömten Tausende von allen Seiten herbei. Besondere Kenntnisse oder Handfertigkeit waren nicht erforderlich. Nur Picke, Schaufel, Blechschüssel und Wiege (cradle) kamen anfänglich zur Verwendung. Es war nicht selten, daß ein Mann 300 — 400 g Gold aus einem einzigen Kübel Haufwerk wusch. Bei Meroo Creek am Turonflusse wurde schon 1851 ein Goldklumpen von 39,5 kg Gewicht im Werte von 100 200 Mark gefunden. Gleiche wunderbare Ent- deckungen machte man wiederholt in allen östlichen Kolonien. Solche Glücksfälle, wodurch Goldgräber, welche nur auf Kredit eines gutmütigen Krämers gelebt hatten, plötzlich reiche Kapitalisten wurden, erhitzten die Gemüter auf das äußerste. In früher einsamen, friedlichen Tälern des Buschwaldes entstanden geschwind Goldgräberniederlassungen aus Hunderten von Canevaszelten oder Baumrindehütten. Ein seltsam hastiges Treiben, ein wildes Leben hielt seinen Einzug. Zeitungen sorgten bald für das geistige Bedürfnis, Theater, Sing- und Spielhallen für Unter- haltung. Nach harter Tagesarbeit wurde die Nacht bei Sang und Spiel und in Gesellschaft lockerer Mädchen verbracht. Der Champagner floß in Strömen. Infolge des Zustromes vieler Männer dunkelster Vergangenheit nahm die Unsicherheit überhand. Manches schwere, wohlüberlegte Ver- brechen gegen Eigentum und Leben, manche Tat wildaufbrausender Leiden- schaft blieb vor dem irdischen Richter ungesühnt. — Die Arbeit in den Alluvien brachte aber nicht jedermann Segen. Viele zogen wieder von dannen mit getäuschten Hoffnungen, ärmer als sie gekommen; die meisten fristeten mühsam das Leben; wenigen nur war es beschieden, reiche Funde zu machen, aber von diesen behielt nur ein Bruchteil den Gewinn, die anderen vergeudeten rasch, was sie erworben. Es wird behauptet, daß der dem Alluvium entnommene Goldwert annähernd dem Preise der aufgewendeten Arbeit gleichkomme. Dem hastigen Durchwühlen des Erdreichs hielt der anfängliche Reich- tum der rezenten Seifen nicht lange stand. Hörte man dann von neuen Funden an weiterbelegenem Orte, so gab sich eine fieberhafte Bewegung kund; wie ein Mann erhob sich fast die ganze Bevölkerung einer Ortschaft; sie begab sich auf den Auszug (rush) nach dem neuen Dorado. Oft blieben nur wenige bedürfnislose Chinesen zurück, um die Nachlese zu halten. Mag man die Geschichte der Goldfelder in Australien, Amerika, Afrika beschreiben, da war fast überall derselbe Hergang. Man hat nur Namen und Zeiten zu wechseln.“ (Soweit mein Buch.) Selbst nach Überwindung der anfänglich primitiven Verhältnisse, nach Einführung des Großbetriebes, der Entwicklung blühender Städte, großer VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 137 Schaulinien der Golderzeugung der Haup tgo 1 d 1 än d er. kommunaler Gemeinwesen behält der Goldbergbau doch vielfach einen etwas unsoliden, zum mindesten sehr spekulativen Charakter. Ernst zu warnen sind alle Kapitalisten vor Kapitalanlage in diesem Bergbau, solange Gold-Welterzeugung. Wert in Dollar. 138 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 1910 96 055 200 10 224 910 88 881 24 073100 2 713 700 1 165 360 1 954 674 842 649 3 100 500 351 390 1 178 645 806 130 3 100 500 564 867 83 075 24 804 98 295 2 193 180 1 114 700 3 073 544 17 300 O O — i © o O OC5OO»DOOC'~i0-5j' lOOOhO Q CO 00 CO ^(?100 05 o CD O'tODt'COODf'O © oo © co © 05 CO O5CDIDC0O.— CO © G0 CM H M .iß©iß © © © GO © O ffl 00 CO 00 — icocoDOomo^^H ■ 05 t'r CO — i 05 05 CO •<+ 00 -~-H CD (M 05 — 1 »D 00 — 1 Lß 05 Dl Lß 00 Iß o — -HCOOCOfflOOCOiO rH —H tH •H © O 05 6-1 CO - O- rH rH 05 OOCOOlCOrtDOQOCOaUO gi ^ 00 »O 05 05 CO COLßMt-»ßt^HM thON005 05 CO CO 00 CO 05 O®1SCICD»0©C0C0»Gthi0sH © ßl CD CO Gl t>» o h o 000 O © “5T< © CO CO Gl 05 lß ißcMOOOMt^OOiMOlßO © © | CM © 05 O- Gl 05 C0 © n■ CD C0 C0 Gl CO 05 rH rH rH Gl rH ^-H tH Gl Gl O C0 05 o © ©OlßOOO— ICDOM00O O CO 05 00 oco-^o o OOSOCO"JHO(»COO 05 O C0 rH »ß NCOO^ # CO DCOCDD^CMw-HQODißO 00 I CO CO 05 00 00 05 o MCCr-COO— lOOlßMO ^3" CO ' rH r- rH lß •^COO5^l>t^C^C0 CO -5* © 00 CD 00 — < Gl rH r-1 rH CM (M O o "51 o o OO^OOOO — OcMOOO © © 00 CO © © - © O l>r utoaaiji®»DXooi>no -HO lOt» O 05 05 o D«WaCC'COrOGOiOG10 ^ CO 1 rH ■H -H cm rH ©©©H^ißt^CO C0 -cii 00 O CD -h 00 — < rH Gl r-H rH ▼H IM H O O O O o ©oo©©o©©©©©© © © O O O O O CD o 0©0©©00©©©00 © © C © CO © o © o ©©©©©©o©©©o© O © © CM HOMO o OOOiß©OLßLßO©Lß© Lß © | - © rH C0 05 Gl I>« T-l T-H rH Gl Gl rH Gl rH Gl !2? 'S c o -S 'O 3 -ü! .fl CQ O cd >.13 cd 3 3 N 6ß SP cd “ C S ODfa 3 a» 3 Qä VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 139 31005 40 169 000 3 200 18 700 6 000 24 990 155 730 260 12 607 791 3 674 087 2 149 721 1 466 537 10 102 300 2 214 100 12 089 500 4 448 200 1 993 600 400 000 65 329 705 1 563 686 465 847 786 05 o m o O O O Li 00 o o o o Gl CO xd O moo^ Li O O o iß Q 05 05 CO Oi CO xd xd O X— TH xjH Xt Cd CO 85 00 Gl 05 05 in xd O 1 Gl Gl CO Gl C0 CO Gl o xd 05 GO xd 00 1 CD |Q xj 00 — • 05 05 co iß CO Gl 00 CO ^ ^ C0 00 CO 05 C0 05 in Gl o Gl xd ©q H05G1’“» Gl T-H o t-H 00 CO iß iß m Ol m xd O O 05 CO X? O xd o co GO 00 Gl CO o o o co X* o co t''- iß m w ÖÖ iß &UO 5) O 05 co G0 xd O O co CO Xd o El co Gl GO lO -d CO xd 3^ «O CO CO co CO I OOiO^ - © © o in 05 "5T Gl 1 O © xd — < C0 *ß 00 iß 05 m ©q L i GO lO GU^ CO Gl Gl co iß CO o m ©q m h CD Gl o ©q ©q co t-H co CO o. 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STJ 4) • C/5 P 5£.Z-Z g* a cd >x S “jS o cd WS s- tS3 140 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. sie nicht ganz gute Verbindungen besitzen, welche sie über die Vertrauens- würdigkeit der Gesellschaften genau unterrichtet halten. Ich möchte jetzt ihren Blick auf die Schaulinien der Golderzeugung der Hauptgoldländer lenken. Sie sehen die Transvaallinie 1886 beginnen, rasch steigen, 1901 im Burenkriege rasch fallen, dann 1909 zu löO1^ Millionen Dollar, 1910 zu 1553/4 Millionen Dollar ansteigen. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika steigen in minder raschem Wechsel 1909 bis zu 99J/2 Millionen Dollar, um 1910 aber wieder ■ auf 96 Millionen Dollar zu fallen. Australasien ist in den letzten Jahren in beträchtlichem Rückgang begriffen und endete mit Millionen Dollar. Rußland erreichte 1910 das Maximum von . . 40 Millionen Dollar, Mexiko ^ 1910 * . 24 * 0 Rhodesia • 12 V* * * Britisch-Indien . 12 Canada endete mit . 10 = * China : . 10 s s Afrikanische Westküste = . 3,6 : * Zentral-Amerika : . 2,7 0 Columbia * . 3,1 s * Deutschland * . 3 * s Mit geringeren Mengen sind noch zu nennen in Amerika: Argentinien, Bolivien, Chile, Ecuador, Britisch- Guyana, Niederländisch-Guyana, Französisch-Guyana, Peru, Uruguay, Venezuela, in Europa: Österreich, Ungarn, Frankreich, Italien, Norwegen, Portugal, Spanien, Schweden, Türkei, Großbritannien, in Afrika: Madagaskar, in Asien: Borneo, Niederländisch-Indien, Japan, Korea, Malayische Halbinsel. Die einzelnen Goldfelder der Goldländer zu benennen, würde zu weit führen. Ich will nur als wichtigstes hervorheben, daß im Transvaal die Haupt- menge am Witwatersrand gewonnen wird, in den Vereinigten Staaten von Amerika im Felsengebirge, im Wild-West, im Cold North (Klondike). Jede Kolonie des Australkontinents, Tasmanien und Neu-Seeland haben produktive Goldfelder. Rußlands Schätze liegen im Ural, im Altai, mehr aber in Ost- sibirien in den Gouvernements Jenisseisk, Jakutsk (a. d. Lena), in Trans- baikalien (Nertschinsk) und am Amur. Wenn unter den goldliefernden Ländern fast alle Staaten Europas erscheinen, so ist zu bemerken, daß es sich da allerdings nicht um Vor- handensein eigentlicher Goldfelder in dem Sinne Australiens, Transvaals und Nord- Amerikas handelt; denn wenn auch noch hier und dort echte VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 141 Goldquarzgänge (z. B. bei Hußdorf in Schlesien) sich finden, so wird das Gold dieser Länder mehr als Nebenprodukt bei anderer Metallgewinnung erzielt, z.B. aus Arsenerzen bei Reichenstein, aus den Blei- und Silbererzen des Harzes, aus dem Schwefelkies des Rammeisbergs, sowie aus nach England, Deutschland und anderswohin importierten Schwefelkiesen Spaniens und anderer Länder. Hinsichtlich der Zukunft des Goldes sind Hauchecornes Worte, mit denen er seine der Silberkommission vorgelegte Arbeit „Die gegenwärtige Lage der Edelmetallgewinnung der Erde“ 1893 schloß, noch immer zu- treffend: „Hinsichtlich der Frage, ob der noch vorhandene Naturschatz an Goldlagerstätten dazu ausreichend sei, noch auf lange Zeit hinaus eine große Produktion zu gewähren, dürften die angeführten tatsächlichen Ver- hältnisse es ersichtlich machen, daß diese Frage zu bejahen und selbst eine ansehnliche Steigerung der Goldproduktion über die heutige Ausbeute hinaus zu erwarten ist. In Amerika, in Australien, in Asien und in Afrika sind noch sehr weite Gebiete gar nicht oder nur unvollständig untersucht, in welchen das Vorhandensein von Gold bekannt ist oder vermutet werden darf. Auch ist im Verhältnis zu der außerordentlich großen Verbreitung von ausgebeuteten und teilweise noch in der Ausbeutung begriffenen Gold- seifenlagern die Eröffnung von Bergwerksbetrieb auf den im Gebirge an- stehenden Ursprungslagerstätten bisher nur in geringem Maße erfolgt. Eine weitere Zunahme des Bergbaues ist um so mehr zu erwarten, als in jüngster Zeit eine Reihe erfolgreicher Verbesserungen in der hütten- männischen Verarbeitung der Erze aufgefunden worden ist, durch welche die Verwertung von Erzen ermöglicht wird, die bisher einen lohnenden Betrieb nicht zuließen.“ (Soweit Hauchecorne!) Seit jener Zeit sind weitere Goldfelder in Westaustralien, in Alaska (Klondike), in Canada, an der afrikanischen Westküste, in Zentralafrika und a. a. 0. erschlossen worden. Die Hauptmasse des Goldes wird jetzt als Berggold, nicht als Seifengold gewonnen. Alljährlich steigt die Gold- gewinnung und wird voraussichtlich noch weiter steigen, weil größere Gebiete der Erde noch weiterer Erschließung harren. Süß sagte: Gold findet sich nur noch an den Grenzen der Kultur. Meines Erachtens kann auch innerhalb der Kulturländer erneute Gold- gewinnung in höherem Maße erfolgen. Ein Beispiel: Der berühmte Erz- lagerstättenkenner Stelzner erwähnte vor der Silberkommission, daß einer Berechnung Daubrees • zufolge zwischen Basel und Mannheim der Rhein 52 000 kg Gold (Wert 144 Millionen Mark) führe. Die Möglichkeit ist keineswegs ausgeschlossen, daß andere Zeitläufte und verbesserte Arbeits- methoden die zurzeit anscheinend nicht lohnende Hebung dieses Rheingolds später zum Teil doch einmal lohnend erscheinen lassen. Da mein der Silberkommission vorgelegter Bericht über die Goldlager- stätten des Transvaal, welcher am 20. Februar 1894 von der Reichs- regierung im Reichsanzeiger veröffentlicht wurde, von den Doppelwährungs- 142 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. männern seinerzeit heftige Angriffe erfuhr, möchte ich hinzufügen, daß meine absichtlich sehr vorsichtig berechnete Voraussage sich im Laufe der 18 Jahre, die seitdem verflossen sind, nicht nur bestätigt hat, sondern von den Tatsachen weit übertroffen worden ist. Hauchecornes und mein Bericht, welche die Behauptung von der Knappheit der Golddecke für die Goldwährung erfolgreich widerlegten, boten der Reichsregierung wertvolles Material zur Abwehr der Angriffe auf die Goldwährung, die seitdem voll- ständig erlahmt sind. Das in den Goldfeldern gewonnene Gold ist Rohgold, es enthält noch Beimengungen von Silber, Kupfer oder Zink und bedarf der Affination. Mancher Postdampfer führt in seiner Stahlkammer Barren nach London, Hamburg, Newyork, nach anderen Häfen zum Umschlag in die Haupt- städte, zur Umschmelzung und Feinung. Die Barren Feingold wandern in die Gewölbe der Banken zur Deckung des Notenumlaufs, in die Münze zur Prägung in geeigneter Legierung oder in die Werkstätten der Goldarbeiter. Da Gold der allgemeine Wertmesser fast aller Kulturländer ist, ist der Marktwert des reinen Goldes (1 kg Feingold kostet bekanntlich 2780 Mk.) konstant. Es ist das einzige Metall, dessen Wert von der Konjunktur so gut wie unabhängig ist. Silber, Blei, Zink. Ganz anders liegt es mit dem Silber, seit dessen Demonetisierung. Solange die Doppelwährung bestand, hatte Silber ein bestimmtes Wert- verhältnis zu Gold, und zwar wie 1: 1 5 1/2 . Als aber die Goldwährung in Deutschland im Jahre 1873 eingeführt wurde, begann ein derart heftiger Preisfall des weißen Metalls, daß es von 178 Mk. für 1 kg im Jahre 1872 bis auf 80,38 Mk. im Mai 1912 sank. Silber tritt, wirtschaftlich betrachtet, nur selten in reinen Silbererzen auf; fast immer kommen Silber, Blei und Zink zusammen vor; die wichtigsten Silbererze sind eben silberhaltiger Bleiglanz und silberhaltige Zinkblende; auch mit Kupfer kommt Silber vor. Wir müssen daher Silber-, Blei- und Zinkerzvorkommen gemeinsam betrachten. Sehr charakteristisch für das Zusammenvorkommen von Blei- und Zink- erzen sind zwei Beispiele: 1. Die Hauptbleierzproduktion hat Broken Hill Mine in Neusüd- wales (Australien) nördlich Adelaide mit einem Bleierzwert 1907 von 74 600 000 Mk. und einem Zinkerzwerte von 15 000 000 Mk. 2. Die Hauptzinkerzproduktion aber hat Missouri-Kansas mit einem Zinkerzwert von 51 200 000 Mk. und einem Bleierzwert von 46 500 000 Mk. Der Gehalt der Erze wechselt sehr. In Deutschland enthielten 1908: 2 913 150 t Roherz im Durchschnitt 11,0 °/0 Zink und 3,9 °/0 Blei. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 143 Finden sich zwar auf der Erde, über fast alle Länder zerstreut, eine große Zahl von Silber-, Blei-, Zinkerzlagerstätten, so gründet sich die Welt- erzeugung nur auf eine verhältnismäßig geringe Zahl von Bergbaubezirken. Von der Bleierzproduktion der Erde im Jahre 1907 von 361 700 000 Mk. Wert übernahm Amerika nicht ganz die Hälfte, während Europa und Australien in die andere Hälfte sich beinahe gleichmäßig teilten. Die Hauptbleierzproduktionsländer sind Vereinigte Staaten (mehr als 1/3 in Missouri-Kansas, Shoshone, Utah und Leadville Aspen), Neusüdwales (Australien), Spanien (46 000 000 Mk.), Mexiko und Deutschland (Ober- schlesien 6 100 000 Mk., Rheinisches Schiefergebirge 6 000 000 Mk., Harz 3 666 000 Mk.). Von der ganzen Zinkerzproduktion der Erde im Werte von 176 600 000 Mark lieferte Europa fast die Hälfte; alsdann kam Amerika, während die anderen Erdteile zurücktraten. Die Hauptzinkerzproduktionsländer sind die Vereinigten Staaten, Deutschland, Italien und Neusüdwales. In Deutsch- land trugen zu einem Gesamtproduktionswert von 42 800 000 Mk. Ober- schlesien 28 300 000 Mk. und rheinisches Schiefergebirge 10 600 000 Mk. bei. Italien (und zwar 13/ J5 Sardinien) warf für 15 300 000 Mk., Neusüd- wales für 15 000 000 Mk. auf den Weltmarkt. Nach der Gesamtsilbererzeugung der Welt von 7336 t im Jahre 1909 gruppierten sich die Produktionsländer wie folgt: förderten erschmolzen aus Bergwerken in Hütten Ver. Staaten von Amerika. 1 702,1 t 3 877,8 t Mexiko 2 299,9 * 1 008,7 * Großbritannien 14,3 * 663,3 s Canada 867,1 * 442,9 = Deutschland 165,9 * 400,6 * Belgien — 269,8 * Zentral- und Südamerika . 570,2 = 200,0 * Spanien und Portugal . . 148,3 = 153,5 * Japan 133,9 * o © © Australien 508,8 = 83,2 = Frankreich 18,4 * 63,7 = Österreich-Ungarn .... 31,1 * 49,8 * Italien . . . 24,5 = 20,5 * Norwegen . 6,6 * 8,3 * Rußland 4,1 * 4,1 - Türkei ........ 23,7 * 1,5 . Afrika 33,5 * Griechenland 25,8 * Ostindien 14,5 * Serbien 0,3 * 144 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Silber- Hüttenerzeugung und Metrische Länder 1903 1904 1905 Europa. Deutschland . 396,3 181,1 389,8 180,4 399,8 181,1 Großbritannien 385,0 4,6 446,7 5,4 532,9 5,2 Frankreich 60,0 23,3 57,0 19,0 56,8 9,3 Österreich-Ungarn .... 59,1 50,5 55,4 61,8 53,5 57,9 Belgien 228,0 — 250,0 — 200,0 — Spanien und Portugal . 113,0 151,8 117,4 127,2 92,8 124,4 Italien 24,4 25,1 24,7 23,6 20,1 23,6 Rußland . • 5,0 5,0 5,4 5,4 3,9 6,4 Schweden 1,0 1,1 0,7 0,7 0,6 0,8 Norwegen 6,2 6,2 7,5 8,1 7,5 7,6 Türkei 1,5 14,3 1,5 17,6 1,5 17,0 Griechenland 33,0 27,8 — 25,8 Serbien — — — — — — Total: Europa. . 1 279,5 4 96,0 1 356,1 501,5 1 369,4 443,3 A m e r i k a. Ver. Staaten v. Amerika 3 050,0 1 689,3 3 032,8 1 794,5 3 061,5 1 745,3 Mexiko 860,0 2193,2 820,0 1 891,8 740,0 1700,2 Zentral- u. Südamerika 200,0 374,4 200,0 361,8 200,0 185,9 Canada 17,2 98,0 17,2 115,7 20,0 329,5 Total: Amerika.. 4 127,2 4 354,9 4 070,0 4163,8 4 021,5 3960,9 Australien 182,0 301,2 200,0 452,9 158,6 390,8 Asien. Japan 58,6 56,4 61,9 99,8 75,0 75,0 Ostindien — 5,5 — 5,5 — 5J Afrika — 10,7 — 15,1 — 19,3 Gesamterzeugung. . 5 647,3 5224,7 5 688,0 5238,6 5 624,5 4 895,0 Durchschnittsjahres- erzeugung in Pence pro Unze fein 2673 28'/, 30 Wert der Erzeugung in 1000 Jl 411 600 428 700 461 200 *) Die großen Zahlen geben die berechnete Hüttenerzeugung an, die kleinen Vereinigten Staaten von Amerika. Die für das Jahr 1910 angegebenen Zahlen VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 145 erzeugung. Bergwerkserzeugung*). Tonnen. 1906 1907 1908 1909 1910 393,4 177,2 387,0 158,3 407,2 154,6 400,6 165,9 420,0 486,4 4,3 528,1 4,3 623,2 4,2 619,8 14,3 536,1 50,1 27,7 55,0 22,4 — 24,7 63,7 18,4 60,0 54,0 56,2 49,1 55,0 46,9 55,1 50,5 31,1 63,1 171,2 — 177,0 — 225,8 — 271,3 — 264,7 100,0 126,4 100,0 127,4 165,0 129,9 153,6 148,3 134,9 20,4 20,9 19,8 23,0 21,3 21,0 20,5 24,5 14,2 3,7 5,2 5,0 4,0 4,2 4,1 4,1 4,1 4,9 0,7 1,0 1,0 1,0 0,6 1,1 0,5 0,9 — 5,3 5,4 7,0 6,3 7,0 7,0 8,3 6,6 8,1 1,5 18,0 1,5 16,0 1,5 17,0 1,5 23,7 1,5 25,8 — 26,0 — 25,8 — 25,8 0,3 1 286,7 468,1 1 322,5 443,7 1 557,7 444,5 1 594,4 463,9 1 507,5 3 089,6 1 757,9 3 555,1 1757,8 3 669,8 1 631,1 3 877,8 1 702,1 ? 820,0 1717,7 800,0 1901,9 980,0 2291,3 1 010,4 2299,9 1 055,6 200,0 415,5 200,0 552,3 200,0 574,3 200,0 570,2 200,0 20,0 266,5 20,0 397,5 20,0 687,6 442,9 867,1 509,2 4 129,6 4157,6 4 575,1 4 609,5 4 869,8 5184,3 5 529,4 5439,3 133,0 442,8 124,4 593,6 85,5 534,2 83,2 508,8 129,1 101,0 76,2 91,2 88,2 90,0 118,2 127,9 133,1 143,6 — 5,7 — 10,0 — 15,9 — 14,5 — — 21,8 — 24,6 — 39,6 — 33,5 — 5 751,3 5172,2 6 113,2 5 773,6 6 603,0 6 336,7 7 336,6 6 593,1 3o 1j3 3 27,o 20 V, 23% 26% 514 700 544 700 475 200 514 500 schrägen Zahlen die Bergwerkserzeugung nach den Angaben des Münzdirektors der beziehen sich auf die Hüttenerzeugung. 1912. 10 146 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Hieraus ist ersichtlich, daß Silbererze oder silberhaltige Blei- und Zink- erze beziehen trotz eigenem Bergbau: Vereinigte Staaten von Amerika, Großbritannien, Deutschland, F rankreich ; ohne eigenen Bergbau : Belgien. Erze geben ab trotz eigener Sibererzeugung: Mexiko, Canada, Zentral- und Südamerika, Japan, Australien, Türkei; ohne eigene Silbererzeugung: Griechenland, Afrika, Ostindien, Serbien. Blei erschmolzen 1910 aus eigenen und fremden Erzen: Vereinigte Staaten von Amerika o o '"0/ oo,«7o der Weltproduktion Spanien 16,9 * ' Deutschland 13,4 = 5 Mexiko 11,0 * * * Australien 8,7 , s Belgien 3,5 = Großbritannien 2,6 , = Frankreich 1,8 * Österreich-Ungarn 1,5 ' 5 Zink erschmolzen 1910 Vereinigte Staaten von Amerika 29,0% der Weltproduktion Deutschland 25,0 * S Belgien 19,9 * e Großbritannien 7,3, = * Frankreich und Spanien . . . 6,8 * * Holland 2,4 = s * Österreich und Italien .... 1,5 = = 5 Rußland 1,0 , * Blei verbrauchte 1911 Europa 62, ,5 °/0 der Weltproduktion, woran Deutschland mit. . • 20,5% Großbritannien « . . . 17,8 , Frankreich * . . CO VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 147 Belgien mit . . . 3,6% Österreich-Ungarn s . . . 3,2 * Italien = . . . 3,2 * beteiligt waren. Vereinigte Staaten von Amerika standen dem mit 34,6 % Verbrauch gegenüber, Japan mit 1,6 * Australien ^ 0,5 » . Zink verbrauchte Europa 1911: 646 300 t oder 72,2 % der Welt- produktion; hiervon entfielen auf Deutschland 219 800 t oder 24,5%. 50 500 t Zinkwaren wurden in Deutschland mehr aus- wie eingeführt. Nur an Zinkblechen wurden 37 600 t ausgeführt, von denen allein 12 000 t nach Argentinien zur Bekämpfung der Heuschreckenplage gingen. Auf den Verbrauch von Großbritannien entfielen 1911 19,6%, * * s f Frankreich 9,7 = ss s der Vereinigten Staaten von Amerika 28,3 s der Welterzeugung. Ein Zinksyndikat suchte heftige Schwankungen der Preise zu ver- meiden. Wir sehen somit, daß in Blei- und Zinkbergbau, -Verhüttung und -verbrauch die Vereinigten Staaten voranstehen, dann gleich oder bald Deutschland kommt, während England und gar erst Frankreich viel später folgen. In Deutschland steht im Blei- und Zinkgeschäft Oberschlesien, begründet auf Erz und Kohle, an der Spitze. Da darf nun allerdings nicht vergessen werden anzuführen, daß Oberschlesiens Blei- und Zinkerzlagerstätten in 30 bis 40 Jahren ihrer Erschöpfung entgegengehen. Doch lehrt eine alte Erfahrung, daß da, wo gewisse Industrien mit Aufwendung großer Kapitalien und unter Errichtung umfangreicher Bauten sich entwickelt haben, diese selbst nach Erschöpfung des Rohmaterials erhalten bleiben, da sie rechtzeitig für Ersatz Sorge tragen. Dem trägt auch jetzt schon die oberschlesische Industrie Rechnung. Im übrigen bleibt ja die andere wichtige Grundlage, die Kohle, noch lange erhalten, Kupfer. Ziemlich kompliziert liegen die Verhältnisse bei Kupfer. Fast alle Kupfererze sind ziemlich arm an Metallgehalt, mag es sich um die sehr reinen gediegenen Kupferimprägnationen im Melaphyr am Lake Superior mit dem Durchschnittsgehalt von 3 °/0 handeln, oder um die Gänge bei Butte in Montana, zu Anakonda oder Katanga, um die metasomatischen Lager in Arizona und in Mexiko, um den Mansfelder Kupferschiefer, um die Sieger- länder kupferführenden Spateisensteingänge oder um die Schwefelkiese zu Rio Tinto in Spanien, welche früher bis 3 %, neuerdings nur noch bis 1,5 bis 2 % Kupfer in der Tonne führen. Nach deutschen Verhältnissen 10* 148 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Bergwerkserzeugung der hauptsächlichsten Kupfergewinnungs- Nach Henry R. Morton & Co., Ltd., Länder Europa. Deutschland-Mansfeld Übrige Betriebe Großbritannien Italien Norwegen-Sulitelma Übrige Betriebe Österreich Rußland Schweden Spanien und Portugal Rio Tinto Tharsis Mason und Barry ....... Sevilla Übrige Betriebe Türkei Ungarn inkl.Bosnienu. Serbien Zusammen Europa Amerika, a) Nordamerika. Canada Mexiko-Boleo Übrige Betriebe Neufundland Vereinigte Staaten Zusammen Nordamerika . . . b) Mittel- und Südamerika. Argentinien Bolivien-Corocoro Chile Peru Venezuela Cuba Zusammen Mittel- und Süd- amerika Zusammen Amerika Afrika. Kapland-Cape Copper Co... Namaqua Übriges Afrika Zusammen Afrika Asien. Japan Australien. Zusammen Australien Insgesamt. . . 1902 1903 1904 1905 19 100 19 300 19 000 19 900 2 900 2 300 2 300 2 600 480 540 490 720 3 863 3 620 3 593 3 578 2 800 3 300 3 400 3 200 1 800 2 800 2 100 3 200 1000 1 100 1 300 1 200 8 800 10 500 10 900 8 900 500 500 400 600 ( 35 000 i 36 400 f 34 000 f 32 800 8 6 800 8 6 400 O o 5 700 g 4 400 ° { 3 400 10 { 2 500 OO 3 000 iO S 2 800 § | 1 600 8 i ioo k? 1400 iO 1 300 l 3 800 l 4 100 ' 3 700 4 200 1 100 1 400 1 000 700 500 300 200 200 93 443 96 160 92 483 90 298 17 800 19 600 19 500 20 900 11 000 10 500 11 100 10 300 30 500 40 600 50 600 55 900 2 100 2 100 2 200 2 300 299 000 316 600 368 600 395 000 304 400 389 400 452 000 4S4 400 300 100 200 200 2 100 2 100 2 000 2 000 29 400 31400 30 600 29 600 7 700 7 900 6 900 8 800 39 500 41 500 39 700 40 600 399 900 430 900 491 700 525 000 2 800 4 700 5 600 5 100 1 700 600 2 300 2 300 4 500 5 300 7 900 7 400 30 300 31 900 35 400 36 500 29 100 29 500 34 700 34 500 557 243 593 760 662 183 693 698 VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 149 an Kupfererzen länder auf Kupfer berechnet. London (Metrische Tonnen). 1906 1907 1908 1909 1910 1911 18 100 17 300 18 000 19 000 20 300 20 800 2 600 3 500 2 500 3 800 4 800 ? 750 680 590 440 460 500 4311 4 024 2 825 2 535 1 766 1 800 3 400 3 900 3 700 4 400 5 000 3 600 2 800 3 200 5 600 4 900 5 600 5 900 1 200 900 1 600 1 600 2 200 2 563 10 700 14 800 16 800 18 500 22 600 25 600 1 500 2 000 2 000 2 000 2 000 2 000 34 600 32 800 { 34 800 ( 35 900 f 34 100 35 100 O 4 800 8 4 500 o 4 500 g 4 400 8 3 600 © o 3 400 2 500 S 1 2 700 2 800 ° \ 2 400 ^ { 3 000 ° ^ 3 000 o iO 2 100 io 2 300 lO 2 200 $ 1900 £ 1 700 s 1 600 6 100 8 200 * 9 100 l 8 400 ' S 700 9 900 400 1 300 1 100 800 600 1 000 20t) 100 2 300 4 700 5 000 7 100 96 061 102 204 110 415 115 675 121 426 125 363 25 900 26 000 29 000 24 500 26 100 25 300 11 000 11 200 12 600 12 400 13 000 12 400 50 600 46 300 28 000 44 800 46 700 42 500 2 300 1 700 1 500 1 400 1 100 1 200 416 200 398 800 430 100 495 800 492 700 500 500 506 000 484 000 501 200 578 900 579 600 581 900 100 200 200 600 300 1 000 2 500 2 500 2 500 2 000 2 500 1 800 26 200 27 100 38 900 36 400 35 800 30 100 8 600 10 700 15 200 16 300 18 600 25 900 — — 3 000 3 000 3 500 4 500 37 400 40 500 59 800 58 300 60 700 63 300 543 400 524 500 561 000 637 200 640 300 645 200 4 000 4 300 4 500 4 700 4 500 4 600 2 600 2 500 - 2 400 2 300 2 500 2 500 400 100 — 8 100 8 400 10 200 7 000 6 900 6 900 15 100 15 400 17 300 43 400 49 700 43 700 47 800 46 700 55 900 36 800 41 900 40100 35 000 41 000 42 500 726 661 725 204 762 115 850 775 S64 826 886 263 150 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. muß man 2,5 bis 3 °/0 Kupfergehalt fordern, wenn bei Abwesenheit anderer nutzbarer Stoffe Rentabilität erzielt werden soll. Diese Rentabilität wird aber an vielen Orten durch Beimengung anderer Metalle erzielt. Beispiels- weise führt zu Otavi die Kupfererzlagerstätte noch Blei- und Zinkerze, im Mansfeldschen Silber; die Spateisensteingänge des Siegerlandes enthalten Kupfer nur als Nebenprodukt, und die Schwefelkiese zu Rio Tinto werden auf Schwefelsäure, Kupfer, Silber und Eisenerze verarbeitet. Die Hauptproduktionsländer gruppierten sich 1911 nach der Erz- gewinnung, auf Kupfer berechnet, wie folgt: 1. Vereinigte Staaten (Arizona, Montana, Utah, Kalifornien, Oberer See 500 500 t, 2. Japan 55 900 * 3. Mexiko 54 900 = IRio Tinto . . 34 100 t \ Tharsis ... 3 600 = f / 53 000 ; Mason u. Barry 3 000 * ( Andere Werke 5 270 ' ) 5. Australien (Mount Lyell usw.) 42 500 = 6. Chile 30 100 = 7. Peru 25 900 = 8. Rußland 25 600 = 9. Canada 25 300 = 10. Deutschland 22 300 * 11. Norwegen 9 500 = 12. Ungarn, Bosnien, Serbien 7 100 * 13. Kapland 4 600 s 14. Namaqualand 2 500 * 15. Italien 1 800 = 1 6. Türkei 1 000 = 17. England 500 * Die Vereinigten Staaten stehen somit allen anderen Ländern weit voraus. Ob der Katanga-Distrikt die von einigen in ihn gesetzte Hoffnung, daß er sich an zweite oder gar erste Stelle setzen würde, rechtfertigen wird, wird von anderen sehr bezweifelt. Nach der Kupfer ge winnung aus einheimischen und ausländischen Erzen ergab sich 1910 folgende Rangordnung: 1. Vereinigte Staaten 527 000 t, 2. Zentral- und Südamerika 80 000 s 3. England 71 000 - 4. Japan 50 000 * 5. Australien 37 300 = 6. Deutschland 34 900 s VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen 151 7. Rußland 8. Britisch Nordamerika 9. Frankreich 10. Italien 11. Österreich-Ungarn 12. Andere europäische Länder (Schweden, Nor- 22 100 t, 13 500 = 7 800 * 2 500 * 2 300 = wegen, Spanien, Balkanstaaten) 29 300 * Hieraus ist ersichtlich, daß u. a. die Vereinigten Staaten, England, Deutschland und Frankreich, auch Japan Fremderze für ihre Hüttenwerke beziehen, während Mexiko, Australien, Afrika, Canada Erze an jene Länder abgeben. Die Welterzeugung an Kupfer betrug 1910: 886 900 t im Werte von 1 019 400 000 Mk., der Weltverbrauch 904 700 t. Wie eigenartig die Absatzwege der Erze zuweilen sind, ergibt sich daraus, daß seit etwa 1875: 17 am Rhein zwischen Duisburg und Mann- heim belegene chemische Fabriken spanische Schwefelkiese auf dem Wasser- wege zur Abröstung auf Schwefelsäure beziehen, deren Rückstände sie dann ebenfalls auf dem Rhein an eine 1876 auf gemeinsame Kosten bei Duisburg errichtete Kupferhütte zur Extraktion von Kupfer, Silber und Gold abgeben. Die Rückstände der Kupferhütte (sogen, purple ore) wandern dann als Eisenerz zu den Eisenhochöfen. In gleicher Weise schlossen sich chemische Fabriken Mittel- und Norddeutschlands zur Gründung einer Kupferextraktion zu Harburg zu- sammen. Auch die Königshütte in Oberschlesien und die Wittkowitzer Eisenwerke bei Mährisch-Ostrau besitzen Kupferextraktionen zur Nutzbar- machung spanischer Schwefelkiese, deren Rückstände sie ihren Eisenhoch- öfen zuführen. Der Kupferpreis unterliegt infolge wilder Spekulation, die in der Regel von Amerika ausgeht, ganz außerordentlichen Schwankungen. In den beiden letzten Jahren hat der Weltverbrauch die Welterzeugung bedeutend überschritten, und eine beträchtliche Verminderung der öffent- lichen Vorräte herbeigeführt. An dem Weltverbrauch des Jahres 1911 waren die Vereinigten Staaten von Amerika mit 33,6 °/0, Europa = 63,2 => beteiligt, darunter Deutschland * 22,6 = Großbritannien = 16,6 * Frankreich « 9,9 = Es haben somit, da die Produktion der Vereinigten Staaten von Amerika 58,7 °/0 der Welterzeugung betrug, ganz bedeutende Kupferverschiffungen von Amerika nach Europa stattgefunden. Nachstehende Tafel zeigt anschaulich, wie unabhängig Kupferpreis und Kupfererzeugung von einander sind. 252 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 5h pi*o t Verhältnis des Kupferpreises zur Gesamtproduktion. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 153 Die für die Kupfernotierungen hauptsächlich maßgebende Börse ist die von Neuyork, welche selbst für die Börse zu London meist die Preise an- gibt. Es folgen dann die Börsen zu Hamburg, Antwerpen, Le Havre, Berlin (meist für Mansfelder Kupfer) und Paris (vorwiegend für Chile- Kupfer). Diamant. Die Schätze Indiens, von wo bis 1728 allein alle Diamanten kamen, waren sprichwörtlich; dort wurden die großen historischen Diamanten im Golkondalande gefunden. Jetzt aber liefern Diamanten nur noch die Seifen von Cuddapah am Panar, Banganbally, Sumphulpur am Godaweri und die der Pannagruppe, bei Bandelkhand. Diamanten fanden sich in den Ver- einigten Staaten von Amerika in den Alleghanies, in Kalifornien, Oregon, Arkansas und im Seengebiet. Diamanten führen Seifen in Borneo und Goldseifen im Ural, in Victoria und Neusüdwales. In Brasilien liegen Diamanten in Konglomeraten, Gerollen und Sanden in Minas Geraes, Sao Paulo, Goyaz und Mattogrosso. ln Südafrika fand man 1867 Diamanten in den Flußsanden des Vaal Rivers, und im Jahre 1870 bei Kimberley, dann bei Jagersfontain, später bei Pretoria in kuppenförmigen Erhebungen des Geländes, die sich als die Ausgehenden von vertikal in die Tiefe gehenden Eruptivschloten, ausgefüllt mit Kimberlit (einem serpentinisierten Olivingestein), erwiesen. Angenehm überrascht wurden schließlich alle an den kolonialen Be- strebungen Deutschlands interessierten Kreise, als vor einigen Jahren in dem Sande der Namib Deutsch-Südwestafrikas, dem sandigen Wüstengürtel, welcher das fruchtbare Hinterland von der Küste trennt, Diamanten ent- deckt und gewonnen wurden. Seifenartige Lagerstätten (gleichgültig ob Sande, Gerolle oder Fluß- seifen) haben eine zeitlich weit beschränktere Lebensdauer als die ursprüng- lichen Lagerstätten* sehr wichtig ist für das deutsch-südwestafiikanische Vorkommen daher die Frage, ob, wie in Britisch-Betschuanaland, in der Oranje River Kolonie und im Transvaal, auch in Deutsch-Südwestafrika, die Eruptivschlote, in denen das Muttergestein der Diamanten emporstieg, noch gefunden werden. Die neuere geologische Auffassung geht dahin, daß diese unter den Sanden der Namib oder unweit derselben wohl noch gefunden werden könnten. Der Wert der Diamanten wird bestimmt durch Farbe, Reinheit, Schnitt und Gewicht. Am höchsten im Preise stehen die farblosen, niedriger die roten, gelben, grünen, blauen, am niedrigsten die schwärzlichen, bräun- lichen, stahlfarbenen oder unrein bläulichen. Während 1550 ein Karat 350 Mk. Wert hatte, sank der Preis nach Auffindung der reichen Kimberleylagerstätten rasch bis auf 15 Mk. für einen Karat, der sich erst wieder hob, als Cecil Rhodes nach Begründung der De Beers Company die sämtlichen Lagerstätten bei Kimberley in eine 154 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Hand brachte und durch Einstellung des Abbaus auf mehreren Lagerstätten die Produktion beschränkte. Hierin trat auch keine wesentliche Änderung ein, als die Lagerstätten bei Pretoria und später in Deutsch-Südwestafrika entdeckt wurden und die anderen Gesellschaften ihre Unabhängigkeit von der De Beers Company zu wahren suchten. Der größte gefundene Diamant ist der Cullinan, 30243/4 Karat schwer, im Werte von 9 Millionen Pfund Sterling = 183 600 000 Mk. Die Haupthandelsplätze sind London, Antwerpen und Amsterdam. Die Diamantschleiferei wird fast nur in Amsterdam und in Hanau betrieben. Zinn. Die Zinnwelterzeugung hatte 1910 347 Millionen Mark Wert. 60 °/0 hiervon stammten aus den Zinnseifen der malayischen Staaten, deren Aus- beute zu Schmelzwerken in Singapore und Penang gebracht wurde. Die reichen Seifen sind dort abgebaut, die ärmeren Seifen in Angriff genommen worden. Zinn produzieren noch Deutschland (1910 im Werte von 35 Millionen Mark) und England (1910 im Werte von 56 Millionen Mark), und zwar ersteres lediglich aus bolivianischem Gangerz, England aus diesem und zu einem Drittel aus eigenen Erzen aus Cornwall. Andere europäische Länder und Amerika bereiten kein metallisches Zinn. Australien produziert mehrere Tausend Tonnen Erz. Dagegen regte der hohe Zinnpreis andere Länder zu eifrigen Nach- forschungen an, die in Deutsch-Südwestafrika Erfolg hatten, denn es wird vom Fund von Zinnlagerstätten (Pegmatitgängen und Zinnseifen) in den Bezirken Karibib, Omaruru und Swakopmund berichtet, die vielversprechend sind. Für die nächsten Jahre wird dort mit Zinnförderung im Werte von 300 000 bis 400 000 Mk. gerechnet. Die Verwendung des Zinns ist in allen Kulturländern beträchtlich; obenan stehen die Vereinigten Staaten von Amerika. . mit 48 000 t, dann folgen Deutschland = 19 300 = Großbritannien = 18 400 * Frankreich = 7 400 ~ Österreich-Ungarn = 3 900 * China = 2 400 * Italien = 2 400 * Rußland - 1 900 * Belgien » 1 700 * usw. Nickel. Mit Ausnahme geringer Erzmengen, die in Deutschland, Norwegen und den Vereinigten Staaten von Amerika gewonnen werden, stammt die VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 155 gesamte Nickelerzerzeugung aus Neu-Kaledonien (1908: 108 000 t Ni) und aus Kanada (1908: 8685 t Ni), wobei die Erzmenge etwa 50 mal so groß ist. Aus diesen Erzen produzierten 1911 Vereinigte Staaten von Amerika und Kanada . . 12 000 t Nickel, Deutschland 5 000 = = England 4 500 = * Frankreich 2 000 ? * Alle übrigen Länder 1 000 «■ * In Preußen wird Nickel wesentlich nur in Iserlohn und unweit Frankenstein erhüttet; bei dem Werke bei Frankenstein ist bemerkenswert, daß es trotz einer umfangreichen eigenen Nickelerzlagerstätte die Haupt- verhiittungserze aus Neu-Kaledonien bezieht. Die Hauptmasse des Nickels wird dem Stahl bei der Herstellung besonders fester Panzerplatten zugesetzt; der geringere Teil wird zu Neu- silber, zu Gebrauchsgegenständen und zur Scheidemünzprägung verwendet. Aluminium. Wegen seiner wachsenden Bedeutung in der Technik muß Aluminium dem Kreise unserer Betrachtung ebenfalls unterworfen werden. Zwar ist dies Metall das drittverbreitetste Element der Erde, doch sind die vielen Aluminiumsilikate, welche gesteinsbildend auftreten, bisher noch für seine Gewinnung wertlos, da noch kein Verfahren gefunden wurde, Aluminium aus ihnen abzuscheiden. Vorab geschieht die Darstellung aus Bauxit (Al203.2 H20), Diasporit (A1203.H20) und Kryolith (Na3AlFlG). Bauxit findet sieb in geringeren Mengen an manchen Orten, in größerer bauwürdiger Menge aber in den Vereinigten Staaten von Amerika, Groß- britannien, Frankreich, Deutschland, in Ungarn, Dalmatien und Indien, Diasporit in Siebenbürgen, Kryolith in Grönland und im Ural. 1911 verbrauchten: Vereinigte Staaten von Amerika 22 000 t Frankreich 5 000 * England 3 000 = Italien 900 * Deutschland, Österreich-Ungarn, Schweiz, Rußland, übrige Länder 17 000 =. Die Zahlen über Erzeugung und Verbrauch sind nur geschätzt, da die Werke ablehnen, Angaben zu machen. Dies Metall findet zur Herstellung von täglichen Gebrauchsgegenständen, wegen seiner großen Leichtigkeit beim Bau von Automobilen, Luftschiffen und Flugapparaten, und neuerdings auch als Leitungsmetall an Stelle des Kupfers in der Elektrotechnik Verwendung. Wenn einmal die Erschöpfung des Eisens langsam sich einleiten wird dadurch, daß nicht mehr wie bisher alljährlich steigende Eisenmassen dem NB. Seit dem Jahre 1901 lehnen es die Werke ab, Angaben über die Höbe ihrer Erzeugung zu machen. Die Erzeugungs- ziffern sind daher von sachverständiger Seite geschätzt. 156 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Wert der Erzeugung in 1000 M Durchschnittlicher Jahrespreis in Mark für 1 kg Erzeugung insgesamt zirka Norwegen Erzeugung . Italien Erzeugung . < a> 2 5* erq’ . p aq ( Erzeugung. Frankreich ' Einfuhr . . [ Ausfuhr . . England Erzeugung . Schweiz { Einfuhr ' ' l Ausfuhr . . Deutschland j Österreich-Ungarn , Erzeugung . Schweiz J Deutschland { Einfuhr . . v Ausfuhr . . c< co H-* es H-k o es Ol | | b© b© CO b© © ca Ol es © CD o o o< © n © o © © uc CD o o ca © 05 © © £*»■ 00 © t© © GC es ■<1 CO — bS h* h-k CO CO 00 ] | co co 05 CH Ol co CD cn o >£> o o o IO © ca © o © © © co © o ca © co © CD b© GO co H- k b© CO CO b© | | bS >T^ 05 05 •<1 ca Ol co CD O o es © 05 o © ^1 o OI ca O c ca © b© CH © © b© 00 © co üi b© b© CD CO t _ co LO CD CO co | | b© CD 05 •<1 •<1 05 o CD O Ol o co © 05 o CD © © L © C5 co © © © co © L© bS Ü1 o CO »h 05 H-k H-k co H-k co H-k CO CH ca 1 | co o »f*. o © 05 b© OI 00 o o © Ol o CO o O 05 © 1© CH o o © © ►ir- © © üi © 05 co 05 CD CO 6- H— co H-k CO CH 00 | | •e» © , — o 00 **■ o , CD CD o o o © o b© o o 05 ^1 o o o o © co ül © © CO © CD co CO b© <— CO 05 H— 05 bS co •— * C5 •<] 05 | 05 »© o CO © © ■fs» r> © ■<1 © CD o o o © © o 00 fcü ° © CD o CO bS Ca 05 H-k 05 co co IH o ca CO co © H-k o b© CD 00 1— © © o © o o o O o --3 © OD o o Ol © 05 CH o o o o OI o © © o t© ■<1 o ÜO > c Metrische Tonnen. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 157 Weltmärkte zugeführt werden können, dann mag Aluminium, etwa nach Herstellung von Legierungen, die seine Eigenschaften der vielseitigen Ver- wendung mehr anpassen, geeignet sein, mehr und mehr in die Rolle des Eisens einzutreten. Erdöl. Erdöl, als Imprägnation poröser, zelliger oder erdiger Gesteine, oder in Hohlräumen, in Spalten oder Klüften auftretend, sprudelt in Amerika an vielen Orten empor oder wird heraufgepumpt in Canada-Nord, Canada- West, Pennsylvania, West-Virginia, Ohio, Kentucky, Indiana, Louisiana, Kansas, Oklahoma, Colorado, Texas, Wyoming und Californien. Auch sind Lagerstätten bekannt in Alaska, Mexiko, Venezuela, Peru und Argentinien. Zahlreiche Funde liegen in Europa in einer Zone, die sich den Karpathenabhang entlang durch Galizien, die Bukowina und die Moldau nach der Krim und längs des Kaukasus bis zum Kaspischen Meer nach Baku und der Halbinsel Apscheron hin erstreckt. An Bedeutung stehen hiergegen weit zurück die Quellen in Deutschland (und zwar im Elsaß bei Pecheibronn und in der Lüneburger Heide bei Celle-Wietze) und in Itatien. In Asien findet man Erdöl in Kurdistan, Persien, Afghanistan, Belud- schistan, Vorder- und Hinterindien, in China, Formosa, Japan und Borneo. In Mesopotamien, in Palästina und an anderen Orten sind Anzeichen für Erdölvorkommen vorhanden, die Aussicht auf Nutzbarmachung bieten. Erdölwelterzeugung. Land 1908 (lOOOFaß) 1909 (lOOOFaß) 19 (lOOOFaß) 10 (lOOOm.t) 01 Io Vereinigte Staaten . . . 178 527 183 171 209 556 27 941 64 Rußland 62 186 65 970 70 336 9 378 21,4 Galizien 12 612 14 933 12 674 1 763 3,9 Holländisch-Indien . . . 10 283 11 042 11 031 1 496 3,4 Rumänien 8 252 9 327 9 722 1 352 3 Indien 5 047 6 776 6 138 818 1,9 Mexiko 3 482 2 489 3 333 444 1 Japan . 2 070 1 889 1 931 259 0,6 Peru 1 011 1 316 1 330 177 0,4 Deutschland 1 009 1 019 1 033 145 0,3 Kanada 528 421 317 42 0,1 Italien 51 42 42 6 — Andere Länder .... 30 30 30 4 — 285 089 298 326 327 472 43 824 | 100 158 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Vereinigte Staaten 1911: (1000 Faß) 224 292 (also gegen 1910 + 14 736). Bemerkung: 1 Faß = 159 1; 71/, Faß = 1 m. t. Die Eigenschaften der Erdöle der einzelnen Länder, sogar der Er- zeugungsorte desselben Landes, weichen sehr von einander ab, je nachdem die Kohlenwasserstoffe der Paraffmreihe oder der Naphtareihe überwiegen, und je nachdem akzessorische Bestandteile (Sauerstoff-, Stickstoff- und Schwefelverbindungen) vorhanden sind. Es kommt wesentlich darauf an, in welchen Mengenverhältnissen Benzin, Leuchtöl, Schmieröl und Paraffin in den Raffinerien erzielt werden können, was allerdings auch zum Teil wieder von der Güte der technischen Leitung abhängt. Man kann im allgemeinen unterscheiden : I. Erdöl, das nur als Heizstoff, beim Straßenbau (Staubvertilgungs- mittel) und für ähnliche Zwecke Verwendung finden kann, also niedrig im Preise stehen muß; Beispiel: Californische Erdöle. II. Erdöl, das nur geringe Mengen leicht siedender Anteile besitzt, also nur wenig Benzin und Leuchtöl liefert, und dessen hoch- siedende Anteile ein Schmiermaterial von nur geringer Güte liefern; Beispiel: Die deutschen (Wietzer) Erdöle. III. Erdöl, das geringe Mengen Benzin, mittlere Mengen Leuchtöl und große Mengen hochwertiger Schmiermengen liefert; Beispiel: Die russischen (Baku-) Erdöle. IV. Erdöl, das große Mengen Benzin, sehr große Mengen Leuchtöl und mittlere Mengen hochwertiger Schmieröle und Paraffin liefert; Beispiel: Die ostamerikanisclien (pennsylvanischen) Erdöle. Den vor Jahren gebräuchlichen Transport des Erdöls in Holzfässern hat man verlassen. In Nordamerika legte man auf Tausende von Meilen über Berg und Tal, durch Flüsse, Dörfer und Städte weitverzweigte Rohr- leitungen, durch die das Erdöl mit gewaltigen Maschinen gepumpt wird. Gleiche Leitungen baute man den Kaukasus entlang von Baku nach Batum. Die Leitungen gießen aus in eiserne oder Erdbehälter oder in große Tankschiffe, welche das Erdöl über die Meere und stromauf tragen zum Umschlagshafen. Bassinwagen der Eisenbahnen übernehmen das Erdöl in den Häfen oder in den der Rohrleitungen entbehrenden Quellorten und bringen es zu Stationen, von denen aus Behälterwagen des Land- verkehrs es den Verbrauchern zuführen. Wie auf fast allen anderen Gebieten des Wirtschaftslebens, so hat auch auf dem Erdölmarkt der Wettbewerb Verhandlungen und Vereinbarungen der Erdölproduzenten in West und Ost gezeitigt. So wurden zwischen der allmächtigen ameri- kanischen Standard Oil Comp, und den Vertretern der hauptsächlichsten russischen und rumänischen Erdölproduzenten vor einigen Jahren Ab- VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 1 59 machungen getroffen, durch welche der gemeinsame Verkauf von Petroleum für Leuchtzwecke in Deutschland, Holland, Belgien, Skandinavien, in der Schweiz und in Italien der amerikanischen Gruppe übertragen wurde unter gleichzeitiger Festlegung der von jeder Seite zu liefernden Mengen. Für England bewahrten beide Gruppen ihre Selbständigkeit. Diese Abmachungen sind noch auch heute in Kraft; nur kündigte die russisch-rumänische Gruppe im Juni d. J. den Vertrag in bezug auf den Verkauf in Deutsch- land und tritt seitdem dort wieder selbständig als Verkäuferin auf. Die österreichischen Produzenten schlossen sich damals weder der einen noch der anderen Gruppe an und hatten deshalb einen schweren Kampf zu be- stehen, da die Amerikaner durch fortwährende Preisunterbietungen die Unterdrückung des unbequemen Wettbewerbs auf den europäischen Märkten erstrebten. Vor einigen Monaten soll aber auch zwischen der Standard Oil Comp, und den von der Reichsregierung unterstützten österreichischen Produzenten eine Abmachung zustande gekommen sein, durch welche dem Preiskampf ein Ende gesetzt wurde. Die deutsche Produktion an Erdölen ist leider so unbedeutend, daß sie auf dem Weltmarkt überhaupt nicht ins Gewicht fällt; aber selbst für den deutschen Bedarf allein bei weitem nicht ausreicht. Die deutsche Einfuhr an gereinigtem Petroleum betrug 1910: 9,89 Millionen Tonnen im Werte von 65,4 Millionen Mark. Hiervon lieferten 7,87 Millionen Tonnen die Vereinigten Staaten, 1,24 Millionen Tonnen Österreich-Ungarn, 420 000 t Rumänien und 350 000 t Rußland. Der Petroleumverbrauch steigt fortgesetzt; betrug er in Deutschland in den 5 Jahren von 1866 bis 1870 nur 1,87 kg jährlich, so belief er sich in den Jahren 1901 bis 1909 schon auf mehr als 17 kg jährlich. Daher ist es wohl verständlich, daß die Deutsche Reichsregierung der drohenden Monopolisierung und Ausbeutung des gesamten deutschen Mineralleuchtöl- handels durch die Standard Oil Comp, im Wege der Gesetzgebung vor- zubeugen trachtet. Auf außereuropäischen Märkten, besonders in Asien, stehen die Amerikaner im erbitterten Kampf mit der jungen holländischen Gruppe, die über die ergiebigen Ölfelder im Sunda-Archipel verfügt und finanziell sehr stark ist. Für Deutschland ist die Frage sehr wichtig, ob seine Kriegsmarine nach etwaigem Übergang zur Ölfeuerung durch eine deutsche Gesellschaft ausreichend versorgt werden kann. Aus deutschen Gebieten ist dies jetzt und in Zukunft nicht möglich, wenn auch die heutige Produktion im Elsaß noch steigerungsfähig ist und der Rückgang bei Wietze durch neue Unternehmungen in der Lüneburger Heide wettgemacht wird. Doch würde die heutige Produktion in Deutschland, Galizien und Rumänien vollkommen ausreichen. Allerdings ist in Kriegszeiten mit dem billigen Seetransport von Rumänien her nicht zu rechnen, und es müßte dann (da man in Friedenszeiten wohl nicht Unmassen aufstapeln kann) eine erhöhte Pro- 160 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. duktion in Deutschland und Galizien in der Weise eintreten, daß die Raffinerien, wenn auch in weniger wirtschaftlicher Weise, hauptsächlich Heizöl darstellen. Meine Herren! Wir haben aus dem Vorgetragenen ersehen, daß Deutschland im Bergbau und im Austausch der Bergbauprodukte auf dem Weltmärkte, daraus hervorgehend auch in den Grundlagen seiner ent- wickelten Industrien, eine ganz hervorragende Rangstellung unter den Völkern einnimmt. Deutschland ist an Kohle das reichste Land Europas, nächst den Vereinigten Staaten von Amerika und China das Drittreichste der Erde. Seine Kohlenvorräte währen mehr als 1000 Jahre. Fördert Nordamerika zwar fast das Doppelte der Erzeugung Deutschlands, England 1/5 mehr als Deutschland, so gehen sie doch gerade deshalb auch um so rascher der Erschöpfung entgegen. Die Eisenvorräte Deutschlands überragen weit diejenigen Englands; die jährliche Eisenerz- und Roheisenerzeugung haben diejenige Englands schon dauernd überholt und stehen nur hinter derjenigen der Vereinigten Staaten von Amerika zurück. Blei-, Zink- und Kupferindustrien sind hoch entwickelt, stehen den- jenigen der Vereinigten Staaten zwar nach, überragen aber diejenigen der anderen Kulturländer fast auf allen Gebieten. In Kalisalzen besitzt Deutschland das Monopol vor allen anderen Ländern der Erde. Gestützt hierauf darf Deutschland den so oft besprochenen Platz an der Sonne mit Recht für sich in Anspruch nehmen. Es kann ihn wahren, solange die Arbeiterbestrebungen nicht übermächtig industrieerschwerend werden und die Leitung’ der industriellen Unternehmungen wissenschaftlich und technisch auf der Höhe bleibt und fortschreitet. Daß wirtschaftliche Verschiebungen, wie sie im Vortrag dargestellt wurden, bei den zurückbleibenden Nationen Bedenken, Neid, Groll er- regen können, ist nur natürlich. Durch Jahrhunderte hindurch gewöhnt an eine rücksichtslose Be- tätigung nationaler Energie kann daher in England, welches vor 50 Jahren noch der Sitz des bedeutendsten Metallhüttenwesens und der wichtigsten metallverbrauchenden Industrie der Welt war, wohl der Gedanke auf- tauchen, den lästigen Nebenbuhler im Kampfe der Waffen niederzuringen. Aber die Verhältnisse liegen doch zwischen England und Deutsch- land wesentlich anders als vor wenigen Jahrhunderten zwischen England und Holland, oder in alter Zeit zwischen Rom und Karthago. Holland und Karthago waren handeltreibende Länder, die erst in ihren Kolonien, in Indien und Spanien, wertvolle Bodenschätze gefunden hatten; sie be- saßen nicht im Mutterlande die feste Wurzelständigkeit gewaltiger Boden- schätze und eine so kraftvolle Landwirtschaft wie Deutschland. Diese VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen 161 bilden mit den auf sie begründeten Industrien eine so feste Grundlage unseres Nationalwolilstandes, daß kriegerische Bekämpfung uns nur vorüber- gehend schädigen, aber nicht auf die Dauer unterdrücken kann. Deutschland kommt, gestützt auf seine Bodenschätze, immer wieder hoch! Einsichtige Volkswirte rivalisierender Nationen müssen erkennen, daß diesen nur übrig beibt, mit einem an seinen wirtschaftlichen Grundlagen so starken Reiche sich friedlich auf der Erde einzurichten! Ein Land mit so gewaltigen überseeischen Interessen wie Deutsch- land bedarf natürlich einer so starken Kriegsflotte, daß einem übelwollenden Konkurrenten niemals in den Sinn kommen kann, die überseeischen Ver- bindungen, etwa durch Schließen des Kanals oder der Nordsee, plötzlich einmal eines Tages zu unterbinden! Sitzung am Mittwoch, den 11. Dezember. Vor Beginn der Vorträge fand die Neuwahl der Sekretäre und Dele- gierten der Sektion für die Jahre 1913 und 1914 statt. Es -wurden gewählt zu Delegierten: Berghauptmann Schmeiß er und Professor Dr. Frech. Zum Vorsitzenden Sekretär wurde Berghauptmann Schmeiß er, zu stellvertretenden Vorsitzenden Sekretären Professor Dr. Frech und Geheimrat Professor Dr. Supan gewählt. Dr. Lachmann wurde zum geschäftsführenden Sekretär und Dr. Dyhrenfurth zu seinem Stellvertreter erwählt. Sodann sprach Herr Dr. Olb rieht Über die Entstehung und Umformung von Flußsystemen. Die Geologie, die sich lange Zeit darauf beschränkt hatte, die ein- zelnen Schichtenverbände nach ihrem Gehalt an Fossilien in mehrere große Unterabteilungen zu zerlegen, geht in den letzten Jahren dazu über, die Entstehung der Sedimente zu ergründen. Damit ist ein großer Fortschritt erreicht, indem wir uns immer mehr dem Ziele nähern, Karten der Ver- breitung der ehemaligen Meere und Festländer zu zeichnen. Dies um so mehr, als nicht nur der Charakter mancher Sedimente Schlüsse zuläßt, auf die Beschaffenheit des Kontinentes, aus dem Flüsse diese Sedimente führten, sondern auch, -indem wir erkennen, daß manche großen Schicht- verbände auf dem Lande abgelagert wurden, also kontinentalen Ursprungs sind. Trotzdem ist unsere Kenntnis von den Landmassen der Vorzeit noch gering. Nur vereinzelt sind kontinentale Ablagerungen erhalten, zumeist bilden die Kontinente ein Gebiet steter Abtragung. Hier wird nun die Geologie in schönster Weise von der Gestaltungslehre der Erdoberfläche, der Morphologie, unterstützt, die, ursprünglich ein Teil der Erdkunde, mehr und mehr zu einer neuen selbständigen Wissenschaft heranwächst, 1912. 11 162 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. die an der Grenze zwischen Geologie und Geographie stehend auf die Methoden beider Wissenschaften zurückgreifen muß, um leichter und mit Erfolg arbeiten zu können. Von den vielen Fällen, in denen die Morphologie die geologische Forschung nicht unwesentlich unterstützt, möchte ich heute die Lehre von der Entstehung und Umformung der Flußsysteme herausgreifen, um auf die Fülle der Probleme hinzuweisen, die hier noch wenig erschlossen ruht. Ich stütze mich hierbei teilweise auf die vorhandene Literatur, daneben aber möchte ich auch den Versuch machen, auf zahlreiche Fragen hinzuweisen, die sich uns beim Betrachten der Landkarten von selbst aufdrängen. Meine Ausführungen zerfallen naturgemäß in zwei Hauptteile. Ich bespreche zuerst die Entstehung der Flußsysteme und schließe daran die Umformung derselben durch die verschiedensten endogenen und exogenen Kräfte. Immer deutlicher werden wir erkennen, daß unsere Flußsysteme durchaus nicht immer einheitliche Bildungen darstellen, sondern daß sie das Ergebnis langer Entwicklungszeiten sind, in denen ganz verschieden- artige Teilstücke zu neuen Einheiten zusammengefügt werden. I. Die Entstehung von Flußsystemen. Flußsysteme entstehen, wenn das Meer sich zurückzieht und Land- massen auftauchen, an denen dann die exogenen Kräfte wirken können. Das einfachste Beispiel stellen Vulkaninselu dar, von denen Tahiti (Fig. 1) als Beispiel herausgegriffen sei. Es bilden sich radial angeordnete Flüsse, die den Abdachungen der Oberfläche folgen und als konsequente oder Folgeflüsse bezeichnet werden können. Solche Folgeflüsse können sich auch auf andere Art entwickeln. Einmal auf ausgedehnten Ebenen, die einem Gebirge vorgelagert sind; als Beispiel gelten die Flüsse der nord- amerikanischen Küstenebene am Qstabhange der Appalachen (Fig. 2). Ferner können sie sich entwickeln auf beiden Abhängen eines allmählich sich aufwölbenden Gebirgszuges, wie es Fig. 3 schematisch zeigt, oder aber in einer Mulde, die zwischen zwei Gebirgen sich ausdehnt. Als bestes Bei- spiel gibt das Flußsystem des Magdalenenstromes in Südamerika (Fig. 4), das in der prächtigen Muldenform zwischen den zwei Faltenzügen der Cordillieren sich entwickelt hat. Flüsse, wie sie Fig. 1 und Fig. 2 zeigen, bezeichnen wir in den folgenden Vorführungen als Abdachungsflüsse und stellen diesen die Muldenflüsse gegenüber. Im ersten Falle haben wir es mit mehreren gleichwertigen Flüssen zu tun, im zweiten Falle münden in einen deutlich ausgeprägten Hauptfluß auf beiden Seiten Nebenflüsse. Beide Flußtypen sind nun sehr verschieden in ihrer Weiterentwicklung. Bei den Abdachungsflüssen bedingen kleine Unterschiede der Wasserführung bei einer Hebung eine verschieden starke Eintiefung der Täler. Die Nebenflüsse der stärker eingetieften Hauptflüsse weisen dann VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen- 163 stärkere Rückwärtserosion auf und zapfen häufig Nachbarflüsse ab, wie es schematisch Fig. 5 zeigt. Viel größer sind die Umgestaltungen bei Muldenflüssen. Anfangs münden hier die Nebenflüsse annähernd senkrecht in den Hauptfluß. All- mählich aber beginnt — namentlich bei Hochwasser — der Hauptfluß seinen Einfluß auf die Nebenflüsse auszudehnen, die dann in ihrem Unter- laufe abgelenkt werden und neue Richtungen einuehmen, die etwa parallel zum Hauptflusse verlaufen. Sehr schön zeigen dieses Verhalten namentlich die Nebenflüsse des Po in der lombardischen Tiefebene. Noch wichtiger sind die Umgestaltungen, die sich ergeben, wenn die das Flußsystem zu beiden Seiten begrenzenden Gebirge eine verschiedene Höhe haben. Dadurch wird auch die Wasserführung der Nebenflüsse eine verschiedene und der Hauptfluß wird aus der Mittellage auf die Seite gedrängt, von der aus er die wasserärmeren Nebenflüsse empfängt. So fließt der Po weit ab von den Alpen in großer Nähe des Apennin. Auch der Ganges ist durch die wasserreichen aus dem Himalaja kommenden Flüsse schon an den Südrand der indischen Tiefebene gedrängt. Ähnlich auch der Lauf der Donau in der wälachischen Tiefebene. Die Unterschiede vergrößern sich mit zunehmender Höhendifferenz der Randgebirge. Als extremer Fall kann der Lauf der Donau im Alpen- vorlande gelten. Hier haben die von S kommenden Alpenflüsse im Verein mit der Tätigkeit der im Eiszeitalter weit ins Alpenvorland vordringenden Gletscher die Donau an den Nordrand der Hochebene gedrängt, so daß sie heute dicht unter den Vorbergen von Jura und Böhmerwald fließt. Gleichartige Verhältnisse finden wir auch im Alpenvorlande, wo die Aare vom Bieler See an am Rande des Schweizer Jura entlang fließt. Alle diese Veränderungen erklären sich ungezwungen aus dem natür- lichen Auslesevorgang, der einsetzt, sobald ein Flußsystem längere Zeit hindurch sich eintiefen und weiter umformen kann. Langsame Hebungs- vorgänge können diesen Auslesevorgang noch vergrößern, da bei ihnen die Unterschiede der Wasserführung sich stärker geltend machen werden. Dieser Auslesevorgang, der die größeren Flüsse auf Kosten der kleineren erweitert, wird namentlich im Oberlauf der Flüsse einsetzen, wo das Gefälle und damit die Erosionskraft größer sind. In der Nähe der See, wo die Erosionskraft erlahmt, werden sich dagegen am längsten auch die kleineren Flüsse behaupten, ohne von größeren angezapft zu werden. Solange die Flüsse noch in großen Zügen den Abdachungsrichtungen folgen, unter deren Einfluß sie entstanden, können wir von konkor- danten Flußsystemen sprechen. Sobald jedoch der Verlauf der Flüsse sieh nicht mehr nach den großen gegebenen Abdachungsverhältnissen richtet und er dann meist auch nicht mehr mit dem inneren Bau der Landschaften übereinstimmt, reden wir am besten von diskordanten 11* 164 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Flußsystemen. Mit diesen Diskordanzen werden wir uns in folgendem besonders zu beschäftigen haben. Vorweg sei der einfachste Fall der Diskordanz erwähnt. Dieser tritt ein, wenn Flüsse sich auf Sediment- tafeln entwickeln, die ältere Abtragungsfläche diskordant überlagern. Werden dann bei allmählicher Hebung die Deckschichten abgetragen, so senken sich die Flüsse in die älteren Abtragungsflächen ein, ohne von ihrem Bau in großem Umfange beeinflußt zu werden — abgesehen von Kleinformen! Schon einer von den vielen Fällen, wo es völlig über- flüssig ist, durch Erklärung der Flüsse ein Stadium der Fastebene zwischen die normale Entwicklung zu schieben! Jeder Körper beharrt in seinem Zustande, solange dieser nicht durch einwirkende Kräfte verändert wird. Alle unsere Flußsysteme werden sich angelegt haben, als Landmassen aus den Ozeanen auftauchten, den anfangs gegebenen Abdachungsverhältnissen folgend und werden es versuchen, die ursprünglichen Laufrichtungen beizubehalten, soweit sie nicht neu eingreifende Kräfte daran verhindern. Nehmen wir an, daß das Stück der Erdoberfläche, auf dem sich ein Flußsystem ent- wickelt hat, durch tektonische Kräfte verändert wird, sich etwa in ein Schollenland verwandele, oder zu Kettengebirgen aufgehalten werde. Dann wird das Flußsystem — vorausgesetzt, daß die tektonischen Kräfte langsam genug wirken — , seine Lage beizubehalten suchen und sich in seiner Anordnung mehr und mehr von den neuen Reliefformen entfernen. Werden diese später bei einer Erlahmung der gebirgsbildenden Faktoren wieder verebnet, so ist trotzdem ein Zusammenhang zwischen diesen Ver- ebnungsflächen — über deren Entstehung wir ja noch immer so wenig wissen — und den Flußsystemen durchaus nicht notwendig. Die Peneplain- theorie würde auch hier wieder in die normale Entwicklung eines Fluß- systems eine Verwandlungsphase schieben, die durchaus überflüssig ist und namentlich dem Trägheitsgesetz widerspricht. Diese wenigen Andeutungen zeigen wohl schon die Schwierigkeit der auftauchenden Probleme und deuten zugleich an, daß unter Umständen die Peneplaintheorie zu idealen Rekon- struktionen führen kann, die nicht immer der wirklichen Entwicklung zu entsprechen brauchen. Sie kommt mir häufig wrie ein „deus ex machina“ vor. Ich gehe nunmehr zu der Umformung der ursprünglichen Abdachungs- flüsse über und kann natürlich aus der großen Fülle der uns hierbei ent- gegentretenden Probleme nur einem ganz kleinen Bruchteil herausgreifen. Auf Vollständigkeit machen meine Ausführungen keinen Anspruch. Ich gliedere dieselben in zwei große Hauptabschnitte, indem ich als störende Kräfte zuerst die tektonischen — also endogenen — , sodann die klimatischen — also exogenen — Faktoren behandele, wobei ich bei dem Zwecke meines Vortrages davon absehe, daß in der Wirklichkeit beide Gruppen sich mehr oder wenigen ergänzen werden. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 165 II a. Störungen von Flußsystemen durch tektonische Faktoren. Flußsysteme können unmittelbar und mittelbar durch tektonische Vor- gänge umgeformt werden. Im eisten Falle verändern Krustenbewegungen das Flußsystem selbst, im zweiten das Relief benachbarter Gebiete, wo- durch dann häufig eine neue Erosionsbasis geschaffen wird, die ihren Einfluß auch weit in die Umgebung ausdehnen kann. Ein großartiges Beispiel für unmittelbare Veränderungen scheint nach den Untersuchungen Österreichs (Die Täler des nordwestlichen Himalaya. Petermanns Mitt. 1907 Ergänzungsheft) der Himalaya zu bieten. Nach diesen flössen vor der Auffaltung des heutigen Hochgebirges von der Wasse scheide, die im Transhimalaya lag, zahlreiche Flüsse senkrecht zum heutigen Gebirge nach Süden. Als die Aufhaltung des Gebirges begann, trat eine Auslese ein. Nur die größeren Flüsse konnten ihren Lauf in dem sich allmählich hebendem Gebirge behaupten; das sind Indus, Sadletsch und Bramaputra. Die kleineren Flüsse werden dagegen allmählich enthauptet und ihre Oberläufe an die genannten Ilauptflüsse angeschlossen. So entstand das heutige Flußnetz (Fig. 6), in dem zu zahlreichen Quer- tälern mehrere große Längstäler kommen. Trotzdem spielen die Längs- täler im Flußnetze des Himalaya nicht im entfernsten dieselbe Rolle, wie in den Alpen, was vielleicht mit der größeren Jugend des ersteren Gebirges, vielleicht auch mit dem Fehlen langgestreckter zwischen harte Schichtenfolgen eingefalteter weicherer Schichten, die der Erosion weniger Widerstand leisteten, zusammenhängt. Das Beispiel des Himalaya zeigt, daß Flüsse selbst großen sich auf- wölbenden Gebirges gegenüber antezedent sein können. Ähnlich scheinen die Verhältnisse in den Alpen zu liegen, über die uns neuerdings eine ausgedehntere Studie von Staff (Zur Morphogenie der Praeglaziallandschaft in den Westschweizer Alpen. J. d. d. geol. Ges. 1912. S. 1 — 80) vor- liegt. Nach dieser herrschte auch in den Alpen ursprünglich die Ent- wässerung in Quertälern vor, erst viel später wurden die weichen Schichten- folgen entsprechenden Längstälern mehr und mehr zu den Hauptentwässerungs- linien, während die alten Quertäler, z. T. von kleineren Flüssen benutzt, heute hoch über den großen Längstälern liegen. Staff beweist dies be- sonders für die Schweizer- und die nördlichen Kalkalpen, ich selbst hatte schon früher einmal in Halle gelegentlich eines Vortrages, den ich über die Bergamasker Alpen hielt, darauf hingewiesen, daß auch in diesen ursprünglich die Quertalentwässerung überwog und erst später das eine Zone weicher Schiefer entsprechende obere Addatal (Veltlin) zur Haupt- entwässerungsader wurde. Fig. 8 mag dieses illustrieren. Staff glaubt nun, daß solche Erscheinungen nur durch vorhergehende Verebnung des ganzen Gebirges zu erklären sind und sucht Beweise für diese Fastebenen auch in der Gipfelkonstanz der Alpenberge. Beide Beweise halte ich für unzulänglich. Die Gipfelhöhe ist, wie bekannt, eine Funktion der Maschen- 166 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. weite des Talnetzes und zugleich auch der Böschungswinkel der Berg- lehnen. Da diese — mit lokalen Ausnahmen! — auf weitere Ent- fernungen nicht allzusehr variieren und die kleinen Schwankungen unterhalb der gemessenen Höhendifferenzen für die Berggipfel bleiben, kann man annehmen, daß jedes Gebirge notwendigerweise eine gewisse Gipfelkonstanz aufweisen muß, ohne daß dies als Beweis für vorher- gehende totale Verebnungen angesehen werden darf. Außerdem zweifle ich daran, ob die nun einmal auf der Erde vorhandene Pflanzendecke, die so sehr den Boden vor Abtragung schützt, eine solche Verebnung überhaupt möglich machen würde. Die von Staff entworfene Isohypsen- karte (S. 13) des Montblancgebietes verzeichnet oberhalb der 3800 m Linie weite Hochflächen, in denen er die Reste der alten Fastebene sieht. Man könnte diese Erscheinung aber viel ungezwungener mit der flächen- hafter wirkenden Abtragung erklären die in diesen oberhalb der Baum- grenze gelegenem Gebiete naturgemäß einsetzen muß. Für mich persönlich fehlt also der zwingende Beweis einer jüngeren Verebnung der Alpen ganz. Die vorhandenen Quertäler erklären sich ebensogut als die bis heute noch erhaltenen Reste alter Abdachungsflüsse, die ihre Lage beibehalten haben. Ich gehe über zur Betrachtung der Antezedenz bei einigen Flüssen im deutschen Mittelgebirgsgebiet. Schon die bekannten Durchbruchstäler von Rhein und Elbe weisen darauf hin, daß wir im mitteldeutschen Flußnetz ursprünglich ganz anders gestaltete Talzüge hatten, die uns nur noch in Resten erhalten sind. Ich füge ein bisher noch nicht bekanntes Beispiel aus dem Erzgebirge hinzu. Dieses bildet große Rumpfflächen, auf die zahlreiche Vulkane aufgesetzt sind, unter deren Basaltlaven sich häufig Reste tertiärer Sande und Kiese finden. Vor einigen Jahren fand ich am Scheibenberge — gelegentlich einer Exkursion des Halleschen geologischen Kolloquiums — Bruchstücke von Kieselschiefern, die heute nirgends im Erzgebirge anstehen und — wie die lokalen Verhältnisse lehren — auch im Tertiär nicht anstehen konnten. Der Fluß, der also damals auf der Höhe des Erzgebirges floß und seine Sande und Kiese absetzte, muß also aus einer Gegend gekommen sein, wo noch heute Kieselschiefer anstehen. Dies führt in die Gegend des nördlichen Böhmens, ins Flußgebiet des Beraun. Wie Fig. 7 zeigt, ensteht dieser aus mehreren nordwestlich gerichteten Abdachungsflüssen und biegt plötzlich bei Pilsen scharf nach Osten um. In diesen Flüssen sehe ich den alten Oberlauf des am Scheibenberge vorbeifließenden Flusses, der wahrscheinlich bei der Entstehung des nördlichen Abbruches des Erzgebirges seinen Zusammen- hang verlor. Die zugleich iin nördlichen Böhmen aufgeschütteten vulkani- schen Massen erklären es zugleich, warum ein Beharren der Flüsse in den einmal angelegten Tälern — das nur bei ste tiger ununterbrochener Vertiefung erfolgen kann — unmöglich war Der eigenartige Verlauf der süd- böhmischen Flüsse, die mehrfach unter spitzem Winkel ihren Lauf ändern, VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 167 macht es zugleich wahrscheinlich, daß ursprünglich das ganze südliche Moldaugebiet der Donau tributär war und erst später bei der starken Hebung der böhmischen Masse von der Elbe angezapft wurde. (Fig. 7). Ich füge hinzu, daß das eigenartige Durchbruchstal der Weser durch das Weser-Gebirge (Porta Westphalika) und mehrere tiefe Trockentäler weiter im Süden (Pforten von Bielefeld u. Springe) auch auf alte nordöstlich gerichtete Abdachungsflüsse hinweisen, die den heutigen Formen gegen- über antezedent sind. Die nordische Vereisung hat hier offenbar das alte Talnetz völlig zerstört und neue Täler geschaffen, die sich mehr den heutigen Oberflächenformen anschließen. Wir behandelten bisher Flußsysteme, deren Gebiete durch Krusten- bewegungen disloziert wurden und sahen, daß eine antezedente Entwässerung noch lange Zeit erhalten bleibt, soweit nicht ein Aufschütten von Vulkanen oder Klimaänderungen (Eiszeit) ein Verrharren der Flüsse unmöglich machen. Wir wenden uns nunmehr dem mittelbar durch tektonische Vor- gänge umgeformten Flußsystem zu. Mittelbare Umformungen setzen ein, wenn durch Graben- oder Beckeneinbrüche große Gebiete eine neue Erosionsbasis erhalten und die neu sich entwickelnden Flüsse infolge starker Rückwärtserosion benachbarte Flußsysteme anzapfen. Der groß- artigste Fall derartiger Umformungen findet sich im Flußsystem der süd- deutschen Stufenlandschaft, über welches kürzlich eine größere zusammen- fassende Arbeit von Reck (die morphologische Entwicklung der süd- deutschen Schichtstufenlandschaft im Sinne der Davisschen Cyclustheorie. Z. d. d. geol. Ges. 1912, S. 81 — 233) erschienen ist. Reck kommt zu ähnlichen Ergebnissen, wie ich sie schon 1909 im Verein für Erdkunde zu Halle vorgetragen hatte. Ursprünglich bildeten Neckar und der größte Teil des oberen Maingebietes nach SO der Donau zustrebende Abdachungs- flüsse, die dann bei der Einsenkung des Rheintalgrabens durch die neu entstehenden Flüsse Main und Neckar angezapft und zum Teil in ihrem Laufe umgekehrt wurden. Deutlich können wir noch an zahlreichen eigen- artigen Laufrichtungen die Reste der alten Flußsysteme erkennen. Von diesen sind auch zahlreiche Trockentäler erhalten. In giößerem Umfange zeigen Wörnitz und Altmühl die Reste der alten Entwässerung, während ringsum alle Flüsse vom Neckar und Donau angezapft sind. Wie die Verbreitung und Ausbildung der oberen Kreideschichten lehrt, waren sicher gegen Ende des Mesozoikums schon große Teile Süd- deutschlands landfest. Große Flußsysteme konnten sich auf ihnen ent- wickeln, bevor der rheinische Graben einbrach. Aus dem Meere der oberen Kreide tauchte wahrscheinlich in Südwestdeutschland ein schildbuckelartig aufgewölbter, stellenweise von noch nicht ganz erniedrigten Gebirgs- stümpfen überragter Kontinent auf, dessen Mittelpunkt etwa im Gebiet des heutigen Unter-Main lag. Anfangs haben sich wahrscheinlich radial angeordnete Flußsysteme den Abdachungen folgend, entwickelt. Viel 168 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. später brach der rheinische Graben ein und schuf eine neue Erosions- basis, welche die Veranlassung zur Herausbildung von Neckar und Main gab, die immer siegreicher in das alte Donaugebiet eindrangen. Durch derartige Umkehrungsvorgänge ist m. E. auch nur der Lauf des unteren Main zu erklären, der mit starken, aus den heutigen Abdachungs- verhältnissen völlig unerklärlichen Windungen ein Gebiet flachlagernder kaum gestörter Sedimente durchströmt. Zahlreiche Andeutungen sprechen dafür, daß auch Maas und Mosel räuberisch in Gebiete eindrangen, die ursprünglich nach dem französichen Becken zu entwässert werden. Diese Anschauungen ergeben sich aus Fig. 9 besser als aus langatmigen Ausführungen1). Reck nimmt zur Erklärung der Flußläufe große Fastebenen an. Ich glaube, daß diese völlig überflüssig sind. Ein Verharren der alten Ab- dachungsflüsse in der einmal eingeschlagenen Laufrichtung war doch in unserem Gebiete um so eher möglich, als die fast ganz flachlagernden Schichttafeln nur von ganz geringfügigen Störungen betroffen wurden, so daß keinerlei Gründe vorliegen, auf Grund derer die Flüsse ihre Richtungen verändern mußten. Die bisherigen Forschungen sprechen nur von räuberischem Eindringen von Main und Neckar in ein Flußsystem, das ehemals der Donau zu- strebte. Ich glaube, wir können noch viel weiter gehen und annehmen, daß vor Einbruch des Rheintalgrabens die gesamte Senke zwischen den Alpen einerseits und dem Juragebirge anderseits — also einschließlich des Schweizer Alpenvorlandes — der Donau tributär und die Aare ein alter Oberlauf derselben wrar, der später vom Rhein abgezapft wurde (Fig. 9). Vielleicht war auch der obere Doubs ein nach NO fließender Nebenfluß einer Urdonau. Alles Fragen, die auf exakt geologischem Wege nicht mehr gelöst werden können, da die Landoberflächen, auf denen sich die Abzapfungen entwickelten, längst verschwenden sind. Ich füge zwei weitere Beispiele aus Gebieten hinzu, wo wahrscheinlich ebenfalls die rein geologische Forschung versagen wird. Es sind dies das Flußsystem des südlichen Rußland und des mittleren Nilgebietes. In beiden Fällen handelt es sich um Flüsse, die sich auf flachlagernden Sedimenttafeln entwickeln konnten, in beiden Fällen folgen die Flüsse nicht den gegebenen Abdachungen, sondern beschreiben eigenartige Bögen, i) In der Diskussion bemerkte Herr Prof. Frech, daß die oben geäußerte Entstehungsweise dadurch erschwert würde, daß auf Grund der geologischen Befunde die jüngste Meerestransgression im Rheintalgraben oligozänen, im Alpen- vorland dagegen erst miozänen Alters sei, während die Theorie der Rückwärts- erosion doch gerade umgekehrte Verhältnisse verlange. Hierbei muß jedoch daran erinnert werden, daß es sich hierbei nicht um absolute, sondern um relative Differenzen handelt, daß außerdem aber ein in einen Kontinent einbrechendes Becken sich zu einem neuen hydrographischen Zentrum entwickelt, sobald über- haupt Teile der Landoberfläche höher als dieses Becken liegen. Fig.10. Rite Abdachung VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 169 die auf den ersten Blick ganz unerklärlich erscheinen. Das Beispiel Süd- deutschlands gestattet es uns direkt, folgende Regel aufzustellen: Fließen in einem aus flachlagernden Se dimenten aufgebauten Schicht- tafellande die Flüsse nicht in regelmäßig angeordneten Tälern, sondern erscheinen im Talnetz mehrfach völlig unbegründete Laufänderungen und Umbiegungen, so haben wir es wahr- scheinlich mit Flußsystemen zu tun, die aus verschieden alten Teilstücken zusammengesetzt sind, von denen die jüngeren unter dem Einfluß neu geschaffener Erosionshasen entstanden. Diese jüngeren Erosionsbasen sind in beiden Beispielen das Rote Meer und der Pontus. Fig. 10 und 11 machen den Versuch, die alten Talnetze wiederherzustellen, wobei vorhandene Trockentaler ausgezeichnet, hypothetische Verbindungslinien punktiert sind. In beiden Gebieten ist die Erforschung sehr erschwert. In Südrußland überdeckt eine mächtige Lößschicht die älteren Landformen und verhüllt sie vollständig; im Nil- gebiet hat der Vorgang der Wüstenbildung ebenfalls die alten Formen und Täler stark verwischt. Dazu kommt in letzterem Gebiete noch die Aufschüttung des vulkanischen abessinischen Hochlandes, welches dank seiner Meereshöhe und des dadurch bedingten Regenreichtums ein Aus- gangspunkt neuer Flußsysteme wurde. In beiden Fällen sind aber die Gründe für die Umformung der alten Abdachungsliüsse — deren Richtung durch Pfeile angedeutet sind, klar; sie sind gegeben im Einbruch des Pontus und des Roten Meeres, wodurch neue Erosionsbasen geschaffen wurden, die in Südrußland, namentlich die nach SW gerichteten Unter- läufe von Dnjepr und Don schufen, die wohl durch Rückwärtserosion ent- standen. Das ältere Flußsystem war vom Pontus unabhängig und ent- wickelte sich wahrscheinlich am Nordrande eines großen Gebirgszuges, dessen stehengebliebene Reste heute Balkan, Krim und Kaukasus sind. Verwickelter liegen die Verhältnisse im Nilgebiet. Wir erkennen wieder, daß die Aufwölbungen, die den Einbruch des Roten Meeres begleiten — vgl. Schwarzwald und Vogesen ! — von großem Einfluß auf die Herausbildung des Niltales gewesen sind, das sich ähnlich entwickelte, wie die Täler von Mosel und Maas; dagegen vermissen wir völlig die Herausbildung neuer Flüsse — vgl. Main, Neckar und Rhein oberhalb Basels! — , die sich im Anschluß an die neugeschaffene Erosionsbasis herausbilden konnten. Da Täler mit starker Rückwärtserosion sich nur entwickeln können, wenn hinreichende AVassermengen zur Verfügung stehen, ergibt sich m. E. aus dem Fehlen derartiger Täler ein gewichtiger Beweis dafür, daß im Nilgebiet seit der Anlage des Roten Meeres schon ein recht trockenes Klima gebracht haben muß, welches eine lebhafte Talbildung verhinderte. Die deutlich erkennbaren Reste alter Abdachungs- täler entstammen dann möglicherweise einer noch älteren Zeit. Eine Fülle 170 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. von Problemen, die sicher durch exakte Untersuchungen noch weiter geklärt werden kann, taucht auch hier auf! — Ich erinnere daran, daß ähnliche Erscheinungen auch bei der Herausbildung des eigenartigen Niger- laufes eine Rolle zu spielen scheinen. II b. Störungen durch klimatische Faktoren. Wir gingen von dem Gedanken aus, daß einmal auf Landoberflächen angelegte Flüsse das Bestreben zeigen, in den einmal angelegten Tälern zu verharren. Werden durch tektonische Ereignisse neue Erosionsbasen geschaffen und ältere Flüsse durch jüngere angezapft, oder sogar in ihrem Laufe umgebildet, so bleibt doch das Bestreben deutlich erkennbar, wenigstens die alten Talrichtungen beizubehalten. Werden die Schichten, auf denen Flußsysteme sich entwickeln, durch faltende Bewegungen gestört und schafft die Denudation im Anschluß an den Wechsel harter und weicher Bänke Steilränder — Escarpements — , so durchbrechen häufig genug die Flüsse diese neuen Oberflächenformen, ohne irgendwie durch sie beeinflußt zu werden. Allbekannte Beispiele sind die Flüsse des Seinebeckens, Altmühl und Wörnitz, sowie die süd- englischen Flüsse, die ebenfalls mehrfach Steilränder durchbrechen, wie es der Lauf der Themse und die die Steilhänge des Downs durchbrechenden Flüsse deutlich zeigen. Daß trotzdem die am Rande solcher Steilhänge entstehenden Täler mehrfach von Flüssen aufgesucht werden, zeigen die Beispiele von Neckar, Maas und Mosel, wo die Rückwärtserosion in den weichen Schichtenfolgen am Rande der Steilhänge wichtige Leitlinien fand. Aber auch andere Faktoren können die Flüsse zwingen, ihre Ante- zedenz aufzugeben und sich den neueren Oberflächenformen anzupassen. Von diesen erscheinen die durch die eiszeitlichen Vergletscherungen be- dingten Umformungen besonders wichtig, da die zeitweise Vergletscherung eines Teiles der Erdoberfläche doch die Antezedenz von Flüssen — die nur bei stetiger Vertiefung denkbar ist — unmöglich macht und die Flüsse gezwungen werden, nach Abschmelzen der Gletscher sich völlig neu zu bilden, wobei sie sich dann naturgemäß an die jeweilig gegebenen Ober- flächenformen halten müssen. Ich will hier nicht entscheiden, ob die große Ausdehnung der Längstalentwässerung in den Alpen nicht gerade zum großen Teil unter dem Einflüsse der eiszeitlichen Vergletscherung, die das ganze Gebirge mehrfach überdeckte, erfolgt ist; ich möchte vielmehr einfachere Beispiele herausgreifen. Eine Antezedenz weisen nur die südenglischen Flüsse auf. In Nord- und Mittelengland war dieselbe — wie mehrfache Trockentäler zeigen — , zwar früher einmal vorhanden, heute jedoch fließen die großen Flüsse, vor allem Trent und Ouse, entlängst der großen Steilränder in den großen von weichen Schichtenfolgen aufgebauten Senken. Für diese Erscheinung Rückwärtserosion und Anzapfungen verantwortlich zu machen, ist aus VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 171 mehreren Gründen unmöglich. Einmal sind die Gefällsunterschiede viel zu unbedeutend, sodann aber müßten sie dann erst recht in dem viel gebirgigeren Themsegebiet sich geltend gemacht haben, wo sie gerade ganz fehlen. In Nord- und Mittelengland muß also eine Zeitlang die Talbildung völlig unterbrochen sein. Da nun das Gebiet der antezedenten Flüsse außerhalb, das ganze übrige England innerhalb der Grenzen der eiszeitlichen Vergletscherung liegt, so ist offenbar diese der Grund für den auffälligen Wechsel in der Talbildung. Ähnlich liegen — wie ich schon erwähnte — die Verhältnisse im Gebiet zwischen Weserkette und Teutoburger Wald; ein weit besseres Beispiel bieten die thüi ingischen Flüsse, die gerade in letzter Zeit sehr eingehend untersucht sind. Vor der eiszeitlichen Vergletscherung flössen vom Thüringer Wald aus zahlreiche Abdachungsflüsse nach NO; dies alte Talnetz wurde während der Vereisung völlig vernichtet und im Anschluß an die neuen Oberflächenformen — die schon im Tertiär teilweise infolge von Härteunterschieden heraus präpariert waren, entstanden die heutigen Talstrecken, die teilweise derartig dem Streichen der Schichten folgen, daß sie Schlüter sogar für tektonisch angelegte Flüsse gehalten hat, während es in Wirklichkeit nur Flüsse sind, die auf den unter dem Einfluß tektonischer Faktoren entstandenen Oberflächenformen sich neu entwickeln mußten. Die eiszeitliche Vergletscherung kann aber auch selbständig ganz neue Talsysteme schaffen, wofür das norddeutsche Flußnetz mit seinen Urstromtälern ein schönes Beispiel ist. Dieses liegt ganz im Auf- schüttungsgebiet der Gletscher, wo die alten Landoberflächen in großem Umfange durch diluviale Deckschichten verhüllt sind. Eine andere Frage ist es, ob im Abtragungsgebiet der Gletscher diese völlig neue Oberflächenformen schufen, oder ob sie nur im Anschluß au schon vor- handene Talungen abtragen. Nach den Untersuchungen Werths (Studien zur glazialen Bodengestaltung in den skandinavischen Ländern. Zeitschr. d. G. f. Erdk. 1907 S. 27 u. 87) muß man annehmen, daß die eigenartigen Binnenseen Skandinaviens und Norddeutschlands ausschließlich ein Werk der eiszeitlichen Ver- gletscherung sind, völlig abhängig von den Landoberflächenformen, nur bedingt durch die Bewegungsrichtung der Eisdecken. Demgegenüber habe ich schon in einer Arbeit über die Exarations- landschaft (Geol. Rundschau 1910 S. 59) hingewiesen, daß die Binnen- seen im allgemeinen den Richtungen folgen, die auch Flüsse einschlagen würden, die auf den betreffenden Landoberflächen sich neu entwickeln müßten. Zugleich aber unterschied ich, daß die fluviatile Erosion linear, die glaziale flächenhaft wirkt; die erstere hält sich mehr an gegebene Oberflächenformen, die letztere schafft z. T. unabhängig von diesen groß- zügige Formen (vgl. 1. c. S. 66 oben). 172 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Ein Beispiel erläutere den Unterschied unserer Auffassungen. Fig. 12 zeigt das heutige Flußnetz Madagaskars, einer oblong geformten Insel, die in den Umrissen annähernd dem südlichen Schweden ähnelt. Fig. 13 zeigt schematisch ein Flußnetz, wie es sich wahrscheinlich entwickeln würde, wenn die Insel nach einer vollständigen Vereisung wieder eisfrei und zugleich stark gesenkt würde. Der Verlauf der alten Täler ist noch deutlich zu erkennen; das neue Talnetz weist jedoch eine viel aus- geprägtere Parallelität auf. Nach Wert hätten wir in einem derart ge- stalteten Flußnetz lediglich das Werk der glazialen Abtragung, und mir ist es nur denkbar durch Umformung älterer Flüsse, die meist noch als Leitlinien dienen. Die Vergleiche mit den von Werth als Beweis- material herangezogenen Gebieten liegen auf der Hand. Unsere Flußsysteme sind also aus verschiedenartigsten Teilstücken zusammengesetzt, häufig schimmern schleierartig aus der heutigen An- ordnung die letzten Überbleibsel uralter Flußanlagen hindurch. Wir gingen davon aus, daß Flüsse sich entwickeln konnten, sobald Landraassen sich über das Meer erhoben. Dann entstanden Flüsse, die den jeweilig vorhandenen Abdachungen folgend auch bei späterer Um- formung der Landoberflächen durch die verschiedensten Kräfte das Be- streben zeigten, in der einmal eingeschlagenen Laufrichtung zu verharren. An zahlreichen Beispielen erkannten wir, daß mehrfach andere Kräfte dies Beharrungsvermögen aufzuheben vermochten. Bei den hier vorgetragenen Beispielen war die Peneplaintheorie, die in die normalen Entwicklungs- phasen mehrfach Stadien der Fastebenenbildung einschiebt, um aus diesen das Flußnetz zu erklären, unnötig. Die vorhandene Anordnung der Flüsse ließ sich aucli einfacher erklären. Im Gegenteil erscheint mir die Vererbung uralter Fluß rieh tun gen, die auf längst ver- schwundenen Landoberflächen angelegt wrerden, ein wichtiges Argumentgegen den Versuch, bestimmte Schemata für die End- stadien der Denudation aufzustellen. Eine Fülle von Problemen und Fragestellungen wird durch die Betrachtung der Entwicklung der Flußsysteme aufgeworfen. Diese Fragestellungen sind aber gleich wichtig für den Morphologen und Geologen, denn letzterer bekommt dadurch neue Mittel an die Hand, die Entstehung und Umgestaltung der Kontinental- flächen noch genauer zu begründen, als ihm dies mit den bisherigen Mitteln möglich war. Herr Bergreferendar Q ui ring sprach Zur Tektonik der Eifelkalkmulde von Sötenich. Untersuchungen stratigraphisch- tektonischer Art, welche vom Verfasser in den Jaluen 1909 — 1912 im Gebiete der Sötenicher Mulde, der nörd- lichsten milteidevonischen Kalkmulde der Eifel ausgeführt worden sind, haben zu einer Reihe von Beobachtungen und Ergebnissen, vornehmlich in Dit Lagerungsverhaltnisse VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 1 7 3 tektonischer Beziehung geführt, die nicht nur für den Bau der in Frage stehenden Kalkmulde, sondern auch für den allgemeinen Bau der Eifel und des rheinischen Schiefergebirges von Bedeutung sein dürften. Über diese Ergebnisse sei hier eine gedrängte Übersicht gegeben. I. Beistehende Skizze zeigt in rohen Linien die Umrisse der Nord- osthälfte der Mulde und die Lagerungsverhältnisse der sie aufbauenden Schichten: Wir erkennen, daß sie in 2 getrennte Kalkgebiete zerfällt, ein größeres, etwa zwischen Pesch-Eiserfey und Iversheim-Wachendorf ge- legenes und ein kleineres bei Kirspenich. Diskordant überdeckt wird sie, wenn von diluvialen und alluvialen Bildungen abgesehen wird, einerseits von Buntsandstein in mehreren Inseln bei Holzheim, Nöthen und Pesch, andererseits von tertiären Tonen, Schottern, Kiesen und Sanden in der Senke von Arloff, denen noch ein auf der Karte nicht verzeichnetes Vor- kommen auf der Höhe des Watzenberges bei Kirspenich anzureihen ist. Die Zweiteilung der Mulde wird durch die känozoische Bedeckung in der Arloffer Senke hervorgerufen. Wie aus der Spezialfaltung am Eöttgerberge und bei Wachendorf hervorgeht, ist die Mulde zum Teil als Doppelmulde angelegt. Bezüglich der Lagerungsverhältnisse ist noch eine weitere Besonderheit zu erwähnen: Während nämlich der Nordwestflügel regelmäßig nach Süd- osten einfällt, ist der Südostflügel zum Teil aus nach NW überkippten Schichten aufgebaut. Diese unsymmetrische Anlage der Mulde ist eine Folge des einseitigen Faltungsdruckes, der, wie sich unzweideutig ergibt, aus Südosten gewirkt hat. Ihre Gliederung in der Längsrichtung erhält die Mulde durch vier große Querstörungen : 1. Die Kirspenicher Störung, 2. Die Münstereifeier Störung, 3. Die Holzheimer Störung, 4. Die Kallmuther Störung. Bei Betrachtung der Wirkungsweise dieser Störungen ergabt sich die überraschende Tatsache, daß auf ihnen nicht nur eine vertikale Ver- schiebung der durch sie getrennten Schollen gegen einander stattgefunden, sondern daß auch der Faltungsprozeß zu beiden Seiten der einzelnen Störungen einen mehr oder weniger verschiedenen Verlauf genommen hat. Um nur einige hervorstechende Beobachtungen herauszugreifen: Die Schichten am südöstlichen Muldenrande, zwischen Zingsheim und Pesch, d. h. südwestlich der Kallmuther Störung, sind überkippt; zwischen dieser Störung und dem Horntale, in welchem eine ähnliche aber untergeordnete Störung verläuft, fallen sie regelmäßig zum Muldeninnern; zwischen dem 174 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Tale und der Ilolzheimer Störung sind sie wieder überkippt; zwischen der Holzheimer Störung und der Münstereifeier Störung dagegen flach gelagert; nordöstlich der Münstereifeier Störung endlich überkippt und im Kir- spenicher Gebiet zwar ähnlich, jedoch abweichend gelagert. Ohne weiter auf Einzelheiten einzugehen, kann schon auf Grund dieser Tatsachen erkannt werden, daß im vorliegenden Fall Störungen in Frage stehen, die, wie gesagt, zu einer verschiedenen Auslösung des Faltungsdruckes in dem begrenzten Schollen geführt haben, und die somit älter als die varistische Hauptfaltung sind. Wir gelangen somit zur sicheren Feststellung paläozoischer Störungen. Zur Charakterisierung dieser verschiedenen Auslösung des Faltungs- druckes in den einzelnen durch die Störungen getrennten Schollen sei noch eine Tatsache erwähnt: Der Faltungsdruck ist südwestlich der Holzheimer und nordöstlich der Miinstereifeler Störung in der Weise zur Auslösung gekommen, daß er überkippte Schichten erzeugt hat, zwischen beiden Störungen dagegen, im Gebiete des Hirnberges und Stockerts, hat er zu einer flachen Überschiebung flachliegender Schichten geführt. Diese Art von Störungen, wie sie uns hier entgegentreten, sind zu den von Sueß beschriebenen „Horizontalverschiebungen“ oder „Blättern“ in Beziehung zu setzen, obwohl bei den vorliegenden Störungen von einer einfachen und unmittelbaren Verschiebung gefalteter Schollen gegeneinander nicht gesprochen werden kann. Ich habe in einer Arbeit „Zur Theorie der Horizontalverschiebungen“, die demnächst erscheinen wird, versucht, die Beziehungen zwischen der vorliegenden Art von Störungen, denen ich die Bezeichnung „Grenzblätter“ beigelegt habe, zu den echten „Ver- achiebungsblättern“ von Sueß auseinanderzusetzen. II. Diese tektonischen Linien sind jedoch nicht nur als das Gerippe des Faltengebirges im Gebiete der Sötenicker Mulde zu bezeichnen, sie haben auch die Leitlinien für das spätere Schollengebirge, zu dem der varistische Rumpf mit dem ihm aufgesetzten Tafelland geworden ist, ab- gegeben. Spätere Vertikalbewegungen auf den „Blättern“ sind grade in der Nordosthälfte der Sötenicher Mulde sicher nachzuweisen. So schneidet die Holzheimer Störung die Buntsandsteininsel von Holzheim im Nordosten ab und hat den Buntsandstein neben dem Kalk und Dolomit des Ilerkel- steins abgesenkt. Die vertikale Verschiebung ist auf weit über 100 m zu veranschlagen. Ebenso ist durch Vertikalbewegung auf der Ivirspenicher Störung das Tertiär der Arloffer Senke neben den Kalk des Kirspenicker Gebietes gelegt worden. Auch liier beträgt die Senkung mehr als 100 m. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 175 Aber auch außerhalb der Mulde sind die vertikalen Bewegungen auf diesen paläozoischen Störungen festzustellen. So begrenzt z. B. die Kall- muther Störung den erzführenden mittleren Buntsandstein von Mechernich in der Nähe von Kalenberg im Südwesten, während die Holzheimer Störung über Mechernich, Commern, Floisdorf, Wollersheim zu verfolgen und dort zu einer, zum Teil doppelten Randspalte der niederrheinischen Bruchzone geworden ist. Aus der Tatsache, daß noch tertiäre Ablagerungen von den vertikalen Nachbewegungen auf den Blättern betroffen sind, ist zu entnehmen, daß die Vertikalbewegungen vornehmlich in postmiocäner Zeit — falls den Sedimenten in der Arloflfer Senke ein miocänes Alter zuerkannt wird — stattgefunden haben. Die übrigen Querverwerfungen, die eine vertikale Bewegung der begrenzenden Schollen vermittelt haben, verlaufen mit wenigen Ausnahmen in der Richtung der Blätter, sind somit, wenn sie postpaläcoisches Alter besitzen, lediglich als Staffelbrüche zu den großen Spalten hin zu betrachten. Bei jedesmaligem Aufreißen der Blätter und nachfolgender Vertikal- bewegung der einzelnen Schollen bildeten sich derartige Parallelsprünge aus, auf denen, wie aus ihrer Anlage und Wirkung zu ersehen ist, zu den Blättern hin ein staffelförmiges Absinken einzelner Schollenteile ein- getreten ist. III. Die Entstehung dieser quer zum Streichen verlaufenden Staffel- brüche bezw. die Hauptbewegung auf ihnen ist ebenso, wie die post- hume Bewegung auf den Blättern, vornehmlich in postmiocäne Zeit zu verlegen. Sie ist demnach der kaenozoischen Dislokationsperiode zu- zuweisen, derjenigen Periode, welche im Norden der Eifel zur Ausbildung der niederrheinischen Bruchzoue geführt hat. Die Lage, in der sich die einzelnen Schollen befinden — im einzelnen will ich hierauf nicht ein- gehen — sowie die Anordnung und Lage der Staffelbrüche sind nur da- durch zu erklären, daß das Gebiet der Mulde in dieser Dislokationsperiode von Zerrungen in der Längsachse der Mulde betroffen worden ist, die zum Aufreißen der Blätter und zur Auslösung von Staffelbrüchen geführt haben. Dieses Ergebnis läßt unter Beachtung der Tatsache, daß die Hauptstörungen der Mulde als Randspalten bezw. Parallel spalten der niederrheinischen Bruchzone zu gelten haben, den Schluß zu, daß die niederrheinische Bucht als das Resultat von Siidost-Nordwest gerichteten Zerrungen in der Erdrinde in postmiocäner Zeit zu betrachten ist. Es ist jedoch noch eine andere Dislokationsperiode festzustellen. Wir finden nämlich, daß in der Streichrichtung der Mulde eine Reihe von Störungen verlaufen, die älter sind als die Hauptmasse der Quer- verwerfungen und die wir als Staffelbrüche zur Triasbucht von Commern auffassen können. Diese Staffelbrüche zur Commerner Bucht sind zu den 176 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. im Süden der Eifel beobachteten N-S Verwerfungen in Beziehung zu setzen, welche dort als Randbrüche der Trierer Bucht, dem südlichen Teile des Eifelgrabens Bitburg-Düren zu gelten haben. Aus den Verhältnissen des bearbeiteten Gebietes heraus konnte die Entstehung dieser, in der Mulde nach NO — SW abgelenkten Staffelbrüche zur Bucht von Commern, zwischen die Ablagerung des Buntsandsteins und etwa das Oligozän verlegt werden, doch lassen die Verhältnisse in der Triasbucht selbst erkennen, daß wir es sehr wahrscheinlich mit jungjurassischen bezw. altkretazeischen Störungen zu tun haben. Wir erhalten somit eine Sch olle nbewegung präoligocänen, wahrscheinlich mesozoischen Alters, welche der känozoischen gegen- überzustellen ist. Das Resultat der ersten Schollenbewegung ist der Eifel- graben Bitburg-Düren1), das der zweiten die niederrheinische Bruchzone, die Bucht von Cöln. Auch die Entstehung der zur Triasbucht von Commern hin fallenden Staffelbrüche ist nur durch Zerrung zu erklären. Diese mesozoische Zerrung hat in 0 — W Richtung (mit — geringer Abweichung in NW — SO) sich geäußert. Die Einwirkung der paläozoischen Spalten auf die Bewegung der Schollen auch in der mesozoischen Periode ist nicht nur daran zu er- kennen. daß Nachbewegungen auf den Blättern in dieser Periode einge- treten sind, sondern auch daran, daß die Ablenkung der Staffelbrüche zum Eifelgraben im Gebiete der Sötenicher Mulde auf Einwirkungen des gerade in der Mulde sehr ausgebildeten paläozoischen Spaltensystems zurückgeführt werden kann. — Summieren wir die verschiedenen Vertikalbewegungen, welche in Mesozoikum und Känozoiknm die Mulde beeinflußt haben, so erkennen wir, daß es nur diesen Bewegungen zu verdanken ist, wenn die Mulde vor der gänzlichen Zerstörung durch die nachkarbonischen Abtragungs- vorgänge bewahrt worden ist, und nicht etwa allein ihrer Anlage bei der varistischen Faltung. IV. Weiter ist bemerkenswert und gibt zu allgemeinen Schlüssen Veran- lassung, daß beide Dislokationsperioden mit den beiden Hebungen des !) Hierbei muß unberücksichtigt bleiben, ob nicht der Eifelgraben, der nicht nur liassische und triadische Sedimente, sondern auch die Eifelkalkmulden enthält, etwa bereits im Devon bezw. während der Trias und Unteren Lias als Senke bestanden bat, somit vielleicht auch seine Randbrüche paläozoische oder altmesozoische Spalten darstellen, die im Jungmesocoicum nur wieder aufgerissen sind und den Graben vertieft haben. Der gegenwärtige Zustand weist zunächst lediglich darauf hin, daß wir es mit einem echten tektonischen Graben zu tun haben, dessen Hauptausbildung zwischen Lias und die tertiäre Denudationsperiode, die wohl zweifellos prämiocän ist, fallen muß. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 177 Gebietes der Sötenicher Mulde bezw. der Eifel über dem Meeresspiegel zusammenfallen. Dieses Zusammentreffen ist zweifellos nicht zufällig, viel- mehr muß angenommen werden, daß die Zerrungen und die hieraus entstehenden Dislokationen die Folgeerscheinungen der kontinentalen Hebung darstellen. Die eigentümlich erscheinende Tatsache, daß die Hebung nur zur Auslösung von Verwerfungen geführt hat, welche in 2 senkrecht aufeinanderstehenden Richtungen verlaufen, findet wohl darin, wie bereits betont, seine naheliegende Erklärung, daß die späteren Schollen- verschiebungen, zumeist die vorhandenen paläozoischen Störungen ähnlicher Richtung benutzt haben, weiter jedoch auch in dem Umstande, daß die Zerrungen sich in bestimmten Richtungen äußerten, die nahezu mit den paläozoischen Richtungen zusammenfielen. V. Zum Schlüsse sei die geologische Geschichte der Sötenicher Mulde von ihrer Entstehung an, soweit sie für die vorliegende Betrachtung von Bedeutung ist, im Rahmen des Werdens der Eifel zusammenfassend wiedergegeben: 1. Devon. Das in kontinentaler Senkung begriffene Gebiet der Eifel wird von einem küstenfernen Flachmeer eingenommen. Die Senkung folgt zunächst im Unterdevon der Ablagerung der Sedimente, vollzieht sich dagegen im Mitteldevon rascher, im Oberdevon langsamer als die Ablagerung. 2. Carbon. Die Sedimente erreichen den Meeresspiegel. Mit der Auffaltung des varistischen Gebirges erfolgt eine rasche Umwandlung des Gebietes der Eifel zum Festland und Kettengebirge. Das Auftreten von Druckkräften aus südöstlicher Richtung führt zur Anlage der Sötenicher Mulde, der Übeikippung des Südostflügels, dem Aufreißen der Blatt- verschiebungen und der Entstehung von Überschiebungen (Periode der Faltung). 3. Perm. Nach der Auffaltung setzt die kontinentale Senkung wieder ein. Die im Carbon begonnene Abtragung des Kettengebirges durch Denudation und Erosion schreitet fort. 4. Trias. Bei Beginn des Buntsandsteins hat das Gebiet wieder die Meeres- höhe erreicht und das transgredierende Meer erzeugt die alttriadische Abrasionsfläche. Das Mitteldevon bleibt nur in den Mulden erhalten. In der Sötenicher Mulde werden alle etwa entwickelt gewesenen ober- devonischen Sedimente beseitigt. Es setzt eine Auslaugung und sekundäre Dolomitisierung der in der Abrasionsfläche anstehenden kalkigen Schichten des Mitteldevon ein. Mittlerer und Oberer Buntsandstein lagert sich ab. 1912. 12 178 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Ebenso, in einem großen Teile der Eifel, Muschelkalk und Keuper (? in der Süteniclier Mulde). Die anhaltende kontinentale Senkung folgt im Buntsandstein der Ab- lagerung der Sedimente, nimmt im Muschelkalk ein rascheres Tempo an und wird im Keuper wieder langsamer. 5. Jura und Untere Kreide. Als letztes Sediment lagert sich Unterer Lias ab. Damit erreicht das sich hebende Gebiet den Meeresspiegel. In das auftauchende Tafelland legen 0 — W gerichtete Zerrkräfte den Eifelgraben Bitburg - Gommern, begrenzt durch N-S verlaufende Statfelbriiche. Das Gebiet der Sötenicker Mulde wird von den östlichen Randbrüchen betroffen und durch vertikale Nachbewegungen auf den paläozoischen Blättern und durch Auslösung von SW — NO verlaufenden Staffelbrüchen zur Commerner Bucht hin gesenkt (Periode der älteren Schollenbewegung). 6. Obere Kreide, Alttertiär und Miocän. Die ungleichmäßige Hebung wird durch ungleichmäßige Senkung ab- gelöst. Die Hauptmasse des Eifelgebietes bleibt Festland, das nördliche Vorland, im Gebiet Aachens und Düsseldorfs, wird Meer. Dazwischen bilden sich ausgedehnte Küstenniederungen und Binnenbecken aus, die auch das Gebiet der Sötenich er Mulde einnehmen. Die Denudation führt zu einer stärkeren Einebnung des Sch ollen gebirges, vornehmlich im Alttertiär (Oligocän). Das gegen die Senke des Eifelgrabens höher liegende Gebiet außer- halb des Grabens wird abgetragen, eingeebnet und dabei fast das ge- samte Deckgebirge (Lias, Keuper, Muschelkalk vollständig, Buntsandstein zum größten Teil) beseitigt. Fast überall tritt der alte Rumpf zutage. Auch dieser wird weiter denudiert und die letzten noch etwa vorhandenen mitteldevonischen und oberdevonischen Sedimente beseitigt. Im Eifelgraben (mit Einschluß der darin liegenden mitteldevonischen Mulden) erfolgt die Abtragung nicht so intensiv. Die Beseitigung des Deckgebirges erfolgt nur teilweise, vornehmlich jedoch in den höher ge- legenen Randgebieten (Sötenicher Mulde z. B.). Die Mulde tritt unter dem Deckgebirge hervor, zunächst das Gebiet nordöstlich der Holzheimer Störung. Ablagerung senoner, oligocäner und miocäner Bildungen z. T. marin im nördlichen Vorlande der Eifel. 7. Pliocän und Postpliocän. Die einsetzende Hebung macht das Gebiet fast vollständig zum Fest- lande. Es bildet sich das heutige Rumpfschollengebirge mit flach- welliger Oberfläche und jüngeren Erosionstälern aus. Mit der Hebung zu- gleich entstehen Zerrungen in SW-NO Richtung und legen in die nördliche VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 179 Eifel die nieder rheinische Bruch zone. Deren südwestliche Rand- briiche lenken in die Richtung der paläozoischen Blätter ein und lassen auf diesen vertikale Nachbewegungen entstehen. Das Gebiet der Sötenicher Mulde wird treppenartig nach NO hin gesenkt. Es bildet sich die Nöthener und Arloffer Senke, welche die Mulde quer zum varistischen Streichen durchziehen. (Periode der jüngeren Schollenbewegung). Nach Ausbildung der niederrheinischen Bruchzone: Ausfüllung der- selben mit pliocänen und postpliocänen Bildungen. Außerhalb der Bruch- zone weitere Abtragung durch Denudation und Erosion. Verschwinden des Muschelkalks und Keupers im Innern der Bucht von Commern und des größten Teils des im Gebiet der Sötenicher Mulde, südwestlich der Holzheimer Störung, noch vorhandenen Buntsandsteins. Fortschreitende Abtragung des paläozoischen Grundgebirges. Herr Dr. phil. Carl Renz sprach über: Die Verbreitung des Tithons in den Hochgebirgen Mittelgriechenlands. Während Schichten jurassischen Alters am Aufbau des Jonischen Küstengebietes hervorragend beteiligt sind, gelang es erst neuerdings, die Juraformation auch in den östlichen Gebirgen Griechenlands in größerer Verbreitung nachzuweisen. Die ersten Jurabildungen, die überhaupt aus Hellas bekannt wurden, sind allerdings im Osten des Landes angetroffen worden und zwar in der Argolis. Hier gelang es der Expedition scientitique de Moree schon 1830 Kimmeridgien nachzuweisen, wenn auch nur in sehr beschränkter Aus- dehnung. Ebenfalls in der Argolis fand dann A. Philippson ein lokales Vor- kommen von tithonischen Ellipsactinienkalken, während ich selbst Lias in größerer Verbreitung feststellte. Die fossilführenden Bildungen des Lias reichen nach weiteren Unter- suchungen in Ostgriechenland vorerst nicht über die Argolis hinaus; die Ellipsactinienkalke des Tithons wurden dagegen sowohl auf Euboea, wie im festländischen Mittelgriechenland angetroffen. Ich selbst konnte inzwischen nachweisen, daß diese oberjurassischen Kalke ein wichtiges gebirgsbildendes Element der zentralen mittel- griechischen Hochgebirge, der Vardussia, der Kiona und des Parnaß dar- stellen. So besteht der Gipfelkamm der Vardussia aus mächtigen, sehr harten Sphaeraetinienkalken, während an den Flanken des Vardussiastockes auch Ellipsactinienkalke auftreten. Die Vardussia bildet eine steile Falte aus Kreidegesteinen, als deren Kern die Tithonkalke heraustreten. Der langgestreckte Gipfelkamm mit der 2495 m erreichenden höchsten Spitze H. Jlias, fällt daher mit der Achse der Anticlinen zusammen. 180 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Der Mantel der Falte setzt sich, wie gesagt, aus Kreidegesteinen zu- sammen, als deren höchstes vorhandenes Glied flyscliartige Schiefer und Sandsteine erscheinen. Darunter folgen plattige und stärkere Kalkbänke, teils hellrot, teils grau, letztere mit Rudisten (Hippuriten- und Radioliten- Fragmenten), so daß über das crefacische Alter dieses Teiles der Schichtenfolge kein Zweifel obwalten kann. Durch Neigung der Falte gegen Westen werden die Flyschgesteine auf der Westseite des Vardussiastockes im Liwadi von Musonitza als Muldenkern eingefaltet. Am Westrande des Liwadis treten dann in einer weiteren westlicheren Falte wieder die mesozoischen Gesteine des Vardussia- gewölbes hervor. Unter den erwähnten Rudistenführenden Kreidebildungen folgen im östlichen, wie im westlichen Flügel der Anticlinen graue Kalke von teilweise brecciöser Struktur mit Hornstein. Diese grauen Kalke enthalten auf der Ostseite desVardussia-Kammes oberhalb eines Pyrgos genannten Felsturmes, sowie auf dessen Westseite beim Absturz zum Liwadi von Musonitza Ellipsactinien. Die hier von mir aufgesammelten Exemplare stimmen mit Ellipsactinia ellipsoidea Steinmann überein und sprechen somit für ein tithonisches Alter der sie führenden Kalke. Der mit der Falten- kuppel zusammenfallende Kalk des Gipfelkammes und des Vardussia- Hauptgipfels H. Ilias ist ein gleicher grauer, in mächtigen Bänken ab- gesonderter Kalk, der sowohl Sphaeractinien, wie Korallen und Neriueen führt. Die Sphaeractinien gleichen der Sphaeractinia diceratina Steinmann. Die Korallen habe ich im Gelände als Spongiomorphiden betrachtet, es ist hierbei aber zu bemerken, daß sich gewisse Spongio- morphiden, wie Spongiomorpha (Heptastylopsis) gibbosa Frech im Längsschnitt kaum von der jüngeren Actinacis unterscheiden lassen. Ein tithonisches Alter der Gipfelkalke der Vardussia steht in voller Harmonie mit den tektonischen Verhältnissen und aufgenommenen Profilen. Das Tithon bildet, wie gesagt, den Kern der sonst cretacischen Vardussia- falte, die übrigens im Norden des Hauptgipfels oberhalb Ano-Musonitza von der Verlängerung der auch dem Nordrande des Kionamassivs entlang streichenden Verwerfung abgeschnitten wird. Hinsichtlich der Geschlossenheit der Schichtenfolge der Kreide und des Oberjura ist allerdings noch zu berücksichtigen, daß zwischen den Ellipsactinienkalken und den Kreidekalken der Flanken eine Längsver- werfung hindurchstreichen dürfte, wodurch die Tithonkalke direkt an die Rudistenkalke angrenzen. Die Vardussia wäre demnach eine steile, durch Brüche unterbrochene Aufwölbung der Kreide und des Tithons. Es ist zu erwarten, daß auch die ältere Kreide hier noch entwickelt war und dereinst auch noch palaeontologisch nachgewiesen werden wird. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 181 Ein triadisches Alter der Vardussiagipfel-Kalke würde sich viel schwerer mit den hier kurz skizzierten tektonischen Beobachtungen in Einklang bringen lassen. Eine große fazielle Ähnlichkeit mit den Gipfelkalken der Vardussia zeigen die Kalke des Kiona-Hauptkammes. Es sind dieselben grauen Kalke, in denen der Durchschnitt einer ähnlichen Nerinea, wie auf dem Vardussiagipfel ermittelt wurde. Sonstige bestimmbare Fossilien sind allerdings aus den Kalken des Kionagipfels nicht bekannt, es finden sich darin nur noch unbestimmbare Korallen. In fazieller Hinsicht sind aber die Kalke der annähernd die gleiche Höhe einnehmenden Gipfelpunkte der Kiona und der Vardussia vollkommen ident. Bei einem tithonischen Alter der Kionagipfel-Kalke würden sich die Kreidebildungen von Diasselo im Osten an den Hauptkamm anlagern. Die gleichen Sphaeractinien, wie auf dem Vardussiagipfel habe ich ferner noch in einem gleichen grauen Kalk auf den Höhen des Parnaß- Massivs angetroffen. Den grauen Kalken des Tithons dürfte daher gerade der Aufbau der höchsten Gipfel von Hellas zufallen. Es sei hier noch erwähnt, daß die Kalke des Giusigipfels, des Kulminationspunktes des Othrysgebirges, einen gleichen Habitus aufweisen. Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. T*a) 90. Jahresbericht. Nekrologe 1912. * . }*& Nachrichten über die im Jahre 1912 verstorbenen Mitglieder der Schlesischen Gesellschaft für vaterl. Cultur. Alphabetisch geordnet. Louis Burgfeld ist am 2. Januar 1828 in Rosenberg O./Schl. ge- boren. Er verlor frühzeitig seine Eltern, und war schon im jugendlichen Alter ganz auf seine eigne Kraft angewiesen. — Er trat als Lehrling in ein Breslauer Tuchgeschäft, später ging er zur Strohhutbranche über, in der er Intelligenz und Unternehmungsgeist zeigte. Sein Weitblick führte ihn nach Paris und Italien, um an Ort und Stelle die Fabrikation dieses Artikels kennen zu lernen, und die dortigen Erfahrungen für ein eignes Unternehmen zu verwerten, das er bald darauf gründete und das zu den ersten Strohhutfabriken in Deutschland zählte. Als er im Jahre 1876 erkrankte, stellte er auf ärztlichen Rat seine geschäftliche Tätigkeit ein und widmete seine Zeit den zahlreichen Ehren- ämtern an Wohltätigkeitsanstalten und in der Gemeinde. Seine edle und menschenfreundliche Gesinnung, die er schon im Leben bekundet, hat er gekrönt durch seine großherzigen letztwilligen Ver- fügungen in Stadt und Gemeinde, die für alle Zeiten ihm ein ehrendes Andenken sichern. — Felix Dahn. Soweit die deutsche Zunge klingt, wird die Todes- nachricht, welche der Telegraph am Morgen des 3. Januar 1912 von Breslau aus verkündete, schmerzlichen Widerhall wecken. Und wahrlich, das deutsche Volk hat Grund, heute halbmast zu flaggen, denn ein Herz steht stille, wie keines wärmer und treuer lür seines Volkes Glück und Größe in guten und in bösen Tagen schlug, eine Sängerharfe zersprang, die stets zum Preise germanischen Wesens, zur Warnung vor allen deutschen Erbfehlern gestimmt war. Wenn Felix Dahn um ein Erinnerungsblatt von seiner Hand angegangen wurde, so liebte er es, die Verse aus seinem Drama „Deutsche Treue“ aufzuzeichnen: „Das höchste Gut des Mannes ist sein Volk. Das höchste Gut des Volkes ist sein Staat.“ 1912. 1 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Bildete es doch recht eigentlich seine Lebensaufgabe, für die Er- kenntnis und Vertiefung dieser Lehre zu wirken. Im Jahre 1861 hatte der Münchener juristische Privatdozent den ersten Band der ,,Könige der Germanen“ erscheinen lassen, jenes gewaltige Forschungswerk, das der berühmte Staatsrechtslehrer in Breslau 1909 mit dem zwölften Bande zum Abschlüsse brachte, während er zugleich die frühesten Bände in neuer Bearbeitung herausgab. Es war eine juristische und geschichtliche Aufgabe, den zwischen den Historikern ausgebrochenen Streit über Vor- handensein, Wesen und Aufgaben des Künigstums bei den germanischen Stämmen von den ältesten Zeiten bis zur Herrschaft Karls des Großen durch kritische Sichtung des ungeheuren, zerstreuten Quellenmaterials der Lösung zuzuführen. Die Untersuchung über Ursprung, Rechte und Pflichten des germanischen Königtums mußte von selbst zur Betrachtung sämtlicher Staatseinrichtungen bei Ost-, West- und Nordgermanen auswachsen. Eine Reihe von Fragen, die daraus sich entwickelten, drängten zu selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten Aber sie alle, selbst anscheinend ferner- liegende, sind doch innerlich mit dem großen wissenschaftlichen Haupt- werke verbunden. Je mehr Dahn das Alter und das Ende herannahen fühlte, mit um so rastloserem Eifer arbeitete er an den letzten Bänden. Daß dem gelehrten Forscher nach fünfzig Jahren noch die Vollendung dieser Lebensaufgabe vergönnt war, dürfen wir als eine der größten Glücks- gaben rühmen, durch die er seinen Namen Felix bewährte. Urteilen wir aber aus seinem tiefsten Sinne heraus, so rühmen wir als größere, ja größte Glücksgabe seines Lebens, daß er im Eingänge des Mannesalters im vollen Bewußtsein ihrer weltgeschichtlichen Größe die Tage und Taten miterleben durfte, in denen der „Senex Imperator“, den Dahns markiges Lied als „Barbablanka“ begrüßte, nach jahrhundertlanger Witwenschaft Germania die Kaiserkrone wieder aufs hehre Haupt setzte. Das rote Kreuz am Arme blickte Felix Dahn auf Sedans Wälle, als auf ihnen die weiße Flagge den Zusammenbruch des zweiten gallischen Kaiserreichs ankündigte. Aus dem Kreise der unter Emanuel Geibels Führung aus Süd und Nord in München vereinten Dichterschar lebt heute noch Paul Heyse in geistiger Frische unter uns. Von den deutschen Dichtern, die wie Lilien- cron, Freytag, Fontane, Julius Wolff, Jensen 1870 im Gefolge des deutschen Heeres mitzogen, war Dahn der letzte. Man kann in mancher Hinsicht sagen, eine Periode findet mit ihm ihren Abschluß, und es bleibt trotz aller Überhebung der Jüngsten eine noch offene Frage, ob das neue Geschlecht auch einstens von der ruhig abwägenden Geschichte als das bessere anerkannt wird. Von allen Dichtungswerken ist der Roman am meisten der Mode unterworfen. Und Felix Dahn, der sein Bestes als Balladendichter und Sänger schlichter, innig empfundener lyrischer Weisen geleistet hat — von den 25 Bänden seiner ,, sämtlichen poetischen Werke“ sind fünf mit Ge- Nekrologe. 3 dichten angefällt — ist ja in weitesten Kreisen schlechtweg der Verfasser- historischer Romane. Als solcher wurde er von dem wechselnden Wellen- spiel der Mode bald hoch getragen, bald sank er ins Wellental. Auch hier tritt die überraschende Ähnlichkeit hervor zwischen dem dichterischen Schaffen des in den Tagen der Befreiungskriege so hoch gefeierten Roman- tikers Friedrich de la Motte-Fouque und Felix Dahns, dessen größte Er- folge noch von der Kriegsstimmung der Jahre 1870/71 getragen wurden. In seinen „Erinnerungen“, deren fünf Bände in zwanglosem Plaudern von der Geburt in Hamburg am 9. Februar 1834 bis zu der Übersiedelung nach Breslau im Frühjahr 1888 berichten, betont Dahn selber, wie erst durch die Reichsgründung ihm Lust und Mut gestärkt worden seien, die bereits aufgegebene Romandichtung „Ein Kampf um Rom“ (1876; 51. Auf- lage 1908) wieder vorzunehmen und zu vollenden. Der Zusammenhang des großen Romans wie des Epos „Die Amelungen“ und mancher Balladen mit Band 2 bis 5 der „Könige der Germanen“ und nicht minder die enge Verwandtschaft mancher der sieben „kleineren Romane aus der Völker- wanderung“ mit anderen Abschnitten des wissenschaftlichen Hauptwerkes liegen klar zutage. Forschung und Dichtung entsprießen aber bei Dahn aus ein und derselben Wurzel. Er selbst hat sich gerne als Schüler Jakob Grimms bezeichnet, obwohl er nicht in persönliche Berührung zu unserem großen Altmeister germanischer Altertumskunde getreten war. Wie bei Grimm ging auch bei Dahn alle Tätigkeit aus von grundtiefer Liebe zum deutschen Volkstum. Wie er in dem schönen Liede, das auch in den Kommersbüchern unserer Studenten Aufnahme fand, ermahnt, so hat er selbst unablässig als Gelehrter wie als Dichter danach gestrebt: „Den Segen deutscher Herrlichkeit, Die Heldenschaft der Ahnen; Laßt uns ihn heben allezeit: Den Volkshort der Germanen!“ Die schwankende literarische Tagesmode hat sich in den letzten Jahren nicht freundlich und kaum gerecht gegen Dahn verhalten. Aber man frage doch einmal bei den Deutschösterreichern nach, was Dahns Dichtung ihnen im Kampfe gegen Slawen- und Magyarentum bedeutet. Ein Sieben- bürger Sachse sagte mir einmal: nur wir wissen Dahns Schilderung der letzten Gotenkämpfe voll zu würdigen, die wir selbst den Kampf unter- gehender Germanen gegen übermütige Fremdvölker zu bestehen haben. Zu abgeklärten Kunstwerken sind bei Dahns raschem Schaffen nur Ge- dichte, nicht seine umfangreicheren Werke ausgereift; aber er hätte jeder- zeit mit Goethes Worten von seinem poetischen Schaffen rühmen dürfen: „So fühl’ ich denn in dem Augenblick, was den Dichter macht, ein volles, ganz von Einer Empfindung volles Herz!“ Und dieses voll empfindende Herz erfuhr, was die Götter ihren Lieb- lingen gewähren, Schmerz und Lust, Hoffen und Bangen in überreicher 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Fülle. Man hat es als einen Mangel in den Dichtungen der Schwäbischen Schule empfunden und gerügt, daß den Mitgliedern jenes Kreises alle großen Aufregungen und Kämpfe erspart blieben. Felix Dahn ward der Segen einer großen, tiefen Leidenschaft, die sein ganzes Wesen erschütterte, und dem Kämpfer der Liebe wurde der volle Sieg zuteil. Die kleine Prosa- erzählung „Sind Götter'?“, die der Bayer Dahn dankbar König Ludwig II. von Bayern widmete, ist durchglüht von jenem kraftvollen Sturm des Liebeslogehorns, in dem der Dichter sich sein Liebes- und Lebensglück mutvoll erkämpfte. Und ein ins Leben getretenes, wundervolles Märchen war es, das dann diesen Lebensbund der zwei für einander bestimmten Menschen durch die Stärke dauernder Liebe verwirklichte. In diesem In- einanderleben war noch mehr Poesie als in der gemeinsamen Sammlung der Gedichte von Felix und Therese Dahn. In Dahns Dichtungen ist Frau Minne eine zu große Rolle zuerteilt, zumal die Gestalten, Schicksale und Gefühle sich zu sehr ähneln. Aber es ist selbst da, wo der kühlere Leser Manier zu finden glaubt, doch echte eigene Empfindung, die den Dichter leitet. Und derselbe Frauenlob, der die Gegensätze von Gut und Böse so scharf und unvermittelt wrie Blond und Schwarz einander gegenüberstellt, verkündet doch nicht minder aus eigenem inneren Ringen und Erleben jene Weltanschauung, die er selbst als heroische Entsagungslehre be- zeichnet hat. „Auf Glück nicht und Unglück Die Welt ist gerichtet; Das haben nur töricht die Menschen erdacht. Es muß sich ein ewiger Wille vollenden.“ Was des finsteren Helden Teja Gesänge verkünden, das ist in dem nordischen Romane „Odhins Trost“, vielleicht der tiefstschiirfenden und neben „Sind Götter?“ schönsten Dichtung Dahns zum umfassenden gewal- tigen Weltbilde geworden. In der germanischen Göttersage fand Dahn, der allem offiziellen Kirchentum alter und neuer Zeit entschiedenste Ab- neigung entgegenbrachte, seine Ideale. An Zahl und Wort nicht gering ist die Schar gelehrter Germanisten, denen ihre Wissenschaft fruchtbar für ihre Dichtung wurde: zu Ludwig Uhland, Karl Simrock, Wilhelm Hertz, Viktor Scheffel' gesellt sich hier Felix Dahn. Erinnern wir uns aber, wie seit Klopstocks Einführung der nordischen Mythologie in die neuere Lite- ratur langsam die versunkene Welt germanischer Vorzeit und deutschen Mittelalters unserem Volke zurückerobert wurde, bis vom Festspielhügel in Bayreuth aus des Rheines verlockendes Gold und die Flammen von Walhalls Brand über alle Lande hin schimmerten, so werden wrir Dahn nicht bloß als Zeitgenossen, sondern auch als würdigen Kampfgefährten Richard Wagners feiern dürfen. Mir werden jetzt, da ich der schmerzlichen Pflicht zu entsprechen suche, dem verehrten Dichter und Menschen, der mehr als zwei Jahrzehnte Nekrologe. 5 in Breslau unter uns lebte, ein letztes Lebewohl zuzurufen, die Stunden wieder lebendig, in denen ich als Gymnasiast und Student zuerst die jährlich neu herauskommenden Dahnschen Dichtungen las. Und ich weiß, daß Tausende mit mir dem Dichter lebenslänglich Dank zollen, der durch seine eigene Begeisterung seinen jugendlichen Lesern freudigen Mut und das Gelöbnis weckte, für ihres Volkes Ruhm und Wohl zaglos in die feindlichen Speere zu springen gleich Totilas und Tejas Gefährten. Und von Herzen wünsche ich, auch die Jugend von heute möchte wieder sich seelisch baden in dem stählenden Jungbrunnen, der in Felix Dahns Dichtung strömt. Blindes Lobpreisen sollte auch bei einem Anlaß, wie er heute vorliegt, ferne liegen; damit verdirbt mancher charakterlose Schmeichler den Schaffenden, aber nicht mit Unwahrheit ehrt man den Toten. Man braucht nicht die Schwächen Dahnscher Dichtung, über die er selbst sich kaum täuschte, zu beschönigen, wo ein so voller, gottbegnadeter Poet zu uns gesprochen hat und noch lange, lange zu einer gesunden deutschen Jugend sprechen wird. Wir geben ihm Liebe für die Liebe zum deutschen Volkstum, die er in uns gepflanzt hat, der deutschen Eiche Ruhmeskranz für den Gesang, den er angestimmt für todverachtendes germanisches Heldentum, treues Gedenken für die Treue, mit der sein Lied den gewal- tigen deutschen Helden unserer Zeit in die Verbannung des Sachsenwaldes begleitet hat. Ein echter, edler Dichter ist aus dieser an literarischer Produktion überreichen, an Herzenswärme und wahrer Poesie bitter armen Gegenwart geschieden. Und wenn das ganze deutsche Volk inner- und außerhalb der Reichsgrenzen sich heute huldigend vor seinem Dichter neigt, so hat das Heimatland Herrn Wolframs von Eschenbach und Wernichers von Tegernsee, die beide von Dahn besungen wurden, so hat Bayern besonderen Grund, den Dichter zu ehren, dessen Liebe stets der Heimat an der grünen Isar und den Bergseen seiner Jugendjahre gehörte, der sich stets als Bayer fühlte. Die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens aber hat Dahn, der von München nach Würzburg, von der Mainstadt, deren alte Feste er im Bruderkriege von 1866 in Brand geschossen sah, nach der äußersten Tule, nach Königsberg, gezogen war, in Breslau zugebracht. Gerne feiert ihn Breslau, das heute um seinen berühmtesten Mitbürger klagt, feiert ihn Schlesien auch als schlesischen Dichter. Die Worte,’ mit denen einst der in München lebende Lübecker Emanuel Geibel dem Sohne schwäbischer Erde Ludwig Uhland nachrief, die mögen heute auch dem in Schlesien heimisch gewordenen bayerischen Dichter gelten: ,,Er schied, es bleibt der Mund geschlossen . . . Der Mund, draus nie ein Spruch geflossen, Der seines Volks nicht würdig war. Doch segnend waltet sein Gedächtnis, Unsterblich fruchtend um uns her; 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Das ist an uns sein groß Vermächtnis, So treu und deutsch zu sein, wie Er.“ Max Koch. (Abgedruckt aus der „Schlesischen Zeitung“.) Am 24. Oktober 1912 verstarb der Senatspräsident bei dem Breslauer Oberlandesgericht, ordentliche Honorarprofessor an der Universität Dr. Arthur Engel mann. Die Gesellschaft, der er seit 1903 angehörte, verliert in ihm eines ihrer besten Mitglieder, das seit 1911 auch in das Präsidium delegiert war. Engelmann war Schlesier, mit ganzem Herzen seiner Heimat zugetan; in Schlesien hat sich mit Ausnahme einer einzigen Unterbrechung sein Leben abgespielt. Geboren war er am 28. September 1853 in Neisse, wo sein Vater Justizrat und Landschaftssyndikus war. An seiner Vater- stadt hing er treu; begeistert wußte er die eigenartigen Reize zu schildern, die das Stadtbild Neisses darbietet. Auf dem dortigen Gymnasium vor- gebildet, bezog er 1872 die Universität Breslau, die er später mit Leipzig und Berlin vertauschte, um in Breslau seine Studien zum Abschlüsse zu bringen. Nach bestandener Prüfung wurde er am 24. Dezember 1875 zum Referendar ernannt. Nach zurückgelegtem Vorbereitungsdienst und bestandener großer Staatsprüfung wurde er Gerichtsassessor mit dem Dienst- alter vom 23. Juni 1880 und schon vom 7. Februar 1881 ab Amtsrichter in Ujest. Dorthin führte er dann am 4. Juni 1881 eine Verwandte, Johanna Lindner, Tochter eines Pastors, heim. Gern erzählte er von dem Aufenthalt in dem entlegenen Waldstädtchen ; auch an Engelmann bewährte es sich, daß es für den Wirklichkeitssinn des theoretisch vorgebildeten Juristen keine bessere Schule gibt als die Tätigkeit des ländlichen Einzel- richters. Am 1. Mai 1882 vertauschte er die Stelle in Ujest mit der eines Landrichters in Gleiwitz und bewährte sich als Kollegialrichter derart, daß er vom 1. Oktober 1890 ab als Landrichter an das Landgericht Berlin II versetzt wurde. Dort blieb er — am 23. Juni 1893 zum Landgerichtsrat ernannt — bis zum 1. Dezember 1896, freilich von 1892 ab fast fort- während am Kammergericht als Hilfsrichter beschäftigt. Von dem letztgenannten Tage ab kehrte er als Rat bei dem Ober- landesgericht in Breslau in die Heimat zurück. Alsbald wurde er neben- amtlich zum Mitgliede der Kommission für die erste juristische Prüfung bestellt. Als Richter wie als Examinator erwies er sich als ein so her- vorragend durchgebildeter Jurist, daß er am 27. Januar 1903 zum ordent- lichen Honorarprofessor von der Breslauer Universität ernannt wurde. Gleichzeitig (7. Februar 1903) verlieh ihm deren juristische Fakultät die Würde eines Doctor juris honoris causa. Nekrologe. 7 Es folgten Jahre, die den Höhepunkt des Schaffens Engelmanns als Richter, als Lehrer und als Schriftsteller bezeichneten. Vom 1. April 1906 ab wurde Engelmann zum Senatspräsidenten bei dem Oberlandesgerichte ernannt, seit 1907 war er Vorsitzender der erwähnten Prüfungskommission. Seit 1911 zeigten sich die Spuren des tückischen Feindes, der sich in jenes reiche Leben hineinschlich: einer Herzkrankheit, der er im Herbste 1912 erlag — in voller Klarheit das Ende erwartend, mit jener Willens- stärke, die den Schlüssel zu seinem innersten Wesen bildete. Mit treffendem Scharfblick hob das Diplom über Engelmanns Doktor- würde seine beiden bezeichnendsten Eigenschaften hervor. Es nennt ihn einmal ,,fori experientia et literarum eruditione praeclarum“. Jene glück- liche Verbindung höchster wissenschaftlicher Durchbildung mit feinem Vei’ständnis für Wesen und Aufgaben der juristischen Praxis machte die eigenartige Bedeutung des Mannes aus und stellte ihn auf eine Höhe, die nur wenige Juristen erreichen. Dann aber preist das Diplom ihn als ,,legum cupidorum juvenum sagacissimum instructorem“ und erkennt damit jene Begabung Engelmanns zum Lehrer an, eine Begabung, die mehr als alle Reformen den Erfolg des akademischen Unterrichts verbürgt. Eng zu- sammen mit der Lehrtätigkeit hing seine Stellung als Examinator. In ihr verstand er mit seltenem Geschick dem Wissen der Kandidaten auf den Grund zu gehen, den Tüchtigen ermutigend, den Oberflächlichen entlarvend, alle aber mit gleicher Objektivität und mit nie versagendem Wohlwollen beurteilend. Auf die literarische Tätigkeit Engelmanns kann hier nicht näher ein- gegangen werden. Die immer neue Auflage seiner Werke (Preußisches Privatrecht in Geschichte und System des Zivilprozeßrechts; das Bürger- liche Recht Deutschlands) sprechen eine beredte Sprache. Tief bedauerlich ist vor allem, daß die von ihm noch mit großer Freudigkeit übernommene Neubearbeitung eines Teiles von Heinrich Dernburgs Lehrbuch des Bürger- lichen Rechts nun den dafür berufensten Händen entglitten ist. Engelmann war ein Mann von seltenster, namentlich auch philo- sophischer und geschichtlicher Allgemeinbildung. Er selbst scherzte, er hätte lieber Maler werden sollen ; beinahe allsonntäglich zog er hinaus in das Waldrevier des Zobtens, ausgerüstet mit dem Malgerät, um die Reize der Landschaft festzuhalten. Köstlicher Humor, zwangloses Plaudern machten Engelmann zum liebenswürdigsten Gesellschafter im Freundes- kreise. Ich möchte schließen mit den Worten, die das Oberlandesgericht dem Entschlafenen nachrief, und denen unsere Gesellschaft sich nur anschließen kann : ,,In unserer Mitte wird der Geist des Mannes fortleben, mit dem zusammen haben arbeiten zu können uns immer eine wertvolle Er- innerung bleiben wird.“ Dr. Vier haus. 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Carl Eduard Haupt wurde am 26. Mai 1839 zu Naumburg a./Saale geboren, wo sein Vater eine Kunst' und Möbeltischlerei hatte. Haupt besuchte die Bürgerschule zu Naumburg und erlernte darauf in dreijähriger Lehrzeit die Kunsttischlerei in der Werkstatt seines Vaters. Hierauf ging er auf die Gewerbeschule in Halle a./Saale und bestand die Reifeprüfung mit Auszeichnung. Dann studierte er noch 3 Jahre auf der Gewerbe- Akademie zu Berlin (der jetzigen technischen Hochschule) unter berühmten Lehrern, wie den Professoren Weyerstraß, Dove und Wiebe. Als Ein- jähriger diente er beim Kaiser - Franz - Garde - Grenadier - Regiment zu Berlin. — Ausgestattet mit den glänzendsten Zeugnissen trat er als Ingenieur in die Maschinenfabrik von Borsig-Berlin/Moabit ein. Dort blieb er zwei Jahre und führte nach seinen Entwürfen und unter seiner Leitung größere Anlagen aus, wie die Wasserwerke und Fontainenanlagen für den Prinzen Albrecht in Kamenz i. Schl. Dann war Haupt ein Jahr als Direktor der Maschinenfabrik von Gotthard und Kohrig in Brieg tätig, zugleich war er Lehrer an der Gewerbeschule, späteren Ober-Realschule daselbst für Mechanik, Maschinenkunde, mechanische Technologie, beschrei- bende Geometrie, Linearzeichnen und Elementar-Mathematik. Dieses Lehrer- amt bekleidete er 14 Jahre. Für seine erfolgreiche Lehrtätigkeit wurde ihm der russische St. Stanislaus-Orden 3. Klasse verliehen. Nebenbei hatte sich Haupt mit der Herstellung von feuerfesten Dinarsteinen beschäftigt, trat nun von seinem Lehramt zurück und gründete mit dem Kaufmann Theodor Lange die Chamottefabrik , .Haupt und Lange“, die jetzige ,, Ober- schlesische Chamottefabrik“. Viele Erfindungen von Haupt auf dem Gebiete der Kessel- und Feuerungsanlagen wurden patentiert. Er blieb 14 Jahre Mitbesitzer und technischer Direktor der Chamottefabrik, trat dann aus und widmete sich nun ganz dem bisher nur aus Liebhaberei betriebenen Gärtnerberuf. Viele hohe Fürstlichkeiten: der König und die Königin von Sachsen, der Erbprinz und die Erbprinzeß von Sachsen-Meiningen, der Herzog von Württemberg und viele andere berühmte und bedeutende Persönlichkeiten besuchten wiederholt die gärtnerischen Anlagen in Brieg. Seine Verdienste um den Gartenbau wurden durch Verleihung des Kronen- ordens und des Titels „Kgl. Gartenbaudirektor“ anerkannt. In Breslau unterhielt er viele Jahre eine Filiale für Binderei, Obst- und Pflanzen- verkauf. Die Gewächshäuser baute er nach eigenen Entwürfen und Er- findungen und manche große Gewächshausanlage in Deutschland verdankt ihm seine Entstehung, wie z. B. die der Kaiserin Friedrich in Cronberg. Für den Gewächshausbau unterhielt er eine eigene Tischlerei mit tech- nischem Bureau. Auch literarisch ist Haupt auf dem Gebiete des Gartenbaus und der Technik vielfach tätig gewesen. „In Anerkennung seiner vielfachen An- regungen und Neuerungen im Gartenbauwesen, besonders in Treiberei“, Nekrologe. 9 ernannte ihn der „Verein zur Beförderung des Gartenbaues in den preu- ßischen Staaten“ zu seinem korrespondierenden Mitgliede. — Haupt starb am 8. Januar 1912 in Brieg unerwartet am Herzschlag nach kurz vorhergegangener Erkrankung an Rheumatismus. Am 26. Mai 1912 starb im 67. Lebensjahr der Sanitätsrat Dr. Eduard Juliusburger, Mitglied der Gesellschaft seit 1874. In Breslau, seiner Vaterstadt, wo er seine Bildung empfangen und gelebt und gewirkt hat, hat er auch seine Tage beschlossen. Er war am 12. September 1845 geboren, absolvierte das Matthias-Gymnasium und bezog 1863 die Univer- sität, wo Lebert, Barkow, Spiegelberg, Middeldorpf, Heidenhain u. a. m. seine Lehrer waren. Er promovierte im Sommer 1867 zum Dr. med. und legte im Winter 1867/68 die Staatsprüfung ab. In seine Studienzeit fiel der preußisch-österreichische Krieg von 1866, an dem er freiwillig als Hilfsarzt in einem Feldlazareth in Böhmen teilnahm. Er hatte sich kaum noch in Breslau zur Ausübung der ärztlichen Tätigkeit niedergelassen, und war eben im Begriff, sich einen eigenen Hausstand zu gründen, als das Vaterland beim Ausbruch des deutsch-französischen Krieges aufs neue seine Dienste forderte. Als Assistenzarzt im 1. Niederschlesischen Infanterie- Regiment Nr. 46 hat er den Krieg von Anfang bis zum Ende mitgemacht, hat oft genug mitten im Kugelregen gestanden, hat bei den weltgeschicht- lichen Schlachten von Weißenburg, Wörth, Sedan, bei den Kämpfen um Paris mitgewirkt und ist schließlich geschmückt mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse am weißen Bande heimgekehrt. Er ist dann später noch bis zum Stabsarzt avanziert und hat mit diesem Dienstgrad seinen Abschied aus dem Militärverhältnis genommen. Die Kriegsjahre zählten zu seinen liebsten Erinnerungen, von denen er immer wieder gern berichtete, und nirgends fühlte er sich wohler als im Kreise seiner alten Regiments- kameraden, an deren geselligen Vereinigungen er teilnahm, so oft es seine Zeit und seine Kräfte erlaubten. Nach seiner Rückkehr vom Feldzug und seiner unmittelbar darauf folgenden Verheiratung hat er Breslau nur noch einmal und zwar Anfang der 70er Jahre auf längere Zeit verlassen, um in Wien unter Hebra und Kaposi seine spezialistische Ausbildung für Dermatologie zu vervollständigen. Er war wohl einer der ältesten Vertreter dieses Faches in Breslau, aber ein Spezialist, der über seiner Sonderwissenschaft die Fühlung mit den anderen medizinischen Disziplinen nicht verlor. Denn neben seiner der- matologischen Praxis stand gleichwertig seine allgemeine Praxis als Hausarzt, und grade hier hat er am segensreichsten gewirkt. Er war noch der Hausarzt vom alten Schlage, der medizinische Berater und zugleich der Freund seiner Patienten, der durch die Güte und Heiterkeit seines Wesens Beruhigung und Hoffnung in jedes Krankenzimmer brachte, selbst da, wo mit ärztlicher Kunst nicht mehr zu helfen war. Dieser gesunde Optimismus, 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. diese innere Lebensfreude und die Fähigkeit, die Heiterkeit seines Herzens anderen zu vermitteln, war ihm angeboren, sie hat ihn auch im außer- beruflichen Leben nie verlassen und ihm die Sympathieen aller gewonnen, mit denen das Leben ihn zusammenführte. Schon Mitte der 90er Jahre machten sich bei ihm die ersten An- zeichen eines Herzleidens bemerkbar, das anfänglich nur nervöser Natur zu sein schien, auch lange Zeit gänzlich zurücktrat, schließlich aber doch gelegentlich eines Anfalls im Jahre 1908 als Arterienverkalkung erkannt wurde. Bei sorgsamster Pflege und Schonung seiner Kräfte bewahrte er sich trotzdem fast unverändert seine alte Frische und Rüstigkeit und man durfte auf einen abermaligen Stillstand des Leidens hoffen, als ihn im Mai 1912 ein neuer besonders schwerer Anfall traf und nach kurzem Krankenlager ein Herzschlag seinem Leben ein Ziel setzte. An seiner Bahre trauerten außer den Angehörigen die große Zahl seiner Freunde, die alle in ihm den guten hilfsbereiten, klugen und liebenswürdigen Menschen verehrten. Am 2. Mai 1912 ist unser langjähriges Mitglied, Sanitätsrat Dr. Wiemar Kleudgen aus Obernigk, seinem schweren, mit mannhafter Geduld er- tragenen Leiden erlegen. Geboren im Jahre 1849 in Koblenz a./Rli., absolvierte er dort das Gymnasium, besuchte dann die Universitäten Bonn, Marburg und Wien, übte nach seinem Staatsexamen im Jahre 1874 ca. 1 Jahr lang allgemeine Praxis aus, um dann als Irrenarzt an die Provinzial-Irrenanstalt Bunzlau zu gehen. Die schon damals trüben Aussichten, in die selbständige Stellung eines Direktors zu gelangen, veranlaßten ihn jedoch, als er inzwischen auch geheiratet hatte, nach fünfjähriger Tätigkeit als II. Arzt diesen Dienst aufzugeben. Kurze Zeit widmete er sich dann tieferen wissenschaftlichen, speziell anatomischen Studien bei Meynert und Obersteiner in Wien und Mendel-Berlin, um dann seine eigne Anstalt in Obernigk zu gründen, die er überraschend schnell zu hoher Blüte brachte. Ihm nicht zum kleinsten Teil hat der Ort Obernigk es zu danken, wenn sein Name rings in der ganzen Provinz und darüber hinaus den Beinamen der „Irrenstadt“ erhalten hat. — Kleudgen besaß alle Eigenschaften, die einen guten Irrenarzt ausmachen; in erster Reihe eine unermüdliche Pflichttreue und stete Sorge für die ihm anvertrauten Kranken. Wie er selbst jederzeit auf Posten stand, so ver- langte er auch peinlichste Sorgfalt von seinen Helfern. Sein Regiment war eisern; aber seine Strenge war nicht Brutalität, sondern Sorge für 50 — 60 Unmündige, Mitgefühl mit den Ärmsten aller Kranken, die nicht wissen, was sie tun. Diese Sorge konnte und wollte er nicht auf seine Helfer abwälzen, ihm persönlich waren die Kranken Nekrologe. 11 anvertraut, und er empfand tief das Verantwortungsgefühl. Rücksicht auf ihr Wohl erforderte seine absolute Alleinherrschaft. Arzt, Oberin, Oberwärter usw. mußten ihm persönlich mehrmals des Tages Bericht erstatten, — mündlich und schriftlich; — er kümmerte sich um jede Kleinigkeit, traf überall selbst seine Anordnungen und verlangte autoritäre Disziplin von allen. Wer den eigenartigen Betrieb einer Privatirrenanstalt kennt, kennt auch die Fülle von Arger und Widerwärtigkeiten, die dem Leiter derselben das Leben verbittern. Die unausgesetzten Quälereien einsichtsloser Kranker, die täglich ihre Entlassung fordern, wird man, da sie Folgen der Krankheit sind, noch leichter hinnehmen; aber die Verleumdungen und Hetzereien anderer, deren Intelligenz ein formell richtiges Denken noch erlaubt, die also nicht für krank gelten — auch beim Wartepersonal, — und ,, unschuldig im Irrenhause“ sitzen, oder die moralisch Geschwächten, vor allem die Trinker und Morphinisten, bilden ein wahres Kreuz für jeden Anstaltsleiter. Kommen hierzu noch — teils aus Unverstand, meist aber aus Rache — gehässige Denunziationen entlassenen Personals, so wird es den überaus scharfen Augen der Behörden gegenüber klarer Überlegung, zielbewußten Handelns und durchgreifender Energie bedürfen, um jederzeit zur Abwehr gerüstet zu sein. Klarheit in der Erkenntnis, Klugheit im Finden der richtigen Wege, Unbeugsamkeit in der Ausführung des einmal gefaßten Entschlusses, — ohne alle diplomatischen Schliche, — das war Kleudgens Stärke! Er war kein zündender Redner, der fortzureißen verstand; — • sachlich, nüchtern, klar und objektiv zwang er seine Umgebung unter seinen Bann, erwarb er sich das Vertrauen seiner Kollegen, die ihn wieder- holt zu Kongressen delegierten, widerstand er steifnackig auch den Be- hörden, wenn das Wohl seiner Kranken es verlangte. Kämpfe und Schicksalsschläge hatten ihn manchmal im täglichen Ver- kehr zurückhaltend gemacht, und seine treffliche Gattin mußte manche Härten mildern; aber wer ihm näher trat, — und ich habe 2 Jahre lang mit ihm gearbeitet, — dem enthüllte sich hinter dieser Unnahbarkeit vornehmstes Denken, ein wahrer Seelenadel, Toleranz gegen jedermanns Überzeugung, und stete Hilfsbereitschaft. Seine abgeklärte Wesensart gab der ganzen Anstalt ihr Gepräge, seinen Gehilfen aber Ziel und Richtung für ihr späteres Leben. In schwierigen Situationen habe ich mir oft vor- gestellt: Wie würde Kleudgen hier handeln? — Er war auch ein vorzüglicher Organisator und Verwaltungsbeamter. Wie in seiner Anstalt alles am Schnürchen ging, so wurde er bald auch als Bürger im Rate der Gemeinde ein geschätztes Glied; denn überall, sei es in Verwaltungsangelegenheiten, in Steuersachen, Polizeiverordnungen wußte er stets Rat und Hilfe. — Es war deshalb kein Wunder, daß er früher, als sonst bei Berufs- genossen üblich, das Bedürfnis fühlte, die schwere Bürde des Amtes auf 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. jüngere Schultern zu legen. Im Jahre 1892 hatte er die Leitung seiner Anstalt seinem einzigen, hochbeanlagten Sohne Dr. Tornier übergeben, dem er mit seiner reichen Erfahrung zur Seite stand, — leider nur für wenige Jahre. Ein trauriges Geschick hat ihm nach kurzer Zeit diese Stütze geraubt, und so übernahm er noch einmal alle Pflichten und Mühen allein, bis zunehmende Beschwerden ihn mit Gewalt zum Rücktritt zwangen. Ein Jahr später, — da war seinen Kranken ein Vater gestorben, — 62 Jahr alt, — und still und einfach, wie er gelebt und gearbeitet, so hat er gelitten, ist er von uns gegangen; ohn’ alles Gepränge, — so hat er es gewünscht, — wurde er beigesetzt. — Ein wehmutsvolles, dankbares Andenken sei sein Grabmal! Dr. Hayn-Beuthen O./S. Carl Ludwig Ad alb er t Knauer, Fürsterzbischöflicher Notarius, emer. Pfarrer von Grunwald, Kr. Glatz, Jubilarpriester, geb. den 14. Oktober 1832 zu Glatz, gestorben den 16. April 1912 zu Landeck i. Schles., Mit- glied der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur seit dem 16. Juni 1881. Er besuchte die Volksschulen zu Glatz und Rengersdorf, das Gym- nasium seiner Vaterstadt, die Universitäten zu Prag und Breslau und wurde am 12. Juni 1858 von Fürstbischof Heinrich Förster zum Priester geweiht. Als Kaplan wirkte er bis 1871 mit außerordentlich großem Er- folge in Altwilmsdorf, Schreckendorf und bei dem interessanten Pfarrer Scherzberg in Überschwedeldorf, als Kreisvikar bis 1873 in Königshain, Oberhannsdorf, Glatz u. a. 0. Vom Oberpräsidenten v. Nordenflycht wurde er im November 1873 für die höchstgelegene Pfarrei Preußens, Grunwald, präsentiert. Mit unermüdlichem Eifer wirkte er hier unter den schwie- rigsten Verhältnissen, bis eine seröse Kniegelenkentzündung ihn zwang, am 1. Juli 1886 in den Ruhestand zu treten und seinen Wohnsitz nach Glatz zu verlegen. Da genanntes Leiden sich wieder besserte, die Grafschaft aber seine Hilfe nicht beanspruchte, suchte seine rege Arbeitskraft und -lust ander- weitige Betätigung. Ganz entgegen seiner zähen Anhänglichkeit an die Heimat begann für ihn ein „geistliches Nomadenleben“. Er wirkte nach- einander als Anstalts-, Haus- oder Aushilfs-Geistlicher in Grulich bei den Ursulinern, in Steinau a. d. 0. bei den Barmherzigen Brüdern, in Seitsch bei Guhrau, in Reinbeck und Eppendorf b. Hamburg bei den Grauen Schwestern, in Ilanz in Graubünden, Schrebsdorf beim Graf v. Strachwitz, in Sagan, Pilchowitz, Neuötting, Starnberg i. B., Cappeln i. Westf., Gleiwitz, Obernigk, Misdroy, Dresden. Hier ereilte ihn 1907 ein schweres Augen- leiden, das ihn zwang, wieder eigene Haushaltung zu suchen. Er wählte Landeck zu seinem letzten Ruhesitz, wo er, wie auch an den andern Orten, still und zurückgezogen gemäß seiner Tages- und Lebensordnung Nekrologe. 13 lebte, bis ein sanfter Tod nach schmerzlichen Leiden dem regen Wirken und Streben dieser eigenartigen, hervorragenden Persönlichkeit ein Ziel setzte. Es ist schwer, im Rahmen eines kurzen Umrisses die Grundzüge dieses starken Charakters anzudeuten. Alles an ihm war eigenartig, scharf hervortretend, vom Alltäglichen abweichend und darum für manche schein- bar abstoßend und unverständlich. Nach eigener Überzeugung zum „Silben- stecher und Kritiker veranlagt“, war er scharf und logisch im Denken, fesselnd und gewandt im ernsten wie launigen Vortrage. Obwohl er sich selbst „unbeholfen und ohne alles und jedes Erzählungstalent“ glaubte, war der persönliche Verkehr mit ihm ein wahrer Genuß. Vom Anfänge seiner Studien an hatte er sich daran gewöhnt, seine Gedanken für den schriftlichen Ausdruck sorgfältigst bis in die kleinsten Einzelheiten zu gliedern und anschaulich darzustellen. Demgemäß lösten sich täglich, so lange es möglich war, in bestimmter Ordnung Berufsarbeit, Studium, schriftstellerische Tätigkeit und Erholung ab. Mit allen Gebieten des Wissens war er befreundet, besonders mit asketischer Theologie, Philo- sophie, Psychologie, Astronomie und Heimatskunde. Da er sich nicht für einen Schriftsteller von Geburt hielt, schrieb er zunächst nur aus idealem Antriebe „für sein Pult“. Erst später trat er mit mehreren seiner Geistes- kinder an die Öffentlichkeit. Wegen der Eigenart der Gedanken und un- gewohnten Form fanden dieselben nicht immer den verdienten größeren Freundeskreis. Eine ganze Anzahl Schriften über asketische Gebiete der Theologie sind von ihm fast druckreif hinterlassen worden. Er suchte und fand in deren Abfassung und Umarbeitung die schönste Befriedigung seines unermüdlichen Schaffensdranges. Besonders hervorzuheben ist, daß er eine Vorliebe für ortsgeschichtliche Studien hatte. Fast überall, wohin ihn der Lebensweg führte, befaßte er sich eingehend damit. Er schrieb sehr ausführlich die Geschichte der Pfarrei Grunwald und die Chronik seiner Zeit und regte durch seine geschichtlichen Leitartikel im Gebirgs- boten die Herausgabe der bekannten Vierteljahresschrift der Grafschaft Glatz an. Mit peinlichster Genauigkeit, Übersichtlichkeit und scharfer Kritik zeichnet er seine eigenen Lebensschicksale und gibt ihnen als Motto den Scheidegruß Kaiser Friedrichs III.: „Lerne leiden, ohne zu klagen.“ — Als er infolge seines schweren Augenleidens seinen Gedankenreichtum nicht mehr in die interessante Form seiner kleinen Mücken-Schriftzüge prägen konnte, hielt er sich eine besondere Sekretärin, der er täglich bis zu seiner letzten Krankheit in die Feder diktierte. Alles Schriftliche fand sich bei seinem Tode in musterhafter, sachlicher Ordnung vor, von seinen 1700 Predigten bis zu seinen sorgfältig geführten Tagebüchern mit den täglichen Ein- und Ausgängen, Besuchen und Handlungen. Seiner vielseitigen Geistes- und Willensrichtung entsprechend war er Ehren- bezw. lebenslängliches Mitglied des deutschen Priester-Unterstützungs- 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Vereins zu Görz, des Charitas-Verbandes zu Freiburg i. Br., der Görres- Gesellschaft in Bonn, der deutschen Gesellschaft für christliche Kunst in München, des Bayrischen Preßvereins in Passau; ordentliches Mitglied des Vereins für Geschichte und Altertum Schlesiens und unserer Gesellschaft für vaterländische Cultur in Breslau. In seinen Aufzeichnungen bedauert er besonders lebhaft, daß sein Wanderleben ihm in seiner literarischen Betätigung für die Geschichte seiner geliebten Heimat hinderlich gewesen sei. Für seine praktische Heimatliebe zeugen seine Stiftungen, auf deren Begründung er die Ersparnisse seiner anspruchslosen Lebenshaltung ver- wandte: Ein Bett im Krankenhause zu Reinerz, eine Armenstiftung, eine Stiftung für zwei Waisenkinder und eine Studienstiftung am Gymnasium zu Glatz im Gesamtwerte von 34 000 Mark mit ausdrücklicher Bevorzugung von Nutznießern aus Grunwald. Außerdem äußerte sich seine Selbst- losigkeit noch in vielen Einzelgaben zum Besten der Kranken- und Waisen- pflege. Im Schatten der Friedhofkapelle zu Landeck ruht sein müder Leib aus von den irdischen Wanderfahrten, sein Geist aber lebt fort in seinen Werken, die ihm ein dankbares Gedenken auch bei den kommenden Ge- schlechtern sichern. A. Heinz e, Pfarrer. Am 28. Oktober 1912 verschied zu Breslau der Kunsthändler Arthur Lichtenberg. Er ward 1845 zu Neustadt O./Schl. geboren, wo sein Vater die Apotheke besaß, besuchte die Realschule zum heil. Geist in Breslau, und trat danach bei seinem Vater, der inzwischen die Musikalien- handlung von Bote u. Bock in Breslau übernommen hatte, als Lehrling ein. Zu weiterer Ausbildung ging er nach Leipzig, um nach 3 Jahren in das väterliche Geschäft zurückzukehren. 1867 gründete er ein Pianoforte- Magazin, das er bald darauf mit einem Kunstsortimentsgeschäfte verband. Über die geräuschlosere kaufmännische Tätigkeit hinaus errang Lichten- berg Bedeutung durch seine Kunstausstellung, die er im Jahre 1870 ein- richtete und die noch heute unter seinem Namen fortgeführt wird, nach- dem der Gründer bereits im Herbst 1911 aus Gesundheitsrücksichten von der Leitung zurückgetreten war. Die günstige Aufnahme einer im November 1870 unternommenen Ausstellung von Bildern aus Privatbesitz, zum Besten von Witwen und Waisen in Frankreich gefallener Schlesier, hatte zur Fortsetzung ermutigt. Anfänglich fanden diese Veranstaltungen noch in den Räumen der Lichtenbergschen Kunsthandlung statt, sodann nach Er- richtung des Schlesischen Museums der bildenden Künste in einigen Sälen des Obergeschosses; und nach vollzogener Verschmelzung mit der Aus- stellung des Schlesischen Kunstvereins erfolgte die Übersiedlung in die Säulenhalle des I. Stockes. Hier nun ließ Lichtenberg die wichtigsten Kunstschöpfungen von Makart und Böcklin an bis auf die verstiegensten Attraktionen der Fran- Nekrologe. 15 zosen vor den Augen des noch nicht verwöhnten Publikums vorüberziehen. Das Publikum, das früher fast nur auf literarischem Wege mit den Be- strebungen und Kämpfen der modernen Kunst bekannt geworden war, sah jetzt Kampfobjekte lebhaft vor Augen und ward angeregt zu eigener Urteils- bildung; die Sammellust ward belebt, die Sammler zu Kennern erzogen. Und darüber hinaus: wie manches heimische Talent verstand Lichtenberg heranzuziehen, zu fördern und zu ermutigen, wie manchem jungen Lands- mann hat er die Wege zur Kunst geebnet, sei es indem er Mäcene zu interessieren wußte, sei es daß er in diskreter Weise persönlich eintrat. Als der schon lange Kränkelnde von seinen Leiden erlöst ward, schloß sich wohl bald die Lücke, die dieser Tod verursachte — hatte doch auch der Verstorbene selbst für Ersatz vorgesorgt — , aber der Ruhm bleibt doch an seiner Person haften, hier in Breslau als Anreger und Bahnbrecher gewirkt zu haben. Janitsch. Die Wehmut unerfüllter Hoffnungen, mit der die medizinische Wissen- schaft den vorzeitigen Verlust schon so manchen jugendlichen, noch viel verheißenden Forschers — eines Bichat, eines Schimmelbusch, eines Schaudinn — beklagen mußte, bleibt der Trauer um Joseph Lister fern. Derjenige, dessen sterbliche Hülle man im Februar 1912 hinaustrug, hatte das Große, was er der Welt zu geben hatte, restlos vollenden können; als der harmonische notwendige Abschluß alles irdischen Seins und Strebens nahte ihm der Tod. — Desto abgeklärter, losgelöst von rein Menschlichem erscheint uns darum schon heute sein Lebenswerk, das wie kaum ein zweites sich segensreich für die ganze Menschheit gestaltete. — Wer in unseren Tagen die Bedeutung von Listers Wirken im ganzen Umfange ermessen will, muß im Geiste zurückkehren zu jenen Stätten, in denen unsere Vorgänger Chirurgie trieben — in die Zeit des Beginns der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Die Klagerufe der unglück- lichen Menschen, denen man dort bei voller Erhaltung des Bewußtseins das zuckende Fleisch, Nerven, Bänder und Knochen mit Skalpell und Säge durchtrennt, die Blutung mit dem Glüheisen gestillt hatte, waren endlich verstummt unter der Einführung der Allgemeinnarkose — sonst aber hatte die operative Chirurgie noch nichts von ihren früheren Schrecken verloren. Mochte am Tage die Operation vor dem staunenden Amphitheater noch so schnell und elegant ausgeführt worden sein — von Glück konnte der sagen, dem nicht schon am Abend der Schüttelfrost des beginnenden Erysipels, der Pyämie durch die Glieder fuhr; zahllose Opfer forderte der heute nur noch dem Namen nach gekannte Hospitalbrand, und wer nicht starb, verließ meist erst nach langem Fieber und Siechtum die chirurgischen Säle. Auch der kleinste operative Eingriff bot keine völlige Sicherheit für einen ungestörten Wundverlauf. 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Selbst ein Billroth hatte — um einige Zahlen hier anzuführen — während seines Wirkens in Zürich (1860 — 1867) unter den komplizierten Gelenkfrakturen resp. offenen Luxationen eine Mortalität von 60 °/0 (von 39 Pat. 23 f) zu beklagen; die Amputation der krebsigen Brustdrüse, wobei 7 von 38 an Erysipel resp. Sepsis starben, galt demgegenüber als eine „nicht so sehr gefährliche“ Operation; von 20 Kropfexstirpationen endeten 8 (= 32 °/0) durch foudroyanteste Sepsis tödlich. Aber die Züricher Klinik war damals eine Musteranstalt und an anderen Stellen war es sicher noch schlimmer. Man lese einmal ältere zeitgenössische Schilderungen, — so aus dem alten stets überfüllten Hötel-Dieu in Paris — und Bilder eines Inferno steigen auf, wie sie auch die Phantasie eines Dante nicht grauen- hafter hätte ersinnen können. — Es hat etwas Tragisches, sich heute zu vergegenwärtigen, wie auch die besten unter den vorantiseptischen Chirurgen, die getreulich und in ernstem Bemühen durch Verbesserung der Ventilation, durch Aderlaß, diätetische Vorschriften u. dergl. eine Besserung dieser Zustände anzu- streben suchten — gerade selbst diejenigen waren, die ahnungslos mit ihren eigenen Händen, nachdem sie etwa vorher eine septische Sektion vorgenommen, eine hochvirulente Pflegmone inzidiert hatten, das belebte Gift einimpften in die frisch angelegten Operationswunden, das gleiche Gift, das an ihren alten von eingetrocknetem Blut und Eiter starrenden Arbeitsmänteln haftete, an der von unreinen Händen gezupften Scharpie und den berüchtigten von einer Wunde zur anderen verwandten Wundschwämmchen — man denkt an das Faustische Wort: ,,.... die Patienten starben Und niemand fragte, wer genas. So haben wir mit höllischen Latwergen .... Weit schlimmer als die Pest getobt/4 Das neue Moment, das List er zur Lösung des heißumstrittenen Problems einer rationellen Wundbehandlung hereinbrachte, beruhte im wesentlichen auf einer prinzipiellen Änderung der Methodik — an Stelle der rein spekulativen aphoristischen Konstruktion tritt mit ihm die nüchterne natur- wissenschaftliche Beobachtung auf den Plan. Die Gedankengänge, die ihn hierbei leiteten, sind von einer wahrhaft klassischen Einfachheit: Pasteur hatte den Nachweis erbracht, daß eine in einem Glasgefäß aufgekochte — an und für sich gärfähig bleibende — Zuckerlösung sich dauernd unzer- setzt erhält, wenn man vor Eintritt der Abkühlung den Flaschenhals so abbiegt, daß zwar die Luft frei hinzutreten kann, daß aber in ihr suspen- dierte Keime nicht in die Lösung hineinfallen können. Also nicht die Luft als solche bewirkt die Gärung, sondern die in ihr schwebenden kleinsten Lebewesen. Sollte nun ein Gleiches nicht auch für die putride Wundeiterung gelten? Lehrte nicht in der Tat die bekannte Erfahrung, daß ein bei sub kutaner Rippenfraktur mit gleichzeitiger Lungenverletzung Nekrologe. 17 entstehendes Hautemphysem ebenso regelmäßig nicht vereiterte, wie es damals fast mit Sicherheit bei offener Verletzung der Suppuration an- heimfiel — lehrte dies nicht eindringlich genug, daß nicht die Luft als solche es ist, welche die Gefahr der komplizierten Frakturen bedeutet, sondern die in ihr enthaltenen Mikroorganismen, welche bei dem erst- genannten Beispiel einfach dadurch nicht zur Wirkung kommen, daß sie innerhalb der Luftwege festgehalten, geradezu abfiltriert werden? War dieser Gedankengang aber richtig, so mußte es leicht sein, die Probe auf das Exempel zu machen — es mußte also genügen, eine frische komplizierte Fraktur mit einem stark antiseptischen Mittel — etwa einem in Karbolöl getauchten Lintstreifen — zu bedecken, damit unter diesem Wundschutze eine komplizierte Fraktur genau so heilen würde wie eine subkutane. Und in der Tat, der Versuch gelang. 1867 berichtete Lister über 10 Fälle von komplizierten Frakturen, die ohne Todesfall — wenn auch nach heutigen Begriffen nicht ohne jede Wundkomplikation — - zur Heilung gelangten. Nur einmal wurde die Amputation notwendig; ein 11. Patient starb infolge von Gefäßarrosion durch Druck der Fragmente. Es gibt in der Geschichte der Medizin wohl keine zweite Beobachtungs- reihe von solcher Tragweite wie jene wenigen Krankengeschichten aus der Glasgower Klinik. — Neue weitere Beiträge für die Wirksamkeit der angewandten Methode erscheinen in rascher Folge. Kalte Abszesse, das noli me tangere der alten Chirurgie werden unter dem Karbolschutz mittels Stichinzision ent- leert — und heilen aus: ,,Die Caries hat aufgehört,“ schreibt Lister, „ein wunder Punkt der Chirurgie zu sein.“ Und bald darauf kann er den klinischen und mikroskopischen Nach- weis erbringen, daß der mit Karbol getränkte Ligaturfaden nicht wie bisher zur Wunde hinausgeleitet zu werden braucht — mit ständiger Gefahr einer septischen Nachblutung - — sondern, daß es möglich ist, ihn kurz abgeschnitten zur Einheilung zu bringen: „Ich für meinen Teil würde es nun ohne Zögern unternehmen,“ — heißt es weiterhin — „die Innominata zu unterbinden in der Überzeugung, daß dieses eine ganz gefahrlose Prozedur sein würde.“ — Glücklicher als Semmel weis, sein großer tragischer Vorgänger, hat Lister es erleben dürfen, wie zwar anfangs langsam, dann aber in stetigem Fortschreiten seine Lehre zum Allgemeingut aller Chirurgen wurde*) - — wie die Hoffnungen, die er an seine Entdeckung geknüpft hatte, sich verwirklichten* glänzender als man es je hätte voraussehen können, wie das Furchtbare *) Mit besonderer Genugtuung erinnern wir daran, daß gerade hier in Breslau von dem noch lebenden hochverdienten Geheimrat Hermann Fischer einer der ersten Versuche auf dem Kontinent mit der Anwendung des Listerschen Verfahrens angestellt wurde. 1912. 2 Jahresbericht der Selbes. Gesellschaft für vaterl. Cultur. der chirurgischen Tätigkeit allmählich verblaßte und an Stelle des brutalen Zufalls, der bis dahin das Gelingen der Operationen beherrscht hatte, eine fast mathematisch zu bestimmende Sicherheit des Erfolges trat, wie der Kreis der ursprünglich zunftmäßigen von Bartscherern ausgeübten Wund- heilkunde sich weitete zur modernen Chirurgie der inneren Organe, des Zentralnervensystems und therapeutische Möglichkeiten eröffnete, die der internen Medizin versagt bleiben mußten. Gewiß ist im Laufe der Zeit von dem ursprünglichen Listerschen Verfahren infolge der allmählichen Wandlungen der Antisepsis zur Asepsis dem Buchstaben nach wohl kaum etwas übrig geblieben; wir wissen auch heute, daß die ursprüngliche Bewertung der Luftkeime sich nicht als stichhaltig erwiesen hat — daß vielmehr fast ausschließlich in der direkten Über- tragung von Mensch zu Mensch vermittels infizierter Hände, Instrumente, Verbandmaterial die Gefahr der Wundstörungen begründet liegt — der Bedeutung der Listerschen Entdeckung tut dies keinen Abbruch. Der Weg war einmal gewiesen — und an rüstigen Kräften, auf diesen Bahnen weiter zu schreiten, fehlte es nicht. So bildet der stolze, für die Menschheit so unendlich segensreiche Bau der modernen Chirurgie ein gigantisches, unvergängliches — weil stets sich verjüngendes — Denkmal für Joseph Li st er. Eduard Melchior. Am 8. März starb nach kurzer schwerer Krankheit Herr Apotheker Julius Saft. Er wurde am 4. Juni 1861 in Bernstadt geboren und genoß seine Kindheitserziehung in Rosenberg O.-S. Im Jalue 1872 bezog er das Elisabeth-Gymnasium in Breslau, das er 1877 verließ, um sich dem Apothekerberufe zu widmen. Er absolvierte seine Lehrzeit in Groß-Strehlitz, seine Gehilfenjahre in verschiedenen Apotheken des Reiches und besuchte dann die Universität Breslau, an der er auch die Staatsprüfung als Apotheker bestand. Im Jahre 1888 erw'arb er die Alte Apotheke in Beuthen, siedelte 1892 nach Inowratzlaw über und wurde 1898 Besitzer der Adlerapotheke und 1907 der Humboldt-Apotheke in Breslau. Hier in Breslau verstand er es sich Ansehen und Achtung im Kreise seiner Berufsgenossen zu erwerben, unter denen er eine führende Rolle zu spielen berufen war. Sein zielbewußter Tätigkeitsdrang, seine rednerische Begabung verbunden mit seinem konzilianten Wesen veranlaßte seine Kollegen, ihn an die Spitze ihres Berufsvereines zu wählen, und in diesem Ehrenamte bat er sich hervorragende Verdienste erworben, die ihm ein dauerndes Andenken in der Geschichte des „Vereines der Apotheker von Breslau und Umgegend“ sichern. Die letzten Jahre widmete er seine reiche Arbeitskraft der hiesigen Firma F. Reichelt G. m. b. H. Als stets mit Rat und Tat hilfsbereiter Mensch hat er es auch verstanden, in allen Kreisen sich treue Freunde zu erwerben, so daß nächst seinen Nekrologe. 19 Angehörigen eine große Zahl Freunde und Berufsgenossen als wahrhaft Leidtragende seine Bahre umstanden. Otto Schlesinger. Simon Schweitzer ist am 7. April 1831 zu Schwientochlowitz, Kr. Beuthen O.-S., geboren. Er besuchte das Gymnasium in Gleiwitz. Später trat er in ein größeres Breslauer Geschäft als Volontär ein, kehrte, nachdem er in Breslau mehrere Jahre konditioniert hatte, nach Schwien- tochlowitz zurück, um das väterliche Geschäft zu übernehmen und gründete Ende der 60 er Jahre mit seinem älteren Bruder hier ein Kohlen-Engros- Geschäft. 1873 verkaufte er seine Schwientochlowitzer Besitzung an die Gräfl. Donnersmarcksche Verwaltung und siedelte mit seiner Familie — 1857 hatte er geheiratet — nach der benachbarten Stadt Kattowitz über. Hier lebte er 20 Jahre als Kaufmann. Durch Fleiß und Tüchtigkeit sowie durch seine persönliche Beliebtheit brachte er das von ihm fortgesetzte Kohlengeschäft zu einer hohen Blüte. Der geachtete Kaufherr wurde durch das Vertrauen seiner Mitbürger bald in das Stadtverordneten-Kollegium gewählt, dem er bis zu seinem Wegzuge nach Breslau — Juli 1892 — angehörte. Als im Jahre 1889 die Schlesische Gesellschaft für vater- ländische Cultur in Kattowitz tagte, trat er derselben als Mitglied bei. Im Jahre 1892 zog er sich, der inzwischen zu Wohlstand gelangt war, vom Geschäft zurück und lebte fortan als Rentier in Breslau. Einen schweren Schmerz erlitt der Greis, den ob seiner vornehmen Gesinnung und seines liebenswürdigen Wesens und wegen seiner vielen Wohltaten alle seine Bekannten hochschätzten und verehrten, durch das Ableben seiner Gattin (März 1901). Von dieser Zeit ab bis zu seinem Tode (Februar 1912) lebte er, umgeben von der Liebe seiner Kinder, nur seiner Familie. Auf der Höhe seines Lebens und seines Wirkens ist unserer Universität einer ihrer beliebtesten und erfolgreichsten Lehrer am 29. September durch ein tückisches Leiden entrissen worden: der ordentliche Professor der klassischen Philologie Franz Skutsch. In voller Frische schloß er Anfang August seine Vorlesungen nach einem sehr arbeitsreichen Semester, als unheilbarer Kranker kehrte er aus den Ferien zurück, und schon nach vierzehn Tagen bangen Wartens machte eine Herzschwäche plötzlich seinem Leben ein Ende und bewahrte ihn vor den Qualen eines unabsehbaren Siechtums. Erschüttert steht die Familie und die große Schar seiner Freunde und Kollegen, seiner früheren und jetzigen Schüler an dem Sarge des edlen, geliebten und verehrten Mannes und kann das Unfaßliche nicht verstehen. Sein äußerer Lebensgang ist schlicht und gerade verlaufen, ein stilles Gelehrtenleben. Geboren am 6. Januar 1865 als Sohn eines 20 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. praktischen Arztes in Neiße, hat Franz Skutsch sein ganzes Leben hin- durch seiner Heimatprovinz und zum größten Teil der Stadt Breslau an- gehört. Hier hat er ebenso wie in Leipzig, Heidelberg und Bonn studiert, hier sich mit 25 Jahren habilitiert, hier nach sechs Jahren mit Über- springen der Zwischenstufe des Extraordinarius die höchste Staffel der akademischen Laufbahn erreicht. Reiche Anerkennung auch von außen fehlte nicht, die Akademien in München und Athen machten ihn zum Mit- gliede, sein Weltruf war begründet. Aber allen Lockungen nach auswärts widerstand er, so im Winter 1910/11, einem äußerst ehrenvollen Rufe nach Straßburg. Zu fest wurzelte er in der Heimat, zu fest war er hier mit alten Freunden und Schülern verbunden, mit der eigenen Familie wie der seiner Frau. Ach, er blieb in der Heimat, um in ihr zu sterben. Be- strebungen wie die des Humboldtsvereins, fanden in ihm einen regen Förderer; in diesem, dem Verein für Volkskunde, der Schlesischen Gesell- schaft für vaterländische Cultur, und in der Provinz hielt er zahlreich besuchte Vorträge unter ungemeinem Beifalle. Aber sein patriotischer Blick war auch in die Nachbarmonarchie gerichtet, und als Vorsitzender des Deutschen Schulvereins hat er kräftig und segensreich gewirkt. Überall wird sein Verlust sehr schwer empfunden werden. Ein warmherziger Mensch, ein gottbegnadeter Lehrer, eine sprach- gewaltige Künstlernatur und ein in die Tiefe dringender Forscher ist in ihm dahingegangen, ehe er noch sich ganz ausgelebt und große Pläne voll verwirklicht hatte. Von seinem überaus glücklichen Familienleben möge hier nur gesagt sein, daß die Liebe zu seiner Gattin und seinen drei, jetzt in zartem Alter verwaisten Kindern ihren sonnigen Schein über sein ganzes Leben breitete. Seine vielen Freunde haben es erfahren und bezeugen es, daß er Treue mit Treue vergalt, immer zu raten, zu helfen, sich aufzu- opfern bereit, daß er in zarter Anteilnahme ihren Kummer und ihre Sorge teilte und ihre Freude als eigene Freude empfand. Sein praktischer Blick, seine Erfahrenheit in der Universitätsverwaltung, das allgemeine Vertrauen der Kollegen befähigte ihn vor anderen zum Dekanate und zu besonderen Vertrauensstellungen. Enge Fühlung hatte er auch mit den Studierenden. Wie nahm er sich eines jeden von ihnen an, der ernstlich arbeiten wollte und seine Leitung suchte! Wie hat er sich weit über ihre Studienzeit hinaus um jeden tüchtigen ehemaligen Schüler gekümmert! Wie hingen sie an seinemUnterricht und seiner Person ! Freilich gibt es auch nur wenige Lehrer, die ihre Zuhörer so hinzureißen vermögen, wie er, die aus dem sprödesten trockensten Felsen — und als solcher wird die Grammatik den meisten Laien erscheinen — einen frischen Quell lebendigster Anregung mit seinem Aronsstabe herauszuschlagen wußten. Eine Vorlesung, ein Vortrag von Skutsch, auch über entlegene und scheinbar uninteressante Stoffe, war eine spannende, packende Erzählung, ein Hinführen der Hörer aus schwankenden Problemen zu ihrer allmählich sich entschleiernden Nekrologe. 21 Lösung, zu immer stärkerer Begründung, zur Ausschließung jeder anderen Möglichkeit, zur Erreichung der Gewißheit. Nicht nur ein Genuß war es, seinen beredten Worten zu lauschen, wie im Privatgespräche, sondern der Hörer wurde über sich hinausgehoben und fühlte etwas wie die Befreiung der Seele beim Anschauen eines Dramas. Der so aus ihm sprach, war nicht nur der geborene Lehrer, der viel- seitige Gelehrte, der zielbewußte Forscher, sondern auch der formvollendete Künstler, der mit den Mitteln seiner Kunst die Hörer in seine Zauber- kreise zwang. Der Forscher ist immer ein Stück Künstler, ohne schöpfe- rische Phantasie ist überhaupt keine transzendentale Forschung denkbar. Aber in Skutsch zeigte sich auch bei der Wiedergabe der in ihm lebenden Gedanken seine seltene und ausgeprägte Vereinigung von pädagogischem Takte und künstlerischer Gestaltungskraft. Sie tritt auch in seinen Büchern und Aufsätzen hervor: überall ein bewundernswertes Formtalent, das um so tiefer ist, als man es oft kaum merkt über den wichtigen sachlichen Gesichtspunkten. Deutlicher zeigte sich der Künstler in eigenen Dichtungen aller Art, die er spielend beherrschte, und in meisterhaften Übersetzungen und Bearbeitungen antiker Werke, z. B. von altlateinischen Lustspielen des Plautus und Terenz. die dann bei mehrfachen Gelegenheiten (wie der Posener Philologenversammlung im vorigen Herbste) aufgeführt worden sind. Als Dichter wie als Gelehrter verfügte er über eine ungemeine Be- lesenheit in moderner Literatur, besonders französischer neben der deutschen. Überall wußte er Anregung zu schöpfen und in reichem Maße zu spenden, ungesucht, fast ungewollt. Denn der Mund ging ihm über von dem vielen Schönen, von dem sein Herz voll war. Mit allen Fasern hing aber sein Herz an seiner Wissenschaft, sie war der Mittelpunkt seines stets wachsamen Sinnens und Denkens; und das eigentliche Geheimnis seiner zündenden Rede war doch, daß er stets aus dem Vollen schöpfte und stets sein Bestes mit flammender Begeisterung gab, ganze Hingabe an den Gegenstand leistend und fordernd. Er be- schränkte sich auch niemals darauf, zusammenzufassen und darzustellen, was andere gedacht und gesammelt, sondern stets war er schöpferisch tätig, auch das ererbte und überkommene Gut mehrend und zu neuer Erkenntnis ausgestaltend, rastlos in seiner Forschung von Etappe zu Etappe weiter schreitend und dabei doch gern auf die gewonnenen Positionen zurückschauend. Alles, auch das Kleinste und Unscheinbarste, fügte sich seinem ordnenden Geiste zu einem einheitlichen Bilde zusammen, und er konnte es kaum begreifen, wenn er in Dingen, die er selbst so gründlich durchdacht und so überzeugend vorgetragen hatte, auf Unglauben und Widerspruch stieß, in denen er bösen Willen oder Unfähigkeit erkennen zu müssen glaubte. Dann folgten wohl leidenschaftliche oder resignierte Äußerungen über die Schwere des Kampfes, ohne den es kein Leben gibt. 22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Man muß auch eingestehen, daß er oft tiefer gesehen hat als seine Gegner und mit der Zeit vielfach Recht bekam. Aber auch wo eine Einigung nicht zu erzielen oder er im Unrecht war, hat er doch stets der Forschung neue fruchtbare Anregungen gegeben. Eine von ihm aufge- worfene Hypothese hat die ganze Philologie in zwei Lager gespalten, nämlich die Cirisfrage: während die in zahlreichen Wandlungen an Vergil anklingende Elegie ,,Ciris“ allgemein als eine jüngere, mit Vergilreminis- zenzen verfaßte Dichtung galt, behauptete er, sie sei von dem Elegiker Cornelius Gallus gedichtet und von Vergil, der dadurch in der Wert- schätzung sehr sinken mußte, ausgeplündert worden, und widmete der Beweisführung außer mehreren Aufsätzen zwei glänzend geschriebene Bücher, die ein ganz neues Bild der augusteischen Dichterepoche zeichneten und nach vielen Seiten neues Licht zu verbreiten suchten. In einigen Punkten ging er zu weit oder irrte sich, aber die Hauptsache ist trotz zahlreicher Untersuchungen pro und contra noch nicht entschieden. Ob eine sichere Entscheidung mit unseren Mitteln einmal möglich sein und wie sie ausfailen wird, steht dahin; aber unter allen Umständen wird sein Anteil ein Markstein in der Geschichte dieser Forschung bleiben. Von anderen literarhistorischen Arbeiten sei nur die mit W. Kroll unternommene Neubearbeitung der Teuffelschen Literaturgeschichte erwähnt, die noch im Drucke ist: er hat die Korrekturen nicht mehr erledigen können. Im Mittelpunkte der wissenschaftlichen Arbeit stand für Franz Skutsch die Erforschung der lateinischen Sprache, namentlich des ältesten Latein, sowohl die Erklärung der erhaltenen Sprachdenkmäler der Römer und der italischen Dialektinschriften, wie die Rekonstruktion der prähistorischen Zustände, aus denen Lautgesetze, Formen und syntaktische Verbindungen ihre historische Ableitung erfahren haben. Sein Lehrer und Vorbild auf diesem Forschungsgebiete war der vor wenig Jahren verstorbene Altmeister der Philologie, Franz Bücheier in Bonn, den sein Schüler in einer Be- ziehung sogar noch übertraf, nämlich in der innigen Vertrautheit mit der vergleichenden Sprachwissenschaft, wie sie sich seit Mitte der siebziger Jahre des 19. Jahrhunderts gefestigt hatte. Skutsch selbst war so durch und durch sprachwissenschaftlich geschult und von dem Geiste dieser relativ jungen Disziplin erfüllt, daß er leicht eine Professur dieses Faches hätte versehen können, wenn er der Philologie hätte untreu werden wollen. Aber er wollte beides vereinigen. Die von ihm später mit P. Kretschmer in Wien gegründete „Glotta“, eine Zeitschrift für griechische und lateinische Sprache, zeigte welche große Aufgabe er sich gestellt hatte, aus intimen Kenntnissen und quellenmäßigen Studien seiner Lieblingssprache heraus die Sprachwissenschaft zu befruchten, damit die neue Erkenntnis wieder der schwierigsten aller älteren indogermanischen Sprachen zugute käme. Denn das Latein und seine italischen Verwandten haben so starke Veränderungen durchgemacht, und zwar in der Hauptsache schon in vorliterarischen Zeiten, Nekrologe. 23 daß manches in ihr bis zur Unkenntlichkeit entstellt, anderes durch den Einfluß fremder Sprachen ersetzt worden ist, ohne daß die Grenzen überall klar hervortreten. So wurden in der Verbalflexion die Tempusbildungen auf -bam und -bo (amabam, amabo) längst von demselben Stamme wie fore, fui (cputo) abgeleitet; aber erst Skutsch bewies, daß hier das Hilfs- verbum „werde, wachse“ mit dem Partizipium amans zusammengesetzt, wie calefio aus calens-fio entstanden ist, und daß audiebam (aus audiens-fam) die ältere Form ist, nicht audibam. Eine andere Untersuchung zeigte, unter welchen Bedingungen im Altlatein gesetzmäßige Silbenkürzungen eingetreten sind; die Anregung dazu empfing Skutsch durch den von ihm hochverehrten Gymnasialdirektor und ordentlichen Honorarprofessor C. F. W. Müller, aber er stellte erst die ge- nauen Bedingungen dieses „Jambenkürzungsgesetzes“ fest, die auch für die Metrik der altlateinischen Dichter ungeahnte Folgerungen ergaben. Alles drängte auf eine Geschichte der lateinischen Sprache, die er wie kein anderer hätte schreiben können.’ Wenigstens zwei gediegene Skizzen zeigen, was wir zu erwarten hatten. Auch ein etymologisches Wörterbuch zu schreiben hatte er versprochen, und als Vorarbeit bereits eine Fülle etymologischer Worterklärungen geliefert, in denen er überraschende Auf- schlüsse durch seine gediegenen Kenntnisse, seinen wunderbaren Spürsinn und seine unermüdlichen Folgerungen gab: wenn er z. B. qui-cum-que in seine Elemente „wer und wann“ zerlegte und damit den stehenden Ge- brauch des Indikativs in Temporalnebensätzen zusammenbrachte, oder wenn er odium aus der ursprünglichen Bedeutung „Geruch“ ableitete und ihre Entwickelung zu „Haß“ aufzeigte. Manche Worte, wie das uns allen ge- läufige persona, konnte er überzeugend aus dem Etruskischen herleiten, einer Sprache, die nicht indogermanisch ist und uns lauter Rätsel aufgibt. Skutsch hat auch in ihr vieles erklärt (seine Arbeit wurde ins Italienische übersetzt) und den Einfluß des Etruskischen auf das Lateinische vielfach nachgewiesen, noch in diesem Sommer auf die alte lateinische Wort- betonung im Wortanfange. Aber seine Entdeckungen auf dem Gebiete der Sprache und Metrik sind zu zahlreich, um hier aufgeführt werden zu können, ihre Beweisführung zu schwierig und ihre Tragweite zu bedeutend, als daß sie außerhalb der Fachkreise voll gewürdigt werden können. Er war auf der Doppelwarte der Philologie und Sprachwissenschaft eine einzig- artige Persönlichkeit, sein Name wird in beiden Zweigen der Wissenschaft fortleben, so lange sie besteht. Alfred Gercke. (Nach einem Separatabdruck aus der „Schlesischen Zeitung“.) Dr. med. Wilhelm Spiegel wurde am 7. April 1862 in Breslau geboren, besuchte hier das St. Elisabeth-Gymnasium bis Michaeli 1882, dann die Universität in Breslau und bestand 1887 das ärztliche Staats- examen. 1889 promovierte er in Leipzig. Im Januar 1889 ließ er sich 24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. in Breslau als Arzt nieder und übte eine umfangreiche Tätigkeit aus, bis ihn unvermutet im Oktober 1911 eine tückische Krankheit befiel, die am 9. August 1912 zu seinem Ableben führte. Einfach wie sein Lebenslauf war sein Wesen; aber das schlichte, an- spruchslose Äußere barg einen edlen Kern. Nur ideale Interessen konnten ihn fesseln. Seine ungewöhnliche musikalische Begabung und sein feines musikalisches Verständnis verschönte ihm und seiner Umgebung zeit seines Lebens alle Mußestunden. Vor allem aber war er mit jeder Faser seines HerzensArzt. Selbstlos, menschenfreundlich und grundgütig war er für diesen Beruf wie geschaffen und verkörperte den Helfer am Krankenbette in wirklich idealer Gestalt. Keine Nachtstunde war ihm zu spät, kein Wetter zu schlecht, kein Gang zu beschwerlich, um auch dem Ärmsten der Armen beizustehen. Er selbst w7ar zu bescheiden, um von seinem Wirken zu erzählen. Wieviel Tränen er aber getrocknet, wieviel Schmerzen er ge- lindert hat in den 23 fleißigen Jahren, in denen er in der Ohlauer Vor- stadt der Freund und Arzt der Armen gewesen war, das ließ die Trauer ahnen, die seinen leider so frühen Heimgang begleitete. Hier wurde des Dichters Wort wach: „Die Tränen, die Du gestillt im Leben, Sie werden bei Deinem Tode fließen.“ Dr. Weiß. Am Morgen des 3. Januar 1912 verschied unerwartet der Rechtsanwalt Dr. Franz Treuenfels zu Breslau. Eine plötzlich auftretende Herzlähmung — als deren Grund die Autopsie eine Kranzarterienverstopfung ergab — setzte dem Leben des blühenden Mannes, der erst im 36. Lebensjahre stand, ein jähes unerwartetes Ende. Mit ihm ist ein Mensch dahingegangen, der in weiten Kreisen Freunde gefunden, und der im Berufe wie im Leben einen glänzenden Aufstieg zu erwarten hatte. — Die äußeren Umstände seines Lebens sind in Kürze festzustellen : er wurde als Sohn einer alten Bres- lauer Familie am 23. Februar 1871 geboren, absolvierte das Elisabeth- Gymnasium und studierte nach Beendigung seines Militärjahres in Breslau die Rechte. Nach dem Referendarexamen promovierte er in Erlangen auf Grund einer Dissertation über „Gemeingebrauch und Sonderrechte an öffentlichen Flüssen nach gemeinem Rechte“ und ließ sich nach Vollendung der großen juristischen Staatsprüfung als Rechtsanwalt bei dem Kgl. Land- gerichte in Breslau nieder. Sein scharfer Verstand und seine ausgezeichnete juristische Veranlagung verhalten ihm schon in jungen Jahren zu einer ausgebreiteten Tätigkeit, die er besonders als Syndikus einiger kauf- männischer Vereinigungen erfolgreich ausübte. Was ihn aber über den Berufsmenschen hinaushob, was ihm als Mensch Bedeutung verlieh, ihm die Schätzung, Anerkennung und freundschaftliche Zuneigung seiner Kollegen wie aller derer verschaffte, die mit ihm in Beziehung traten, das Nekrologe. 25 waren seine ungewöhnlichen geistigen Fähigkeiten, seine sprühende Bered- samkeit, sein epigrammatischer Witz, sein sonniger Humor. Er hatte schon in seiner Studienzeit einer literarischen Studentenverbindung angehört, ge- trieben durch seinen liebevollen Hang zur Literatur, der seinen Nieder- schlag in Dichtungen und Gedichten fand, die weit über das Banale und Gewandte hinausgingen, die in pointiertem Humor glitzerten oder reiche Ideen in vollendeter Form zum Ausdruck brachten. Diesem Hange zu den schönen Künsten war er auch im Berufsleben treugeblieben, und wie er seine erstaunliche Belesenheit in den Dienst seiner glänzenden Rednergabe stellte, so wurden hier und da von ihm Dichtungen bekannt, die aus dem Innersten entquollen oder durch Gelegenheiten zumeist fest- licher Art veranlaßt, sich doch stets hoch über die gewöhnlichen „Gelegen- heitsdichtungen“ erhoben und immer den Nagel auf den Kopf trafen. All diesen zu vielen Hoffnungen berechtigenden Gaben hat der Tod die Entfaltungsmöglichkeit genommen. Dr. Paul Oppler. Am 22. April 1912 starb in Magdeburg das Ehrenmitglied unserer Gesellschaft, Geheimer Medizinalrat Professor Dr. Heinrich Unverricht an den Folgen eines chronischen Nierenleidens, das ihn schon seit einigen Jahren genötigt hatte, seine Berufstätigkeit einzuschränken. Unverricht war am 18. September 1853 in Breslau geboren, wo er auch den größten Teil seiner Studienzeit verbrachte. Er war ein Schüler Biermers, unter dessen Einfluß sein Interesse sich frühzeitig der inneren Medizin zuwandte. Auf Grund einer von der medizinischen Fakultät preis- gekrönten Arbeit: „Studien über Lungenentzündung“ wurde er 1877 pro- moviert. Als Assistent veröffentlichte er dann einige Arbeiten über Pleura- ergüsse und Pyopneumothorax, ein Thema, das ihn auch später noch in besonderem Maße beschäftigte. In einer seiner Veröffentlichungen lehrte er ein neues diagnostisches Zeichen für diese Krankheit kennen, das sog. „Wasserpfeiffergeräusch“. Am 25. April 1883 habilitierte er sich in Breslau als Privatdozent für innere Medizin. Seine Habilitationsschrift „Experimentelle und klinische Untersuchungen über Epilepsie“, in der er die Lehre von dem kortikalen Ursprung der epileptischen Krämpfe vertrat, erregte durch die Vielseitigkeit und Gründlichkeit seiner Beobachtungen und die Originalität seiner Auffassungen allgemeines Interesse. Im Jahre 1886 folgte er einem Rufe nach Jena, wo er 2 Jahre als außerordentlicher Professor die Medizinische Poliklinik leitete. Aus dieser Zeit stammen seine Arbeiten über das Fieber, in denen er hauptsächlich der von Liebermeister vertretenen Fieberlehre entgegentrat. 1889 wurde er als Direktor der Medizinischen Klinik nach Dorpat berufen, wo er an der damals noch in hoher Blüte stehenden deutschen medizinischen Fakultät erfolgreich wirkte. Die Dorpater Zeit bildete den Höhepunkt seines wissen- schaftlichen Schaffens. Neben weiteren Studien über Erkrankungen des- 1912. 3 26 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Zentralnervensystems, die sich an seine früheren Arbeiten über die Epilepsie anschlossen, waren es hauptsächlich Fragen aus dem Gebiete der Physiologie und Pathologie der Respirationsorgane, die von ihm und von seinen Schülern bearbeitet wurden. Die fortschreitende Russifizierung der Dorpater Universität machte ihm den dortigen Aufenthalt unerträglich, und so entschloß er sich im Jahre 1893 nach Deutschland zurückzukehren, wo ihm an der neu erbauten großen Krankenanstalt der Stadt Magdeburg ein Wirkungskreis sich er- öffnete, dem er bis kurz vor seinem Tode treu blieb. Hier erwarb er sich sehr bald einen großen Ruf als vielgesuchter und beliebter Konsiliarius, dessen diagnostische Fähigkeiten ganz besonders geschätzt wurden; dabei blieb er seinen Assistenten und Kollegen ein anregender klinischer Lehrer und bekundete nach wie vor seine wissenschaftliche Produktivität durch eine größere Zahl von wertvollen Publikationen und Beiträgen zu größeren Sammelwerken, von denen hier nur seine Bearbeitung des Pneumothorax für die „Deutsche Klinik“, der Krankheiten des Brustfells und des Mittel- fells für das Handbuch der praktischen Medizin von Ebstein-Schwalbe, sowie seine Monographie „über Myoklonie“ genannt seien. In den Kreisen, die mit ihm persönlich in Berührung kamen, erfreute er sich eines hohen Ansehens und großer Beliebtheit, und es herrschte allgemeines Bedauern, als er sich durch seine fortschreitende Krankheit veranlaßt sah, ein Jahr vor seinem Tode von der Direktion der Krankenanstalt Magdeburg-Suden- burg zurückzutreten, nachdem er schon vorher verschiedene Ehrenämter, die er mit größter Pflichttreue bekleidet hatte, niederzulegen genötigt war. Seine Arbeiten und Leistungen, sowie der ganze Eindruck seiner Persön- lichkeit sichern ihm ein dauerndes Andenken! Minkowski. Der am 23. Oktober 1912 hierselbst verschiedene Oberlandesgerichts- rat a. D., Geheime Justizrat Hermann Viol war der zweite Sohn des als Augenarzt sowie als Musikrezensent seinerzeit hochgeschätzten Sani- tätsrates Dr. Wilhelm Viol und seiner Ehegattin Charlotte geb. Holle. Klein, zart und schwächlich wie seine Mutter so war er, aber desto stärker an Willenskraft. Das zeigte sich schon in der Schule. Geboren am 23. April 1854, besuchte er zuerst die Kallenbachsche Spielschule, dann die Wankelsche Knabenschule. Mit 10 Jahren trat er in die Quarta des hiesigen Magda- lenäums ein. Ostern 1871, also mit 17 Jahren, absolvierte er das Abi- turientenexamen unter Erlassung der mündlichen Prüfung. Er wandte sich der juristischen Laufbahn zu. Mit Ausnahme des Sommersemesters 1872, das er in Leipzig zubrachte, studierte er in Breslau. Genau nach 3 Jahren bestand er das Referendarexamen. Am 30. Juni 1874 wurde er vereidigt. Nach knapp 5 Jahren, am 8. März 1879, wurde er zum Gerichtsassessor ernannt. Bis zum 1. April 1880 war er bei der Staats- Nekrologe. 27 anwaltschaft in Ratibor tätig; von 1880 bis 1886 war er Amtsrichter in Schwetz i./Westpr., von 1886 — 1891 Landrichter in Thorn; von 1891 bis 1900 erst Landrichter, dann Landgerichtsrat in Magdeburg. Am 1. August 1900 wurde einer seiner sehnlichsten Wünsche erfüllt. Er wurde in seine Vaterstadt versetzt und zwar als Oberlandesgerichtsrat. Diese Stelle bekleidete er 10 Jahre. Ein immer mehr um sich greifendes Leiden, die Anzeichen der Arterien-Verkalkung, nötigten ihn, den Abschied zu nehmen. Er tat’s mit schwerem Herzen, mit Tränen in den Augen. Zwei Jahre noch — und die Kräfte verfielen immer mehr, bis ein sanfter Tod allen Qualen ein Ende setzte. Er war nicht verheiratet, stand immer allein da. Desto festere Ge- meinschaft hielt er mit seinen Geschwistern. Reisen wyar sein Hauptgenuß. Viel Schönes hat er gesehen. Immer aber wählte er seinen Weg so, daß er seine Geschwister in Brandenburg und Sachsen wiedersah. Auch seinen Bruder in New York hat er besucht. Nächst der Liebe zu seinen Ge- schwistern zeichnete ihn ein treues Zusammenhalten mit seinen Freunden aus. Überall, wo ihn sein Amt hingeführt, hatte er bald einen Freundes- kreis gefunden. Auch nach dem Wechsel des Wohnsitzes blieb er mit ihm in inniger Beziehung. Hier in Breslau war es ihm heilige Kindes- pflicht, der Schöpfung seines Vaters, der Schlesischen Blindenanstalt als eifriges Vorstandsmitglied seine Kräfte zu weihen. Was sonst noch von freier Zeit ihm übrig blieb, gehörte seinen Spaziergängen und seinen Freunden, die er bald auch hier gefunden hat. Alle behalten ihn in gutem Andenken als einen ehrlichen, pflichttreuen, opferwilligen Mann. Schriftstellerisch war er nicht tätig, aber ins Herz seiner Freunde, ins- besondere seiner alten aus der Schulzeit her, hat er hineingeschrieben: Treu bis an den Tod! — Ehre seinem Andenken! E. Jacob. Verzeichnis der Institute und Vereine etc., mit denen die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur in Schriftenaustausch steht. Deutschland. Aachen. Aachener Geschichtsverein. Altenburg. Geschichts- und Altertumsforschende Gesellschaft des Oster- landes. Naturforschende Gesellschaft des Osterlandes. Annaberg i. Erzgeb. Annaberg-Buchholzer Verein für Naturkunde. Ansbach. Historischer Verein für Mittelfranken. Augsburg. Historischer Verein für Schwaben und Neuburg. Naturwissenschaftlicher Verein für Schwaben und Neuburg. Bamberg. Historischer Verein zu Bamberg. Naturforschende Gesellschaft in Bamberg. Heraldisch - Genealogische Blätter für adelige und bürgerliche Geschlechter. Bayreuth. Historischer Verein für Oberfranken zu Bayreuth [seit März 1913 ist der Schriftenaustausch seitens des Vereins eingestellt]. Berlin. Königlich Preußische Akademie der AVissensehaften. Kgl. Friedrich -AVilhelm-Universität. Königliche Bibliothek. Geheimes Staats-Archiv. Kgl. Preußisches Meteorologisches Institut. Kgl. Preußische Geologische Landesanstalt. Preußische Landesanstalt für Gewässerkunde. Kgl. Museum für Völkerkunde. Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin. Deutsche Geologische Gesellschaft. Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin. Verein zur Beförderung des Gartenbaues in den Kgl. Preuß. Staaten. 1 1912. 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Berlin. Verein fiir die Geschichte Berlins. Verein für Geschichte der Mark Brandenburg. Juristische Gesellschaft zu Berlin. Berliner Medizinische Gesellschaft. Verein fiir innere Medizin in Berlin. Gesamtarchiv der deutschen Juden. Annales mycologici. Bonn. Rheinische Friedrich -Wilhelms-Universität. Naturhistorischer Verein der Preußischen Rheinlande u. Westfalens. Landwirtschaftlicher Verein für Rheinpreußen. Brandenburg a. H. Historischer Verein zu Brandenburg a. H. Braunschweig. Verein für Naturwissenschaft zu Braunschweig. Bremen. Naturwissenschaftlicher Verein zu Bremen. Bremervörde. Provinzial -Landwirtschafts -Verein. Breslau. Schlesische Friedrich -Wilhelms-Universität. Kgl. Universitäts-Sternwarte. Verein für das Museum Schlesischer Altertümer. Verein für Geschichte Schlesiens. Handelskammer zu Breslau. Handlungsgehilfen -Verein zu Breslau. Verein für schlesische Insektenkunde zu Breslau. Schlesischer Forstverein. Landwirtschaftlicher Zentralverein für Schlesien. Der Osten. Monatsschrift für ostdeutsche Literatur und Kultur. Bromberg. Deutsche Gesellschaft für Kunst und Wissenschaft zu Bromberg. Cassel. Verein für Naturkunde zu Cassel. Verein für Hessische Geschichte und Landeskunde. Chemnitz. Verein für Chemnitzer Geschichte. Naturwissenschaftliche Gesellschaft zu Chemnitz. Dahlem-Steglitz. Botanischer Verein der Provinz Brandenburg. Danzig. Naturforschende Gesellschaft in Danzig. W estpreußisclier Geschichtsverein. Darmstadt. Historischer Verein für das Großherzogtum Hessen. Verein für Erdkunde zu Darmstadt. Dortmund. Historischer Verein für Dortmund und die Grafschaft Mark. Dresden. K. Sächsisches Statistisches Landesamt. Naturwissenschaftliche Gesellschaft „Isis“ in Dresden. Ökonomische Gesellschaft im Königreiche Sachsen. Verein für Erdkunde zu Dresden. Gesellschaft für Natur- und Heilkunde in Dresden. „Flora“, Königl. Sachs. Gesellschaft für Botanik und Gartenbau. Schriftenaustausch. 3 Bad Dürkheim. Pollichia, ein naturwissenschaftlicher Verein der Rhein- pfalz. Düsseldorf. Düsseldorfer Geschichte -Verein. Eisleben. Verein für Geschichte und Altertümer der Grafschaft Mansfeld in Eisleben. Elberfeld. Naturwissenschaftlicher Verein in Elberfeld. Bergisclier Geschichtsverein. Emden. Naturforschende Gesellschaft in Emden. Erfurt. Königl. Akademie gemeinnütziger Wissenschaften in Erfurt. Verein für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt. Erlangen. Königliche Universität. Physikalisch-Medizinische Sozietät in Erlangen. Frankfurt a. M. Senckenbergische Naturforschende Gesellschaft in Frank- furt a. M. Verein für Geschichte und Altertumskunde zu Frank- furt a. M. Physikalischer Verein zu Frankfurt a. M. Ärztlicher Verein zu Frankfurt a. M. Frankfurt a. 0. Historischer Verein für Heimatkunde zu Frankfurt a. 0. Naturwissenschaftlicher Verein des Regierungsbezirkes Frankfurt. Freiberg i. S. Königl. Sächs. Bergakademie zu Freiberg. Freiburg i. B. Großherzogliche Universität. Naturforschende Gesellschaft zu Freiburg i. Br. Friedrichshafen. Verein für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung. Fulda. Verein für Naturkunde in Fulda. Giessen. Oberhessische Gesellschaft für Natur- und Heilkunde zu Gießen. Görlitz. Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften. Naturforschende Gesellschaft zu Görlitz. Göttingen. Königliche Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Greifswald. Geographische Gesellschaft zu Greifswald. Naturwissenschaftlicher Verein für Neu -Vorpommern und Rügen in Greifswald. Güstrow. Verein der Freunde der Naturgeschichte in Mecklenburg. Halle a. S. Königl. Universität. Kaiserliche Leopoldinisch-Carolinische Deutsche Akademie der Naturforscher. Sächsisch-Thüringischer Verein für Erdkunde zu Halle a. S. Naturwissenschaftlicher Verein für Sachsen und Thüringen zu Halle a. S. S) 1912. 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Hamburg. Hydrographisches Amt der deutschen Seewarte. Naturwissenschaftlicher Verein in Hamburg. Verein für naturwissenschaftliche Unterhaltung zu Hamburg. Verein für Hamburgische Geschichte. Hanau. Wetterauische Gesellschaft für die gesamte Naturkunde zu Hanau. Hannover. Naturhistorische Gesellschaft in Hannover. Landwirtschaftskammer für die Provinz Hannover. Historischer Verein für Niedersachsen. Verein für Geschichte der Stadt Hannover. Heidelberg. Akademie der Wissenschaften. Großherzogliche Universität. Historisch-philosophischer Verein in Heidelberg. Naturhistorisch-Medizinischer Verein zu Heidelberg. Jauer. Ökonomisch-patriotische Gesellschaft der Fürstentümer Jauer und Schweidnitz. Jena. Großherzogliche Universität. Verein für Thüringische Geschichte und Altertumskunde. Karlsruhe. Naturwissenschaftlicher Verein in Karlsruhe. Kattowitz. „Schlesien“, Illustrierte Zeitschrift für die Pflege heimatlicher Kunst. Kiel. Königliche Universität. Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte. Gesellschaft für Sammlung und Erhaltung vaterländischer Altertümer. Naturwissenschaftlicher Verein für Schleswig-Holstein. Köln. Historischer Verein für den Niederrhein, insbesondere die alte Erzdiözese Köln. Königsberg i. Pr. Königliche Universität. Physikalisch -Ökonomische Gesellschaft zu Königsberg in Pr. Stadtbibliothek zu Königsberg i. Pr. Landshut. Naturwissenschaftlicher (vormals Botanischer) Verein Landshut (Bayern). Leipzig. Königl. Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften. Medizinische Gesellschaft zu Leipzig. Naturforschende Gesellschaft zu Leipzig. Polytechnische Gesellschaft. Gewerbeverein für Leipzig. Gesellschaft für Erdkunde zu Leipzig. Städtisches Museum für Völkerkunde zu Leipzig. Verein für die Geschichte Leipzigs. Lübeck. Geographische Gesellschaft und Naturhistorisches Museum in Lübeck. Verein für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde. Schriftenaustausch. 5 Lüneburg. Museumsverein für das Fürstentum Lüneburg. Naturwissenschaftlicher Verein für das Fürstentum Lüneburg. Magdeburg. Museum für Natur- und Heimatkunde zu Magdeburg (ver- einigt mit dem Naturwissenschaftlichen Verein zu Magdeburg). Verein für Geschichte und Altertumskunde des Herzogtums und Erzstifts Magdeburg. Mannheim. Mannheimer Verein für Naturkunde. Marburg. Königliche Universität. Gesellschaft zur Beförderung der gesamten Naturwissenschaften zu Marburg. Meissen. Verein für Geschichte der Stadt Meißen. Naturwissenschaftliche Gesellschaft „Isis“ in Meißen. Metz. Gesellschaft für Lothringische Geschichte und Altertumskunde. Mühlhausen. Altertumsverein für Mühlhausen i. Thür, und Umgegend. München. Königl. Bayerische Akademie der Wissenschaften. Königliche Universität. Gesellschaft für Morphologie und Physiologie in München. Historischer Verein von Oberbayern. Landwirtschaftlicher Verein in Bayern. Bayerische Botanische Gesellschaft. Ornithologische Gesellschaft in Bayern. Münster. Königliche Universität. Westfälischer Provinzial- Verein für Wissenschaft und Kunst. Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens. Miinste- risclie Abteilung. Heisse. Wissenschaftliche Gesellschaft „Philomathie“ in Neiße. Nürnberg. Germanisches Nationalmuseum. Naturhistorische Gesellschaft zu Nürnberg. Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg. Ärztlicher Verein Nürnberg. Qffenbach. Offenbacher Verein für Naturkunde. Oldenburg. Oldenburger Verein für Altertumskunde und Landesgeschichte. Oppeln. Handelskammer für den Regierungsbezirk Oppeln. Oberschlesischer Geschichtsverein. Osnabrück. Naturwissenschaftlicher Verein zu Osnabrück. Verein für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück (Historischer Verein). Paderborn. Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens. Paderborner Abteilung. Posen. Historische Gesellschaft für die Provinz Posen. Regensburg. Historischer Verein von Oberpfalz und Regensburg. 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Regensburg. Naturwissenschaftlicher (früher zoologisch -mineralogischer) Verein zu Regensburg. Kgl. Bayerische Botanische Gesellschaft zu Regensburg. Rostock. Großherzogliche Universität. Geographische Gesellschaft. Schmalkalden. Verein für Hennebergische Geschichte und Landeskunde in Schmalkalden. Schwerin. Verein für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde. Sprottau. Gewerbeverein. Stade. Verein für Geschichte und Altertümer der Herzogtümer Bremen und Verden und des Landes Hadeln. Stettin. Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde. Polytechnische Gesellschaft zu Stettin. Entomologischer Verein zu Stettin. Strassburg i. E. Kaiserliche Universität. Striegau. Wissenschaftlicher Verein. Stuttgart. Königliche Technische Hochschule. Königliches Statistisches Landesamt. Kgl. Württembergische Zentralstelle für die Landwirtschaft. Verein für vaterländische Naturkunde in Württemberg. Thorn. Coppernicus -Verein für Wissenschaft und Kunst zu Thorn. Trier. Naturwissenschaftlicher Verein. Ulm. Verein für Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben. Wernigerode. Harz -Verein für Geschichte und Altertumskunde. Naturwissenschaftlicher Verein des Harzes. Wiesbaden. Nassauisclier Verein für Naturkunde. Verein für Nassauische Altertumskunde und Geschichts- forschung. Wolfenbüttel. Geschichtsverein für das Herzogtum Braunschweig. Worms. Altertums -Verein für die Stadt Worms. Würzburg. Königliche Universität. Physikalisch-Medizinische Gesellschaft zu Würzburg. Historischer Verein von Unterfranken und Ascliaft'enburg. Zwickau Sa. Verein für Naturkunde zu Zwickau i. Sa. Ausland. Amsterdam. Koninklijke Akademie van Wetenschappen. Andover, Mass. Phillips Academy, Departement of Archaeology. Baltimore. Maryland Geological Survey. Schriftenaustausch. 7 Basel. Naturforschende Gesellschaft in Basel. Historische und antiquarische Gesellschaft zu Basel. Bergen. Bergens Museum. Berkeley. University of California. Bern. Naturforschende Gesellschaft in Bern. Historischer Verein des Kantons Bern. Schweizerische botanische Gesellschaft. Beyruth (Syrien). Universite Saint-Joseph. Bielitz-Biala. Beskidenverein. (Jetziger Sitz ist Teschen). Bistritz. Gewerbeschule. Bologna. Accademia delle scienze dell’ Istituto di Bologna. Bordeaux. Societe des Sciences physiques et naturelles de Bordeaux. Boston, Mass. American Academy of Arts and Sciences. Boston Society of Natural History. Brasso s. Kronstadt. Brooklyn. Brooklyn Institute of Arts and Sciences. Brünn. Mährische Museumsgesellschaft. Deutscher Verein für die Geschichte Mährens und Schlesiens, Naturforschender Verein in Brünn. Bruxelles. Academie royale de Belgique. Academie royale de medecine de Belgique. Observatoire Royal de Belgique. (s. Uccle.) Societe Royale de botanique de Belgique. Societe Royale zoologique et malacologique de Belgique. Societe Royale des Sciences medicales et naturelles de Bruxelles. Budapest. K. M. Termeszettudomänyi Tärsulat. Budapester Königliche Gesellschaft der Ärzte. Magyar Botanikai Lapok (Ungarische Botanische Blätter). Aquila. Periodical of ornithology. Buffalo. Buffalo Society of Natural Sciences. Calcutta. Asiatic Society of Bengal. Geological Survey of India. Cambridge. Cambridge Philosophical Society. Cambridge, Mass. Museum of comparative Zoology at, Harvard College. Catania. R. Universitä. — Istituto di storia del diritto romano. Chapell Hill. Elisha Mitchell Scientific Society. Cherbourg. Societe nationale des Sciences naturelles et mathematiques. Chicago. Chicago Academy of Sciences. Field Museum of Natural History. American Medical Association. John Crerar Library. Christiania. Videnskabsselskabet i Christiania. K. norske Frederiks Universitet. 8 Jahresbericht der- Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Christiania. Norsk Folkemuseum. Chur. Naturforschende Gesellschaft Graubündens. Cincinnati, Ohio. Lloyd Library of Botany, Pharmacy and materia medica. Cleveland, Ohio. Geological Society. Coimbra. Sociedade Broteriana. Cordoba, Argentinien. Academia nacional de ciencias. Dorpat (Jurgew). Gelehrte Estnische Gesellschaft. Dublin. Royal Irish Academy. Royal Dublin Society. Edinburgh. Royal physical Society of Edinburgh. Botanical Society of Edinburgh. Firenze. R. Accademia economico-agraria dei Georgofili. Frauenfeld. Thurgauische Naturforschende Gesellschaft. Freiburg i. Ue. Deutscher geschichtsforschender Verein des Kantons Freiburg. Freiwaldau. Mährisch-schlesischer Sudeten- Gebirgs- Verein. Geneve. Societe d’histoire et d’archeologie de Geneve. Societe de physique et d’histoire naturelle de Geneve. Conservatoire et Jardin botaniques de Geneve. Genova. Societä di Letture e Conversazioni Scientificke di Genova. Graz. Historischer Verein für Steiermark. Naturwissenschaftlicher Verein für Steiermark. Zoologisches Institut zu Graz. K. K. Universitäts-Bibliothek. Landes-Museums- Verein „Johanneum“. Akademischer Leseverein. Verein der Arzte in Steiermark. Haarlem. Hollandsche Maatschappij der Wetenschappen. Musee Teyler. Helsingfors. Societas pro fauna et flora Fennica. Geografiska Föreningen i Finland. Hermannstadt. Siebenbürgischer Verein für Naturwissenschaften in Hermann stadt. Verein für Siebenbürgische Landeskunde. Iglo. Ungarischer Karpathenvereiu. Innsbruck. Museum Ferdinandeum für Tirol und Vorarlberg. Naturwissenschaftlich-medizinischer Verein in Innsbruck. Jowa City. State University of Jowa. Jurgew s. Dorpat. Kiew. Societe des Naturalistes de Kiew. Klagenfurt Naturhistorisches Landesmuseum für Kärnthen. Klausenburg (Kolozsyvär). Medizinisch - naturwissenschaftliche Sektion des Siebenbiirgischen Museums-Vereins. Schriftenaustausch. 9 Koebenhavn. Kgl. Danske Videnskabernes Selskab. Kongelige Universitet. Societe Royale des Antiquaires du Nord (Kgl. Nordiske Oldskriftselskab). Botanisk Forening i Koebenhavn. Genealogisk Institut. Krakau. Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Krakau. (Akademia Umiejetnosci w Krakowie.) Physiographische Kommission der K. K. Akademie der Wiss. Kronstadt (Brasso). Stadt-Archiv. Laibach. Musealverein für Krain. La Plata. Direcciön general de estadistica de la Provincia de Buenos Aires. Leiden. Maatschappij der Nederlandsche Letterkunde. Nederlaudsche Dierkundige Yereeniging. Rijks Herbarium. Leipa. Nordböhmischer Exkursions-Klub. Lemberg. Ukrainische Sevcenko - Gesellschaft der Wissenschaften in Lemberg. Towardzystwo liistoryczne. Lille. Societe d’Horticulture du Nord. Linz. Museum Francisco-Carolinum. Verein für Naturkunde in Österreich o. d. E. zu Linz. Lisboa. Commissäo do servico geologico de Portugal. London. Royal Society. Royal Microscopical Society. Lüttich (Liege). Societe geologique de Belgique. Societe Royale des Sciences de Liege. Luxembourg. Section historique de l’Institut grand-ducal de Luxem- bourg. Gesellschaft Luxemburger Naturfreunde. (Frühere Groß- herzogliche Botanische Gesellschaft und frühere „Fauna“ vereinigt.) Luzern. Historischer Verein der 5 Orte Luzern, Uri, Schwyz, Unter- walden und Zug. Lwöw s. Lemberg. Lyon. Societe Linneenne de Lyon. Bulletin historique du Diocese de Lyon. Madison. Wisconsin Academy of Sciences, arts and letters. Wisconsin Geologial and Natural History Survey. Melbourne. Royal Society of Victoria. Office of Mines of Victoria. Milano (Mailand). Societä Italiana di scienze naturali. 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Milwaukee. Wisconcin Natural History Society. Public Museum of the City of Milwaukee. Missoula. University of Montana Library. Mitau. Kurländische Gesellschaft fiir Literatur und Kunst. Lettisch-literarische Gesellschaft. Modena. Societä dei naturalisti e matematici di Modena. Montevideo. Museo de historia natural. Montpellier. Academie des Sciences et lettres de Montpellier. Montreal. Royal Society of Canada. Moskau. Societe imperiale des naturalistes de Moscou. Nancy. Societe des Sciences de Nancy. Neapel. Zoologische Station zu Neapel. New Haven. Connecticut Academy of arts and Sciences. New York. Academy of Sciences. New York Botanical Garden. New York Zoological Garden. American Museum of Natural History. Nijmegen. Nederlandsche botanische Vereeniging. Olmütz. Naturwissenschaftliche Sektion des Vereins ,, Botanischer Garten‘ in Olmütz. Palermo. Circolo matematico di Parlermo. Parenzo. Societä istriana di archeologia e storia patria. Paris. Societe geologique de France. Societe nationale d’horticulture de France. La Feuille des jeunes Naturalistes. Pavia. Societä medico-chirurgica di Pavia. Petersburg s. Sankt Petersburg. Philadelphia. Academy of Natural Sciences of Philadelphia. American Philosophical Society held at Philadelphia. Pisa. Societä toscana di scienze naturali residente in Pisa. Prag. Königl. Böhmische Gesellschaft der Wissenschaften. Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen. Deutscher naturwissenschaftlicher Verein für Böhmen „Lotos“. Königl. Landesculturrat. K. K. Deutsche Universität. Akademischer Lese- Verein. Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag. Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen. Museum des Königreiches Böhmen. Landesarchiv des Königreiches Böhmen. Presburg (Pozsonv). Verein für Natur- und Heilkunde zu Pozsony (Presburg). Schriftenaustausch. 11 Reichenberg. Nordböhmisches Gewerbe-Museum. Rennes. Bibliotheque de l’Universite de Rennes. Riga. Naturforscher-Verein zu Riga. Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Rußlands. Rio de Janeiro. Museu nacional do Rio de Janeiro. Rom. R. Accademia dei Lincei. Societä geografica italiana. R. Istituto botanico di Roma. Institut international d’Agriculture. St. Louis. Academy of Science of St. Louis. Missouri botanical garden. Salzburg. Gesellschaft für Salzburger Landeskunde. San Francisco. California Academy of Sciences. St. Gallen. St. Gallische Naturwissenschaftliche Gesellschaft. Historischer Verein des Kantons St. Gallen. St. Petersburg. Academie Imperiale des Sciences de St. Petersbourg. Kaiserliche Universität. Kaiserliche Bibliothek. Societas entomologica rossica. Jardin Imperial de botanique. Societe Imperiale russe de geographie. Comite geologique. Societe Imperiale des Naturalistes de St. Petersbourg. Russisch Kaiserliche Mineralogische Gesellschaft zu St. Petersburg. Societe des Orientalistes Russes. Santiago, Chile. Deutscher Wissenschaftlicher Verein. Societe scientifique du Chili. (Socledadscientifica de Chile.) Sarajewo. Bosnisch-Herzegowinisches Landes-Museum. Schaffhausen. Historisch-antiquarischer Verein und Kunstverein der Stadt Schaffhausen. Siena. R. Accademia dei Fisiocritici. Stockholm. Kungl. Sveuska Vetenskapsakademien i Stockholm. K. Vitterhets Historie och Antiquitets Akademien. Nordiska Museet. Entomologiska Föreningen i Stockholm. Svenska Botaniska Föreningen. Statens Skogsförsökanstalt (Forstliche Versuchsanstalt Schwedens. Teschen. Beskidenverein. Tokio. Medizinische Fakultät der Kaiserlich Japanischen Universität zu Tokio. 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Triest. Museo civico di storia naturale. Societä adriatica di scienze naturali. Troms/i. Troms.0 Museum. Troppau. Kaiser Franz Josef- Museum für Kunst und Gewerbe in Troppau. Tufts College, Mass. Tufts College Library. Turin. R. Accademia d’agricoltura di Torino. TJccle, Observatoire royal de Belgique. TJdine. R. Istituto tecnico Antonio Zanon di Udine. Upsala. Regia Societas seientiarum Upsaliensis. (Kunglige Vetenskaps Societeten.) Uppsala Universitets-Bibliotek. Utrecht. Universiteits-Bibliothek. Venezia. R. Istituto Veneto di scienze, lettere ed arti. Ateneo Veneto. Verona. Accademia d’agricoltura, scienze, lettere, arti e commercio di Verona. Museo civico di Verona. Waidhofen a.d. Ybbs. Museal -Verein für Waidhofen a. d. Ybbs und Umgebung. Warschau. Muzeum Przemyslu i Rolnictwa. Washington. Smitksonian Institution. War Department. Surgeon general office. Wien. Kaiserliche Akademie der Wissenschaften. K. K. Universitäts-Bibliothek. K. K. Geologische Reichsanstalt. K. K. Naturhistorisches Hofmuseum. K. K. Zentral- Anstalt für Meteorologie und Geodynamik. K. Iv. Österreichische Gesellschaft für Meteorologie. K. K. Zoologisch-botanische Gesellschaft in Wien. Anthropologische Gesellschaft in Wien. Verein zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien. Akademischer Verein deutscher Historiker. Winterthur. Stadtbibliothek. Zürich. Antiquarische Gesellschaft in Zürich. Naturforschende Gesellschaft in Zürich. Schweizerische botanische Gesellschaft. Universitäts-Bibliothek. Akademischer Leseverein. Verzeichnis sämtlicher tob Ser Seife. Gesellschaft Urvaterl. Cultnr heransiepleiieii Schriften. 1. Einzelne Schriften. Zwei Reden, gehalten von dem Reg.-Quartiermstr. Müller und Prof. Reiche bei der ersten Feier des Stiftungstages der Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie Schlesiens am 17. Dezember 1804. 8°. 48 Seiten. An die Mitglieder der Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie Schlesiens und an sämtliche Schlesier, von Rector Reiche, 1809. 8°. 32 S. Oeffentlicher Aktus der Scbles. Gesellschaft f. vaterl. Cultur, gehalten am 19. Dezbr. 1810 zur Feier ihres Stiftungsfestes. 8®. 40 S. . J oh. George Thomas, Handb. der Literaturgesch. v. Schles., 1824. 8°. 372 S., gekrönte Preisschrift. Beiträge zur Entomologie, verfasst von den Mitgliedern der entom. Sektion, mit 17 Kpft. 1829. 8°. Die schles. Bibliothek der Schles. Gesellschaft v. K. G. Nowack. 8°. 1835 oder später erschienen. Denkschrift der Schles. Gesellschaft zu ihrem 50jähr. Bestehen, enthaltend die Geschichte der Schles. Gesellschaft nnd Beiträge zur .Natur- und Geschichtskunde Schlesiens, 1853. Mit 10 litbogr. Tafeln. 4«. 282 -S. . Dr. J. A. Hoennicke,.Die Mineralquellen der Provinz Schlesien. ,1857. 8°. 166 S., gekr. Preisschrift. Dr. J. G. Galle, Grundzüge der schles. Klimatologie, 1857, 4°. 127 S. Dr, J. Kühn, Die zweckmäßigste Ernährung des Rindviehs, 1859. 8°. 242 S., gekr. Preisschrift. Dr. H. Lebert, Klinik des akuten Gelenkrheumatismus. Gratulationssehrift zum 60jähr. Doktor- Jubiläum des Geh. San.-Eats Dr. Ant. K ro ck er, Erlangen 1860. 8». 149 S. Dr. F erd. Römer, Die fossile Fauna der silurischen Diluvialgeschiebe von Sadewitz bei Oels in Schlesien, mit 6 lithogr. und 2 Kupfer-Tafeln. 1861. 4°. 70 S. Lieder zum Stiftungsfeste der entomologischen und botanischen Sektion der Schles. Gesellschaft, als Manuskript gedruckt. 1867. 8°. 92 S. Verzeichnis der in den Schriften der Schles. Gesellschaft von 1804—1863 inkl. enthaltenen Aufsätze in alphab. Ordnung von Letztier. 1868. 8°. Fortsetzung der in den Schriften der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur von 1864 bis 1876 inkl. enthaltenen Aufsätze, geordnet nach den Verfassern in alphab. 'Drdn. von Dr. Schneider. General-Sachregister der in den Schriften der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur von 1804 bis 1876 incl. enthaltenen Aufsätze, geordnet in alphab. Folge von Dr. Schneider. Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. L Die Hundertjahrfeier (125 Sr). II. Geschichte der Gesellschaft (149 S.). Breslau 1904. 2. Periodische Schriften. Verhandlungen der Gesellschaft f, Naturkunde u. Industrie Schlesiens. 8°. Bd. I, Hft. 1, 218 S., Hft. 2, 112 8. 1806. Desgl. BcUU, 1. Heft. 1807. Correspondenzblatt der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur, i°. Jahrg. I, 1810, 96 8. Jahrg. III, 1812. 96 S. I Jahrg. V, 1814, Hft. 1 u. 2 je 96 S. „ n, 1811, do. „ IV, 1813, Hft. 1 u. 2 je 96 S. I „ VI, 1815, Hft. 1, 96 S. Correspondenz der Schles. Gesellschaft f. vaterl. Cultur. 8°. Bd. L 362 S. mit Abbild., 1819 u. 1820. Desgl. Bd. II (Heft I), 80 S. mit Abbild-, 1820. Bulletin der naturwissenschaftl. Sektion der Schles. Gesellschaft 1—11, 1822, 8°. üo. do. do. 1—10, 1824. 8°. ' Übersicht der Arbeiten (Berichte sämtl. Sectlonen) u. Veränderungen der Schl. Ges. f. vat. Cultur: Jahrg. 4888, XX u. 317 Seiten 8°. • 1889. XLIV u. 287 Seiten 8°. . 1890. VII u. 329 Seiten 8». n . Erg.-Ilef 1 27 2Seit. 8°. 1891. Vll. u. 481 Seiten 8°. n. Erg.-Heft 92 Seit. 8°. . 1892. VII u. 361 Seiten 8». n. Erg.-Heft 160 S. 8». 1893. VII u. 392 Seiten 8«. • 1894. VII u. 561 Seiten 8°. n. Erg.-Heft 265 8. 8». ' . 1895. VII u, 560 Seiteu,8&. n. Erg.-Heft 57 Seit. 8°. . 1896. VIH U. 474S.8» n. Erg.- Heft V, 56 Seiten 8«. . 1897. vm u.486 S. 80 n. Erg.- Heft VI, 64 Seiten 8». 1898. VIII u. 492 Seiten 8°. 1899. VII U.3S0S. 80. n. Erg.- Heft VÜL 85 Seiten 80. . 1900. VIII u. 668 Seiten 8». n. Erg.-Heft 36 Seit 8<>. 1901. IX u. 562 Seiten so. • 1902. VIII u. 564 Seiten 80, • 1903. VIII u. '601 Seiten 8'-. . 1904. X u. 580 S. ßo.'h.üjrg.- HeftVIIL 152 Seiten 80. 1905. VII u. 730 Seiten 8». . 1906. VIIl u. 664 SiG0 h. Erg.- Heft ^ VIII, 1S6 Seif 8°. • 1907. X und 600 Seiten 80. • 1908. XI und 650 Seiten 8°. 1909. X und 844 Seiten 80. . 1910. Bd. I: VI u. 332 80. j II: VIII u. 472 80. • 1911. JBd.I: VI u.518 80. • II: VIII u. 210 8». • 1912. Bd. I: VI u. 602 80. - . II: VI u. 250 80. Jahrg. 1824. 56 Seiten 40. • Jahrg. 1825. 64 . 40. v - 1826. 65 . • 4». • ,:.r 1827. 79 40. r •• '*> r • . 1828. 97 40. , . 1829. 72 • 40. 1830. 95 40. • 1831, 96 40. • 1832. 103 40. \..r ». 1833, 106 40. V »'* 1834. 143 40. 1885. 146 40. m 1886. 157 40. 1837. 191 40. • 1838. 164 • - 40. 1839. 226 40. • 1840. 151 40. „1841. 188 4». 1842. 226 40. 1843. 272 40. nebst 41 S. meteorol. Beob. 1844. 232 Seiten 40. 1845. 165 40. nebst 52 S. meteoroL Beob. 1846. 320 Seiten 4°. nebst 74 S. meteorol.Beob. 1847 404 Seiten 4°. nebst 44 S. meteorol. Beob. 1848. 248 Seiten 4°. 1849. Abth. I, 180 S,, II, 39 S. n.,44S. meteorol.Beob. 1850. Abth. I, 204 S. II, 86 S. 1851. 194 Seiten 4». 1852. 212 - 40. 1853. 345 . 40. 1854. 288 • 4». 1855. 286 . 40. 1856. 242 . - 40. 1857. 847 • 40. 1858. 224 Seiten 4». • 1859. 222 * 40. 1860. 202 • " 4°. 1861. 148 • 80. nebst Abhandl. 492 Seiten. 1862. 162 Seiten 8°. nebst Abhandl. 416 Seiten. 1863. 156 Seiten 8»- 1864. 266 Seiten 8°. nebst ' Abhandl. 266 Seilen. 1865. 218 Seiten 8°. nebst Abhandl. 69 Seiten. 1866. 267 Seiten 80. nebst - Abhandl. 90 Seiten. 1867. 278 Seiten 8°. nebst Abhandl. 191 Seiten. 1868. 300 Seiten 8®. nebst Abhandl. 447 Seiten. 1869. 371 Seiten 8°, nebst Abhandl. 236 Seiten. 1870. 318 Seiten 8°. nebst Abhandl. 85 Seiten. . 1871. 357 S. 80. n. Abh. 252 S. 1872. 350 S. 8«. n. Abh. 171 S. 1873. 287 S. 80. n. Abh. 148 S. 1874. 294 Seiten. 8°. 1875. 326 1876. 394 1877. 428 1878. 331 1879. XX. 1880. XVI 1881. XVI 1882. XXIV u. 432 1883. XVI U. 413 • - 8°. • 80.* • 80. • 80. u. 473 Seiten 80. u. 291 . 8». a. 424 . 8». 80. 8». 1884. XLI u. 402 - 80. 1885. XVI u 444 Seiten. 80. n. Erg.-Heft. 121 S. so. .1886. XL u. 327 Seiten 8». n. Erg.-Heft 121 8. 8«. 1887. XLII u. 411 Seiten 8». Mitglieder- Verzeichnis in 8° von 1805 und seit 1810 alle zwei Jahn erschienen. Schlesischen Gesellschaft Breslan.^ . - , G. P. Aderholz' Buchhandlung. - ' 1913. • Adresse für Sendungen: , . Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, Breslau I, Matthiaskunst 4/5. N eunzigster Schlesischen Gesellschaft fiir vaterländische Cultiir. 1912. II. Band. Breslau. G. P. Aderholz’ Buchhandlung. 1913. Inhalts - Verzeichnis des II. Bandes des 90. Jahresberichtes. Berichte über die Sektionen. I. Abteilung*: Medizin. a. Sitzungen der medizinischen Sektion. (Die römischen Zahlen zeigen den Teil, die arabischen die Seitenzahlen an.) Seite Alexander, Carl: Zum Vortrage (T. II. S. 119) von Julius Wolf ... I 66 Aron: Zum Vortrage (T. I. S. 43) von Severin I 47 Asch: Zur operativen Behandlung puerperaler Sepsis I 52 — Zum Vortrage (T. I. S. 54) von Markus I 57 — 3 * (T. II. S. 119) von Julius Wolf . . I 67 Baermann, G. (Deli-Sumatra): Die Assanierung großer Arbeitermassen in tropischen Ländern I 26 Beerwald, K. (Altheide): Sahli’scher Hämometer I 31 Bittorf: Zur Kasuistik der Störungen der inneren Sekretion II 83 — Experimentelle Untersuchungen über das Wesen der Wasser- mann’schen Reaktion II 112 Bogatsch: Exophthalmus des rechten Auges I 15 Bondy: Zum Vortrage (T. II. S. 119) von Julius Wolf I 71 Bonhoeffer: Zum Vor trage (T. H. S. 33) von Klieneberger I 10 Brade: Zum Vortrage (T. II. S. 45) von Werner Schulemann 1 1 — Demonstration seltener chirurgischer Verletzungen I 31 Braendle: Fall von Boeck’schen Sarkoid I 57 Brieger: Schwebelaryngoskopie I 50 Callomon: Zum Vortrage (T. II. S. 83) von Bittorf I 29 Chotzen, M.: Zum Vortrage (T. II. S. 119) von Julius Wolf I60u. 70 Coenen: Zum Vortrage (T. II. S. 77) von Rothmann I 26 Dreyer: Zur Drainage des Thorax nach intrathorakalen Operationen . . I 19 Ephraim: Zum Vortrage (T. I. S. 2) von Minkowski I 7 — * = (T. II. S. 95) = 3 I 31 — Zur Frühdiagnose der primären Lungentumoren II 95 Forschbach: Linksseitiger Pneumothorax ohne Exsudat I 19 Foerster, 0.: Dauerresultate der operativen Behandlung der Little’schen Krankheit mittels Wurzelresektion I 19 — Zum Vortrage (T. I. S. 23) von Wolff I 23 — Demonstrationen: 1. Hämatomyele-Sehnenplastik I 35 2. Spinale Muskelatrophie in ihrer Beziehung zur Lues I 36 3. Syphilitische Meningitis acuta I 38 4. Pseudoparalytische Demenz bei Stirnhirntumor I 39 5. Atonisch-astatischer Symptomenkomplex bei Hydrocephalus . . I 39 IV Inhalts- V erzeichnis. Seite Frank, E.: Über Beziehungen der Hypophyse zum Diabetes insipidus . II 18 — Die biologische Schwangerschaftsdiagnose nach Abderhalden und ihre klinische Bedeutung II 105 Fraenkel, L.: Zum Vortrage (T. I. S. 54) von Markus I 56 Freund, Walter: Zum Vortrage (T. I. S. 38) von 0. Foerster I 3S Fritsch: Spätrecidiv nach Mammaearcinom-Operationen I 20 Goebel: Medizinisches aus Tripolis I 40 — Megasigmoideum I 48 Gottstein: Zum Vortrage (T. I. S. 20) von Richard Levy 121 Groenouw: Drei Fälle von Retinitis I 28 Harttung, Heinrich: Über Spontangangrän des Zeigefingers und sym- metrische Gangrän II 168 H eimann: Zum Vortrage (T. I. S. 54) von Markus I 56 — Die biologische Schwangerschaftsdiagnose nach Abderhalden und ihre klinische Bedeutung 11 105 Hirt: Zum Vortrage (T. I. S. 57) von Tietze I 57 Hörz: Entzündlicher Bauchdeckentumor infolge Fremdkörperperforation I 22 — Entzündliche Bauchdeckentumoren nach Appendicitis I 22 — Neuromen I 23 Hürthle: Über die Beziehung zwischen Druck und Geschwindigkeit des Blutes im Arteriensystem (gilt das Poisseuille’sche Gesetz?) ... H 50 Jendralski, F.: Salvarsan und Neurorecidiv I 17 Kays er: Zum Vortrage (T. II. S. 119) von Julius Wolf I 64 Klestadt: Zum Vortrage (T. I. S. 50) von Brieger I 50 Klieneberger: Erfahrungen über Salvarsanbehandlung syphilitischer und metasyphilitischer Erkrankungen des Nervensystems II 33 Küstner: Zum Vortrage (T. H. S. 119) von Julius Wolf I 58 Küttner: Demonstrationen: 1. Die Gefahren der Naht accidenteller Gelenkwunden I 17 2. Transplantationen I 18 3. Gangrän der oberen Extremität durch Gasphlegmone I 18 4. Raritäten aus der Lehre von der eingeklemmten und freien Hernie, in den letzten 4 Jahren beobachtet I 18 — Zum Vortrage (T. I. S. 19) von Foerster I 19 — = = (T. I. S. 20) = Fritsch 1 20 — Demonstration von 5 Fällen angeborener Elephantiasis I 48 Kuznitzky: Zum Vortrage (T. II. S. 33) von Klieneberger I 8 Langenbeck, K.: Aetiologie der Neuritis retrobulbaris I 16 Lenz: Centrale Farbenblindheit . I 24 Leopold: Zwei Fälle von Folliclis I 57 Levy, Richard: Experimentelle Chemotherapie der bakteriellen Infektion I 12 u. H 148 — Demonstrationen: 1. Postoperative Parotitis I 20 2. Juvenile Schenkelhalsfraktur I 21 Mann, Ludwig: Zum Vortrage (T. I. S. 14) von W. Uhthoff I 15 Marcuse: Zum Vortrage (T. I. S. 2) von Minkowski I 7 Markus: Osteomalacie I 54 Melchior: Zum Vortrage (T. II. S. 83) von Bittorf I 28 Minkowski: Über Lungenemphysem I 2 Inhalts - V erzeichnis. V Seite Minkowski: Demonstrationen: 1. Zwei Fälle von Aneurysma aortae I 40 2. Erfahrungen mit der Thorium X-Behandlung I 40 3. Zur Röntgendiagnostik der Magen- und Darmkrankheiten ... I 41 — Zum Vortrage (T. I. S. 41) I 42 — Fall von Hirschsprung’scher Krankheit I 47 — Zum Vortrage (T. I. S. 48) von Rosenfeld I 48 Mühsam: Zum Vortrage (T. I. S. 2) von Minkowski I 5 Ossig: Zum Vortrage (T. I. S. 51) von Silberberg I 52 Oettinger: Zum Vortrage (T. II. S. 119) von Julius Wolf I 62 Partsch: Zum Vortrage (T. I. S. 31) von Brade I 33 — Zum Vortrage (T. II. S. 119) von Julius Wolf I 59 Pohl: Darstellung von Organeiweiss I 11 Ponfick: Über Morbus Brightii von Erwachsenen und Kindern, dessen Entstehung und Ausgänge I 73 Pringsheim: Über einen Fall von paroxysmaler Hämoglobinurie ... I 49 Röhmann: Zum Vortrage (T. I. S. 48) von Rosenfeld I 49 — Über die Cholesterase der Blutkörperchen II 116 Rosenfeld: Fall von Ulcus ventriculi I 4 — Zum Vortrage (T. I. S. 2) von Minkowski I 6 — = = (T. II. S. 18) = E. Frank I 11 — = - (T. I. S. 24) = Tobler I 24 — = (T. II. S. 83) = Bittorf I 29 — = = (T. II. S. 95) * Ephraim I 30 — Carcinomatöser Sanduhrmagen I 39 — Zum Vortrage (T. I. S. 41) von Minkowski I 41 u. 42 — Über fleischlose Ernährung I 48 — Zum Vortrage (T. I. S. 48) I 49 — = * (T. I. S. 54) von Markus I 55 u. 57 Rosenthal, Felix: Über Arzneifestigkeit von Trypanosomen gegen Chinin- derivate I 12 — Über die Beeinflussung der experimentellen Trypanosomeninfektion durch Salicylsäure und verwandte Substanzen I 47 Rothmann: Ist eine experimentelle Umkehr des Blutstromes möglich? II 77 Schaffer: Zum Vortrage (T. II. S. 33) von Klieneberger I 10 Schidorsky, H. : Experimentelle Untersuchungen über das Wesen der Wassermann’schen Reaktion II 112 Schulemann, Werner: Vitalfärbung und Chemotherapie II 45 — Zum Vortrage (T. II. S. 45) I 1 Severin: Kohlehydratkuren bei Diabetes mellitus unter besonderer Be- rücksichtigung des Blutzuckers . . • I 43 — Über die Beinflussung der experimentellen Trypanosomeninfektion durch Salicylsäure und verwandte Substanzen I 47 Silberberg: Stereoskopische Röntgenbilder I 51 — Zum Vortrage (T. I. S. 51) I 52 Simon, W. V.: Myeloische Chloro-Leukämie (Chlorom) unter dem Bilde eines malignen Mammatumors II 62 Sommer, Arthur: Das Ehrmann’sche Froschaugenphänomen im Blut- serum von Psoriasiskranken II 154 Stern, Robert: Zum Vortrage (T. II. S. 18) von E. Frank I 11 VI Inhalts- Verzeichnis. Seite Strasburger: Zum Vortrage (T. I. S. 2) von Minkowski I 5 — * * (T. I. S. 43) von Severin ........ I 46 — = (T. I. S. 47) = Minkowski I 48 — Über den Emanationsgehalt des arteriellen Blutes bei Einatmung von Radiumemanation und bei Einführung derselben in den Darm II 1 Tietze: Demonstrationen: 1/2. Totalexstirpation des Kehlkopfes I 33 3. Übergroße operierte Strumen I 33 4. Resultat einer vor 12 Jahren vorgenommenen Knochenimplan- tation I 34 5. Operation der brandigen Hernien I 34 6. Dickdarmresektionen I 34 — Zum Vortrage (T. I. S. 41) von Minkowski . . I 42 — Demonstrationen zur Nierenchirurgie I 57 — Zum Gallensteinileus II 142 Tob ler: Über Beziehungen zwischen Wasser und Kochsalz im Organis- mus nach Untersuchungen in den Monte R.osa-Laboratorien ... I 24 Uhthoff, W.: Demonstrationen: 1. Fall von geheilter tuberkulöser Meningitis I 14 2. Totale angeborene Irideremie - I 14 3. Seltener Fall von zentraler recidivierender Retinitis syphilitica . I 14 4. Fall von hochgradig ausgesprochener Pupillarmembran auf beiden Augen I 15 Vierhaus: Zum Vortrage (T. II. S. 119) von Julius Wolf I 70 Weich ert, Max: Über Mammaplastik , II 156 Wi ewiorowski: Zum Vortrage (T. II. S. 77) von Rothmann I 26 Wissmann, R.: Zur Frage der Organtherapie bei Cataracta senilis . . I 16 Wolf, Julius: Der Geburtenrückgang und seine Bekämpfung II 119 — Zum Vortrage (T. II. S. 119) I 63 u. 72 Wolff: Plexuslähmung bei Wirbelsäulenfraktur I 23 Wolffberg, S.: Zum Vortrage (T. II. S. 119) von Julius Wolf. ... I 61 u. 72 Ziesche: Zum Vortrage (T. II. S. 95) von Ephraim I 30 b. Sitzungen der hygienischen Sektion. Eisenberg: Über die Vererbung erworbener Eigenschaften bei Bakterien I 76 Koenigsfeld: Über den Durchtritt von Infektionserregern durch die Haut I 75 90. Jahresbericht. 1912. (g>-c I. Abtei ung. Medizin. a. Medizinische Sektion. Sitzungen der medizinischen Sektion im Jahre 1912. Sitzung vom 19. Januar 1912. Vorsitzender: Herr Minkowski. Schriftführer: Herr ßöhmann. Hr. Werner Schulemann: Eine neue Methode der Vitalfärhnng und ihre Beziehungen zur Chemotherapie. (Siehe Teil II.) Diskussion. Hr. Br ade: M. H. ! Wir sind seit Jahren auf der chirurgischen Abteilung des Allerheiligen-Hospitals mit Versuchen beschäftigt, eine Methode der intravitalen Geschwulstfärbung zu finden. Ich muss von vornherein betonen, dass unsere Versuche bisher völlig fehlgeschlagen sind. Nach Erscheinen der Goldmann’schen Arbeit über die vitale Färbung haben wir auch dieser Anregung Folge geleistet und Versuche mit Pyrrholblau und Trypanblau angestellt. Das Ergebnis unserer Ver- suche war, dass wir lediglich die klassischen Untersuchungen Gold- mann’s bestätigen konnten. Geschwulsttiere standen uns leider nur in sehr beschränktem Maasse zur Verfügung. Die an ihnen angestellten Versuche, speziell auf die Geschwulst mit Farbstoffen einzuwirken, schlugen, wie schon erwähnt, vollkommen fehl. Am Menschen haben wir mit Pyrrhol- und Trypanblau Versuche naturgemäss nicht gewagt, dagegen haben wir in einer Reihe von Fällen inoperabler Tumoren systematische Einspritzungen versucht mit Methylenblau, weil dieses Mittel in zahlreichen Darreichungen bei Menschen sich als absolut un- schädlich erwiesen hat und sogar in früheren Jahren zur Geschwulst- behandlung (Mosetig - Moorhoff) empfohlen worden ist. Die ge- spritzten Fälle kamen alle zur Sektion, aber auch die sorgfältigste Untersuchung der bei der Obduktion entfernten Geschwulstteile liess einen Niederschlag an Farbstoff nicht erkennen. Ich habe diese unsere Versuche deswegen kurz erwähnt; weil schliesslich auch negative Resultate auf einem neuen Forschungsgebiete einen gewissen Wert haben. Hr. Schulemann: Die Unterschiede der Vitalfärbung mit Neu- tralrot (Ehrlich) und Diaminfarben (Goldmann, Schulemann) sind vor allem in der Toxicität des ersteren und der relativen Unschädlichkeit der neuen Farben zu sehen. Während bei Neutralrotablagerung im Zellinnern vorwiegend physikalische Bedingungen in Frage kommen, ist die Vitalfärbung mit Diaminfarben von chemisch-physikalischen Be- dingungen abhängig. Letzteres liess sich durch kombinierte Anwendung roter und blauer Diaminfarben beweisen. Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Kultur. 1912. I. 1 9 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Die Frage selbst ist so kompliziert, dass zur näheren Information auf die Arbeiten Goldmann’s1) und Schulemann’s2), sowie die dort citierte Literatur zu verweisen ist. Hr. Minkowski: Ueber Lungenempkysem. Seitdem auch das Lungenemphysem Gegenstand einer chirurgischen Behandlung geworden ist, hat sich in verstärktem Maasse das Bedürfnis herausgestellt, die eigentliche krankhafte Störung von den Veränderungen zu trennen, die zum Ausgleich dieser Störung dienen. Die Freund’sche Annahme einer „starren Dilatation des Thorax“ als Ursache des Emphysems besteht für gewisse Fälle zu recht. Doch sind diese Fälle von primärer „chondrogener“ Thoraxdilatation (von den Velden) nur selten im Vergleich zu der „myogenen“ Thoraxerweiterung, die durch stärkere Inanspruchnahme der Inspirationsmuskulatur zustande kommt. Ein Verständnis für die hier in Betracht kommenden Verhältnisse hat man durch Untersuchungen über das Verhalten des „mittleren Füllungs- zustandes“ der Lunge unter physiologischen Verhältnissen zu gewinnen gesucht. Bohr glaubte in der Zunahme der „Mittelkapazität“ eine regula- torische Einrichtung erblicken zu dürfen, die durch Vergrösserung der respiratorischen Oberfläche und durch Erleichterung der Blutströmung durch die Lungen den Gasaustausch begünstige. Die von Bohr be- obachteten Tatsachen wurden von verschiedenen Seiten (Hofbauer, Bruns, Siebeck, Bittorf und For schbach) bestätigt, seine Deutung dieser Tatsachen blieb nicht einwandsfrei. Nach den Untersuchungen von Bittorf und Forschbach kommt die Einstellung der Lungen auf einen bestimmten mittleren Füllungszustand zum Teil durch Nerven- reflexe, zum Teil durch Erregungen von höher gelegenen Nervencentren zustande, und sie dient nicht nur dem Bedürfnis des respiratorischen Gaswechsels, sondern auch mannigfachen anderen Zwecken, an die den Atemmechanismus anzupassen für den Organismus irgendwie nützlich sein kann. Die automatisch zustande kommende rhythmische Erregung der Atemcentren unterliegt zweierlei Arten von regulierenden Einflüssen: einmal wird das Maass der respiratorischen Leistung, die Ventilations- grösse, der Grösse des Stoffumsatzes und dem Sauerstoffbedarf an- gepasst. Dieses geschieht durch „hormon“-artige Wirkungen der Umsatz- produkte — des Endproduktes, der Kohlensäure und gewisser saurer Zwischenprodukte; zweitens wird die Form der Atmung mit den be- sonderen Zuständen der Atmungswerkzeuge in Einklang gebracht. Dazu dienen Nervenreize, die centrifugal von höher gelegenen Hirnteilen, oder centripetal durch die sensiblen Nerven der bewegten und der be- wegenden Teile dem Atemcentrum zufliessen. Durch diese wird Frequenz und Tiefe, Rhythmus und Modus der Atembewegungen den heterogensten Bedürfnissen des Organismus angepasst. Auch die Einstellung des Thorax auf eine bestimmte Mittellage erfolgt in gleicher Weise. Eine eigentliche „Ruhelage“ des Thorax gibt es während des Lebens überhaupt nicht. Die „Gleichgewichtslage“ des Brustkorbs wird ausser durch die Lungenelastizität und die elastische Spannung des Thorax, dem Bronchialmuskeltonus und dem Füllungszustand der Blutgefässe in der Brusthöhle, vor allem durch den Tonus der Atemmuskulatur bestimmt, der wie jeder Muskeltonus durch Nervenreflexe unterhalten und geregelt wird. Diesem Tonus unterliegen nicht nur die Inspirations-, sondern auch die Exspirationsmuskeln. Durch reflektorische Aenderungen in der Stärke des inspiratorischen und exspiratorischen Muskeltonus wird 1) Goldmann, Brun’s Beitr. z. klin. Chir. 2) Schulemann, Archiv f. mikrosk. Anatomie. I. Abteilung. Medizinische Sektion. -der mittlere Füllungszustand der Lungen an veränderte mechanische Verhältnisse angepasst. Nicht jede dauernde Zunahme der Lungenfüllung ist als krankhaft anzusehen. Die krankhaften Störungen beim Lungenemphysem sind erst bedingt durch die Starre des Thorax, die Gewebsveränderungen in der Lunge, die chronische Bronchitis und die Erschwerung der Blutcirculation. Bei der Freund’schen „starren Dilatation“ ist es mehr die Starre als die Dilatation, die die Atmungsinsuffizienz bedingt. Aehnliche Störungen der Atmung findet man bei der ohne Dilatation einhergehenden Starre, bei progressiver Muskelatrophie, Myositis ossificans, Sklerodermie, der Bechterew’schen Krankheit. Die Unvollkommenheit der Lungenelastizität und die Gewebsver- änderungen in der Lunge sind nicht als eine Folge der Ueberdehnung anzusehen. Soweit nicht eine kongenitale Schwäche der elastischen Elemente mitspielt, dürfte besonders die Steigerung des intraalveolären Druckes bei erschwertem Luftaustritt zu Störungen der Blutcirculation in den Lungencapillaren und damit zur Gewebsatrophie führen. Die Lungenelastizität hat ihre Bedeutung nicht nur als exspiratorisch wir- kende Kraft, sondern vor allem auch darin, dass durch die elastische Spannung des Lungengewebes sowohl die gleichmässige Entfaltung der verschiedenen Lungenteile, wie das Offenhalten des Lumens der feinsten Bronchialverzweigungen ermöglicht wird (Bönniger). Der chronischen Bronchitis und der Bronchiolitis exsudativa beim Asthma bronchiale kommt eine entscheidende Bedeutung sowohl für die Pathogenese wie für die Symptomatologie des Lungenemphysems zu. Durch die Erschwerung des Luftaustritts und die Hustenstösse führen sie zur Steigerung des intraalveolären Druckes. Die Störungen der Blutcirculation beim Lungenemphysem sind zum Teil unabhängige Begleiterscheinungen, bedingt durch Arteriosklerose und Herzmuskelaffektionen; das Emphysem als solches erschwert den Blutkreislauf durch Herabsetzung des negativen Druckes in der Brust- höhle, mehr aber noch durch Steigerung der Widerstände im Capillar- gebiet der Lungen. Die Erhöhung des intrapulmonalen Druckes ist dabei wichtiger als der Untergang von Lungencapillaren. Diesen Störungen gegenüber kann die stärkere Lungenfüllung als Ausgleichsvorrichtung dienen: sie ermöglicht eine wirksamere Aus- nutzung der noch erhaltenen elastischen Kräfte, eine gleichmässigere Ent- faltung der verschiedenen Lungenabschnitte, eine erhöhte Wegsamkeit der feinen Bronchialverzweigungen, eine Aufrechterhaltung des negativen Druckes in der Brusthöhle, und verhindert eine übermässige Steigerung des intraalveolären Druckes. Doch sind der kompensatorischen Wirkung der stärkeren Lungenfüllung gewisse Grenzen gezogen, hauptsächlich weil durch die inspiratorische Stellung des Thorax die Leistungsfähig- keit der Inspirationsmuskeln, namentlich auch des Zwerchfells ver- ringert wird. Für die Therapie ergibt sich aus diesen Betrachtungen, dass keines- wegs unter allen Umständen die Volumszunahme der Lungen als solche zu bekämpfen ist. Vor allem ist die Verkleinerung des Thoraxumfanges nicht eher anzustreben, bevor die Störungen beseitigt sind, für die in •der inspiratorischen Thoraxstellung ein Ausgleich gegeben sein kann. Die operative Behandlung soll nicht sowohl die Verkleinerung, wie die Mobilisierung des Thorax anstreben. Vor allem ist die Bronchitis zu behandeln. Als Expektorans darf übrigens das Jodkali nicht durch organische Jodpräparate ersetzt werden, denn hier kommt es nicht auf die Ionenwirkung, sondern auf die Salzwirkung an. Adrenalinpräparate -können durch Anämisierung der Schleimhaut die Widerstände in den 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. feinen Bronchien herabsetzen. In ähnlicher Weise sind wohl auch die günstigen Wirkungen der Schwitzprozeduren zu erklären. Die mechanische und pneumotherapeutische Behandlung kann wirk- sam sein, wenn sie eine Stärkung der Atemmuskulatur, eine zweck- massigere Form der Atembewegungen und namentlich eine Erleichterung des Luftaustritts zum Ziele hat. Am wirksamsten sind die Methoden, die auf eine Erhöhung der Leistungen des Zwerchfells gerichtet sind, weil diese auch zur Förderung des Blutumlaufs beitragen. Der Be- einflussung des Oirculationsapparates kommt überhaupt in den meisten Fällen die grösste Bedeutung zu. Die Diskussion wird vertagt. Sitzung vom 26. Januar 1912. Vorsitzender: Herr Minkowski. Schriftführer: Herr Rosenfeld. Vor der Tagesordnung. Hr. Rosenfeld: Fall von Ulcus ventriculi. An der Patientin, die ich Ihnen vor zustellen mir erlaube, ist eigent- lich nichts mehr zu sehen. Ihre Vorstellung soll nur Gelegenheit bieten, über eine ungewöhnliche Verbreitung des Cruveilhier’schen Points rachidiens, der dorsalen Schmerzpunkte bei Ulcus ventriculi und deren Therapie zu sprechen. Diese dorsalen Schmerzpunkte sind keineswegs nur Druckschmerzpunkte, denn nicht nur auf Druck, sondern auch spontan empfinden solche Patienten einen öfters recht intensiven Schmerz dicht neben der Wirbelsäule. Diese Schmerzen betreffen gewöhnlich nur wenige Wirbel, sitzen teils links, teils rechts, was von Seidl in einen Zusammen- hang mit dem Sitze des Geschwürs — an der hinteren Magenwand, au der Cardia, am Pylorus bzw. an der kleinen Curvatur — gebracht wird. Hier aber erstreckten sich die Schmerzpunkte vom ersten Brustwirbel bis zum Becken, auf beiden Seiten, und zeigten grosse Intensität des Schmerzes. Die Therapie dieser Schmerzen ist die des Ulcus ventriculi, d. h., nach meiner Methode die Nichts-als- Sahnenkur durch 4 Tage und dann die Fett-Eiweisskur bei acidem Magen oder die Fett-Kohlehydratkur bei anacidem Magen. Patientin trat am 10. Januar in Behandlung, schon am 11. waren die Schmerzpunkte nur noch an den unteren Brustwirbeln und oberen Lendenwirbeln — die Intensität des Schmerzes dabei viel geringer. Am 14. fast völlige Schmerzlosigkeit, am 16. überhaupt kein spontaner und kein Druckschmerz mehr. Also in 6 Tagen war auch dieses maximal entwickelte Symptom verschwunden. Das Ulcus ventriculi hat, wie Ihnen bekannt, noch zwei Schmerzsymptome: den spontanen Schmerz — meist an der kleinen Curvatur — und den Druckschmerz ebenda, der ja manchmal so stark ist, dass auch leiseste Berührung schon fast unerträglich ist. Diese Schmerzen pflegen sich bei der reinen Sahnendiät so zu verhalten, dass der spontane Schmerz nach 24 bis 3x24 Stunden verschwunden ist, der Druckschmerz persistiert wohl oft noch einen Tag länger. Dass er aber 4 Sahnentage überdauert, gehört nach meinen Erfahrungen zu den grossen Seltenheiten. Wenn man die Sahnenkost anwendet, so sind die Patienten vom eisten Tage an so gebessert, dass es nie einer Morphiuminjektion bedarf. Es gibt nach meiner Ueberzeugung kein Verfahren — auch das chirurgische nicht — , welches sich mit der Sahnenkur an Wirksamkeit (das Cardiaulcus ausser Betracht gelassen) messen kann. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 5 Tagesordnung. Diskussion zum Vorträge des Herrn Minkowski: lieber Lnngen- empbysem. Hr. Strasburger macht einige Ausführungen über seine von Herrn Minkowski erwähnten Untersuchungen, welche die Beeinflussung des Brust- und Bauchumfanges durch den Wasserdruck im Bade und deren Anwendbarkeit auf die Emphysembehandlung betreffen. Man findet im indifferent temperierten Vollbade bei normalen Personen Abnahme des Brustumfanges um 1 — 3 V2 cm (bei starrem Thorax natürlich weniger), des Bauchumfanges von 2 ‘/2 — 6y2 cm. Durch Perkussion lässt sich ein Heraufrücken der Lungengrenzen nachweisen. Man ist also imstande, durch den Wasserdruck die Expirationsstellung, besonders des Zwerch- fells, zu vermehren. Das einfache, überall anwendbare Mittel unter- scheidet sich in seiner Wirkung von der der Atemstühle darin, dass diese mechanischen Prozeduren auf das Zwechfell entweder gar nicht oder nur in geringem Grade einwirken. Ferner dadurch, dass der Druck nicht rhythmisch, sondern kontinuierlich erfolgt. Da aber die Verände- rungen bei Emphysem, soweit es sich um elastische Momente handelt, auch kontinuierlich sind, so ist es nur richtig, denselben durch einen kontinuierlich, nicht durch einen rhythmisch wirkenden Faktor entgegen- zuarbeiten. Wie weit die Behandlung eines Emphysematikers mit der Wirkung des Wasserdruckes (im lauwarmen Vollbad) angezeigt erscheint, hängt von der Beurteilung der mechanischen Verhältnisse in jedem Einzelialle ab. Hr. Mühsam: Der Herr Vortragende ist ausgegangen von der Dar- stellung des Physiologen, welcher in der Vergrösserung des Brustkorbes beim Lungenemphysem eine Zweckmässigkeitseinrichtung suchte. Da- gegen sind Gegengründe beigebracht worden, die gewichtig genug waren. Ich- möchte mir erlauben, eine kleine Ueberlegung anzustellen, welche unwahrscheinlich macht, dass hier die Vergrösserung zweckmässig ist. Offenbar muss bei der Atmung der Luftinhalt der Lungen durch die Luugenoberfläche hindurchgehen. Die Lungenoberfläche kann durch ein System von Kugeloberflächen dargestellt werden; in der Annäherung darf man die einhüllende Kugeloberfläche in Betracht ziehen. Die Kugeloberfläche stellt sich dar (mathematisch rechnerisch): 0 = f (i-2). Dabei ist der Kugelinhalt I = f (r3). Bei Veränderung der linearen Grösse r variiert also 0 im Quadrat, 1 im Kubus, z. B.: linear 12 3 4 5 Quadrat 13 45 9 7169 25 Kubus 1 S 27 G4 125 7 19 37 61 Wenn also die Flächenunterschiede sich darstellen als 3 5 7 9, stellen sich zugleich die Inhaltsunterschiede dar als 7 19 37 Gl; die Differenzen wachsen im Kubus weit schneller als im Quadrat. Oder in der Kurve wie nachstehend. Das Verhältnis -von Oberfläche und Inhalt wird also bei gleichmässig wachsender linearer Grösse immer ungünstiger zwischen 0 und I. Ein optimales Verhältnis zwischen 0 und I ist also bei veränder- licher linearer Grösse niemals in Richtung der Vergrösserung zu er- warten. Es ist also durchaus unwahrscheinlich, hier beim Emphysem in Richtung der Vergrösserung eine Zweckmässigkeit zu erwarten. 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Hr. Rosenfeld: Zu den Deduktionen von Herrn Minkowski möchte ich einige Bemerkungen machen, welche mehr die praktische und weniger die theoretische Seite betreffen. Denn trotz aller neueren Unter- suchungen — und auch der alten, mehr interessanten als häufig zu- treffenden von Freund — bleibt der Kernpunkt, dass das Emphysem in mehr als 90 pCt. der Fälle die Folge stets recidivierender Bronchitiden ist. Es ist eben so, wie es Biermer immer gelehrt hat: die Bronchitis und Bronchiolitis führt zunächst zur Lungenbläbung, dem Yolumen pulmonis auctum von Traube. Die Lungenblähung kann zurückgehen; geht sie nicht zurück, so entwickelt sich allmählich ein Alveolenschrumpfungsprozess — das Emphysem ist da. Ich erwähne diese allbekannten Dinge nur, um hervorzuheben, dass bei jedem Emphysem keineswegs alles nichtkorrigier- bares Emphysem ist, sondern sehr viel Lungenblähung. Ebenso ist keineswegs alles Bronchitis, was als solche erscheint. Schon vor 16 Jahren habe ich hier die Meinung vorgetragen, dass als Bronchitis oft broncho- spastische Prozesse, die dem nervösen Asthma analog sind, bezeichnet werden. Diese Bronchospasmen, die nervösen Bronchitiden, sind in hervorragender Weise der Behandlung zugängig. Ihre Aetiologie ist analog der des Asthmas. Meine Anschauung davon habe ich ja auch schon dahin ausgesprochen; dass das echte Asthma von der Nase aus- geht, dort wird zur Regulierung des Zustroms kalter Luft die Nasen- muschel vergrössert, bei Asthmatikern so stark, dass die Nasenatmung sehr erschwert oder unmöglich ist. Nunmehr trifft die Bronchien nicht richtig temperierte Luft, und nun tritt hier an den Bronchien die Ver- engung vielleicht mit derselben Tendenz der Vorwärmung, aber in störendster Weise ein. Diese Verengung wird teils durch Hyperämie, teils durch Bronchospasmus bewirkt. Dieser Teil der Bronchialerkrankung lässt sich behandeln, sei es von der Nase aus durch Adstringentien, wie Arg. nitr., Cocain, Adrenalin, sowie durch das stärkste Adstringens, den Galvanokauter. Ich habe viele ganz annehmbare Erfolge davon gesehen. Eine vortreffliche Bereicherung hat die Therapie des Emphysems durch die endobronchiale Therapie erfahren. Wäre beim Emphysem alles Emphysem, so könnte auf diesem Wege wenig erreicht werden; da aber recht viel von den Symptomen auf die passagere Lungenblähung und auf Bronchospasmus zurückzuführen ist, so kann man durch diese Behandlung sehr Gutes erreichen. Die Einführung des Instruments bis in die Bronchialäste, die Berührung der Bronchialschleimhaut mit Medi- kamenten härtet sie ab gegen die sonst Bronchospasmus hervorrufenden Einflüsse. Die Medikamente führen auch zu einer Anämisierung der Schleimhaut, die ebenfalls von Vorteil ist. Ich habe zwei Fälle von ziemlich hochgradigem Emphysem Herrn Ephraim zur Behandlung I. Abteilung. Medizinische Sektion. 7 überwiesen. Die erste Patientin besuchte mich nach etwa einem Jahre wieder, um mir nur freudestrahlend mitzuteilen, wie gut es ihr ginge, wie sie sich nunmehr frei bewegen und beliebig bücken könnte, und auch jetzt, 2 Jahre nach der Behandlung, ist die Pat. wohlauf. Bei dem anderen Palle konkurrierte Adipositas und Degeneratio myocardii. Entfettungskuren und Digitalis- usw. Behandlung, Alkoholabstiuenz. schafften Erleichterung, aber erst durch die endobronchiale Therapie wurde eine so grosse Besserung bewirkt, wie sie der behandelnde Arzt für gar nicht möglich gehalten hätte. Leider machten ein Herzschlag nach Vejährigem Bestehen dieses guten Zustandes ein Ende. Auch die pneumatische Therapie ist imstande, Erleichterungen zu schaffen, sowie auch gut inszenierte, d. h. auf die Besserung des Ex- piriums gerichtete Atmungsschulung. Von mitunter glänzendem Effekt ist unter den klimatischen Kuren Winteraufenthalt in Aegypten. Yon der chirurgischen Therapie habe ich einen markanten Erfolg gesehen. Im übrigen darf man nicht ausser Erwägung lassen, dass nicht nur das Heuasthma, sondern auch andere Arten des Bronchospasmus sehr verdächtig sind, dass sie anaphylaktische Erscheinungen sind, und dass eine hierauf gerichtete Therapie Hoffnungen gibt. Von den internen Mitteln ist das Jodkalium gewiss wertvoll. Ich stimme Herrn Minkowski darin durchaus bei, dass es die Jodalkalien sind, die wirken, während die anderen Jodpräparate dieser therapeutischen Aufgabe gegenüber wenig wirksam sind. Hr. Ephraim bespricht die Wirksamkeit des Adrenalins beim Asthma und der chronischen Bronchitis in praktischer und theoretischer Beziehung. Er empfiehlt die subcutane Injektion während des asthmatischen Anfalls, die endobronchiale Einstäubung für andauernde Behebung der Beschwerden. Hr. Marcuse: Wenn die von Herrn Strasburger vorgetragene Anschauung, nach welcher die Wirkung der Bäder bei Emphysem auf den hydrostatischen Druck zurückzuführen wäre, den sie auf das Abdomen ausüben, richtig ist, dann müssten die Bäder diese Wirksamkeit un- abhängig von ihrer Temperatur entfalten. Dem möchte ich aus der Er- fahrung heraus entgegenhalten, dass Bäder von indifferenter Temperatur im allgemeinen keine therapeutische Wirkung bei Emphysem haben, sondern meist nur solche Bäder, deren Temperatur unterhalb des Indifferenzpunktes liegt. Die Wirkung ist eben eine durchaus reflektorische auf die Atmung und vor allem auf den Kreislauf, bedingt hauptsächlich durch die Temperatur des Wassers, und der Erfolg in vielen Fällen von Emphysem basiert auf dem Umstand, den auch Herr Minkowski hervorgehoben hat, dass nämlich die Beschwerden der Emphysematiker sehr oft weniger auf eine Insuffizienz als auf eine solche des Kreislaufs zurückzuführen sind. Im Anschluss hieran möchte ich auf eine Arbeit von Bruns hin- weisen, welche Ende vorigen Jahres in der Deutschen medizinischen Wochen- schrift erschienen ist und die Behandlung der besonders durch Emphysem bedingten Kreislaufstörungen mittels Unterdruckatmung, also Atmung in verdünnter Luft, zum Gegenstand hatte. Diese Therapie ist ja seit langem bekannt, wenn sie auch etwas aus der Mode gekommen ist, und die Ansichten sind ziemlich geteilt darüber, wie überhaupt über die Einwirkung dünner Luft, also auch der Höhenluft, bei Emphysem. Wie entgegengesetzt die Meinungen sind, die diesbezüglich geäussert wurden, geht auch daraus hervor, dass z. B. Eichhorst durchaus günstige Erfahrungen mit dem Aufenthalt seiner Kranken im Höhenklima gemacht hat, während Nothnagel die Emphysematiker nicht an einen höher Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. gelegenen Gebirgsort senden wollte. Bruns beschreibt nun in der ge- nannten Arbeit einen einfachen, handlichen, transportablen Apparat, der auch bei bettlägerigen Patienten anwendbar ist, und mit dem er beachtenswerte Erfolge gerade bei Emphyseraatikern erreicht haben will. Hr. Minkowski (Schlusswort). Hr. Klieneberger: Erfahrungen über Salvarsanbehamllung syphilitischer und metasypki- litischer Erkrankungen des Nervensystems. (Siehe Teil II.) Sitzung vom 2. Februar 1912. Vorsitzender: Herr Minkowski. Schriftführer: Herr Rosenfeld. Diskussion zu dem Vortrage des Herrn Klieneberger : Erfahrungen über Salvarsanbehandlung syphilitischer und metasyphilitisclier Er- krankungen des Nervensystems. Hr. Kuznitzky: Was die progressive Paralyse und die mit Lues cerebrospinalis verknüpften luetischen Erkrankungen anlangt, so stehe ich bezüglich der Beurteilung des Behandlungseffektes dieser Prozesse durch Salvarsan ganz auf dem Boden der Ausführungen Herrn Kliene- berger’s, d. h. bei Paralyse haben wir fast nur negative oder un- günstige, bei der Lues cerebrospinalis fast ausschliesslich gute Erfolge gesehen. Freilich sind wir bei dieser letzteren noch energischer vor- gegangen als Herr Klieneberger, insofern als wir gewöhnlich an die Salvarsaninjektionen, deren Dosis auch immer etwas höher war als die in der psychiatrischen Klinik gebräuchliche, später eine Quecksilberkur angeschlossen haben, um so den Erfolg der Salvarsantherapie noch zu festigen. Was jedoch unsere Erfolge bei der Tabesbehandlung anlangt, so bin ich bei der Beurteilung derselben doch etwas abweichender Ansicht. Vielleicht liegt dies nur an der Ausdrucksweise. Herr Klieneberger sprach einmal von „nicht ungünstigen“, ein anderes Mal von „nicht befriedigenden“ Erfolgen der Salvarsanbehandlung bei Tabes. Nun, m. H., ich möchte diese Erfolge, wenigstens nach den Erfahrungen, die wir auf Grund unseres Materials bisher gemacht haben, als ganz günstig bezeichnen. Auch wir haben natürlich Versager zu ver- zeichnen. Aber in vielen Fällen sind die quälenden lanzinierenden Schmerzen, in anderen Fällen die gastrischen und Larynxkrisen, oft genug auch die Blasensymptome nach der Injektion verschwunden, teils für kürzere, teils für längere Zeit, zum Teil sind sie auch gar nicht wieder aufgetreten. Die Ataxie, selbst sehr schwere Formen, hat sich manchmal so weit gebessert, dass Patienten - — • ich denke hier ganz besonders an 2 Fälle — , die nur mit Hilfe von Stöcken sich fortbewegen konnten, im Laufe der Behandlung so weit gebessert wurden, dass sie ohne Behinderung frei gehen konnten, und dies auch noch — in diesen beiden Fällen — nach einem Jahre. Solche therapeutischen Effekte sind doch wohl als günstig zu bezeichnen, und die Frage, ob ein Tabiker mit Salvarsan behandelt werden soll, ist wohl zweifellos, wenn keine anderen Kontraindikationen vorliegen, mit „ja“ zu beantworten. Hier ist der Einwand möglich, dass solche guten Erfolge auch schon mit dem Quecksilber erreicht worden seien. Gewiss. Ich bin weit davon entfernt, hier gegen das Quecksilber zu sprechen. Aber es be- finden sich unter diesem Material Fälle, welche früher dauernd und aus- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 9 reichend mit Quecksilber behandelt worden sind und erst nach der Salvarsaninjektion gebessert wurden. Ein weiterer Einwand wäre der, dass es sich bei den gebesserten Fällen nicht um eine reine Tabes, sondern um eine mit cerebrospinaler Lues kombinierte Form derselben gehandelt habe, bei der nur die spinalen Erscheinungen auf das Salvarsan reagiert hätten. Dieser Ein- wand besteht wohl zu Recht und ist voll anzuerkennen, aber lediglich in therapeutischer Hinsicht. ln praktisch-therapeutischer Beziehung dürfte er wohl nicht nennenswert in Betracht kommen, da — wie Sie früher hier gehört haben — es oft sehr schwer ist, in einem solchen Falle die Diagnose zu stellen. Für den praktischen Arzt muss also ein solcher Fall als einfache Tabes gelten, demgemäss behandelt und be- urteilt werden. Drittens wird gegen die Erfolge bei Salvarsanbehandlung angeführt, dass bei Tabes auch spontan weitgehende Remissionen eintreten können. Wenn aber solche Remissionen im Anschluss an eine Salvarsan- behandlung einsetzen, so wäre es m. E. doch gezwungen, dieselben zu dem Mittel nicht in ursächliche Beziehung zu bringen und sie als „spontan“ zu bezeichnen. Im übrigen wäre, wenn es sich herausstellte, dass solche sogenannten spontanen Besserungen häufig nach der Salvarsanbehandlung eintreten, dies ein Grund mehr, das Salvarsan bei der Tabes anzuwenden. Eine andere Eigenschaft, welche das Mittel gerade zur Behandlung der Tabes in besonderem Maasse befähigt, ist eine auch von Herrn Klieneberger erwähnte organotrope Wirkung, welche bei geeigneter Dosierung eine ausserordentliche Hebung des Allgemeinbefindens, Steigerung der Esslust und eine oft nicht unbeträchtliche Zunahme des Körpergewichts verursacht. Alles Eigenschaften, welche bei der Behand- lung der Tabes bekanntlich von essentieller Bedeutung sind, und welche das Quecksilber nicht besitzt, da es, wie Sie ja wissen, oft genug zu Appetitlosigkeit und zu einer Verminderung des Körpergewichts führen kann. Auch zu der Frage der Neurorecidive noch ein paar Worte: Herr Klieneberger hat von zwei solchen Fällen berichtet, die im sekundären Stadium der Lues nach Salvarsan aufgetreten seien. Es könnte so den Anschein erwecken, als ob, da er nur von solchen be- richtet hat, dieselben jetzt häufiger wären als früher. Das eine ist sicher: man hört jetzt mehr von ihnen, sie werden jetzt häufiger publi- ziert. Ob sie tatsächlich jetzt öfter auftreten als vor der Salvarsan- behandlung, ist eine vielumstrittene, noch nicht entschiedene Frage. Nach einer vor ca. 2 Monaten erfolgten Zusammenstellung unseres Materials, die sich bei etwa 2000 Patienten über eine Beobachtungszeit von mehr als l1^ Jahren erstreckt, muss diese Frage mit „Nein“ be- antwortet werden. Wir haben jeden Fall von Lues im Frühstadium, der in die Klinik kam, mochte er nun mit Salvarsan behandelt sein oder nicht, gewissenhaft rubriziert und dabei gesehen, dass von den 12 sogenannten Neurorecidiven, welche wir bis dahin beobachtet haben, 6 noch gar nicht mit Salvarsan behandelt und 6 schon mit Salvarsan injiziert waren, zum Teil mit nicht ausreichenden Dosen. Sie sehen also, dass sich — wenigstens bei unserem Material — die Zahlen der unbehandelten und behandelten Neurorecidive die Wage halten. Uebrigens gehen alle diese Neurorecidive ausnahmslos auf eine euergische kombinierte (Salvarsan -f- Quecksilber) Kur völlig zurück, wenn auch gesagt werden muss, dass die Restitution bei den schon mit Salvarsan behandelten Fällen öfter langsamer vor sich geht als bei den unbehandelten. 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Hr. Schaffer behandelte 9 Fälle typischer Tabes dorsalis mit Salvarsan (zweimal 0,5 oder dreimal 0,4 intravenös) stets in Kombination mit Hydrargyrum. In 6 Fällen war — meist nach einer vorübergehen- den Steigerung der Nervenschmerzen — ein ganz auffallendes Nach- lassen der Beschwerden, besonders der lanzinierenden Schmerzen, ebenso eine wesentliche Besserung des Allgemeinbefindens zu konstatieren. In allen Fällen trat aber nach wenigen Monaten wieder eine allmähliche Verschlechterung ein, so dass niemals von einem nachhaltigen Resultat oder einer Heilung die Rede sein konnte. — Auch bei alten Syphilitikern, die über allgemeine Beschwerden, wie Kopfschmerzen, Schwindel, Mattig- keit klagten, ohne dass objektive Krankheitssymptome nachzuweisen waren, Hess sich durch Salvarsaninjektionen eine sehr günstige Beein- flussung der Beschwerden und eine erhebliche Besserung des Befindens (oft sogar für lange Zeit) erzielen. Wenn die Salvarsanerfolge bei Lues des Gehirns und Rückenmarks nicht so günstig sind wie bei anderen syphilitischen Erkrankungen, so liegt dies wohl zum Teil daran, dass manche klinischen Erscheinungen durch abgelaufene Prozesse (wie Gefässobliteration, narbige Verände- rungen) bedingt werden, die also selbst durch ein spezifisches Heilmittel nicht mehr zu beeinflussen sind. Allerdings ist auch die Wirkung des Salvarsans je nach der Lokalisation der syphilitischen Erkrankung ver- schieden günstig, am Nervensystem offenbar ungünstiger als an anderen Stellen, z. B. an der Haut, vor allem der Schleimhaut. Die Frage der Neurorecidive ist gegenwärtig noch nicht voll- ständig geklärt. Dass sie nach Salvarsan häufiger auftreten als nach Hg-Behandlung, scheint bisher nicht sicher erwiesen. An seinem eigenen Material konnte es Redner beispielsweise nicht feststellen; dagegen hat er den Eindruck, dass die Neurorecidive jetzt zeitiger nach der Infektion eintreten und auch ausgesprochenere klinische Erscheinungen machen. Unter etwa 300 mit Salvarsan behandelten Fällen traten zwei- mal Acusticusstörungen auf; sie wurden durch Hg-Behandlung wieder zur Heilung gebracht. Da das Salvarsan — ganz abgesehen von der schnelleren Be- seitigung der Symptome — in Kombination mit Hg den Gesamtverlauf der Syphilis günstiger beeinflusst als Hg allein (z. B. zeitigeres Negativ- werden der Wassermann’schen Reaktion), so sollte es in der Praxis mehr Verwandt werden, als dies jetzt der Fall ist. Hr. Bonhoeffer: Da Herr Klieneberger nicht mehr in Breslau anwesend ist, so darf ich wohl an seiner Stelle die Schlussbemerkung machen. Ich stehe der Salvarsanbehandlung bei den metasyphilitischen Pro- zessen, insbesondere bei der progressiven Paralyse, vielleicht um eine Nüance optimistischer gegenüber, als es in der Darstellung des Vortr. über unsere therapeutischen Erfolge mit 606 zum Ausdruck gekommen ist. Freilich, dass von einer spezifischen Beeinflussung der Paralyse und der Tabes nicht gesprochen werden kann, das scheint mir über jeden Zweifel erhaben. Aber eines ist doch wichtig, worauf auch Herr Schaffer hingewiesen hat. Das Salvarsan beeinflusst den Stoff- wechsel in manchen Fällen stark, gelegentlich, wie wir gesehen haben, in ungünstiger Weise, insofern unter erheblichem Rückgang des Körper- gewichts eine schnellere Progression eintritt, in manchen Fällen setzt aber auch akut starke Körpergewichtszunahme ein. Die Möglichkeit, dass gelegentlich der Eintritt einer Remission durch diese Wirkung des Salvarsans begünstigt wird — vielleicht analog den an akute fieberhafte Erkrankungen anschliessenden Remissionen — , möchte ich doch offen lassen. Im ganzen scheint es aber, dass weder die Zahl noch die Dauer der Remissionen unter Salvarsan wesentlich zugenommen hat. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 11 Herr Kuznitzky hat anscheinend bei Tabes sehr viel bessere Erfolge gesehen, als wir. Er lässt die Frage offen, dass diese günstigen Erfolge darauf zurückzuführen seien, dass es sich vielleicht manchmal um spinale Lues gehandelt habe, dass das aber praktisch gleichgültig sei. Auf diesem Wege kann man, glaube ich, Herrn Kuznitzky nicht folgen. Die gelegentliche Schwierigkeit der Differentialdiagnose zwischen Tabes und Lues spinalis darf doch nicht dazu führen, auf eine Trennung dieser beiden anatomisch durchaus differenten Prozesse klinisch und in der Beurteilung der Therapie Verzicht zu leisten. Hr. Pohl bespricht ein Verfahren zur Darstellung von Organ- eiweiss, dessen biologische Bedeutung auf Grund von quantitativ durch- geführten Versuchen. (Original ist in Abderhalden’s Handbuch der biochem. Arbeits- methoden, Bd. 5, erschienen. Hr. Strassburger: Ueber den Gehalt des arteriellen Blutes an Radiumemanation bei Inhalation. (Siehe Teil II.) Sitzung vom 9. Februar 1912. Vorsitzender: Herr Minkowski. Schriftführer: Herr Rosen feld. 1. Hr. E. Frank: Ueber Beziehungen der Hypophyse zumDiabetes insipidus. (SieheTeil II.) Diskussion. Hr. Robert Stern: Der Herr Vortr. hat erwähnt, dass die glatte Muskulatur sich bei Wiederholung der Einverleibung von Pituitrin refraktär verhält. Das hat sich auch bei der tierexperimentellen Unter- suchung der Wirkung von Hypophysenextrakten auf den Uterusmuskel bewahrheitet. Dagegen wurde diese Eigentümlichkeit durch die klinische Erfahrung durchaus nicht bestätigt. Wir verwenden in der Frauenklinik das Pituitrin sehr häufig zur Wehenverstärkung bei Wehenschwäche. Ferner konnte ich in einer Reihe von Fällen durch Pituitrin die Geburt einleiten zu einer Zeit, wo noch keine Wehen vorhanden waren. In diesen Fällen folgt jedesmal auf eine Injektion von 1 ccm Pituitrin eine Wehentätigkeit von einer 1 — 2 ständigen Dauer, die dann wieder vollkommen aufhört. Durch erneute Injektionen konnten dann stets wieder von neuem regelmässige Wehen erzeugt werden. In einem Falle wurde so z. B. zur Einleitung der Frühgeburt lumal injiziert mit dem Erfolg, dass nach 3 Tagen die Geburt beendet war. Von einem refraktären Verhalten gegen wiederholte Pituitrininjektionen kann also für den menschlichen Uterus nicht die Rede sein. Hr. Rosenfeld: Die Deutung solcher Befunde, wie sie Herr Frank vorgetragen hat, im Sinne einer Hypophysiswirkung ist vom klinischen Standpunkt aus nicht unzulässig, in Rücksicht auf experimentelle Er- fahrungen über Pituitrin aber nicht leicht in Einklang mit ihnen zu bringen. Denn ich habe bei Kaninchen 1. mitunter die Polyurie nach Pituitrin vermisst, 2. sie mit Albuminurie gelegentlich vergesellschaftet gefunden, 3. hat der polyurische Harn einen nicht für Diabetes insipidus stimmenden starken Chlorgehalt. Beim Menschen habe ich in einem Falle von Nephritis vergeblich versucht, durch Pituitrin Diurese zu erzeugen. So stimmen meine nicht umfangreichen Erfahrungen nicht zu der Deutung des Herrn Frank. Hr. Frank (Schlusswort). 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. 2. Hr. Richard Levy spricht über Chemotherapie der bakteriellen Infektion. Er hat gemeinschaftlich mit Morgenroth -Berlin Versuche mit Chininderivaten angestellt und dabei nicht nur mit Vorbehandlung Mäuse gegen Pneumokokkeninfektion schützen können, sondern auch bereits die in der Entwicklung begriffene Infektion der Tiere zur Heilung gebracht. (Einzelheiten über diese Versuche siehe die Originalartikel im II. Teil des vorigen Jahrgangs ) 3. Hr. Felix Rosenthal: Ueber Arzneifestigkeit von Trypanosomen gegen Chininderivate. M. H.l Die Chemotherapie der Pneumokokkeninfektionen hat, wie der Herr Vorredner bereits dargelegt hat, ihren Ausgangspunkt von der planmässigen Erforschung der therapeutischen Wirksamkeit der Chinin- derivate im Trypanosomenexperiment durch Morgenroth und Halber- städter genommen. Das praktische Ziel dieser Arbeiten war und ist, vom Tierversuch ausgehend, zu einer Verbesserung der Malariaprophylaxe und -therapie zu gelangen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass trotz des glänzenden therapeutischen Effektes des Chinins bei der Malaria der Kulminationspunkt einer Idealtherapie noch nicht erreicht ist. Es sei an die toxischen Nebenwirkungen des Chinins, an das Auftreten von Schwarzwasserfieber, an das besonders in neuerer Zeit betonte Versagen der Chininwirkung bei chininresistenten Malariatälleu erinnert, die mit mehr oder minder Recht auf das Auftreten chininfester Malariaparasiten bezogen werden. Wenn ich mir nun erlaube, Ihnen im folgenden über die Resultate von Trypanosomenversuchen zu berichten, die von Herrn Prof. Morgen- roth und mir gemeinsam ausgeführt wurden und zu der Auffindung einer Arzneifestigkeit der Trypanosomen gegen Derivate der Chininreihe geführt haben, so dürfte die verbindende Brücke zu den bereits ge- schilderten Pneumokokkenversuchen leicht geschlagen sein. Auch in unseren Experimenten handelt es sich um die Verwertung der gleichen Chininpräparate, des Hydrochinins und Aethylhydrocupreins, auf der anderen Seite dürfte durch die Phänomene der Chininfestigkeit der Protozoen biologisch strittige Phänomene bei der Aethylhydroeuprein- behandlung der Pneumokokkeninfektion einem Verständnis entgegen- geführt werden. Der Nachweis einer Arzneifestigkeit der Trypanosomen gegen chemo- therapeutische Agentien erstreckte sich bisher auf die Gruppe der Arsenikalien, auf bestimmte Azofarbstoffe wie Trypanrot und auf die Triphenylmethanfarbstoffe: Parafuchsin, Methylviolett, Pyronin. Diesen bekannten arzneifesten Trypanosomenstämmen lassen sich nun auf Grund von Versuchen von Herrn Prof. Dr. Morgenroth und mir nun auch Trypanosomenstämme anreihen, die eine spezifische Arzneifestigkeit gegen die im Trypanosomenexperiment wirksamen Derivate des Chinins, gegen Hydrochinin und Aethylbydrocuprein aufweisen. Gerade die Frage der Chininfestigkeit hat in neuerer Zeit Interesse gewonnen, seitdem klinische Beobachtungen mitgeteilt wurden über die Ausbildung chininfester Stämme bei Malaria, welche der üblichen Chinin- therapie hartnäckig widerstehen. Es mehren sich in letzter Zeit in auf- fallender Weise die Mitteilungen über Festigungserscheinungen dem Chinin gegenüber bei Malaria, wobei mit grösserer oder geringerer Wahrscheinlichkeit eine im Verlaufe der Chininmedikation eintretende Chininfestigkeit der Malariaparasiten angenommen wird. Es dürfte daher die experimentelle Feststellung der Existenz einer Chininfestigkeit von Parasiten und die Feststellung der genetischen Bedingungen dieser Festigkeit von nicht unerheblichem praktischen Werte sein. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 13 Da dem Chinin selbst nach Morgenroth und Halberstädter im Trypanosomenexperiment nur eine inkonstante Wirkung zukommt* so sahen wir uns in die Möglichkeit, das Phänomen der Arzneifestigkeit gegenüber Chininverbindungen erst dann versetzt, als mit dem Hydro- chinin und Aethylhydrocuprein es mit einer gewissen Regelmässigkeit gelang, die Trypanosomeninfektion der Mäuse zu beeinflussen. Die Festigung von Trypanosomen gegen diese Präparate gelingt leicht. Bei der Behandlung von Mäusen mit diesen Verbindungen kommen Dauerheilungen ausserordentlich selten vor. Nachdem man durch das Hydrochinin oder durch Aethylhydrocuprein die Trypano- somen zum Verschwinden gebracht hat, tauchen sie meist nach kürzerer Zeit wieder auf. Man verimpft auf neue Mäuse, behandelt die infizierten Mäuse von neuem, und nach 4 — 5 Generationen verfügt man über Trypanosomenstämme, die durch die von den Mäusen noch ertragenen Dosen in keiner Weise beeinflusst werden, und durch zahlreiche Passagen bleibt diese Chininfestigkeit, wie es ja auch bei anderen Arzneifestig- keiten der Fall ist, erhalten. (Projektion zahlreicher Versuchsreihen, deren Ergebnis durch täglich aufgenommene Diagramme dargestellt wird.) Es ist nun interessant und für die Chinintherapie der Malaria nicht unwichtig, dass bereits nach wenigen Chininschlägen in derselben Maus ein gewisser Grad von Chininfestigkeit eintreten kann, den wir als Halb- festigkeit bezeichnen. Wenn man eine trypanosomenhaltige Maus mit den üblichen Dosen von Hydrochinin und Aethylhydrocuprein behandelt, so kommt es in vereinzelten Fällen vor, dass überhaupt keine nennens- werte Einwirkung des Präparates auf die Trypanosomen stattfindet. Wenn man diese Trypanosomen auf neue Mäuse verimpft, so sieht man, dass schon ein Teil dieser Trypanosomen sich als chininfest erweist. (Projektion von Diagrammen, die das Verhalten dieser halbfesten Trypauosomenstämme demonstrieren.) Wie die Versuchstabellen zeigen, finden bei dieser ausserordentlich rasch einsetzenden Chininhalbfestigkeit leicht Rückschläge zur normalen Empfindlichkeit statt. Auf das rasche Entstehen dieser Chininhalbfestigkeit können mög- licherweise die vereinzelten Misserfolge der Chinintherapie bei der Pneumokokkeninfektion der Mäuse zurückgeführt werden, die nicht ohne Grund in Analogie zu unseren Trypanosomenexperimenten auf eine schnell einsetzende Chininfestigkeit der Pneumokokken zu beziehen sind. Es dürfte gerade bei der Malaria auf der Basis unserer Experimente auf eine derartige Chininfestigkeit der Malariaparasiten ein besonderes Augen- merk zu richten sein, da fehlerhafte therapeutische Maassnahmen ge- eignet sein dürften, eine Chininfestigkeit der Plasmodien, ein Versagen der Chinintherapie relativ rasch zu bedingen. Unsere chininfesten Trypanosomenstämme verhalten sich in Ueber- einstiramung mit analogen Beobachtungen Ehrlich’s gegenüber anderen trypanociden Agentien wie normale Trypanosomen , man kann sie z. B. durch Salvarsan oder Brechweinstein zum Verschwinden bringen. Wir konnten nun eine merkwürdige Beobachtung machen, als wir Reci- dive solcher chininfesteu Stämme nach Salvarsanbehandlung oder nach Brechweinsteinbehandlung untersuchten. Die Trypanosomen, die aus diesen Recidiven her'vorgegangen waren, hatten in den untersuchten Fällen mit einem Schlage die sonst dauernd erhaltene Chininfestigkeit verloren und, was das Interessanteste sein dürfte, sie waren gegen Chinin überempfindlich geworden. Es sind dies bisher die ein- zigen Trypanosomen, bei denen es gelungen ist, bereits mit einer In- jektion von Aethylhydrocuprein eine sterilisatio magna, eine definitive Heilung zu erzielen, was bei normalen, unbehandelten Trypanosomen 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. auch bei mehrtägiger Behandlung fast nie zu erreichen ist. Es sind dies auch die ersten bekannten arzneifesten Stämme, bei denen es ge- lungen ist, die Arzneifestigkeit im Recidiv zu brechen. Auf eine ein- gehendere Untersuchung nach dieser Richtung wurden wir durch einen von Billinger beschriebenen Malariafall aus der Klinik von Herrn Minkowrski geführt, der fast wie ein Laboratoriumsexperiment mit unseren Ergebnissen übereinstimmt. Dort handelte es sich um einen mit Lues kombinierten Fall von Tertiana, der sich gegenüber der üblichen Chininbehandlung als resistent erwies. Pat. wurde dann mit Salvarsaninjektionen behandelt, das TertiaDaparasiten zum Schwinden bringt. Pat. bekam nun nach einiger Zeit ein Malariarecidiv, und dieses war nun durch Chinin so ausgezeichnet zu beeinflussen, dass Pat. wäh- rend der ganzen Zeit der weiteren klinischen Beobachtung anfallsfrei blieb. Es bieten somit die klinische Beobachtung und unsere Tier- experimente so weitgehende Analogien, dass wir hier wohl ein bio- logisches Phänomen vor uns haben dürften, dem eine nicht unerhebliche theoretische und praktische Bedeutung zukommen dürfte. Analogien hierzu finden wir neuerdings auch in klinischen Beobachtungen bei der Syphilis. So wird von Hg-festen Syphilisfällen berichtet, die sich gegen- über der üblichen Quecksilbertherapie als refraktär erwiesen und nach Interposition einer Salvarsanbehandlung wieder durch Quecksilber zu beeinflussen waren1). (Die ausführliche Publikation erfolgt in der Zeitschrift für Hygiene und Infektionskrankheiten.) Klinischer Abend vom 16. Februar 1912. Vorsitzender: Herr Uhthoff. Hr. W. Uhthoff stellt 1. einen Fall von geheilter tuberkulöser Meningitis, besonders im Bereich der hinteren Schädelgrube mit doppel- seitiger Iridochorioiditis tuberculosa vor. Der 31jährige Patient erkrankte unter dem Bilde der doppelseitigen Iridochorioiditis tuberculosa (Knöt- chen in der Iris und tuberkulöse Herde der Chorioidea im Augenhinter- grund usw.) unter gleichzeitig ausgesprochenen cerebralen Erscheinungen (Kopfschmerz, Schwindel, cerebellarer Ataxie, rechtsseitiger Facialisparese). Nach monatelanger klinischer Behandlung (Tuberkulinkur) genas Pat. allmählich. Redner berichtet noch über einen zweiten Fall von intra- eraniellem tuberkulösen Prozess mit Solitärtuberkel in der Aderhaut und neuritiscber Opticusatrophie, der ebenfalls heilte, und geht dann noch auf die einschlägige Literatur ein. 2. Kind mit totaler angeborener Irideremie, bei dem es möglich war, die Veränderungen während des Accomodationsvorganges direkt zu beobachten (Vortreten der Ciliarfortsätze, Verkleinerung der Linsen- circumferenz). Besonders gut zeigen sich die Veränderungen am eseri- nisierten Auge. Die Vorgänge werden an zwei von Herrn Jendralski angefertigten Zeichnungen erläutert. 3. Ein seltener Fall von centraler recidivierender Retinitis syphi- litica, der jetzt 8 Jahre in Beobachtung des Vortragenden ist. Zuerst trat das positive, der Intensität nach wechselnde und recidivierende Skotom nur links auf, seit 3 Jahren auch rechts. Auf dem rechten Auge liegt das Skotom etwas exzentrisch nach oben. Auf dem linken Auge zeigten sich allmählich pathologische Pigmentveränderungen in der Gegend der 1) Vgl. hierzu J. Morgenroth und F. Rosenthal, Chemothera- peutische Beobachtungen. Gesellschaft der Chariteärzte, Sitzung vom 2. November 1911. Diese 'Wochensehr., 1912, Nr. 3. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 15 Macula lutea, auf dem rechten Auge sind auch jetzt trotz längeren Be- stehens der Sehstörung noch keine sicheren pathologischen Augenspiegel- Veränderungen nachweisbar. Redner geht dann auf diese seltenen Fälle näher ein und erwähnt noch einige andere eigene analoge Beobachtungen. In dem einen Fall war die Retinitis centralis syphilitica recidiv Vor- läufer einer progressiven Paralyse. 4. Ein Fall von hochgradig ansgesprochener Pupillarmembran anf beiden Angen. Die Veränderungen beeinträchtigten durch ihre Mächtigkeit das Sehen so sehr, dass zur Verbesserung der Sehschärfe operative Eingriffe nötig wurden. Links Iridektomie, rechts Lösung ein- zelner Stränge mit stumpfem Häkchen und Entfernung des benachbarten Irisstückchens. Noch in einem anderen Falle war Redner genötigt, wegen der hochgradigen Veränderungen der persistierenden Pupillarmembran einzugreifen. Redner knüpft hieran noch Bemerkungen über die even- tuelle zweckmässigste Art des Eingriffs bei derartigen Veränderungen. Diskussion. Ilr. Ludwig Mann: Ich habe den Patienten (Nr. 1) bereits im Sommer 1910, bevor er in die Behandlung der Augenklinik kam, unter- sucht; er zeigte damals eine ausgeprägte Ataxie von cerebellarem Charakter. Es war eine sehr hochgradige Ataxie bei vollkommen er- haltener Sensibilität. Die Sehnenreflexe waren in mässigem Grade ge- steigert, es bestand kein Babinski. Ausserdem fanden sich Kopfschmerzen und eine gewisse Benommenheit und Schlafsucht. Es lagein unzweifel- haft cerebraler Symptomenkomplex vor, der meiner Ansicht nach wesentlich auf das Kleinhirn zu beziehen war, eine präzise anatomische Diagnose vermochte ich jedoch nicht zu stellen. Der weitere Verlauf, den ich in der Königlichen Augenklinik zu be- obachten Gelegenheit hatte, zeigte eine allmähliche Besserung; zeitweise traten heftige Schmerzen im Leibe auf, die vielleicht als Wurzelreiz- erscheinungen gedeutet werden konnten und zeitweilig auf den Gemüts- zustand des Patienten sehr verstimmend einwirkten, so dass ein gewisser hysterisch-hypochondrischer Zug bei ihm auftrat. Dieser Umstand gab anderen Beobachtern Anlass zur Diagnose einer Hysterie; jedoch handelte es sich meiner Ansicht nach hier nur um accidentelle psychogene Mo- mente, während als Grundlage unzweifelhaft eine organische Veränderung angenommen werden musste. Allmählich trat, wie schon der Herr Vortragende hervorgehoben hat, vollkommene Heilung bis zum Verschwinden sämtlicher Symptome ein; zur- zeit ist der Befund vollständig normal. Ich glaube, dass die Deutung, die der Herr Vortragende dem Fall gegeben hat, die zutreffende ist. Es dürfte wohl eine tuberkulöse Meningitis anzunehmen sein, die sich wesentlich in der hinteren Schädelgrube, in der Umgebung dieses Cerebellums abgespielt hat, und die nunmehr vollkommen zur Heilung gekommen ist. Hr. ßogatscll: Ein 17 jähriger, sonst gesunder, kräftiger junger Mann sucht die Augenklinik auf, weil sein rechtes, immer schwächeres Auge seit etwa 8 Jahren stärker aus der Augenhöhle hervortritt; bereits bei Geburt soll das Auge „grösser“ gewesen sein. Es besteht ein mässiger Exophthalmus des rechten Auges, das sich mit Leichtigkeit vor die Lider luxieren lässt; es war etwas nach oben verdrängt, seine Beweglichkeit nur wenig beschränkt. Hinten und aussen vom Auge konnte man einen harten, ausgedehnten Tumor palpieren ; ophthalmoskopisch zeigten sich keinerlei Veränderungen; die Sehschärfe war leidlich; es wurde deshalb bei der Operation versucht, das Auge zu erhalten. Beim Eingehen in die Orbita platzte die Kapsel des Tumors und es entleerten sich in Mengen atherombreiartige Massen, die nach 16 Jahresbericht der SchLes. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Möglichkeit durch Spülen entfernt wurden. Der Tumor reichte, wie man beim Sondieren erkennen konnte, weit nach hinten und füllte den ganzen hinteren Orbitaltrichter aus. Der Heilverlauf gestaltet sich sehr langwierig, da die Höhle wenig Neigung hat, sich zu schliessen; das Auge an und für sich, sowie die Sehschärfe haben durch die Operation nicht gelitten. Es handelt sich hier um ein grosses Dermoid, das innerhalb der Augenhöhle hinter dem Bulbus lag, ein Sitz, der zu den seltneren gehört. II. Bei einer 56 jährigen Frau war das linke Auge im Verlauf von 27 Jahren allmählich immer mehr aus der Orbita herausgetreten und gleichzeitig nach hinten gedrängt worden ; der Exophthalmus betrug, mit dem Haertel’schen Exophthalmometer gemessen, ungefähr 10 mm ; die Be- weglichkeit des Auges war nur nach oben beschränkt, merkwürdig war, dass trotz der bedeutenden Dislokation nie über Doppelsehen geklagt wurde und auch das stereoskopische Sehen nicht wesentlich gelitten hatte, was nur durch den überaus langsamen Verlauf zu erklären ist. Hinter dem Orbitalrand fühlte man am Dach der Augenhöhle, am inneren Winkel beginnend, eine nach aussen an Stärke zunehmende, nicht verschiebliche Vorwölbung von harter Konsistenz. Das Röntgen- bild gab keinen Aufschluss. Bei der Operation entpuppte sie sich als ein etwa pflaumengrosser, harter Tumor, der sich in der Kapsel leicht aus der Umgebung herausschälen liess; prima intentio. Das Auge tritt wieder in die Orbita zurück. Histologisch zeigt es das Bild des Endothelioma lymphangiomatosum; reichliche Umwandlung des fibrösen in hyalines Gewebe; hier und da Uebergang der Endothelien in Bindegewebe; die Endothelzellen liegen in dicken Zapfen geschichtet und gegeneinander gedrückt mit oder ohne Uumen; sie sind oft nicht scharf gegen das fibröse Stroma abgegrenzt; ebenso verschmelzen benachbarte Cylinder miteinander. Im Inneren der Zapfen treten häufig kuglige hyaline Massen auf als Ausscheidungspro- dukt der Zellen; es entstehen so drüsenschlauchähnliche Bildungen, an denen die Zellen kubische bis cylindrische Gestalt haben können. Auch konzentrisch geschichtete Endothelperlen werden gefunden. Hr. ß. Wissmanr. ; Znr Frage der Örganllierapie bei Cataracta senilis. Redner bespricht zunächst die Theorie Römer’s über die Pathogenese der Cataracta senilis und in grossen Zügen die auf experimentellem Wege gefundenen Tatsachen, die die Theorie erklären sollen, geht dann zu den Arbeiten derer über, die experimentell über die Entstehung des Altersstars im Sinne der Römer’schen Theorie gearbeitet haben. (Miyashita, Bürgers, Salus, Schirmer, Börnstein, Wiss- mann.) Sowohl die noch nicht abgeschlossene Beweiskette, besonders die noch ungeklärte Frage, wie das Linsenei weiss vom Magendarmkanal resorbiert wird, als auch die von Römer erzielten Erfolge bei seiner Organtherapie sind noch nicht überzeugend genug, um zu einer der- artigen Therapie aufzufordern. Hr. K. Langenbeck bespricht unter Vorführungen von Kranken und Berichten von Krankengeschichten die Aetiologie der Neuritis retro- bnlbaris auf Grund von 77 an der Klinik behandelten Fällen. Wenngleich die multiple Sklerose mit eine Hauptursache der Neu- ritis retrobulbaris ist, kann sie nicht als alleiniges ätiologisches Moment angesehen werden. Das häufige doppelseitige Auftreten der Erkrankung gerade bei Männern in jüngerem Lebensalter, wobei es nicht gelingt, eine Ursache zu finden, deutet in Analogie zur hereditären Sehnervenatrophie I. Abteilung. Medizinische Sektion. 17 auf das Bestehen einer besonderen Disposition junger Leute zu einer für sich bestehenden, isolierten Sehnervenerkrankung hin. (Idiopathische, retrobulbäre Neuritis junger Männer.) In seltenen Fällen können auch Erkältungen, plötzlicher, starker Blutverlust, Nebenhöhlenaffektion u. a. als ätiologische Momente nicht abgelehnt werden. (Der Vortrag wird als Originalarbeit erscheinen.) Hr. F. Jendralski spricht über Salvarsan und Neurorecidiv. Er berichtet von 5 Fällen, bei denen nach Salvarsaninjektionen auffällige Komplikationen auftraten. I. Eine 32 jährige Frau erkrankt 3 Monate nach einer intramusku- lären Salvarsaninjektion an Doppeltsehen. Nach zwei weiteren Injektionen bessert sich der Zustand wieder. II. Ein 23jähriges Mädchen mit Iritis condylom. bekommt ein Monat nach zwei intravenösen Salvarsaninjektionen eine rechtsseitige Neu- ritis opt. Auf eine dritte intramuskuläre Injektion geht die Sehnerven- entzündung rasch zurück. III. Bei einem 53 jährigen Patienten, der sich vor 25 Jahren luetisch infiziert hat, tritt drei Monate nach einer subcutanen Salvarsaninjektion (ausgedehnte Nekrose an der Injektionsstelle) eine rechtsseitige Neu- ritis opt. auf. IV. Ein 25 jähriger Patient, der bald nach einer luetischen In- fektion mit fünf intravenösen Salvarsaninjektionen behandelt worden war, erkrankt acht Monate nach der Infektion, ein Monat nach der letzten Injektion an Neuroretinitis haemorrhagica, die trotz intensiver Behand- lung in einem Jahre zu vollständiger Degeneration und Ablösung der Netzhaut führt. V. Ein 28 jähriger Patient bekommt ein Jahr nach der Infektion, sechs Wochen nach einer intramuskulären Salvarsaninjektion Nebelsehen auf dem rechten Auge. Trotz Jod und Hg verschlechtert sich der Zu- stand, daher fünf Monate später wieder zwei Salvarsaninjektionen. Das Auge wurde ein Monat darauf viel schlechter. Ein Jahr nach Auf- treten der Sehstörungen sind noch viele starke Glaskörperhämorrhagien sichtbar. (Ausführliche Mitteilung in einer demnächst erscheinenden Doktor- dissertation.) Im Anschluss daran berichtet Redner über die verschiedenen be- züglich der Aetiologie der Neurorecidive nach Salvarsaninjektionen herrschenden Ansichten. Klinischer Abend vom 23. Februar 1912. Vorsitzender: Herr Küttner. Hr. Küttner: 1. Die Gefahren der Naht aceidenteller Gelenkwunden. Demonstration von 4 Patienten, welche sämtlich infolge der früh- zeitig nach der Verletzung ausgeführten Naht frischer Gelenkwunden schwerste Infektionen akquirierten. 3 Kranke mussten amputiert werden, zwei am Oberarm, einer am Oberschenkel, einer wurde trotzdem pyämisch, konnte aber nach Inzision zahlreicher Metastasen gerettet werden. Bei dem 4. Patienten gelang es, durch Resektion des Fussgelenkes der Eite- rung Herr zu werden. Die Gefahr der Naht bei frischen Gelenkwunden beruht darin, dass die ganze Gelenkhöhle zur Wunde gehört, eine An- frischung also nicht möglich ist, und dass die Gelenke überaus empfänglich für Infektionen sind. Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Kultur. 1912. I. 2 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Im Anschlüsse an die Demonstration präzisiert Redner seinen Stand- punkt über die Naht accidenteller Wunden. 2. Transplantationen. a) Ersatz der Fibula bei kongenitalem Defekt durch die Fibula eines jungen Affen (Makaken). Für den Ersatz ganzer Kinderknochen ist kein Material in gleicher Weise geeignet, wegen der ausserordentlichen Aehnlicbkeit der Knochen- form und des Vorhandenseins von Epiphysenlinien. Die Technik ist in den Verhandlungen der Breslauer chirurgischen Gesellschaft vom 11. De- zember 1911 (s. Berliner klin. Wochenschr., 1912, Nr. 8) beschrieben. Der Knochen ist seit einem Vierteljahre reaktionslos eingeheilt. b) Dauerresultat einer Transplantation aus der Leiche. Die Einpflanzung des oberen Femurdrittels mit Hüftgelenkkopf liegt iy2 Jahre zurück. Das Implantat zeigte keine Spur von Resorption, hat zur Konsolidation einer Fraktur beigetragen und zeigt Umformung seiner Knochenstruktur. c) Transplantation des Schultergelenkes aus der Leiche nach Exstirpation einer Tuberkulose nach Art eines malignen Tumors. Völlige Ausheilung des Prozesses und Einheilung des Implantates seit 3/4 Jahren. Obwohl wegen der Atrophie der Diaphyse nicht gebolzt werden konnte und die Knochennaht nicht hielt, ist das Resultat ein sehr gutes ge- worden, auch in kosmetischer Beziehung. Das Implantat ist reaktionslos eingeheilt geblieben, obwohl es vor der Einpflanzung infolge zu beträcht- licher Dimensionen sehr ausgiebig mit Säge, Resektionsmesser und Hohl- meisselzange modelliert werden musste. d) Ersatz des ein Chondrom tragenden 5. Metacarpus einer jungen Dame durch Implantation einer Hammerzehe der gleichen Patientin. Volle Beweglichkeit des 5. Fingers schon nach drei Wochen. Sehr gutes, in diesem Falle besonders wichtiges kosmetisches Resultat. e) Freie Fascientransplantation zum Verschluss einer Muskel- hernie der Unterschenkelextensoren. f) Freie Fascientransplantation zur Mobilisierung eines anky- lotischen Ellenbogengelenkes. 3. Gangrän der oberen Extremilät durch Gasphlegmone. Redner hat diese schwersten Phlegmonen im Frieden sehr selten, häufiger im Kriege gesehen. Erreger in diesem Falle anaerobe Strepto- kokken und verschiedene anaerobe Fäulnisbakterien. 4. Demonstration von Raritäten ans der Lehre von der eingeklemmten und freien Hernie, in den letzten 4 Jahren beobachtet. a) Seltene Bruchformen: Hernia supravesicalis, Hernia inter- parietalis, zwei Hernien der Spiegel’schen Linie, Durchtritt einer Hernia epigastrica durch ein Loch im Schwertfortsatze des Brustbeines, Incarce- rationserscheinungen bei Pseudohernien durch Bauchmuskellähmung und kongenitalen Bauchmuskeldefekt, Hernia obturatoria incarcerata, Hernia Treitzii. b) Seltener Bruchinhalt: Harnblasenbrüche, Gleitbrüche des Dickdarms, Incarceration der Tube während der Menstruation, Darm- wandbrüche, ein Fall von echter Littre’scher Hernie (Einklemmung des Meckel’schen Divertikels). c) Seltene pathologische Veränderungen des Bruchsacks. 2 Fälle von Carcinommetastasen im Bruchsack, 5 Fälle von Bruchsack- tuberkulose, Kammerbildungen im Bruchsack ohne und mit Incarceration. d) Seltene pathologische Veränderungen des Bruch- inhaltes. Fall von eingeklemmter Hernie -j- Samenstrangtorsion, Fälle I. Abteilung. Medizinische Sektion. 19 von Netztorsion im Bruchsack, darunter einer von Appendicitis mit Netz- torsion im Bruchsack, Fremdkörperperforation des Darmes in einer Leisten- hernie, appendicitische Abscesse im Bruchsack, gangränöse Appendicitis im Bruchsack, akute und chronische Einklemmung des isoliert im Bruch- sack liegenden Wurmfortsatzes, Hernie en W. (retrograde Incarceration). e) Schädigung durch Taxis. Fall von Zerreissung des Bruch- sackes durch forcierte Taxis, Fall von Reposition der gangränösen und perforierten Dünndarmschlinge, 3 Fälle von Reposition en bloc. Hr. Förster: Dauerresultate der operativen Behandlung der Little’schen Krankheit mittels Wurzelresektion. Yortr. stellt drei Fälle von schwerer Little’scher Krankheit vor, die vor 4, 3 und 2^2 Jahren operiert worden sind. Das Resultat ist in den Fällen dauernd besser geworden. Allerdings ist zur Erzielung derselben notwendig, dass unausgesetzt systematische Gehübungen mit den Kindern vorgenommen werden. Unterbleibt dies, so bleiben aueh die praktisch brauchbaren Resultate aus. Der erste der drei vorgestellten Fälle läuft jetzt stundenlang ohne jede Hilfe allein umher. Der Gang hat nur noch etwas Schwankendes. Der zweite Kranke geht an zwei Krücken sehr lange mit grossen langen Schritten. Der Dritte kann auch ohne jede Hilfe allein gehen, doch hat der Gang hier noch etwas Unsichereres wie bei dem ersten Kranken. Hr. Küttner betont den Unterschied in den Resultaten nach der Förster’schen Operation in der allgemeinen und privaten Praxis. In letzterer sind die Resultate viel besser, da die überaus wichtige dauernde Uebungstherapie mit grösserer Konsequenz durchgeführt wird. Hr. Forsclibach demonstriert eine 35jährige Frau, bei der bei an- scheinend völliger Luugengesundheit vor 4 Monaten beim Heben einer schweren Last ein linksseitiger Pneumothorax ohne Exsudat entstanden ist. Druckmessungen im Pleuraraum bestätigen vor 2 Monaten die An- nahme, dass die Lungenfistel sich bereits geschlossen hatte. Es gelang durch Aspiration der Pleuraluft (1500 resp. 1200 ccm) in 2 Sitzungen, die Lunge wieder völlig auszudehnen. An einer Serie von Röntgen- bildern werden die verschiedenen Stadien der Heilung erläutert. Hr. Dreyer: Zur Drainage des Thorax nach intrathorakalen Operationen. M. H.! Unter den schwebenden Tagesfragen beginnt neuerdings eine Rolle zu spielen die Erörterung über eine Drainage des Thorax nach intrathorakalen Operationen. Man kann natürlich hier nicht einfach so drainieren, wie wir das sonst gewöhnlich bei unseren Wunden an anderen Stellen des Körpers zu tun pflegen, wegen der grossen Gefahr des Luft- eintrittes in die Pleurahöhle. Es sind nun unter diesem Gesichtspunkt verschiedene Vorschläge, so speziell von Tiegel und W. Meyer in New York gemacht worden, die aber mehr oder weniger kompliziert er- scheinen. Ich habe mich ebenfalls experimentell etwas mit diesem Gegen- stand befasst und möchte Ihnen hier einen Hund vorführen (Demon- stration), der, glaube ich, zeigt, dass man eine wirksame Drainage des Thorax doch in recht einfacher Weise bewerkstelligen kann. Dem Hund wurde vorgestern abend zu noch anderen Zwecken der Thorax breit er- öffnet und dann wegen zu erwartenden Exsudates ein oben zugebundenes Drain in gleich zu beschreibender Weise eingeführt. Zunächst einmal hat der Hund, obwohl sogar von dem Versuch, durch Verband einen luftdichten Abschluss zu erzielen, abgesehen wurde, keinen Pneumothorax bekommen, und das Funktionieren des Drains habe ich gestern erprobt. Ich habe eine grosse luftdicht schliessende Spritze auf die Mündung des 2* 20 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Drainrohres aufgesetzt, den letzteres verschliessenden Faden gelöst und 100 ccm dieses blutig-serösen Exsudates aufgesogen, dann das Drainrohr wieder zugebunden und die Spritze abgenommen. Auch heute bietet der Hund keinerlei Anzeichen eines Pneumothorax. Zur Technik sei kurz folgendes angeführt: Es wird ein Hautlappen und ein Muskellappen gebildet, und zwar letzterer kleiner wie ersterer, so dass sich später die Nahtreihen nicht decken. Das Drain wird dann genau in der Art eingenäht, wie es von Witzei für die Magenfistel an- gegeben worden ist. Der gesamte Verschluss der Pleurahöhle geschieht ausschliesslich durch Knopf-, nicht durch fortlaufende Naht. Hr. Fritsch stellt 2 Fälle von Spätrecidiv nach Main macar ein om- Operationen vor. Bei der ersten Frau handelte es sich um eine recidiv- freie Zeit von 12 Jahren, bei der zweiten von nicht weniger als 22 Jahren. Es muss sich also in beiden Fällen um sehr langsam wachsende Carcinome gehandelt haben; denn wie schon Jordan 1904 betonte, ist die Proliferationsenergie des Primärtumors entscheidend für die Ent- stehungszeit des Recidivs. Bei dem ersten Fall war dies schon durch die Anamnese ausge- sprochen, indem die Frau schon seit 4 Jahren vor der Operation eine „Verhärtung“ in ihrer Brust fühlte. Bei solchen Fällen kann man also von vornherein auf Spätrecidive gefasst sein, und man sollte bei ihnen bei Aufstellung von Statistiken auch gleich von vornherein einen längeren Termin als 5 Jahre, wie es gewöhnlich geschieht, verlangen, ehe man sie zu den Dauerheilungen zählt. Hr. Küttner macht auf die Spätmetastasen nach Mammacarcinom aufmerksam. So sah er Metastasen im Schädelknochen in 3 Fällen erst nach der Karenzzeit von 5 Jahren auftreten. Hr. Richard Levy spricht a) über postoperative Parotitis. Diese Komplikation, die man zuerst nur nach Ovariotomien sah, wurde später häufiger auch nach anderen Operationen beobachtet, immerhin am meisten nach Laparotomien. Wegen des Auftretens nach Ovariotomien und wegen des Vorkommens von Orchitis bei epidemischer Parotitis waren Beziehungen zwischen Keimdrüsen und Ohrspeicheldrüsen supponiert worden, für die Beweise aber nicht zu erbringen waren. Be- züglich des Zustandekommens der postoperativen Parotitis stehen sich zwei Ansichten gegenüber, von denen die eine die Infektion von der Mundhöhle aus, die andere die vom Blutwege aus beschuldigt. Eine Einigung ist noch nicht erzielt. Die neueren Autoren scheinen alle der Annahme einer Mundinfektion geneigter zu sein, doch kann sich Redner diesen nicht anschliessen. In der Breslauer Klinik wurden in den letzten 10 Jahren 24 Fälle postoperativer Parotitis beobachtet mit 12 Todesfällen. In die Direktorialzeit von Herrn Küttner entfallen 14 Erkrankungen, wovon 4 spontan zurückgingen, 4 auf Inzision heilten und 6 starben. Unter diesen 14 Fällen befindet sich auch ein Fall postoperativer Sublingualis- entzündung. Die Parotitis stellte sich 24 Stunden bis 22 Tage nach der Operation ein, und es erscheint dem Vortr. schon hieraus zweifelhaft, einen Schluss auf Mundinfektion ziehen zu können. Denn selbst bei schweren Magendarmoperationen werden die Patienten nach drei Wochen schon so reichlich per os ernährt, dass eine Funktionslosigkeit der Speicheldrüse als disponierendes Moment kaum angeführt werden kann. Ebenso ist es unwahrscheinlich, dass innerhalb 24 Stunden vom Munde aus schon eine so schwere diffuse Entzündung der Parotitis statthaben könnte. Man hat auch Pawlow’s Versuch angeführt, dass bei Vorziehen einer Darm- schlinge die Speichelsekretion nachlässt; das kommt aber bei extra- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 21 peritonealen Operationen gar nicht in Betracht, auch der Einfluss der Narkose wird überschätzt. Die bakteriologische Untersuchung von 7 Fällen ergab stets Staphylokokken in Reinkultur. Auch sonst wird dieser Erreger meist dabei gefunden. Bei denjenigen Fällen, bei denen Mischinfektionen Vor- lagen (Rüttermann, Desforger - Moriel), handelte es sich um Infektion von schwerer Gingivitis aus. Es ist ja auch klar, dass eine Mundinfektion nicht mit solcher Regelmässigkeit durch eine Bakterienart erzeugt werden kann, wie ja die Parulis, die häufigste von der Mund- höhle her entstehende Eiterung zeigt. Aber auch der ganze klinische Verlauf lässt annehmen, dass bei der postoperativen Parotitis eine Infektion auf dem Blutwege vorliegt, dass die Erkrankung nur eine Teilerscheinung einer allgemeinen septischen Erkrankung darstellt. So waren von den beobachteten, zum Exitus ge- kommenen Fällen gleichzeitig oder vor Auftreten der Parotitis klinisch septisch 5, chronischen Icterus mit Fieberattacken vorher hatten 2, in 3 weiteren Fällen ergab die Sektion metastasische Abscesse, infizierte Emboli und Peritonitis. Bei einem Teil der Fälle war die Obduktion verweigert. Am stichhaltigsten von den für die Mundinfektion angeführten Gründen erschienen die pathologisch-anatomischen Befunde. Orth u. a. sahen die Veränderungen im Centrum der Drüsenschläuche zunächst dem Beginn der Ausführungsgänge, und erst sekundär soll die Ein- schmelzung des entfernter gelegenen Drüsengewebes durch Weitergreifen erfolgen. Redner sieht das nicht als Beweis einer ascendierenden Infektion an, sondern verweist auf ähnliche Zustände an der Niere, wie sie von Orth als Nephritis papillaris mycotica (Ausscheidungsherde) beschrieben sind. Im Blute kreisende Bakterien können in der Niere die Gefässbabn verlassen und durch die ganze Nierensubstanz bis in die Papillen hinein- wandern, wo sie in den Markkegeln als helle Streifen sichtbar sind; von hier aus können sie schliesslich auch zur Einschmelzung des benach- barten Gewebes führen. Für die Parotis, die ebenfalls ein reichlich sezernierendes, blutreiches Organ ist, wäre die gleiche Möglichkeit denkbar, da ja auch bekanntlich andere Substanzen durch die Speichel- drüsen ausgeschieden werden. In den den Ausführungsgängen zunächst liegenden Partien sammeln sich dann die aus dem ganzen Organ ausgeschiedenen Keime und werden hier hauptsächlich Ursache von Entzündungserscheinungen. Jedenfalls scheint die Annahme einer Infektion auf dem Blutwege für den Redner viel berechtigter als die von der Mundhöhle aus. Diskussion. Hr. Gottstein warnt davor, die Operation selbst in allen Fällen für die Entstehung der Parotitis verantwortlich zu machen. Er konnte einen Fall beobachten, bei dem sich am Morgen des Tages, an dem die Magenoperation ausgeführt werden sollte, die ersten Zeichen einer Parotitis zeigten, so dass die Operation unterbleiben musste. b) Demonstration eines Falles von juveniler Schenkelhalsfraktur und der zugehörigen Röntgenbilder. Eingekeilte extracapsuläre Fraktur mit starker Coxa- vara - Stellung heilte auf Redressement mit Gipsverband mit völlig normaler Funktion. Jetzt nach 2l/2 Jahren noch funktionell tadelloses Resultat, nur hat die Abduktion um 5° abgenommen. Im Röntgenbild sieht man die Fraktur- stelle knöchern verheilt, doch findet sich an der Grenze von Schenkel- hals und Epiphysenfuge eine eigenartige Einrollung, die an die für Coxa vara adolescentium charakteristische Veränderung erinnert. (Siehe Figur.) 22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Hr. Hörz zeigt einen Fall von entzündlichem Bauchdeckentumor infolge Fremdkörperperforation aus dem Darm. Der Patient war plötzlich mit stechenden Schmerzen in der rechten Leistengegend erkrankt und hatte dort eine Geschwulst bemerkt, die sich in der Folgezeit langsam vergrösserte. Bei der Aufnahme in die Klinik fand sich dicht medial vom rechten äusseren Leistenring ein circumscripter, dem Becken unverschieblich auf- sitzender Tumor, der ganz den Eindruck einer echten Geschwulst machte. Bei der Operation zeigte sich jedoch an der Innenfläche des Tumors eine adhärente Dünndarmschlinge, nach deren Ablösung man aus dem Tumor eine spitze Knochenspange hervorragen sah. Somit war das einen Tumor vortäuschende Infiltrat verursacht worden durch einen aus dem Darm in die Bauchdecken perforierten Fremdkörper. Hr. Hörz zeigt kurz noch einen zweiten Fall von Fremdkörper- perforation. In diesem Fall hatte der Fremdkörper — wiederum ein Knochenstück — den ganzen Darmkanal passiert und erst im Rectum die Schleimhaut perforiert, hier zu einem periproktitischen Abscess führend. Im Anschluss an den zuerst vorgestellten Fall bespricht Vortragender die entzündlichen Bauchdeckentumoren nach Appendicitis. Im An- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 23 Schluss an Appendicitis kommt es nämlich in seltenen Fällen zu circum- scripten harten Infiltraten der Bauchdecken, die langsam grösser werden und wenig oder gar nicht druckempfindlich sind. Ihre Entstehung verdanken diese Infiltrate wohl immer Verwachsungen der Baucheingeweide mit der vorderen Bauchwand; Entzündungspro- zesse der Eingeweide können sich so auf die vordere Bauchwand fort- pflanzen. Da die Infiltrate im Centrum kleine Abscesse zu enthalten pflegen, empfiehlt sich als Therapie einfache Incision, nach welcher die Infiltrate langsam zurückgehen. Weiterhin zeigt Herr Hörz zwei Präparate von sogenannten Neu- romen. Das erste war ein kleinapfelgrosser Tumor des Nervus radialis, der durch Kontinuitätsresektion aus dem Nerven entfernt wurde. Im zweiten Fall handelte es sich um ein typisches Tuberculum dolorosum an der Aussenseite des Unterschenkels, das bei der Operation im Zusammenhang befunden wurde mit einem kleinen Hautnervenast. In beiden Fällen ergab die mikroskopische Untersuchung reines Fibrom ohne Beimengung markhaltiger Nervenfasern. Hr. W. V. Simon: Akute myeloische (Ihlorolenkämie unter dem klinischen Bilde eines malignen Mammatumors. (Siehe Teil II.) Hr. Wolff: Plexuslähmung hei Wirbelsänlenfraktur. Vortr. demonstriert zwei Fälle von Plexuslähmungen nach Wirbel- säulenverletzungen. Es handelt sich einmal um einen 23 jährigen Mann, der in der Dunkelheit mit voller Wucht mit dem Rade gegen einen Baum gefahren war. Dieser hatte ihn zwischen Hals und Schulter ge- troffen. Der ganze rechte Arm war sofort gelähmt. Die genaue Unter- suchung bei seiner Aufnahme ergab einen interessanten Befund. Während das .Röntgenbild eine Fraktur der Querfortsätze des 5. bis 7. Halswirbels zeigte, fand sich ein grosser Teil der Armmuskulatur in regelloser Weise teils völlig gelähmt, teils mehr oder weniger paretisch. Sehr interessant war dabei eine Beteiligung des Accessorius (Lähmung des Musculi trapezius und Sternocleidomastoideus) und des Sympathicus (Lähmung des Dilatator pupillae und Müller’schen Lidmuskels rechts). Ver- schiedene Gründe, die erwähnt werden, sprechen gegen eine periphere oder radiculäre Verletzung, besonders die auffallend geringe Sensibilitäts- störung. Es fand sich nämlich nur ein sehr schmaler, kurzer Streifen an der Radialseite gestört. Wahrscheinlich handelt es sich als Haupt- ursache der Ausfälle um eine Hämatomyelie. Der zweite Fall betrifft einen 21 jährigen jungen Mann, der sich einen Bruch des 7. Halswirbels durch Sturz vom Rade zuzog. Es fanden sich hier die Symptome einer vollkommenen Querschnittsläsion des Marks. Es fand sich ferner ent- sprechend der Verletzung des 8. C. -Segments der Klumke’sche Sym- ptomenkomplex. Hier ermöglichten die Erscheinungen von seiten der Pupillen sofort die Diagnose der Höhe der Verletzung. Entsprechend der direkten Schädigung durch die Wirbelverletzung waren in diesem Falle die Erscheinungen konstant, während im ersteren Falle die durch die Hämatomyelie bedingten, so auch die Pupillenstörung allmählich zurückgingen. Diskussion. Hr. 0. Foerster: Es handelt sich bei beiden der vorgestellten Fälle zweifellos um Hämatomyelie und nicht um Plexuslähmung. Im ersten Falle spricht einmal die Form der sensiblen Störungen dafür, ausserdem aber auch die Verteilung der Lähmung über die einzelnen Muskelgruppen, die einer exquisit segmentalen Anordnung entspricht. Höchst inter- essant ist die Tatsache, dass in beiden Fällen der Sympathicus be- 24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. troffen ist und der Dilatator pupillae gelähmt ist. Trotzdem ist in den beiden Fällen die Störung verschieden zu bewerten. Im zweiten Falle sind wir berechtigt, anzunehmen, dass der spinale Kern des Dilatator pupillae im ersten Dorsalsegmente lädiert ist, da gleichzeitig eine Reihe anderer vom ersten Dorsalsegment entspringer Muskeln ergriffen sind. Im ersten Falle dagegen ist dieses Segment völlig frei, schuld an der Dilatatorlähmung ist hier die vom Mittelhirn her absteigende durchs ganze Halsmark in den Seitensträngen bis zum ersten Dorsalsegment ab- wärts verlaufende Bahn, welche die Dilatation der Pupille zu vermitteln hat. Im zweiten Falle haben wir also eine Kernlähmung, im ersten Falle eine supranucleäre Lähmung, durch Zerstörung einer centralen in den Strängen verlaufenden Bahn. Die auf diese letztere Weise zu- stande kommende Lähmung des Dilatator pupillae tritt ein bei Läsionen der Stränge des Halsmarks, ganz einerlei in welcher Höhe. Sitzung vom 1. März 1912. Vorsitzender: Herr Minkowski. Schriftführer: Herr Rosenfeld. Hr. Tobler: Ueber Beziehungen zwischen Wasser und Kochsalz im Organismus nach Untersuchungen in den Monte Rosa-Laboratorien. (Erscheint an anderer Stelle.) Diskussion. Hr. Rosenfeld weist darauf hin, dass auch beim Beginn von Entfettungskuren sich analoge Gewichtsverluste bis zu 4000 g am ersten Tage zeigen. Man sah sie sowohl bei der Oertel’schen Kur, durch Flüssigkeitsentziehung bewirkt (und dann schnell verschwindend), als sie sich auch bei der Rosenfeld’schen Kur beobachten Hessen, hier allerdings ohne jede Wasseraufnahmeverminderung, im Gegenteil bei reichlicher Wasserzufuhr und dann bleibend. Auch diese Fälle verdienen es in Hinsicht auf die NaCl- Ausscheidung, studiert zu werden. Hr. Lenz: Centrale Farbenblindheit. Vortr. berichtet an der Hand eigener Beobachtungen und auf Grund der einschlägigen Literatur über die centrale Farbenblindbeit, die stets auf eine doppelseitige Hemianopsie zurückzuführen ist. Es beweist dies das Gesichtsfeld, das zu irgendeiner Zeit, namentlich zur Zeit der Rück- bildung der Störung eigentlich immer einen hemianopischen Typus er- kennen lässt. Als Ursache kommen fast immer Blutungs- und Er- weichungsprozesse im centralen Teil der Sehbahn in Betracht, demzufolge die Sehstörung meist apoplectiform auftritt. Die schwerste Form derselben ist der Verlust jeglicher Farben- empfindung, wobei dann alle Farben nur als ein mehr oder weniger dunkles Grau erscheinen. In dieser Schwere ist die Störung bisher jedoch noch nicht lange Zeit hindurch — mehr als einige Monate — beobachtet worden. Entweder starb der Patient bald, oder es kehrte eine gewisse Farbenwahrnehmung zurück, in erster Linie für Blau und Rot, wobei aber die Perception auch für diese Farben meist noch quantitativ recht erheblich gestört bleiben kann. Doch ist auch voll- ständige Restitutio ad integrum beobachtet worden. Eine Unterscheidung von den verschiedenen Formen der angeborenen Farbenblindheit ist relativ leicht möglich. Im Anschluss an die wenigen Fälle, wo bei schwerer Störung des Farbensinnes der Raumsinn völlig intakt geblieben war, wo also eine vollständige Dissociierung beider stattgefunden hatte, erörtert der Vortr. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 25 schliesslich die Frage nach der Existenz eines besonderen Centrums für den Farbensinn, wie man es im Gyrus fusiformis angenommen hatte. Er lehnt ein solches aus verschiedenen Gründen ab und sieht in dem Farben- sinn eine höhere und deshalb besonders leicht lädierbare Funktion ein und desselben Sehcentrums, das heute mit Sicherheit in das Gebiet der Fissura calcarina zu lokalisieren ist. Sitzung vom 8. März 1912. Vorsitzender: Herr Minkowski. Schriftführer: Herr Partsch. 1. Hr. Hiirtlile: Ueber die Beziehung zwischen Druck und Geschwindigkeit in den Arterien (gilt das Poisseuille’sche Gesetz?). (Siehe Teil II.) 2. Hr. Rothmann: Ist eine experimentelle Umkehr des Blntstromes möglich? (Siehe Teil II.) Diskussion. Hr. Coenen: Die experimentellen Ergebnisse von Herrn Rothmann bringen in dankenswerter Weise eine Bestätigung meiner mit Herrn Wiewiorowski zusammen verfassten Arbeit über das Problem der Umkehr des Blutstroms1)- In einer neuen Versuchsserie, in welcher bei Hunden der Collateralkreislauf der hinteren Extremität durch Abbindung der Collateralen stark reduziert wurde, konnte ich feststellen, dass unter solchen Verhältnissen die arteriovenöse Anastomose nicht die Ernährung der Extremität aufrecht erhalten kann, so dass diese der Nekrose verfällt. In scheinbar gelungenen Versuchen mit der arteriovenösen Gefässfistel versorgt nicht diese die Extremität mit arteriellem Blut, sondern der sich ausbildende Collateralkreislauf. Herr Rothmann fand, dass in einfachen Capillarbezirken, z. B. im Mesenterium des Frosches, eine umgekehrte Durchströmung möglich ist, dass aber auch hier die rückläufige Strömung nicht normal zu nennen ist, weil der grösste Teil der Flüssigkeit als Oe dem ins Gewebe übergeht. An komplizierter gebauten Capillar- gebieten, z. B. in der Niere, ist eine rückläufige Durchströmung mir in keinem Falle gelungen; die rückläufige Flüssigkeit gelangt im besten Falle bis in die Glomeruli, aber nicht weiter. Nur in der Lunge konnten wir mit Sicherheit eine rückläufige Durchströmung erzielen. Dies hängt wohl mit der grösseren Breite der Lungencapillaren zusammen. Die Milz verhielt sich ähnlich wie die Niere, während an der Schilddrüse die rück- läufig injizierte Flüssigkeit sofort durch die Klappen der Thyreoidalvenen aufgehalten wurde und gar nicht in das Parenchym eintrat. Auf die klinischen Resultate mit der arteriovenösen Blutüberleitung will ich hier nicht eingehen, sondern nur betonen, dass es Bedenken erregen muss, wenn unter den neueren als gelungen publizierten Fällen von arteriovenöser Blutüberleitung in einem Falle angegeben wird, dass nach der Operation nicht nur die Schmerzen auf der operierten Seite nachliessen, sondern auch auf der anderen Seite, wenn ferner in einem anderen Falle nach der gut gelungenen Operation ein Vierteljahr später die Absetzung erfolgen musste. Wir müssen somit dabei stehen bleiben, dass für diese Operation die anatomischen und physiologischen Be- dingungen nicht erfüllt sind. 1) Festschrift für die Universität Breslau, Bruns’ Beitr., Ba. 75. 26 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Hr. Wiewiorowski weist auf die Stellung der Venenklappen in der Frage der Umkehr des Blutstromes hin. Nach seinen Erfahrungen, die sich besonders auf Versuche an der Leiche beziehen, seien die Venen- klappen imstande, dem arteriellen Druck des in die Vene eingeleiteten Blutstromes zu widerstehen. Bei zwei Versuchen an der Oberschenkel- vene des Hundes sei es jedoch zum Reissen der Klappen bei starkem retrogradem Druck gekommen, eine Erscheinung, die Redner am menschlichen Leichnam nie beobachtet hätte. Die Widerstandsfähig- keit der Femoralvenenklappen beim Hunde sei also schwächer als die beim Menschen, weshalb die Beobachtungen mehrerer Autoren, dass im Hundeversuch die Klappen überwunden würden, mit Vorsicht auf den Menschen zu übertragen seien. Natürlich Hessen Leichenversuche niemals bindende Schlüsse zu, doch könnten derartige Versuche in Verbindung mit Tierversuchen und den Beobachtungen am Menschen sehr wohl ver- wertet werden1). Nachdem das Blut an den starken Klappen der Vena femoralis einen genügenden Widerstand gefunden hat, suche es sich den bequemeren Weg durch die seitlichen Venenäste und gelange dann in das Gebiet der Vena saphena, um dort zurück zum Herzen zu strömen. An der Leiche hat Redner diese Erscheinung sowohl an der Femoral- wie an der Brachialvene beobachtet; im Tierversuch sei in der Literatur ebenfalls darüber berichtet. Die anatomischen Venen- verhältnisse am Bein, die Kommunikationen zwischen oberflächlichen und tiefen Venen und deren von Klotz besonders beschriebene Klappen- verhältnisse begünstigten das Abfliessen des Blutes auf dem kürzesten Wege unter Vermeidung der Capillaren. Redner weist endlich noch auf die Gefahr der Thrombose hin, die durch den Widerstand der Klappen bedingt sei. Redner steht auf dem Standpunkt, dass die gesunden Venenklappen einen Hauptfaktor für das Misslingen der Umkehr des Blutstromes bzw. der arteriovenösen Umschaltung bei arteriosklerotischer Beingangrän bilden. Sitzung vom 15. März 1912. Vorsitzender: Herr Minkowski. Schriftführer: Herr Rosenfeld. Hr. G. Baermann-Deli-Surnatra (a. G.): Die Assanierung grosser Arbeitermassen in tropischen Ländern. (Mit Demonstration von Kurventafeln und Lichtbildern.) Autoreferat. (Der Vortrag erscheint erweitert mit Einschluss der demonstrierten Kurventafeln und Lichtbilder als Beiheft des Archivs für Schiffs- und Tropenhygiene.) 1. Kurze Beschreibung der lokalen Verhältnisse: Deli ist ein Teil der Residentschaft Ostküste von Sumatra, liegt um den 100. Grad öst- licher Länge, 3 — 4 Grad nördlicher Breite, erstreckt sich in einer Länge von 200 km längs der Strasse von Malacca, reicht etwa 80 km land- einwärts bis zum centralen Gebirgsgürtel. Tropisches Klima mit einer jährlichen Durchschnittstemperatur von 26 Grad, wenig ausgeprägten Regen- und Trockenperioden, 75 pCt. Luft- feuchtigkeit. Ausgedehnte Bodenwirtschaft. Kultur: Tabak, Kaffe, Kaut- schuk. Petroleum. 2. Die eingesessene Bevölkerung ist zur Arbeitsleistung auf den Pflanzungen ungeeignet, deshalb werden grosse Massen chinesischer (aus Südchina) und javanischer (aus Java) Kontraktarbeiter eingeführt. 3. Beschreibung des Arbeitermaterials (Alter, körperliche Beschaffen- 1) Vgl. Coenen und Wiewiorowski, Bruns’ Beitr., Bd. 75. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 27 heit), der Arbeiterwohnungen, der für Arbeitgeber und Arbeitnehmer zweckmässigen kontraktlichen Bestimmungen, die von der Regierung durch Kommissionäre überwacht werden. Auf den Pflanzungen, die dem Serdang Doctor Fond (Chefarzt Dr. Baermann) angeschlossen, waren in den Jahren 1906 bis 1910 etwa 9000 Arbeiter beschäftigt, die sich folgendermaassen zusammen- setzen: 2000 Chinesen, 4500 javanische Männer, 2500 javanische Frauen. 4. Die Arbeiter werden auf grossen Koeliedampfern importiert und müssen sich einer sehr sorgfältigen Quarantäne unterziehen. Nachdem die Quarantäne passiert, werden die Arbeiter in den zuständigen Central- Hospitälern einer weiteren genauen körperlichen Kontrolle unterzogen, um manifeste Dysenterie, Malaria, Syphilis, sowie Typhusbacillenträger, schwächliche und ungeeignete Arbeiter auszuschalten. Beschreibung des Central-Hospitals zu Petoemboekan. 5. Durch diese rigorosen Immigrationsprophylaxen sind auf den Pflanzungen der Gesellschaft während schwerer Cholera- und Pest- epidemien auf Java, trotzdem in dieser Zeit Hunderte von Arbeitern von dort eingeführt wurden, nur drei Cholerafälle und kein einziger Pestfall beobachtet worden. 6. Die Erkrankungsformen, durch die die Arbeiterschaft besonders bedroht wird, sind: Anchylostomiasis, Amöbendysenterie, Syphilis, Malaria, Typhus, Pneumonie und Cerebrospinalmeningitis. 7. Bekämpfungsmaassregeln. Allgemeine Maassregeln : jährlich zwei- malige Visitation aller Arbeiter. a) Anchylostomiasis. Es wurden in den Jahren 1906 bis 1910 50 000 Thymolkuren gemacht, die lokalen Infektionsgelegenheiten in und um die Arbeiterhäuser durch Freilegen der Häuser selbst und deren direkter Umgebung, durch Anlage von Aborten vermindert. Daraufhin stieg der Durchschnittswert des Bluthämoglobingehalts aller Arbeiter von 65 pCt. auf. 97 pCt., die Zahl der guten, vollwertigen Arbeiter von 35 pCt. auf 82 pCt. b) Amöbendysenterie. Absolute Teeprophylaxe, da die meisten In- fektionen durch das Trinkwasser vermittelt wurden. Genaue Stuhl- kontrolle bei den besonders bedrohten Arbeitergruppen, Verbesserung der Trinkbrunnen und Abortanlagen, strenge Evacuierung aller Er- krankten bis zur Heilung. Daraufhin fiel die Mortalität der Amöben- dysenterie von 70 : 10 000 auf 10 : 10000, die Morbidität von 160 : 10 000 auf 11 : 10 000. c) Syphilis. Bekämpfung besondeis erschwert durch den lebhaften Frauenaustausch, durch die weite Verbreitung der Syphilis an sich und durch die Indolenz der Eingeborenen gegen die Erkrankung. Es sind etwa 20 bis 25 pCt. der Arbeiter mit Syphilis infiziert. Strikte stationäre Behandlung aller manifesten Syphilitiker, die be- sonders durch die jährliche zweimalige Visitation unterstützt wird. Daraufhin fiel die Zahl der manifesten Syphilitiker von 750 : 10 000 auf 508 : 10 000. Kurze Besprechung der Hg- und Salvarsanbehandlung, der grossen Empfindlichkeit der Javanen gegen höhere Hg-Dogen. d) Malaria. Im allgemeinen leichte Formen. Schwere Fieberherde fehlen durch die weitgehende Kultivierung des Bodens. Einzelne Endemien, die durch energische therapeutische und pro- phylaktische Maassnahmen rasch eingedämmt wurden. e) Thyphus. Morbidität 25 bis 30:10 000, Mortalität sehr hoch: 25 bis 29 pCt. Infektionen durch Wasser oder Nahrungsmittel sehr selten, fast ausschliesslich durch Bacillenträger. Die Bacillenträger wurden, soweit möglich, aufgesucht und auf diese Weise einzelne Pflanzungen frei gemacht. Da es bei der Immigration von neuen Arbeitern nicht ge- 28 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. lingt, alle Bacillenträger auszuschalten, so entstehen immer wieder neue Infektionscentren. f) Pneumonie, Bronchitis und influenzaähnliche Erkrankungen werden fast alle durch Pneumokokken verursacht. Die Pneumonie hat dort exquisit endemischen Charakter. g) Endemische Cerebrospinalmeningitis. Sie wurde erst vor kurzem in Deli eingeschleppt. Als Prophylaxe ist nur strenge Evacuierung zu empfehlen. Auch diese Maassnahme bleibt ohne viel Erfolg, da erstens die Uebertragungsbedingungen nicht geklärt und bei endemischer Cere- brospinalmeningitis ebenso wie bei Pneumonie bei der grossen Zahl ge- sunder Bacillenträger die Ausbreitung wenig verhindert werden kann. 8. Allgemeine Bemerkungen über Tuberkulose, über das seltene Vorkommen oder Pehlen von benignen und malignen Tumoren, Diabetes, Gicht, diabetischen Hauterkrankungen. Amyloid usw. und Hinweis auf die auffallenden Differenzen der tropischen Pathologie gegenüber dem europäischen Typhus der Pathologie. 9. Durch die Bekämpfung der genannten Erkrankungen und durch die sonstigen eingreifenden sanitären Maassnahmen ist in den Jahren 1906 bis 1910 die Sterblichkeit von 400:10 000 auf 100:10 000, also um das Vierfache gefallen. Sitzung vom 3. Mai 1912. Vorsitzender: Herr Minkowski. Schriftführer: Herr Tietze. Vor der Tagesordnung. Hr. Groenouw stellt drei Fälle von Retinitis durch Sonnenblendung vor, welche dieses Leiden durch Beobachtung der letzten Sonnenfinsternis mit ungeschütztem Auge erworben haben. Tagesordnung. Hr. Bittorf: Zar Kasuistik der Störungen der inneren Sekretion. (Siehe Teil II.) Diskussion. Hr. Melchior möchte in Fall 1 mit Rücksicht auf die charakte- ristische Destruktion der Sella turcica eher die Anwesenheit eines Tumors, d. h. des auch sonst typischen Substrates der Akromegalie, annehmen. Damit ergibt sich gleichzeitig die Notwendigkeit, zur Frage eines eventuell indizierten operativen Eingriffes Stellung zu nehmen. Trotzdem nun durch eine Operation bereits in verschiedenen Fällen der Literatur eine günstige Beeinflussung der akromegalischen Erscheinungen erzielt worden ist, wird man doch heutzutage mit dem Vorhandensein von rein trophischen Störungen wohl kaum die Berechtigung einer allein chirurgischen Intervention begründen können. Hierzu ist einer- seits der Eingriff zu gefährlich, andererseits sind die trophischen Störungen der Akromegalie häufig genug mit einem leidlich erträglichen, langdauernden Leben vereinbar. Anders liegen jedoch die Verhältnisse bei Anwesenheit von lokalen Tumorsymptomen, also in erster Linie von Sehstörungen. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass unter diesen Umständen die Hypoplysistumoren, wenn sie sich selbst überlassen bleiben, in progredienter Weise — wenn auch nicht selten unter trügerischen spontanen zeitweisen Remissionen — zur obigen Erblindung zu führen pflegen. Gerade aber in der Möglichkeit diesen tragischen Ausgang verhüten zu können, liegt der Hauptwert der Hypophysis- operationen überhaupt. Da nun in dem vorgestellten Falle 1 bereits eine einseitige, fast komplette Amaurose besteht, dürfte es geboten er- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 29 scheinen, alles daran zu setzen, um durch Ausräumung des Tumors resp. durch Anlegung einer sellaren Druckentlastung möglichst eine weitere Verschlechterung des zur Zeit noch weniger affizierten anderen Auges zu verhüten und damit einer irreparablen totalen Erblindung vorzubeugen. Hr. Rosen fei d: Zu den interessanten Fällen des Herrn Bittorf möchte ich zu Nr. 2 bemerken, dass seine Annahme sehr wohl denkbar ist, dass diese Erscheinungen zunächst gar nichts mit der Hypophyse zu tun haben, sondern rein der mangelnden Geschlechtsdrüsenentwicklung zu- gebören und dass sich bei einzelnen erst nachträglich die hypophysären Symptome ansch'liessen. Dafür sprechen die bei bestimmten Familien vorkommenden Stadien einer eunuchenähnlichen Fettleibigkeit bei fehlender Sexualität, die dann aber bei eintretender Sexualreife wieder verschwindet. Der Fall 3 erinnert aus meiner Erfahrung am meisten an einen 50jährigen Mann mit lokaler Lipomatosis des Abdomens, die sich auf Thorax und nur wenig auf den oberen Rücken erstreckte — alle anderen Teile, Gesicht, Schultern, Nacken, Arme, Gesäss, Beine waren absolut nicht fettleibig. Hier konnte eine Entfettungskur zwar Fett in der Menge von ca. 40 Pfund verschwinden lassen: jene lipomatöse Ver- dickung des Abdomens selbst, die wie eine enorme Schürze von dem Genital bis tief auf die Schenkel herabhing, wurde nur wenig beein- flusst, wie es mit den Lipomen ebenfalls nicht gelingt, sie durch Ent- fettungskuren verschwinden zu machen. Es sind überhaupt bei Fettablagerungen mehrere Typen zu unter- scheiden: 1. Die rein durch Ueberfütterung entstehenden Fettanhäufungen. Auch bei ihnen scheint ein Unterschied in betreff der Lokalisation nach dem das Fett erzeugenden Material aufzutreten. Wird ein Mensch durch Kohlenhydrate fett, so wird sein Gesicht rund und es entsteht überhaupt eine gleichmässige subcutane Fettablagerung. Die Korpuleszenz der durch fette Kost Fettgewordenen zeigt einen anderen Typ: das Gesicht kann mager sein, auch die Beine sind es meist: hier prävaliert das Bauch- und Gesässfett. Die alkoholische Fettleibigkeit ist durch rundes, rotes Gesicht, durch dicken Bauch bei mageren Beinen charakterisiert. Diese Arten sind der Entfettung gut zugängig. 2. Die lokalen Fettanhäufungen: davon sind die Lipome durch Diätbeschränkung nicht zu entfetten; sie finden sich auch bei ganz mageren Menschen. Analog sind der Fetthals, sind die lokalen Fettanhäufungen, wie im FalleS von Herrn Bittorf und in meinem Falle, und der Fettsteiss der Hottentotten. Ebenso gehören in diese Kategorie: der Fettbuckel des Kamels, der Fettschwanz und -steiss der Schafe, der Kopfbuckel des Pottwals. Sie sind durch Hunger zu vermindern, verschwinden aber nicht völlig, jedenfalls nicht im Verhältnis zum übrigen Fett und stehen nicht unter dem Gesetz, dass mechanischer Druck ihr Entstehen ver- hütet, wie das besonders der Kamelhöcker zeigt. Bei allen diesen Typen liegt entweder ein Einfluss eines inneren Drüsensekretes vor oder viel- leicht eine besondere Gefässverteilung. Hr. Callomon: Betreffs des zuletzt vorgestellten Falles möchte ich mir die Anfrage erlauben, ob sich bei ihm erheblichere psychische Störungen gezeigt haben. Es ist ja bekannt, dass bei Hyperthyreoidismus häufig eine Steigerung all der Aeusserungen, die das seelische Leben betreffen, eintritt, während bei Hypothyreoidismus das gerade Gegenteil der Fall ist — eine Herabsetzung besonders des Affektlebens. Nun haben wir aus der Anamnese des Falles gehört, dass Patient bei der 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Aufnahme in die Klinik eine auffallende Schlafsucht gezeigt hat; wir haben ferner gehört, dass er früher wiederholt und zwar längere Zeit in Nervenheilanstalten untergebracht war. Ich frage daher an, ob nicht die bald bei der Aufnahme in die Klinik sich zeigende Schlafsucht be- reits in causale Verbindung mit der Schilddrüsenerkrankung zu bringen ist, und ob andererseits die früheren Aufenthalte in den Nervenheil- anstalten lediglich im Zusammenhang mit dem Potus standen, oder ob etwa damals bereits Störungen in der Schilddrüsenfunktion als Ursache für die psychischen Störungen angenommen werden könnten. Wenn sich das letztere auch nachträglich nur schwer würde feststellen lassen, wäre es doch jedenfalls interessant zu erfahren, ob bei dem vorliegenden Falle, bei dem, wie man annehmen muss, die Erkrankung der Schild- drüse in der letzten Zeit doch sicherlich mindestens in ein akutes, so- zusagen Unterfunktionsstadium getreten sein muss, da sich so rapide auftretende und so enorm hochgradige trophische Störungen bei dem Kranken einstellten, die Störung der psychischen Funktionen sich nur in der gesteigerten Schlafsucht äusserte und sonst keine Abnormi- täten wahrnehmen liess. Hr. Ephraim: Zar Frühdiagnose der primären Lungentnmoren. (Mit Demonstration von Röntgenbildern.) (Siehe Teil II.) Diskussion. Hr. Ziesche macht darauf aufmerksam, dass die Diagnose der Lungentumoren in den Stadien, wo sie überhaupt klinische Erscheinungen machen, unter Zuhilfenahme der Durchleuchtung und Röntgenphoto- graphie nicht ganz so unmöglich ist, wie Redner es hingestellt hat. Unter den zur Darstellung gebrachten ausgezeichneten Röntgenbildern befinden sich Aufnahmen, die schon beim ersten Anblick den Verdacht eines Tumors aufsteigen lassen. In den nicht wenigen Fällen, die er während der Tätigkeit in der medizinischen Klinik und neuerdings im Josefs-Krankenhause zu beobachten Gelegenheit hatte, wurde bei der Sektion niemals ein klinisch übersehener Tumor gefunden. Die Früh- diagnose hat auch nur einen theoretischen Wert, da die Krankheit bis- lang kurativ nicht wirksam zu beeinflussen ist. Ferner wird die Schwierigkeit erwähnt, welche die Differential- diagnose zwischen Lungentumoren und den bei Aortenaneurysmen nicht seltenen sekundären circumscripten Lungeninfiltrationen machen kann, sowie die Schwierigkeit einer Unterscheidung zwischen Aneurysma und Mediastinaltumor. Es steht zu befürchten, dass auch bei vorsichtiger und technisch einwandfreier Anwendung des Bronchoskops in den Händen des erfahrensten Untersuchers gelegentlich durch Rupturierung eines die Bronchialwand vordrängenden oder perforierenden Aneurysmas der Patient geschädigt werden könnte. Hr. Rosenfeld: Gelegentlich der Mitteilungen des Herrn Ephraim möchte ich Ihnen von einem Fall von Lungentumor berichten, den ich kürzlich in der Sprechstunde sah, der zwar eine Prima-vista-Diagnose des Tumors gestattete, bei dem aber schon ein recht umfangreicher Tumor vorlag. Der Patient war schon einige Monate wegen Hustens von seinem Hausarzte behandelt worden ; als er zu mir kam, brachte er ein schwachblutiges Sputum und ausserdem einen angeblich aus- gehusteten Speisebrei mit, in dessen Mitte ein cylindrisches, grösstenteils rotes Gebilde von ca. 3 cm Länge und 1 cm Breite und Höhe lag, das zunächst den Gedanken erweckte, dass es vielleicht ein herausgewürgter Polyp des Oesophagus oder des Nasenrachenraumes wäre. Die klinische Untersuchung des Patienten ergab aber unter der rechten Clavicula I. Abteilung. Medizinische Sektion. 81 unterhalb einer ca. 2 cm breiten Zone normalen Atemgeräusches einen Bezirk von lautestem, amphorischem Atmen ohne jeden Rhonchus von so scharfer Abgrenzung, dass sofort die Vermutung eines Lungentumors entstand. Der Röntgenbefund ergab sogleich die Richtigkeit dieser An- nahme durch die runde und scharfe Konturierung des Herdes nach oben und aussen. Die Mikroskopie des Expektorates zeigte ein Carcinom der Lunge, das sich in den Bronchus polypenartig vorgedrängt hatte und durch den Husten- und Brechakt abgerissen und herausgeschleudert worden war. Bei der grossen Seltenheit solcher Expektorate glaubte ich es Ihnen demonstrieren zu sollen. Hr. Ephraim: Im Gegensatz zu der Bemerkung des Herrn Ziese h e ist darauf hinzuweisen, dass im Fall 2 eben nur durch die Endoskopie der Nachweis gelang, dass die bestehende Atmungsstenose mit dem physikalisch und radiographisch nachweisbaren Krankheitsherde nichts zu tun hatte. Aehnliches kann man unter Umständen auch bei Strumen, die mit Atmungsstenose einhergehen, ohne jedoch deren Ursache zu bilden, durch die Endoskopie erweisen. Auch bei Vorliegen eines Aneurysma ist die Bronchoskopie nicht gefährlich, wenn man sich eben nur mit seiner Feststellung durch das Auge begnügt und einen Druck mit dem Tubus vermeidet; aus gleichem Grunde ist die Oesophagoskopie bei richtiger Ausführung ungefährlicher als die Sondierung. Schliesslich demonstriert Redner noch das Röntgenbild eines Falles, in welchem die Diagnose zwischen Aortenaneurysma und Mediastinaltumor geschwankt hatte, und in welchem die Endoskopie den Ausschlag für letzteren gab. Klinischer Abend vom 17. Mai 1912. Vorsitzender: Herr 0. Förster. Vor der Tagesordnung. Hr. K. Beerwald-Altheide zeigt das Modell eines nach ihm modi- fizierten Sahli’schen Hämometers. Dasselbe hat zwei Teströhren, zwischen denen und in unmittelbarem Kontakt mit ihnen sich die Röhre für die untersuchende Flüssigkeit befindet. Dadurch soll die kolori- metrische Schätzung eine wesentlich genauere werden als bei einseitiger Teströhre, und ausserdem kontrollieren sich die Röhrchen selbst in der Farbe der Standardflüssigkeit, da sie mit einem Zwischenräume von einem Vierteljahre hergestellt sind, also niemals gleichzeitig die Farbe ändern werden. Vortr. hofft ausserdem, diesem neuen Hämometer eine Tabelle mitgeben zu können, welche für jede gefundene Zahl den posi- tiven Hämoglobingehalt des untersuchten Blutes angibt, so dass dann die Untersuchung zu ganz bestimmten biologischen Vorstellungen führen würde. Die Arbeiten dazu sind nicht abgeschlossen. Tagesordnung. Hr. Brade: Demonstration seltener chirurgischer Verletzungen. 1. 52 jähriger Mann, der am 11. d. M. dadurch verunglückte, dass er beim Abbruch eines Schornsteines infolge Zusammensturz des abzu- brechenden Mauerwerks 8 m hoch herunterstürzte. Er fiel mit dem Rücken auf Steine, während ihm Schornsteintrümmer auf die linke Brustseite stürzten. Bei der Aufnahme bestand unter Erscheinung schwerster Atemnot eine reichlich kindskopfgrosse Vorwölbung der linken vorderen Brust- wand, welche der mühsamen schnellen Atmung entsprechend rasch auf und nieder wogte und ausserdem noch deutliche Herzpulsation fühlen liess. Ausserdem bestand rasch wachsendes Hautemphysem. 32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Heute, 8 Tage nach der Verletzung, sind die Erscheinungen be- trächtlich zurückgegangen; man fühlt noch an der Vorderseite der linken Brust einen gut handtellergrossen Rippendefekt, in dessen Bereich die Brustwand bei den Atembewegungen lebhafte Mitbewegung zeigt, und zwar wölbt sich bei der Ausatmung die Brusthaut an dieser Stelle halbkugelig vor, während sie bei der Einatmung tief einsinkt. Bei Hustenstössen tritt die Vorwölbung noch schöner zutage. Wir haben also das Bild einer Lungenhernie vor uns, ähnlich wie ich es Ihnen vor 4 Jahren hier an dieser Stelle schon einmal zeigen konnte. Die lokale Behandlung hat lediglich im Anlegen von festen Heftpflasterverbänden bestanden, worauf auch rasch Verkleinerung der Hernie eingetreten ist. Nach unseren bisherigen Erfahrungen genügt diese konservative Behand- lung; die Thoraxlücke schliesst sich auch ohne operativen Eingriff. 2. Zwei Fälle von Verletzungen durch elektrischen Starkstrom. Der erste der Verunglückten war ein 53 jähriger Mann, der am 28. Januar d. J. von der elektrischen Strassenbahn überfahren wurde und dabei unter die vordere Plattform des Wagens, also unter den Motor, geriet. Seine Verletzungen bestanden abgesehen von leichten Hautabschürfungen, im wesentlichen in zwei tiefen kraterförmigen Wunden auf der Vorderfläche jedes Oberschenkels sitzend. Diese Wunden, deren charakteristisches Bild durch die herumgereichte Moulage am besten demonstriert wird, waren etwa fünfmarkstückgross, zeigten in der Peri- pherie einen Verbrennungssaum ersten Grades, während im Centrum bereits unmittelbar nach der Verletzung deutliche Gewebsnekrose be- stand. Die Wunde am linken Bein war dadurch kompliziert, dass sie bis in das Kniegelenk hineinreichte. Tatsächlich stellte sich auch ein Empyem des Kniegelenks ein, das zunächst zur operativen Gelenk- eröffnung und später wegen fortschreitender septischer Erscheinungen zur Amputation des Oberschenkels zwang. Die Wunde am rechten Oberschenkel ist zwar sehr langsam, aber mit ganz glatter, kaum noch sichtbarer Narbe und ohne Folgeerscheinungen zu hinterlassen, abgebeilt. Interessant ist es vielleicht noch, sich den Mechanismus der Ver- letzung klar zu machen. Der Mann hat höchstwahrscheinlich zunächst durch das Ueberfahren keinerlei wesentliche Verletzungen erlitten, war aber so unter die Plattform des Strassenbahnwagens eingequetscht, dass er nicht hervorgezogen werden konnte. Um ihn zu befreien, schaltete der Wagenführer Strom ein und fuhr rückwärts. Erst bei dieser Gelegen- heit hat der Mann offenbar seine schweren Verletzungen, die ihm ein Bein gekostet haben, erlitten. Der zweite Fall betrifft einen 17 jährigen jungen Menschen, der bei einem Ausfluge in die Mailuft im Uebermut an einem Leitungsmast der elektrischen Ueberlandcentrale hinaufkletterte. Er selbst vermag über den Vorgang nicht viel anzugeben, er weiss nur, dass er an dem Mast hinaufgeklettert ist und plötzlich wieder am Boden lag. Sie sehen hier eine grosse Reihe von Hautwunden, die in ihrem Aussehen fast genau den eben demonstrierten entsprechen. Sie sitzen zum grössten Teil an der Hinterfläche des rechten Oberschenkels, wo ich acht derartige Verletzungen gezählt habe, an der entsprechenden Stelle des linken Oberschenkels und an der rechten Hand. Ausserdem bestehen aber hier noch ausgedehnte flächenhafte Verbrennungen ersten bis dritten Grades am Gesäss und am rechten Ellenbogen. Den Ver- letzungen des jungen Mannes, die übrigens durchweg die Weichteile betreffen und also voraussichlich ohne Komplikation abheilen werden, entsprechen in seinen Kleidern ganz genau gleichgrosse Brandlöcher. Der Verletzte hat noch insofern Glück gehabt, als er zu seinen Kletter- übungen den Ast einer Nebenleitung wählte, welche nur 220 Volt I. Abteilung. Medizinische Sektion. 33 Stromstärke führt, während die Hauptleitung 5000 Yolt führt. Eine Berührung mit diesem Strom hätte er wahrscheinlich mit dem Leben büssen müssen. Diskussion. Hr. Partsch bemerkt zu dem vorgestellten Falle von Verbrennung durch elektrischen Strom, dass er erst vor kurzem Gelegenheit gehabt, eine viel schwerere und tiefergehende Verbrennung beider Hände zu beobachten, die dadurch eintrat, dass ein 26 jähriger Arbeiter an einem eisernen Leitungsmast der Starkstromleitung hinaufkletterte, um einen Querträger anzubringen. Als er die Spitze noch nicht ganz erreicht hatte, bekam er unter starkem Funkensprühen einen elektrischen Schlag; die Hände zogen sich krampfhaft um die Eisenstäbe zusammen, so dass er längere Zeit in der Luft hing und später herabfiel. Der Patient wurde nicht bewusstlos. Er zeigte bei seiner Aufnahme eine 7 cm lange, vom Augenwinkel über das linke Jochbein herüber- ziehende Wunde und eine Längswunde der Unterlippe. Beide Hände wiesen starke Verbrennungen dritten Grades auf; die Finger erschienen stark gebeugt und können auch passiv nicht gestreckt werden. Aktiv können nur ganz geringe Streckbewegungen ausgeführt werden. An der rechten Hand ist die Oberhaut des Daumen- und Kleinfingerballens voll- kommen abgelöst. Das freiliegende Corium ist ganz weiss. Dicht hinter dem Handgelenk finden sich handbreite Ablösungen der Oberhaut; hier aber blutet das Corium. Kleine Brandblasen sind in Ellbogenbeuge und Achselfalten vorhanden. Die linke Hand ist vollkommen kalt. Sie ist gegen Hautreize ganz empfindungslos. Die linke Hand starb im weiteren Verlaufe vollkommen ab und musste im unteren Drittel des Unterarmes abgetragen werden. An der rechten Hand griff die Nekrose durch die Sehnen bis auf die Knochen; hier demarkierte sich die Nekrose so, dass die Finger, wenn auch nur in Klauenstellung, erhalten bleiben konnten. Der Fall lehrt, mit welcher Unvorsichtigkeit und Unkenntnis die Arbeiter an solchen Anlagen arbeiten. Es müsste doch Vorkehrung ge- troffen sein, dass nur mit der Gefahr vollkommen vertraute Leute in solchen Betrieben beschäftigt würden. Hr. Tietze: 1. Vorstellung eines Falles von Totalexstirpation des Kehlkopfes wegen Carcinom, der sich durch sein gutes stimmliches Resultat auszeichnet. Patient, vor einem halben Jahre operiert, ist bisher ohne Recidiv. 2. Zweiter Fall von Totalexstirpation des Kehlkopfes aus dem- selben Grunde. Operation vor 10 Monaten. Es entstand eine Fistel an der Speiseröhre, Ektropion der Schleimhaut. Schliesslich ging die ganze Vorderwand bis zur Trachealästung auseinander. Vortr. hat den Defekt durch Lappenplastik schliessen können, so dass Patient in seiner Nahrungsaufnahme nicht gehindert ist. Spricht mit leiser Flüster- sprache. 3. Demonstration von Photographien übergrosser operierter Strumen. Eine Patientin ist gestorben. Zuerst Exstirpation der rechten Seite, mehrere Wochen später Resektion der linken Hälfte. Es entwickelte sich eine Tetanie, gegen welche auch Einpflanzung eines Epithel- körperchens einer anderen Struma sich als machtlos erwies. — Die Hauptgefahren des Eingriffes selbst bestehen in der Möglichkeit einer Luftembolie in die oft enorm dilatierten Venen. Vortr. hat vor Jahren einen Fall auf diese Weise verloren. Ferner bedeuten der Eingriff selbst wie die Verhältnisse des Wundverlaufes in den ersten Tagen eine schwere Belastung des Herzens, so dass die Behandlung sich zuweilen Schlesische Gesellsch. f. vaterl, Kultur. 1912. I. 3 34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. recht aufregend gestaltet, wenn auch eine Vermehrung der Pulsfrequenz, z. B. auf 130 oder 140 Schläge in der Minute, bei einem Herzen, das an und für sich auf höhere als die normalen Werte eingestellt ist, wohl nicht dasselbe bedeutet, wie bei einem vorher absolut ruhigen Herz- muskel. 4. Resultat einer vor 12 Jahren vorgenommenen Knochenimplan- tation. Patientin ist bereits auf dem Chirurgenkongress 1902 vorgestellt. Sarkom am unteren Ende des rechten Radius. Resektion, Implantation der ersten Phalange einer grossen Zehe derselben Patientin. Der ein- gewachsene Knochen hat sich so mit dem Radius verbunden, dass ein einheitlicher Knochen entstanden ist. Die Form hat sich im Laufe der Jahre nur wenig geändert, die Hand ist etwas stärker abduziert, das Kahnbein artikuliert mit dem eingepilanzten Knochen mit einer aus- geglichenen Gelenkfläche. 5. Operation der brandigen Hernien. Vortr. hat mit der von ihm geübten Operationsmethode bei brandigen Hernien weiter gute Resultate erzielt und sieht sich auf Grund an ihn ergangener Anfragen veranlasst, noch einmal das Verfahren kurz zu be- schreiben. Es besteht einfach darin, dass bei eingeklemmten Hernien, die sicher gangränös sind (Bruchsackphlegmone) oder gangränverdächtig sind, zunächst die Hernie als solche gar nicht in Angriff genommen wird, sondern man führt einen Laparotomieschnitt oberhalb der Hernie aus, verbindet die vom Bruch aus aufgesuchten, zur eingeklemmten Schlinge führenden Schenkel (also zu- und abführenden Darm) mit einer Anastomose, durchtrennt dann zwischen Anastomose und Einklemmung Darm und Mesenterium, schliesst die Darmenden blind und tamponiert provisorisch die Bauchwunde. Dann erst Eröffnung des Bruchsackes, Spaltung des Bruchringes, Extraktion des nunmehr bereits abgetrennten Darmes, Isolierung und Abbindung des Bruchsackes, Versorgung der Wunde. Der Tampon wird aus dem Bauche entfernt, die Bauchwunde geschlossen. Wie eine Durchsicht der Literatur ergab, ist die Methode schon vorher in ganz ähnlicherWeise von Kader angewandt worden und noch einmal später selbständig von Hesse beschrieben. Es muss auch hervorgehoben werden, dass diese Verfahren sämtlich an Helferich anknüpfen, der den Vorschlag einer Anastomose schon früher gemacht, wenn auch sein Verfahren nicht ganz so ausgebaut hatte wie die be- schriebenen. Das Wesentliche der letzten Methoden besteht eben darin, dass der infektiöse Inhalt des Bruchsackes zunächst gar nicht berührt wird, und die Tatsache, dass der eingeschlagene Weg von mehreren Autoren selbständig betreten worden ist, beweist, dass er gangbar ist. Wie der von Br ade vor einiger Zeit an gleicher Stelle vorgetragene Fall beweist (Darmvorfall durch den perforierten Uterus, Gangrän der vorgefallenen Schlinge), ist das Prinzip der angewandten Methode auch auf andere Fälle anwendbar. 6. Dickdarmresektionen. In den letzten fünf Jahren hat Vortr. 27 Dickdarmresektionen mit drei Todesfällen ausgeführt. Von diesen Resektionen betrafen 21 Tumoren, vier Fälle Tuberkulose, und in zwei Fällen handelte es sich um so- genannte Hirschsprung’sche Krankheit oder angeborene Colondilatation. Megacolon. Gerade diese beiden Fälle, ein Knabe von etwa vier Jahren und ein junges Mädchen von 19 Jahren, erforderten sehr ausgedehnte Operationen. Bei der Patientin war zunächst in einem anderen Kranken- hause, in welches dieselbe wegen Ileuserscheinungen aufgenommen worden war, nachdem bei der Laparotomie sich die Sachlage geklärt hatte, eine Anastomose zwischen der Flexura sigmoidea und dem Colon I. Abteilung. Medizinische Sektion. 35 transversum ausgeführt worden. Die Beschwerden schwanden nur für kurze Zeit. Patientin kam dann nach dem Allerheiligenhospital wieder mit Ileus, der zunächst mit Anlegung eines künstlichen Afters in einer bei der Operation Vorgefundenen geblähten Dickdarmschlinge behandelt wurde. Es folgten dann eine ganze Reihe von Operationen, deren Effekt schliesslich war, dass der künstliche After geschlossen und die ganze, durch die frühere Anastomose ausgeschaltete Dickdarmschlinge, d. h. der grössere Teil des Colon transversum und das gesamte Colon descendens entfernt wurde. Es zeigte sich nämlich, dass die einfache Anastomose in keiner Weise genügte. Die ausgeschaltete Schlinge füllte sich immer wieder rückläufig mit Kot. Auch jetzt, nahezu ein halbes Jahr nach der letzten Operation, ist die Darmfunktion immer noch eine sehr massige, und selten erfolgt spontaner Stuhl, der Darm muss wiederholt ausgespült und auf diese Weise von seinem Inhalt befreit werden. Vortr. glaubt, dass dies auf einer angeborenen Schwäche der Darmmuskulatur beruht. Er kann auch gewisse Bedenken gegen die jetzt herrschende Lehre, dass das Megacolon durch Knickungen, stenosierende Falten im periphersten Abschnitt bedingt sei (Konjetzny), nicht unterdrücken. Denn der Zu- stand eines Darmes oberhalb eines Hindernisses ist ein ganz anderer als bei der Hirscbsprung’schen Krankheit. Oberhalb einer Darmstenose sehen wir den Darm auch dilatiert, aber die Muskulatur hypertrophisch, die Darmwand derb, succulent, gerötet. Von alledem war in den beiden vom Yortr. operierten Fällen durchaus nichts zu sehen. Im Gegenteil, die Darmwand war eher dünn, schlaff, zart, und wenn im mikroskopischen Bilde auch keine direkte Atrophie der Muskulatur nachgewiesen wurde, so bestand zum mindesten ganz gewiss keine Hypertrophie derselben. Noch auffallender war das Verhalten des Mesocolons. Bei der älteren Patientin konnte das Verhalten desselben nicht recht festgestellt werden, da schon bei der ersten in Allerheiligen vorgenommenen Operation zahl- reiche Verwachsungen den Einblick verhinderten, bei dem Knaben aber fiel es durch seine Zartheit und Länge auf. Der ganze Dickdarm, vom Coecum bis zur Flexura sigmoidea konnte mit grösster Bequem- lichkeit vor die Bauchhöhle gelagert werden. Die Folge einer an- geborenen Stenose mussten sich ganz besonders im postembryonalen Leben bemerkbar machen und, wie bereits geschildert, zu bestimmten Veränderungen am Darm führen. Aber auch das Mesenterium des Darmes, das an und für sich in normaler Weise mit Gefässen ausgestattet ist, würde bei den ständigen Zerrungen, denen es ausgesetzt ist, bei der stärkeren Blutfülle, welche der übermässig arbeitende Darm für sich be- ansprucht, einer Blutfülle, die ihm durch die im Mesocolon verlaufenden Gefässe zugeführt wird, ganz gewiss nicht atrophieren, sondern im Gegen- teil sich verdicken und verkürzen. So möchte Redner glauben, dass bei der Hirschsprung’schen Krankheit das Colon primär zu lang angelegt ist und nicht erst sekundär sich verlängert hat; wie es umgekehrt ja auch Zustände gibt, bei denen von vornherein der Dickdarm zu kurz gebildet worden ist. Bei dem vorgestellten Knaben fühlt man bei der Rectal- untersuchung den sogenannten Sphincter tertius als stark hervor- springenden Ring, ohne dass man sagen könnte, es bestände hier eine Stenose. Dass andererseits bei einem zu langen Darm Faltenbildungen Vorkommen können, soll nicht geleugnet werden, aber ihre Deutung als primäre Ursache des Zustandes begegnet doch manchen Schwierigkeiten. Hr. 0. Foerster: 1. Hämatomyelie — Sehnenplastik. Der in Frage stehende Kranke ist bereits schon einmal vor etwa t/a Jahre vorgestellt worden. Er hatte am 22. Februar 1911 einen Unfall erlitten, indem er vom Eisenbahnzuge erfasst und beiseite ge- schleudert worden war. Es bestand zunächst totale Lähmung beider 3* * 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Arme und Beine, sehr rascher totaler Rückgang der Beinlähmung und eines Teiles der Armlähmung. Als der Kranke im Mai 1911 ins Aller- heiligen-Hospital aufgenommen wurde, bestand vollständige Lähmung des Triceps brachii, der Extensoren und Flexoren des Handgelenkes, der Extensoren der Finger und des Daumens, der Flexoren derselben, der Interossei, Daumenballen- und Kleinfingerballenmuskeln beiderseits. Also eine genaue Auswahl der vom 7. und 8. Cervical- und 1. Dorsal- segment versorgten Muskeln. Die Lähmung war eine schlaffe atrophische mit Entartungsreaktion ; dissozierte Sensibilitätsstörung an der ulnaren Hälfte des Vorderarmes, der Hand und am kleinen Finger und Ring- finger. Die Diagnose der Hämatomyelie war hierdurch ohne weiteres gegeben. Interessant war nun zunächst die Reihenfolge, in der sich die weitere Restitution der Muskeln vollzog, diese stimmte genau mit der Reihenfolge überein, in welcher die Muskeln in den spinalen Segmenten übereinander aufgereiht sind. Zuerst restituierte sich der Triceps, der- selbe ist jetzt vollkommen intakt, dann folgte der Extensor carpi radialis, der jetzt ebenfalls ganz intakt ist; dann nach einiger Pause der Ex- tensor digitorum communis longus und der Extensor indicis proprius, dann der Flexor carpi radialis und in der Folge als letzter der Flexor carpi ulnaris. Alle diese Muskeln erlangten im Laufe von mehreren Monaten eine nahezu vollständige Restitution, und zwar auf beiden Seiten. Gelähmt blieben alle tiefer lokalisierten Muskeln, nämlich der Extensor carpi ulnaris, der Extensor pollicis longus und Abductor p. L, Palmaris longus, Flexor digitorum sublimis et profundus, Flexor pollicis longus, die Daumenballenmuskulatur, Extensor pollicis brevis, Interossei und die Kleinfingerballenmuskulatur. An allen diesen Muskeln zeigte sich nicht die geringste Spur einer Restitution, sie verfielen der totalen Atrophie, die faradische Erregbarkeit war total aufgehoben, die galva- nische sehr herabgesetzt bei langsamer Zuckung. Der Kranke war buch- stäblich unfähig, das geringste mit den Händen zu tun, da er die Finger nicht eine Spur beugen konnte. Es wurde nun eine Sehnenplastik vor- genommen zur Wiederherstellung der Fingerbeugung, und zwar wurde als Kraftspender der Flexor carpi radialis gewählt, der von seinem peri- pheren Ende abgetrennt wurde und zwischen die liefe und die Ober- flächenlage der langen Fingerbeugesehnen, die alle ihrerseits unter- einander nach maximaler Anziehung ihrer peripheren Enden vereinigt wurden, hineingelagert. Mit anderen Worten, es erhielten an die Sehne des Flexor carpi radialis sämtliche langen Fingerbeuger, einschliesslich des Daumens, Anschluss. Die Folge ist eine recht kräftige, willkürliche Fingerbeugung. Der Kranke kann mit der Hand, wie Sie sehen, sehr gut trinken und auch essen. An der linken Hand ist nun ausserdem noch, um die Greiffähigkeit der Hand zu erhöhen, die Opposition des Daumens, speziell die flexorische Bewegung des ersten Metacarpale, da- durch geschaffen worden, dass der Ulnaris internus als Kraftspender benutzt wurde. Seine Sehne ist peripher abgetrennt, dann durch ein abgelöstes und nach unten umgeschlagenes Stück verlängert worden, und dieses verlängerte Stück ist auf die Daumenballenmuskulatur bis ans äussere Sesambein des Daumens aufgenäht worden. Die Folge ist, dass der Kranke den Daumen in gut abduzierter Stellung den Fingern gegenüber gestellt halten kann, was für das Greifen etwas dickerer Ob- jekte von grosser Bedeutung ist. 2. Spinale Muskelatropliie in ihrer Beziehung zur Lues. Der 38 jährige Maschinenbauer H. E. leidet seit einer Reihe von Jahren an allmählich zunehmender Abmagerung und Schwäche beider Arme, die in letzter Zeit bis zu ausgedehnten Lähmungen geführt hat. Ausserdem auch grosse Schwäche der Nackenmuskulatur, niemals die geringsten Schmerzen oder subjektive Sensibilitätsstörungen. Gelähmt I. Abteilung. Medizinische Sektion. 37 waren bei ihm, als der Kranke in unsere Beobachtung trat, eine Reihe von Muskelgruppen, und zwar in der Weise, dass immer zwischen einer Gruppe von gelähmten Muskeln eine Gruppe von intakten Muskeln ge- legen war, bei der sich die Gruppierung genau nach der spinalen Lokalisation der Muskeln richtet. Die oberste gelähmte Gruppe umfasst die Flexoren und Extensoren der Halswirbelsäule, dann folgte unter Ueberspringung der Aussenrotatoren und des Deltoideus der Biceps, Supinator longus und Supinator brevis, links reichte allerdings diese Gruppe auch noch höher hinauf, den Deltoideus und die Aussenrotatoren mit einbegreifend. Nach Ueberspringung des Serratus, Subscapularis, Pectoralis und Latissimus folgt nun die dritte Gruppe, welche linkerseits den Pronator, Triceps, Ext. c. r., Ext. ind. pr., Ext. dig. c. 1., Flex. c. r., Flex. c. uln., Ext. c. uln. betrifft, rechts war von dieser Gruppe Pronator bis Ext. int. pr. noch verschont, dagegen die Muskeln vom Ext. dig. c. 1. abwärts bis Ext. c. uln. ebenso gelähmt wie links. Unter Ueberspringung des Abd. p. 1., des Ext. p. 1., des Palm. 1., des Flex. dig. sublim, et prof. folgt nun als letzte Gruppe der Flex. pollic. 1., Abduct. pol., Ext. p. brev., Flex. p. brev., Abduct. p. brev. und die Interossei abductorii. Die am tiefsten gelegenen Interossei adductorii waren dagegen wieder intakt. Dieses gruppenweise Betroffensein der Muskulatur, und zwar in der Reihenfolge der spinalen Lokalisation, ist für die meisten Fälle spinaler progressiver Muskelatrophie bezeichnend. Aetiologisch kam hier luetische Infektion in Betracht, Wassermann positiv in Blut und Liquor, ferner starke Lymphocytose, Eiweissvermeh- rung und positiver Nonne. Es ist ja besonders von französischen Autoren schon wiederhohlt auf den Zusammenhang der spinalen progressiven Muskelatrophie mit der Lues hingewiesen worden, es ist aber meines Wissens noch niemals intra vitam dieser Zusammenhang durch die Untersuchung von Blut und Liquor dargetan worden, wie das in unseren Fällen geschehen ist. Der Kranke wurde einer energischen spezifischen Therapie unterworfen (mehrere Salvarsaninjektionen und zwei energische Calomelkuren). Ganz erhebliche Besserung dadurch. Völlige Wieder- herstellung der Muskeln der Halswirbelsäule, des Biceps, Supin. long. und Supin. brev. rechterseits, Besserung des Biceps und Supin. long. linkerseits, erhebliche Besserung des Pronator, Triceps, Ext. c. r., Ext. int. pr. linkerseits, geringe Besserung des Ext. dig. c. 1. rechterseits, schliesslich noch wesentliche Besserung des Flex. pol. 1. linkerseits und des Adduct. pol. beiderseits. In der Literatur ist immer auf die Nutz- losigkeit der spezifischen Behandlung der spinalen progressiven Muskel- atrophie trotz ihrer Beziehung zur Lues hingewiesen worden, dies liegt aber an der Wahl falscher Mittel. Dem Calomel kommt zweifellos eine ganz besondere Bedeutung bei der spezifischen Behandlung syphilitischer Affektionen des Nervensystems zu, das lehrt dieser Fall besonders wieder. Es muss in jedem Falle von spinaler progressiver Muskelatrophie so zeitig wie möglich und so nachhaltig wie möglich mit Calomel behandelt werden. Unser Kranker befindet sich noch in dauernd fortschreitender Besserung. Vortr. weist dann noch auf eine Anzahl anderer Fälle spi- naler Muskelatrophie eigener Beobachtung hin, bei denen allen die luetische Grundlage durch die Untersuchung von Blut und Liquor dar- getan werden konnte, und bei denen die spezifische Behandlung in dem einen Falle sogar -fast völlige Heilung brachte, eine totale Lähmung der Beine ging restlos zurück, ebenso die Lähmung der Arme. In einem anderen Falle, in dem nur Lähmung des Extens. c. rad., Extens. dig. c. 1., Flexor c. rad., Flexor c. ulnaris und Extens. c. ulnaris be- stand, kam es nur zur Wiederherstellung der beiden letzteren Muskeln. In einem weiteren Falle von progressiver Muskelatrophie mit Bulbärparalyse und Ophthalmologie, erhebliche Besserung durch fort- ;8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. gesetzte Calomel -j- Jodipin-Applikationen. Vortr. hebt endlich noch hervor die Beteiligung der Hinter- und Seitenstränge bei fast allen diesen Fällen, die sich klinisch manchmal in dem Hinzutreten einzelner tabischer Symptome zu erkennen gibt, so in dem Auftreten von Störungen des Lagegefühls in den Zehen in dem einen dieser Fälle oder im Auftreten anderer Symptome, wie Pupillenstarre und lancinierende Schmerzen, die vor allem besonders von Rose mitgeteilt sind, oder andererseits in dem Auftreten von Babinski, wie Vortr. das in zwei seine Fälle beobachtet hat; in dem einen bestand gleichzeitig noch ausgesprochene spastische Parese beider Beine. Durch die Beteiligung der Hinter- und Seitenstränge bei der spinalen progressiven Muskel- atrophie wird die Brücke geschlagen zwischen den bekannten Fällen von Tabes mit Muskelatrophie einerseits und zur Erb’schen spastischen Spinalparalyse andererseits, eventuell gehört auch die amyotrophische Lateralsklerose ebenfalls dahin. Die anatomische Ursache der spinalen progressiven Muskelatrophie ist nicht nur in einer lokalisierten Menin- gitis im Bereich der vorderen Wurzeln zu suchen, wie dies viele Autoren annnehmen und dies auch wieder von Bonhoeffer vor einiger Zeit betont wurde. Die Meningitis steht in manchen Fällen doch ganz im Hintergründe, dagegen bestehen deutliche intraspinale perivasculäre Infiltrationen besonders auch im Bereiche der Vorderhörner, ausserdem ausgesprochene Veränderungen in der Intima und Adventitia der Gefässe speziell die hyaline Degeneration scheint hier eine Rolle zu spielen. 3. Syphilitische Meningitis acnta. Akute syphilitische Meningitis ist bei Erwachsenen im Laufe der der Infektion folgenden ersten Monate gar nicht so selten. Die zeitige Beteiligung der Meningen an der Infektion ist ja besonders durch die von Widal und Sicard zuerst eruierte Lymphocytose der Frühperiode der Lues dargetan. Manchmal besteht das ausgesprochene Bild der akuten Meningitis mit allen klassischen Symptomen, mit Fieber, Nacken- steifigkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen, Somnolenz, Hyperästhesie, ein- gezogenem Abdomen, Dermographie, Kontrakturen an Armen und Beinen usw. Auf dem Boden hereditärer Lues bei Kindern ist akute syphilitische Meningitis bisher nnr in ganz wenigen Fällen signiert. Das hier vorgestellte Kind ist jetzt zwei Jahre alt, wurde zum ersten Male im Alter von fünf Monaten gebracht mit Symptomen einer aus- gesprochenen Genickstarre, Fieber usw. Es bestand durchaus das Bild der tuberkulösen Meningitis. Die Untersuchung von Blut und Liquor ergab aber in beiden positiven Wassermann, ferner starke Lymphocytose, Eiweissvermehrung und positiven Nonne, keine Tuberkelbacillen, keinen Fibrinansatz. Auf Schmierkur hin erhebliche Besserung, Fieber be- seitigt, meningeale Symptome gering, aber keine Heilung; nach einiger Zeit Rückfall, Schmierkur fortgesetzt, wieder erhebliche Besserung der allgemeinen meningitischen Symptome, es bleibt aber spastische Para- plegie der Beine zurück; mit ihr wird das Kind im übrigen gesund entlassen. Vor kurzem Wiederaufnahme unter dem erneuten Bilde schwerer Meningitis mit Fieber usw. Einleitung einer Calomelkur, völliger Rückgang der Meningitis, spastische Arm- und Beinlähmung bleibt bestehen. Diskussion. Hr. Walter Freund fragt den Vortr., ob die erste meningitische Erkrankung im Alter von 5^2 Monaten mit einem Hydrocephalus einher- ging, wie erjabeiden nicht so seltenen chronischen hereditär-luetischen Cerebralerkrankungen, aber auch vielen sonstigen akuten und chronischen Meningitiden — also z. B. den tuberkulösen, serösen, hämorrhagischen — aufzutreten pflegt in einem Lebensalter, in dem die Fontanellen und Nähte noch leicht auseinandergetrieben werden können. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 39 Da nämlich nach Stillstand des entzündlichen Prozesses die Schädel- erweiterung zu dieser Zeit noch der raschen Rückbildung fähig ist, wäre auch der jetzt unleugbar vorhandene mikrocephale Typus mit der er- wähnten Möglichkeit wohl vereinbar. Hr. Foerster: 4. Pseudoparalytische Demenz bei Stirnhirntmnor. Die beiden Fälle sind bereits vom Vortr. mitgeteilt in dieser Wochen- schrift, 1912, Nr. 21 (Fall 9 und 10). Vortr. hebt erstens hervor, dass durch Stirnhirntumor unter Umständen ein lange dauerndes Zustands- bild, das der paralytischen Demenz symptomatologisch durchaus gleicht, bestehen kann, ohne dass überhaupt zunächst irgendwelche sicheren Tumorsymptome nachweisbar sind. Bedingt wird dieses Zustandsbild dadurch, dass von dem central gelegenen Tumor ausgehend die makro- skopisch ganz gesund aussehenden Partien des Stirnhirns eine diffuse perivasculäre Infiltration bis in die Rinde hinein aufweisen; es handelt sich dabei offenbar um ein den Gefässen entlang stattfindendes Wachstum des Tumors, um überall hin weit vorgeschobene Vorposten desselben, die die gesamte Rinde des Stirnhirns schädigen. Diese Vor- posten lassen sich intra vitam durch die auf die Hirnrinde gerichtete Hirnpunktion nachweisen, wodurch auch gleichzeitig die Differential- diagnose gegenüber echter Paralyse gestellt wird. Durch diese diffuse Verbreitung der Tumorkeime über weite Partien des Stirnhirns, die makroskopisch völlig normal erscheinen, wird die Inoperabilität solcher Tumoren dargetan. 5. Atonisch- astatischer Symptomenkomplex bei Hydroeephalus. Vortr. hat bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass bei den so- genannten infantilen cerebralen Lähmungen der Kinder neben dem bei weitem am häufigsten vorkommenden spastisch-paraplegischen oder hemi- plegischen Lähmungstypus auch manchmal ein atonisch-astatischer Typus vorkommt, bei dem die Muskulatur eine exzessive Ueberdebnbar- keit sowie eine Astasie des Kopfes, Rumpfes und des ganzen Körpers bei Steh- und Gehversuchen erkennen lässt. Derselbe Symptomen- komplex kommt nun auch beim Hydroeephalus vor. Vortr. demonstriert zwei derartige Fälle. Von sonstigen Symptomen bestehen noch in dem einen Falle synkopale Zustände und epileptische Anfälle. In dem anderen Falle bestand Patellar- und Achillesreflex, ausserdem besteht in beiden starke Hemmung der Intelligenz- und Sprachentwicklung. Durch wiederholte Lumbalpunktionen ganz erhebliche Besserung des atonisch-astatischen Komplexes sowie sichtliche Besserung des geistigen Zustandes. Sitzung vom 7. Juni 1912. Vorsitzender: Herr Rosenfeld. Schriftführer: Herr Röhmann. Vor der Tagesordnung. Hr. Rosenfeld: Carcinomatöser Sandnhrmagen. Der Fall, von dem ich Ihnen hier eine Röntgenplatte vorlege, bietet zwei Besonderheiten. Die erste betrifft ein klinisches Symptom. Als der Patient einige Angaben machte, als ob bei ihm die Speisen schwer passierten, und ich ihn deshalb mit dicker Sonde sondierte, fand ich bei 57 cm von der Zahnreihe einen Widerstand. Die Cardia war bei dieser Sondenlänge schon passiert, lag 6 — 10 cm hinter dem Sondenende, und so hat die Sonde offenbar die Stenose im Magen — die Enge der Sand- uhr — fühlen lassen. Dieses Symptom, das ich in einem anderen Falle carcinomatösen Sanduhrmagens ebenfalls gefunden habe, erleichtert die 40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Diagnose des Sanduhrmagens, wenn man es feststellt. Leider gehört es nicht etwa zu den Frühsymptomen des Magenkrebses, denn beide Fälle waren inoperabel. Zuzweit zeigt sich bei diesem Patienten, in dessen Magen auf eine Länge von 4 — 5 cm eine Stenose bestand, die auf 4 mm lichte Weite herabging, eine ausgezeichnete Ernährungsmöglichkeit mit Fettkohlenhydratkost (der Magensaft war anacid). Die Beruhigung der Magenwände durch das Fett führte zur Ausschaltung jedes spastischen Widerstandes, der sich zu der Stenosierung durch den Tumor noch hin- zuaddiert hätte, und damit zu guter Durchlässigkeit einer selbst so engen Stelle. Die Fettkohlenhydratkost leistet hier, wie so oft, ebenso gute Dienste, wie die Gastroenterostomie. Tagesordnung. Hr. Goebel: Medizinisches aus Tripolis. (Mit Lichtbildern.) (Siehe Teil II.) Klinischer Abend in der medizinischen Klinik am 28. Juni 1912. Vorsitzender: Herr Minkowski. Hr. Minkowski stellt vor der Tagesordnung zwei Fälle von An- eurysma aortae vor. Tagesordnung. Hr. Minkowski: 1. Erfahrungen mit der Thorinm X-Behandlung. Zur Anwendung kam die lösliche Verbindung des Thorium X, die der medizinischen Klinik von den Auerwerken in Berlin zur Verfügung gestellt wurde. Ein Kubikzentimeter dieser Lösung sollte einer Million Macheeinheiten entsprechen. Kontrollmessungen mit dem Fontaktoskop ergaben, dass die Strahlungsintensität in der Tat ungefähr mit dieser Angabe übereinstimmte. Die Wirksamkeit der Lösung zeigte sich auch darin, dass mit ihr befeuchtete Hautstellen nach einigen Tagen eine sehr intensive Pigmentierung darboten. Eine sichere Beurteilung der therapeutischen Erfolge schien am ehesten bei der Leukämie möglich. Es wurden zunächst fünf Fälle von myelogener Leukämie mit intra- venösen Injektionen behandelt, in Einzeldosen von 1 — 2 — 3 Millionen M.-E. und Gesamtdosen bis zu 7 Millionen M.-E. Das Resultat brachte im ganzen eine ziemliche Enttäuschung. Fast regelmässig traten nach den Injektionen vorübergehende Steigerungen der Leukocytenzahlen auf, denen mitunter eine verhältnismässig geringe, meist auch vorüber- gehende Abnahme der weissen Blutkörperchen folgte. Nur in einem Falle war nach 3 Millionen M.-E. ein erheblicheres Absinken der Leuko- cytenzahl zu notieren. Auch das Verhalten des qualitativen Blutbildes liess kaum besondere Wirkungen der Thoriuminjektion erkennen. Mit den Erfolgen der Röntgenbestrahlung waren die Resultate jedenfaHs nicht im entferntesten zu vergleichen. Worauf diese mit den Angaben der ersten Beobachter in Widerspruch stehenden Ergebnisse zu beziehen sind, ist schwer zu sagen. Doch sind Misserfolge auch von anderer Seite schon beobachtet. Eine weitere Steigerung der Dosen schien ge- wagt, da nach den grösseren Gaben schon leichte Störungen der Darm- tätigkeit sich bemerkbar machten. In einem Falle von schwerer Anämie stieg die Erythrocytenzahl nach Injektion von 1 Million M.-E. von 800 000 auf 1 600 00Ö unter Besserung des Allgemeinbefindens, ln einigen Fällen von chronischer Arthritis wurden nach Trinkkuren mit Thorium X in Dosen von 20 — 50 000 M.-E. subjektive Besserungen notiert. Eine sichere Schluss- folgerung auf die Wirksamkeit der Thoriumbehandlung gestatteten aber diese Fälle nicht. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 41 Die Beobachtungen sollen demnächst durch Herrn Matthias aus- führlicher publiziert werden. 2. Zar Röntgendiagnostik der Magen- und Darmkrankheiten. Yortr. demonstriert eine grössere Zahl von Röntgenphotographien von normalen, ptotischen, atonischen und ektatischen Magen, Magen- carcinomen, perforierenden Magengeschwüren, Sanduhrmagen, ferner von normalen und ptotischen Dickdärmen, Fällen von Typhlatonie, Megacolon, abnormer Ausbildung der Flexura sigmoidea, spastischer Obstipation, carcinomatösen, tuberkulösen und gutartigen (Payr’schen) Stenosen des Colons, Stenose des Duodenums sowie von einem gashaltigen sub- phrenischen Abscess. Besonders hervorzuheben ist, dass der bei Sanduhrmagen neben der stenosierten Stelle sichtbare circumscripte Schatten nicht immer auf ein perforierendes Ulcus bezogen werden darf. In einem operierten Falle zeigte es sich, dass ein ähnlicher Schatten durch eine divertikel- artige Ausbuchtung der Magenwand oberhalb der Sanduhr- einschnürung bedingt sein kann. In einem Falle von spastischer Obstipation war die spastische Kontraktion im Verlaufe des ganzen Dickdarms zu sehen; nach einer Atropininjektion war eine sehr auf- fallende Aenderung in der Konfiguration des Colons zu erkennen. Diskussion. Hr. Rosenfeld: Die sehr interessanten Demonstrationen bieten mir die Gelegenheit, einige allgemeine Bemerkungen über die Radiologie des Tractus gastrointestinalis zu machen. Die normalen Magen, von denen Sie einige Proben hier gesehen haben, zeigen einige der Kriterien, die ich vor 16 Jahren aufgestellt habe. Ich habe damals durch die Durchleuchtung als erster klargestellt, dass der normale Magen im wesentlichen senkrecht stehe, dass die kleine Curvatur von der Cardia nicht, wie Luschka lehrte, nach rechts, sondern nach links ginge, dass der Pylorus nicht eine Höhle darstelle, sondern ein enges Rohr, das meist aufwärts gerichtet sei. Das Ver- fahren, dessen ich mich bediente, war die Einführung einer weichen Sonde, die mit etwas Schrot gefüllt und fein durchlöchert war, und die Einführung von etwas Luft in den Magen, wobei nicht etwa eine Aufblähung des Magens beabsichtigt war. Bei dieser Methodik zeigte sich der Magen in den Linien, die eben ausgeführt wurden, begrenzt, aber auch als ein Organ mit dem nötigen Raum, um eine normale Mahlzeit von 1 bis lx/2 1 aufzunehmen, ausgestattet. Wenn man die modernen Wismutmagen ansieht, so findet man im Prinzip die geschilderten Linien, wie ich sie beschrieben, nicht aber ein Organ von nur irgend der Fassungsmöglichkeit, wie sie die normale Mahlzeit verlangt. Das liegt an zwei Faktoren : erstens daran, dass sich der Röntgenologe wegen der eventuellen Giftigkeit mit der Zuführung einiger Bissen von Wismut- usw. Brei beruhigt, worin ihn der Patient unter- stützt, der gewöhnlich von WGsmut- oder Zirkonbrei als Gastronom wenig entzückt ist. Dieser erste Punkt der geringen Magenfüllung lässt an sich den Magen so klein erscheinen; dazu addiert sich noch ein Einfluss der verwendeten Salze auf die Magenwand. Sie führen alle zu einer gewissen Zusammenziehung der Magenwände. Man braucht nur den Querdurchmesser des Magens an der Gegend, wo die oft mit- verschluckte Luft sich befindet, zu betrachten, um zu sehen, wieviel natürlicher, breiter der lufterfüllte Teil ist als der Salzteil. Der Luft- magen ist ohne Kontraktion, der Wismutmagen ist in seinen Wandungen übertrieben kontrahiert. Das sieht man auch an den gewaltigen Ein- schnürungen, die der Wismutmagen oft zeigt, und die so oft zur Diagnose eines Sanduhrmagens veranlassen, wo gar keiner gefunden wird. Selbst 42 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. nicht die Konstanz einer Verengung sichert diese Diagnose, die bei Luft- einführung seltener, aber sicherer zu machen ist. Die Wismut- (Zirkon-Baryum-) Methode hat aber auch grosse Vorzüge durch die zwei wichtigen Entdeckungen, die Holzknecht gemacht hat, durch die wismuterfüllten Nebenbuchten bei Ulcus perforans und durch die Aussparung des Wismutcontours bei Carcinom. Gerade durch diese Holzknecht’schen Entdeckungen ist die Röntgenologie des Magens mit Wismutfärbung eine wirklich wertvolle Methode geworden. Ganz unzulässig ist die Auffassung gewisser Magenformen als Gastroptose. Wie ich schon im Jahre 18991) gezeigt habe, und wie Grödel dann bestätigt hat, gibt es im Sinne Glenard’s gar keine Gastroptose. Glenard nahm einen Magen an, der wie nach dem Luschka’schen Bilde horizontal stände, aber sich nicht dicht unter dem Zwerchfell, sondern eine Etage tiefer befände. Dieses ganz unmögliche Bild beherrscht noch die Vorstellung. Der senkrechte Magen aber kann eine Ptose nicht erfahren, er bleibt mit seinem Fundus immer in der Zwerchfellkuppel (und nur deren Herabdrängung kann eine echte Gastro- ptose machen), und alle Gastroptosen sind nichts als vertikale Ver- grösserungen, Verlängerungen des Magens. Hr. Minkowski: Die von Herrn Rosenfeld erhobenen Ein wände halte ich durchaus nicht für zutreffend. Jede Anfüllung des Magens — auch die mit Speisen und nicht weniger auch die Aufblähung mit Luft — bewirkt natürlich Aenderungen seiner Form. Das verschiedenartige Ver- halten der Magen nach Einfuhr der gleichen Mengen von Bismutbrei gestattet aber unzweifelhaft diagnostisch verwertbare Schlüsse. Irgend- welche Schwierigkeiten macht weder die Einführung des Bismutcarbonats noch die des Zirkonoxyds, vorausgesetzt, dass der Brei nicht zu dick- flüssig und schmackhaft zubereitet sei. Hr. Tietze: Zu der Technik der Röntgenuntersuchung des Magen- und Darmkanals möchte ich mich bei der Kürze der Zeit nicht äussern. Ich will nur bemerken, dass ich Herrn Rosenfeld recht geben muss, wenn er die Luftaufblähung als sehr geeignet bezeichnet, den Magendarmkanal darzustellen. Namentlich für die röntgenologische Untersuchung des Darmes ergibt dieselbe stellenweise ausgezeichnete Resultate. Trotzdem bleibt die Vorbehandlung mit undurchlässigen Substanzen vorläufig die Methode der Wahl. Es ist aber, wie gesagt, jetzt nicht die Zeit, darauf näher einzugehen. Nur eine Bemerkung von Herrn Rosenfeld möchte ich nicht gern unwidersprochen lassen. Wenn Herr Rosenfeld nämlich behauptet, es gibt keine Gastro- ptose, so kann ich dem durchaus nicht beipllichten. Man kann bei Operationen beobachten, dass die Fixation des Magens an der Wirbel- säule bzw. seine Verbindung mit den Nachbarorganen infolge ver- schiedener Länge seiner Aufhängungsbänder ausserordentlich wechselt. Manche Magen stehen infolgedessen sehr tief und lassen sich ohne weiteres in grosser Ausdehnung aus dem Bauchraum hervorwälzen; in anderen Fällen gelingt dies nicht, auch selbst wenn keine entzündliche Schrumpfung des Lig. gastr. hepat. eingetreten ist. Bei diesen tiefstehenden Magen ist das lange Lig. gastr. hepat. sehr fettarm, die in ihm enthaltenen, zur Leberpforte gehörigen Gebilde lassen sich ausgezeichnet darstellen; handelt es sich bei den fraglichen Zuständen um einen am Choledochus vorzunehmenden Eingriff, so voll- zieht sich dieser mit grosser Leichtigkeit, man hat zwischen der mühelos emporzuschlagenden Leber und der kleinen Curvatur des Magens und 1) Rosenfeld, 17. Kongress f. innere Med., 1899, S. 352, und Deutsche med. Presse, 1905, Nr. 8. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 43 dem Duodenum Raum; der ganze Magen ist nach abwärts gesunken, gastroptotisch. Hr. Rosenfeld: Die chirurgischen Erfahrungen des Herrn Tietze widersprechen nicht meiner These von der Nichtexistenz der Gastroptose. Jene Magen liegen alle dem Zwerchfell an, sind entweder nicht verlängert und darum schwer zugänglich, oder sie sind verlängert und nicht in der Pylorusgegend fixiert und dann leicht zugänglich. Von Gastroptose ist aber bei keinem die Rede. HHr. Frank und Heimann: Die biologische Schwangerschaftsdiagnose nach Abderhalden nnd ihre klinische Bedeutnng. (Siehe Teil II.) Sitzung vom 19. Juli 1912. Vorsitzender: Herr Röhmann. Schriftführer: Herr Strasburger. HHr. Bittorf und Schidorski: Untersuchungen über das Wesen der Wassermann?schen Reaktion, (Siehe Teil II.) Hr. Röhmann: Ueber das cholesterinspaltende Ferment des Blntes. (Siehe Teil II.) Hr. Severin: Kohlehydratkuren bei Diabetes mellitus unter besonderer Berück- sichtigung des Blutzuckers. Vortr. bespricht die einzelnen Kohlebydratkuren : Hafermehl-, Weizen- mehl- und Traubenzuckerkuren bei Diabetikern in bezug auf Form der Anwendung, Erfolge, Beeinflussung der Acidosis usw. und streift kurz die einzelnen Theorien über das Wesen derselben. An einem grösseren klinischen Material, etwa einem Dutzend Diabetesfällen leichtester bis schwerster Form (Coma diabeticum), wurden bald nach dem Erscheinen der Blum’schen Arbeit über Weizenmehl- kuren Untersuchungen unter besonderer Berücksichtigung des Blutzuckers angestellt zur Klärung folgender Fragen: 1. Ueben die verschiedenen Kohlehydrate: Traubenzucker, Hafermehl bei demselben Diabetiker bei einmaliger oder längerer Zufuhr gleiche Wirkungen aus, d. h. werden sie gleichmässig verwertet, oder ist einem derselben eine spezifische Eigenschaft in der Verwertung beizumessen? 2. Worin ist die Ursache der erfolgreichen Kohlehydratkuren zu suchen? 3. Wie verhalten sich die verschiedenen Formen des Diabetes mellitus den Kohlehydraten gegenüber? Der Gang der Untersuchungen war folgender: Die Patienten er- hielten zunächst nach der Aufnahme einige Tage die gewöhnliche ge- mischte Krankenhauskost. Bei allen wurden die 24 ständige Zucker- einfuhr und -ausfuhr, Acetonkörper (qualitativ) und nüchtern der Blut- zucker bestimmt. Dann erhielten sie eine bestimmte Eiweiss-Fettdiät und eine bestimmte tägliche Kohlehydratmenge von 100 g in Gestalt von 2 1 Milch. Man versuchte hierdurch, die bestehende Hyperglykämie auf gleicher Höhe zu erhalten und die Patienten nach kürzerer oder längerer Zeit auf eine annähernd konstante Zuckerausscheidung pro die zu bringen. Leichte Schwankungen in der täglichen Zuckerausfuhr waren nicht zu vermeiden, besonders in den schwersten Fällen. War nun bei dieser Diätform die tägliche Zuckerausscheidung im grossen und ganzen konstant, so wurde nüchtern der Blutzucker bestimmt, und der 44 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Patient erhielt noch nüchtern eine Kohlehydratzulage von 150 g Trauben- zucker, nach Verlauf einiger Tage eine von 200 g Hafermehl, dann eine von 200 g Weizenmehl. 2 und 5 Stunden nach jeder Kohlehydrat- zulage wurden wiederum Blutzuckerbestimmungen (nach Forschbach- Severin) gemacht. Die 24 stündige Harnzucker m eh rausscheidung ergab so einen Hinweis auf die Verwertung der einzelnen Kohlehydrate, die Blutzuckerkurve auf die Resorption derselben als Traubenzucker. Dann wurde die Diät geändert. Um die bestehende Glykosurie herabzudrücken bzw. zu beseitigen, erhielten die Patienten strenge Diät, reine Eiweiss-Fettdiät ohne Milchzufuhr. Wurden nun die Patienten wie in den leichten und mittelschweren Fällen zuckerfrei, oder trat wie in den schwersten Fällen wieder eine annähernd konstante tägliche Zuckerausscheidung ein, so erhielten die Patienten bei dieser Diätform in Abständen von einigen Tagen wiederum nüchtern 150 g Trauben- zucker, dann 200 g Weizenmehl und 200 g Hafermehl unter Berück- sichtigung des Blutzuckers nüchtern, 2 und 5 Stunden nach jeder Kohle- hydratzulage. Jetzt wurden 2 — 4 Gemüsetage eingeschaltet und an einem solchen die betreffenden Kohlehydratzulagen gegeben und die Blutzucker- bestimmungen ausgeführt. Zu bemerken ist, dass die 150 g Trauben- zucker auf einmal, die Mehle in zwei Portionen ä 100 g in Abständen von einer Stunde genossen wurden. Diese Darreichung der Kohlehydrate wurde meist auch ausserdem noch in der Weise abgeändert, dass die- selben löffelweise über den ganzen Tag verteilt verabreicht wurden. An solchen Tagen wurde der Blutzucker nur nüchtern bestimmt. Die Resultate der Untersuchungen je eines Falles von leichter, mittelschwerer und schwerster Diabetesform sind in folgender Tabelle enthalten. Zur Beantwortung der ersten Frage, ob einem der betreffenden Kohlehydrate: Traubenzucker, Weizenmehl, Hafermehl, eine spezifische Wirkung in der Verwertung beizumessen ist oder nicht, ergeben die tabellarisch niedergelegten Versuchsresultate, dass eine solche nicht besteht. Derselbe Diabetiker verwertet bei derselben Diät die ver- schiedenen Kohlehydrate im grossen und ganzen gleichmässig. Durch- weg wird der Traubenzucker etwas schlechter ausgenutzt als die beiden Mehle. Dies erklärt sich wohl dadurch, dass der Traubenzucker nicht erst im Darm gespalten zu werden braucht und darum schneller und leichter resorbiert, in grösserer Menge plötzlich die Blutbahn über- schwemmt. Werden die Kohlehydrate löffelweise über den ganzen Tag verteilt genossen, so ist ihre Verwertung fast gleich. In vereinzelten Fällen (bei Diät I) zeigen sich auch geringe, jedoch keineswegs konstante Differenzen in der Ausnutzung des einen oder anderen Mehles. Von diesen unbedeutenden Schwankungen abgesehen, kann von einer spezifischen Wirkungsweise eines der drei Kohlehydrate wohl nicht die Rede sein. Was die Ursache der erfolgreichen Kohlehydratkuren angeht, so ist aus der Tabelle ersichtlich, dass die Diät und der durch dieselbe be- dingte Blutzuckerspiegel einzig und allein maassgebend ist für den Erfolg oder Nichterfolg der Kuren. Bei gemischter Kost, also bei hohem Blutzuckergehalt, werden von demselben Diabetiker alle Kohlehydrate am schlechtesten, nach längerer strenger Diät schon besser verwertet, weil eben der Blutzucker durch diese Diätform erniedrigt werden konnte. Nach mehreren Gemüsetagen, die als Hungertage anzusehen sind, kann der Blutzucker (mit Ausnahme von den schwersten Fällen) fast zur Norm gebracht werden. Infolgedessen ist die Ausnutzung der Kohle- hydrate dann am besten. Dass die Kohlehydrate als Traubenzucker zur I. Abteilung. Medizinische Sektion. 45 I. Eiweiss-Fettdiät -)- 2 1 Milch (100 g K H.) 150 g Traubenzucker 200 g Weizen- mehl(150KH.) 200 g Hafer- mehl(135KH.) Diabetes- formen Blutzuckerkurve i *- O 3 iS ^ 3 2 rn £ -a utzucker- kurve i ._ :b werden. 4* 52 Jahresberichte der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Das von mir benutzte und Ihnen hier vorgeführte Stereoskop ist ein neuerdings von der Firma verbessertes Zeiss’sches Stereoskop. Dasselbe gestattet Abzüge und Negative bis zu einer Grösse von 30 : 40 cm zu besichtigen, gibt sehr plastische Bilder und ist ein ausserordentlich eichter und handlicher Apparat. Diskussion. Hr. Ossig bemerkt zu der Vorführung des Herrn Silberberg, dass seiner Ansicht nach das in Zeichnung vorgeführte Instrumentarium nicht schnell genug funktionieren werde, um bei Magen-Darmaufnahmen Bewegungen dieser Organe auszuschalten. Das vorgeführte Stereoskop halte er nicht für so empfehlenswert wie ein gutes Spiegelstereoskop. Hr. Silberberg: Was den Einwand des Herrn Ossig betrifft, dass die nötige Schnelligkeit von Kassettenwechsel und Röhrenverschiebung nur durch den elektrischen Strom möglich sei, erscheint mir das nicht sehr wahrscheinlich. Ich glaube, dass sich hinsichtlich der Zeit beide Auslösungen nicht viel nehmen werden, aber selbst wenn die elektrische Auslösung eine in geringem Maasse schnellere sein sollte, so entsteht doch die Frage, ob diese erhöhte Schnelligkeit der Auslösung notwendig ist, oder ob man auch mit einer etwas längeren Zeit auskommt. Man kann ja alle chirurgischen Aufnahmen (Frakturen, Knochenerkran- kungen usw.) ohne weiteres als Zeitaufnahmen machen, und dazu genügt eine einfache Handauslösung, also die Hildebrand’sche Kassette. Für die Momentauslösung kommen überhaupt nur Thorax- und Magen-Darm- aufnahmen in Frage. Hinsichtlich der Thoraxaufnahmen fallen bei beiden Auslösungen die Herzaufnahmen ohne weiteres fort. Nehmen wir selbst an, dass die Aufnahme in Vioo Sekunde, die Auslösung in einer weiteren Vioo Sekunde und die zweite Aufnahme in der dritten Vioo Sekunde er- folgt, so ist ein stereoskopisches Bild des Herzenz doch nicht herauszu- bekommen, da die zweite Aufnahme in der dritten Vioo Sekunde eine ganz andere Herzphase trifft; für Lungenaufnahmen sind solche kurze Zeiten unnötig und für Magen-Darmaufnahmen nach den neuesten tech- nischen Erfahrungen unmöglich. Es genügt demnach die mechanische Auslösung ohne Zuhilfenahme des Stromes für alle technisch in Frage kommenden Zwecke vollkommen, auch wenn dieselbe etwas langsamer geschehen sollte als die Auslösung mit Zuhilfenahme des elektrischen Stromes. Was den Einwand hinsichtlich des Stereoskops betrifft, so möchte ich wohl von vornherein annehmen, dass ein von einer technischen Firma, zumal von der Firma Zeiss, gefertigtes Stereoskop dasselbe leistet, wie das von einer elektrotechnischen Firma gefertigte. Ich für meinen Teil kann auch an der Plastik der aufgestellten Bilder nichts aussetzen. Das Zeiss’sche Stereoskop dürfte sogar noch den ausserordentlichen Vor- teil der Handlichkeit haben; alle anderen mir bekannten Stereoskope sind ausserordentlich gross, sehr schwer und ausserdem viel teurer als das Zeiss’sche. Hr. Asch: Zar operativen Behandlung puerperaler Sepsis. Bei den wenig befriedigenden Resultaten der abwartenden Behand- lung schwererer puerperaler Infektionen ist jeder Erfolg chirurgischer Eingriffe erfreulich. Unter den vielen Vorschlägen der letzten Jahre steht die abdominale Radikaloperation und die Venenunterbindung nach Trendelenburg obenan. Konnte ich schon vor etwa 10 Jahren über einige gute Erfolge durch Entfernung des Uterus und der Adnexe samt den etwa vorhandenen parametranen Infiltraten berichten, so bezogen sich diese doch mehr oder weniger auf solche Wöchnerinnen, bei denen schon eine längere Zeit seit der Infektion bei der Entbindung ver- 1. Abteilung. Medizinische Sektion. 53 strichen war. Ganz frische Fälle konnten auch hierdurch nur selten gerettet werden. Die Unterbindung der Yenen bei nachgewiesener Blutinfektion muss aber, wenn sie aussichtsreich sein soll, möglichst frühzeitig ausgeführt werden. Strittig ist es noch, ob man sich mit der Unterbindung begnügen soll oder vorhandene Thromben entfernen muss, und ob dieser Ein- griff in völlig befriedigender Weise ausführbar ist. In dem hier vorgestellten Falle fand ich am vierten Tage post partum praem. linkerseits eine tumorhafte Resistenz, die ich als Thrombose der Spermatical venen deutete; der Peritonealraum schien noch nicht oder wenig befallen. In den Blutplatten fanden sich ausserordentlich reichlich hämo- lytische Streptokokken (30 — 70 Kolonien pro Platte). Die Hämolyse der Streptokokken an sich wird ja neuerdings nicht als absolut infaustes Symptom für die prognostische Beurteilung angesehen, doch dürfte bei solcher Ueberschwemmung des Blutes über die ungünstigen Aussichten kaum eine geteilte Meinung herrschen. In der Tat bot auch die Patientin für alle Beurteilenden das Bild schwerer Sepsis; die Temperatur war am dritten Tage post partum 40°, der Puls 140. Das schnelle Fortschreiten des thrombotischen Prozesses liess ein weiteres Abwarten nicht ratsam erscheinen. Die Besichtigung bei der Operation rechtfertigte meine Ansicht, der Ausgang mein Vorgehen. Ich öffnete zuerst zur genaueren Orientierung über die Ausdehnung des Prozesses in typischer Weise das Abdomen und fand das Peritoneum noch frei. Nur auf der linken Seite in nächster Nachbarschaft der retroperitonealen Thrombose fanden sich einige frische Adhäsionen um Tube und Ovarium. Die rechten Adnexe, das Parametrium und die Venen dieser Seite waren nicht befallen. Den Thrombus fühlte man vom linken Parametrium aufsteigend bis in die Nierengegend. Nun schloss ich, um die Vene oberhalb des Thrombus zu unterbinden und den Thrombus selbst zu entfernen, das Peritoneum in der Mittellinie und löste es seitlich von der Bauchwand ab, bis ich die thrombosierten Venen freilegen konnte^. Ich musste, um die obere Grenze zu erreichen, bis zur Niere Vorgehen. Die Unterbindung in der Tiefe, bei der der Ureter zu vermeiden war, erfolgte kaum mehr unter Leitung des Auges; mehr dem Gefühl folgend legte ich den Faden um. Beim Zuziehen riss die morsche Venenwand ein; die darauf folgende Blutung zeigte, dass ich bis oberhalb des Thrombus gekommen war. Da dies direkt an der Einmündungsstelle in die Vena renalis war, musste ich diese statt zu unterbinden zunähen; darauf stand die recht unangenehme Blutung. Nun schälte ich den peripher an Dicke erheblich zunehmenden Thrombus mit seinen schwartigen periphlebitischen Auflagerungen vor- sichtig von oben her nach dem Becken zu aus, bis tief ins Parametrium an die Uteruswand gelangend. Jetzt tamponierte ich die grosse Höhle mit Gaze und führte diese durch ein seitlich angelegtes Fenster durch die Bauchdecken nach aussen; dann nähte ich das in der Mittellinie wieder gelöste Peritoneum an seine Bauchwand an. Jetzt exstirpierte ich unter möglichster Abdeckung der übrigen Intestina intraperitoneal die linken Adnexe, exzidierte, den harten Thromben folgend, ein tiefes Keildreieck aus der Uterussubstanz und zog dieses mit Adnex und dem thrombosierten Konvolut aus dem Schlitz im Ligament. Den Defekt vernähte ich sorgfältig und versenkte den Stumpf extraperitoneal. Darauf Schluss der Bauchhöhle in typischer Weise. Die Tupferprobe aus der Bauchhöhle hatte sowohl im Anfang wie am Ende der Operation nur Bacterium coli ergeben. Unter starker 54 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Sekretion aus der seitlichen Oeffnung entfieberte die Patientin und ging ihrer jetzt erfolgten Genesung entgegen. Eine kleine Strecke der Bauchwunde ging auf und heilt sekundär. Ich operierte, wie stets hei infektiösen Prozessen, bei denen die Asepsis allein ja im Stiche lassen muss, möglichst mit dem Paquelin. Hr. Markus: Osteomalacie. Nachdem Fehling den heilenden Einfluss der Kastration auf die Osteomalacie nachgewiesen hatte, ist man endlich auch in der Kenntnis dieser schweren Erkrankung ein wenig vorwärts gekommen. Man kann demnach eine übermässige innere Sekretion der Ovarien als haupt- sächliches Moment ansehen und muss somit die von Fehling empfohlene Kastration als eine kausale Therapie betrachten. Die neuerdings von L. Fränkel vorgenommenen Versuche, die sich, auf der inneren Sekretion der Ovarien fussend, mit der Herstellung eines Ovarialantikörpers befassen, brachten uns auch die Möglichkeit, auf konservativem Wege der Osteomalacie beizukommen. Fränkel ging dabei von der Herstellung des Antithyreoidins „Möbius“ aus und bedachte dementsprechend, dass nach Entfernung eines Organs mit innerer Sekretion die antagonistischen Sekrete im Serum vermehrt und in grösserer Menge frei würden. In der Annahme, dass diese Anti- körper auch in die Milch übergehen könnten, kastrierte er Ziegen und verwendete deren Milch. Die Erfolge waren zwar recht ermutigende, aber nicht so sichere und rasche wie nach der Kastration. Die in letzter Zeit weiterhin noch empfohlenen therapeutischen Maassnahmen zur Heilung der Osteomalacie: die Behandlung mit Nebeu- nierenextrakt, deren Hauptvertreter Bossi ist, und die Behandlung mit Pituitrin sind noch nicht genügend einwandfrei nachgeprüft worden, um in schweren Fällen Verwendung finden zu können. Bei dem Fall, den ich heute zu demonstrieren beabsichtige, hat mein Chef von einer konservativen Therapie absehen und die Kastration in Anwendung bringen müssen, weil die Schwere des Krankheitsbildes, der in letzter Zeit sehr rasch fortschreitende Verfall der Patientin, ein schnelles und sicher heilendes Verfahren erheischte. Der Erfolg der Kastration war nun in der Tat ein recht zufrieden- stellender. Die Patientin, die Sie hier auf Krücken vor sich sehen, war seit IV2 Jahren vollkommen bettlägerig und war nicht einmal imstande, sich spontan ohne grosse Schmerzempfindung auf die Seite zu legen. Der Beginn des Leidens fällt in die Laktationszeit nach dem dritten Partus im Jahre 1900. Er begann mit Schmerzen in den Gliedern, Gefühl der Müdigkeit und Schwere im Kreuz. In der vierten Gravidität, 1902, verschlimmerte sich das Leiden dann so sehr, dass die Pat. sich nicht mehr spontan fortbewegen konnte. Deformitäten scheinen damals noch nicht bestanden zu haben, denn in der inneren und der Nerven- klinik wurden die Schmerzen als rheumatische gedeutet und die Pat. dementsprechend behandelt. Ende 1902 kam Pat. spontan nieder. Nach dem Partus trat für nur kurze Zeit ein Stillstand ein; bald setzte das Leiden mit erneuter Heftigkeit ein. Es bildeten sich Deformierungen des Rumpfes und Beckens. Pat. merkte, dass sie kleiner wurde — die Röcke wurden ihr zu lang — ; sie bekam eine gebeugte Haltung, die Schmerzen im Kreuz wurden immer stärker, die Beine verloren ihre Stütze in den Hüften, und Pat. wurde bettlägerig. Seit 1^2 Jahren brachte sie nun Tag und Nacht auf einem Sessel in halb liegender, halb sitzender Stellung zu. Während der letzten 10 Jahre batte sie keinen Arzt konsultiert. Ein Ulcus cruris führte sie ins Hospital, und hier wurde auch ihr Leiden entdeckt. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 55 Die Untersuchung ergab damals die Knochendeformierungen, die auch jetzt noch bei ihr zu sehen sind: hochgradige Kyphose der Brust- wirbelsäule, starke Lordose der Lendenwirbelsäule, eingetriebenes Manu- brium, vorgetriebenes Corpus sterni, die den Osteomalacischen typische Bauchfalte, die typischen Beckenveränderungen: das Kreuzbein ist von oben ins Becken hineingedrückt, die Symphyse schnabelartig vorspringend, die Tubera ossis ischii stark genähert, die Gelenkpfannen eingetrieben. Ein Röntgenphotogramm, das damals angefertigt wurde, gab so schlechte Knochenschatten, dass sich keine genaueren Knochenkonturen differenzieren Hessen. Die Beine waren infolge von Kontrakturen im Knie gebeugt und stark an den Rumpf angezogen. Die Abduktion der Beine war unmöglich. Bei seitlichem Druck auf das Becken äusserte Pat. starke Schmerzempfindung. Jede Berührung der Knochen des Rumpfes und des Beckens wurde überhaupt sehr schmerzhaft empfunden. Yon einer vaginalen Totalexstirpation, die mein Chef zunächst plante, musste in diesem Palle Abstand genommen werden, weil die Yagiua kaum für einen Finger passierbar war. Es wurde daher laparotomiert. Die Lagerung auf den Operationstisch machte grosse Schwierigkeiten. Erst in tiefer Narkose Hessen sich die Beine etwas vom Rumpf abziehen und so der Bauch besser zugänglich machen. Die Einstellung des Genitale nach Eröffnung des Bauches war ihrerseits wieder erschwert durch die starke Lordose der Lendenwirbelsäule, die über dem Becken- eingang lagerte. Sodann wurden beide Ovarien entfernt. Dieselben zeigten makroskopisch keine Veränderungen. Mikro- skopisch sieht man an ihnen den für Osteomalacie angeblich typischen Befund starker hyaliner Degeneration der Gefässwände. Einen weiteren für Osteomalacie angeblich charakteristischen Befund, Wucherung der Theca interna konnte ich nirgends wahrnehmen. Die Pat. machte eine glatte Rekonvaleszenz durch. Schon am Tage nach der Operation war wie mit einem Schlage jede Schmerzhaftigkeit in den Knochen geschwunden. Die Pat., die bis dahin jede Bewegung vermied und eine kauernde Stellung einnahm, konnte sich schon spontan ein wenig ausstrecken. Yon Tag zu Tag war nun Besserung zu sehen. Unter gleichzeitiger Nachhilfe mit Massage gewannen die Beine bald wieder ihre Beweglichkeit zurück. Die Abduktionsmöglichkeit der Beine besserte sich ebenfalls. Drei Wochen nach der Operation war die Kon- solidierung in den Knochen schon so weit gediehen, dass die Pat. sich stehend neben dem Bett halten konnte. Ein in dieser Zeit gemachtes Röntgenphotogramm gab schon bedeutend bessere Knochenschatten. Es ist aber leider von der Pat. beim Aufliegen durch die stark vor- springenden Sitzhöcker so zerdrückt worden, dass ich es nicht herum- zeigen kann. Einige Tage später machte Pat. die ersten Gehversuche. Sie ist bis jetzt soweit hergestellt, dass sie sich auf Krücken vorwärts bewegen kann. Leider hatten Becken- und Wirbelknochen schon so sehr ge- litten, dass die Konsolidierung in diesen Knochen nur langsam Fort- schritte macht und die Pat. noch nicht die vollkommene Festigkeit im Kreuz wiedererlangt hat. Immerhin habe ich vor einigen Tagen schon eine sehr gute Röntgenphotographie vom Becken erhalten, und ich hoffe, dass der Heilungsprozess noch weitere Fortschritte machen wird. Innerlich bekommt die Pat. ein Phosphorpräparat. Ich demonstrierte den Fall hauptsächlich deshalb, um zu zeigen, dass man auch in verzweifelten Fällen von Osteomalacie von der Kastration noch Besserung erwarten kann. Diskussion. Hr. Rosenfeld: Die Beobachtung, dass die Osteomalacie dieser Frau wieder durch Kastration geheilt ist, gibt mir Veranlassung, in 56 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Rücksicht auf die Beziehung von Ovarium und Kalkumsatz eine Ver- suchsreihe zu erwähnen, die ich an einem Manne, Herrn Dr. Pringsheim, mit Oophorintabletten — zu anderen Zwecken — angestellt habe. Es ist dabei kein recht deutlicher Effekt hervorgetreten. (Während in 6 Vortagen in Urin und Kot ca. 720 mg CaO ausgeschieden wurden, er- schienen bei gleicher Kost und Oophorintabletten 677 mg, also nur eine kLeine Retention.) Hr. Fritz Heimann: Ich möchte mir gestatten, kurz über einen Fall von schwerer Osteomalacie zu berichten, den wir an der Frauen- klinik vor einiger Zeit zu beobachten Gelegenheit hatten; er ist aus- führlich von Stern publiziert worden. Auf die Anregung von Fränkel und anderen hatten wir der Pat., die einen hohen Grad der Erkrankung zeigte, so dass sie kaum zu gehen vermochte, — eine Röntgenaufnahme zeigte sehr deutlich das typische osteomalacische Becken — viele Monate hindurch die Milch einer kastrierten Ziege verabreicht. In der ersten Zeit war auch wirklich eine Besserung zu konstatieren. Pat. konnte bereits wieder, allerdings mit Hilfe von zwei Stöcken, etwas gehen, doch hielt diese Besserung nicht lange an, ja es trat eine derartige subjektive und objektive Verschlimmerung des Leidens ein, dass wir uns doch noch zur Kastration entschlossen. Und diese hatte in der Tat einen auffälligen Erfolg. Pat. erholte sich aus- gezeichnet, die Schmerzen liessen nach, sie verschwanden sogar völlig, und auch das Gehen wurde bedeutend besser. Ich habe Pat. ca. V2Jahr später wiedergesehen und konnte konstatieren, dass auch die Besserung noch weiter fortgeschritten war, da jetzt die Pat., wie sie berichtete, schon etwas tätig sein konnte, ohne allzusehr zu ermüden oder Schmerzen zu empfinden. An dem objektiven Befund, namentlich am Becken, hatte sich natürlich nichts geändert. Hr. L. Fraenkel: Die Milch der kastrierten Ziege, welche ich, wie der Vortragende erwähnte, zur Behandlung der Osteomalacie empfohlen habe, soll die Kastration nicht vollwertig ersetzen, sondern nur an- gewendet werden, wenn die Operation unausführbar ist. Denn es ist klar, dass die Einführung der Gegenkörper, welche von anderen innerlich sezernierenden Drüsen geliefert, nach der Kastration in Blut und Milch das Uebergewicht bekommen, nicht vollwertig die bei Osteomalacie pathologischen Eierstocksfunktion paralysieren kann. Immerhin ist hier wie im Rhodagen der Versuch einer rationelleren Organotherapie gemacht, als sie gewöhnlich gehandhabt wird. Es ist selbstverständlich, dass die zu Präparaten verarbeiteten endokrinen Drüsen nicht annähernd wirken können wie die lebenden, in dem Blutkreislauf eingeschalteten Organe selbst, welche chemische Laboratorien darstellen, aus denen dauernd die notwendigen Stoffe in der richtigen Dosis, Form und Applikationsart an die ent- sprechende Stelle abgegeben werden. Es ist darum eine grosse (all- gemein auch anerkannte) Vorsicht mit organotherapeutischen Präparaten am Platze, speziell in der wissenschaftlichen Verwertung ex juvantibus bzw. nocentibus. Das gilt besonders für die Versuche des Herrn Rosenfeld. Wenn ich einem Mann einige Dosen Ovarialextrakt verabreiche, so dünkt es mich unmöglich, damit Stoffwechselwirkungen hervorzurufen, ähnlich denen des Eierstockes der Frau. Will man die Eierstockswirkung gerade auf den nichtweiblichen Organismus prüfen, so muss man einem männlichen Tier nicht irgendwelches kleines Quantum Ovarialsub- stanz von einer anderen Tierspezies vorübergehend per os geben, sondern den Eierstock der gleichen Gattung nach Kastration funktions- fähig implantieren, ein Versuch, der bereits gemacht worden ist. Im I. Abteilung. Medizinische Sektion. 57 übrigen ist die Wirkung des Eierstockes auf den Stoffwechsel, speziell für Kalk und Phosphor, so vielfach und nicht nur bei Osteomalacischen mittels exakter Methoden untersucht worden, dass diesen Experimenten gegenüber Herrn Rosenfeld’s Versuchsanordnung jede Bedeutung ab- zusprechen ist. Hr. Rosenfeld: Es fehlt bei den Bemerkungen Herrn Er änkel’s die Berechtigung, Stoffwechselversuchen, welche mit ihrer Fragestellung zur Klärung beitragen könnnen, a priori eine ungünstige Prognose zu stellen. Ich erwarte gerade von solchen Versuchen die Klärung der bisher immer noch sehr wenig ergebnisreichen Stoffwechselversuche, die durch Versuche von Gruden neuerdings wieder sehr fraglich geworden sind. Die Ver- wendung artfremder Organe hat bei organotherapeutischen Studien nicht gestört. Hr. Asch macht noch besonders darauf aufmerksam, dass hier ein Fall vorliege, in dem eine Heilung der Osteomalacie durch Wegnahme der scheinbar nicht mehr funktionierenden Ovarien erreicht sei; die aus- gezeichneten Erfolge der Kastration in jugendlichem Alter seien ja zur Genüge bekannt; diese Frau aber sei schon seit fünf Jahren in der Menopause und 55 Jahre alt. Man müsse also wohl annehmen, dass auch nach Aufhören der Ovulation und Menstruation die innersekre- torische Tätigkeit der Ovarien noch fortdauere und erst ihre Beseitigung die Heilung des osteomalacischen Prozesses zulasse. Hr. Tietze: Demonstrationen zur Nierenchirnrgie. Diskussion. Hr. Hirt zeigt eine heute früh entfernte Niere, deren untere Hälfte in ein kindskopfgrosses Hypernephrom umgewandelt ist. Auch die oberen Partien sind von zahlreichen metastatischen Herden durchsetzt. Trotzdem von der Niere noch erhebliche Teile des Parenchyms erhalten sind,- zeigte die funktionelle Nierenprüfung mit subcutaner Indigcarmin- injektion, dass diese Teile funktionell wertlos sind, da sie ein völlig farbloses Sekret absonderten. Die andere Niere dagegen gab einen tief dunkelblau gefärbten Urin, so dass die Prognose bezüglich der Nierentätigkeit post operationem eine sehr günstige ist. Hr. Weicher!: Maminaplastik, (Siehe Teil II.) Hr. Braendle stellt einen Fall von Boeck’scliem Sarkoid vor. Die Affektion begann bei dem Patienten vor vier Jahren mit Knotenbildung in der Gegend der Nasenwurzel, jetzt ist fast das ganze Gesicht ergriffen. Man fühlt die für das Boeck’sche Sarkoid charakteristischen derben Knoten und Stränge in der Tiefe der Haut. Die Oberhaut ist über diesen Strängen teils unverändert, teils ist sie mit ihnen verwachsen und zeigt dann einen rötlichen oder bräunlichroten Farbenton. Davon vielen Autoren das Boeck’sche Sarkoid zu den sogenannten abgeschwächten Hauttuberkulosen gerechnet wird, wurden auch in dem vorliegenden Fall diesbezügliche genaue Untersuchungen angestellt. Die Untersuchungen ergaben für Tuberkulose keine Anhaltspunkte. Bemerkenswert ist, dass das Boeck’sche Sarkoid durch Röntgen- behandlung bedeutend gebessert wurde. Hr. Leopold stellt zwei Fälle von Folliclis vor. In dem einen Falle finden sich auf der Bauchhaut und an den Extremitäten frische linsengrosse, braunrote Knötchen, die im Centrum nekrotisch zerfallen sind. Auf Brust und Rücken sind sehr schöne charakteristische Narben von bereits abgeheilten Effloreszenzen sichtbar. Aehnliche typische scharfumrandete kreisrunde Narben weist der zweite Patient an den Streckseiten der Arme und an den Ohren auf, deren Ränder wie zer- nagt aussehen. Die Diagnose Folliclis der auf den ersten Blick als ge- 58 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. •wohnliche Staphylokokkenfurunkel imponierenden Eflloreszenzen -wird in beiden Fällen noch durch den torpiden, über Jahre sich hinziehenden Verlauf mit Neigung zu Recidiven gesichert. Ferner finden sich in beiden Fällen bei der inneren Organuntersuchung Anhaltspunkte für bestehende Tuberkulose, und in dem einen Falle auch in der Anamnese. Auf Alttuberkulin haben beide Patienten allgemein reagiert, lokal jedoch nicht deutlich. Histologisch findet man bei Folliclis in der Cutis peri- vasculäre Zellinfiltrate mit typischen Epitheloid- und Riesenzellen. Aetiologisch handelt es sich vielleicht um eine embolische Verschleppung abgeschwächter Tuberkelbacillen von irgendeinem tuberkulösen Organ- herd in die Hautcapillaren. Hier kommt es dann zu endo- und peri- arteriitischen Entzündungsprozessen, die zu typischer Tuberkelbildung mti centralem Zerfall führen. Redner weist auf die im Archiv für Dermato- logie und Syphilis 1904 erschienenen sehr eingehenden Untersuchungen von Harttung und Alexander über Folliclis hin. Gemeinsame Sitzung der medizinischen und der staats- und rechtswissenschaftlichen Sektion vom 15. November 1912. Vorsitzender: Herr Minkowski. Schriftführer: Herr Rosenfeld. Hr. Jnlius Wolf: Der Geburtenrückgang uml seine Bekämpfung. (Siehe Teil II.) Diskussion. Hr. Küstner: Die Beobachtungen eines einzelnen müssen hinter den umfänglichen statistischen Erhebungen, welche vom Herrn Vor- tragenden in seiner Monographie niedergelegt und in seinem Vortrage dargestellt sind, zurücktreten. Nichtsdestoweniger sind sie vielleicht nicht ganz bedeutungslos. Obschon Hasse-Mensinga sein Okklusivpessar bereits vor Jahr- zehnten empfahl und diese Empfehlung in den breitesten Schichten mit Interesse aufgenommen wurde, wurde damals im gynäkologisch-geburts- hilflichen Unterricht über neomalthusianistische Regungen kaum oder überhaupt nicht gesprochen. Höchstens dass vielleicht die Aeusserung Hegar’s dazu in Beziehung steht, dass es der Norm entspräche, wenn eine Frau im zeugungsfähigen Alter, also zwischen dem 20. und 40. Lebens- jahre, unter Berücksichtigung der Zeit für Wochenbett und Stillgeschäft etwa 8 Kinder gebären müsse; höchstens dass ich mich darauf besinne, dass gewisse anticonceptionelle Gepflogenheiten den Nervenapparat von Mann und Frau schädigen und mit Rücksicht darauf unterbleiben müssen. Das hat sich geändert. Heute wird im gynäkologisch-geburtshilflichen Unterricht gelegentlich über die Vermeidung von Conception gesprochen, und das geschieht auch von mir, aber doch nur insofern, als wir heut- zutage mit Nachdruck betonen, dass für gewisse krankhafte Zustände eine Schwangerschaft eine Steigerung, Verschlimmerung und mithin eine Vergrösserung der Gefahr bedeutet. Das gilt in erster Linie für die Tuberkulose. Wir halten uns für verpflichtet, darauf unsere Schüler hinzuweisen und ihre Pflegebefohlenen unter genannten Verhältnissen vor dem Zustandekommen von Schwangerschaft zu schützen zu versuchen. Wir gehen noch weiter; wir erzwingen gelegentlich, wenn andere Mittel erfolglos sind, die Zeugungsunfähigkeit der Frau durch eingreifende Operation. Andere Gelegenheiten gibt uns oder gab mir bisher unsere Disziplin, neomalthusianistische Bestrebungen zu berühren, nicht. Eine gelegentliche Bemerkung, wie ich sie erst heute morgen in der Klinik machte, wo eine Frau mit bereits unoperierbarem Magenkrebs, welche I. Abteilung. Medizinische Sektion. 59 bereits 8 lebende Kinder hat und jetzt mit lebensfähigen Drillingen niedergekommen war, indem ich sagte: „Und das in einer Zeit, in welcher der Geburtenrückgang in Deutschland aller Kreise Interesse auf das lebhafteste in Anspruch nimmt“, kann als belanglos gelten. Ich kann sonach die Aeusserung des Herrn Vortragenden, nach welcher anticonceptionelle Bestrebung der stille Gast der gynäkologischen Kliniken sei, auf meine Klinik und meinen Unterricht nicht beziehen. In einem anderen, und das ist im Kernpunkte der Fragestellung, pflichte ich dem Herrn Vortragenden unbedingt bei. Die Rationalisierung; des Sexuallebens ist es, was den Geburtenrückgang in erster Linie ver- schuldet, der Umstand, dass in vielen Ehen nicht mehr als eine be- stimmte Anzahl von Nachkommen gewünscht wird. Wenn ich auch in Betracht ziehe, dass dem älteren Arzte darauf bezügliche Wünsche und Aeusserungen häufiger zugehen als dem jüngeren, so glaube ich dennoch, dass auch besonders aus privatärztlicher Tätigkeit die Zunahme anti- conceptioneller Verfahren ersichtlich wird. Dass die marktschreierische Anpreisung wirkungsvoller und auch indifferenter Mittel im gleichen Sinne von Einfluss ist, bezweifle ich keinen Augenblick. Ob die straf- rechtliche Verfolgung derartiger Anpreisungen, wie sie in den Vereinigten Staaten geplant ist, Erfolg verspricht, weiss ich nicht. Eine gewisse Gruppe von Mitteln, die als anticonceptionell angepriesen werden, würde schon nach bestehendem Gesetz einer richterlichen Beurteilung zugängig sein. Das sind alle diejenigen, welche in die Gebärmutter selbst eingelegt werden. Sie alle verhindern im allgemeinen die Con- ception nicht. Es gehört eine beträchtliche Naivität dazu, anzunehmen, dass z. B. die kleine, wenige Centimeter Durchmesser haltende Platte eines sogenannten Steriletts die mehrhundertmillionenfache Möglichkeit einer Conception verhindern könnte. Alle diese Mittel sind in viel höherem Maasse Abortivmittel. Sie erzeugen Abort mit beträchtlicher Sicherheit, nachdem eben eine Gravidität zustande gekommen ist. Wir Aerzte haben, fühlen und erfüllen auch die Aufgabe, vor diesen Mitteln auf das nachdrücklichste zu warnen. Denn nicht nur dass sie meist Abort erzeugen, so veranlassen sie auch häufig Infektion, welche schwere, ja lebensgefährliche Erkrankung der inneren Generationsorgane der Frau zur Folge haben kann. Der Herr Vortragende hat den statistischen Beweis geliefert, dass in einer Population dem Fortschreiten der Emanzipation von der Kirche ein Rückgang der Geburtenzahl entspricht. Die Aufzeichnungen, welche man in ärztlicher Tätigkeit zu machen pflegt, würde ich, soweit es sich um solche eines einzelnen handelt, nicht für belangreich halten. Das eine aber ist für uns, die wir vielfach auch von Kranken aus dem russischen Reiche in Anspruch genommen werden, auffallend, dass eine Bevölkerungsschicht, in welcher die Tenacität am Glauben der Väter offensichtlich ist, von den Ideen der Beschränkung der Kinderzahl noch völlig unberührt geblieben ist. Das sind die orthodoxen russischen Juden. Es ist nichts Seltenes, wenn eine Frau dieser Bevölkerungs- gruppe, obwohl sie vielleicht 10 Kinder geboren hat, lediglich deshalb konsultiert, weil sie einige Jahre lang nicht concipiert hat. Hr. Partsch: Wenn ich mir erlaube, zu dem heutigen Vortrage das Wort zu ergreifen, so geschieht es deshalb, weil ich als Vertreter der schlesischen Aerztekammer die Verhandlungen der wissenschaft- lichen Deputation über den Gegenstand mitgemacht habe und mir aus denselben Tatsachen bekannt geworden sind, welche einigen Auf- fassungen des Herrn Vortragenden zu widersprechen scheinen. Der Herr Vortragende stellte einen Gegensatz auf zwischen den Gebieten, wo Centrumswähler vorhanden sind, und den sozialdemokratisch €0 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. wählenden Bezirken, indem er meinte, dass in ersteren die Verminderung der Kinderzahl nicht so erheblich sei als in den letzteren. Bei dieser Behauptung müsste doch in Rücksicht gezogen werden, dass die katholische Pachtung in allen Schichten der Bevölkerung vertreten ist, während die sozialdemokratischen Wähler hauptsächlich in den Arbeiter- kreisen zu linden sind. Es könnte demgemäss die Anschauung Platz greifen, dass gerade in den Arbeiterkreisen die Beschränkung der Kinder- zahl eine besonders hohe ist. Eine umfangreiche Statistik darüber, wie sich auf die einzelnen Gesellschaftsschichten die Verminderung der Kinderzahl verteilt, besteht noch nicht. Sie ist nur vorliegend für eine Stadt, und zwar für Halle a. S. Dort sind statistische Erhebungen über die Geburtenzahl unter Berücksichtigung der Stellung des Vaters im Beruf angestellt worden; es ergab sich, dass 1909 und 1910 die Zahl der Geburten in Familien von Selbständigen 17,2 und 17,3 pCt., bei An- gestellten 15 und 14,9 pCt., bei Arbeitern 38,9 und 37,6 pCt. war, das würde gegen die Annahme sprechen, dass in Arbeiterkreisen die gewollte Beschränkung der Kinderzahl stärker sei als in den wirtschaftlich besser- gestellten Schichten der Gesellschaft. Zu der Frage der Wege, auf denen man dem beklagenswerten Uebel- stande der Verminderung der Geburtenzahl am besten begegnen könnte, möchte ich bemerken, dass der deutsche Aerztetag es gewesen ist, der seit vielen Jahren auf die geradezu schamlose Reklame in der An- kündigung anticonceptioneller und abtreibender Mittel hingewiesen hat und auf die schweren Schädigungen, die gerade auf diesem Gebiete dem Volkswohl aus der Tätigkeit der Kurpfuscher erwachsen. Durch die Sammlung eines die Ausdehnung dieser Reklame in erschreckender Weise beleuchtenden Materials, durch Veranstaltung von Ausstellungen dieses Materials hat der Aerztestand auf eine Einschränkung des Krebs- schadens unausgesetzt hingewiesen und sie gefordert. Lebhaft zu be- klagen bleibt, dass der im vorigen Jahre dem Reichstag vorgelegte Ent- wurf eines Gesetzes, betreffend die Ausübung der Heilkunde durch nicht- approbierte Personen und den Geheimmittelverkehr, der in seinem § 7 die Ankündigung und Anpreisung von Mitteln und Gegenständen, die Verfahren, die zur Verhütung, Linderung oder Heilung von Geschlechts- krankheiten, zur Behebung geschlechtlicher Schwäche oder zur Hervor- rufung geschlechtlicher Erregung, sowie zur Verhütung der Empfängnis oder zur Beseitigung der Schwangerschaft dienen sollen, mit Gefängnis bis zu 6 Monaten und mit Geldstrafe bis zu 1500 M. bedroht, im Deutschen Reichstag eine Behandlung erfahren hat, die einerseits die mangelnde Kenntnis der grossen Schäden, die das Kurpfuschertum am Volkswohl anrichtet, verriet und andererseits die Hoffnung nicht auf- kommen lässt, dass dieser Entwurf bald Gesetz werden wird. Es lässt sich darüber streiten, ob ein Verbot der Ankündigung conceptionsverhindernder Mittel und Verfahren eine durchgreifende Wirkung haben würde, aber darüber kann kein Zweifel sein, dass mit •dem Verschwinden der verblümten und unverblümten Anzeigen schon dadurch viel genutzt werde, dass nicht immer die breite Oeffentlichkeit auf diese Dinge dauernd hingewiesen und gleichsam ihr Gebrauch als eine allgemein geübte Sitte hingestellt würde. Ein Verschwinden dieser Reklame ist im Interesse unseres Volks- lebens dringend wünschenswert. Schon seit langem auf die aus ihr er- wachsenden Schäden aufmerksam gemacht zu haben, bleibt ein Verdienst des Aerztestandes. Ilr. M. Chotzen: Der vorgerückten Stunde wegen will ich heute nur auf den einen vom Herrn Vortragenden erwähnten Punkt eingehen, wonach er die Zunahme der Geschlechtskrankheiten als erwiesen an- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 61 nimmt. Diese Annahme halte ich nicht für richtig. Ueber die Häufigkeit der Geschlechtskrankheiten in der Zivilbevölkerung gibt es nur eine Feststellung, die auf Ersuchen des preussischen Kultusministers am 30. April 1900 von den Aerzten vorgenommen wurde. Die bei dieser Momentaufnahme gewonnenen Ziffern haben aber bisher noch keine Wiederholung gefunden, d. h. die Medizinalabteilung hat sich seit 1900 noch nicht entschlossen, eine erneute Feststellung der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten vornehmen zu lassen. Nach dieser Richtung fehlt also die Unterlage für die Annahme einer Vermehrung der Ge- schlechtskranken. Anders liegt es bei der Armee und Marine. Hier besteht seit ca. 1880 eine dauernd fortgeführte Statistik. Diese ergibt, dass die Geschlechtskranken ganz wesentlich abgenommen haben und im letzten Jahrzehnt sich auf einer verhältntsmässig niedrigen Stufe halten. Dieser Befund gestattet aber auch einen Rückschluss auf die Häufigkeit der Geschlechtskrankheiten in der Zivilbevölkerung. Es ist einwandsfrei er- wiesen, dass die in der Armee während der Dienstzeit erworbenen venerischen Erkrankungen weniger auf frische Infektionen zurückzuführen sind, sondern dass sie in überwiegender Menge von den Rekruten vor Eintritt in die Armee erworben werden, also noch aus dem Zivilleben stammen. Aus dem Sinken oder Stehenbleiben der Geschlechtskrank- heiten in der Armee ist also auf ein Sinken oder Stehenbleiben der Geschlechtskrankheiten in der Zivilbevölkerung zu schliessen. Diese Schlussfolgerung findet ihre Bestätigung in den Statistiken der Kranken- kassen, wonach auch bei solchen ein Stillstehen oder geringes Hin- und Herschwanken der Gescblechtskrankenziffer festzustellen ist, aber durch- aus nicht eine Zunahme. Aber ganz abgesehen davon, ob eine Zunahme, ein Stillstehen oder ein Sinken der venerischen Erkrankungen angenommen wird, ist es nur sehr fraglich, ob den Geschlechtskrankheiten für den Rückgang der Geburten die Bedeutung beizumessen ist, die der Herr Vortragende annimmt. Meinem Ermessen nach ist die Geburtenabnahme weit weniger eine gesundheitliche als eine wirtschaftliche Folge. Hr. S. Wolffberg hält ebenfalls den für die neuere Zeit fest- gestellten Geburtenrückgang für bedrohlich. Um aber diesen Rückgang quantitativ zu bewerten, erscheine es in wissenschaftlicher Betrachtung noch zweifelhaft, ob man berechtigt sei, die neueren Geburtenzahlen mit denen des Jahrzehnts 1871/1880 zu vergleichen. Die Geburtsziffer haben in den 70 er Jahren eine ganz besondere Höhe erreicht, wodurch sie aus dem Rahmen der Geburtenzahlen hervortrete. Dies gelte ebenso für das Deutsche Reich wie für einzelne grosse deutsche Städte, z. B. Breslau. In Breslau waren von 1821 ab bis 1870 die Geburtsziffern im allgemeinen nicht höher als nach 1880 bis gegen Ende des Jahrhunderts. Redner verweilt kurz bei den vermutlichen Ursachen des Geburten- austiegs in den siebziger Jahren und hebt insbesondere die ungewöhn- liche Zahl von Eheschliessungen hervor, die in Breslau (ebenso auch in Berlin) von 1872 ab bis einschliesslich 1877 stattfanden. Diese Zahl von Eheschliessungen ist in Breslau in keinem folgenden Jahre auch nur annähernd erreicht worden. Man kann hier zu den von dem Herrn Vortragenden sogenannten „organischen“ und „physiologischen“ Ursachen des Geburtenrückganges eine „autonome“ Regulierung der Geburten- zahlen hinzufügen, die lediglich durch die Ereignisse in der Bevölke- rungsbewegung ohne krankhafte Einflüsse und unabhängig von der willkürlichen Beschränkung der Geburtenzahl — hervorgerufen wird. Diese ursächliche Betrachtung dient für Breslau wesentlich zur Be- ruhigung, da der Geburtenrückgang gegenüber früheren Zeiten viel 62 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. geringer ist, als wenn die siebziger Jahre zum Vergleiche benutzt werden, und — wenigstens in Breslau — nach den vorliegenden Zahlen erst seit kaum 20 Jahren, erheblicher aber erst in diesem Jahrhundert zur Beobachtung kommt. Im übrigen aber teilt Redner die Befürchtungen des Vortragenden, dass die gewollte Einschränkung der Kinderzahl weiterhin dem Vater- lande zum Schaden gereichen müsse. Man müsse offen aussprechen, dass gerade in den gebildeteren Kreisen das Zweikindersystem seit längerer Zeit viel verbreitet sei; erst in neuerer Zeit gewinne die ge- wollte Beschränkung auch in der ärmeren Bevölkerung an Boden. Den Präventivverkehr hält Redner für schädlich und unsittlich. Grossen Schaden hätten gewisse Erzeugnisse der „naturheilkundlichen“ Literatur gestiftet wie das so überaus verbreitete Buch von Bilz. Besonders aber wirkten neuerdings die zahllosen Zeitungsankündigungen von „Rat und Hilfe, die öffentlichen Ausstellungen von Schutzmitteln und „hygienischen Artikeln“, die gelegentlich geradezu als Abtreibemittel zu bezeichnen wären, schädlich. Redner glaubt, dass gegen diese Aus- wüchse behördliche Maassnahmen notwendig und möglich sind. Hr. Oettinger erinnert an die bekannte Forderung der Statistik, Geburtenziffern nicht in Prozenten der Gesamtbevölkerung anzugeben, sondern sie auf die Zahl der gebärfähigen Frauen zu beziehen. Wenn diese Forderung auch für die Geburtenzahlen ganz Deutschlands ohne Belang sein dürfte, so kann sie geradezu entscheidende Bedeutung haben, wenn man einen bestimmten, engumschriebenen Bezirk herausgreift. Wenn also in Schöneberg die Geburtenzahl in den letzten 40 Jahren von 500 bis auf 140 (auf 10 000 Einwohner) zurückgegangen ist, so drückt sich darin wohl die Tatsache aus, dass der Zuzug von aussen, der die Entwicklung Schönebergs aus einer kleinen Dorfgemeinde zur Grossstadt bewirkte, eine ganz andere Alterszusammensetzung hatte, als die ursprüngliche Bevölkerung. Diese Zahlen aber mit Herrn Wolf dahin zu interpretieren, dass Schöneberg einen Geburtenrückgang um 75 pCt. er- fahren habe, ist kaum zulässig; und ebenso unberechtigt ist es, die Geburtenziffern dieser oder irgendeiner anderen deutschen Gemeinde mit irgendeinem französischen Departement von gleichfalls unbekannter Zu- sammensetzung zu vergleichen. Aus diesem Vergleich noch den Schluss zu ziehen, dass die Entwicklung in Deutschland sich nicht nur den französischen Zuständen näherte, sondern sie teilweise bereits erreicht oder sie übertroffen hätte, entbehrt mithin gleichfalls der sicheren Be- gründung. Dagegen wendet Herr Wolf allerdings ein, auch an mehreren Stellen seines Buches, dass die Alterszusammensetzung der Bevölkerung sich gerade im entgegengesetzten Sinne geändert habe. Der Rückgang der Mortalität sei in den fortpflanzungsfähigen Altersstufen viel stärker gewesen als in den nichtfortpflanzungsfähigen, und daraus sei zu folgern, dass sich der Anteil der Fortpflanzungsfähigen an der Gesamtbevölkerung gegen früher vergrössert habe. Der Rückgang der Geburtenzahl sei daher in Wirklichkeit noch grösser als er in der Statistik erscheint. Aber ganz abgesehen davon, dass das für einzelne Gebietsteile oder Gemeinden gar nicht in Betracht kommt, beruht diese Behauptung auf einem statistischen Trugschluss. Da sie anscheinend in der Literatur bisher ohne Widerspruch geblieben ist, sei das hier kurz dargelegt. Richtig ist, dass die Mortalität der fortpflanzungsfähigen Altersstufen in viel höherem Maasse zurückgegangen ist als die der Nichtfortpflanzungs- fähigen. Daraus folgt aber durchaus nicht, dass sich das Mischungsver- hältnis zugunsten der ersteren verschoben hätte. Wenn z. B. die Mortalität der Fortpflanzungsfähigen im Jahre 1895 6 pM. betrug und bis 1900 um lOpCt. zurückging, so bewirkte dieser Rückgang einen jährlichen I. Abteilung. Medizinische Sektion. 63 Zuwachs von 6 auf 10 000 Fortpflanzungsfähige. Die Mortalität der Nichtfortpflanzungsfähigen verringerte sich nun zwar im gleichen Zeit- raum in viel geringerem Maasse, etwa um 4 pCt. Da sie aber vorher viel grösser war, etwa 40 pM. jährlich, so bewirkte die prozentual ge- ringere Abnahme einen viel grösseren Zuwachs, etwa von 16 auf 10 000 Nichtfortpflanzungsfähige. Es muss also — wie auch vorher das Mischungsverhältnis zwischen Fortpflanzungsfähigen und Nichtfort- pflanzungsfähigen war — der Anteil der letzteren gestiegen sein. Im übrigen sind die statistischen Nachweise — wenigstens so weit sie von Herrn Wolf benutzt sind — entschieden korrekturbedürftig. In diesen kommt nämlich der behauptete kontinuierliche, seit 40 Jahren fort- schreitende Geburtenrückgang gar nicht zum Ausdruck. Denn die deutschen Geburtenzahlen, die auf Seite 2 des Wolf’schen Buches für die Jahrfünfte 1871 — 75 und 1891 — 95 angegeben sind, sind wesentlich kleiner, als die auf Seite 3 mitgeteilten deutschen Geburtenzahlen der Jahrzehnte 1871 — 80 und 1891 — 1900. Danach müsste jedesmal in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts eine starke Vermehrung der Geburten ein- getreten sein. Aber eine weitere Tabelle, in der die Zahlen für die einzelnen Jahre mitgeteilt sind, zeigt davon nichts und ergibt sowohl für die Jabrfünfte, als auch für die Jahrzehnte ganz andere Durchschnitts- zahlen als die erst erwähnten Tabellen. Aber noch nach einer anderen Richtung scheint die Statistik einer Erweiterung zu bedürfen. Dass die Tatsache des Geburtenrückgangs eine so verschiedene Beurteilung erfährt, von den einen als verderblich, von den anderen als segensreich bezeichnet wird, beruht offenbar darauf, dass er sich aus zwei ganz verschiedenen Vorgängen zusammensetzt, die ganz verschiedene Bewertung verdienen. Zum Teil beruht er zweifellos darauf, dass das Zwei-Kinder- und Ein-Kind-System nicht mehr auf die Kreise der Gebildeten und Wohlhabenden beschränkt bleibt, sondern in immer weiteren Kreisen zur Herrschaft gelaugt; zum Teil dürfte es aber auch darauf beruhen, dass die Ehen mit besonders grosser BVuchtbarkeit, mit exzessiv hohen Geburtenzahlen seltener werden. Während der erste Vorgang allgemein mit schwerer Sorge erfüllen dürfte, muss der zweite als ausserordentlich zweckmässig und günstig bezeichnet werden. Wir sehen darin nichts anderes als den Versuch, Energie zu sparen, den grössten möglichen Effekt mit dem geringsten möglichen Aufwand zu erzielen. Eine richtige Bewertung des Geburtenrückgangs wird erst dann möglich sein, wenn statistisch festgestellt wird, wie weit jeder dieser beiden Vorgänge daran beteiligt ist. Der Rückgang der Säuglingssterblichkeit scheint von Herrn Wolf in seiner Bedeutung etwas unterschätzt zu werden. Würden alle Kinder gerettet werden, die bei vollster Lebensfähigkeit vermeidbaren Schädlich- keiten erliegen, so würde der dadurch erzielte Gewinn etwa 1/3 bis 2/5 des gesamten Geburtenrückgangs der letzten 40 Jahre ausgleichcn. Fortsetzung der gemeinsamen Sitzung am 22. November 1912. Vorsitzender: Herr Vierhaus. Schriftführer: Herr Rosenfeld. Auf den Wunsch des Vorsitzenden gibt Herr J. Wolf nochmals ein Resume seines Vortrages unter Hinzufügung einer Anzahl weiterer Daten und antwortet gleichzeitig auf die am ersten Abend von den Diskussions- rednern gebrachten Fragen und Einwände. Gegen Herrn Wolffberg führt er an, dass die Entwicklung der Ge- burten nicht „aus sich“ und in diesem Sinne „autonom“ erklärt werden könne, als Zufalls- oder irreguläre Erscheinung. Gegen eine solche 64 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Deutung spreche die Konstanz des Rückgangs und die Tatsache, dass in der bisher statistisch kontrollierten Zeit sich eine so niedrige Geburten- quote wie gegenwärtig niemals gezeigt habe. Zur Atusserung des Herrn Partsch macht er darauf aufmerksam, dass man Arbeiter und Sozial- demokraten nicht identifizieren dürfe, Deutschland habe eine grosse Zahl Arbeiter, die nicht Sozialdemokraten seien, und die, wie eine Auszählung der in den Reichstagswahlen abgegebenen Stimmen zeige, eine wesentlich höhere durchschnittliche Geburtlichkeit haben als die der spezifisch so- zialdemokratischen Bezirke. Die Peststellung Herrn Chotz en’s, wonach die Frequenz der Geschlechtskrankheiten abnehme, vermag der Referent nur für die Städte und auch da nicht für alle zuzugeben, im Reichs- und Landesdurchschnitt dagegen steige zweifellos fürs erste noch die Krankheitsfrequenz in Zusammenhang mit der Wanderung vom Lande in die Städte und mit der ungeheuer viel grösseren Krankheitsfrequenz der ersteren. Auf die Aeusserungen Herrn Oettinger’s erwidert Ref., dass die von ihm vorgebrachte Annahme, der Rückgang der Ge- burten führe sich im Wesen auf eine Verschiebung in der Alters- schichtung zuungunsten der fortpflanzungsfähigen Klassen zurück, längst widerlegt sei, das Gegenteil sei in Wirklichkeit der Fall. Die Bezug- nahme auf Schöneberg war durchaus berechtigt, da dieser Fall zur Be- leuchtung einer Sonderentwicklung herangezogen und gleichzeitig mit- geteilt wurde, dass der Reichsdurchschnitt der Geburten — nicht etwa wie in Schöneberg um 75 pCt. — , sondern um etwa 25 pCt. gesunken sei. Zu dem beispiellosen Geburtenabsturz habe die Verschiebung des Altersaufbaus nur sehr wenig beigetragen. Es sei überaus gewagt, jenen mit letzterer zu erklären. Insgesamt wäre Ref. aber besonders dankbar, wenn in diesem Kreise ein Austausch ärztlicher Erfahrungen erfolgen wolle, da er mit Rücksicht auf diese Möglichkeit als Nichtarzt in diesem Kreise erschienen sei. Er bitte die Herren darum, der Mitteilung von Wahr- nehmungen, die sie in ihrem ärztlichen Berufe gesammelt hätten, in der Debatte die erste Stelle einräumen zu wollen. Hr. Iiayser: Die Hauptursache des willkürlich herbeigeführten Geburtenrückganges bilden wirtschaftliche Motive, die Herr Wolf in seinem Vortrage nur kurz gestreift, in seinem Buche ausführlich erwähnt hat. Mit Rücksicht auf die Tatsache, dass die ärmsten Klassen, die Pauperes, immer eine unbeschränkt grosse Zahl von Kindern erzeugen, lässt sich das wirtschaftliche Motiv etwa so präzisieren: Sobald die Masse des Volkes zu einer höheren Wirtschaftslage, mit einem gewissen Lebenskomfort gelangt und die Aufrechterhaltung der erreichten Lebens- haltung durch eine grössere Kinderzahl empfindlich erschwert wird, tritt der Wille zur Verminderung der Geburten zutage. Hiermit ist aufs engste ein ideelles Moment verbunden, von Herrn Wolf treffend als das rationalistische bezeichnet, die rationelle Denkweise und Lebensführung. Aus der bei einer gewissen Kulturhöhe nahezu notwendigen Verknüpfung beider Momente lassen sich die Besonderheiten des Geburtenrückganges leicht ableiten. 1. Der Zeitpunkt des Beginnes im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts, wo die Entpauperung des industriellen Proletariats in erheblichem Maasse begonnen hat, 2. die Progressivität, 3. die Diffe- renzen der einzelnen Länder, 4. die Differenzen zwischen Stadt und Land. Dazu kommen noch als wichtig in Betracht: die Besitzverhältnisse der Bauern auf dem Lande, die rapide Steigerung der selbständigen Berufs- arbeit der Frauen zugleich mit einer ideologischen Veränderung der weiblichen Lebensauffassung. Dinge, die Herr Wolf auch in seinem Buche erwähnt. Meine Differenz mit ihm erstreckt sich auf folgendes: Herr Wolf hat in seinem Vortrag mit besonderer Ausführlichkeit und Betonung einen ursächlichen Zusammenhang zwischen religiös-politischer Gesinnung und Geburtenziffer zu statuieren versucht. Ich halte diese I. Abteilung. Medizinische Sektion. G5 Ansicht für nicht richtig bzw. für enorm übertrieben. Religiöspolitische Gesinnung bestimmter Art und die erwähnten wirtschaftlichen Momente fallen aus verschiedenen Gründen häufig zusammen, da tritt ein Zu- sammenhang scheinbar zutage. Die wirtschaftlich - ideellen Momente äussern sich auch z. B. in der von Herrn Wolf erwähnten Abnahme des Analphabetismus oder in der Verkürzung der Arbeitszeit, die man aber doch nicht als direkte Ursachen des Geburtenrückganges ansehen wird. Die statistischen Beweise des Herrn Wolf sind Dicht stichhaltig. Als Hauptbeispiel gilt ihm das protestantische und stark sozialdemo- kratische Königreich Sachsen gegenüber dem katholischen und wenig sozialdemokratischen Bayern. Sachsen hatte 1910 eine Geburtenziffer von 27,2, Bayern von 32,4. Aber im Jahre 1900, wo doch die gleichen religiös-politischen Gegensätze hätten wirksam sein müssen, hatte nach S. 20 und 21 des Wolt’schen Buches Sachsen 39,4 und Bayern 37,9 als Geburtenziffern. Die Intensität des Geburtenrückganges ist aller- dings in Sachsen in den 10 Jahren viel grösser: von 39,3 auf 27,2, während die Geburtsziffer in Bayern von 37,9 nur auf 32,4 zurückgeht. Aber das erklärt sich einfach aus der ökonomischen Verschiedenheit. In Sachsen, mit seinem sehr zahlreichen industriellen Proletariat, muss dessen Entpauperung viel intensiver wirken als in dem industriell viel schwächeren Bayern. (Man kann zugeben, dass die katholische Kirche unter besonderen Umständen vereinzelt die Erhöhung der Geburtenziffer begünstigen kann. Aber das ist für das Gesamtresultat verschwindend.) Herr Wolf hat selbst auf Frankreich hingewiesen. Ein anderes Beispiel ist Oesterreich. (S. 79 des Wolf’schen Buches steht Oesterreich an der Spitze der „Völker katholischen Bekenntnisses mit anerkannter Kirch- lichkeit der Masse“. Und doch erklärt Herr Wol f S. 226 und 229, dass der Geburtenrückgang in Oesterreich in gleicher Weise vor sich gehe wie in Preussen und: „es bestehe nicht die geringste Berechtigung zur An- nahme, dass die Geburtenziffer in Oesterreich einen wesentlich anderen Gang gehen werde als im Deutschen Reich“.) Wendet man die von Herrn Wolf geübte Zahlengruppierung auf die Sterblichkeitsziffer an, die durch ähnliche wirtschaftlich-ideelle Momente bestimmt mit der Ge- burtenziffer parallel sinkt, so kommt eine entgegengesetzte Bewertung heraus. Sachsen hatte 1810 eine Sterblichkeitsziffer von 16,1, Bayern dagegen 20,0. In Herrn Wolf’s Buch (S. 75) wird als besonders „über- raschende“ Uebereinstimmung bezeichnet, dass Berlin bei 66 pCt. sozial- demokratischer Wahlstimmen eine Geburtenziffer von 23,9, dagegen die Provinzen Westpreussen und Posen bei 7 bzw. 9 pCt. sozialdemokratischer Stimmen Geburtenziffern von 58,5 bzw. 39,7 aufweisen. Nimmt man aber die Sterbeziffern pro 1910 hinzu, so lauten sie für Berlin 16,3, für Posen 20,2, für Westpreussen 21,3, also eine noch genauere Ueberein- stimmung. Man könnte auch hier eine Phantasierechnung ansteilen, wie viel Hunderttausende von Menschenleben dem Vaterlande durch die protestantisch - sozialdemokratischen Grossstädte wie Berlin, Hamburg, Dresden usw. erhalten würden im Vergleiche mit Westpreussen und Posen. Die von Herrn Wolf so in den Vordergrund gehobene Zahlen- gruppierung mit ihren Konsequenzen bietet eine gewisse Gefahr. S. 154 des Wolf’schen Buches wird auf eine Skala hingewiesen, welche die einzelnen politischen Parteien Deutschlands nach der Geburtenfrequenz ordnet. S. 202 wird als Mittel zur Bekämpfung des Geburtenrück- ganges, „nach den hier gepflogenen Untersuchungen“, die Entwindung „des rationalistischen Arguments“ und „die Pflege der Kirchlichkeit“ besonders hervorgehoben. Auf der rationellen Denkweise beruht aber im wesentlichen die moderne Kultur, die also bedroht wird, um Jahr- hunderte zurückgeschraubt zu werden. Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Kultur. 1912. I. 5 66 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Der von Herrn Wolf an die Aerzte gerichtete Appell ist acceptabel, soweit die Aerzte in Wort und Schrift die Wöchnerinnensterblichkeit, die Geschlechtskrankheiten mit ihren Folgen für die Fortpflanzungs- fähigkeit, die gesundheitsgefährlichen Abortivmittel usw. bekämpfen sollen, was ja schon seit langem in grösserem Umfang geschieht. Der Appell will aber offenbar weitergehend, dass die Aerzte in der Familie und öffentlich auf eine grössere Geburtenzahl in der Ehe hinwirken. Das ist aber undurchführbar. Jeglichen Präventivverkehr überhaupt als krankmachend hinzustellen, ist unzulässig, weil dessen gesundheits- schädliche Wirkungen doch sehr problematisch sind. (Dass recht zahl- reiche Geburten für die Lebensdauer, die Gesundheit und das Wohl- ergehen der Mütter und Kinder besonders günstig sind, ist unmöglich zu behaupten.) Schliesslich könnte jede Arbeiterfrau die Frage entgegenhalten: wie es dann mit dem Kinderreichtum bei den Aerzten selbst stehe? Nach S. 119 des Wolt’schen Buches haben Aerzte und Apotheker die geringste Anzahl Kinder. Bei den anderen höheren Berufsarten steht es aber ganz ähnlich. S. 43 des Wolf’schen Buches wird die geringe Fruchtbarkeit der Ehen von Universitätslehrern und Lehrern an höheren Anstalten erwähnt und S. 135 gesagt, dass bei Lehrern und kleinen Beamten „die Kinderzahl vielleicht die grösste Verminderung erfahren hat“. Der Appell müsste sich also an alle höheren Klassen richten. Bei der Bekämpfung des Alkoholismus und der künstlichen Ernährung der Säuglinge ist für den Erfolg das Beispiel der Aerzte selber resp. ihrer Frauen von Einfluss. Auch in bezug auf die Geburtenziffern muss dem Beispiel, speziell der sogenannten intellektuellen Klassen eine er- hebliche Bedeutung zuerkannt werden. Hr. Carl Alexander: Die Frage, wie wir uns zu dem Geburten- rückgang zu stellen und inwieweit wir ihn zu beklagen haben, wird nicht eindeutig beantwortet. Dem fanatischen Standpunkte Born- träger’s stehen Ansichten anderer Männer gegenüber, darunter solcher, die, wie z. B. Elster, im Hinblick auf ihre Stellung der Verantwort- lichkeit ihrer Aeusserungen bewusst sind und doch offen aussprechen, dass das Dogma von Kindersegen in jedem Falle nicht haltbar ist, und dass nicht bloss die Quantität, sondern auch die Qualität der Nach- kommen in Betracht zu ziehen ist (siehe Eröffnungssitzung der „Ver- einigung für staatswissenschaftliche Fortbildung“). Die durch zu viele Kinder bewirkte Verelendung der Massen und die bei den heutigen schweren Erwerbsverhältnissen durch zu viele Kinder eintretende Pro- letarisierung des Mittelstandes kann gerade auch vom nationalen Stand- punkte aus nicht gleichgültig sein, weil es sich dann um Vermehrung des Volkes durch Elemente handelt, deren durch Not unterbliebene Er- ziehung und deren aus einer freudlosen Jugend entsprungene staats- feindliche Gesinnung sie zu gefährlichen Gegnern der Gesellschaft macht. Zudem sterben in sehr kinderreichen Ehen prozentual viel mehr Kinder als in denen mit weniger Kindern (Untersuchungen von Hamburger - Berlin in Arbeiterfamilien). Es handelt sich also bei zu vielen Ge- burten um nutzlose Verschwendung mütterlicher Energie und erhöhte gesundheitliche Gefahren. Schliesslich kann zur Zeit die Gefahr des Geburtenrückganges nicht allzu gross sein, weil vor noch nicht langer Zeit, als es sich um Förderung der Kolonialbewegung handelt, sogar die Gefahr der Uebervölkerung Deutschlands als wesentliches Moment in den Vordergrund gerückt worden ist. Auch das Gutachten der „Wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen in Preussen“ besagt im Leitsatz V, „dass die Abnahme der Geburtenziffer mit Rücksicht auf die ausgleichende Erniedrigung der Sterbeziffer nicht bedrohlich ist“. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 67 Aber diese ausgleichende Erniedrigung der Sterbeziffer wird, wie das Gutachten weiter sagt, „ihre natürliche Begrenzung erreichen. 44 „Deshalb erfordert es das Staats- und Yolkswohl, auf geeignete Maass- nahmen rechtzeitig Bedacht zu nehmen.“ Und so werden auch diejenigen, welche sich der Wucht der Gründe für die Zweckmässigkeit einer relativen Beschränkung der Kinderzahl beugen, sich doch der Einsicht nicht verschliessen können, dass diese eine Grenze finden muss und nicht zu weit gehen darf; Unheil erwächst uns hieraus nicht bloss in bezug auf unsere Kriegsbereitschaft, sondern auch noch aus einem anderen nationalen Grunde: das Fehlen von Arbeitern würde den leider schon jetzt bei Landwirtschaft und Industrie starken Import ausländischer Arbeiter (Polen usw. !) zum Schaden des Deutschtums noch weiter steigern. Zur Bekämpfung des Geburtenrückganges sind verschiedene Mittel angegeben worden; aber nicht genügend bekannt ist die Notwendigkeit des Vorgehens gegen gewisse kurpfuscherisch-naturheilkundliche Bücher und Schriften, die Anweisungen zum Präventivverkehr und zur Ab- treibung angeben, wie z. B. das „Bilz’sche Naturheilverfahren“, das in mehr als einer Million Exemplaren verbreitet ist (worauf die Herren Wolffberg und Partsch in der Diskussion schon hingewiesen haben). Ebenso schlimm, vielleicht noch schlimmer sind die zahlreichen eigen- artigen Annoncen in gewissen Tagesblättern — so z. B. im Breslauer General - Anzeiger Nr. 319 vom 20. November 1912 und an anderen Tagen wiederholt nicht weniger als zehn derartiger Annoncen in einer Nummer — in denen Frauen durch bestimmte Personen angelockt und auf Mittel und Methoden zur Verhütung der Conception und zur Abtreibung aufmerksam gemacht werden. Der Wunsch zur Verhütung der Conception und zur Abtreibung würde gar nicht' in solchem Umtange sich geltend machen oder zum mindesten nicht so häufig in die Wirklichkeit umgesetzt werden können, wenn nicht durch die grosse Zahl derartiger Annoncen die Frauen auf diese Frage hingelenkt werden würden und sich die Kenntnis der ent- sprechenden Mittel und Methoden verschaffen könnten. Wie skrupellos die betreffenden Zeitungen in der Aufnahme der- artiger Annoncen sind, geht u. a. aus einem Berichte des „Gesundheits- lehrers“ (Organ der „Deutschen Ges. z. Bek. d. Kurpf.“, November- Heft 1912) hervor, wonach in Hannover der Aerzteverein dortige Zeitungsi’edaktionen auf die Gefahr derartiger Annoncen aufmerksam gemacht, aber nicht den mindesten Erfolg damit erzielt hat, da trotz der Aufklärung der Redakteure diese Annoncen weiter erschienen. Des- halb ist ein Verbot derartiger Annoncen — wie es im Kur- pfuscherei-Gesetzentwurf vorgesehen war — durchaus nötig, eventuell durch landesgesetzliche Regierungs-Polizeiverordnungen, die sich auf § 10, II, 17 des Allg. Land-R., bzw. d. Allg. Polizeiverwalt.-Gesetz. vom 11. März 1850 stützen; noch besser wäre ein Verbot der Be- handlung aller Leiden und Störungen an den Geschlechts- organen durch Nichtärzte, weil sonst die Abtreiberinnen die Aus- rede geltend machen könnten, dass sie die betreffenden Mittel nur „zur Behandlung“ von Frauenleiden angewandt hätten. Jedenfalls sollte man zur Beeinflussung des allzu schnellen Geburtenrückganges derartige gesetzliche Maassnahmen versuchen und sie nicht von vornherein als erfolglos ablehnen. Hr. Asch: In klarster Weise hat Herr Küstner schon seine Stellungnahme als klinischer Lehrer zur Frage des Geburtenrückganges beleuchtet. Wenn nun auch Herr Kays er die Stellung des Praktikers nach vielen Richtungen hin klargelegt hat, so glaube ich doch, dem 5* «8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. noch einige aus meiner Erfahrung und unserer Stellung zu den praktischen Aerzten hinzufügen zu dürfen. Wir sind ja doch vom Herrn Vortragenden direkt als Hilfstruppe aufgerufen. Die Aerzte empfinden ihre Pflicht zum Eingreifen schon lange, er- kennen aber auch recht wohl ihre Verpflichtung als Berater der Frau und der Familie nach einer Richtung hin, die von mancher Seite kaum als Kampf gegen den Geburtenrückgang aufgefasst werden kann. Es vergeht wohl kein Aerztekurs, in dem ich nicht von einigen Aerzten gefragt werde, welche Präventivmittel als sicher und unschädlich zu empfehlen sind. Nun, diese ernsten, strebsamen Kollegen, die auf ihre Fortbildung nach jeder Richtung hin bedacht sind, wollen ihrerseits keineswegs die Geburtlichkeit bekämpfen: sie stehen der Tatsache des Willens der Betreffenden gegenüber, ohne ihn beeinflussen zu können; es leitet sie der Drang des hygienisch denkenden Arztes, an Stelle der die Gesundheit schädigenden Maasnahmen, anstatt der unsicheren Mittel sicher wirksame zu setzen. Nicht eine Folge der Präventivmittel ist der Geburtenrückgang, sondern der mehr und mehr zunehmende Wunsch nach Einschränkung der Kinderzahl hat das Erfinden von Präventiv- mitteln zur Folge gehabt, deren Anwendung nicht an die Stelle der Conception, sondern an Stelle des von alters her geübten Coitus reservatus seu interruptus trat. Kann der Arzt den festentschlossenen Mann nicht anders von der Ausübung der nervenzerrüttenden Maassnahme abbringen, so muss er ihm Mittel zeigen, seinen Vorsatz ohne Schaden zu er- reichen. Eine zeitliche Begrenzung des Fortpflanzungsgeschäfts wird immer Platz greifen müssen. Mit zunehmender Kultur sind unsere Frauen tatsächlich nicht mehr tauglich, alljährlich Kinder zu bekommen. Kein Geburtshelfer, kein Gynäkologe, kein Arzt kann auf die Dauer auch der sonst gesunden Frau das zumuten, seit die Frau nicht mehr durch körperliche Muskelarbeit gestählt, durch körperliche Vollendung in den geistigen Erziehungsjahren zur unentwegten Fortpflanzung ge- eignet ist. Damit ist der Präventivverbehr aber im Prinzip als schwer vermeidlich anerkannt. Wohl soll Enthaltsamkeit an Stelle der Vor- beugung treten, doch wird auch diese nur für gewisse Zeiten verlangt; eine irgend erhebliche Sicherheit ist damit nicht gegeben. Der Kulturfortschritt, das Zusammenschieben der Bevölkerung in die grossen Städte hat auch der Frau geistige Waffen zum Kampfe ums Dasein aufgezwungen und damit ihren Körper weniger tauglich zum fortwährenden Fortpflanzungsgeschäft gemacht. Er ist wohl fähig zur Fortpflanzung, aber die dauernde Betätigung macht die Frau unfähig, andere, nicht weniger notwendig erscheinende Lebensaufgaben zu erfüllen. Nicht aus Luxus, nicht aus Bequemlichkeit neigen die Frauen zu immer grösseren Pausen in der Gebärarbeit, sondern aus Not des Lebens, wenigstens das Gros der Frauen, die bei grossen statistischen Nach- weisen in Betracht kommen. So sehen wir, dass der Geburtenrückgang sich nicht erst an das Auftauchen der Präventivmittel anschliesst; die Möglichkeit, der Conception vorzubeugen, besteht, so lange es Menschen mit Willensbetätigung gibt, das gebräuchlichste Mittel zur Erreichung des Zwecks seit über 200 Jahren. Der Geburtenrückgang aber ist ein Zeichen neuerer Kulturentwicklung, höherer Anforderungen auch an die Frau. Weil sie ihre Mutterpflichten erfüllen muss (Kindererziehung in .körperlicher wie geistiger Beziehung), dem Manne eine Hilfe im Berufs- leben sein muss und dabei die Gebärlichkeit früherer Zeiten nicht ohne Schaden beibehalten kann, muss der Arzt oft dem Individuum gegenüber auf die Erfüllung seiner nationalen und sozialen Wünsche verzichten. Wir Aerzte haben auf der anderen Seite genug zu tun, um dem Geburten- rückgang zu steuern: Bekämpfung der Sterilität, der Einkindsterilität durch prophylaktische Pflege, durch Bekämpfung der Verbreitung der I. Abteilung. Medizinische Sektion. 69 Geschlechtskrankheiten, ihre Heilung und Verhütung ihrer Folgen sind Aufgaben, die wohl geeignet sind, eine hygienische Tätigkeit auf oben gekennzeichnetem Gebiet für die Allgemeinheit wieder wett zu machen. Gegen die physiologischen und pathologischen Gründe des Geburten- rückganges finden Sie die Aerzte allezeit auf dem Kampfplatz, gegen die sozialen Gründe, gegen die gewollte, aus Not gewollte Einschränkung der Kinderzahl sind andere Truppen aufzubringen. Darüber noch einige Worte: Ein gut Teil der Gründe des Geburtenrückganges liegt in dem Zu- nehmen der Eheschliessungen in höherem Alter. Die Frau fühlt sich nicht mehr so geeignet, viele Kinder in die Welt zu setzen, der Mann fürchtet, die Erziehung der Kinder nicht mehr erleben zu können. Daher hat auch bei Unehelichen der Geburtenrückgang sich nicht so, meines Wissens gar nicht, bemerkbar gemacht, wo junge Mütter in Frage kommen. Hier aber zeigt sich die Sterblichkeit am grössten; hier wird es Aufgabe aller Schichten der Bevölkerung sein, das, was in aus- reichender Zahl geboren wird, am Leben zu erhalten. Zu Unrecht ist dem Deutschen Bund für Mutterschutz der Vorwurf gemacht worden, er unterstütze durch seine Bestrebungen die Geburtlichkeit. (Man könnte ebensogut der Gesellschaft zur Bettung Schiffbrüchiger vorwerfen, dass sie Schiffbrüchen Vorschub leiste.) Wohl aber hat der Bund durch eine Petition an den Keichstag eine Forderung gestellt, die wohl ge- eignet wäre, dem Geburtenrückgang zu steuern. Er will durch eine ausgedehnte Mutterschaftsversicherung einen Teil der Ursachen des Geburtenrückganges aus der Welt schaffen und greift damit das Uebel an der Wurzel an. Ich muss mir hier das nähere Eingehen auf dieses Thema versagen und will nur noch kurz auf einen anderen Punkt hin- weisen, auf den mich mein spezieller Beruf und meine Tätigkeit am Krankenhause lenkt. Nicht sowohl die Einschränkung der Conception hat den Geburten- rückgang zur Folge als zum guten Teil die vorzeitige kriminelle Unter- brechung der eingetretenen Schwangerschaft. Der kriminelle Abort nimmt in wahrhaft erschreckender Weise zu. Nicht allein die von Herrn Küstner geschilderten sogenannten anticonceptionellen Mittel, wie Sterilet usw., sind in Wahrheit Abortiva, sondern es werden ganz offen Spritzen überall feilgeboten, die nur zum Zweck der Abtreibung dienen und dienen können. Ich möchte den dankenswerten Mitteilungen von Herrn Wolffberg nur noch hinzufügen, dass in Leipzig der Kampf hiergegen mit Erfolg aufgenommen worden ist. Dazu bedarf es keines gesetzlichen Verbots anticonceptioneller Mittel, dazu genügen ge- eignete Maassnahmen der Verwaltungsorgane. Bilz’ Buch, aus dem unzählige Frauen lernen, sich die Frucht selbst abzutreiben, in dem sogar die Bezugsquellen angegeben werden, das Feilhalten von Mutter- spritzen kann man verbieten, den Coitus interruptus und den Gebrauch des Condoms nicht. Ob aber überhaupt durch belehrende, geistliche oder religiöse Ein- flüsse ein Erfolg zu erzielen ist, dafür müsste eine spezielle Statistik Aufschluss geben. Nicht der Vergleich der Zahlen des Geburtenrück- ganges in vorwiegend katholischen Ländern oder Landesteilen mit anders bewohnten vermag ausschlaggebendes Material zu liefern, weil hier noch eine Menge anderer Faktoren (Landbevölkerung, Industriearbeiter usw.) mitsprechen; aber es wäre vielleicht möglich, festzustellen, ob in Landes- teilen, in Städten, wo gemischt religiöse Bevölkerung zusammenwohnt, der Geburtenrückgang bei Katholiken ein wesentlich niedrigerer ist, als bei den Angehörigen anderer Konfessionen. Dieser Nachweis muss durch die Standesämter möglich sein und erbracht werden. Vielleicht gibt der Herr Vortragende darüber noch nähere Aufschlüsse. 70 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Hr. Yierhaus führte aus: Wenn der Herr Berichterstatter in einigen Beziehungen auch auf Abhilfe durch die Gesetzgebung verwiesen habe, so dürfe man hiervon nicht zu viel erhoffen. Dabei kämen steuerliche Maassnahmen (Bevorzugung der Verheirateten und der Väter von Kin- dern, Benachteiligung Ehe- und Kinderloser) nicht in Frage, sondern nur Aenderungen der Rechtsordnung. Aber es bewahrheite sich stets, dass Gesetze zwar eine vorhandene Volksanschauung weiter zu ent- wickeln und auszugestalten vermöchten, nicht aber eine allgemeine Ueberzeugung erst schaffen könnten. Gesetzgeberische Maassnahmen allgemeiner Art, durch die die Recht- stellung der Verheirateten und Väter von Kindern besser gestellt würden, seien schwer durchführbar. Ein grosses Beispiel biete die Rechts- geschichte in der Gesetzgebung des Kaisers Augustus, der Lex Julia et Papia Poppaea, die er übrigens erst nach langem Widerstande des Senats durchzuführen vermocht habe. Ausser öffentlich-rechtlichen Nachteilen für Ehelose (caelibes) und Kinderlose (orbi) sei insbesondere deren Fähigkeit, Erbschaften und Ver- mächtnisse zu erwerben, eingeschränkt worden. Was sie nicht hätten erwerben können, sei in demselben Testament bedachten Vätern von Kindern oder dem Fiskus zugefallen. Diese Gesetzgebung habe 800 Jahre bestanden, wesentliche Wirkungen aber nicht gehabt. Auch beruhe sie auf Voraussetzungen, an denen es bei uns fehle. Eine mittelbare Hilfe der Gesetzgebung gegen die geschilderten Missstände sei möglich durch strafrechtliche Maassnahmen gegen Prä- ventiv- und Abortivmittel. Aber man solle sich hiervon nicht zu viel versprechen. Zunächst würden solche Gesetze als sogenannte Polizei- gesetze bei der parlamentarischen Beratung lebhaftem Widerstand be- gegnen: leider sei man bei uns gewohnt, die Möglichkeit einer miss- bräuchlichen Anwendung einer Polizeivorschrift stets als das grössere Uebel gegenüber der Verhütung von Schäden in zahlreichen anderen Fällen anzusehen. Einen Beleg biete das leider gescheiterte Kur- pfuschereigesetz. Dann werde es schwer halten, den Tatbestand, den man bestrafen wollte, genau genug und umfassend genug zu formulieren. Endlich falle schon nach der Natur der zu bestrafenden Handlungen der Beweis der Tatbestandsmerkmale im einzelnen Strafverfahren ausser- ordentlich schwer. Damit solle einem Vorgehen der Gesetzgebung keineswegs wider- raten werden; man solle sich nur darüber klar werden, dass man damit nur beschränkte Erfolge erzielen könne. Eine Abhilfe der von den Vorrednern geschilderten Nachteile sei nur von einer Aenderung der Anschauungen und Sitten zu erwarten; auf diese einzuwirken, sei die zu lösende Aufgabe. Hr. M. Chotzen: Die Auffassung des Herrn Vortragenden von der Gefahr, die der bisherige Geburtenrückgang in sich birgt, weicht wesent- lich ab von der, die die Wissenschaftliche Deputation in ihren Schluss- sätzen bekundete: sie hält die Abnahme der Geburtenziffer nicht für bedrohlich. Auch die Annahme des Herrn Vortragenden, dass wir uns mit Riesenschritten französischen Verhältnissen nähern, dass z. B. in Sachsen, wie er sagt, wir in 50 Jahren schon den jetzt in Frankreich bestehenden Zustand haben werden, wird von anderer maassgeblicher Seite nicht geteilt: Würzburger berechnet bei unveränderter Andauer der Geburtenabnahme in Sachsen erst in 150 Jahren einen Stillstand. Die willkürliche Unterbrechung der Schwangerschaft ist in Amerika, wo sie gesetzlich nicht verboten ist, für den Geburtenrückgang von immer steigenderer Bedeutung, bei uns von nur geringer. Geschlechtskrankheiten können nur nach zwei Lichtungen für die vorliegende Frage ins Gewicht fallen: durch vorzeitiges Aufhören der I. Abteilung. Medizinische Sektion. 71 Schwangerschaft oder durch Entwicklung dauernder Unfruchtbarkeit. Die Wissenschaftliche Deputation erklärt aber in ihren Schlusssätzen ausdrücklich, dass eine Abnahme der Eortpflan zungsfähigkeit beider Geschlechter in Preussen und Deutschland sich nicht sicher beweisen lässt. Von den zur Bekämpfung des Geburtenrückganges vorgeschlagenen Maassnahmen halte ich die Einführung einer allgemein unentgeltlichen Behandlung von geschlechtskranken Personen für überflüssig. Bei der zurzeit gültigen Krankenkassenversorgung und bei der Ausdehnung, die sie vom 1. Januar 1914 ab erreichen wird, gibt es in den breiten Volks- schichten kaum noch Menschen, die gegen persönliches Entgelt behandelt werden. Für die untersten Schichten und für den Mittelstand, der von Geschlechtskrankheiten ergriffen sein sollte, ist also bereits hinlänglich gesorgt; ärztliche Beratung und Heilmittellieferung steht ihnen aus- giebigst zur Verfügung. Ueberdies gibt es in jeder grösseren Stadt — und nur in diesen ist infolge des Ansteigens der Industriearbeiterschaft zeitweise ein Anschwellen der venerischen Erkrankungen wahrzunehmen — staatliche oder städtische oder private Polikliniken für Geschlechtskranke, die jetzt schon jeden ohne Unterschied, selbst wenn er nicht einer Krankenkasse angehört, unentgeltlich behandeln. Eine Einschränkung der absichtlichen Befruchtungsverhütung ist von polizeilichen Maassnahmen, die die Ankündigung von Präventivmitteln verhindern sollen, nicht zu erwarten. Es muss mit der Tatsache ge- rechnet werden, dass der Präventivverkehr von breiten Schichten der Bevölkerung ausgeübt wird, die nicht erst durch öffentliche Ankündigung der Präventivmittel dazu angeregt werden. Es sind nicht die untersten Schichten, die sich dazu entschliessen, etwa ungelernte Tagearbeiter, sondern gerade bessere, gelernte Arbeiter, untere Privatbeamte, untere Staatsbeamte. Sie entschliessen sich dazu nicht aus Uebermut oder Laune, sondern aus bitterer Not. Sie wissen, dass eine Steigerung ihres Einkommens nicht zu erwarten ist, dass sie mit den vorhandenen Mitteln eine zahlreiche Nachkommenschaft selbst im Rahmen ihrer bis- herigen bescheidenen Lebensführung nicht erhalten und zu einem Auf- wärtsschrauben vieler Kinder in eine höhere Bildungsstufe und bessere Erwerbsklasse es nicht bringen können. Wirtschaftliche Sorgen sind es, die sie zum Präventivverkehr bestimmen, und nur wirtschaftliche Maass- nahmen können — wie auch die Herren Pistor und Dilturch in der Wissenschaftlichen Deputation betont haben — Abhilfe schaffen. Durch die gesetzgebenden Körperschaften wird jenen unteren Schichten eine wirtschaftliche Hilfe, die die Aufziehung zahlreicher Kinder ermöglichen würde, kaum gewährt werden. Eine Volksvertretung, die bei der Beratung der Reichsversicherungsordnung die beantragte Wochenbettprämie ablehnt, beweist, dass ihr das Verständnis für die Notwendigkeit eines Schutzes der untersten Schichten zum Zwecke der Hebung der Bevölkerungsziffer fehlt. Hr. Bondy: Gegen die Berechnung der Zahl der Fruchtabtreibungen durch den Herrn Vortragenden muss ein Einwand gemacht werden. Er legt derselben die bekannte Schätzung Hegar’s u. a., wonach auf 8 bis 10 Geburten ein Abort kommt, zugrunde und berechnet danach die Zahl der Fruchtabtreiburrgen mit etwa 200 000 für Deutschland. Hier liegt aber augenscheinlich eine Verwechselung von Abort und Abtreibung vor, und wenn man auch zugeben muss, dass besonders in Grossstädten ein grosser Teil der Aborte krimineller Natur ist, so bleibt doch noch eine genügend grosse Zahl von spontanen Schwangerschaftsunter- brechungen übrig, um die angenommene Zahl von 200 000 wesentlich zu reduzieren. 72 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Hr. S. Wolffberg stellt gegenüber der von dem Vortragenden gegebenen Zusammenfassung der bisherigen Erörterung fest, dass er die künstliche Beschränkung der Geburtenzahl keineswegs bestritten habe; das Gegenteil sei richtig. Nur hält Redner daran fest, dass es noch nicht feststehe, ob man berechtigt sei, den Geburtenrückgang durch Vergleich mit den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu messen. Die hohen Geburtsziffern der siebziger Jahre beweisen keineswegs eine be- sonders hohe Fruchtbarkeit dieser Jahre. Redner wolle an dieser Stelle lediglich die Verhältnisse in Breslau besprechen. Für Breslau liegen zuverlässige statistische Feststellungen vor, die für unsere Frage wichtig sind. So hat beispielsweise in Breslau die Zahl der älteren Frauen zugenommen: im Jahre 1880 gab es 198 von 1000 Frauen, die älter als 45 Jahre waren, im Jahre 1910 aber 224, also 31 pM. mehr; und Prof. Neefe, dessen Untersuchung diese Zahlen entnommen sind, fügt selbst hinzu, dass hierauf neben anderen Gründen der Rückgang der Geburtsziffer zurückgeführt werden kann. Geht man also in vergleichender Beurteilung der heutigen Geburtsziffer bis auf 1880 zurück, so spielen — im Gegensätze zu der gewollten Einschränkung der Kinderzahl — die „autonomen“ Einflüsse sicher eine gewisse, anscheinend nicht unerhebliche Rolle. Andererseits aber kann man in Breslau für das Ende des Jahr- hunderts und weiterhin aus statistischen Beziehungen zwischen Geburtsziffern und der Zahl der jungen Ehefrauen mit Wahrscheinlichkeit auf störende Einflüsse schliessen, welche die Zahl der Geburten herabsetzen. Hierbei sei bemerkt, dass in Breslau, wie die Zahlen sicher zeigen, der Geburten- rückgang ausschliesslich die eheliche Geburtsziffer betrifft. Also auch die Verhältnisse in Breslau geben uns alle Veranlassung, der Geburten- verminderung unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Abgesehen von dem absoluten Verluste an Nachwuchs sind die üblen Nebenerscheinungen besonders zu beklagen, die Vergiftung der öffentlichen Sittlichkeit, die sich in der öffentlichen Anpreisung und Ausstellung von sogenannten Schutzmitteln und in der Zunahme der verbrecherischen Aborte kundgibt. Hr. J. Wolff gab in seinem Schlusswort zu erkennen, dass die Diskussion den mit ihr verfolgten Zweck erfüllt habe. Sie habe gezeigt, dass der Neomalthusianismus in der Tat ausserordentliche Verbreitung habe und in die Volkspsyche dermaassen eingedrungen sei, dass ein Kampf mit ihm auf ganzen Erfolg nicht rechnen könne. Das sei be- dauerlich, weil hier wirklich nationale Werte auf dem Spiele stehen. Insgesamt sei bei der Beurteilung der Frage der nationale und soziale Standpunkt zu unterscheiden. Beide Standpunkte seien hier zum Worte gekommen. Der Neomalthusianismus bedeute eine einseitige Ueber- spannung des sozialen Standpunkts auf Kosten des nationalen. Was die dem Referenten im einzelnen vorgelegten Fragen betreffe, so antwortete er dem letzten Redner, Herrn Wolffberg, dass der Hochstand der Eheschliessungen und der Geburten in den siebziger Jahren und der darauffolgende Niedergang den Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Konjunktur verraten. Eine Hochkonjunktur sei damals von einer Zeit tiefer wirtschaftlicher Depression abgelöst worden. Letztere habe den Stein des Geburtenrückgangs ins Rollen gebracht. Die Aeusserungen Herrn Kayser’s hätten eine politische Färbung ge- habt und müssten in dem Bilde, das sie von den Ansichten des Re- ferenten gaben, als eine Karikatur derselben bezeichnet werden. Er stelle es so dar, als ob die Symptome der Rationalisierung vom Re- ferenten als Ursachen des Geburtenrückgangs bezeichnet worden seien. Referent habe sich aber deutlich dahin ausgesprochen, dass die Rationali- sierung und nicht die Symptome derselben die Ursachen seien. Es sei danach auch ganz falsch, zu meinen, dass Referent die durch die Religion repräsentierte Weltanschauung im wesentlichen allein die Höhe der Ge- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 73 burtlichkeit bestimmen lasse, in seinem Buche „Der Geburtenrückgang“ werde vom Referenten vielmehr einem reichlichen Dutzend Faktoren ein Einfluss beigemessen; wenn aber die Ziffern den Katholizismus dem Protestantismus bei ungefähr gleichen wirtschaftlichen Verhältnissen im Punkte der Geburten überlegen zeigen und etwa auch noch den Pro- testantismus gegenüber dem Atheismus, so sei der Vortragende nicht in der Lage, diese Ziffern zu „korrigieren“. Der entgegengesetzte Tat- bestand würde auf seine Anerkennung genau so zu rechnen gehabt haben wie der Vorgefundene. Im übrigen habe Referent sehr scharf zwischen blosser äusserlicher Religionszugehörigkeit und gläubiger An- hängerschaft unterschieden und nur letzterer eine Bedeutung bei- gemessen, womit sich fast alle der von Herrn Kays er gebrachten Ein- wände widerlegen. Was die Zukunft betrifft, so wird sie auch von anderen Männern für nichts weniger als gesichert angesehen. Wir be- finden uns nun einmal auf der schiefen Ebene und ein baldiges Ende der Abwärtsbewegung sei in hohem Grade unwahrscheinlich. Insgesamt habe die Diskussion aber weiteren Kreisen einen teilweise überraschen- den Einblick in die Situation eröffnet unter Bestätigung der Annahmen, von denen der Referent ausgegangen sei, so dass er sich den Diskussions- teilnehmern zu Dank verpflichtet fühle. Sitzung der medizinischen Sektion vom 22. November 1912. Vorsitzender: Herr Rosenfeld. Schriftführer: Herr Röhmann. Vor der Tagesordnung. Hr. Sommer: Ueber das Ehrmann’sche Froschaugenphänomen im Blutserum bei Psoriasis. (Siehe Teil II.) Tagesordnung. 1. Die Wahlen für die Präsidialdelegierten werden durch Akkla- mation vollzogen, alle früheren Delegierten werden wiedergewählt: es sind die Herren Küttner, Neisser, Partsch, Tiptze, Uhthoff. 2. Diskussion zum Vortrage des Herrn Rosenfeld: lieber fleischlose Ernährung. Hr. Rosenfeld (Schlusswort). (Schon in der Sitzung vom 1. November wiedergegeben.) 3. Hr. Tietze-. Ueber llens. (Siehe Teil II.) Sitzung vom 6. Dezember 1912. Vorsitzender: Herr A. Neisser. Schriftführer: Herr Rosenfeld. Vor der Tagesordnung demonstriert Hr. Heinrich Harttung einen Fall von Spontangangrän des Zeigefingers. (Siehe Teil II.) Tagesordnung. Hr. Ponfick: Ueber Morbus Brightii von Erwachsenen und Kindern, dessen Ent- stehung und Ausgänge. (Mit Demonstration.) Schlesische Gesellschaft für vaterländische Kultur. (g’T T'fiJ 90. | I. Abteilung. Jahresbericht. Medizin. 1912. b. Hygienische Sektion. 1j3 Sitzung der hygienischen Sektion im Jahre 1912. Sitzung vom 4. Dezember 1912. Vorsitzender: Herr Pfeiffer. Hr. Koenigsfeld: Ueber (len Durchtritt von Infektionserregern durch die Haut. Manche Erfahrungen sprechen dafür, dass Mikroorganismen durch die unverletzte Schleimhaut in den menschlichen Organismen dringen können. Doch auch die äussere Haut bietet in unverletztem Zustande keine absolut sicher schützende Decke gegen die Invasion gewisser Krank- heitserreger, wie zuerst von Garre durch seine klassischen Versuche mit Staphylokokken nachgewiesen wurde. Auch für viele andere Bakterien wurde gezeigt, dass sie die unverletzte Haut zu durchdringen vermögen, worunter besonders die Versuche mit Pestbacillen wegen ihrer epidemiologischen und diagnostischen Wichtigkeit hervorzuheben sind. Eine grosse Anzahl Autoren beschäftigte sich mit Versuchen über Tuberkelbacillen. Die Versuche ergaben fast stets einen positiven Aus- fall, doch ist die Versuchsanordnung in den meisten Fällen nicht ge- nügend einwandfrei. Vortr. hat daher neue Versuche angestellt, unter möglichster Vermeidung früherer Fehlerquellen. Durch diese Experi- mente wurde festgestellt, dass die Tuberkelbacillen imstande sind, die unverletzte Haut von Meerschweinchen auf dem Wege der Haarfollikel und Lymphspalten zu durchdringen. Siebeneinhalb Stunden nach der Impfung befinden sie sich bereits im Unterhautzellgewebe, nach vier Tagen sind sie in den regionären Drüsen nachzuweisen. Von 12 Tieren, die mit Perlsuchtbacillen geimpft wurden, zeigten 6 nach kürzerer oder längerer Zeit Tuberkulose der inneren Organe, von 9 mit humanen Bacillen geimpften Tieren wurden 8 tuberkulös. Eine Versuchsreihe mit einem Sputum, das nur spärliche Bacillen enthielt, fiel völlig negativ aus; von 6 Tieren, die mit einem bacillenreichen Sputum cutan geimpft wurden, wurden 5 tuberkulös. Die Tiere nahmen während der ganzen Beobachtungszeit fast stets, manchmal beträchtlich an Gewicht zu, und machten durchaus keinen kranken Eindruck. Die Sektion ergab immer eine ganz beträchtliche Vergrösserung der regionären — inguinalen — Lymphdrüsen, nächst diesen scheinen zuerst die Uiacaldrüsen befallen zu werden, dann die Mesenterial- und Netzdrüsen, die Lungen und oft auch die Leber. Niemals zeigten sich an der Haut tuberkulöse Verände- rungen. Dieser letztere Befund steht in Widerspruch zu einigen früheren 76 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Beobachtungen und zu Bau.mgarten’s Lehre, dass die Tuberkelbacillen nirgends in den Körper eindringen können, ohne an der Eintrittstelle tuberkulöse Veränderungen zu hinterlassen. Nach Ansicht des Vor- tragenden dringt das tuberkulöse Virus in den Körper ein, ohne Spuren an der Eintrittsstelle zu hinterlassen, wenn diese intakt ist. Ist die Eintrittsstelle dagegen lädiert, so stören die Tuberkelbacillen die Prima intentio und rufen spezifische tuberkulöse Veränderungen an der Eintrittspforte hervor. Mit der Annahme der Möglich- keit eines Durchtritts von Tuberkelbacillen durch die unverletzte Haut auch beim Menschen wird das Verständnis für die Entstehung mancher isolierter Drüsentuberkulosen sehr einfach. Gerade bei Kindern, deren zarte Haut die Tuberkelbazillen leicht durchtreten lässt, tritt die Scrophulose auf, und besonders bei Kindern tuberkulöser Eltern der ärmeren Bevölkerung, wo die Kinder durch Herumspielen auf dem Boden leicht Gelegenheit haben, sich mit tuberkulösem Sputum zu infizieren. Auch stellt die Scrofulose eine sehr benigne tuberkulöse Erkrankung dar, ebenso wie in den vorgetragenen Versuchen die sonst für Tuberkulose so empfindlichen Meerschweinchen ein sehr benignes Krankheitsbild boten. Weitere Versuche wurden mit Lyssavirus angestellt. Dieses ist an- scheinend nicht imstande, die unverletzte Haut zu durchdringen, dagegen kommt es zu einer Infektion von Skarifikatiouswunden der Haut aus. Es gelingt auch mit verfaultem Material, bei dem eine Diagnose durch mikroskopische Untersuchung oder durch intramuskuläre Tierimpfungen wegen der dabei oft auftretenden Sepsis nicht möglich ist, durch cutane Impfung zu einer Diagnose zu kommen, indem das Lyssavirus die Haut durchdringt und eine Wuterkrankung des Tieres hervorruft, während die Begleitbakterien zurückgehalten werden. Hr. Eisenberg: Ueber die Vererbnng erworbener Eigenschaften bei Bakterien. Die Frage nach der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften, eine der vielumstrittenen in der modernen Biologie, muss für die Bakterien zweifellos bejaht werden. Das fast immense Beobachtungsmaterial, das die Wandelbarkeit fast aller morphologischen und physiologischen Merk- male dartun soll, leidet aber an dem Umstand, dass in den meisten Fällen Auslesevorgänge, bewirkt durch den angewandten Umwandlungs- faktor, nicht streng ausgeschlossen werden können. Vortr. hat eins der klassischen Beispiele, die durch dysgenetische Faktoren erzielte Asporo- genie der Milzbrandbacillen, einer Revision im Sinne der exakten Forde- rungen der modernen Vererbungslehre unterzogen. Voruntersuchungen haben nun hier ergeben, dass in den Laboratoriumskulturen mehr oder minder konstante sporogene und asporogene Rassen nebeneinander existieren können sowie dass Auslesevorgänge je nach den Versuchs- bedingungen eine Unterdrückung der asporogenen oder sporogenen Anteile herbeiführen können. Um nun derartige Vorgänge beim Um- wandlungsversuch sicher ausschliessen zu können, müsste als Ausgangs- punkt eine „reine Linie“ der sporogenen Rasse gewählt werden. Von einer Plattenaussaat einer solchen Rasse wurde Material einer einzelnen gut sporogenen Kolonie entnommen und in NaCl-Lösung zehn Minuten lang auf 80° erhitzt, damit wieder Platten bestrichen — von einer ein- zelnen Kolonie Material wieder erhitzt, ausgesät und so fort. Diese strenge Auslese wurde 18 mal wiederholt, von der 18. Aussaat wurde eine Kolonie als Ausgangspunkt der Passagen gewählt. Eine grosse Plattenaussaat von dieser Kolonie zeigt, dass unter 1000 untersuchten Einzelkolonien alle sich als sporogen erwiesen und durchschnittlich 93 pCt. verspürter Stäbchen enthielten. Diese Kultur wurde nun einer- I. Abteilung. Hygienische Sektion. 77 seits jeden Tag von einem Glycerinagarröhrchen auf ein frisches (bei 35° C) übertragen, anderseits ebenfalls täglich Passagen auf gewöhn- lichem Agar, aber bei 42° C, unterworfen. In beiden Reihen wurde der Verlauf des Versuchs durch Plattenaussaat auf gewöhnlichem Agar bei 35° C und Untersuchung einer Reihe von Einzelkolonien auf ihre Sporo- genität kontrolliert. Bereits bei der 13. Passage in der ersten Reihe, bei der 16. in der zweiten erwies sich die Kultur als ganz asporogen. Zur Kontrolle wurde bei Abschluss des Versuches von der 20. Glycerin- agarpassage sowie von der 33. 42° -Agarpassage eine grosse Aussaat vor- genommen und je 1000 Kolonien von jeder Reihe untersucht — in beiden Reihen waren alle asporogen. Zur Bekräftigung dieser Resultate wurde in jeder Reihe an 100 Kolonien durch den Erhitzungsversuch bewiesen, dass keine Dauerformen in ihnen enthalten waren. Die so erhaltenen asporogenen Kulturen erwiesen sich bis jetzt als konstant asporogen — je 50 Agarpassagen und 7 bis 10 Mäusepassagen vermochten nicht, ihnen die Sporogenität wiederzugeben. Es erscheint somit für das Sporenbildungvermögen (in Analogie mit dem berühmten Hansen’schen Versuch bei Hefen) der exakte Nachweis einer Umwand- lungsmöglichkeit und Vererbbarkeit der so erhaltenen Umwandlung erbracht. Aussser diesen konstant erblichen Umwandlungen können durch ver- schiedene dysgenetische Faktoren auch beschränkt erbliche Umwand- lungen erzeugt werden, die eine Reihe von Generationen sich erhalten, um dann allmählich oder plötzlich zum Arttypus zurückzukehren. Solche vorübergehende Einbusse an Sporenbildungsvermögen wird bei Milzbrand- bacillen oft durch langes Aufbewahren von trockenem Sporenmaterial, durch Temperaturen, die der Abtötungstemperatur für Sporen oder Bacillen nahekommen, u. a. erzeugt. Eine Häufung solcher Einwirkungen festigt natürlich die hervorgebrachte Aenderung des betreffenden Merk- mals. Mit der Asporogenie geht meist, wenn auch nicht immer, eine Aenderung vieler morphologischer und physiologischer Eigenschaften Hand in Hand, darunter die wichtgiste, die Herabsetzung der Patho- genität. Besondere Beachtung verdient die Schnelligkeit, mit der so tief- greifende Aenderungen des Arthabitus erzielt werden — einzelne asporogene Kolonien werden schon nach einigen Glycerinargar- oder 42° -Passagen beobachtet. Vielleicht hängt dies damit zusammen, dass bei Bakterien Soma und Keimplasma nicht so streng geschieden sind, wie bei höheren Lebewesen, dass also leicht eine „Parallelinduktion des Keimplasmas“ vor sich geht bei allen Einwirkungen, die das Soma treffen. Nun sind zwar bei 3 bis 4 Passagen gleich 60 bis 100 Bacillengenera- tionen, aber es ist zu bedenken, dass eine Bakteriengeneration derjenigen eines höheren Metazoons durchaus nicht gleichwertig ist, sondern eigent- lich einer Zellgeneration in so einem Zellstaate. Es wächst ja hier ein „Halbindividuum“ zu einem „Ganzindividum“ innerhalb der Generations- dauer heran. Man kann also eine Bakterienkultur einem ausgewachsenen Tier, den Einzelkeim oder die wenigen Keime, aus denen sie heran- gewachsen ist, einer Keimzelle gleichsetzen. Auf diese Weise betrachtet, entspräche eine Agarpassage einer Generation der höheren Lebewesen — wir ständen also vor. der Tatsache, dass innerhalb einiger Generationen durch äussere Einflüsse höchst bedeutsame Aenderungen an den Bakterien vor sich gehen können — ein Beweis für grosse Plastizität des Keim- plasmas auf dieser Entwicklungsstufe. Die Tatsache der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften und die Leichtigkeit, mit der manche Merkmale beeinflusst werden können, muss natürlich bei der Beurteilung der Artkonstanz und der Artunterscheidung 78 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. mit berücksichtigt werden. Verschiedene Merkmale zeigen bei Bakterien eine verschiedene natürliche Variationsbreite und eine verschiedene Be- einflussbarkeit durch äussere Faktoren. Pathogenität, Farbstoffbildung, manche Ferment- und Stoffwechselfunktionen scheinen im allgemeinen leicht zu variieren und leicht beeinflussbar. Manche Merkmale wieder werden starr festgehalten und lassen sich nur mit grosser Mühe, wenn überhaupt, umwandeln. So bedürfte Twost zweier Jahre, um dem Typhusbacillus das Vermögen der Milchzuckervergärung anzuerziehen. So sah Vortr., dass Typhusbacillen bei langem Fortzüchten bei 42° die auftretende Hypagglutinabilität mit der Zeit überwinden und normal agglutinabel werden. Eine eingehende Analyse der differentialdiagnostisch wichtigen Merkmale nach dieser Richtung hin ist für praktische wie die theoretische Bakteriologie von allergrösster Bedeutung. Berichtigung. Auf Seite 48, Zeile 16 von unten muss es heissen Hr. Rosenfeld: Ueber fleischlose Ernährung. — - ^ . ! S T*" 90. Jahresbericht. 1912. I. Abteilung. Medizin. a. Medizinische Sektion. Vorträge der medizinischen Sektion im Jahre 1912. 1. Ueber den Emanationsgehalt des arteriellen Blutes bei Einatmung von Radiumemanation und bei Einführung derselben in den Darm. Nach Versuchen in Gemeinschaft mit E. Schräder und J. Pieper. Von Prof. J. Strasburger in Breslau. Wird Radiumemanation in das arterielle Blut eingeführt, so gelangt sie mit diesem zu sämtlichen Zellen und Geweben des Körpers, vermag also sowohl auf das Blut als auch auf die Ge- webe unmittelbar einzuwirken. Es gibt verschiedene Wege, um Emanation, die bekanntlich ein Gas ist, in das Blut zu bringen. Die beiden wichtigsten sind die Aufnahme durch die Lungen und die Einführung in den Magendarmkanal. Im ersten Falle gelangt die ganze Menge des durch die Lungenalveolen aufgenommenen Gases in das Blut des grossen Kreislaufes. Im zweiten Falle wird die Emanation in die Pfortaderwurzel aufgenommen und in der Richtung nach dem rechten Herzen zu weitergeführt. Sie hat danu, um ins arterielle Blut zu gelangen, den kleinen Kreis- lauf zu passieren, und hier entweicht ein auf alle Fälle erheb- licher Teil des Gases und wird durch die Atmung nach aussen abgegeben. Beiden Arten der Emanationseinfuhr ist also die direkte Ein- wirkungsmöglichkeit auf das Blut gemeinsam, denn auch durch die Pfortader liiesst nach und nach alles im Körper enthaltene Blut hindurch. Fraglich und strittig ist es hingegen, ob auch bei der Einführung vom Verdauungskanal aus Emanation in ge- nügender Menge in den grossen Kreislauf gelangt und somit auf die Gewebe direkt einwirken kann. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, wie hoch man den Emanationsverlust des Blutes beim Durchfliessen der Lungencapillaren bewertet. Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Kultur. 1912. II. 1 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Plesch1), der als Erster zu dieser Frage Stellung genommen hat, meinte, dass bei Aufnahme der Emanation vom Magendarmkanal nur „ein ganz kleiner Bruchteil“ in die arterielle Blutbahn ge- lange. Ich habe darauf die Ansicht ausgesprochen2), dass diese Annahme zu weit geht. Würde tatsächlich fast die gesamte im Venenblut enthaltene Emanationsmenge beim einmaligen öurch- fliessen der Lungen abgegeben, so müsste intravenös injizierte Emanation in einem Bruchteil der Zeit eines Kreislaufes, also z. B. beim Kaninchen nach wenigen Sekunden, das Blut fast voll- kommen verlassen haben. Versuche von Laska3) aus der His- schen Klinik zeigten hingegen, dass in derZeit von 1/2 — U/2 Minuten nach der Injektion etwa die Hälfte der Emanation das Blut durch die Lungen verlassen hatte. Ein erheblicher Teil der Emanation^ musste demnach mehrere volle Kreisläufe mitgemacht haben, sich also auch im arteriellen Blute des grossen Kreislaufes befunden haben. Weiterhin wurden auch in einigen Fällen nach Ein- führung der Emanation in den Magen im arteriellen Blut durch direkte Messung nicht unerhebliche Mengen von Emanation ge- funden. Solche Messungen führten unter anderen Eich holz4) an Kälbern, Spartz5) an einem Hunde aus. Eine neue Wendung erhielt die Angelegenheit durch Unter- suchungen von Gudzent6), welcher sagt, dass die vom Magen- darmtractus und durch Injektion ins Blut gelangende Emanation „verhältnismässig schnell ausgeschieden“ wird, dass sich hingegen „bei der Einatmung von Emanation im geschlossenen Raume die Emanationsmenge im Blute anreichert, so dass in 1000 g Blut nach einer Viertelstunde etwa die gleiche Menge im Blute zu finden ist wie in einem Liter Luft, nach 2 Stunden etwa die vier- bis fünffache, nach 3 Stunden die sechs- bis siebenfache Menge“. Hieraus folgert Gud zen t, dass die „Inhalation im geschlossenen Raume (im sogenannten Emanationsraume) der bisher üblichen Trink- und Injektionskur im allgemeinen überlegen ist“. Angenommen, es sei richtig, dass nach Trinken der Emanation diese rasch das Blut verlässt, bei Inhalation im geschlossenen Raume sich aber auf das Fünf- bis Siebenfache des Luft- emanationswertes anreichert, so wäre damit allerdings die Ueber- legenheit der letzteren Methode eklatant erwiesen. Es fragt sich nur, wie weit die angegebenen Tatsachen der Kritik standzubalten vermögen. Eine Anreicherung des Blutes mit einem bisher als chemisch indifferent angesehenen Gase, also eine Aufnahme des Gases ins Blut, die den durch Partiardruck und Absorptions- koeffizienten geforderten Wert um ein Vielfaches übertrifft, wäre ja vom theoretischen Standpunkt aus derartig auffallend und wichtig, dass die uns hier beschäftigende therapeutische Frage 1) Deutsche med. Wochenschr., 1911, S. 488. 2) Münchener med. Wochenschr., 1911, S. 786, Anm. 17. 3) Beiträge zur Radiumemanationstherapie. Inaug.-Diss. Berlin 1909. 4) Verhandl. des Deutschen Kongresses für innere Medizin 1911, S. 616. 5) Zeitschr. f. Röntgenkunde u. Radiumforschung, 1911, S. 422. 6) Zeitschr. f. klin. Med., 1911, Bd. 73, H. 3 u. 4 bzw. Radium in Biologie und Heilkunde, 1911, S. 79. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 3 ganz in den Hintergrund gedrängt würde. Es gäbe für diese An- nahme nur zwei Erklärungsmöglichkeiten: Entweder die Lunge müsste die Emanation gegen einen höheren Gasdruck ins Blut sezernieren; dann wäre eine der bedeutsamsten Fragen der Physio- logie, die nach der Drüsentätigkeit der Lunge, in positivem Sinne beantwortet. Oder aber das Blut selbst vermöchte Ema- nation zu binden; bezüglich dieser zweiten Möglichkeit wäre frei- lich zu bemerken, dass Pie sch i), der einige Versuche hierüber an defibriniertem Blut ausgeführt hat, eine Bindung der Ema- nation, die über den Wert des Absorptionskoeffizienten hinaus- ging, nicht gefunden hat. Wie weit die Versuchsergebnisse Gudzeut’s im einzelnen An- lass zur Kritik geben, will ich hier nicht weiter erörtern, sondern statt dessen unsere im folgenden zu beschreibenden Versuche sprechen lassen. Nehmen wir aber einmal an, eine Anreicherung von Emanation im Blute bei Inhalation sei tatsächlich bewiesen, so müsste es doch als ganz ausserordentlich unwahrscheinlich bezeichnet werden, dass beim Eintritt der Emanation ins Blut vom Magen oder Darm aus nicht die gleiche Anreicherung zu- stande kommen sollte. Sei es nun, dass das Blut die Emanation in irgendeiner Form festhalte, oder dass die Lunge die in den Alveolen vorhandene Emanation (also auch die vom Blut in die Alveolen abgegebene) ins Blut sezernierte, die Verhältnisse blieben für beide Arten der Einführung die gleichen. Gudzent hält es wohl für wahrscheinlich, dass die Anreicherung der Emanation auf einer eigenartigen Bindung im Blute beruht, und wird viel- leicht einwenden, dass beim Trinken der Emanation eine Anreiche- rung nicht möglich sei, da die Lunge eine Oeffnung bilde, aus der immer wieder Emanation entweiche, während beim Aufenthalt im Emanatorium diese Oeffnung verschlossen sei. Es muss dem- gegenüber betont werden, dass dieser Verschluss nur so viel fest- halten kann, als dem Partiardruck der Emanation in der Atmungs- luft und dem Absorptionskoeffizienten des Blutes für Emanation entspricht; d. h. etwa Vs des Partiardruckwertes kann zurück- gehalten werden. Für alle höher liegenden Emanationswerte des Blutes existiert dieser Verschluss von der genannten Grenze an nicht mehr. Gegenüber einem Emanationswert des Blutes, der den Gehalt der Atmungsluft um das Vier- bis Siebenfache über- treffen soll, kommt dies eine Fünftel nicht nennenswert in Betracht. Es liegt nun aber eine Versuchsreihe von P. Lazarus1 2) vor, deren Ergebnisse in striktem Gegensatz zu denen Gudzent’s stehen. Da die ausführliche Publikation von Lazarus noch nicht erschienen ist, so kann ich mich zunächst nur auf die Zusammenfassung seiner Ergebnisse, soweit sie unser Thema betreffen, beziehen. Lazarus findet, dass die Emanation rein phy- sikalisch, nach den Gesetzen für indifferente Gase ins Blut auf- genommen wird und keine Affinität zu ihm besitzt. Eine An- 1) 1. c. 2) Verhandl. des Deutschen Kongresses für innere Medizin 1911, S. 523, und diese Woehenschr., 1911, S. 1435. 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. reicherung der Emanation im Blute findet nicht statt. Auch beim Trinken circuliert Emanation im arteriellen Blut. Es stellt also zurzeit Ansicht gegen Ansicht. Schon seit längerer Zeit war es meine Absicht, wie ich es auch in meiner anfangs vorigen Jahres erschienenen Arbeit ausgesprochen habe1), die Frage an der Hand direkter vergleichender Untersuchungen des arteriellen Blutes weiter zu bearbeiten. Ich habe daher im Herbst vorigen Jahres in Gemeinschaft mit den Herren cand. med. E. Schräder und J. Pieper zwei Reihen von Versuchen an Kaninchen durchgeführt, die eine mit Inhalation, die andere mit Einführung der Emanation in den Darm. In vor- liegender Arbeit bringe ich nur die wichtigeren Zahlen. Die Versuchsprotokolle mit allen Einzelheiten werden in den Disser- tationen der Herren Schräder (Inhalation) und Pieper (ente- rale Einführung) veröffentlicht werden. I. Versuche mit Einatmung der Emanation. Versuchsanordnung: Die als Versuchstiere benutzten Kanin- chen wogen etwa 21/2 — 3 kg. Als Inhalationsraum dienten zwei grosse Glasgefässe von je 16 Liter Fassungsvermögen, deren obere Oeffnung so weit war, dass der Kopf eines Kaninchens bequem hineinpasste. Eine kleinere Oeffnung nahe dem Boden des Ge- fässes, die mit einem Stopfen verschlossen wurde, diente zur Entnahme von Luftproben. Die Kaninchen wurden durch sub- cutane Injektion von 3 bis 5 g Urethan (in wenig Wasser gelöst) narkotisiert und in einen für unsere Versuche angefertigten Gummi- sack gesteckt, der oben offen war und vermittels eines gut schliessenden Gummiringes über die obere Oeffnung des horizontal gelagerten Glasgefässes gezogen wurde. Nase und Schnauze des Tieres ragten alsdann in das Innere des Glasgefässes hinein, die Atmung des Kaninchens war in keiner Weise behindert. Wir hatten durch Vorversuche festgestellt, dass das Versuchstier gut 30 Minuten in dem so verschlossenen Gefäss atmen konnte, bevor es Zeichen von Atembeklemmung gab. Nach je 30 Minuten wurde der Sack mit dem Versuchstier von dem Glasgefäss abgenommen und rasch an dem anderen inzwischen vorbereiteten Gefässe be- festigt, was unter Assistenz des Laboratoriumsdieners in wenigen Sekunden auszuführen war. Es wurde bei jedem Versuch zwei- mal gewechselt, so dass die Gesamtdauer der Atmung in den Gefässen l1^ Stunden betrug. Bevor das Versuchstier mit der Flasche verbunden wurde, war eine entsprechende Menge von Emanationswasser in diese gebracht, die Oeffnung verschlossen und durch ausgiebiges Schütteln die Emanation in den Luftraum des Gefässes übergeführt worden. Um den Emanationsgehalt der Atmungsluft zu bestimmen, wurde jedesmal kurz vor Abnahme des Tieres vermittels einer aus einem Messcylinder konstruierten grossen Bürette (vgl. bei Schräder) eine Stichprobe Luft ent- nommen, in eine Fontaktoskopkanne gebracht und auf ihren Emanationsgehalt geprüft. Da es zunächst darauf ankam, mög- 1) 1. c. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 5 liehst grosse Mengen von Emanation ins Blut zu bringen, um sichere und klare Messungsergebnisse zu erhalten, wurde die Atmungsluft mit entsprechend grossen Quantitäten Emanation, 100 M.-E. und mehr pro Liter versehen. In späteren Versuchen arbeiteten wir alsdann auch mit kleineren Mengen. Da die eingeatmete Emanation nach Entfernung aus dem Inhalationsraum rasch wieder das Blut verlässt, so war es für die Richtigkeit der Ergebnisse sehr wesentlich, das arterielle Blut zu entnehmen, während das Tier die Emanation weiter einatmete. Um dies zu ermöglichen, hatten wir den Gummisack mit einer unteren Oeffnung versehen, die zunächst fest zugebunden war, zum Schluss des Versuches aber geöffnet wurde. Der Sack wurde alsdann nach oben gestreift und unter den Achseln des Tieres wieder zugebunden, ohne dabei die Atmung zu behindern. Das Tier wurde nunmehr laparotomiert, die Därme nach rechts her- übergelegt und das Blut aus der Bauchaorta entnommen. Diese Versucbsanordnung ist offenbar einwandfrei. Ausserdem gelingt die Entnahme einer möglichst grossen Blutmenge aus dem Haupt- gefäss am besten. Zur Blutentnahme diente eine sehr gut ziehende graduierte Spritze, die mit einem kurzen Gummischlauch und einer Glaskanüle versehen war, die in das Gefäss eingeführt wurde. Vorher war eine genügende Hirudinmenge in die Spritze aufgesaugt worden, um Gerinnung des Blutes sicher zu verhindern. Es gelang auf diese Weise, regelmässig 40 — 50 ccm Blut zu ent- nehmen. Während der Laparotomie und Blutentnahme gaben die mit Urethan narkotisierten Tiere keinerlei Zeichen von Schmerz zu erkennen. Der Spritzeninhalt wurde vorsichtig, unter möglichst tiefer Einführung der Spritze, in eine mit 250 ccm inaktivem Wasser beschickte 10 Liter-Fontaktoskopkanne (mit geringem Nonnaiverlust) gebracht, die sofort verschlossen wurde. Ein Verlust von Emanation aus dem Blute war auf diese Weise aus- geschlossen. Die Messung des Emanationsgehaltes des Blutes er- folgte nun zunächst kurz, d. h. 5 — 10 Minuten, nach der Blut- entnahme, alsdann noch einmal nach 4 Stunden. Zu diesem Zweck blieb das Elektroskop auf der Kanne und die Oeffnuugen, durch welche etwa Emanation hätte entweichen können, wurden dicht verschlossen. Ergebnisse. Tabelle 1 gibt eine Zusammenstellung der Resultate von 7 Versuchen. Der Uebersichtlichkeit halber sind die Versuche nach steigenden Mengen der eingeatmeten Emanation geordnet. Es sei jedoch bemerkt, dass der zeitlichen Reihenfolge nach zunächst die Versuche mit grösseren Emanationsmengen aus- geführt worden waren. Wir hatten beabsichtigt, den Emanations- gehalt der eingeatmeten Luft während der ganzen Dauer eines jeden Versuches möglichst auf gleicher Höhe zu erhalten, indessen ist dies nur zum Teil gelungen. Die in der Tabelle verzeichneten Differenzen entstanden wohl hauptsächlich dadurch, dass beim Umwechseln der Inhalationsgefässe Emanationsverluste schwer zu vermeiden waren, was die Gleichmässigkeit der Luftwerte beein- trächtigte. Immerhin sind die Gesamtunterschiede zwischen den einzelnen Versuchen hinreichend ausgesprochen. Wir variierten 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Tabelle 1. Versuche mit Einatmung der Emanation. Versucbsnummer Emana- tions- gehalt in M.-E. im Liter Atemluft Menge des ent- nommenen Anrta- blutes in ccm Emanations- gehalt in M.-E. auf 1 Liter Blut berechnet a) nach der Ent- nahme, b) 4Std. später Prozentgehalt des Blutes anEmanationimVergleich zu dem Emanationsgehalt der Atemluft. 1) Als Maximalwert berechnet, 2) als Minimalwert be- rechnet, 3) wahrschein- licher Wert 1 1) 3,9 2) 13,5 i) 3) 6,0 40 a) b) 1,75 1,81 1) 46,4 21 (13)U 29,1 3) 29,1 II 1) 16,0 2) 18,1 3) 25,9 45 a) b) 6,68 4,11 2) 1) 41,7 2) 15,8 3) 25,8 III 1) 87,3 2) 61,8 3) 43,0 40 a) b) 19,86 28,56 1) 66,4 2) 22,7 3) 46,2 oder niedriger IV 1) 58,9 2) 52,9 3) 45,2 40 a) b) 7,3 20,4 1) 45,1 2) 12,4 3) 16,2 oder höher V 1) 114.4 2) 111,8 3) 122,5 30 a) b) 39,7 57,6 1) 51,5 2) 32,4 3) 32,4 VI 1) 103,0 2) 107,9 3) -3) 40 a) b) 30,4 48,1 1) 46,7 2) 28,1 3) 28,1 VII 1) 167,7 2) 178,6 3) 242,5 50 a) b) 60,7 94,4 1) 56,3 2) 25,0 3) 25,0 oder höher den Emanationsgebalt der Atmungsluft etwa innerhalb der Grenzen von 4 — 200 M.-E, pro Liter. Will man nun das prozentuale Verhältnis der Emanation im arteriellen Blut zu der in dem gleichen Volumen Atmungsluft berechnen, so ergibt sich für die Rechnung eine gewisse Unsicher- heit, indem 1. während der Dauer des Versuchs der Emanations- gehalt der Luft innerhalb gewisser Grenzen geschwankt hatte, 2. für den Emanationsgehalt des Blutes zwei voneinder erheblich differierende Messungswerte vorliegen, ein kleinerer bei Messung bald nach Entnahme des Blutes und ein grösserer, wenn vier 1) Beruht offenbar auf einem Messungsfehler. 2) Der einzige Versuch, bei dem nach 4 Stunden der Wert ge- ringer war. 3) Die Probe ist verloren gegangen. Nach der Menge des an- gewandten Emanationswassers dürfte der Wert sich in den Grenzen der beiden vorhergehenden gehalten haben. 7 I. Abteilung. Medizinische Sektion. Stunden später gemessen wurde. Es ist nun die Frage, welche Resultate man miteinander vergleichen soll, um zu richtigen Resultaten zu gelangen. Auf alle Fälle aber kann man Grenz- werte angeben, innerhalb deren das richtige Resultat liegen muss. Man findet so für das Emanationsverhältnis von Blut zu Luft einen Maximalwert, indem man in jedem Versuch den niedrig- sten Emanationsgehalt der Luft mit dem höchsten Emanations- wert des Blutes vergleicht; man findet ferner einen Minimal- wert, indem man den höchsten Wert der Luft mit dem niedrigsten des Blutes in Beziehung setzt. Die so erhaltenen Maximal- und Minimal werte finden sich in der letzten Kolonne, der Tabelle unter 1) und 2) verzeichnet. Die Betrachtung dieser Zahlen er- gibt, dass in unseren Versuchen der Gehalt des arteriellen Blutes nach 1 1/2 ständiger Inhalation im höchsten Falle 66,4 pCt. der- jenigen Emanationsmenge erreicht haben konnte, die in dem gleichen Volumen eingeatmeter Luft enthalten war. Bereits dieses Resultat unterscheidet sich durchaus von den Ergebnissen Gud- zent’s. Fand Gudzent doch, wie schon erwähnt, bei der Ein- atmung von Emanation im geschlossenen Raum, auf 1000 g Blut berechnet, nach l/i Stunde etwa die gleiche Menge Emanation, wie in einem Liter Luft, nach 2 Stunden etwa die 4 — 5 fache Menge, nach 3 Stunden die 6 — 7 fache Menge. Die Inhalations- dauer übertraf allerdings in einem Teil der Versuche Gudzent’s die unserige. Immerhin durften wir, wenn Gudzent nach 2 Stun- den etwa die 4 — 5 fache Menge im Blute fand, in unseren Ver- suchen von 1 x/2 Stunden Dauer etwa die 31/2 fache Menge, also 350 pCt., erwarten. Statt dessen war der höchste Wert, den die Rechnung ergab, in einem Versuche 66,4 pCt., in den übrigen Versuchen zwischen 41,7 und 56,3 pCt., und dies, obwohl die gemessenen Werte derart zueinander in Beziehung gesetzt worden waren, dass das im Sinne der Gudzent’schen Anreicherungshypo- these denkbar günstigste Resultat hätte erhalten werden müssen. Im Beginn der Versuche, als wir mit verhältnismässig hohem Emanationsgehalt der Luft arbeiteten, glaubten wir, es würde vielleicht eher eine Anreicherung des Blutes bei geringerem Emanationsgehalt der Luft zutage treten. Dies bestätigte sich aber nicht. Ob viel oder wenig Emanation aufgewendet wurde, die Verhältniswerte zwischen Blut und Luft blieben stets an- nähernd die gleichen. Diese Gleichmässigkeit der Zahlen spricht übrigens auch für die Richtigkeit unserer Ergebnisse. Es unterliegt nun aber kaum einem Zweifel, dass die von uns als Maximalwerte bezeichneten Zahlen nicht den tatsächlichen Verhältnissen gerecht werden, und dass die richtigen Werte tiefer liegen. Es ist zunächst nicht statthaft, wie dies bei Aus- wertung der Maximalwerte geschehen ist, die bald nach der Ent- nahme vorgenommenen Messungen der Atemluft mit den nach 4 Stunden ausgeführten Messungen des Blutes zu vergleichen. Man muss vielmehr jedesmal entweder die frühzeitig (d. h. nach 5 — 10 Minuten) vorgenommenen oder die nach 4 Stunden erfolgten Messungen zueinander in Beziehung setzen. Aus technischen Gründen konnten in unseren Versuchen die Proben der Atemluft 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. nur kurz nach der Entnahme, nicht auch nach 4 Stunden ge- messen werden1). Wir dürfen daher nur die frühzeitigen Messungen der Blutemanation zum Vergleich nehmen. Wesentlich anders würden die Zahlen übrigens nicht ausfallen, wenn wir die beiden Werte nach 4 Stunden miteinander vergleichen könnten, denn es war aus nachträglichen Kontrollversuchen zu ersehen, dass auch die Messungen der Luftemanation nach 4 Stunden entsprechend grössere Werte ergaben. Ferner ist es wohl richtig, an erster Stelle als Vergleichs- wert denjenigen Emanationsgehalt der Luft zu wählen, der zum Schluss des Versuches gemessen worden war, demnach also wäh- rend der letzten 30 Minuten auf das Versuchstier eingewirkt hatte. Bei stärkeren Differenzen der einzuatmenden Emanation können die vorübergehenden Werte aber wohl von Einfluss auf das Re- sultat gewesen sein. Es ist demgemäss, falls der Emanations- gebalt der Atmungsluft vorher höher gewesen war, der für das Blut berechnete Verhältniswert zu erniedrigen, umgekehrten Falles zu erhöhen. Unter diesen Voraussetzungen sind nunmehr die wahrschein- lichen Werte berechnet und in der letzten Kolonne der Tabelle 1 unter 3) vermerkt worden. Es zeigt sich, dass die so erhaltenen Zahlen im Durchschnitt bei 29 pCt. liegen und von diesem Wert zumeist nicht erheblich abweichen. Da, wo sich grössere Diffe- renzen ergaben (Versuch 111 und IV), müssen die gefundenen Zahlen aus dem vorhin genannten Grunde wahrscheinlich in der Richtung auf den Mittelwert zu korrigiert werden. Wir dürfen also einen Emanationsgehalt des arteriellen Blutes von etwa 29 pCt. (den Emanationsgehalt im gleichen Volumen Atemluft zu 100 gesetzt) als den wahrscheinlich richtigen Wert bezeichnen. Um nun zu entscheiden, wie weit die Aufnahme der Emana- tion ins arterielle Blut den Absorptionsgesetzen für indifferente Gase folgt, müssen wir unseren Wert mit dem Absorptionskoeffi- zienten der Emanation in Wasser bzw. Blut bei Körpertemperatur vergleichen. Es zeigt sich aber leider, dass dieser Vergleich zurzeit nicht mit Genauigkeit ausgeführt werden kann, da über den in Frage stehenden Wert des Absorptionskoeffizienten keines- wegs genügende Sicherheit besteht. Auf Grund einiger Versuche von Plesch2) und nach Analogie mit anderen indifferenten Gasen ist zunächst wohl anzunehmen, dass bei gleichem Partiardruck das Blut ca. 90 pCt. derjenigen Eraanationsmenge aufnimmt, die von Wasser gleicher Temperatur absorbiert wird. Ueber den Absorptionskoeffizienten des Wassers für Emanation gehen die Angaben der Physiker zurzeit aber noch stark auseinander3). Für Wasser von gewöhnlicher Temperatur schwanken die An- gaben zwischen 0,34 und 0,23, also nach unserer Betrachtungs- weise 34 — 23 pCt. Bei Körpertemperatur ist der Wert niedriger. 1) Es wären sonst vier Elektroskope erforderlich gewesen. 2) Deutsche med. Wochenschr., 1911, S. 488. 3) vgl. Mine. Curie, Die Radioaktivität. Deutsche Ausgabe. Leipzig 1912, Bd. 1, S. 252. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 9 Setzen wir ihn schätzungsweise, wie dies auch von anderer Seite geschieht, für Blut von Körpertemperatur auf 20 pCt. (vielleicht ist er aber auch höher) und vergleichen ihn mit dem in unseren Versuchen gefundenen Mittelwert von 29 pCt., so ist der Unter- schied nicht gross. Immerhin scheint die Radioaktivität des Blutes nach 1 '/2 ständigem Aufenthalt im Inhalatorium doch etwas höher zu sein, als dem Absorptionskoeffizienten entsprechen dürfte. Auf Grund dieser geringen Differenzen sind wir aber keinesfalls berechtigt, im Sinne Gudzent’s von einer Anreiche- rung des Blutes mit Emanation zu sprechen. Denn, sehen wir auch von den Fehlerquellen ab, die den Messmethoden noch an- haften, so ist noch zu berücksichtigen, dass bei längerem Ver- weilen von Emanation im Blute sich Zerfallsprodukte der Emana- tion im Blute anhäufen, die Strahlen aussenden und den Abfall des Elektroskopes bei der Messung beeinflussen. Die Anwesenheit dieser Körper genügt offenbar, um die supponierte Differenz zwischen dem Absorptionskoeffizienten und den von uns gefundenen Zahlen zu erklären. Die Anhäufung von Zerfallsprodukten im Blute ist aber natürlich nicht identisch mit der Anreicherung der Emanation selbst im Blute in der Weise, wie es Gudzent an- nimmt. Um den Beweis einer Anreicherung der Emanation als solcher im Blute zu erbringen, müsste 1. der Absorptionskoeffizient der Emanation für Blut von Körpertemperatur genauer bekannt sein, als es bis jetzt der Fall ist, 2. der Beweis geliefert werden, dass eine Abweichung von diesen Werten wirklich durch die Emanation allein, isoliert von ihren Zerfallsprodukten, verursacht sei (der- artige getrennte Messungen sind bereits von P. Lazarus am Blute ausgeführt worden und nicht im Sinne der Anreicherungs- hypothese Gudzent’s ausgefallen), 3. wäre in Anbetracht der geringen Differenzen, um die es sich nach meinen Versuchen handelt, noch eine grössere Sicherheit in der Verwertung der Messmethode erforderlich, als sie zurzeit besteht. Solange diese Bedingungen nicht erfüllt sind, ist es nicht angängig, eine Tatsache von so ausserordentlicher Bedeutung für erwiesen zu halten, wie es eine Anreicherung der Emanation im Blute von den Lungen aus wäre. Aus unseren Versuchen geht jedenfalls folgendes hervor: Eine Anreicherung der Emanation im arteriellen Blute bei Inhalation im geschlossenen Raume, also die An- wesenheit grösserer Mengen von Emanation im Blute, als dem Partiar druck und Absorptionskoeffizienten ent- spricht, ist bis jetzt in keiner Weise erwTiesen. Die in unseren Versuchen gefundenen Zahlen lassen sich unter Berücksichtigung der zurzeit noch bestehenden Un- sicherheiten in der Beurteilung der Messungsergebnisse, der Grösse des Absorptionskoeffizienten und unter Berücksichtigung der im Blute an zu nehmen den Zerfalls- produkte der Emanation vollkommen ohne die Annahme einer Anreicherung deuten. Selbst bei denkbar gün- stigster Berechnung unserer Ergebnisse im Sinne der 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Anreicherungshypothese wäre die g e f u n d e n e A n r e i c h e - rung nicht im entferntesten so gross, als dies Gudzent angegeben hat. Soweit ich ersehen kann, stimmen diese Anschauungen vollständig mit denen von P. Lazarus überein. 11. Versuche mit Ein fiihrung der Emanation in den Darm. Versuchsanordnung: Auch in dieser Versuchsreihe wurde das arterielle Blut, so wie es im vorhergehenden Abschnitt be- schrieben wurde, aus der Aorta abdominalis (nur in einem Falle aus der Carotis) entnommen. In weiteren Versuchen wurde Blut aus der Pulmonalarterie bzw. aus dem Conus arteriosus der Pulmonalis entnommen (Einzelheiten hierüber an späterer Stelle bei Schilderung der Ergebnisse). Bei der Entnahme des Aorten- blutes wurde sorgfältig auf die Atmung des Tieres geachtet, da bei Störungen des Gaswechsels in der Lunge grössere Mengen von Emanation, als normalen Verhältnissen entspricht, in den grossen Kreislauf hätten gelangen müssen. Die Entnahme des arteriellen Blutes wurde daher abgebrochen, wenn die Atmung des Tieres unregelmässig zu werden begann. Zur Narkose diente wiederum Urethan in wechselnden Mengen entsprechend der Grösse der Kaninchen. Das emanationshaltige Wasser wurde anfangs mittels Katheter in den Magen eingegossen; dabei fielen aber die Versuchsergeb- nisse sehr ungleich mässig aus. Die Sektion der Tiere gab die Erklärung, indem sie zeigte, dass der Magen regelmässig mehr oder weniger mit Grünfutter gefüllt war, auch wenn die Tiere 24 Stunden und länger gehungert hatten, oder auf andere Weise ernährt worden waren. Dies musste natürlich in unkontrollier- barer Weise auf die Resorption der Emanation einwirken. Dieser Fehlerquelle gingen wir aus dem Wege, indem wir das emanations- haltige Wasser direkt in das Duodenum einführten. Durch einen kleinen Bauchschnitt in der Mittellinie wurde der Anfangs- teil des Duodenums aufgesucht und das in einer Spritze auf Körpertemperatur erwärmte Emanationswasser vorsichtig injiziert. Alsdann wurden die Oeffnung im Darm und das Abdomen durch Klemmen verschlossen und der Leib durch Kompressen warm ge- halten. Diese Versuchsanordnung gab sehr gleichmässige Re- sultate. Sie ist auch dadurch besonders zweckmässig, dass sie ein Einatmen der Emanation, wie sie während des Trinkens des Wassers oder nachträglich durch Aufstossen aus dem Magen möglich erscheint, mit Sicherheit ausschliesst. Ergebnisse: Die Resultate von 13 Einzelversuchen sind in Tabelle 2 zusammengestellt. Es wurden wechselnde Mengen von Emanation verwendet. Die angegebenen Werte in Macheeinheiten sind aus der Menge des eingespritzten Emanationswassers berechnet. Der Gehalt des letzteren wurde nicht jedesmal besonders gemessen, sondern durch Stichproben bestimmt; es genügte dies, da bei gleich- mässiger Bedienung des Aktivators die Aktivität des gelieferten Wassers sich innerhalb enger Grenzen konstant erhielt und I. Abteilung. Medizinische Sektion. 11 Tabelle 2. Versuche mit Einführung der Emanation in das Duodenum. Emanationsgehalt Re- fl s s fl a CO -a o fl CO Auf- gewendete Ema- nation in M.-E. Menge des entnommenen Blutes aüs in M.-E. auf 1 Liter Blut berechnet a) nach der Ent- nahme, b) 4 Stunden später sorptions- zeit der Ema- nation in fl “ fl g fl %* V) o < V ^ .2 -1-3 -fl co o fl Aorta Pulmo- nalis Aorta Pulmo- nalis Minuten B EH Pulmonalis Aorta pCt. JX 43.5 15,68 64,0 XI 42,42 17,4 59,5 XII 14,87 4,51 69,7 XIII 29,70 11,87 (Carotis) 60,0 Es sei bemerkt, dass in Versuch IX die Menge des aus der Pulmonalis erhaltenen Blutes nur 8 ccm betrug. In Anbetracht des hohen Emanationsgehalts desselben war aber doch eine leid- lich genaue Messung möglich. Der Verlust durch die Lungen betrug in den 3 ersten Versuchen der Tabelle 3 64,0, 59,5, 69,7 pCt. Da in diesen Versuchen das Pulmonalblut erst nach dem Aortenblut (wenn auch möglichst rasch hinterher) entnommen wurde, so könnte man den Einwand erheben, dass infolge des steilen Abfalls der Emanationskurve der Vergleichswert des Pulmonalblutes zu niedrig ausgefallen sei, demnach auch der prozentuale Verlust durch die Lungen zu niedrig berechnet werde. In der gleichen Richtung könnte der Umstand einwirken, dass bei Entnahme des Blutes aus der Bauchaorta die Därme frei- gelegt und hierdurch möglicherweise die Resorption von Emanation verringert worden war, was wiederum für das Pulmonalblut einen zu kleinen Wert ergeben hätte. Wir hatten zwar, um diesem Fehler entgegenzuwirken, während der Freilegung der Bauchaorta die Därme in warme Kompressen eingeschlagen. Immerhin war es noch wünschenswert, einen ganz einwandfreien Versuch aus- zuführen, was in Versuch XIII geschah. In diesem Versuch wurde Blut aus dem kleinen und aus dem grossen Kreislauf zu gleicher Zeit entnommen, ferner, um eine eventuelle Resorptions- störung im Darm auszuscbliessen, an Stelle der Bauchaorta die linke Carotis benutzt. Für diesen sorgfältig vorbereiteten Ver- such war ein sehr grosses Kaninchen von 4600 g aufbewahrt und I. Abteilung. Medizinische Sektion. 15 mit 7,0 Urethan narkotisiert worden. 28 Minuten nach Injektion von 1320 M.-E. in das Duodenum begann die Blutentnahme, die 4 Minuten dauerte. Die Kanüle einer Spritze war in die Carotis eingeführt worden, die der anderen Spritze in den Conus arteriosus der Pnlmonalis, derart, dass noch genügende Mengen von Blut vorbeifliessen konnten. Zu dem Versuch waren 5. Personen er- forderlich. 2 Personen fixierten die Kanülen in den Arterien, 2 zogen an den Stempeln der Spritzen, eine fünfte Person über- wachte die künstliche Atmung. Der Versuch verlief ohne Hinder- nisse; es wurden 35 ccm Blut aus der Pulmonalis, 43 ccm aus der Carotis erhalten, die Messung der Emanation nach 4 Stunden vorgenommen. Der Emanationsverlust durch die Bungen betrug in diesem letzten Versuche 60 pCt., hielt sich also im Rahmen der vorhergehenden Versuche. Wir sind demnach berechtigt, aus den 4 Versuchen eiuen Mittelwertzu berechnen. Der Emanationsverl ust beim Durch- gang des Blutes durch die Lungen betrug im Mittel 63,3 pCt.; in das arterielle Blut gelangten also 36,7 pCt., d. h. etwas mehr als ]/ 3 der vom Darm aufgenommenen Emanation. Durch die gleichmässige Resorption aus dem Darm wird für jeden Kreislauf die ausgeatmete Emanation wieder ersetzt, und die absoluten Emanationswerte im Pulmonalis wie im Aortenblute sinken unter Beibehaltung ihres gegenseitigen Verhältnisses all- mählich ab, entsprechend der im vorhergehenden gezeichneten Kurve. Die in unseren Versuchen in den Darm des Kaninchens ein- gespritzten Emanationsmengen sind im Verhältnis zu den beim Menschen üblichen Dosen sehr gross. Es war nötig, mit der- artigen Mengen zu arbeiten, um den Emanationsgehalt des Blutes mit hinreichender Sicherheit messen zu können. Es ist derselbe Grund, der uns veranlasst hatte, auch bei den Einatmungs- versuchen mit hohem Emanationsgehalt der Luft zu arbeiten. Es ist aber klar, dass entsprechend den im Verhältnis zum Körper- gewicht viel geringeren Dosen, die dem Menschen zu trinken gegeben werden, der Emanationsgehalt des arteriellen Blutes beim Menschen, auf das Liter berechnet, viel niedriger sein wird, als in unseren Tierversuchen. Auf Grund früherer vergleichender Untersuchungen über den Emanationsgehalt der Atmungsluft1) sind wir jedoch nunmehr imstande, den Emanationsgehalt des arteriellen Blutes auch beim Menschen zu berechnen, allerdings unter zwei Voraussetzungen: 1. dass der Emanationsverlust beim Durchgang durch die Lungen beim Menschen der gleiche ist, wie bei unseren Versuchstieren, 2. dass beim Inhalieren der Emanation die Aufnahme ins Blut entsprechend dem Partialdruck und Ab- sorptionsquotienten -erfolgt. Die zweite Annahme dürfen wir, so- lange nicht das Gegenteil bewiesen wird, als Tatsache betrachten. Es bleibt aber vorläufig noch die Unsicherheit über die Grösse des Absorptionskoeffizienten. Inwieweit die erste Annahme zu- trifft, entzieht sich zurzeit der näheren Beurteilung. 1) Spartz, 1. c., und Strasburger, 1. c. 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Die jetzt folgende Berechnung kann also nur eine vorläufige und schätzungsweise sein. Wir hatten durch Messung der Kurven- fläche (vgl. meine angeführte Arbeit Figur 3 und 4) die Mengen der in der Atemluft enthaltenen Emanation bei Trink- und bei Inhalationsversuchen miteinander verglichen. Es hatte sich ge- zeigt, dass beim Trinken von 1000 Macheeinheiten innerhalb von 70 Minuten in Abständen von je 5 Minuten und beim Inhalieren derselben Menge Emanation in der gleichen Zeit die Mengen der ausgeatmeten Emanation sich verhielten wie 528 : 100. Die bei den Inhalationsversuchen ausgeatmete Menge war im arteriellen Blut gewesen, die bei den Trinkversuchen ausgeatmete jedoch in der genannten Menge nur im venösen Blut. Nehmen wir auf Grund unserer jetzigen Versuche an, dass von dieser Menge 36,7 pCt. ins arterielle Blut gelangten, so wäre die Verhältniszahl nunmehr 194 : 100. Da wir offenbar sagen dürfen, dass die aus- geatmeten Mengen von Emanation dem Emanationsgehalt des die Lungencapillaren durchfliessenden Blutes proportional sein werden, so ergibt sich aus unserer Berechnung, dass bei gleichem Emanationsaufwand nach Trinken in refracta dosi etwa doppelt so viel Emanation ins arterielle Blut gelangt, als beim Inhalieren. Bei unseren Inhalationsversuchen hatte ferner die inhalierte Luft eine Emanationsspannung von etwa 5 M.-E. pro Liter auf- gewiesen. Den Absorptionskoeffizient zu 0,2 gesetzt hatte also das arterielle Blut pro Liter 1 M.-E. enthalten, bei dem angeführten Trinkversuch wären es demnach beinahe 2 M.-E. Es wäre also gelungen, durch Trinken von 1000 M.-E. in kleinen Portionen den Emanationsspiegel im arteriellen Blut des Menschen während der Zeit von 70 Minuten auf der Höhe von beinahe 2 M.-E. zu halten. Wir haben noch einen anderen Weg, das Verhältnis zwischen Emanationsgehalt des arteriellen Blutes und Emanationsaufwaud festzustellen und die erhaltenen Werte bei Inhalation oder bei Aufnahme vom Darm aus miteinander zu vergleichen: Im Ver- suche VIII der Tabelle 2 wurden 1300 M.-E. in 5 Dosen verteilt in das Duodenum injiziert. Nach 3/4 Stunden fanden sich im arteriellen Blute 38,59 M.-E. pro Liter Blut. Wir dürfen an- nehmen, dass während dieser ganzen 3/4 Stunden stets annähernd die gleiche Menge von Emanation im Blute gewesen sein wird. Suchen wir nunmehr aus den Inhalationsversuchen einen passenden Ver- gleichsversuch heraus, so finden wir diesen in Versuch. V der Tabelle 1. Bei einem mittleren Emanationsgehalt der Atemluft von 116,2 M.-E. enthielt das arterielle Blut 39,7 M.-E., also fast die gleiche Menge wie in dem erstgenannten Versuch. Bei der Inhalation wurden für je 30 Minuten 16 Liter Luft, für 3/4 Stunden also 24 Liter Luft gebraucht, was einem Emanationsaufwand für diese Zeit von 2789 M.-E. entspricht. Um den gleichen Emanations- gehalt des arteriellen Blutes für die gleiche Zeitdauer zu erzielen, wurde demnach bei Inhalation etwas mehr als die zweifache Menge Emanation gebraucht, wie bei Einführung der Emanation in verteilten Dosen in den Darm. Dieses Resultat deckt sich also mit dem auf andere Weise berechneten. Das den Versuchs- tieren zur Verfügung gestellte Luftquantum war dabei schon I. Abteilung. Medizinische Sektion. 17 gering. Aus Angaben bei Heinz1 *) ist zu ersehen, dass Kaninchen mittleren Gewichtes ein Atemvolumen von etwa 700 bis 1000 ccm pro Minute, also 21 bis 30 Liter in einer halben Stunde auf- weisen, während ihnen in unseren Versuchen nur 16 Liter zur Verfügung standen. Für Emanatorien stellt sich (ganz abgesehen von Installationskosten) der Emanationsaufwand noch ungünstiger. Ein Mensch atmet während der Zeit von 2 Stunden (der gewöhn- lichen Aufenthaltsdauer im Emanatorium) etwa 960 Liter ein und aus. Bei der üblichen Anordnung eines Raumes von 10 cbm für 6 Personen stehen aber jeder Person 1600 Liter (ist der Raum nicht voll besetzt, natürlich mehr) Luft zu Verfügung, die mit Emanation bis zu der gewünschten Spannung gesättigt sein müssen. Die Ergebnisse des zweiten Teiles dieser Arbeit sind demnach folgende: Bei einmaliger Injektion von Emanationswasser ins Duodenum der Versuchstiere sind nach 1/4 Stunde er- hebliche, nach 3/4 Stunden noch sehr deutliche Mengen von Emanation im arteriellen Blute nachweisbar. Die Zeitkurve des Emanationsgehaltes im Blute ist dabei im Prinzip die gleiche wie in der Atmungsluft: Der höchste Stand ist sehr rasch erreicht, alsdann folgt erst ein steiler, allmählich ein immer langsamerer Ab- fall. Nach 2 Stunden sind nur noch Spuren im arte- riellen Blute nachweisbar. Durch verteilte Dosen in Abständen von etwa 10 Minuten lässt sich der Ema- nationsgehalt des arteriellen Blutes beliebig lange auf etwa gleichmässiger Höhe erhalten. Aus dem Vergleich zwischen Aorta- (b zw. Carotis-) Blut undPulmonalisblut ergibt sich, dass beim Kaninchen im Mittel 63,3 pCt. der Emanation beim Durchgang durch die Lungen zu Verlust gehen, dass also etwas mehr als ein Drittel in den grossen Kreislauf hinübergelangt. Schätzungsweise lässt sich sagen, dass beim Menschen durch Trinken von 1000 Macheeinheiten in kleinen Einzelportionen für die Zeit von 70 Minuten der Emanationsspiegel des arteriellen Blutes auf der Höhe von beinahe 2 Macheeinheiten erhalten werden kann. Um für eine bestimmte Zeitdauer dem arteriellen Blut gleich viel Emanation zuzu führen, braucht man bei Inhalation der erforderlichen Luftmenge etwa das Doppelte an Emanation, im Emanationsraum noch mehr, da hier die Luft nicht voll ausgenutzt wird. Bezüglich der Ergebnisse des ersten Teiles dieser Untersuchung sei auf das am Schluss des ersten Ab- schnittes Gesagte verwiesen. 1) Handb. f. experim. Pathol. u. Pharmakol., II, 1, Kap. Atmung. Schlesische Gesellscli. f. vaterl. Kultur. 1912. II. 2 II. Ueber Beziehungen der Hypophyse zum Diabetes insipidus. Von Dr. E. Frank. I. Die experimentellen Feststellungen. M. H.! Soweit die Pathogenese des Diabetes insipidus in den letzten Jahren Gegenstand experimentell-klinischer Unter- suchungen war, hat sich die Diskussion vorwiegend um das Wesen der Polyurie gedreht. Auf Grund der vorliegenden Resultate wird von den meisten Autoren die Ansicht vertreten, dass der echte Diabetes insipidus eine Funktionsstörung der Niere sei, die von den psychogen vermittelten primären Polyurien mancher hyste- rischen und psychopathischen Individuen begrifflich streng zu trennen sei und sich auch klinisch wohl immer trennen lasse. Die Art der gestörten Funktion ist dabei allerdings noch strittig. Im Anschluss an Tal lq ui st sieht besonders E. Meyer1) das Wesen der Erkrankung darin, dass die Niere unfähig werde, einen eine bestimmte niedrige Gesamtkonzentration überschreitenden Harn zu produzieren, während Forsch bach und Weber2) an- nehmen, dass das empfindliche Organ des Diabeteskranken auf die Zufuhr gewisser Stoffe, z. B. von Kochsalz mit einer heftigen Wasserdiurese antworte. Doch wie dem auch sei: der bleibende — therapeutisch bedeutsame — Gewinn der modernen Forschungen ist der, dass die in physiologischer Weise und in physiologischer Menge der Niere zuströmenden Substanzen, in erster Linie also Kochsalz und Harnstoff, für die Polyurie mit verantwortlich zu machen sind. Die renale Natur des echten Diabetes insipidus wird wahr- scheinlich gemacht durch die bis zur bedenklichen Wasserver- armung des Organismus weitergehende Ausscheidung reichlicher Harnmengen bei Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr durch das Auftreten leicht urämischer Erscheinungen unter denselben Um- ständen und durch die völlige Identität der die Gesamtkon- 1) Die deutsche Klinik, Bd. 13, Ergänzungs-Bd. 2. 2) Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 73. I. Abteilung. Medizinische Sektion.. 19 zentration anzeigenden Gefrierpunktserniedvigung des Harnes bei salzreicher und salzarmer Kost. Einen noch höheren Grad von Sicherheit gewänne man, wenn gezeigt werden könnte, dass die bei der Erkrankung wirkende Noxe direkt an der Niere angreift, mit anderen Worten, wenn das zweite Problem, welches die pathologische Physiologie des Diabetes insipidus aufgibt, das in den letzten Jahren ein wenig vernachlässigte ätiologische, eine Förderung erführe. Dazu scheint mir zurzeit reichlich experi- mentelles und kinisches Material gegeben, so dass es gewisser- maassen nur der Synthese bedarf. Ich. will versuchen, Ihnen zu zeigen, dass man hierbei zu recht befriedigenden Vorstellungen gelangt, die sich allerdings in ganz anderer Richtung bewegen, als die landläufig bei der Frage nach der Aetiologie des Diabetes insipidus geäusserten. Man pflegt den Diabetes insipidus einzuteilen in einen sym- ptomatischen, bei organischen Gehirnerkrankungen auftretenden, und in einen idiopathischen, ohne kliuische Begleiterscheinungen verlaufenden. Man recurriert nun bekanntlich, zumal bei dem Versuche, den organische Gehirnaffektionen begleitenden Diabetes insipidus zu erklären, auf die von Claude Bernard1) inaugu- rierten experimentellen Feststellungen: ein medianer Einstich am Boden des 4. Ventrikels, in der Mitte zwischen Acusticus- und Vagusursprung, erzeugt Polyurie und Glykosurie (Zuckerstich); trifft der Stich eine weiter nach vorne, also dem Acusticusvor- spruug nähergelegene Stelle, dann erhält man nur Polyurie, aller- dings meist eiweisshaltigen Harn. Eckardt2), der diese Angaben aufs sorgfältigste nachgeprüft hat, kann im allgemeinen bestätigen, dass die Verletzung der fraglichen Stellen Polyurie macht, ohne den Aortendruck zu erhöhen, doch hat er reine Polyurie, also einen von Eiweiss und Zucker freien Harn, nur ganz selten er- halten; er hat des ferneren noch gezeigt, dass auch Verletzungen des hintersten von oben sichtbaren Kleinhirnlappens beim Kanin- chen Polyurie (meist mit Glykosurie) hervorruft. Es handelt sich bei diesen Versuchen, wie beide Autoren betonen, um rasch vor- übergehende Erscheinungen; Kahler3) hat dann versucht, länger dauernde Polyurien zu erzeugen, indem er nicht einfach einstach, sondern gleichzeitig eine ätzende Flüssigkeit an die verletzte Stelle brachte. Er überzeugte sich zunächst, dass mit Hafer ge- fütterte Kaninchen einen spärlichen Urin lassen, und fand, dass nach der Piqüre die Urinmenge für Tage und Wochen viel reich- licher wurde. Finkelnburg4), der neuerdings die Versuche Kahler’s wiederholte, bemerkt, dass doch auch bei Haferkost die Harnmenge der Kaninchen sehr wechseln könne, zumal wenn man, wie dies Kahler getan hat, die Tiere unbegrenzt trinken lässt. Er selbst hat bei Kontrolle der Flüssigkeitszufuhr ebenfalls Polyurien erzeugt, aber nur von der Dauer einiger Tage. Sowohl 1) Le^ons de Physiologie experiment., 1854 — 1855, p. 347 et Legons sur la physiologie et pathol. du Systeme nerveux, 1857 — 1858, p. 397. 2) Beiträge zur Auatomie u. Physiol., 1869 — 1872. 3) Zeitschr. f. Heilt., 1886, Bd. 7. 4) Deutsches Archiv f. klm. Med., Bd. 91. 2* 20 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. bei den Tieren Kahler’s wie bei denen Finkelnburg’s war der Harn fast durchgehend frei von Eiweiss und Zucker, was gegen- über den Angaben der älteren Autoren immerhin auffallen muss. Es ist danach zuzugeben, dass beim Versuchstier Läsionen am Boden des 4. Ventrikels Polyurie hervorrufen, aber die Frage, ob von dieser Gegend aus dauernde Harnvermebrungen erzielt werden können, ist noch nicht endgültig beantwortet. Wichtig ist die Feststellung Finkelnburg’s, dass bei dem Piqurediabetes die Fähigkeit, einen kochsalzreichen Harn zu liefern, erhalten ist und dass auch das spezifische Gewicht nur wenig absinkt. Es ist damit ein Unterschied gegen den echten mensch- lichen Diabetes insipidus insofern gegeben, als bei diesem, nach der Zusammenstellung Bräun ing’s1) auch bei der Begleitform cerebraler Affektionen, die Fähigkeit, über eine bestimmte Ge- samtkonzentration hinauszugehen, stark vermindert oder auf- gehoben ist. Dem unter dem Eindrücke der Entdeckung Claude Ber- nard’s Stehenden mochte es scheinen, als ob damit das Rätsel des Diabetes insipidus gelöst sei, ganz ähnlich, wie man angesichts des Zuckerstiches glauben konnte, dass man nun dem Verständnis des Diabetes mellitus näher sei. Die nüchterne Betrachtung eines grösseren kasuistischen Materials führt aber zu einem anderen Ergebnis. Kahler hat im Jahre 1886 das gesamte bis dahin vorliegende Material kritisch durchgesehen und betont zunächst für die Fälle von Polyurie nach Schädeltrauma, dass aus den neben der Polyurie bestehenden Symptomen in keiner Weise eine einheitliche cerebrale Läsionsstelle zu lokalisieren sei; für den Diabetes insipidus bei Gehirnerkrankungen ergibt sich ihm, dass dieser Zustand bis jetzt zwar vornehmlich bei Geschwülsten, welche die in der hinteren Schädelgrube gelagerten Hirnteile, aber auch gar nicht selten bei solchen, welche die graue Boden- kommissur (infundibulum, corp. mamillar., subst. perforat. poster.) direkt oder durch Kompression beteiligen, beobachtet worden ist. Es existiert kein Fall der menschlichen Pathologie — und auch später ist meines Wissens keiner bekannt geworden — , bei dem die chronische Polyurie mit zwingender Notwendigkeit als Herd- symptom einer Affektion des 4. Ventrikels oder des Cerebellums gedeutet werden müsste. Die Annahme dieser Stellen als Aus- gangspunkt des Diabetes insipidus ist meines Erachtens auch des- halb unwahrscheinlich, weil die Polyurie beim Menschen fast niemals mit Glykosurie oder Albuminurie einhergeht, was nach den Experimenten eigentlich häufig der Fall sein müsste. Auch von einem allgemeinen Standpunkte aus erscheint die Vorstellung, dass der dauernde Reizzustand eines Nervencentrums die Ursache des Diabetes insipidus sei, heute nicht mehr recht haltbar. Bei anderen menschlichen Krankheiten — dem Diabetes mellitus, dem Morbus Basedow z. B. — , bei denen anfangs das Experiment ebenfalls auf das Nervensystem als ursächlichen Faktor hin wies, hat die fortschreitende Entwicklung ergeben, dass 1) Würzburger Abhandl., 1909. 1. Abteilung. Medizinische Sektion. 21 die Störungen der inneren Sekretion bestimmter Organe für die Pathogenese ungleich bedeutsamer seien. Sollte Aehnliches nicht auch für den Diabetes insipidus gelten? In der Tat scheint mir jetzt genügendes experimentelles und klinisches Material vorzu- liegen, um das hier in Frage kommende Organ namhaft zu machen: ich möchte Ihnen zu zeigen versuchen, dass es die Hypophyse ist, spezieller noch ein eigenes selbständiges Organ in diesem Organ: die Pars intermedia. Die Entdeckungen, die es gestatten, alte und neue klinische Erfahrungen über den Diabetes insipidus in anderem Lichte zu sehen, knüpfen sich an den Namen des Edinburger Physiologen E. A. Schäfer, desselben, der mit Oliver zusammen die blut- drucksteigernde Wirkung des Nebennierenextraktes auffand. Sie wissen, dass das (jetzt meist als Pituitrin bezeichnete) wässrige Extrakt der Hypophyse, und zwar besonders das des aus schein- bar ganz indifferentem Gewebe bestehenden Hinterlappens be- merkenswerte physiologische Wirkungen hervorbringt. Aehnlick dem gleichartigen Extrakte des Nebennierenmarkes steigert es z. B., intravenös injiziert, den Blutdruck; doch unterscheidet es sich zunächst schon dadurch von dem Nebennierenextrakte, dass in diesem eine chemisch wohl charakterisierte Substanz, das Ad- renalin, der Träger der mannigfaltigen Effekte ist, während eine solche sich aus dem Hypophysenextrakt bis jetzt nicht hat dar- stellen lassen, so dass möglicherweise gar kein einheitlicher Körper vorliegt, sondern mehrere, die mit differenten pharmako- dynamischen Eigenschaften ausgestattet sind. Auch der Angriffs- punkt des Adrenalins und des Pituitrins an den Erfolgsorganen ist prinzipiell verschieden: während das Adrenalin nur auf die vom Sympathicus im engeren Sinne innervierten Organe und hier wieder auf eine Seitenkette des Protoplasmas, die elektiv auf den sympathischen Nerven eingestellt ist, die sogenannte organoneurale Junction einwirkt, ist das Pituitrin, ähnlich wie das Chlorbaryum, auch nach pharmakologischer Ausschaltung dieser receptiven Gruppe1) noch wirksam, greift also direkt am Leistungskern des Protoplasmas der glatten Muskelzelle an; es ist infolgedessen auch nicht dem einen der beiden antagonistischen vegetativen Nerven- systeme zugeordnet, sondern wirkt offenbar ganz unabhängig von diesen, so dass an dem einen Organ der Effekt der Reizung eines sympathischen, an einem anderen der der Reizung eines autonomen Nerven zu prävalieren scheint. Hervorzuheben ist noch, dass eine Wiederholung der Injektion keine Wirkung hat und dass der refraktäre Zustand der Erfolgs- organe sich erst ganz allmählich löst. Anders ist dies bei der Einwirkung des Pituitrins auf die Nierenzelle, die für diese Sub- stanz besonders charakteristisch genannt werden darf. Daraus darf man vielleicht schliessen, dass der Bestandteil des Pituitrins, der die glatte Muskulatur erregt, verschieden ist von dem auf die Niere wirkenden. Dieses verschiedene Verhalten von Niere und anderen Erfolgsorganen, also die erhalten bleibende Ansprucks- 1) Dale, cit. nach Biedl, Innere Sekretion, S. 299. Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. fähigkeit der Niere, während die glattmuskeligen Organe „im- mun“ werden, ist für das Verständnis der klinischen Erschei- nungen sehr wichtig. Im Jahre 1901 haben Magnus und Schäfer1) entdeckt, dass nach intravenöser Injektion eines wässrigen Extraktes aus dem Hinterlappen der Hypophysis das Nierenvolumen sich für längere Zeit vergrössert und eine starke Diurese einsetzt. Sie führen als Beispiel einen Hund an, der 2,5 ccm Urin in 5 Minuten produzierte, während nach der Injektion die Harnmenge auf 14 ccm in dem gleichen Zeiträume stieg und nach einer halben Stunde noch immer das Doppelte des ursprünglichen Betrages war. Die Unabhängigkeit der Diurese vom Blutdruck wird durch ihre lange Dauer gegenüber der nach wenigen Minuten ver- schwindenden Blutdrucksteigerung erwiesen. Neue Injektionen hatten einen nicht ganz so starken, aber stets einen positiven Erfolg. Schäfer und Herring2) haben 1906 diese Studien wieder aufgenommen und gefunden, dass, während alle Gefässe des Körpers auf Pituitrin verengert werden, die Nierenarterien sich dilatieren (Pal3) hat später gezeigt, dass dies nur für das peri- phere Stück der Arterie gilt). Gleichzeitig vergrössert sich das Nierenvolumen sehr beträchtlich, und die Harntropfen folgen ein- ander in viel kürzeren Intervallen als vorher. Die Diurese ist aber nicht nur vom allgemeinen Blutdruck (der sogar während ihres Bestehens sinken kann), sondern auch von der Hyperämie der Niere selbst unabhängig, denn häufig genug fehlt jede Ver- grösserung des Organs, während der diuretische Effekt sehr aus- gesprochen ist. Die Diurese ist also im letzten Grunde Folge einer Einwirkung auf epitheliale Elemente der Niere. Die Mächtigkeit der diuretischen Wirkung des Pituitrins wird illustriert durch die Bemerkung von Schäfer und Herring, dass 1 ccm eines 1 proz. Extraktes der getrockneten Drüse den gleichen Effekt habe wie etwa 0,1 g Coffeincitrat; da nun diese Mengen Coffeins einen ungleich höheren Betrag an Substanz repräsentieren als die diuretische Komponente der Hypophyse (in 1 ccm des Iproz. Extraktes), so sei die diuretische Aktivität dieses Stoffes bei weitem grösser als die irgendeines Diureticums der Pharmakopoe. Schäfer4) hat neuerdings die diuretische Wirkung, die dem hinteren Teil der Hypophyse zukommt, noch weiter verfolgt und gezeigt, dass sie bei Affe, Hund, Katze, Ratte in gleicher Weise hervortritt; des ferneren ist sie nicht nur durch intravenöse In- jektionen, sondern auch durch Verfütterung sowie durch Trans- plantationen von Hypophysen erzielbar. Am bedeutsamsten ist aber seine Feststellung, dass mechanische oder thermische 1) Journal of physiology, 1901. 2) Philosophical Transactions, Vol. 199. 3) Centralbl. f. Physiologie, 1909, Nr. 23. 4) Die Funktionen des Gehirnanhangs. Berner Universitätsschriften, 1911, H. 3. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 23 Insultierung des fr eigelegten Gehirnanhanges eine viele Tage lang dauernde Polyurie hervor rufen kann, während die Freilegung der Drüse an sich diesen Effekt nicht hat. Ich lasse eines der instruktivsten seiner Beispiele folgen: Ein Hund entleerte 40 ccm Harn pro die vor der Operation, am Tage nach der Operation desgleichen, am nächsten Tage 180 ccm, am darauffolgenden 230 ccm, dann blieb die Tagesmenge für etwa 19 Tage 114 ccm. Es ist damit, schöner fast, als es bis jetzt für das adrenalin- produzierende Nebennierenmark gelungen ist. für die Hypophyse der Beweis erbracht, dass die von ihr produzierte diuretische Sub- stanz auch intra vitam Bedeutung hat. Bei dieser Lage der Dinge wird die Disharmonie, die zwischen der physiologischen Dignität des Hinterlappens und seinem anatomischen Bau besteht, recht fühlbar. Dieser Teil der Hypophyse, der entwicklungs- geschichtlich vom Iufundibulum des dritten Ventrikels abstammt, besteht ja im wesentlichen nur aus Glia und Bindegewebe, und es ist zunächst nicht einzusehen, wie ein strukturell so indiffe- rentes Organ Urspruugsort wirksamer Sekrete sein soll. Den hier vorliegenden Widerspruch geklärt zu haben ist das Verdienst des Engländers P. T. H erring1). Es war bereits früher bekannt, dass die Grenzschicht zwischen Vorderlappen und Infundibularteil einen besonderen histologischen Charakter trägt, aber erst Herring hat 1908 auf den fundamentalen Unterschied aufmerksam ge- macht, den diese Pars intermedia in ihren Struktur- und Sekretions- verhältnissen gegenüber dem eigentlichen Parenchym des Vorder- lappens darbietet. Während nämlich die Hauptmasse des Vorderlappens aus soliden Zellsträngen besteht, mit reichlichen Capillaren im Zwischenbindegewebe, sind weiter hinten um den spaltförmigen Ueberrest der ehemaligen embryonalen Hypophysenhöhle die Zellen in Inseln, teils auch in Follikeln angeordnet, getrennt von einem wenig vascularisierten Zwischengewebe, welches von der Pars nervosa ausgeht, in welche ihrerseits wieder die Follikel und Zellinseln sich vorschieben. Für den erstgenannten Teil ist die Anwesenheit zahlreicher teils eosinophil, teils basophil ge- körnter Zellen charakteristisch, für die Pars intermedia Herring’s eine Kolloidsubstauz innerhalb der Follikel. Es lässt sich seiner Angabe nach verfolgen, wie das Kolloid aus den Follikeln in das Zwischengewebe hineindringt, teils nach vorn, hauptsächlich aber in die nervöse Partie hinein, und bei Tieren, bei denen der Hohl- trichter des Infundibulum sich bis tief in die Neurohypophyse hinein erstreckt, z. B. bei der Katze, kann man sehen, wie das Kolloid in diesen Hohlraum, also in die Ventrikelflüssigkeit, Übertritt. Diese Befunde sind naturgemäss für das Verständnis der physiologischen Beobachtungen von grosser Wichtigkeit. Die Pars intermedia stellt offenbar eine von dem eigentlichen Vorder- lappen strukturell und funktionell streng zu scheidende eigene 1) Quarterly journal of experimental physiology, 190S. 24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Drüse dar, die ein kolloides, wahrscheinlich der Ventrikelflüssig- keit sich bei mischendes Sekret produziert. Während an die Zellen des Vorderlappens der Einfluss der Hypophyse auf die Wachst umsvorgänge im Organismus geknüpft ist, liefern die Zellen der Intermediär Schicht die wirk- samen Stoffe der wässrigen Extrakte, vor allem also auch das hypophysäre Diureticum. Das wird bis zu einem gewissen Grade direkt bewiesen durch die Resultate der mikro- skopischen Untersuchung der Hypophysen bei jenen Hunden, bei denen Schäfer das Organ leicht verletzt hatte: der Vorder- lappen war in diesen Fällen intakt, dagegen fanden sich Blut- extravasate in der Hypopbysenhöhle und deutliche Vermehrung des Kolloids der Zwischenschicht. II. Das klinisch-anatomische Material. So liefern anatomische und physiologische Forschungen eine wichtige Unterlage für die Zwecke der Klinik, der die Aufgabe erwächst, mit ihren Mitteln den hypophysären Ursprung des Diabetes insipidus so wahrscheinlich wie möglich zu machen. Der Beweis, der sich auf anatomische Befunde und klinische Komplikationen zu stützen hat, lässt sich naturgemäss in strikter Weise nur erbringen für die Formen, die im Gefolge cerebraler Affektionen auftreten. Sie haben gehört, dass Kahler zu dem Schlüsse kam, klinische Beobachtungen, die für die Wichtigkeit der Claude Bernard’schen Stelle in der menschlichen Pathologie sprächen, seien kaum vorhanden, und Sie werden nun sehen, wie das anatomisch-klinische Material gestattet, ja geradezu fordert, den Diabetes insipidus mit der Funktion der Hypophyse in Ver- bindung zu bringen, nachdem einmal das Experiment die Be- ziehungen dieses Organs zur Nierensekretion aufgedeckt hat. Um zunächst mit allgemeinen Feststellungen zu beginnen, so ist es, wie schon erwähnt, Kahler aufgefallen, dass in 7 seiner 22 Fälle von Diabetes insipidus bei Gehirnerkrankongen eine Affektion der grauen Bodenkommissur (Infundibulum, Sub- stantia perforata posterior, Corpora mamillaria) vorhanden war; weiter hat Oppenheim1) konstatiert, dass von 36 Patienten seiner Beobachtung, bei denen er eine basale luetische Meningitis diagnostizierte, 12 Polyurie darboten, wobei zu erwägen ist, dass der Hauptsitz der gummösen Veränderungen der interpedunculäi e Raum, also die Hypophysengegend, ist. Das klassische Symptom einer raumbeengenden Bildung, die von der Hypophyse oder deren nächster Umgebung ausgeht, ist bekanntlich die bitemporale Hemianopsie als Folge der Druck- wirkung auf die im Chiasma sich kreuzenden Sehnervenfasern. Es ist nun gewiss bemerkenswert, dass zwei an sich so seltene Erkrankungen wie die bitemporale Hemianopsie und der Diabetes insipidus auffallend häufig zusammen Vorkommen. Kruse2) hat 1) Nothnagel’s spez. Pathol. u. Therapie, Bd. 9. 2) Inauguraldissertation Marburg 1894. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 25 bei 34 Fällen von bitemporaler Hemianopsie, die er 1894 zu- samraenstellte, 7 mal Diabetes insipidus verzeichnet gefunden, Spanbock und Steinhaus1) im Jahre 1898 11 mal bei 50 Fällen. Man hat an sonderbare Möglichkeiten gedacht, um sich die un- verständliche Kombination zusammenzureimen, und ist so weit gegangen, den Diabetes insipidus für die Ursache der Sehstörung zu erklären. Da in solchen Fällen oft Lues zugrunde liegt, wurde meist ein diffuser Prozess an der Hirnbasis angenommen, der einerseits das Chiasma, andererseits den 4. Ventrikel tangieren sollte. Es musste dabei aber auffallen, dass die übrigen klinischen Symptome (meist Oculomotorius- und Abducenslähmungen, seltener Trigeminusaffektionen) vom 4. Ventrikel weg auf ein weiter nach vorn gelegenes Territorium hinwiesen, und diejenigen Fälle, in welchen die Kombination bitemporale Hemiauopsie-Diabetes in- sipidus die einzige klinische Manifestation war, Hessen schon damals manchen ein hypothetisches Diabetescentrum am Boden des 3. Ventrikels vermuten, ohne dass man sich allerdings von der Lage und Art dieses Centrums eine Vorstellung machen konnte; au die Hypophyse dachte natürlich niemand. Da die ganz reinen Fälle in unserem Zusammenhänge natur- gemäss ganz besonders interessieren, so will ich sie, soweit sie mir bekannt geworden sind, kurz zusammenstellen; sie sind teils traumatischer, teils syphilitischer Aetiologie. Redslob2) berichtet über ein 14jähriges Mädchen, das bei einem heftigen Fall mit der Stirn auf einen Steinboden aufschlug, sofort das Bewusstsein verlor und aus Nase, Mund und Ohren blutete. Nach der Wiederkehr des Bewusstseins klagte das Kind, dass es schlechter sehe, und zeigte einen abnormen Durst. Bei der 3 Monate später vorgenommenen Untersuchung wurde eine isolierte bitemporale Hemianopsie festgestellt; die Harn- menge betrug damals 3400 — 4100 ccm; später schien sich die Polyurie zu bessern, trat aber nach 2 Monaten wieder stark her- vor und blieb nun dauernd (nur ca. 4700 ccm). Seiler3) hat bei diesem Mädchen die Bedingungen der Polyurie genauer studiert; von seinen Befunden seien 2 hervor- gehoben: Bei Einschränkung der Flüssigkeitszufuhr blieb die Gefrierpunktserniedrigung des Harns völlig unverändert, und es wurden Harnbestandteile retiniert; nach Verabreichung von 5 Eiern auf einmal blieb in den nächsten Stunden das spezifische Gewicht des Harns dasselbe wie vorher, während es bei einer gesunden Kontrollperson von 1012 auf 1024 anstieg. Red s lob erwähnt eine Beobachtung von Lange, derzu- folge bei einem Maurer nach schwerer Schädelverletzung sich mit einer bleibenden bitemporalen Hemianopsie eine rasch vor- übergehende Polyurie kombinierte. 1) Neurol. Centralbl., 1898. 2) Klin. Monatsblätter f. Augenheilk., 1905. 3) Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 61. 26 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Sehr schön ist ein Fall, den Spanbock und Steinhaus1) beschrieben : Bei einer syphilitisch infizierten Frau entwickelte sich ziemlich rasch Polyurie und Polydipsie; 2 Monate später fing sie an, über Seh- störungen zu klagen, die sich bei der objektiven Untersuchung als typische Chiasmahemianopsie charakterisierten. Andere Erscheinungen von seiten des Nervensystems fehlten. Die durchschnittliche Harnmenge betrug 6 — 7 1, mit einem spezifischen Gewicht von 1002. Nach Hg-Injektionen und grossen Jodgaben gingen die Krankheits- erseheinungen zurück, zunächst die Sehstörung im Laufe von 3 Wochen, während die Harnmenge erst nach 6 Wochen auf 2 1 herabgesunken war. Besonders wichtig sind die Beiträge, die Oppenheim2) zu der uns hier interessierenden Frage geliefert hat, weil er in 2 Fällen, in denen ausser allgemeinen Hirnsymptomen ebenfalls nur das Syndrom bitemporale Hemianopsie uud Diabetes insipidus bestand, die autoptische Untersuchung vornehmen konnte. Im ersten Falle hatte sich ziemlich starke Polydipsie und Polyurie entwickelt, einige Zeit später klagte die Pat. über Sehstörungen; bei der Untersuchung fanden sich zunächst nur schwankende Skotome in den oberen Quadranten beider temporalen Gesichtshälften; erst einige Monate später war die Hemianopsie komplett. Das Harnquantum schwankte zwischen 6 und 12 1; spezifisches Gewicht 1001 — 1002; kein Zucker, kein Eiweiss. Die Sehstörung besserte sich, während der Diabetes insipidus be- stehen bleibt. Ein halbes Jahr später traten unter schweren cerebralen Allgemein- symptomen wieder die Gesichtsfelddefekte auf; Pat. kommt ad exitum. Bei der Autopsie fand sich ein gummöser Tumor in der Gegend des Chiasmas, zwischen dieses und die benachbarten Teile der Hirnbasis eingeschoben; weiter nach hinten zu, in der Umgebung der Tractus optici, ist die Wucherung viel jüngeren Datums; Pons und Medulla oblongata erscheinen auch mikroskopisch ganz frei. In dem zweiten Falle waren Diabetes insipidus und bitemporale Hemianopsie ebenfalls die einzigen Symptome des Hirnleidens; durch die spezifische Behandlung wurde die Sehstörung in wenigen Tagen völlig behoben, die Kopfschmerzen und der Diabetes insipidus gingen gleichfalls zurück. Einige Monate später wurde der Pat. in schwer be- nommenem Zustande dem Krankenhaus zugeführt und starb bald. Die Sektion zeigte den typischen Befund der gummösen Meningitis am Chiasma opticum mit Durchwucherung des Mittelstücks. Hierher gehört endlich noch ein 1910 von Finkelnburg3) mitgeteilter Fall von Diabetes insipidus mit doppelseitigen schweren Sehstörungen (ohne Stauungspapille), die allerdings nicht hemianopischer Natur waren; bei der Autopsie fand sich ein cystischer Tumor am Boden des 3. Ventrikels, zwischen Chiasma und der nicht vergrösserten Hypophyse gelegen. 1) I. c. 2) Virchow’s Archiv, Bd. 104, und NothnagePs spez. Pathol. u. Therapie, Bd. 9, Die syphilitischen Erkrankungen des Gehirns, S. 53—54 und 79 — 83. 3) Sitzungsberichte der Niederrhein. Ges. f. Natur- u. Heilkunde, Med.-Abt., 1910. I.' Abteilung. Medizinische Sektion 27 Mau wird vielleicht zugeben, dass bei den eben beschriebenen Fällen der Diabetes insipidus nach Kenntnis der Tierversuche Schäfer’s mit grosser Wahrscheinlichkeit auf die Hypophyse bezogen werden darf, wir verfügen jedoch über einige Fälle eines scheinbar idiopathischen Diabetes insipidus, in denen der Eingriff Schäfer’s sozusagen von der Natur selbst beim Menschen vor- genommen ist. Mit ihnen erreicht meines Ermessens die klinische Beweisführung fast die Sicherheit des Experimentes. Die erste dieser Beobachtungen ist im Jahre 1882 von Hagenbach1) mit- geteilt worden: Bei einem 4 1/2 jährigen Mädchen wird vermehrter Durst wahrge- nommen, der rasch an Intensität steigt. Die Flüssigkeitszufuhr beträgt 3 — 7 1, es besteht entsprechende Polyurie; spezifisches Gewicht des Harnes 1001 — 1004, kein Eiweiss, kein Zucker. Der Tod erfolgte an tuberkulöser Meningitis. Bei der Autopsie findet man einen käsigen Tuberkel im Infundibulum, die Hypophyse ist makroskopisch unver- ändert. Den zweiten Fall hat 1903 Rosenhaupt2) beschrieben: Sein Patient erkrankte 4 Wochen vor der Aufnahme ins Kranken- haus mit Fieber und starkem Durstgefühl; die Polyurie bleibt neben dem Fieber während der bis zum Tode noch vergehenden 14 Tage das einzige Symptom; sie schwankt ziemlich an Intensität, zwischen lx/2 — 7 R durchschnittlich beträgt sie 51/2 1. Zeichen einer Akromegalie sind nicht vorhanden. Bei der Autopsie findet sich ein Sarkom des Hypophysen- vorderlappens (neben einem ähnlichen Tumor in der Schilddrüse). Den dritten Fall habe ich selbst vor etwa 1 1/2 Jahren kurz in einer Sitzung des ärztlichen Vereins zu Wiesbaden vorgestellt3) und schon damals, noch ohne die neueren Arbeiten Schäfer’s zu kennen, auf die Hypophyse bezogen. Es handelt sich um eiuen 39 jährigen fettleibigen Mann, der wegen epileptischer Anfälle das Krankenhaus aufsuchte; diese sind im An- schluss an einen mehrere Jahre zurückliegenden Suicidversuch auf- getreten, bei dem er sich aus einem Revolver von 7 mm Kaliber zwei Kugeln in die rechte Schläfe schoss. Im Krankenhaus wurde fest- gestellt, dass er täglich etwa 6 — 7 1 Urin produzierte (spezifisches Gewicht 1005). Auf Befragen gibt Patient noch an, dass seine starke Fettleibigkeit erst aus den letzten Jahren datiere, des ferneren, dass er seit einigen Jahren keine Libido sexualis mehr verspüre; Glied und Hoden seien nach seiner Meinung geschrumpft; Erektionen und Ejakulationen kämen aber noch zustande (in einem Ejakulate wurden lebende, gut bewegliche Spermatozoen nachgewiesen). Der Patient erwies sich sonst als körperlich gesund. Störungen von seiten des Nervensystems, Sehstörungen konnten nicht nachgewiesen werden. Um die Art der. Polyurie zu prüfen, wurde Patient auf eine koch- salz- und stickstoffarme Kost gesetzt, dabei sank bei gleichbleibendem spezifischen Gewicht die Harnmenge bis auf 1650 ccm mit 3,1 g Koch- 1) Citiert nach Kahler, 1. c., S. 143, Fall 5. 2) Diese Wochenschr., 1903.--- 3) Diese Wochenschr., 1910, S. 1257. 28 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur- Figur 1. Figur 2. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 29 salz; bei Salzzulagen stieg sie wieder an und erreichte bei einer Koch- salzausscheidung von 11 g etwa 3000, bei einer solchen von 28 g 6500 ccm; es besteht danach wohl ein echter Diabetes insipidus. Die röntgenologische Untersuchung ergab, wie die beiden beigegebenen Abbildungen zeigen , dass die eine Kugel seitlich nahe der Rinde sitzt, die andere aber in der Medianlinie, von oben her breit in die mittleren und hinteren Par- tien der Sella turcica hi nein ragend. Wir haben also durch die Kugel (resp. das sie um- kapselnde Gewebe) eine dauernde mechanische Insul- tierung der Hypophyse, die gewisse rmaassen für den Menschen die Gültigkeit der Resultate Schäfer’ s be- stätigend, zu einem echten dauernden Diabetes insi- pidus geführt hat (übrigens interessanter weise auch zu einem gewissen Grade von Dystrophia adiposo-genitalis). III. Ueber die einheitliche Erklärung der klinischen Formen des Diabetes insipidus. Aus den angeführten experimentellen und klinischen Tat- sachen ergibt sich, dass eine die Pars intermedia der Hypophyse einnehmende Drüse mit innerer Sekretion auf die Nierentätigkeit Einfluss hat und dass der essentielle Diabetes insipidus des Menschen auf eine pathologische Ueberfunktion dieser Drüse zurückgeführt werden kann. Es bleibt zu untersuchen, ob alle bis jetzt beobachteten Formen der Erkrankung aus diesem ein- heitlichen Gesichtspunkte sich erklären lassen. Um dabei gleich dem Einwande zu begegnen, dass bei der menschlichen Krankheit niemals die übrigen Wirkungen des Pituitrins (Blutdrucksteigerung und Reizerscheinungen an glattmuskeligen Orgauen) zur Beob- achtung gelangen, verweise ich auf die experimentelle Tatsache, dass die glatte Muskulatur sehr rasch in einen refraktären Zu- stand gegenüber dem Pituitrin gerät, während die diuretische Wirkung ungehindert weitergeht. Die Fälle von Diabetes insipidus gruppieren sich in solche, welche im Gefolge cerebraler Affektionen auftreten, und in idio- pathische; bei letzteren stellen wieder die Fälle mit Lues in der Anamnese und die hereditäre Form zwei verschiedene Typen dar. Die cerebralen Affektionen, bei denen häufig Diabetes insi- pidus auftritt, sind zunächst die Commotionen nach schwereren Schädeltraumen, wobei der Sitz einer Schädelverletzung ziemlich gleichgültig ist, wenn auch in der Hälfte der Fälle etwa die Basis betroffen wird. Diese Gruppe lässt sich wohl zwanglos als hypophysärer Diabetes insipidus deuten. Beobachtungen, wie die citierten von Redslob und Lange (bitemporale Hemianopsie neben dem Diabetes insipidus) lehren, dass offenbar die Gebilde an der Sella turcica bei schwereren Erschütterungen des Schädel- inhaltes relativ leicht lädiert werden. Dass im Anschluss an die schweren Schädeltraumen dauernde Polyurien auftreten, erklärt sich vielleicht aus der dauernden Wirkung drückenden Narben- gewebes, vielleicht genügt aber für die Drüse ein starker Anstoss als auslösendes Moment für perennierende Ueberfunktion. 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Der Diabetes als Symptom von Hirngeschwülsten, vornehm- lich solchen der hinteren Schädelgrube, sowie bei Hydrocephalus internus und Meningitis dürfte Folge des gesteigerten Druckes in der Ventrikelflüssigkeit sein, die das Infundibulum des 3. Ven- trikels ausbaucht und so ebenfalls zur mechanischen Reizung der Pars intermedia führt. Um die beträchtliche Gefährdung der Hypophysengegend bei Drucksteigerung im Schädelinnern sich zu vergegenwärtigen, braucht man nur an die Fälle von bitemporaler Hemianopsie bei Meningitis serosa resp. Hydrocephalus zu denken; neuerdings hat Goldstein auch einen Fall beschrieben, bei dem die gleich zu erwähnende hypophysäre Dystrophia adiposo-geni- talis, wie die anatomische Untersuchung zeigte, lediglich Folge eines Hydrocephalus internus mit starker Erweiterung der In- fundibularregion war. Bei Akromegalie ist Polyurie ein häufig erwähnter Befund; auch bei Dystrophia adiposo-genitalis, einem nach allen neueren Erfahrungen ebenfalls auf die Hypophysengegend zu beziehenden Syndrom, ist Diabetes insipidus mehrfach erwähnt; genannt seien die Fälle von Erdhei m-Götzl1) und von Bartels2): In beiden Fällen hatte ausser der Fettsucht und Genitalstörung Polyurie bestanden. Bei der Autopsie fand sich beide Male ein Tumor, der von oben auf die an sich intakte Hypophyse drückte. Bei Akromegalie und Dystrophia adiposo-genitalis, von denen die erstere als Ueberfunktion des epithelialen Vorderlappens anzu- sehen ist, die letztere wahrscheinlich auf einer Minderfunktion des gleichen Abschnittes beruht, wird Diabetes insipidus mit Vorliebe auftreten, solange die vom Hypophysenvorderlappen oder von der Umgebung ausgehende Geschwulst auf die Pars inter- media drückt; die Polyurie wird aufhören oder fehlen, wenn die Tumorzellen das funktionierende Gewebe der Pars intermedia substituieren. Von den idiopathischen Fällen, bei denen also der Diabetes insipidus die einzige klinische Manifestation ist, werden diejenigen, bei denen eine Lues im Spiele ist, ebenfalls als hypophysäre ge- deutet werden dürfen; es existieren offenbar alle Uebergänge von leichteren gummösen Prozessen im Hypophysengewebe selbst oder in dessen nächster Umgebung zu solchen, bei denen das Chiasma mitergriffen wird, und schliesslich den häufigeren, bei den die gummöse Meningitis sich weiter nach hinten ausdehnt und Oculomotorius, Abducens, eventuell Trigeminus erfasst. Von den übrigbleibenden Fällen wird wohl noch ein Teil durch die Wassermann’sche Reaktion als luetisch erkannt werden; für einen zweiten Teil spielen vielleicht leichtere Grade eines Hydrocephalus eine Rolle; für den auch dann noch bleibenden, immerhin spärlichen Rest, speziell für die hereditären Formen, lässt sich die hypophysäre Genese nicht so wahrscheinlich machen wie für die symptomatischen Formen: sollte in Zukunft ein solcher Fall einmal zur Autopsie gelangen, so wird man der Unter- 1) Zeitschr. f. Heilkunde, 1905. 2) Zeitschr. f. Augenheilk., 1906, Bd. 16. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 81 suchung der Pars intermedia sein volles Augenmerk zuwenden müssen, vielleicht dass doch eine Hyperplasie dieses Organs oder vermehrte Colloidsekretion oder sonst ein verwertbarer Befund sich erheben liesse. Es ist daher gewiss eine Hypothese — aber eine, für die sich, wie ich meine, mancherlei Gründe anführen lassen — , wenn ich vermute, dass auch die idiopathischen Fälle von Diabetes in- sipidus Folge einer Mehrtätigkeit des Zwischenteiles der Hypophyse sind, nur dass bei diesen der grobe äussere Reiz fehlt, der das Organ zur Steigerung seiner Absonderung veranlasst. Es erscheint mir z. B. gerechtfertigter für die hereditäre Form1), die in jeder Generation bei einer grösseren Anzahl von Individuen auftritt und das einzelne Individuum vom frühen Säug- lingsalter bis ins Senium begleitet, eine vererbbare Ueberfunktion einer innersekretorischen Drüse anzunehmen, als etwa einen ver- erbbaren Reizzustand eines einzigen ganz speziellen Nervencentrums, z. B. der Claude Bernard’schen Stelle. In einer Reihe von Fällen, wie sie zum Teil schon von älteren Autoren angeführt werden, besteht neben dem Diabetes Fettleibigkeit oder die betreffenden Individuen sind im ganzen in der Entwickelung zurückgeblieben bzw. es besteht nur eine Hypoplasie der Genitalien oder Mangel der Scham- und Achselhaare. Auf diese Kombinationen von Diabetes insipidus und Entwickelungshemmung hat neuerdings Strauss2) wieder die Aufmerksamkeit gelenkt; nach dem, was vorher über die ausgesprochenen Fälle von Dystrophia adiposo- genitalis mit Hypophysentumor ausgeführt worden ist, wird man zugeben, dass diese weniger ausgeprägten Bilder als Begleit- erscheinungen eines Diabetes insipidus ebenfalls den Verdacht von dessen hypophysärem Ursprung wachrufen. Des ferneren verdient sehr scharf hervorgehoben zu werden, dass aus der Art der gestörten Nierenfunktion sich ein Unter- schied zwischen cerebralen und idiopathischen Fällen nicht kon- struieren lässt. Finkelnburg3) hat zwar versucht, nachdem er gefunden hatte, dass beim Diabetesstich des Kaninchens Störungen des Konzentrationsvermögens nicht auftraten, an zwei Beispielen das gleiche auch für die Cerebralformen des Menschen abzuleiten, aber er selbst hat Gegenbeispiele, und aus der bereits citierten Zusammen- stellung Bräun in g’s geht hervor, dass sich ein solcher Unter- schied nicht aufrecht erhalten lässt. Auch E. Meyer4) betont, dass einige der bestuntersuchten Beispiele der neuen Lehre vom Diabetes insipidus cerebraler Natur sind, z. B. der Fall Engel5) mit Commotio cerebri und sein eigener Fall 36) mit schwerer 1) Siehe den von Weil sen. und Weil jun. durch fünf Generationen hindurch verfolgten Stammbaum, Virchow’s Archiv, Bd. 95 u. Archiv f. klin. Med., Bd. 98. 2) Folia urologica, Bd. VI, 1911. 3) Deutsches Archiv f. klin. Med., Bd. 100. 4) 1. c. 5) Zeitschr. f. klin. Med., Bd. 67. 6) Deutsches Archiv i. klin. Med., Bd. 82. 32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Gehirnlues, vor allem ist nochmals auf die beiden bezüglich der Art der Polyurie genauer untersuchten Paradigmata des hypo- physären Diabetes, den Fall Redslob-Seiler und meinen eigenen Fall hinzuweisen: beide Male bestand strenge Abhängigkeit der Harnmenge von Salz- und Stickstoffzufuhr; im Falle Seiler fand sich bei starker Flüssigkeitsbeschränkung die gleiche Gefrier- punktserniedrigung wie bei freigewählter Flüssigkeitszufuhr, in meinem Falle bei 1500 Harn dasselbe spezifische Gewicht wie bei 6000 ccm. Gewiss verbürgt die Gleichartigkeit der klinischen Er- scheinungen noch nicht den gleichen Ursprung, aber sie leiht doch der Idee einer einheitlichen — hypophysocentrischen — Auffassung des echten Diabetes insipidus eine weitere Stütze. III. Erfahrungen über Salvarsanbehandlung syphi- litischer und metasyphilitischer Erkrankungen des Nervensystems. Von Privatdozent Dr. Otto L. Klieneberger, früher Assistent her Kgl. psychiatr. und Nervenklinik zu Breslau, jetzt in Königsberg i. P. Die ungewöhnliche Begeisterung, mit der das Salvarsan bei seiner Einführung in die Therapie durch Ehrlich auch in Aerzte- kreisen begriisst wurde, ist von Neurologen und Psychiatern im allgemeinen nicht mitgemacht worden. Ehrlich selbst hat vor der Anwendung seines Mittels bei metasyphilitischen Erkrankungen gewarnt, Bonhoeffer aus klinischen Erwägungen zu vorsichtiger Beurteilung der Erfolge gemahnt. Die vereinzelten enthusiastischen Mitteilungen über Besserungen und Heilungen der Paralyse haben sich in der Tat nicht bestätigt, auch der bekannte Fall von Alt ist vor längerer Zeit in der Irrenanstalt zum Exitus gekommen. Die Erfahrungen sind noch nicht abgeschlossen, es stehen sich noch immer widersprechende Beurteilungen gegenüber, obwohl auch in unserem Spezialgebiet die Literatur über die therapeutische Einwirkung des Salvarsans gewaltig angewachsen ist. Ich möchte Ihnen heute unter kurzen Hinweisen auf die haupt- sächlich herrschenden Ansichten die Erfahrungen mitteilen, die an unserer Klinik im Laufe der letzten l'/2 Jahre mit Salvarsan ge- macht worden sind. Ich berichte über ein Material von 87 Kranken mit 194 Injektionen, von denen die ersten 21 intramuskulär, die anderen 173 intravenös nach den üblichen Vorschriften gegeben wurden. Als Einzelgabe wurde bei den intramuskulären Injektionen einmal 0,2 bzw. 0,25, bei den weiteren Injektionen zwischen 0,5 und 0,9 g verabfolgt; bei den intravenösen Injektionen betrug die Einzelgabe fast durchweg 0,3, einige wenige Male 0,35 und 0,4 g. Wir sind von der intramuskulären Darreichung abgegangen, weil sie nach allgemeinen Anschauungen der intravenösen unterlegen, zudem mit starken und langanhaltenden Schmerzen verbunden ist und weil sie doch wiederholt zu unangenehmen Folgeerscheinungen geführt hat. Es sind mehrere Fälle von Peroneuslähmung nach Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Kultur. 1912. II. 3 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. 34 Salvarsan beschrieben worden, wir selbst haben zwei nicht von uns injizierte Fälle von schwerer Ischiadicuslähmung, einen anderen Fall mit viele Monate bestehender Abscessbildung beobachtet, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der intramuskulären Salvarsan- injektion aufgetreten waren. Die intravenösen Injektionen wurden durchweg gut vertragen. Bei fast allen Kranken traten, in der Regel wenige Stunden nach der Injektion, häufig nach voraufgegangenem Schüttelfrost, Tempe- ratursteigerungen auf, die zwischen 37° und 40,2° schwankten und ebenso rasch, wie sie gekommen, wieder abfielen. Nur ganz vereinzelt stellten sich die Temperaturerhöhungen erst am zweiten oder dritten Tage ein, und noch seltener sahen wir ein Fort- dauern der Temperaturerhöhung über mehrere Tage. Ein Unter- schied zwischen Paralytikern, Tabikern und Kranken mit cerebro- spinaler Lues zeigte sich in dieser Beziehung nicht. Es lässt sich nach unseren Erfahrungen niemals Vorhersagen, wie ein Kranker auf die Injektion reagiert. Ein und derselbe Kranke hatte nach der einen Injektion eine beträchtliche, das vorhergehende oder nachfolgende Mal keine oder nur eine geringe Temperatursteigerung, ohne dass sich ein Grund für dies wechselnde Verhalten anführen lässt. An dem Präparat kann es nicht liegen; denn wir haben oft eine 0,6 g enthaltende Ampulle auf 2 Kranke verteilt, jedem die Hälfte des gleichen Präparates injiziert und bei dem einen keine, bei dem anderen eine hohe Temperatursteigerung auftreten gesehen. Nur bei einem Kranken mit cerebrospinaler Lues kam es bei 4 Injektionen von je 0,3 g niemals zu einer Temperatur- erhöhung. Die subjektiven Störungen äusserten sich in Kopfschmerzen und Schwindel (besonders bei Kranken mit cerebrospinaler Lues), Leibschmerzen, Kältegefühl, Zuckungen in den Gliedern (bei einem Kranken mit Hirnlues nur in der gelähmten Seite) und reissenden, ziehenden und stechenden Schmerzen (besonders bei Tabikern), Schmerzen, die zum Teil bestimmten Nervengebieten entsprachen. Es kam häufig zu mitunter sehr lebhaftem Erbrechen (das bei einem Tabiker in der Art einer schweren Krise auftrat) und bis auf wenige Ausnahmen, in denen über Obstipation geklagt wurde, zu mehr oder weniger starken Diarrhöen. Bei Paralytikern wurden im Anschluss an die Injektion öfters ängstlich gefärbte unruhige und delirante Zustände beobachtet; 2 Tabiker bekamen Anfälle von Atemnot, eine hirnluetische Kranke erlitt einen Ohnmachts- anfall. Sämtliche, die subjektiven und objektiven, Störungen ver- schwanden zugleich mit oder schon vor dem Fieberabfall. Eine grössere Anzahl von Kranken zeigte einzelnen Injektionen gegen- über keine akuten Reaktionen. Bei einigen endlich trat gegen Ende der ersten, im Laufe der zweiten Woche ein acneähnliches (Arznei-?) Exanthem an Brust, Rücken und Armen auf. Ver- schlimmerungen von schon vorhandenen oder Neuauftreten von objektiven Nervenstörungen haben wir im Anschluss an Salvarsan- injektionen nicht gesehen. Ich komme nunmehr auf die therapeutischen Erfahrungen zu sprechen. Unsere Beobachtungen erstrecken sich auf 31 Para- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 35 lytiker, 16 Tabiker, 29 Kranke mit cerebrospinaler Lues und 11 Kranke, bei denen eine Komplikation mit sekundärer Lues vorlag oder bei denen die luetische Natur des Krankheitsbildes zunächst nicht sicher festgestellt, aber auch nicht ausgeschlossen werden konnte und bei denen daher eine spezifische Therapie an- gebracht schien. Paralyse. Es ist bei der Paralyse, wie ich schon kurz erwähnt, und namentlich im Anfang der Salvarsantherapie, von weitgehenden Besserlingen und sogar von Heilungen berichtet worden. Aber gerade hier ist der Optimismus, der zunächst zutage getreten war, schnell abgeflaut. Fälle von Heilung einer Paralyse bei Salvarsan- behandlung sind nicht bekannt. Bei fortgeschrittener Paralyse erwarten jetzt auch sonst recht optimistische Beurteiler keinen Erfolg; schwere paralytische Anfälle, serienweise Häufung von Anfällen und nachfolgender Exitus im Anschluss an vorher- gegaugene Injektionen sind mitgeteilt worden. Auch bei be- ginnenden Fällen von Paralyse hat die Salvarsantherapie nach einer Reihe von Veröffentlichungen den progredienten Verlauf nicht aufhalten können. Es liegt andererseits eine grössere Zahl von Mitteilungen vor, die als Beweis dafür angeführt werden, dass Remissionen bei Paralyse nach Salvarsan schneller und häufiger auftreten und länger anhalten als bei der nicht be- handelten Paralyse. Hierbei sollen in erster Linie die Frühfälle beteiligt sein. Diesen Mitteilungen gegenüber ist zweifellos eine skeptische Beurteilung am Platz, zumal sie zu einem beträcht- lichen Teil nicht aus der Feder von Fachpsychiatern stammen. Ich darf Sie wohl an die Ausführungen von Bonhoeffer er- innern, der auf die Schwierigkeit der Diagnosenstellung gerade bei diesen Frühfällen und auf die Häufigkeit von Spontan- remissionen bei der Paralyse hingewiesen hat. In der Tat sind die in der Literatur mitgeteilten Beobachtungen über günstige Beeinflussung der Paralyse durch Salvarsan, die sich jetzt übrigens nur auf Besserungen und vorübergehende Remissionen beschränken, in keiner Weise überzeugend. Von unseren 31 Paralytikern sind 7 innerhalb weniger Wochen bzw. Monate zum Exitus gekommen, darunter einer, der früher Remissionen gezeigt hatte. Bei einem dieser Kranken, der auch früher schon paralytische Anfälle gehabt hatte, setzte unmittelbar nach der Injektion ein sehr schwerer paralytischer Anfall ein; ein anderer Kranker, der bis dahin anfallfrei gewesen war, bekam wenige Tage nach der Injektion seine ersten schweren Anfälle. Besonders bemerkenswert ist nachstehender Fall, der nach der Injektion einen rasch progredienten Verlauf nahm. Es handelte sich um einen 42 jährigen Zahlmeister, der am 23. X. 1911 der Klinik zugeitihrt wurde. Im Frühjahr 1910 hatte er die ersten Krankheitszeichen : Schlaflosigkeit, Vergesslichkeit, Apathie gezeigt. Nach einer sechswöchigen Behandlung war sein Befinden so weit gebessert, dass er wieder 3 Monate seinen Dienst ausfüllen konnte. Dann kam es .zu einer Verschlimmerung, die Veranlassung gab, dass er, da im Garnison- lazarett die Diagnose Rückenmarksleiden gestellt war, zu einer Trink- 3* 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. und Badekur nach Aachen geschickt wurde. Er kam anscheinend völlig gesund am 21. XII. 1910 zurück und versah seinen Dienst bis zum Sep- tember 1911, wo er erst im Manöver auffällig wurde. Anfang Oktober wurde er stumpf, indolent und gehemmt. Bei der Aufnahme in die Klinik bot er ein charakteristisch-paralytisches Bild: Lichtstarre der differenten und verzogenen Pupillen, linksseitige Pacialisparese, Un- geschicklichkeit der Zungenbewegung, Mitbewegungen, allgemeine Ungeschicklichkeit, charakteristische artikulatorische Sprachstörung, Er- loschensein der Patellar-, Abschwächung der Achillessehnenreflexe, Wassermann im Blut und Liquor positiv, im Liquor Lymphocytose und Eiweissvermehrung nach Nissl und Nonne; es bestand Unsauber- keit und psychisch ein ängstlich gefärbter Hemmungszustand. In der der Injektion folgenden Nacht wurde Patient ängstlich erregt und delirant, am 5. Tag traten ohne Bewusstseinsverlust klonische Zuckungen in den linken Extremitäten und der linken Gesichtshälfte, in leichterem Grade auch im rechten Stirnfacialis und im rechten Bein, Deviation der Augen nach links, des Kopfes nach rechts auf, die etwa 30 Stunden anhielten und zu einer schlaffen Lähmung der linken Seite führten, die sich nicht zurückbildete. 10 Tage später kam der Patient zum Exitus. Die Ob- duktion ergab ausser einer diffusen chronischen Leptomeningitis der linken Hemisphäre und einer Ependymitis granularis eine ziemlich frische Thrombose im mittleren und vorderen Teil des Sinus longitudinalis superior (die histologische Untersuchung steht noch aus). Von den Testierenden 24 Fällen sind 16, darunter eine juvenile Paralyse, zum grösseren Teil recht schnell progredient, geistig und körperlich verfallen; einen langsam schleichenden Ver- lauf haben nur drei genommen, die auch zuvor durch ihre lang- same Progression bereits auffällig waren. Nur wenig fort- geschritten oder unverändert geblieben sind 5 Kranke; hier handelt es sich durchweg um Personen, die ungewöhnlich früh in unsere Behandlung gekommen waren, teils weil sie ihre frühere Lues mit dem neuen Heilmittel behandelt haben wollten, teils (3) weil sie das Herannahen einer Paralyse befürchteten (2 wegen corti- caler Anfälle). Bei den ersten beiden bestand eine leichte demente Euphorie, die 3 anderen zeigten keinerlei psychische Störungen, aber einen auf Paralyse verdächtigen körperlichen Be- fund; immerhin kann bei ihnen die Diagnose nur mit einer ge- wissen Reserve gestellt werden. Remissionen sind bei 3 Kranken zu verzeichnen. Die erste bei einem Manne, der ziemlich plötzlich mit paralytischen Anfällen erkrankt ist; sie bestellt erst seit wenigen Wochen und hat kurz nach den Anfällen eingesetzt. Die zweite bei einem Schutzmann, der Anfang Januar 1911, ohne dass zuvor irgendwelche Veränderungen bei ihm bemerkt wurden, im Abstand von acht Tagen zwei leichte paralytische Anfälle hatte, seitdem öfter über Kopfschmerzen und Schwindel klagte und gelegentlich vergesslicher war als früher, dann noch einige Wochen Dienst tat und Mitte Februar im Anschluss an einen neuen Anfall verwirrt und erregt wurde und seitdem ganz un- gewöhnlich rapide geistig und körperlich verfiel; die Remission setzte bei ihm 6 Monate nach der zweiten Salvarsaninjektion ein und besteht jetzt seit zwei Monaten; er bietet aber auch zurzeit noch das unverkennbare Bild der dementen paralytischen Euphorie. Die dritte Remission endlich trat bei einem Postsekretär auf, der I. Abteilung. Medizinische Sektion. 37 seit Jahren eine Charakterveränderung im Sinne der progressiven Paralyse gezeigt hatte, wiederholt mit Behörden und Polizei in Konflikt gekommen war, aber mehrere gute Remissionen durch- gemacht hatte, in denen er seinen Dienst wieder versehen konnte; bei ihm begann die letzte Remission etwa 14 Tage nach der ersten Salvarsaninjektion und besteht seitdem unter wiederholter Quecksilber-, Jod- und Salvarsanbehandlung fort, nunmehr schon etwa 5/4 Jahre, so dass es ihm sogar gelungen ist, von einem Nervenarzt ein Attest zu erlangen, dass er von seiner schweren Erkrankung geheilt und völlig dienstfähig sei. Im Vergleich zu der furibunden Erregung, in der er zu uns gebracht wurde und in der er sich dauernd bei uns befunden hat, ist seine Remission als gut zu bezeichnen; aber er ist dabei völlig einsichtslos, euphorisch und leicht dement und zeigt nach wie vor eine Reihe der bekannten körperlichen Störungen der Paralyse; gelegentlich einer Salvarsaninjektion, die er in der Remission vor 1/2 Jahre erhielt, wurde er ängstlich delirant und halluzinierte lebhaft, ohne hierfür, nach Abklingen dieses Zustandes, Einsicht zu zeigen. Ich möchte, ehe ich unsere Resultate bei der Paralyse zu- sammenfasse, Ihnen noch kurz über das Verhalten des Blutes und der Cerebrospinalflüssigkeit sowie über das Verhalten des Körper- gewichts berichten. Fast alle Kranken, auch die schnell pro- gredient verlaufenden, haben mehr oder weniger an Gewicht zu- genommen, die beiden letzten, in der Remission stehenden Kranken um 15 bzw, 20 kg. Wenn die serologische Untersuchung schon wenige Wochen nach der Salvarsaninjektion vorgenommen wurde (es ist dies nur in mehreren Fällen geschehen), fand sich ver- einzelt im Blut eine negative Reaktion nach Wassermann. Nirgends hatte diese negative Reaktion Bestand, alle zu späteren Nachuntersuchungen erschienenen Kranken (auch die in der Remission befindlichen) reagierten im Blut und Liquor positiv (einer der nicht ganz sicheren Paralytiker allerdings nur bei der Auswertung mit steigenden Mengen), der Zell- und Eiweissgehalt blieb im wesentlichen unbeeinflusst. Ueberblicken wir noch einmal unser Paralysematerial, das sich ziemlich gleichmässig aus beginnenden und schon weiter fort- geschrittenen Paralytikern zusammensetzt, so haben wir sieben in auffallend kurzer Zeit zum Ende gekommene Erkrankungen, darunter eine, bei der vier Tage nach der Injektion sich eine tödlich verlaufene Sinusthrombose entwickelte, 16 mehr oder weniger schnell und unaufhaltsam fortschreitende, 5 wenig fort- geschrittene oder gleich gebliebene Fälle und 3 mit leid- lichen Remissionen. Unter den 5 Kranken, die sich nicht oder kaum verändert haben, sind 3, bei denen die Diagnose nicht mit voller Sicherheit gestellt werden kann; sie befinden sich, wenn überhaupt eine Paralyse vorliegt, in dem frühesten Stadium der Erkrankung, in dem psychische Symptome noch ganz fehlen. Von den drei in der Remission stehenden Kranken hat der eine früher, vor der Behandlung, schon bessere Remissionen durch- gemacht, die beiden anderen sind im Anschluss an paralytische Anfälle akuter erkrankt: Krankheitsformen, die nach allgemeinen 38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Erfahrungen für Besserungen und Spontanremissionen die besten Aussichten bieten. Unsere Fälle zeigen im einzelnen in ihrem Verlauf nichts Abweichendes von dem, was wir auch ohne oder bei anderer Behandlung bei der progressiven Paralyse kennen. Andererseits ist zuzugeben, dass das Salvarsan günstige Um- wälzungen im Stoffwechsel hervorbringt, wie auch die bei Paralytikern häufig nach Salvarsanbehandlung einsetzende Ge- wichtszunahme beweist. Es liegt somit auch die Möglichkeit einer den Verlauf der Erkrankung günstig beeinflussenden Wirkungsweise vor, die natürlich nicht eine spezifische wäre, sondern eher den Momenten entsprechen würde, die, wie akute Infektionskrankheiten, den Verlauf der Paralyse günstig be- einflussen können. Das Gesamtbild aber erweckt den Anschein, als ob sie schneller und unter schwereren Erscheinungen letal ver- laufen als sonst, und wenn wir dem Salvarsan überhaupt einen Einfluss auf die Paralyse zuschreiben dürfen, so glaube ich, dass wir ihm eher den anscheinend ungünstigeren Verlauf zur Last legen müssen. Tabes. Weniger ungünstig sind die Erfahrungen bei der Tabes dor- salis. Bei ihr liegen die Verhältnisse anders als bei der Para- lyse. Einmal ist bekannt — ich kann Sie wohl auch hier auf die Ausführungen Bonhoeffer’s verweisen - — , „dass die Tabes in ihren Einzelsymptomen in manchen Fällen in hohem Maasse therapeutisch beeinflussbar ist“, und andererseits scheint es, dass echt luetische Begleiterscheinungen mit der Tabes häufiger einher- gehen und dass jedenfalls „die Beeinflussung von meningitischen Verdickungen, die Lösung von Wurzelumschlingungen bei der therapeutischen Beeinflussung der Tabes eine wesentliche Rolle spielt“. Schliesslich darf man nicht vergessen, dass Tabiker sehr häufig eine Reihe psychogener Einschläge zeigen, und es wäre falsch, das starke suggestive Moment, das in der Salvarsan- tberapie liegt, zu unterschätzen. Wenigstens muss man auch hieran denken, wenn man die zahlreichen Veröffentlichungen liest, die lehren, dass das subjektive Befinden der Tabiker häufig nach der Salvarsan injektion sich bessert, dass die subjektiven Be- schwerden zum mindesten für die nächstfolgende Zeit sehr oft nachlassen. Es ist ferner ein günstiger Einfluss auf neuralgische1) und lanzinierende2) Schmerzen, auf gastrische Krisen3) und Larynx- krisen4) beobachtet worden. Auch objektiv wahrnehmbare Besse- rungen sind berichtet. Es liegen Mitteilungen vor über Besserung von Sensibilitätsstörungen5), von ataktischen Störungen6) und von Blasenstörungen7). Ein Mal perforant hat sich im unmittelbaren 1) Hamei, Saalfeld, Sänger. 2) Friedländer, Marinesco, Michaelis u. a. 3) Fleckseder, Friedländer, Jadassohn, Oppenheim u. a. 4) Mattauschek. 5) Canestrini, Treupel, Mattauschek. 6) Mar schalk 6, Michaelis, H. Vogt u. a. 7) Kopp, Müller, Oppenheim, Plehn, Treupel, Zieler. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 39 Anschluss an die Injektion zurückgebildet1) und ist in wenigen Tagen zur Heilung gekommen2). Rückkehr der Patellarreflexe3), Wiedeikehr der normalen Pupillarreaktion bei zuvor reflektorischer Pupillenstarre4) ist beschrieben worden. Vereinzelte Autoren wollen eine Besserung der Sehschärfe bei bereits ausgebildeter Sehnervenatrophie5 6) gesehen haben. Einzelne Symptome, wie lanzinierende Schmerzen, gastrische Krisen u. a., haben, bevor sie zur Besserung oder zum Schwinden kamen, häufig zunächst für einige Zeit eine Verschlimmerung er- fahren. In einer beträchtlichen Zahl der Fälle hatten auch die Besserungen nur vorübergehend Bestand0). Dauernde Ver- schlimmerungen der Erkrankung nach Salvarsan sind gleichfalls mitgeteilt worden7). Ein grosser, anscheinend der überwiegende Teil der Fälle blieb unbeeinflusst8). Unsere Erfahrungen decken sich im wesentlichen mit den in der Literatur niedergelegten Beobachtungen. Fast alle unsere Kranken haben sich nach der Injektion subjektiv wohler gefühlt, die Parästhesien und die lanzinierenden Schmerzen haben für längere oder kürzere Zeit nachgelassen, bei einem Kranken schon an dem der Injektion folgenden Tage; sie sind aber bei allen Kranken nach einigen Tagen oder Wochen, längstens nach wenigen Monaten in der gleichen Art und Stärke wie früher wieder auf- getreten und waren dann nicht mehr wesentlich zu beeinflussen. Gastrische Krisen wurden bei drei Kranken gebessert, bei einem allerdings erst, nachdem die Salvarsantherapie mit einer Hg-Kur kombiniert wurde; in einem zweiten dieser Fälle, der eine längere Besserung zeigte, war der Salvarsaninjektion eine Hg- Behandlung vorausgegaugen ; die Besserung hielt bei keinem Kranken an. Bei zwei Kranken verloren sich die auch zuvor nur leicht ange- deuteten Blasenstörungen. Bei zwei anderen bildeten sich akut entstandene Augenmuskellähmungen langsam zurück, bei dem einen allerdings erst 3 Wochen nach der 3. Injektion. Einmal verschwand eine leichte SeDsibilitätsstörung an den Beinen. Sonst konnten objektive Veränderungen im körperlichen Befund nicht festgestellt werden, obwohl die Kranken fast durchweg Gewichts- zunahmen von 1 bis 5 kg zu verzeichnen hatten. Bei zwei Kranken haben die Störungen zugenommen. Der serologische Befund hat sich dauernd nirgends geändert; nur in einem Fall wurde eine beträchtliche Abnahme der Zellvermehrung und eine Rückkehr des Eiweissgehalts zur normalen Menge festgestellt; bei 1) Marinesco. 2) Oppenheim. 3) Citrou, Michaelis, Nonne. 4) Hirsch, Marinesco, Marschalkö, Nonne, Oppenheim, P eri tz. 5) Deutschmann, Hirsch. 6) Treupel u. a. 7) Emanuel, Kren, Michaelis, Pal, Pick u. a. 8) Nonne, Oppenheim, Peritz, Rummel, Torday, Wein- traud u. a. Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. 40 einem anderen Kranken wurde trotz der anscheinend eingetretenen Besserung eine Zunahme des Eiweissgehalts gefunden. Wenn man bedenkt, dass es sich in der Mehrzahl unserer Fälle nicht um weiterfortgeschrittene, sondern um erst im Beginn stehende oder auch akut aufgetretene frische Erkrankungen han- delt, so müssen die therapeutischen Resultate als im ganzen wenig befriedigend bezeichnet werden. Es kann zwar eine gewisse günstige Beeinflussung des Salvarsans auf die Tabes zugegeben werden. Nirgends aber ist eine dauernde oder längere Besserung erzielt worden. Die vorübergehenden Besserungen, die wir ge- sehen haben, gehen nicht über das hinaus, was man auch sonst bei dem wechselvollen und schwankenden Verlauf der Tabes mit anderen medikamentösen, mit diätetischen und hydrotherapeutischen Maassnahmen, aber gelegentlich auch ohne diese beobachtet hat. Lues des Centrain er vensystems. Gegenüber den schlechten Erfahrungen bei der Paralyse, den wenig befriedigenden bei der Tabes hat die Salvarsantherapie bei der Lues des Centralnervensystems eine Reihe sicherer und guter Erfolge zu verzeichnen. Bei allen syphilitischen Prozessen des Gehirns1) (den arteriitischen, meningitischen und gummösen) sind schnell einsetzende und weitgehende Besserungen beschrieben worden. Auch bei der spinalen Lues2), insonderheit den rnenin- gitischen und meningo-myelitischen Prozessen, lauten die Erfah- rungen günstig, während bei den rein myelitischen Prozessen3) Besserungen anscheinend nicht erzielt worden sind. Die Erfolge erstrecken sich einmal auf das subjektive Befinden. Die Patienten fühlen sich frischer, die Stimmung hebt sich4 5). Kopfschmerzen3) werden nach übereinstimmenden Mitteilungen in erster Linie günstig beeinflusst; es wird berichtet, dass schon nach 24 Stunden, meist innerhalb weniger Tage, selbst die unerträglichsten, schon jahrelang bestehenden, mit Erbrechen einhergehenden und jeder anderen Behandlung trotzenden Kopfschmerzen abklingen und verschwinden. Ein gleich guter Erfolg ist bei Nackensclimerzen6) und Schwindel6) beobachtet worden. Es kommen aber auch Besserungen fast aller objektiv wahrnehmbaren Krankheits- erscheinungen vor. Besonders häufig sind Rückbildungen von Stauungspapille7) und Neuritis optica7) gesehen worden. Wieder- kehr der zuvor erloschenen Pupillarreaktion8) ist beschrieben, Besserung des Sehvermögens bei schon bestehender Opticus- 1) Frankel, Gennerich, Hamei, Marinesco, Mattauschek, Michaelis, Nonne, Oppenheim, Pal, Peritz, Sicard, Stern, Wich manu u. a. 2) Nonne, Oppenheim, Salmon, Stern u. a. 3) Leder mann, Plehn, v. Torday. 4) F riedländer. 5) Blumenfeld, Elschnig, Friedländer, Jadassohn, Plehn. 6) Plehn. 7) Flemming, Fränkel, Friedländer, Heine, Hirsch, Michaelis, Oppenheim, Treupel, Wechsel mann u. a. 8) Plehn, Weber. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 41 atrophie1) vereinzelt festgestellt worden. Lähmungen der Augen- muskeln2) und des Gesichtsnerven3), Labyrintherkrankungen4) und Erkrankungen des Acusticus5) sind gebessert oder geheilt worden. Paraphasische Störungen6), Hemiplegien7), Blasen- und Mastdarmstörungen8) haben sich nach Salvarsaninjektionen zurückgebildet. Epilepsien auf luetischer Basis9) wurden günstig beeinflusst. Die grosse Reihe der Erfolge ist freilich nicht unbe- stritten. Wenn zwar auch nur ganz vereinzelt Verschlimme- rungen10) beschrieben sind, so ist doch eine grössere Zahl von Erkrankungen an Hirn-11) und Rückenmarkslues12) unbeeinflusst geblieben. Als Erklärung führen einzelne Autoren an, dass Sab varsan vor allem die frischen Erkrankungen günstig beeinflusse13), dass es bei alten Fällen wirkungslos sei14). Demgegenüber be- haupten andere wieder, dass auch bei den frischen Erkrankungen die Wirkung nicht nachhaltig sei, dass einzelne Symptome zwar schnell schwinden, aber nach kürzerer oder längerer Zeit wieder- kehren und dann nicht mehr zu beeinflussen seien15). Schliess- lich haben einige bessere Erfolge bei der Kombination von Sal- varsan mit Quecksilber16) gesehen. Von unseren 29 Kranken sind C subjektiv und objektiv un- beeinflusst geblieben: einmal eine schwere cerebrospinale Lues, die sich auch gegenüber anderen spezifischen Behandlungsmethoden refraktär verhalten hatte, ferner 2 Kranke mit apoplektisch ent- standener rechtsseitiger Hemiplegie, die bei dem einen mit starken Kopfschmerzen und Parästhesien, bei dem anderen mit einer schweren motorischen Aphasie vergesellschaftet war, des weiteren eine spinale Lues, in deren Krankheitsbild sehr schmerzhafte Parästhesien dominierten, und endlich 2 bereits zum Exitus ge- kommene Kranken, eine Frau mit diffusen gummösen Erweichungen und ein Mann, über den Ihnen vor einem Jahre Schröder hier berichtet hat, der gegen Quecksilber sich gleichfalls refraktär gezeigt hatte und bei dem die Obduktion eine eigenartige 1) El sehnig, Erükauf. 2) Levi und Barre, Stern, Weber. 3) Marinesco, M. Oppenheim. 4) Flemming, Friedländer, Plekn. 5) Engelmann. 6) Finger, Plehn. 7) Finger, Marinesco, Michaelis, Mucha, Nonne, Plehn, Salmon, Treupel. 8) Friedländer, Plehn. 9) Alt. 10) L. Bernard, Rille, Schlesinger. 11) Flemming, Heine, Ledermann, Mattauschek, Milian, Oppenheim, Pal, Plehn, Thost, Treupel u. a. 12) Nonne, Oppenheim. 13) Sirard und Bloch, Treupel. 14) Sirard und Bloch. 15) Emanuel, Müller; Mattauschek (in einzelnen Fällen). 16) L. Bernard, v. Torday u. a. 42 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. degenerative Erkrankung des Rückenmarks ergab, deren Zu- sammenhang mit einer luetischen Infektion zwar wahrscheinlich, aber nicht sicher bewiesen ist. Unter den restierenden 23 Kranken sind 16, die über oft sehr heftige, vereinzelt mit Erbrechen einhei gehende Kopf- schmerzen geklagt hatten. Alle haben diese Schmerzen nach einer oder mehreren Injektionen verloren, nur in 3 Fällen sind sie nach einiger Zeit in gleicher Stärke wiedergekommen. Zu- gleich mit dem Schwinden der Kopfschmerzen hob sich die Stimmung, und es konnte überhaupt eine Besserung des Allgemein- befindens festgestellt werden. Es wurden ferner selbst schon lange bestehende, sehr schmerzhafte Parästhesien, neuralgische Beschwerden und Schwindel günstig beeinflusst. Einmal verlor sich eine Neigung zu Verstimmungen und zu zornmütigen Er- regungen. Bemerkenswert ist, dass in 4 dieser Fälle frühere wiederholt und energisch durchgeführte Quecksiiberkuren die Be- schwerden zwar gelindert, aber keine an die spätere Salvarsan- wirkung heranreichende Besserung gebracht hatten. ln 10 unserer 23 subjektiv gebesserten Fälle konnten ob- jektiv nachweisbare Besserungen nicht festgestellt werden. Auch von den anderen 13 Kranken kann bis jetzt nur einer von seiner Hirnlues als geheilt bezeichnet werden. Hier handelt es sich um einen Tabiker, der im Juli und November 1910 an epileptischen Anfällen erkrankte und wenige Wochen später in unsere Be- handlung kam. Er ist seitdem von Anfällen frei geblieben; eine zunächst deutliche Sprachstörung ist geschwunden, eine leichte Blasenstörung hat sich verloren, früher vorhandene Pyramiden- bahnstörungen sind nicht mehr nachzuweisen, eine sehr hoch- gradige Vermehrung des Eiweiss- und Zellgehalts in der Cerebro- spinalflüssigkeit ist zur Norm zurückgegangen, während die tabischen Ausfallserscheinungen unverändert bestehen. In den übrigen 12 Fällen sind nur mehr oder weniger weitgehende Besserungen einzelner Symptome oder einer Reihe von Symptomen erzielt worden, während Reiz- und Ausfallserscheinungen weiter bestehen. In einem Fall verschwand eine druckempfindliche Scliädelauftreibung innerhalb weniger Tage; Stauungspapille, leichte Sprachersch werung und ataktische Störungen bildeten sich zurück; aber es blieben Störungen der Gehirnnerven und der Pyramidenbalm bestehen, das Auftreten von corticalen Anfällen konnte nicht beeinflusst werden. In 2 weiteren Fällen kam es zur Rückbildung einer Stauungspapille und zur Besserung von Störungen seitens der Hirnnerven. Bereits einen Tag nach der Injektion begann eine plötzlich aufgetretene und während 4 Wochen unveränderte Oculomotoriuslähmung zurückzugehen und eine statische Ataxie sich zu bessern, während sonst der Krankheits- prozess fortschritt. Einmal wurde Besserung einer leichten Sprachstörung und Rückkehr der herabgesetzten Sehnenreflex- erregbarkeit zur Norm beobachtet. Reste einer rechtsseitigen Hemiplegie, die durch Quecksilber bereits günstig beeinflusst, dann aber stationär geblieben waren, wurden bei 2 Kranken durch Salvarsan weiter gebessert; umgekehrt konnte bei einem I. Abteilung. Medizinische Sektion. 45 anderen Kranken, dessen rechtsseitige Hemiplegie mit einer artikulatorischen Sprachstörung einherging und der durch wieder- holte Salvarsaninjektionen bereits eine Besserung erfahren hatte, ein weiterer erheblicher Fortschritt erst durch die Kombination von Salvarsan und Quecksilber erzielt werden. Druckempfind- liche Schädelauftreibungen verloren sich noch in 2 weiteren Fällen in raschem Anschluss an die Injektion. Eine weitgehende Besserung endlich in einem Fall von Hirnlues ist nicht einwand- frei zu verwerten, da er durch ein schweres Schädeltrauma, das zur Blutung in den Cerebrospinalkanal geführt hatte, kompliziert war, um so weniger als die Patientin, die zudem an Nierenleiden und Gebärmutterkrebs litt, aus unbekannter Ursache, mitten in der Remission, etwa eine Woche nach erneuter Lumbalpunktion innerhalb weniger Tage unter Kopfschmerzen und Erbrechen ziemlich plötzlich zum Exitus gekommen ist. Fast alle Kranken nahmen, zum Teil recht erheblich, an Gewicht zu. Das Blut wurde in keinem Falle Wassermann negativ, der Liquor reagierte gleichfalls, zum mindesten nach der Aus- wertungsmethode mit steigender Menge, positiv. In einigen Fällen ging der Zell- und Eiweissgebalt der Cerebrospinalflüssigkeit zurück, in anderen nahm er trotz der Behandlung und trotz an- scheinend eingetretener Besserung zu. Es sind also von unseren 29 Fällen 6 unbeeinflusst, 23 subjektiv, und von diesen 12 auch objektiv mehr oder weniger weit gebessert, und einer geheilt; ein Resultat, ähnlich dem, das auch bei der alten spezifischen Be- handlungsmethode erreicht werden kann. Es sind nur wenige Fälle darunter, die sich Quecksilberkuren gegenüber refraktär verhalten hatten; andererseits wurde bei einigen erst durch die Kombination von Salvarsan und Quecksilber die beabsichtigte Wirkung erreicht. Die Vorteile der Sal v arsan be h an d 1 un g gegenüber dem Quecksilber bei den luetischen Er- krankungen des Centralnervensystems liegen vor allem in der schnellen Wirkungsweise, die uns besonders c-rwiinscht ist bei lebensbedrohenden oder das Augenlicht gefährdenden Pro- zessen und in anderen Fällen, in denen aus therapeutischen Erwägungen sonst nur ein operativer Eingriff in Betracht käme, sodann in der angenehmeren Applikationsmethode, in der günstigen Beeinflussung des Allgemeinbefindens und in dem Fehlen der eine Quecksilberkur fast stets begleitenden unangenehmen Neben- erscheinungen. Varia. Auch bei nichtsyphilitischen Erkrankungen ist von einzelnen Autoren ein günstiger Einfluss der Salvarsanbehandlung auf Schlaf, Appetit, Ernährung und das Allgemeinbefinden berichtet worden1). Wir können diese Beobachtung nach unseren Erfahrungen an organischen Erkrankungen nicht bestätigen. 3 multiple Sklerosen, 1 Paralysis agitans, 1 basaler Hirntumor blieben unbeeinflusst bzw. verschlimmerten sich. Eine spinale Muskelatrophie, ein Stirnhirn- 1) Grouven u. a. 44 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. turaor verliefen unaufhaltsam progredient zum Exitus. Auch bei 3 sicher luetisch Infizierten, die sämtlich im Blut positiven Wassermann, von denen 2 im Liquor eine massige Zell Vermehrung hatten, einem Paralysophoben, einem sensorisch Aphasischen mit Herzfehler und Nephritis und einem paranoid Dementen, konnte keine Aenderung nach wiederholten Salvarsaninjektionen fest- gestellt werden. Noch einen Punkt möchte ich kurz berühren. Es ist eine relativ grosse Zahl von Fällen bekannt, in denen bei frisch in- fizierten, mit Salvarsan behandelten Luetikern sich wenige Monate später schwere Erscheinungen von seiten des Centralnervensystems einstellten1). Wir haben eine Kranke beobachtet, die 9 Monate nach der Infektion, welche mit Quecksilber und wiederholt mit Salvarsan behandelt worden war, an Stauungspapille, Hirnnerven- und Pyramidenbahnstörungen erkrankte, deren Blut und Liquor positiv reagierte und die eine enorme Zell- und eine sehr hoch- gradige Eiweissvermehrung aufwies; sie wurde durch eine weitere Salvarsanbehandlung zunächst nicht beeinflusst; leider ist sie zu einer Nachuntersuchung nicht mehr erschienen. Zufällig kam gerade in diesen Tagen ein anderer Kranker in unsere Poliklinik, der vor einem Vierteljahre sich infiziert hatte, 2 mal mit Salvarsan behandelt worden war und seit 14 Tagen über Schwerhörigkeit, seit 4 Tagen über Lähmung der linken Gesichtshälfte klagte; es fand sich bei ihm neben einer rechtsseitigen Schwerhörigkeit Taubheit links, Lähmung des linken Gesichtsnerven in allen 3 Aesten, Abducensparese links sowie eine leichte linksseitige Geruchs- und Geschmacksstörung. Ob dies frühe Auftreten von Erscheinungen des Centralnervensystems durch Salvarsan oder, wie auch angenommen wird, durch die Summation von Salvarsan und Lues bedingt wird oder ?5b es sich lediglich um frühluetische Fälle handelt, möchte ich nicht entscheiden. Ich komme zum Schlüsse: Die Paralyse ist durch Salvarsan nicht, die Tabes kaum zu beeinflussen. Die Erfolge bei der Lues des Centralnervensystems sind im ganzen günstig; sie entsprechen dem, was auch mit der alten spezifischen Behandlungsmethode erreicht werden kann, bieten aber dieser gegenüber manche Vorteile. Sowohl bei der Tabes wie bei der Lues des Central- nervensystems haben wir einige Fälle zu verzeichnen, bei denen die Kombination von Salvarsan und Quecksilber weitere Erfolge gezeitigt hat als Salvarsan oder Quecksilber allein, Beobachtungen, die, wie schon erwähnt, auch von anderer Seite gemacht sind. Das soll uns ein Hinweis sein, in Zukunft die beiden Methoden zu kombinieren. Vielleicht gelingt es uns so, günstigere Resultate au erzielen. 1) Finger, Fr ie dl an der, Kowalewski, Oppenheim, M. Oppen- heim, Riehl, Rille, Sprinzel u. a. IV. Vitalfärbung und Chemotherapie. Von Werner Sclinlemann. Bei dem heutigen Bestreben, die Therapie der verschieden- sten Erkrankungen durch Verwendung chemischer Substanzen in Angriff zu nehmen, erscheint es von Interesse, einige über die Grundlagen der Chemotherapie gewonnene Anschauungen mitzu- teilen. Da wir uns jetzt im Besitze pharmakologisch wirksamer Farben befinden, gelingt es leichter als früher, objektive Befunde über Verteilung und Wirkung von Arzneimitteln zu erhalten. Als besonders geeignet erwiesen sich Farben aus der Klasse der sub- stantiven Baumwollfarbstoffe und Triphenylmethanfarben. Thera- peutisch wurden dieselben zur Bekämpfung der Trypanosomiasis benutzt. Durch die Arbeiten Goldmann’s (1) erfuhren wir, dass diese Farben auch eine spezifische Verteilung im Tierkörper zeigen. Es erschien deshalb aussichtsreich, von ihnen ausgehend die Beziehungen zwischen chemischer Konstitution, Verteilung und pharmakologischer Wirkung zu ermitteln. Meine Untersuchungen gingen vom Trypanblau aus. Nach den heute herrschenden Anschauungen nahm ich an, dass e& sich um chemische Reaktionen zwischen Farbe und Protoplasma- bestandteilen handeln müsse. Ich variierte deshalb das Molekül des Trypanblaus: H2N0H ohnh2 /V\n = ^>N = nCX,/N| NaOasl Js08Na i_ % I Na03S l X Js03Na ' ch3 ch3 x Um die wirksamen chemischen Gruppen dieser Substanz zu ermitteln, schaltete ich eine der „Seitenketten“ nach der anderen aus, um so einen Beweis per exclusionem zu führen. Besonders wirksam konnten im Molekül folgende „Seitenketten“ sein: 1. die beiden Hydroxylgruppen ( — OH), 2. die beiden Amidogruppen ( — NH2), 3. die beiden Methylgruppen ( — CH3), 4. die vier 46 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Sulfosäuregr uppen ( — S03Na), 5. die beiden Azobindungen { — N — - N — ), G. Stellungsisomerien, 7. Molekulargrösse und 8. Kombinationen dieser sieben Bedingungen untereinander. Durch Verwendung von Benzopurpurinen, die keine Hydroxyl- gruppen enthalten, von Dianilfarben, die keine Amidogruppeu enthalten, eines Diaminblaus, das keine Methylgruppen enthält, kam ich zuerst zu der Anschauung, dass alle diese Seitenketten relativ belanglos seien. Erhöhung der Zahl der Sulfosäuregruppen auf fünf im Molekül oder Verminderung ihrer Zahl auf zwei schien in den meisten Fällen gleichfalls ohne wesentlichen Ein- fluss. Ihre vollständige Ausschaltung ist unmöglich, da unsere Farben hierdurch wasserunlöslich werden und damit für unsere Zwecke nicht mehr anwendbar sind. Aenderungen der Molekular- grösse sind hierbei schon genugsam vorgekommen. Durch Ver- wendung von Derivaten der P- P1- Diamidodiphenylharnstofl- m- mi-disulfosäure und des Triphenylmethans Hess sich das Molekül bedeutend vergrössern oder verkleinern, ohne seinen vitalfärbenden Eigenschaften Abbruch zu tun. Als einzig labile Gruppe kam nun nur noch die Azobindung in Frage. Dem aber schien die Wirkung des Isaminblaus zu widersprechen, da der Farbstoff, trotzdem er vitalfärbend ist. keine Azobindung enthält. All- gemeine Gesetze waren also hieraus nicht abzuleiten. Als einziges Ergebnis ist daraus nur zu ersehen, dass die Aufstellung eines ortho-Amido-Pbenoloceptors in rein chemischem Sinne nicht mög- lich ist. Der Vergleich des obengenannten Chemoceptors mit dem peri-Amido-Naphtoloceptor des Trypanblaus ist durchaus gerechtfertigt, da diese beiden Gruppierungen in ihrem chemischen Verhalten Analoga darstellen. Positive Ergebnisse waren erst zu erhalten, als ich den rein chemischen Standpunkt verliess und die „Reaktionen“ von chemisch-physikalischen Gesichtspunkten aus betrachtete. Es würde weit über den Rahmen eines Berichtes in einer Wochenschrift hinausgehen, wenn ich hier eine genaue Begründung meiner Versuchsergebnisse, die ich durch Verwendung von über 200 Farbstoffen erhielt, geben wollte. Ich kann daher hier nur kurz über die gewonnenen Anschauungen berichten und ver- weise im übrigen auf eine in Kürze erscheinende umfangreichere Publikationen an anderer Stelle. Wie ich schon in einer früheren Arbeit (2) auseinandersetzte, ist die Anwendbarkeit der Diaminfarben primär bedingt durch die Sulfosäuregruppen. Es hat sich gezeigt, dass die Löslichkeits- erhöhung nicht nur proportional der Sulfosäuregruppen ist, sondern auch abhängt von Stellungsisomerien und Molekular- grösse. Die genaueren Bedingungen werde ich später veröffent- lichen. Nachdem so die Bedingungen der Anwendbarkeit festgestellt worden waren — auch in Beziehung zur Löslichkeit in Serum, Lymphe usw. — , handelte es sich darum, die Gesetze der Ver- teilung zu er mittein. Auf dem Wege in das Zellinnere hat die Farblösung die Zellmembran zu passieren. Da die Farben nicht I. Abteilung. Medizinische Sektion. 47 lipoidlöslich sind, so würden sie — wollte man die Membran als eine homogene, fettartige Hülle betrachten — nicht in das Zell- innere eindringen können. Nach den physiologischen Arbeiten der letzten Jahre muss man sich aber diese Membran als eine feinste Fettemulsion denken, bei der das Fett vielleicht durch ein Ferment in Suspension gehalten wird. Versuche über Be- ziehungen zwischen chemischer Konstitution, Diffusibilität und Resorption ergaben, dass es sich hier um einen besonderen Kolloidalzustand der Farblösungen handeln müsse, damit dieselben resorbiert und in das Innere der Zellen aufgenommen werden können. Untersuchungen über Abhängigkeit des Charakters der kolloidalen Lösungen von der chemischen Konstitution wiesen bereits auf die grosse Wichtigkeit der Chromophoren Azogruppe hin. Für den kolloidalen Zustand der in Lösung befindlichen Farben zeigte sich die Anwesenheit und Stellung der Amido- und Hydroxylgruppen weit wesentlicher als Stellung und Zahl der Sulfosäuregruppen. Dies steht interessanterweise in genau umgekehrtem Verhältnis zu den über die Anwendbarkeit der Farben gefundenen Gesetzen. Entsprechend Ehrl ich ’s An- schauungen über die Ablagerung von Arzneistoffen in der tierischen Zelle konnte ich den direkten Nachweis chemischer Reaktionen zwischen Farbe und Protoplasma durch kombinierte Anwendung roter und blauer Farben führen. Während bei der Färbung der elastischen Fasern im lebenden Tier die Gesetze der Adsorption in Betracht kommen, werden die Farben im Innern der Zelle getrennt abgelagert. Nach Injektionen von Vital- neurot1) erhält man eine rosa Färbung der elastischen Fasern und rote Granula im Protoplasma der nach Goldmann vital färbbaren Zellen. Lässt man nach 24 Stunden eine Einspritzung von Trypanblau folgen, so erscheinen nun die elastischen Fasern violett, während im Protoplasma blaue und rote Granula neben- einander (in der gleichen Zelle) sichtbar werden. Diese Ablage- rungen kamen nun aber auch mit recht heterogenen Farbstoffen zustande. Aus diesen und anderen Gründen war der Schluss zu ziehen, dass es sich auch hier nicht um einfache chemische Reaktionen handeln konnte. Alles deutete auf einen besonderen Reaktionsmodus der Chromophoren Gruppen hin, deren Reaktions- fähigkeit durch die Nebengruppierungen in einer teils günstigen, teils ungünstigen Weise beeinflusst wird. Vermutungen über die Art der Reaktionen Hessen sich erst aufstellen, als die Theorien von Werner-Zürich (3) über die raumisomeren, komplexen Kobaltsalze zur Erklärung der Ablagerungsvorgänge herangezogen wurden. In diesen Kobaltsalzen stellt das Kobalt die Chromo- phore Gruppe dar. Auch bei diesen ist die Farbe der Verbin- dungen abhängig von Art, Zahl und Stellung der im Komplex- radikal vorhandenen Substituenten. Es ergaben sich für den Farbcbarakter der Kobaltsalze wie der Diaminfarben mit der Chromophoren Azogruppe annähernd die gleichen Abhängigkeiten von den Substituenten. Es ist daher anzunehmen, dass die ge- ll Zu beziehen von Dr. Grübler & Co., Leipzig. 48 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. wohnlichen Farbstofformeln noch nicht vollständig sind. Die bisherigen Formeln stellen uns den Bau der Farbe nur nach der Valenztheorie dar, zeigen uns aber nur wenig von dem zweifellos vorhandenen Einfluss der Substituenten auf das Chromophor, wo- durch sowohl der Farbcbarakter, sowie ein Teil der physiko- chemischen Eigenschaften der Verbindungen bestimmt sind. Die Konstitution der Farben wäre demnach sowohl als eine Ionen- verbindung aufzufassen, wie auch als ein komplexes Salz. Unter einem bestimmten Optimum der Zahl, Art und Stellung der Sub- stituenten scheint die Chromophore Gruppe — als Mittelpunkt eines Komplexradikals — befähigt zu sein, Additionsverbindungen mit einer bestimmten Eiweissart oder sonst irgendwelchen Protoplasma- bestandteilen bilden zu können. Die Ablagerung in der Zelle wäre demnach als eine Flockungserscheinung zwischen Kolloiden unter Bildung eines komplexen Salzes — Farblactres — aufzu- fassen. Diese scheinbar recht komplizierten Theorien stehen durch- aus im Einklang mit den von Ehrlich geäusserten Anschauungen, nur müssen wir den Ortho-Amido-Phenoloceptor als in physiko- chemischem Sinne wirkend auffassen. Obwohl ich davor warnen möchte, diese Ergebnisse zu verallgemeinern, so will ich doch sagen, dass sich wohl aus dem Vorhergehenden die Gesetze für Anwendbarkeit, Verteilung und Ablagerung des Salvarsans er- geben, da diese Substanz mit den Diaminfarben sehr nahe ver- wandt ist. Salvarsan ist schon an sich löslich, also anwendbar. Es würde wahrscheinlich durch Einführung von Sulfosäuregruppen zu leicht löslich werden und deshalb als „Zellspringer“, ohne sich im Körper abzulagern, diesen durcheilen. Wie aus längeren Versuchsreihen hervorging, stellte der Ortho-Amido-Phenoloceptor in seinem Einfluss auf die Arsenobindung das Optimum für Ver- teilung und Ablagerung des Stoffes dar. Ebenso wie das Trypan- blau für das Trypanosom giftig ist, im Tierkörper aber relativ unschädlich, werden wir vom Salvarsan annehmen müssen, dass es in den Spirochäten seine Giftwirkung entfaltet, während es in den Zellen des Wirtstieres ohne Wirkung bleibt. Diese Betrach- tung steht auch durchaus im Einklang mit den v. Wassermann- schen Versuchen mit Eosin-Selen zur Chemotherapie bei Mäuse- tumoren. Die Begriffe Parasitotropie und Organotropie wären demnach so aufzufassen, dass ein chemo-therapeutischer Stoff als rein parasitotrop dann zu betrachten ist, wenn er seine toxische Wirkung nur in dem zu schädigenden Parasiten entfaltet, wäh- rend er, trotzdem er aucli im Tierkörper abgelagert ist, in diesem relativ unschädlich bleibt. Das auf diesem Wege gewonnene Urteil über das Salvarsan besagt demnach auch in Ueberein- stimmung mit Ehrlich’s oft geäusserter Ansicht, dass das Dioxy- diamidoarsenobenzoldichlorhydrat ein kaum noch verbesserungs- fähiges Optimum darstellt. Ich hoffe, gezeigt zu haben, dass sich uns hier ein erfolg- versprechendes Arbeitsgebiet auftut, wodurch es vielleicht gelingt,, auch praktische Gesichtspunkte für die Darstellung chemo-thera- peutischer Mittel zu gewinnen. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 49 Es sei mir gestattet, Herrn Geheimrat Küttner auch an dieser Stelle meines ergebensten Dankes zu versichern für das stete Interesse und die Förderung, die er dieser Arbeit im reichsten Maasse angedeihen liess. Literatur. 1. Goldmann, Bruns’ Beitr. z. klin. Chirurgie, 1909, Bd. 64, H. 1, ebenda 1911, ebenda 1912; Yerhandl. d. deutschen pathol. Gesellsch., 14. Tagung, Erlangen 1910; Centralbl. f. Chirurgie, 1912, 39. Jahrg., Nr. 1. — 2. Schulemann, Archiv f. mikroskop. Anatomie, 1912, Bd. 79; Verhandl. d. schlesischen Gesellsch. f. vaterl. Kultur (medizin. Sektion), 1912. — 3. A. Werner, Liebig’s Annalen d. Chemie, 1911, Bd. 386, H. 1 u. 2. Bei Goldmann und Schulemann siehe weitere Literatur. Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Kultur. 1912. II. 4 V. Ueber die Beziehung zwischen Druck und Geschwindigkeit des Blutes im Arteriensystem. Von Karl Hürtlile. M. H.! Die Frage nach der Beziehung zwischen Druck und Geschwindigkeit des Blutes im Arteriensystem ist ein Beispiel für die besonderen Schwierigkeiten, auf welche die Bearbeitung mechanischer Probleme im Tierkörper stösst, im Vergleich zu den entsprechenden Fragen in der unbelebten Natur. Schon von Poiseuille hätte man eine Lösung dieser Frage erwarten können; hat er doch den Einfluss der verschiedenen Faktoren auf die Strömung durch Glasröhren in so vollkommener Weise untersucht, dass das von ihm aufgestellte Gesetz noch heute seinen Namen trägt. Zwar hat Poiseuille am lebenden Tier Versuche an- gestellt, aus welchen er schloss, dass sein Gesetz auch für den Blutstrom gelte; aber diese Versuche sind nicht so einwandfrei wie seine physikalischen und haben einer strengen Kritik nicht standhalten können. Auch die nach Poiseuille angestellten Untersuchungen haben bis heute zu keiner Lösung der auf- geworfenen Frage geführt. Um die hier auftretenden Schwierig- keiten zu verstehen, wollen wir zunächst kurz die Erscheinungen in der toten Natur betrachten: Wie Poiseuille gezeigt hat, wird die Strömung durch Röhren von vier Faktoren beeinflusst, vom Druck p, den Dimensionen (Radius r und Länge 1) der Röhre und von der Zähigkeit der Flüssigkeit und zwar in der Weise, dass bei geraden, cylindrischen Röhren, deren Durchmesser im Vergleich zur Länge klein ist, die in der Zeiteinheit durch- fliessende Menge V dem Druck und der vierten Potenz des Röhren- radius direkt, der Röhrenlänge und der Zähigkeit der Flüssigkeit aber umgekehrt proportional ist V_P_rl JL J) 1,1 8 Dieses Gesetz wird in der Weise nachgewiesen, dass man bei Strömungsversuchen von den vier genannten Faktoren jeweils drei konstant hält, während man den vierten in seiner Grösse variiert. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 51 Es zeigt sich dann, dass, wenn man in einer Versuchsreihe z. B. nur die Drucke ändert und alle anderen Faktoren konstant hält, die Ausflussmengen sich wie die angewandten Drucke verhalten, also V : Vx = p : px. Will man diese Methode auf den Blutstrom des tierischen Körpers übertragen, so ist zunächst zu bedenken, dass das Poiseuille’sche Gesetz nur für einzelne Röhren als gültigerwiesen ist, nicht aber für ein kompliziertes aus Röhren von verschiedenem Querschnitt zusammengesetztes System. Darin liegt aber keine grundsätzliche Schwierigkeit, wenn wir nur das System (also die Faktoren r und 1) als gegeben annehmen und uns darauf be- schränken, zu untersuchen, wie sich in diesem System die Ab- hängigkeit der Strömung von den beiden übrigen Faktoren (Druck und Zähigkeit der Flüssigkeit) gestaltet, eine Aufgabe, welche in der Weise in Angriff zu nehmen ist, dass man in einer Versuchs- reihe den einen dieser Faktoren variiert, während die anderen konstant gehalten werden. Wollen wir beispielsweise die Ab- hängigkeit der Strömung vom Druck feststellen, so müssen wir diesen in einer Versuchsreihe, wenigstens innerhalb der physio- logischen Grenzen (sagen wir zwischen 50 und 200 cm Wasser) variieren, während die Viscosität der Flüssigkeit, Länge und Querschnitte der die untersuchte Bahn bildenden Gefässe konstant bleiben müssen. Nun kann man zwar, ohne einen wesentlichen Fehler zu machen, die Viscosität des Blutes und die Länge des Röhrensystems als unveränderlich betrachten, allein die Quer- schnitte der Blutgefässe in einem Tierversuch, der eine Variierung des arteriellen Druckes erfordert und wenigstens l/4 Stunde in Anspruch nimmt, konstant zu halten, ist eine kaum zu erfüllende Forderung, zum mindesten eine solche, die nicht in ausreichender Weise kontrolliert werden kann. Tatsächlich haben nun alle bisherigen Bemühungen, die Ab- hängigkeit der Strömung vom Druck und von der Viscosität fest- zustellen, unter dieser Schwierigkeit gelitten: Poiseuille, der vom physiologischen Problem ausging, hat die Uebertragbarkeit seines Gesetzes auf den Blutstrom durch die Untersuchung ge- prüft, ob eine Aenderung der Viscosität des Blutes durch Bei- mengung gewisser Substanzen die Geschwindigkeit des Blutstromes in gleicher Weise beeinflusse, wie die Strömung in Glascapillaren. Poiseuille fand nun eine gleichsinnige Aenderung in beiden Fällen und glaubte damit die Gültigkeit seines Gesetzes auch für den Blutstrom erwiesen zu haben. Allein eine eingehende Be- trachtung seiner Versuche zeigt, dass die Geschwindigkeit des Blutstromes bei der experimentellen Aenderung der Viscosität sich zwar in gleichem Sinne, aber in anderem Verhältnis geändert hat als in Glascapillaren. Man muss daher annehmen, dass im Blutstrom ausser der Viscosität noch ein anderer Faktor mit- gewirkt hat, der eben in der Inkonstanz des Querschnittes der Blutgefässe zu suchen sein wird. Später hat Volkmann die Ab- hängigkeit der Stromgeschwindigkeit vom Druck in den grossen Arterien festzustellen versucht, kam aber zu keinem sicheren Er- 4* 52 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. gebnis, da es ihm, wie er selbst sagt, nicht möglich war, bei der experimentellen Aenderung des arteriellen Druckes die Wider- stände, d. h. die Gefässlumina und die Zähigkeit des Blutes konstant zu halten. Auch in neuester Zeit wurde noch einmal der Versuch gemacht, die Abhängigkeit des Blutstromes vom Druck und von der Viscosität experimentell festzustellen, und die Autoren — du Bois-Reymond, Brodie und Müller — glauben die Gültigkeit des Poiseuille’schen Gesetzes für den Blutstrom erwiesen zu haben. Man wird aber von der Zu- lässigkeit dieses Schlusses nicht überzeugt, da die einzelnen Versuche offenbar durch Schwankungen im Gefässtonus gestört sind1) und dieser prinzipielle Fehler dadurch nicht beseitigt werden kann, dass man aus einer grösseren Zahl von Versuchen den Mittelwert nimmt. Man wird vielmehr eine Lösung des Pro- blems überhaupt kaum auf dem bisher benutzten Wege erwarten dürfen, sondern fragen müssen, ob nicht eine andere Methode denkbar ist. welche die Stromstärke bei verschiedenem Druck in so kurzer Zeit zu messen gestattet, dass Tonusschwankungen innerhalb derselben als ausgeschlossen angenommen werden können. Die Möglichkeit dazu bietet der Verlauf eines Puls- schlages, während dessen der Druck in den Arterien um einen er- heblichen Betrag schwankt, den wir noch durch experimentelle Verlängerung der Diastole vermehren können. Die Benutzung des Pulses für diesen Zweck scheint daher nur von der technischen Frage abzuhängen, ob wir über Instrumente verfügen, welche Druck und Stromstärke im Laufe eines Pulsschlages mit solcher Treue zu registrieren gestatten, dass wir die gesuchte Beziehung daraus ableiten können. Diese Frage glaube ich auf Grund meiner Versuche2) bejahen zu können; eine Stromuhr und ein Federraanometer, beide für optische Registrierung eingerichtet, erfüllen diesen Zweck in durchaus befriedigender Weise, wie sich noch zeigen wird. Allein mit der technischen Seite ist die Frage nicht gelöst; es bedarf vielmehr noch einer besonderen Analyse der Kurven des Druckes und der Stromstärke, um die gesuchte Beziehung zu finden, weil die pulsatorische Geschwindigkeit in den Arterien nicht allein vom Druck und von den Widerständen abhängt, sondern auch von der Elastizität der Blutbahn. Zur anschaulichen Darstellung dieses Einflusses wollen wir ein Schema benutzen, das die für den vorliegenden Zweck wesentlichen Eigenschaften der Blutbahn enthält und nicht allein zur Dar- stellung, sondern auch zur Prüfung unserer Ueberlegungen sowie der zureichenden Leistung der Apparate dienen kann. Das Schema (Figur t) enthält eine Vorrichtung (Druckflasche mit Hahn H), welche rhythmisch Flüssigkeit in eine Strombahn treibt; diese besteht in ihrem ersten Teil aus einem elastischen Schlauch • (Ei, E2), in ihrem zweiten aus Bündeln von Glascapillaren (Wx, 1) Die ausführlichere Begründung folgt in einer im Druck (Pflüger’s Archiv) befindlichen Abhandlung. 2) Siehe die angekündigte Abhandlung. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 53 W2, W8), für welche das Poiseuille’sche Gesetz gilt. Registriert man nun an verschiedenen Querschnitten (Anfang, Mitte, Ende) der elastischen Bahn, Druck und Stromstärke (im Schema befinden sich Stromuhr (St.-U.) und Manometer (Man.) in der Mitte der elastischen Bahn Ex, E2), so erhält man drei Kurvenpaare, die hin- sichtlich des Druckverlaufs im wesentlichen übereinstimmen, während die Stromkurven die aus der schematischen Figur 2 ersichtlichen Unterschiede zeigen. Zu ihrem Verständnis ist zu bemerken, dass die Stromkurve die Bewegung des Stromuhrkolbens darstellt, und dass mit der Verstärkung der Strömung die Steilheit der Kurve zunimmt; der horizontale Verlauf entspricht dem Stillstand des Kolbens und somit auch der Strömung. Die Druckkurve zerfällt in einen auf- und absteigenden Schenkel, deren erster dem Einströmen der Flüssigkeit (Systole) entspricht, während der Abbildung 1. absteigende mit dem Aufhören des Zustroms (Diastole) zusammen- fällt; dies zeigt sich in der vom Anfang der Bahn stammenden Stromkurve (a) am horizontalen Verlauf der Kurve während der Diastole. Dieser Versuch lehrt in augenfälliger Weise, dass das Verhältnis von Druck und Geschwindigkeit an den einzelnen Querschnitten der elastischen Bahn ein wechselndes ist; nur am Ende dieser Bahn, wo der elastische Schlauch in die Capillar- bündel übergeht, herrscht Proportionalität zwischen Druck und Strömung (Kurve e)'; am Anfang (a) besteht eine Strömung nur während der Systole, und in der Mitte der Bahn ist die systolische Strömung relativ stärker als die diastolische; die Beziehung zwischen Stromstärke und Druck wechselt also von Querschnitt zu Querschnitt, während die mittlere Stromstärke auf allen Quer- schnitten gleich ist. Die Ursache dieses Verhaltens liegt in der 54 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Elastizität der Bahn; würde der Schlauch durch eine starre Röhre ersetzt, so wäre in dieser die Beziehung von Druck und Stromstärke an allen Querschnitten dieselbe; durch die Elastizität aber wird die Verteilung der Strömung auf Systole und Diastole verändert, weil die im Stadium des steigenden Druckes den Querschnitt passierende Flüssigkeitsmenge nur zum Teil durch die Capillaren abfliesst, zum anderen eine Kapazitätszunahme der elastischen Bahn herbeiführt, und weil dieser Teil um so grösser wird, je näher wir dem Anfang der Bahn kommen; während der Diastole wird die Strömung nur durch die Kapazitätsabnahme der Bahn unterhalten. Abbildung 2. Druck- und Stromkurven vom Anfang (a), Mitte (m) und Ende (e) der elastischen Bahn des Schemas. Um den Einfluss der Elastizität auszuschalten, kann man entweder auf die Untersuchung des Einzelpulses verzichten und die Stromstärke während einer Reihe gleichartiger Pulse bei be- stimmtem Mitteldruck mit der bei anderen Werten des Mittel- druckes auftretenden vergleichen, oder man kann den Einfluss der Elastizität auf die Stromstärke während des Einzelpulses durch eine unter gewissen Voraussetzungen einfache Analyse der Pulskurve feststellen. Zu diesem Zweck nehmen wir an, dass die Aenderung der Kapazität des Schlauches dem Druck pro- portional sei; der Abstrom durch die Capillarbündel ist gleich- falls dem Druck proportional. Bezeichnet man nun die unter I. Abteilung. Medizinische Sektion. 55 dem Druck 1 in der Zeit 1 durch die Capillaren abfliessende MeDge mit v und die bei der Druckschwankung 1 auftretende Kapazitätsänderung des zwischen Stromuhr und Capillaren ge- legenen Schlauchabschnittes E2, die unabhängig von der Zeit sein soll, mit e, mit pffl) px und p2 den mittleren, kleinsten und grössten Wert des Druckes und mit ts und t 1904—1907 20 11 10 000 ?! 1907—1910 25 ii 10 000 ?! Die Jahre 1911 und 1912 haben, lokalen Daten zufolge weitere Rückgänge gebracht, und der Rückgang von 1910/11 ist I. Abteilung. Medizinische Sektion. 121 zweifellos wieder beträchtlicher gewesen als der der letztvoran- gegangenen Jahre. Angesichts dieser Tatsachen tritt dem deutschen Patrioten das „Quousque tandem“ auf die Zunge. Die Optimisten der Be- völkerungsfrage trösten sich damit, dass die Zahl 2 Millionen Geburten, die wir bis vor kurzem reichlich hatten, noch nicht zu sehr unterboten sei. Das ist fürs erste vollständig richtig. Für die Zukunft ist dem aber nichts, schlechterdings nichts zu entnehmen. Wir verfügen nicht über die geringste Wahrscheinlichkeit, dass es bei diesen 2 Millionen bleibt, oder dass es selbst bei 1 900 000 oder 1 800 000 oder 1 700 000 sein Bewenden hat. Denn Deutschland wird immer mehr Stadt-Nation. Und das bedeutet, dass wir aller Voraussicht nach mit einem weiteren und rapiden Rückgang der Geburten zu rechnen haben. Als das Reich gegründet wurde, lebte rund ein Drittel des deutschen Volkes in Städten, heute sind es zwei Drittel, und die Hälfte dieser zwei Drittel, also ein Drittel des Ganzen, ist Gross- stadtbevölkerung. Der Rückgang der Geburten in den deutschen Städten ist aber sehr viel grösser als im Durchschnitt des Landes. Keine Grossstadt Europas und vielleicht der Welt hat von 1880 auf 1910 einen Geburtenrückgang gehabt wie Berlin. Die Geburtenfrequenz daselbst ging in diesen 30 Jahren von rund 400 (399) pro 10 000 auf 215, also fast auf die Hälfte zurück. Während in Berlin die Zahl der Geburten binnen 30 Jahren um 184 auf 10 000 Menschen abnahm, hat sie sieb in Paris nur um 76 vermindert, der Rückgang war also iu der deutschen Reichshauptstadt mehr als doppelt so gross wie in der Hauptstadt der französischen Republik. Einen ähnlich grossen Absturz der Geburtenziffer zeigt die zweitgrösste deutsche Stadt, Hamburg, mit einem Minus von 152 Geburten seit 1880, wo man noch 384 Geburten zählte, ebenso München mit einem Minus von 162 (auf 396), ebenso Dresden mit einem Minus von 135 (auf 351), weniger Breslau mit einem Minus von 101 (auf 376). Allüberall hier ist der Rückgang weit stärker als in dem „Babel an der Seine“ gewesen, auch relativ gemessen, ßornträger er- klärt uns: „In Berlin besteht ja bekanntlich ein ausgebildetes Ein- bis Zweikindersystem, ein Zustand, dem sich auch andere Städte Deutschlands zu nähern scheinen, wie er ja in Frankreich längst eingebürgert ist.“ In der Tat ist von den anderen an- geführten Städten nichts wesentlich anderes als von Berlin zu sagen. Wohl ist die Natalität Berlins heute noch etwas grösser als die von Paris, aber der Vorsprung Berlins vor Paris schmilzt sichtlich zusammen. War er 1880 143, so 1890 nur mehr 86, 1900 55, 1910 35 auf 10 000 Menschen. Ich halte für sehr wahr- scheinlich, dass er 1920, also in sieben Jahren, nicht mehr 15 übersteigen und 1930, also in 17 Jahren, völlig verschwunden sein wird. Gewisse Aussengemeinden Berlins lassen Paris schon heute h inter sich, so Schöneberg, welches 1910 nur 164 Lebend- geburten auf 10 000 Menschen verzeichnete gegen die 180 in Paris. Kaum irgendwo tritt übrigens auch der Wandel der Verhältnisse so deutlich zutage, wie in diesen Gemeinden, welche den Westen 122 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. von Berlin einsäumen. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre erfreute sich Schöneberg noch einer überströmenden Fülle von Geburten, mit rund nicht weniger als 570 auf 10 000 Menschen, 1912 ist es glücklich bei mageren etwa 135 angelangt. Das be- deutet einen Geburtenrückgang um nicht weniger als 76 auf 100. 24 pCt. Geburten sind der „schäbige Rest“, der auf unsere Tage gekommen ist, und auch bei ihm wird es nicht sein Bewenden haben. Allerdings war Schöneberg in den siebziger Jahren kaum viel anderes als ein Dorf, und heute ist es der Exponent einer Weltstadt. Wie man nun angesichts solcher Ziffern Sorglosigkeit predigen kann, ist mir unbegreiflich. Die Logik der Optimisten der Be- völkerungsbewegung sagt: Die Sterblichkeit ist gleichzeitig mit der Geburtlichkeit zurückgegangen. Das traf bis vor kurzem zu, und es gab eine Zeit, wo die Sterblichkeit sogar stärker zurück- ging als die Geburtlichkeit. Der Rückgang der Sterblichkeit hat aber seine Grenzen. Es liegt auf der Hand, dass die Ziffer der Geburten weit komprimierbarer ist als die der Sterbefälle, die Ziffer der Geburten lässt „physiologisch“ selbst eine Reduktion auf Null zu, während wir uns nicht vermessen können, jemals dem Tode zu entgehen. Dass aber aus dieser Verschiedenheit der Chancen in der Tat die entscheidenden Schlüsse zu ziehen sind, deutet die Entwicklung schon der letzten Zeit ganz unmissverständlich an. Denn während der Geburtenrückgang weiter lawinenartig anschwillt, verrät der Sterblichkeitsrückgang neuerdings eine auffällige „Mässigung“. Die Geburtenverminderung war in Deutschland 1906 auf 1910 33 auf 10000, die Verminde- rung der Todesfälle 11, also ein Drittel. Aehnlich anderwärts. Der Geburtenrückgang beginnt also den Sterblichkeitsrückgang zu überflügeln, und dabei handelt es sich offenbar nicht um Zufall, sondern um eine elementare Erscheinung. Die Optimisten der Be- völkerungsbewegung verweisen speziell auf die hohe, noch einer starken Verminderung fähige Kindersterblichkeit bei uns. Sicher ist hier noch sehr viel zu tun. 1910 starben auf 1000 Lebend- geborene in Deutschland 162 im ersten Lebensjahre, dagegen in Schweden und Norwegen 1909 nur 72. Vielleicht gelingt es nun im Laufe der Jahrfünfte und Jahrzehnte, die deutsche Kinder- sterblichkeit auf die Hälfte ihres gegenwärtigen Standes herab- zudrücken. Das wäre ein ungeheurer Erfolg. Macht man aber eine Rechnung auf, wie gross der Menschengewinn daraus im Ver- hältnis zu den Geburten wäre, so ergibt sich, dass er einer Er- höhung der Geburtenziffer um 24 auf 10 000 Menschen gleich- kommt. Um genau soviel ist die Geburtenziffer bei uns von 1907 auf 1910 zurückgegangen. Ein radikales Mittel gegen die Folgen des Geburtenrückganges haben wir also auch in der erfolgreichsten Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit nicht zu sehen, und eine Rettung aus der Misere des Geburtenrückgangs lässt sich von jenem Sinken der Kindersterblichkeit nur dann versprechen, wenn man nicht den Rechenstift zur Hand nimmt, der uns da sagt, dass ziemlich die äusserste, in späteren Jahren etwa erreichbare Möglichkeit des Sinkens der Säuglingssterblichkeit in I. Abteilung. Medizinische Sektion. 123 Deutschland aufgewogen und aufgezehrt wird durch das normale Geburtendefizit bloss dreier Jahre wie der letzten. Also auch hier findet der Optimismus für seine Saat und seine Ernte nur einen äusserst mageren BodefS vor. Bleibt ihm als letzter Rettungsanker nur die Hoffnung, dass die Entwicklung der Geburtenziffer „Kehrt macht“ und an Stelle des Geburtenrückganges eine Geburtenzunahme tritt. Jede eingehendere Untersuchung der Ursachen des Geburten- rückganges lässt auch diese Hoffnung zunichte werden. Ich habe das oben schon angedeutet und habe es in meinem kürzlich er- schienenen Buche „Der Geburtenrückgang, die Rationali- sierung des Sexuallebens in unserer Zeit“ (Jena, Gustav Fischer) des näheren ausgeführt. Daselbst ist nachgewiesen, dass so viele Gründe in der heutigen Gesellschaft für den Geburtenrück- gangtätigsind und so wenige dagegen wirken, dass die Hoffnung, dieser Rückgang werde demnächst einer entgegengesetzten Be- wegung Platz machen, schlechterdings phantastisch erscheint. Das Bedachtsein der Eltern auf ihre Lebensbequemlichkeit und ihren Lebensgenuss, die durch Kinder eine Beeinträchtigung er- fahren, die Furcht vor Sorge und Elend, die mit Kindern ins Haus einziehen, der Wunsch der Frau, der Schwangerschaft, der Geburt, der Pflege des Kindes mit allen ihren Mühsalen und Fährnissen aus dem Wege zu gehen, der Wunsch auch der erwerbenden Frau, keine Beeinträchtigung dieses ihres Erwerbs durch Kinder zu erfahren, bereits das ist eine solche Fülle von auch dem einfachsten Manne und der einfachsten Frau zugäng- lichen Erwägungen gegen eine irgend grössere Zahl Kinder, ja bei vielen gegen Kinder überhaupt, dass bei wachsender Urteils- fähigkeit, wachsender wirtschaftlicher Voraussicht, wachsendem Ordnungssinn, wachsenden Ansprüchen ans Leben, wachsender Zahl der Mittel, der Empfängnis zu steuern oder der Schwanger- schaft ein vorzeitiges Ende zu bereiten, sich notwendig auch eine immer grössere Zahl Ehen dieser Mittel bedient. Dem stehen freilich als Gegenkräfte gegenüber das religiöse Gebot, innerhalb der katholischen Kirche auch die Erklärung der Prävention als Todsünde und die Kontrolle, die man durch das Mittel der Beichte daselbst übt, bei vielen der unmittelbare Wunsch nach Kindern, und beim Besitzenden der Wunsch, Nachkommen zu haben, auf welche er seinen Besitz und seinen Namen zu vererben vermag, auch Nachlässigkeit, mangelnder Wille oder mangelnde Energie, den Geschlechtsakt zu „kontrollieren“ und zu einem Mittel bloss des Genusses ohne Konsequenz zu machen. Die Motivationen und Voraussetzungen der zweiten Gruppe erweisen sich aber gegen- über denen der ersten Gruppe mit jedem Tage mehr als die schwächeren und danach unterliegenden. Charakteristisch ist da, dass, von allen anderen Kultur- symptomen abgesehen, bereits die Kenntnis des Lesens, Schreibens und Rechnens auf den Geburtenrückgang hinwirkt. Das zeigt uns die Statistik in nicht misszuverstehender Drastik. Am grössten ist oder war doch bis vor kurzem die Zahl der Analphabeten in Russland, Rumänien und in den Ländern des 124 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. nunmehrigen Balkanbunds. Der schwedische Statistiker Sund- bärg nennt (meistens aus den ersten Jahren des neuen Jahr- hunderts) für Russland 61,7 pCt. Analphabeten, für Rumänien 75, für Serbien 61,6, für Bulgarien 52,7 pCt. In diesen Ländern ist nun auch die Geburtenziffer am höchsten, sie erreicht in Russland fast 500 nnd in den Balkanstaaten 400 auf 10 000 Menschen im Vergleich zu nicht einmal mehr 300 bei uns. Allerdings gibt es eine ganz beträchtliche Zahl Analphabeten auch in Italien — 31,3 pCt. — , in Oesterreich-Ungarn — 25,7 pCt. — , sowie in Belgien mit 10,2 pCt., ohne dass die Ziffer der Geburten hier einen hohen Stand erreichte. Indes zeigt sich innerhalb der geo- graphischen Abgrenzungen dieser Staaten doch wieder eine unver- kennbare Abhängigkeit der Geburtenziffer von dem Maass der elementaren Bildung. So zeichneten sich in Oesterreich nach der amtlichen Statistik pro 1900 die Provinzen des äussersten Südens und Ostens, Dalmatien und Istrien, Galizien und die Bukowina, wo die Zahl der Analphabeten 1900 60 — 77 pCt. erreichte, durch eine Geburtenziffer — im gleichen Jahre — von 40 und über 40 pM., also ganz wie in den Ländern des Balkanbundes, aus, die Provinzen des äussersten Westens, Tirol und Vorarlberg da- gegen, wo neben Nieder- und Oberösterreich die Zahl der An- alphabeten am kleinsten war — 15 bis rund 17,5 pCt. — hatten die kleinste Zahl Geburten, im allgemeinen nicht über 30 pM., auch darunter. Und wie in die Provinzeu, so lässt sich bis in die Bezirke einzelner Städte diese Koinzidenz verfolgen. Doch gehen sichtlich andere schwere Abhängigkeiten daneben her. Von grösster Bedeutung ist, ob die Bevölkerung zur katho- lischen oder zur protestantischen Kirche gehört oder religionslos, atheistisch ist. Am widerstandsfähigsten gegen den Geburten- rückgang zeigen sich die Völker russisch-orthodoxen Glaubens, weniger wohl infolge der Glaubenssätze der Kirche als vermöge der Uebermacht der Tradition, hier ist die alte, fast darf man sagen, mittelalterliche Geburtenziffer noch intakt. In den Ge- bieten des katholischen Bekenntnisses ist, mit Ausnahme Frank- reichs, wo die Kirche einem übermächtigen Volkswillen gegen- über sich nicht durchzusetzen vermag, die Geburtenzahl meist noch eine hohe. Das gilt auch für die katholischen Gegenden Deutschlands — und zwar hier für Arm und Reich — im Unter- schiede zu den protestantischen, die nicht in gleichem Grade durch hohe und höchste Geburtlichkeit ausgezeichnet sind. Die geringste Geburtlichkeit hat aber der Atheismus. In Deutsch- land sind es vor allem die Wahlkreise der Sozialdemokratie, be- kanntlich einer Schrittmacherin des Atheismus, die sich durch niedrigste Geburtenziffern auszeichnen. Die meisten sozialdemo- kratischen Wähler haben Berlin, Hamburg und das Königreich Sachsen. Hier ist denn auch die Geburtenziffer weitaus am geringsten im ganzen Reich. Schliesslich nimmt noch die Stadt als solche Mann und Frau in die Lehre. Die Ehe ist hier lockerer als auf dem Lande, wie die meisten Eheschliessungen finden sich hier auch die meisten Ehescheiduugen — in Berlin werden im Verhältnis reichlich I. Abteilung. Medizinische Sektion. 125 viermal soviel Ehen als im übrigen Reich geschieden — , die Stadt, zumal die Grossstadt, fungiert weiter als Vermittlungs- zentrale der geschlechtlichen Infektion — Berlin hat viele Dutzende mal mehr Geschlechtskranke als das offene Land — , die Stadt, zumal die Grossstadt, bietet schliesslich die meisten Gelegenheiten, die Prävention zu erlernen und zu üben. Die Stadt exzelliert nach alledem durch ihre geringe Geburtenzahl. Man hat lange Zeit auch der Wohlhabenheit einen Anteil an der Beschränkung der Geburtlichkeit zugesprochen (zuletzt in Deutschland durch Mombert und Brentano), und es ist zweifellos, dass, insofern höherer Lohn und regelmässige Beschäftigung dem Menschen dazu helfen, ihn den rohen animalischen Instinkten eines noch halb tierischen Daseins zu entziehen, die Erhebung auf eine höhere Einkommensstufe auch eine kleinere Kinderzahl mit sich bringt. Aber die Wirksamkeit dieses Moments ist nur be- schränkt. Heute ist die Erhebung des Arbeiters aus dem dumpfen Hinleben, bzw. aus jener Dürftigkeit, wo er in Ermangelung aller anderen Genüsse den geschlechtlichen vor allem sucht, in West-, wie Mitteleuropa fast vollendet. Mit jeder Stufe höher büsst aber die Wirkung des Wohlstandes als eines anticonceptionellen Argu- ments an Stärke ein. So sind auch die Lehrerehen (vor allem in der Stadt) und die der Beamten durch kleine Kinderzahl aus- gezeichnet, sonderlicher Wohlstand ist aber hier, wie jeder- mann weiss, kaum zu Hause, vielmehr ist nur eben die Sicherung der Existenz erreicht. So kann also und wird auch auf den unteren Stufen des Einkommens die Kinderzahl beschränkt. Wenn trotzdem nach Ausweis der Statistik auch jenseits der Grenze der Dürftigkeit Wohlstand und geringe Kinderzahl parallel gehen, so unter anderem darum, weil geringe Kinderzahl die Möglichkeit reichlicherer Er- sparnisse bietet, die geringe Kinderzahl also eine Ursache des Wohlstandes ist, nicht umgekehrt. Die Wohlstandstheorie ist nach alledem als Erklärungsversuch des Geburtenrückgangs nur für eine ganz beschränkte gesellschaftliche Zone haltbar, im übrigen aber zweifellos zu verwerfen. Das Gewicht der in der Richtung einer Beschränkung der Kinderzahl wirkenden Momente erweist sich aber bei näherem Eingehen auf dieselben als so überwältigend, dass kein nüchtern Urteilender die Hoffnung, dass die Bewegung demnächst stille- stehen werde, hegen wird. Unterliegt ja in unseren Tagen, nachdem es sich lange genug gewehrt hat, auch schon das offene Land der Verführung, und scheint es das Versäumte gründlich nachholen zu wollen. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts ist der Rückgang der Fruchtbarkeit auf dem Lande in Preussen bereits fast ebenso gross wie in den Städten gewesen. In 1906/1910 gegen 1901/1905 auf 1000 weibliche Personen im Alter von 15 — 45 Jahren war der Rückgang auf dem Lande 9,8, in den Städten 10,4. Der Unterschied ist verschwindend zu nennen. Das Land ist also in die Fussstapfen der Stadt getreten, es ist längst nicht mehr der starke Damm gegen den Geburtenrückgang, der es früher war. Mag es hinter der Stadt aber noch in etwas Zurück- bleiben, so steht dem gegenüber, dass die Bevölkerung immer mehr 126 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Stadtbevölkerung wird, was also das Land zu leisten unterlässt, in den Städten gründlichst „nachgeholt“ wird. So ist also ein Ende dieser Bewegung kaum abzusehen, es liegt sicherlich in weitem Felde, und vermutlich wird das Herabgleiten auf der schiefen Ebene nicht einmal bei den französischen Ziffern von heute Halt machen. Denn auch in Frankreich geht die Geburtlichkeit immer noch weiter zurück. Das Departement Seine, das ist „Gross-Paris“, hatte 1910 eine Geburtlichkeit von 19,3, 1911 nur mehr eine solche von 17,9. Im Jahre 1912 ist aber, wie wir heute bereits wissen, die Geburtlichkeit wieder geringer gewesen. Der Rekord wird gegenwärtig von dem französischen Departement Gers, das im Südwesten des Landes, im Tale der Garonne, liegt, geschlagen wo der Geburtenstand 1911 126 auf 10 000 war, gegen die rund 300 (genau 298), die das Deutsche Reich im Jahre 1910 aufwies, wie gegen die 136, die das in Deutschland, wie es scheint, mit an der Spitze des Rückgangs marschierende Schöneberg in der ersten Hälfte 1912 aufgebracht hat. Schöneberg und jenes De- partement Gers, von welchem Bertilion erzählt, dass ein zweites Kind hier nur gezeugt wird, wenn das erste gestorben ist, halten also ziemlich miteinander Schritt. Die Beziehung auf die Frucht- barkeit statt auf die Geburtlichkeit schafft hier wie anderwärts kein wesentlich anderes Bild. Leroy-Beaulieu sieht das Ende der Bewegung, das Ende des Sinkens der Geburtenzahl in Frankreich bei einer Ziffer rund ein Fünftel unter der heutigen; er ist sich gleichzeitig klar darüber, dass die Entvölkerung der Republik die notwendige Folge davon sein muss. Im Verlauf der Darstellung führt er sogar den Nachweis, dass die Bevölkerung Frankreichs pro Generation um ein Viertel abnehmen werde, so dass in 4 Generationen, spätestens in 200 Jahren, die Entvölkerung bzw. die Auswechslung der altfranzösischen Bevölkerung gegen eine neu zugewanderte ziemlich vollendet sein wird. Das sind die Aussichten, die jener sehr ernsthafte Volkswirt, ein Mann in hohen Jahren, der auf ein Leben reich an Erfahrung und wissenschaftlichen Erfolgen zurückblickt, seinen Landsleuten eröffnet. Die Rechnung, welche Leroy-Beaulieu aufmacht, ist an sich unanfechtbar. Bei einem halb Einkind-, halb Zweikindersystem, wie es Leroy-Beaulieu für Frankreich annimmt, muss die alte Bevölkerung des Landes in zwei Jahr- hunderten auf 5 oder 4 Millionen reduziert sein. Die Hoffnung kann also nur dahin gehen, dass der Ansatz der Rechnung, dem- zufolge die Hälfte der Ehen Zweikinder-, die Hälfte Einkindehen ist, irrig sei. Möglicherweise malt hier Leroy-Beaulieu zu schwarz und führt ihm zu sehr die Besorgnis des Patrioten die Feder. Mag dem aber wie immer sein, jedenfalls hält Frank- reich mit seiner Entwicklung uns den Spiegel vor, es zeigt uns den Weg, in den nach Ausweis der letzten Ziffern auch wir einlenken. Noch aus anderen Gründen komme ich zu einem Ausblick, der entfernt nicht befriedigend genannt werden kann. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 127 Wir hatten 1910 298 Geburten auf 10 000 Menschen. 1907 war die Ziffer noch 323. Das ist ein Rückgang binnen dreier Jahre um 25. Alles, was wir an Daten nach 1910 besitzen, spricht dafür, dass die Entwicklung sich nicht „staut“, im Gegen- teil trotz einzelner günstigerer Jahre sich beschleunigt fortsetzt. Würde sie aber auch nur in dem Tempo der letzten Jahre an- halten, so hätten wir 1920 rund 100 Geburten (auf 10000 Menschen) weniger als 1910, wir wären dann bei 198 angelangt. Die fran- zösische Geburtenziffer des Jahres 1910 war fast genau die gleiche, nämlich 197. Es stellt nach dem Gesagten keine Unmöglichkeit dar, dass wir das Frankreich von heute in 10 Jahren „eingeholt“ haben werden. Dennoch wage ich diese Annahme nicht zu setzen, ich will zugunsten einer optimistischeren Auffassung damit rechnen, dass die französische Geburtenziffer von 1910 uns erst im Jahre 1930 statt 1920 beschieden sein wird. Das ist eine sehr weitgehende, meiner Ueberzeugung nach fast „unerlaubt“ weitgehende Einräumung an die „Optimisten“, jedenfalls eine Einräumung, die die Möglich- keit von Rückschlägen auf dem Wege des Geburtenrückgangs reich- lich in Rechnung setzt. Was aber die Sterblichkeit betrifft, so ist sie in jener Zeit von 1907 auf 1910 von 190 auf 171 zurück- gegangen. Ein weiterer Rückgang der Sterblichkeit in diesem Ausmaasse ist nach Aussage aller medizinischen Autoritäten auf längere Zeit hin ausgeschlossen. Würde der Rückgang sich im Tempo der letzten Zeit auch nur bis 1920 fortsetzen, so hätten wir in diesem Jahre eine Sterblichkeit von insgesamt 94 auf 10 000. Ich wiederhole: ein Unding! Nach Aussage aller, die mit dem Gegenstand irgend vertraut sind, werden wir uns auf sehr lange hinaus bestenfalls mit einer Sterblichkeit von 130 bis 150 gegenüber den 171 des Jahres 1910 bescheiden müssen. Bereits aus diesen Daten ergibt sich, dass die Geburtenziffer in Eilmärschen auf die niedrigste mögliche Ziffer der Sterbl ich- keit bin begriffen ist. und dass der hohe Geburtenüberschuss unserer Tage keinerlei Garantien enthält für einen hohen, ja auch nur halbwegs befriedigenden Ueberschuss der folgenden Zeit. Sie sehen, die Voraussetzungen der Bevölkerungsoptimisten geraten bei näherer Prüfung in bedenkliches Wanken. Ich er- blicke in dem Geburtenrückgang eine Gefahr aber darum, weil uns mit dem Verlust der Familie, der Kinder in der Familie, sittliche Werte von hohem Rang zweifellos verloren gehen, und zweitens weil die Fruchtbarkeit unserer — uns nicht not- wendig immer freundschaftlich gesinnten — Nachbarn im Osten noch unangebrochen ist. Einschliesslich der Gebiete jenseits des Urals beträgt der Bevölkerungsvorsprung Russlands vor Deutschland heute schon glücklich 100 Millionen. Ich suche in meinem Buche „Geburtenrückgang“ zu begründen, dass er um die Mitte dieses Jahrhunderts, also in nicht mehr als 37 Jahren, etwa 150 Millionen sein wird. Ich füge hier hinzu, dass ich diese Schätzung als ein Minimum ansehe und es für durchaus möglich, ja wahrscheinlich halte, dass jener Vorsprung bis zur Mitte dieses Jahrhunderts noch über die 150 Millionen hinaus gediehen sein wird, so dass der Verbündete Frankreichs alsdann 128 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. etwa (da wir es zu jener Zeit auf eine Bevölkerung von etwa 75 bis 80 Millionen gebracht haben dürften) dreimal so viel Menschen zählen wird wie Deutschland. Es gibt aller- dings Volkswirte, die uns dann bereits 100 Millionen zusprechen, in welchem Falle der Vorsprung Russlands „nur“ 150 pCt. sein würde, wahrlich auch gewaltig genug, um im Falle eines Kon- fliktes uns leicht zu Unterliegenden zu machen! Schliesslich ist es aber - — ganz abgesehen von den Vermehrungswahrscheinlich- keiten unserer Nachbarn im Osten — auch sonst ein national nichts weniger als erhebender Gedanke, Deutschland allmählich auf den französischen Standard sich einrichten zu sehen, mit den dann auch hier unvermeidlichen Folgen, die in Frankreich — von anderen als mir — gezeichnet worden sind. Ist hier die nationale Seite der Geburtenfrage nachdrücklich berührt, hoffentlich mit dem Erfolge, eine Resonanz aus ihrem vaterländischen Empfinden heraus zu finden, und ist weiter darauf zu verweisen, dass der Gesamtreichtum eines Kulturvolks, wie meinem Buche des genaueren zu entnehmen ist, mit seiner Be- völkerungszahl steigt und fällt, so ergibt sich also weiter, dass mit der Frage der Geburtlichkeit nicht weniger als die Frage der nationalen Selbstbehauptung gestellt ist. Der natürliche Weg des Unterganges der Völker ist kein anderer als der des Sinkens der Geburtlichkeit. West-Rom ist auf diese Weise zugrunde ge- gangen, und neben unzähligen anderen Völkern und Stämmen, die dieses Los im Laufe der Zeiten ereilt hat, droht in unseren Tagen das gleiche Schicksal den Juden einer Anzahl Länder, so auch Deutschlands, bei denen das Uebermaass rechnerischer Er- wägung heute schon Ziffern einer Geburtlichkeit zeitigt, die länderweise einen Ueberschuss der Sterbefälle über die Ge- burten bedingt. Für die bayerischen Juden ist konstatiert, dass, während noch 1876 der Ueberschuss der Geburten 801 und 1880 noch 688 betrug, er schon 1909 auf 32 zusammen- geschrumpft war, womit auch ungefähr der Punkt erreicht ist, jenseits dessen das Aussterben beginnt. Bei den preussischen Juden dürften die Verhältnisse nicht sehr viel anders liegen. Kommentiert werden diese Ziffern von Theilhaber in seinem Buche „Der Unter- gang der deutschen Juden“ 1911, mit den Worten: Früher war „der Jude seinem Gotte und seinem Volke gegenüber angehalten, auf Nachkommenschaft bedacht zu sein. Mit der Befreiung vom Nationalen und Religiösen fielen alle Schranken. Der moderne Lebenskünstler brauchte hierin auf nichts acht zu haben. Er ist aller Pflichten enthoben.“ Die Juden haben immerhin eine Ein- wanderung von aussen, die Gesamtheit des deutschen Volkes hat auf ähnliche Hilfe nicht zu rechnen. So stellen sich also die Aspekten für die deutsche Nation in der Tat nicht als erfreulich dar, und sie enthalten die Forde- rung an den Staatsmann wie an jeden Patrioten, die aufgeworfene Lebensfrage des ernstesten zu bedenken. Kinder aufzwingen kann man natürlich niemandem. Dass das Volk je aus patriotischen Erwägungen heraus Kinder auf- ziehen werde, bezeichnet Levasseur bereits für Frankreich, wo I. Abteilung. Medizinische Sektion. 129 man des patriotischen Sinnes im allgemeinen doch auch nicht ermangelt, als Absurdität. Wir befinden uns in dem Geburten- rückgang auch zweifellos einer elementaren Bewegung gegenüber, die aus rationalistischen Erwägungen geboren, nur mit diesen dahinfallen kann, ein Fall, der für den nüchternen Beurteiler von Volkspsyche und Geschichte keineswegs in Betracht kommt. Heisst es also trotz allen Widerstrebens die Hände resigniert in den Schoss legen? Dr. v. Heerenbergh hat in der „Allgemeinen Rundschau“ (26. Juni 1909) den Neomalthusianismus als den „grossen Tod des 20. Jahrhunderts“ behandelt. Dass wir, wenn auch die Bewegung nicht aufhalten, sie doch verlangsamen und in ihren Resultaten weniger verhängnisvoll gestalten können, soll im zweiten Teile dieses Vortrages bewiesen werden. II. Insgesamt scheinen mir für den Feldzug gegen den Geburten- rückgang drei Gruppen von Maassnahmen in Betracht zu kommen, mit einem militärischen Bild: drei Armeekorps dagegen aufgestellt werden zu können. Die Aufgabe des ersten würde sein, auf einen Umschwung der „öffentlichen Meinung“ in Hinsicht der Fragen der Kinderzeugung, zumal auch bei den berufenen Führern des Volkes in diesen Dingen, den Aerzten, hinzuarbeiten. Die Aufgabe des zweiten wäre, den wirtschaftlichen Druck, welchen eine zahlreiche Familie für den Familienvater zweifellos bedeutet, durch eine Reihe von Maassnahmen aus- zugleichen. Die Aufgabe des dritten ist durch die Tatsache gegeben, dass unsere Geburtlicbkeit nicht zuletzt durch die Ver- breitung der Geschlechtskrankheiten beeinträchtigt ist und der Kampf gegen diese also geeignet ist, auch die Geburtenzahl zu heben. Ist es der Rationalismus und Materialismus unserer Zeit, was die Bewegung zum Zweikinder- und Einkindsystem hin entschieden hat, so sollte in thesi schon von den auf Erneuerung, auf Wiedererweckung der Tradition gerichteten Bestrebungen eine Neubelebung auch des Familien- und Kindersinnes und danach der Fortpflanzungstätigkeit in der Ehe zu erwarten sein. In praxi ist hier aber, wie jedermann erkennt, der sich nicht Illusionen hingibt, bis auf weiteres nicht viel zu leisten. Von katholischer Seite wird darauf hingewiesen, dass die katholischen Missionen oft Wunder gewirkt hätten, und wir haben keinen Grund, den Berichten zu misstrauen, wonach hier und dort abgehaltenen Missionspredigten eine Zunahme der Kinderzahl gefolgt ist. Aus Münster i. W. wird geschrieben (der „Allg. Rundschau“ v. 15. Juni 1912): „Im März d. «I. wurde hier in allen Kirchen eine 14 tägige Volksmission von Ordensgeistlichen abgehalten. Bei dieser Gelegen- heit wurde auch die Verwerflichkeit des Neomalthusianismus in ausdrücklichster Weise betont. Vielleicht hegt man Zweifel, dass derartige Mahnungen zur christlichen Sittlichkeit einen allgemeinen Eindruck machen würden. Diese Zweifel verschwinden aber vor 9 Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Kultur. 1912. II. 130 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. dem Faktum, das kürzlich zu meiner persönlichen Kenntnis ge- langte. Ein hiesiger Bandagist (Drogist) betrieb früher einen schwungvollen Handel mit sogenannten , Pariser Artikeln4, eben aus dem Grunde, weil der Mann eine bedeutende Einnahme aus diesem Teile seines Geschäftes hatte, die er nicht missen wollte. Der sonst solide Geschäftsmann erzählte mir nun unlängst, dass er seit Abhaltung der Volksmission fast gar nichts mehr mit diesen , Schutzmitteln4 verdiene. Unmittelbar nach der Mission sei ein rapider Sturz in der Nachfrage erfolgt, der noch fast unver- mindert anhält.“ Aehnlich lautende Stimmen liegen in grösserer Zahl vor. Hier sei nur noch eine wiedergegeben. In der „Zeit- schrift für Medizinalbeamte“ (1911, Nr. 23) lässt sich J. Berger, Kreisarzt in Crefeld, wie folgt vernehmen: „Bei meinen Studien über den Rückgang der Geburten ist es mir aufgefallen, dass das gleichmässige Dunkel des Geburtenrückganges in dieser oder jener Gemeinde, ja sogar in diesem oder jenem Stadtteil durch eine plötzliche Geburtenzunahme unterbrochen wird. Ermittelungen ergaben, dass im Jahre vorher in dem betreffenden Orte die katholischen Missionen ihren segensreichen Einfluss ausgeübt hatten. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, dass dies die alleinige Ursache war; meine Beobachtung wurde mir von er- fahrenen Männern bestätigt. Die Hebammen erzählten mir auf Befragen, dass sie die gleiche Beobachtung schon seit langer Zeit gemacht hätten.“ Der Kausalnexus liegt auf der Hand: die katholische Kirche bezeichnet Prävention als Todsünde, und auf diese Qualifikation jener Uebung wird in den Missionspredigten mit besonderem Nachdruck hingewiesen. Trotzdem dürfte von Veranstaltungen dieser Art nicht zu viel mehr zu hoffen sein. Das katholische Deutschland mit einem Netz von Missionen zu überziehen, geht sicherlich nicht an. Uebrigens wird auch von diesen geneigter Seite ausgesprochen, dass ihre Wirkung regel- mässig in kurzem, „in 3 — 5 Jahren“ erloschen ist. Es wäre also eine Erneuerung der Missionstätigkeit in solchen Intervallen nötig, um die Wirkung sicherzustellen! Eine viel allgemeinere Einwirkung auf den Zeugungswillen der Eheleute ist von einer „Umwertung“ der hier in Frage stehenden Werte in der Oeffentlichkeit und zumal in der Aerzteschaft zu erwarten. Die Gebildeten unserer Tage sind in neomalthusianischer Atmosphäre gross geworden. Vor allem sind aber unsere Aerzte, die Berater der Familie nicht bloss in kranken Tagen, in den Ideenkreis des Neomalthusianismus ge- zogen. Sie huldigen ihm heute — bei aller Idealität in der Auffassung ihres Berufes und gerade aus dieser heraus, worin der deutsche Arzt wohl unübertroffen dasteht, — vermutlich in der Mehrheit. „Die alte ärztliche Schule“, so wird von einem Arzt konstatiert, „hat sich um die Verhütung der Konzeption wenig gekümmert; noch heute sind manche Universitätslehrer und Aerzte der Ansicht, die ärztliche Tätigkeit habe im allgemeinen mit derartigen Maassnahmen nichts zu schaffen. Daneben wollen andere Mediziner die Anwendung solcher Maassnahmen zwar gelten lassen, jedoch nur bei wirklichen ärztlichen Indikationen I. Abteilung. Medizinische Sektion. 131 und in dringlichen Fällen.“ Eine dritte Gruppe, „wohl fort- gesetzt sich vermehrend, zahlreich aus Frauenärzten bestehend, hält sich, wie es scheinen will, schon für berechtigt, auch den eigenen Wünschen der Klienten in gewisser Weise Rechnung zu tragen“. Dabei sind die Gründe, aus denen die Unterstützung des Arztes angerufen wird, häufig genug direkt frivol. Eine Badereise, der Wunsch, eine gesellschaftliche Saison nicht zu versäumen und ähnliches, wie zuverlässig berichtet wird. Hier ist nun eine Umkehr und Einkehr möglich. Selbst- verständlich denke ich nur an eine solche, die nichts Gewaltsames hat. Es handelt sich einzig darum, den Arzt mehr als das bisher der Fall war, mit der „Kehrseite der Medaille“ bekannt zu machen, um es dann seinem Gewissen zu überlassen, im einzelnen Falle seine Unterstützung zu gewähren oder zu versagen. Gegenwärtig ist er solche Unterstützung oft genug seinem prinzipiellen Stand- punkt schuldig, demzufolge ein Weniger an Kindern unter allen Umständen ein Segen ist. Eine Einflussnahme, die ihn auch die andere Seite kennen lehrt, ist da zweifellos geboten. Zunächst und hauptsächlich dürfte sie in den Jahren der Lehre, den Uni- versitätsjahren, zu versuchen sein. Die alte Generation lernt selten mehr um. Von ärztlicher Seite wird ausgesprochen, heute sei in den Kollegien über Hygiene, in der Klinik für Frauenkrankheiten, in jenen für Haut- und Geschlechtskrankheiten, ja möglicherweise selbst in den Vorlesungen über die gerichtliche Medizin der Neo- malthusianismus stiller Gast. Ich habe keine Kontrolle darüber. Ist er es aber wirklich, so ist die Frage aufzu werfen, ob er diese Rolle verdient, ob sie ihm zu belassen ist. Nicht nur das „Für“, sondern ebenso das „Wider“ des Neo- malthusianismus ist aber, wie schon gesagt, auch der breiteren Oeffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen. In wie weiten Kreisen er gegenwärtig zu Hause ist und selbst in solchen, wo man ihn am allerwenigsten vermuten sollte, ergibt sich, wie schon aus der Tatsache des Geburtenrückgangs, so auch unmittelbar aus Aeusserungen, die gelegentlich an die Oeffentlichkeit dringen. Im deutschen Pfarrerblatt klagt ein evangelischer Landpfarrer: „Als ich fünf Kinder hatte, sagten mir zwei meiner Landräte, die ich natürlich kurze Zeit nacheinander bekam: „0, soviel Kinder haben Sie“! Und wie oft habe ich das wieder gehört von allen mög- lichen Menschen! Das sagten mir Geschäftsleute, Handwerker und selbst Bauern!“ Ein Fall sicher für tausende, ja hunderttausende! Dass die öffentliche Meinung in diesen Dingen nun auf etwaige Vorstellungen hin „einschwenken“ werde, ist selbstverständlich nicht zu erwarten. Die Bewegung auf eine Verminderung der Geburten hin wird durch den Versuch einer Einflussnahme auf die öffentliche Meinung nicht „auf den Kopf zu stellen“ sein. Als völlig wirkungslos mögen solche Vorstellungen trotzdem nicht zu erachten sein. Und was möglich ist, ist eine Verlangsamung der Bewegung und eine gewisse Eindämmung des Stromes, der heute die Ufer weithin überflutet. Indes wird es nicht bei der Einwirkung auf a) die öffentliche Meinung und b) die Aerzte sein Bewenden haben. Auch c) Ver- 9* 132 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. waltung und d) Gesetzgebung sind hier aufzubieten. Im be- sonderen die Frage der Stellungnahme zur Uebung der Kindes- abtreibung und zur Prävention im engeren Sinne wird von ihnen zu diskutieren und zu lösen sein. Die Mittel, mit denen heute das Zweikinder- und Einkind-, oder selbst Keinkindsystem verwirklicht wird, sind dreierlei: erstens die Prävention im engeren Sinne, d. h. die Verhinde- rung der Konzeption — in ungeheurem Umfange praktiziert — , zweitens die Abtreibung, über die ich Ihnen Ziffern bieten werde, drittens, als eine ganz moderne Erscheinung, aber wieder mit steigender Frequenz, die dauernde Unfruchtbarmachung der Frau. Ich habe darüber in meinem mehrfach erwähnten Buche eingehender referiert. Ueber statistisches Material, wenn auch nicht von ganz einwandfreier Beschaffenheit, verfügen wir für das Kapitel der Abtreibung. Die Abtreibung ist internationaler Brauch und von ungeheurem Alter, bereits die Urzeit scheint sie gekannt zu haben; heute wird sie nach allgemeiner Annahme besonders stark in der amerikanischen Union, in den englischen Kolonien, sowie in Frankreich geübt, in welchen Gebieten wir ja auch die verhältnis- mässig geringste Kinderzahl finden. Max v. Oettingen berichtet aus der Union, dass „Tausende und Abertausende amerikanischer Frauen die Fruchtabtreibung als eine ebenso einfache Sache be- trachten und praktizieren, wie das Ausziehen eines hohlen Zahnes“, und für New York geht seit längerer Zeit eine Schätzung um, wonach die Zahl der Abtreibungen daselbst pro Jahr 80 000 sein soll, während für Frankreich eine Mindestschätzung von 60 000 vorliegt, die Ziffer in Wahrheit aber bei 100 000 oder darüber liegen dürfte. Für Deutschland wäre auf Grund von Angaben von vertrauenswürdiger Seite, nämlich von seiten führender Gynä- kologen, die Zahl der jährlichen Abtreibungen gleichfalls auf aller- mindestens 100 000 im Jahre anzuschlagen. So rechnet Hegar eine Abtreibung auf jede achte bis zehnte Geburt, Seitz auf jede fünfte bis sechste. Das wären auf 2 000 000 jährlicher Geburten zwischen 200000 und 400000 Aborte. 200000 wären danach Mindest- ziffer, ich will, um nicht der Uebertreibung geziehen zu werden, auch sie halbieren. Dabei ist aber die Zahl der Abtreibungen nach allgemeiner Annahme im Wachsen. Ein Soziologe, der Berliner Arzt Goldstein, ein Schüler Brentano’s, von letzterem häufig citiert, meint sogar aussprechen zu dürfen, „dass beinahe alle Frauen dieses Vergehens schuldig sind“. Ich bin entfernt nicht geneigt, mich dieser Annahme anzuschliessen. Dass aber dieser Ausspruch überhaupt gewagt werden kann, besagt genug. Bevor ich die Mittel, die gegen eine zu weitgehende Förde- rung der Abtreibung in Frage kommen, zur Diskussion stelle, will ich jedoch noch der Prävention im engeren Sinne ein Wort widmen. Für die antikonzeptionellen Mittel wird heute eine ungeheure Reklame, im Wesen kaufmännischen Charakters, ins Werk gesetzt. Fast als ob es den Vertrieb eines harmlosen Wassers, einer Art Odol, gelte! Und diese Reklame wendet sich schon an die grosse Masse, nicht mehr bloss an die dünnere I. Abteilung. Medizinische Sektion. 133 Oberschicht. Kaum bekommt heute jemand ein Kind, so wird er mit Ratschlägen zur Verhütung des zweiten Kindes überschüttet. „Ein einfacher Eisenbahnarbeiter in einer kleinen Stadt West- falens erhielt,“ so erzählt der „Volkswart“, Organ des Verbandes der Männervereine zur Bekämpfung der öffentlichen Unsittlichkeit in Cöln, „unmittelbar nach der Geburt seines ersten Kindes nicht weniger als 23 Prospekte betreffend Kinderverhütung.“ Die standesamtliche Nachricht hatte den Fabrikanten und Händlern die Adresse des Mannes in die Hand gespielt. Auch auf dem Lande, das man vielleicht unberührt meint, hat sich diese Propaganda ungeheuer ausgebreitet. Hier steht der Hausierer, der gewerbsmässige und der unbefugte, in ihrem Dienst. Es ziehen, so sagt ein Bericht, allerlei Leute, heimlich oder mit einem Wandergewerbeschein für Fliegenfallen, Regenschirme, Leinen, Wachs- und Ledertuche, Baumwollen-, Kram- und Spiel- waren u. dgl. m., im Aufträge centraler Geschäftshäuser umher, benutzen besonders die Zeit, wo die Ehemänner nicht zu Hause sind, und bringen das Volk, zumal die Frauen, auf Dinge, von denen sie bisher noch nichts wussten; die Gerichtsverhandlungen ergeben das. Im übrigen gehen, sagt der Bericht weiter, Pro- spekte, zum Teil mit unglaublichen Abbildungen, oft verblümten Inhalts, in die ganze Welt hinaus, werden manchmal mit grösstem Raffinement an die Leute gebracht, so z. B. auf Grund der Standes- amtsnotizen an junge Eheleute oder nach der Geburt des ersten Kindes. Da wird erst gratuliert, dann auf die „Hygiene“ der Ehe hingewiesen, die Einforderung näherer Ratschläge anheim- gestellt und, sofern eine solche Einforderung erfolgt, irgendein Mittel gegen die Conception zu hohem Preise nebst Prospekt und Anpreisung übersandt. Diese Art des Vorgehens hat ihre guten Gründe. Denn da ein Rat erbeten ist, kann die Erteilung des- selben nicht als Beleidigung, öffentliche Anpreisung u. dgl. be- trachtet werden, die den Urheber in Strafe fallen lassen würden. Es ist klar, dass auch hier überall einzusetzen sein wird. Kriminell verfolgt werden gegenwärtig in Deutschland meiner Berechnung nach vielleicht 5 Abtreibungen auf 1000, dabei ist diese Quote aber gegenüber anderen Ländern, wie Sie meinem Buche entnehmen können, überaus hoch. Anderwärts ist das Auge des Gesetzes nicht so wachsam wie in Deutschland. Ist die Ziffer auch bei uns erstaunlich niedrig, so bin ich trotzdem nicht geneigt, strengerer strafrechtlicher Verfolgung der Abtreibung, soweit die Person der Abtreibenden selbst in Frage kommt, das Wort zu reden; ich fürchte vielmehr, dass dabei mehr geschadet als ge- nützt wird. Dagegen dürfte es allerdings angebracht sein, wie auch von anderer Seite bereits mehrfach vorgeschlagen, jede direkte und indirekte Anreizung oder Anlockung zur Ab- treibung unter Strafe zu stellen. Leicht wird die Durchführung auch einer solchen Bestimmung nicht sein. Denn über diese Dinge wird heute ganz harmlos zwischen Frau und Frau gesprochen, und was da Anreizung und Anlockung ist, das festzustellen ist auch für den Kriminalisten keine leichte Aufgabe. Und wovor 134 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. wir uns hüten müssen, ist eine moderne Inquisition auch auf diesem heikelsten aller Gebiete. Erwägung verdienen dagegen sicher strengere Anweisungen an die Hebammen — ich dachte gelegentlich sogar an die „Ver- staatlichung des Hebammenberufs“, an die Zuteilung des Beamten- charakters an dieselben im Interesse von vielerlei Dienst- leistungen der Volkshygiene, die ihnen zugeteilt werden könnten, habe mich dann aber Bedenken gefügt, die eine solche Verstaat- lichung wecken müsste — , wie vor allem auch eine Einschränkung der maasslosen Propaganda für die Mittel der Prävention. Die Vorrathaltung dieser Mittel auf Apotheken zu beschränken und die Abgabe vom ärztlichen Rezept abhängig zu machen, hat leider wieder auch eine bedenkliche Seite, denn sie leistet der der Volks- gesundheit weit schädlicheren Abtreibung Vorschub. Jedenfalls wird darüber hinaus meines Erachtens nicht zu gehen sein. Insbesondere erscheinen mir die bekannten Winckel’chen Vorschläge zur Ver- hütung der Abtreibung eine gröbliche Verkennung dessen, was unserer Zeit zugemutet werden kann. Wer für strengere Maass- nahmen eintritt, wolle nicht übersehen, dass sie doch nicht durch- zusetzen sein oder, wie schon erwähnt, mehr Unheil als Wohltat stiften würden. Bereits ist ja auch ein Anfang gemacht, nämlich in einzelnen Regierungsbezirken Preussens begonnen worden, der Präventivpropaganda in der Ehe, die ja nicht den Zweck hat, die Uebertragung von Geschlechtskrankheiten, sondern einzig und allein die Konzeption zu verhindern, durch Erschwerung der Er- langung der standesamtlichen Nachrichten für die in Frage kommenden Präventivmittelfirmen zu steuern. Auch wird die den Präventivverkehr empfehlende Literatur hin und wieder schärfer überwacht. Bezirksweise werden Broschüren, in deren Inhalt auch eine Vorschubleistung an die Unzucht zu erblicken ist, kon- fisziert. Mit Bezug auf zweideutige Annoncen ist sogar eine inter- nationale Verständigung vorgeschlagen worden. Indess sollte ge- nügen, wenn jeder Staat für sich ein wachsames Auge darauf hat. Speziell in Deutschland dürfte aber eine Ergänzung der vorhandenen Strafmittel bei der Reform des Strafgesetzbuchs trotz aller, von mir nicht übersehener, Schwierigkeiten ernstlich ins Auge zu fassen sein. Soviel über die Möglichkeiten, durch Einwirkung auf die „öffentliche Meinung“ in diesen Dingen, der dann auch die Aerzte untertan sind, und durch die Bekämpfung der „Auswüchse“ der Prävention usw. etwas zu erreichen. Das ist, wie ich vorhin sagte, das eine gegen den Geburtenrückgang aufzubietende „Armeekorps“. Die Aufgabe des zweiten ist ganz anders bezeichnet. Hier handelt es sich darum, in die materiellen Erwägungen, die den Entschluss der Eltern bedingen, einen Faktor einzuführen, der die Rechnung sich zugunsten einer grösseren statt einer kleineren Kinderzahl verschieben lässt. - Also Förderung des Kinder- segens durch Verminderung der für die Eltern aus den Kindern erwachsenden materiellen Last, durch direkte Unterstützung kinderreicher Eltern und, als Gegenstück, auch be- hufs Aufbringung der Mittel dazu, verstärkte Heranziehung der I. Abteilung. Medizinische Sektion. 135 Personen, die sei es der Ehe, sei es den Kindern aus dem Wege gehen. Auch hier sind bisher nicht mehr als ganz schüchterne Ansätze zu verzeichnen. Auch hier lässt sich aber, wenn schon sicher nicht alles — ich gebe mich darüber keinen Illusionen hin — , so doch vieles leisten! Die Staffelung der Maassnahmen, um die es sich handeln kann, ist folgende: 1. Heiratsförderung durch a) Junggesellen- steuern, b) Steuerbegünstigung und, soweit das Interesse des Dienstes es gestattet, c) weitere Bevorzugung von Familienvätern im Staats- wie überhaupt im öffentlichen Dienste, womöglich auch in dem privater Unternehmungen; 2. Förderung des Kinder- segens, d. h. grösserer Kinderzahl, durch Ausbau des Kinder- privilegs bei steigender Zahl Kinder im Rahmen der Ein- kommen-, vielleicht auch der Vermögenssteuer, wie durch Ge- währung von Kinderzulagen und von Erziehungsbeiträgen für Kinder, wenn eine bestimmte Zahl erreicht wird. Zu stärkerer Wirkung wäre innerhalb dieser Gruppe von Maassnahmen die direkte Aufziehung von Kindern durch Staat oder Gemeinde berufen. Hier wäre dann auch eine Berücksichtigung der eigent- lichen Stiefkinder unserer Gesellschaft, nämlich der unehelichen, die ihrerseits eine Schuld daran, dass sie unehelich sind, sicherlich nicht tragen, möglich und dringend erwünscht. Um auf das Nähere einzugehen! Die Zahl der Eheschliessungen ist in jüngerer Zeit im Sinken. 1908 hatten wir 82 Eheschliessungen auf 100 Einwohner des Deutschen Reiches, 1907 hatten wir deren 81, 1908 80, 1909 78, 1910 77. Insgesamt ist die Ziffer für ein Land alter Kultur aber nicht als niedrig zu bezeichnen, denn Frankreich hatte bei einer grösseren Zahl heiratsfähiger Menschen auch nur 79 Ehe- schliessungen im Jahre 1910, Oesterreich sogar nur 75, Eng- land 74, die amerikanische Union freilich 90 und darüber, bis an (beispielsweise im Staate Michigan 1907) 110. Was die Zahl der Junggesellen betrifft, so zählten wir solcher 1900 4 300 000 im Alter von 20 bis 50 Jahren, also jenen Jahren, die für die Eheschliessungen und Fortpflanzung in Betracht kommen. Heute wird die Zahl rund fünf Millionen sein. An Unverheirateten fehlt es also nicht. Freilich schreiten nnter diesen Unverheirateten viele zur Heirat, solange sie es aber nicht tun, sind sie, mit Ausnahme der sogenannten geistigen Arbeiter, die eine längere Vorbereitung brauchen, und mit Ausnahme jener, die für Ange- hörige zu sorgen haben, zweifellos durchschnittlich von grösserer steuerlicher Leistungsfähigkeit als die Verheirateten, mindestens insoweit sich bei diesen die Ehefrau nicht dem Erwerb, vielmehr dem Hausstand widmet. Die Junggesellen sind von grösserer Leistungsfähigkeit nicht nur vermöge des Umstandes, dass sie nicht für Frau und Kinder zu sorgen haben, sondern schon ver- möge des für die Steuer vor allen anderen in Betracht kommenden Moments, dass sie bei dem Mangel solcher Zugehöriger viel weniger indirekte Steuer zahlen — ein Gesichtspunkt, der bisher, soviel ich sehe, unberücksichtigt geblieben ist, während gerade er die ernsteste Berücksichtigung verdient. Für uns kommt 136 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. allerdings des speziellen seine Anwendung für den Zweck der Geburtenförderung in Betracht. Mag der einzelne bis in höhere Jahre ehelos bleiben, gut — nicht nur zur Liebe und zu Kindern, auch zur Ehe kann man niemand zwingen — , aber, soweit er nicht für Angehörige zu sorgen hat und dadurch eine Ausnahmestellung begründet, ist er vermöge seiner höheren Leistungsfähigkeit zu höherer Steuer zu verhalten. Der Ertrag dieser Steuer kann ja dann direkt der Aufziehung von Kindern, die etwa des Versorgers entbehren oder die besonders kinder- reichen Familien entstammen, dienstbar gemacht werden, zumal auch die Frage eine Erwägung verdient, ob wir in der Tat gut tun, unsere Sozialpolitik vor allem den unproduktiven Elementen der Volksgemeinschaft, den Invaliden und den Greisen, dienst- bar zu machen und nicht mindestens gleichmässig jenen, von deren Produktivität die Volksgemeinschaft noch etwas zu er- warten hat. Bisher ist über Junggesellensteuern wohl des öfteren geredet worden, geschehen ist fast nichts. In Deutschland hat das Fürstentum Reuss einen schüchternen Anfang damit gemacht. Ausserhalb Deutschlands soll Argentinien eine wohl ausgebildete Junggesellensteuer besitzen, die für Männer von 20 bis 30 Jahren etwa 25 Mark, für solche von 30 bis 35 Jahren 50 Mark und für höhere Alter 120 Mark beträgt. In deutschen Staaten würde die Steuer selbstverständlich an die ja fast allgemein vorhandene Einkommensteuer anzulehnen sein. Reuss, das, wie Sie wissen, noch lange kein Prozent der deutschen Bevölkerung zählt, erhebt sie in dieser Weise mit 5 pCt. Zuschlag bei Einkommen von 300 bis 6000 Mark, mit 10 pCt. Zuschlag bei Einkommen in höherem Betrage. Zuschläge gleich diesen sind immer noch so gering, dass, wo immer sie zur Erhebung gelangen, sie kaum die Gefahr in sich schliessen, kranke, etwa geschlechtlich verseuchte oder tuberkulöse Junggesellen zur Heirat zu verführen. Für hohe Junggesellensteuern kann ich aus dem eben angedeuteten Grunde allerdings nicht sein. Das also über Mittel der Heiratsförderung. Was die Förderung grösserer Kinderzahl in einmal ge- schlossener Ehe betrifft, so schweben bekanntlich auch über das „Kinderpri vilegu unter der Einkommensteuer gegenwärtig in Preussen Verhandlungen. Bisher war und ist das Kinderprivileg als unzureichend zu bezeichnen, wenn auch der Fortschritt zu- nächst von 1906 auf 1909 unverkennbar ist. Es muss mit der Zeit nach Möglichkeit zu einem Betrage erwachsen, um eine wirkliche Beihilfe an die Eltern grösserer Familien zu sein, zumal auch hier wieder in Betracht kommt, dass bei grösserer Kinderzahl vom Familienvater mehr indirekte Steuer entrichtet wird als in kinderarmen und kinderlosen Ehen, so dass das Minus der dem kinderreichen Vater auferlegten direkten Steuer nicht viel anderes als ein ungefährer Ausgleich für das Mehr indirekter Steuer, welches er zu zahlen hat, ist. Wie das sogenannte Kinderprivileg, kommen für den Zweck der Förderung grösserer Kinderzahl Gehaltszulagen in Frage, ge- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 137 währt an die Väter kinderreicher Familien, d. h. ein Aufbau der Be- soldungen, wie er staatlicherseits gegenwärtig von Ungarn in An- wendung gebracht wird, anderwärts aber, wie in Frankreich, auch von seiten grosser Privatunternehraungen, hauptsächlich der Eisen- bahngesellschaften, ins Werk gesetzt wird. Schliesslich — last not least — wäre noch die Uebernahme der Erziehung jedes dritten, vierten Sohnes, vielleicht überhaupt jedes Kindes über das vierte oder fünfte hinaus, wenn sie den Eltern schwer fällt, durch Staat oder Gemeinde der Erwägung wert. Aber auch der unehelich Geborenen wird man sich ganz anders, sehr viel entschiedener und humaner, anzunehmen haben als bisher. Wir haben in Deutschland jährlich fast 200 OÜO un- eheliche Geburten, und ihre Zahl ist gerade in den Gegenden besonders gross, wo die Fruchtbarkeit gering ist. So hatte 1910 bei einem Durchschnittsstand in Deutschland von 9 (genau 9,1) pCt. unehelicher Geburten die Reichshauptstadt die doppelte Verhältnis- zahl, nämlich 20,9 pCt., ferner das durch seine niedrige Geburten- ziffer ausgezeichnete Königreich Sachsen rund 15 (genau 14,9) pCt., auch Hamburg, das wieder durch eine besonders niedrige Ge- burtenziffer exzelliert, 14,1 pCt. usw. Die Sterblichkeit der unehelichen Kinder ist als eine ganz besonders grosse seit langem bekannt. Sie erreicht nicht weniger als die doppelte Höhe jener der ehelich Geborenen. Fordert die Säuglingssterblichkeit überhaupt die energischste Bekämpfung, so sollten — ich wage diesen Ausspruch! — nicht zuletzt diese bisherigen Stiefkinder der Gesellschaft weiterhin ihre Schoss- kinder werden! Der Erfolg wäre nicht zuletzt ein Sinken der Kriminalität und der Kosten, die diese bedingt. Das sind also in weitem Rahmen die Umrisse einer Geburten- politik, wie sie mit den Mitteln des modernen Staates und ohne dem modernen Empfinden zu widerstreben, also mit der Aussicht auf Billi- gung auch der öffentlichen Meinung, wie der Parlamente, zweifellos in Frage kommt. Ich habe bloss einiges Näherliegende ausgehoben, indem ich für weiteres auf meine grössere Publikation verweise. Nahe mag die Frage liegen, ob nicht auch die physio- logische Fruchtbarkeit einer Hebung fähig sei. Im Durchschnitt ist sie freilich gross genug. Es ist aber nicht unbekannt, erstens, dass vielfach ursprüngliche Unfruchtbarkeit bei Mann oder Frau zu verzeichnen ist mit dem Erfolg, die Ehe kinderlos zu machen, und zweitens, dass ursprünglich vor- handene Fruchtbarkeit beider Teile verloren gehen kann. An solchem Verluste tragen hauptsächlich Geschlechtskrankheiten die Schuld. Jede Verminderung der Geschlechtskrankheiten, ist darum geeignet, die Geburtenziffer der Nation zu erhöhen. Gegen die Geschlechtskrankheiten ist also das „dritte Korps“ der zum Kampf für eine höhere Geburtlichkeit aufzubietenden Armee mobil zu machen. Ob die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten in Deutsch- land in Zunahme oder in Abnahme begriffen ist, darüber sind die Meinungen geteilt. Die in meinem Buche „Der Geburtenrück- 138 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. gang“ mitgeteilten Daten sind zum Teil geeignet, der pessimisti- schen, zum anderen der optimistischen Auffassung Recht zu geben. Ich entschied mich schliesslich dahin, dass eine Vermehrung der Krankheitsfrequenz nicht behauptet werden könne. Gegen eine solche Zunahme spricht der vermehrte Gebrauch von Präventiv- mitteln jeder Art. Ich bin bei weiterer Beschäftigung mit dem Gegenstände jedoch nicht in der Lage, diese Annahme aufrecht- zuhalten. Denn die Abwanderung in die Städte, die „Urbani- sierung“ der Nation bedeutet ihre Zugänglichmachung für Ge- schlechtskrankheiten in ganz anderem Maassstabe als bisher. In den Städten wuchern die Geschlechtskrankheiten in zunächst unvermutetem Maasse. Eine in Preussen 1900 vorgenommene Zählung hat fest- gestellt, dass an einem bestimmten Tage dieses Jahres, am 1. April, wegen Geschlechtskrankheiten in ärztlicher Behandlung waren: auf je 100 000 Einwohner in Berlin 1870 „ Städten mit über 100 000 Einwohnern . . 1280 „ „ von 30 — 100 000 „ . . 750 „ „ mit unter 30 000 „ . . 620 „ Kleinstädten und Landgemeinden .... 96 Auf dem Lande Geschlechtskrankheiten also eine Seltenheit, in der Gross- und gar in der „Grösststadt“ fast die Regel! Diese preussischen Ziffern stehen in keiner Weise vereinzelt da. Sie scheinen vielmehr ein internationales Phänomen wiederzu- geben, hängen mit gewissen Unterschieden des Sexualverkehrs in Stadt und Land zusammen. So ist auch für Dänemark auf Grund zehnjähriger Beobachtung konstatiert, dass Kopenhagen etwa 53 mal stärker von Geschlechtskrankheiten heimgesucht ist als das platte Land. Blaschko, der zweifellos beste Kenner der Frage bei uns, äussert die Vermutung, dass, würde man in unserer Statistik das flache Land nach dänischem Muster ganz von den Städten trennen, sich für die geschlechtliche Ansteckung in Preussen in Stadt und Land ziemlich das gleiche Verhältnis ergeben würde wie in Däne- mark ! Also auf rund einen auf dem Lande geschlechtskranken Menschen nicht weniger als 50 in der Hauptstadt! Bedingt ist dieses ungeheure Ueberwiegen der Städte in Hinsicht der Geschlechtskrankheiten 1. durch die Ermöglichung eines rascheren Wechsels der Person, zu welcher geschlechtliche Beziehungen angeknüpft werden — auf dem Lande und in der Kleinstadt ist die Verbindung beider Geschlechter eine ungleich stetigere, der in der Stadt die Regel bildende Wechsel der Person trägt eine etwa vorhandene Infektion aber immer weiter. Daneben spielt in der Stadt natürlich 2. der durch die Prostitution repräsentierte Krankheitsherd — auf dem Lande ist dieses Institut fast unbekannt — und endlich etwa 3. die in der Stadt, dank ihrer vielfachen Reizungen und Gelegenheiten wohl viel eifrigere geschlechtliche Betätigung eine Rolle. Freilich mag in der Stadt auch die Registrierung der Geschlechts- krankheiten, die Inanspruchnahme des Arztes dafür die voll- ständigere sein und sich dadurch die Ziffer als eine höhere berechnen. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 139 Insgesamt übersteigt aber die zahlenmässige Vertretung der Ge- schlechtskrankheiten in den Städten dem Lande gegenüber jede Vorstellung. Nun ist, wie schon erwähnt, gleich den anderen Nationen auch die deutsche im Laufe der letzten Jahrzehnte immer mehr Stadtnation geworden. Dieser Umstand wird den Schluss auf eine Zunahme der Geschlechtskrankheiten im Reichs- oder Landesdurchschnitt nicht nur gestatten, ihn vielmehr auf- drängen. Er wird denn auch von Sachkennern nicht abge- wiesen. Für’s erste scheinen die mitgeteilten Ziffern allerdings auszu- sprechen, dass trotz des ungeheuren Ueberwiegens der Geschlechts- krankheiten in den Städten insgesamt der geschlechtlich zeitweilig kranke Teil des Volkes gering ist, selbst in Berlin noch nicht 2 Personen auf 100 und in ganz Preussen — ich folge hier immer den offiziellen Ziffern — noch nicht ganz eine Person (genau 0,96) auf 1000. Wenn man dem daun gegenüberstellt die Tatsache, dass es in Russland, welches uns populationistisch am meisten bedrängt, Kreise gibt, wo die Syphilis endemisch auftritt und bis 95 pCt. der Bevölkerung verseucht hat, so möchte man über die verhältnismässige Gesundheit unseres Volkes frohlocken. Doch geben jene Ziffern in Hinsicht der Verbreitung der Geschlechtskrankheiten bei uns ein ganz falsches Bild. Dass sich an der fraglichen Enquete, die allen an dem vorgenannten Tage in Behandlung stehenden über 15 Jahre alten Geschlechtskranken galt, nur 63 pCt. der Aerzte be- teiligt haben, fällt minder stark ins Gewicht, dieses Faktum würde eine Erhöhung der gefundenen Ziffern nur um etwa die Hälfte (37 pCt. sind etwas über die Hälfte von 63 pCt.) bedingen. Wesentlich anders präsentieren sich die Daten dagegen, wenn man bedenkt, dass für die Heilanstalten erwiesenermaassen die jährliche Erkrankungsziffer etwa das Zwölffache der Ziffer ihres jeweiligen Krankenstandes beträgt, für die ambulante Behandlung vielleicht das Sechsfache oder etwas mehr, ferner, dass nach Aussage erster dermatologischer Autoritäten in Berlin jährlich 60 — 190 pro Tausend der männlichen Bevölkerung an Gonorrhöe erkranken und 24 pro Tausend an Lues. Das ergibt eine jährliche Erkran- kungsziffer in Berlin schon von 10 bis 20 pCt. der Männer — die Frequenz schwankt, wir haben bekanntlich eine merk- würdige Periodizität in dem Auftreten der Geschlechtskrankheiten, ein regelmässiges Auf und Ab in zehn- bis zwölfjährigem Cyklus — , also das Fünf- bis Zehnfache der zunächst genannten Ziffer. Die Periode der Infektionsgefahr ist natürlich, je nach der sozialen Lage der einzelnen, von verschiedener Dauer. Sie ist für den früh heiratenden Arbeiter geringer als für den Angehörigen der sogenannten besseren Kreise, der im allgemeinen kaum vor dem 30. Lebensjahre heiraten kann. In diesen 10 Jahren infiziert sich aber durchschnittlich jeder einmal, verschiedene mehrfach mit Gonorrhöe. Mit Lues wird durchschnittlich eine von fünf bis sechs Personen infiziert. Angenommen wird nun aber weiter, dass die absolute und Einkindsterilität zu beinahe 50 pCt. auf früherer Tripperinfektion beruht. Man kann danach beurteilen, in welchem Aus- 140 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. maasse Geschlechtskrankheiten bzw. die Agglomeration der Bevölke- rung in den Städten auch unter diesem Titel die Schuld daran trägt, dass die Geburtenziffer nicht höher ist. Kompetente Beurteiler glauben auf Rechnung der Geschlechtskrankheiten einen jährlichen Ausfall an Geburten in Deutschland von 200 000 setzen zu sollen, und alles spricht dafür, dass diese Schätzung nicht daneben geht, vielmehr ziemlich das Richtige trifft. Es ergibt sich daraus als Fazit dieses Teils der Untersuchung, dass der Kampf gegen die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten wieder auch ein Kampf für Erhöhung der Geburtenziffer ist. Als ein radikales Mittel in diesem Kampf ist die Einführung einer unentgeltlichen Behand- lung der Geschlechtskranken vorgeschlagen worden. Ich habe kein abschliessendes Urteil darüber, ob dieselbe möglich ist. Ich verkenne in keiner Weise die Schattenseiten einer solchen Maass- regel. In weitem Umfange haben wir sie heute schon. Trotzdem halte ich ihre Ausdehnung für in hohem Grade erwägenswert (schon um den hier viel benutzten Kurpfuschern ihre Kundschaft zu nehmen). Auf diese Weise rückte man den Seuchen wirklich erfolgreich an den Leib und könnte man mit Sicherheit auf eine allmähliche Einschränkung, einen allmählichen Rückzug dieses fürchterlichen Volksfeinds rechnen, so dass die mit der irregulären geschlecht- lichen Vereinigung heute noch verbundene Gefahr der Infizierung und danach die Inanspruchnahme ärztlicher Behandlung aus diesem Anlass immer geringer würde. Auch hier würde es sich also, was für mich hauptsächlich in Betracht kommt, um eine Maassnabme moderner Geburtenpolitik, und zwar um eine solche von eminenter Bedeutung handeln, weil sie sozusagen automatisch und mit zahlenmässiger Sicherheit uns allmählich ein wesentliches Mehr an Geburten — abgesehen von allen Vorteilen — brächte. ❖ * * So sehen wir denn, m. D. u. H., dass es nicht an Mitteln fehlt, den Geburtenrückgang unserer Zeit einzudämmen und den Zeit- punkt hinauszuschieben, wo wir so wie heute Frankreich beim Bevölkerungsstillstand angekommen sind. Zeit gewonnen heisst hier aber, wenn auch nicht alles, so doch vieles gewonnen! Der Italiener Mortara meinte vor kurzem: „Ein halbes Jahrhundert Verzögerung des Geburtenrückgangs kann einer Nation die Weltherrschaft sichern.“ Wir Deutsche streben die Weltherrschaft nicht an, wollen aber die Sicherheit der Selbst- behauptung. Ein halbes Jahrhundert den Geburtenrückgang „hinauszuschieben“, können wir uns ja auch darum keinesfalls vermessen, weil wir in diesem Geburtenrückgang bereits „mitten drinnen“ stehen. Aber das nationale Interesse weist uns darauf hin, alles zu tun, und zwar alles so früh als möglich zu tun, was den Augenblick des Bevölkerungsstillstandes hinaus- zuzögern vermag. Es ist nicht zu übersehen, dass in diesen Dingen gerade genug bereits versäumt worden ist. Wolle sonach dem Verzicht auf jedes Eingreifen, dieser „Vogelstrausspolitik“, diesem Nichtsehenwollen und der sich daran knüpfenden Taktik 1. Abteilung. Medizinische Sektion. 141 der verschränkten Arme, des „Laissez faire, laissez passer“, end- lich ein Ende gemacht sein. Zuviel steht auf dem Spiele. Die Frage, welche Mittel wir besitzen, dem Geburtenrückgang zu steuern, verdient die ernsteste Erwägung jedes Patrioten. Dass wir solche Mittel besitzen, reichlich besitzen, hoffe ich Ihnen, ursprünglichen Zweifeln gegenüber, auch dann dargetan zu haben, wenn dieser oder jener Weg sich als nicht gangbar erweist. Anspruch auf Unfehlbarkeit mache ich so wenig als andere. Nur das Eine glaube ich: Es gilt zu handeln! In grossen Dingen genügt es nicht, gewollt zu haben. Grosse Dinge fordern, dass man das Mögliche an ihnen leiste! XIV. Zum Gallensteinileus. Von Alexander Tietze. M. H.! Unter der grossen, fast unübersehbaren Literatur des Ileus nehmen meines Erachtens die Arbeiten von v. Wahl und seinen Schülern v. Zoege- Manteufel und Kader mit die aller- erste Stelle ein. Zum ersten Male wurde hier der erfolgreiche Versuch gemacht, die Diagnose über den allgemeinen Begriff Ileus hinauszuführen und Art und Sitz des Hindernisses vor der Ope- ration oder noch zu Lebzeiten des Patienten zu bestimmen. Seit- dem haben wir in jedem Falle denselben Gedankengängen nach- zugehen. Natürlich soll keinesfalls verkannt werden, welch grosses Verdienst auch zahlreiche andere Forscher, vor allen Dingen Leichtenstern, Naunyn und seine Schule, Kocher, Schlange, Reichel, Wilms u. a. sich nach dieser Richtung hin erworben haben, aber doch möchte ich glauben, dass die Wahl’sche Lehre das Fundament geworden ist, auf dem wir weiter zu bauen haben. Ich habe in den letzten sieben Jahren über 100 Ueusoperationen teils auf meiner Hospitalabteilung, teils in meiner Privatpraxis gehabt. Wir haben uns in allen Fällen Mühe gegeben, eine topische Diagnose zu stellen, und ich muss sagen, dass wir aller- dings einige höchst bemerkenswerte Ausnahmen von den Wahl- schen Regeln beobachtet, dass wir ferner in einer Anzahl von Fällen die Symptome falsch bewertet haben und die Diagnose verfehlten, dass wir aber in grossen Zügen das Wahl’sche Gesetz bestätigt gefunden haben. Der Gallensteinileus, über den ich heute kurz sprechen will, ist ein Schulbeispiel dieser Art. Ich gedenke keine klinische Studie über diesen Gegenstand zu geben, sondern ich möchte nur die Frage der Diagnostik mit einigen Worten streifen. Wahl hat bekanntlich zwischen Obturationsileus und Strangu- lationsileus streng geschieden. Bei der Obturation wird das Darm- lumen nur an einer Stelle unterbrochen, eine Circulationsstörung, eine Lähmung der Nerven findet durch den Akt des Verschlusses nicht statt, die Peristaltik ist infolgedessen nicht gelähmt, sondern im Gegenteil kämpft der Darm gegen das Hindernis an, die Peristaltik ist vermehrt, es erscheinen Darmsteifungen, es werden lebhafte Darmgeräusche wahrgenommen. Um so lebhafter wird die Szene, als der Verschluss sich häufig aus einer Stenose ent- I. x^bteilung. Medizinische Sektion. 143 wickelt, welche der Darmmuskulatur oberhalb des Hindernisses Gelegenheit gegeben hat, an Maass und Kraft zuzunehmen. Dem- gegenüber bedingt die Strangulation, welche das Darmlumen an zwei Stellen unterbricht, gleichzeitig eine Unterbrechung der Blut- zufuhr oder jedenfalls eine schwere Schädigung derselben, sie be- dingt ferner eine erhebliche Beeinträchtigung des nervösen Appa- rates teils direkt durch Kompression, teils durch indirekte Be- einflussung im Sinne einer herabgesetzten Speisung mit Blut — die Folge sind schwere Ernährungsstörungen der strangulierten Schlinge, Blähung derselben (lokaler Meteorismus) und vor allen Dingen aufgehobene Peristaltik zunächst an der strangulierten Schlinge, aber in weiterer Folge zunächst reflektorisch auch am übrigen Darm. Sind in pathologisch-anatomischer Beziehung noch zahlreiche Details zu beobachten, so spielt klinisch für die Diffe- rentialdiagnose doch das gegensätzliche Verhalten der Peristaltik in beiden Abarten des Ileus die Hauptrolle. Allerdings erfährt die Verwertung dieser Erscheinung insofern eine erhebliche Ein- schränkung, als eine Peritonitis gleichfalls die Peristaltik lähmt, so dass also in späteren Stadien einer Obturation von einer Ver- mehrung der Peristaltik keine Rede mehr ist, sondern auch hier eine vollkommene Darmruhe Platz greift. Gegenüber diesen beiden Arten von Darmverschluss gibt es nun aber bekanntlich eine dritte Art von Ileus, den dynamischen, paralytischen, die Darmlähmung, wie sie entweder toxisch oder reflektorisch erzeugt sein kann und sich in letzterer Form an die verschiedensten Unterleibsaffektionen, Gallen- und Nierenkolik, Stieldrehungen verschiedener Bauchorgane, Hodentorsion usw. an- schliessen kann. Auch hier also Darmruhe und daher nicht selten eine erhebliche Schwierigkeit, den dynamischen Ileus von dem durch Strangulation bedingten zu unterscheiden. In vielen Fällen gibt ausser der Anamnese die Art vorhandener Schmerzen einen gewissen Anhaltspunkt für die Diagnose. Auch bei der Strangu- lation kann im Anfang sehr heftiger Schmerz auftreten, der die Patienten in schwerstem Shock zu Boden wirft, er pflegt aber doch nicht so anhaltend zu sein und sich so lange und lebhaft zu wiederholen, wie z. B. bei einer Nieren- oder Gallensteinkolik und dem dadurch bedingten Ileus. Auch spielt bei letzteren Affektionen eine lokale Muskelspannung, eine lokale Druck- empfindlichkeit eine grosse Rolle. Ferner ist wichtig das Er- brechen. Initiales Erbrechen findet sich bei allen Arten des Ileus, es ist aber besonders stürmisch und anhaltend bei den Formen der reflektorischen Darmläbmung, wie sie auf Nieren- oder Gallen- steinkoliken zurückzuführen sind. Hier scheint der Reiz des ein- geklemmten Steines immer wieder das ihn umklammert haltende Rohr zur Zusammenziehung anzuregen und dadurch einen Einfluss auf den nervösen Apparat des Darmes zu gewinnen. Das Er- brechen besteht dabei in diesen Fällen in der Regel nur aus Mageninhalt. So stehen also auch für die Abgrenzung einer reinen Darm- lähmung von einem Strangulationsileus mannigfaltige Symptome zur Verfügung, wenn auch durchaus zugegeben werden muss, dass 144 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. diese Scheidung nicht immer gelingen wird, namentlich nicht immer die Lösung der Frage: Ileus oder Peritonitis? Ich kann auf die mannigfaltigen anderen Gesichtspunkte, die hier noch in Frage kommen: Meteorismus, Form des Abdomens, Palpationsbefund, Röntgenuntersuchung im Rahmen einer kurzen Demonstration, nicht näher eingehen, ich möchte nur noch einmal auf das Erbrechen zurückkommen. Schon v. Wahl hat darauf hingewiesen, dass es Fälle von Dickdarmverschluss gibt, bei denen der Darm ganz kolossal, stärker als ein Arm gebläht sein kann und wo nicht ein einziges Mal Erbrechen aufgetreten ist. Ich habe einen solchen Fall, wo nach initialem Erbrechen dasselbe bis zu der nach acht Tagen erfolgenden Operation — es handelte sich um ein Flexurcarcinom — überhaupt nicht mehr- eintrat, vor wenigen Tagen operiert. Bei einem Verschluss des Dünndarmes ist das nicht der Fall, hier tritt das Erbrechen frühzeitig ein und nimmt frühzeitig einen fäkulenten Charakter an. Wenn also nach anfänglichem Erbrechen nach kurzer Pause, d. h. mehreren Stunden, einem halben oder ganzen Tage wieder Erbrechen ein- tritt, und zwar reichlich, so halte ich mich für berechtigt, einen Dünndarmverschluss anzunehmen und stütze mich dabei auf die von uns gemachten Beobachtungen. Die Frage, ob Strangulations- oder Obturationsileus, wird dadurch nicht berührt, wohl aber die Entscheidung der anderen: Wo sitzt das Hindernis? Ein Schulbeispiel für die entwickelten Anschauungen bieten nun die Fälle von Gallensteinileus. Ich beginne mit der Schilde- rung des zuletzt beobachteten Falles. Eine 55 Jahre alte Frau wird vor einiger Zeit in meine Privat- klinik eingeliefert; es war an einem Donnerstag. Am Dienstag früh hatte sie den letzten Stuhlgang, in der Nacht von Dienstag zu Mittwoch wurde ihr schlecht, sie hatte Schmerzen im Leibe und musste heftig Galle erbrechen. Danach wurde ihr besser, aber am Mittwoch und Donnerstag hatte sie noch mehrfach sehr heftiges Erbrechen, das teils galligen, teils angeblich kotigen Charakter trug. Stuhl und Blähungen seit Dienstag früh nicht mehr vorhanden. Schmerzen im Leibe massig. Pat. war früher immer gesund, hat drei Kinder gehabt, litt viel an Magenschmerzen und konnte Kaltes nicht vertragen. Gelbsucht hat sie nie gehabt, niemals Gallensteinkoliken, keinen „sogenannten Magen- krampf“. Pat. von mittlerem Kräfte- und Ernährungszustand. Temperatur bei der Aufnahme am Abend 37,6, Puls 92, etwas weich, Pat. leicht cyanotisch. Abdomen leicht meteoristisch, namentlich in den unteren Partien, keine Reliefs von Darmschlingen, nicht druckempfindlich, keine abnorme Muskelspannung, keine Resistenz, überall gleichmässig tympa- nitischer Klang. Bruchpforten frei, per rectum und per vaginam kein Befund. Bei der Auscultation des Abdomens deutliche Darmgeräusche zu hören, keine Darmsteifungen zu sehen. Urin enthält Eiweiss, Gallen- farbstoff, Indikan. Es war also vorhanden: deutliche Peristaltik, frühzeitiges, anhaltendes und sich in kurzen Pausen wiederholendes Er- brechen. Ich diagnostizierte daraufhin einen Obturatonsileus im Dünn- darm. Ferner figurierten in der Anamnese eigentümliche Magen - beschwerden, die mir, namentlich bezüglich der Intoleranz gegen kalte Getränke, sehr charakteristisch für eine Gallensteinanamnese I. Abteilung. Medizinische Sektion. 145 erschienen, wenn auch Gallensteinkoliken und Magenkrampf direkt ab- geleugnet wurden. Daraufhin nahm ich also einen Gallensteinileus im Dünndarm (der Gallensteinileus sitzt meist im Dünndarm) an. Die Operation bestätigte die Diagnose. Nach wenigen Minuten hatte ich den Stein in der Hand. Nun trat allerdings etwas Unangenehmes ein. Die Pat., die eine sehr schlechte Narkose von Anfang an hatte, fing an zu würgen und zu pressen, die Eingeweide quollen heraus, und wir hatten grosse Mühe, die Operation zu beenden. Der von uns extrahierte Stein zeigte eine Länge von 4 cm, einen Querdurchmesser von 2 cm, er zeigte eine breite Facette, es musste also noch ein zweiter Stein vorhanden sein. Ich suchte den Darm noch nach einem solchen ab, konnte aber nichts finden und wurde im übrigen in der Orientierung durch die eben geschilderten Schwierigkeiten in der Narkose sehr behindert. Nach der Operation hielt das Erbrechen unverändert an. Ich fürchtete, dass doch noch ein zweiter Stein im Darm stecken konnte und eröfinete nach 36 Stunden noch einmal das Abdomen. Es bestand frische Peritonitis, ein Stein war im Darm nicht mehr vorhanden. In der Gallenblasen- gegend bestand ein grosser derber Tumor, der aber nicht klargelegt werden konnte. Es handelte sich um ein Konglomerat von Verwachsungen zwischen Gallenblase, Duodenum, Magen. Am nächsten Tage, Sonntag, starb die Patientin. Bei der Obduktion fand sich noch ein dem ersten fast gleich grosser Stein in der Gallenblase, der in eine grosse Per- foration zwischen Gallenblase und oberem Abschnitt des Duodenums dicht unter dem Pylorus hineinragte. Die Gallenblase war brandig, perforiert, von hier aus war die Peritonitis ausgegangen. Die Darmnaht war intakt. (Demonstration des Präparates.) Der vorgestellte Fall ist zunächst in diagnostischer Beziehung sehr interessant, und das war der Grund der Vorstellung. Er stützt glänzend die Wahl’sche Lehre. In der Regel wird es auch bei anderen Fällen von Gallensteinileus gelingen, die Diagnose vor der Operation mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu stellen. In zwei anderen Fällen, über die früher schon in dieser Gesell- schaft berichtet wurde, gelang es uns gleichfalls, und bei den neueren Fällen aus der Literatur treffen wir dasselbe Verhältnis. Interessant trotz des unangenehmen Ausgangs sind auch andere Einzelheiten der Beobachtung. Nach der Arbeit von Leske1) haben nur sehr wenige Autoren (Schüller, Rehn, Brentano) den Rat gegeben, prinzipiell bei einem Gallensteinileus die Gallenblase und Gallenwege zu in- spicieren. Das ist in gewisser Beziehung auch verständlich. Der Zustand der Patienten ist, wenn sie zur Operation kommen, meist derart, dass man nicht allzuviel Zeit mehr zu verlieren hat; alle überflüssigen Manipulationen sollen vermieden werden, das Ab- suchen der Gallenwege erfordert aber nicht aur Zeit und Mühe, sondern es erscheint auch in vielen Fällen wenig aussichtsreich, ja gefährlich. Man muss bedenken, dass der Stein in das Duo- denum — das ist der gewöhnliche Ort der Durchwanderung — nur durch Vermittlung eines entzündlichen Prozesses eintreten kann, der sich gewöhnlich jahrelang vorbereitet hat. Wir haben also — wie es auch bei unserem Falle war — einen derben, schwartigen, entzündlichen Tumor zu erwarten, in dessen Tiefe die Gallenblase versteckt liegt, ohne dass es gelingen könnte, bei 1) Deutsche Zeitschr. f. Chir., Bd. 94. Schlesische Gesellscli f. vaterl. Kultur. 1912. II. 10 146 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. einer Operation die Verhältnisse leicht und übersichtlich freizu- legen. Ja, man wird bei einem solchen Versuch leicht insofern Schaden anrichten, als man vielleicht vorhandene Abscesse er- öffnen, unversehens in das Darmlumen hineingeraten wird usw. Auf jeden Fall bleibt nach Extraktion eines noch in den Gallen- wegen liegenden Steines die Schwierigkeit der Versorgung des Darmes, dessen Lichtung in diesem Falle ja gleichzeitig mit Er- öffnung der Gallenwege breit miteröffnet ist. Auch bei uns würde — ganz abgesehen von der Schwierigkeit der Orientierung — der Verschluss des mit der nekrotischen Gallenblase kommuni- zierenden Darmes ein recht unangenehmes Problem gewesen sein. Also man kann den ablehnenden Standpunkt der meisten Chirurgen verstehen, und ich habe in den drei von uns operierten Fällen auch auf Grund derselben Abneigung eine Revision der Gallen- blasengegend nicht vorgenomraen. In einem Falle heilte der Patient, in einem Falle starb die Patientin 14 Tage später bei geheilter Wunde an einer Pneumonie, die Unterlassung einer lokalen Untersuchung der Gallenwege hatte sich — an sich — nicht gerächt. Indessen zeigt doch der letzte Fall, dass die Forderung der obengenannten Autoren richtig ist — es ist doch ein recht unbehagliches Gefühl, gar nicht zu wissen, was an der Durchtrittsstelle des Steines noch etwa vor sich geht; nach einer Operation soll man ungeklärte Verhältnisse nicht zurücklassen, das ist im allgemeinen leichtsinnig und unwissenschaftlich — , und so würde ich in jedem neuen Falle, der sich etwa bieten sollte, doch etwas gründlicher in dieser Beziehung vorgehen; sollte sich die Unmöglichkeit ergeben, das Terrain zu klären, so wird man sich allerdings mit dem Versuch bescheiden müssen, es erscheint mir dies aber immer noch richtiger, als diesen Ver- such gar nicht zu wagen. Besonders notwendig erscheint dies in dem Falle, wenn der gefundene Stein Facetten zeigt, also ein Solitärstein nicht sein kann. Dann noch eine Frage: Soll man einen Gallensteinileus, falls man ihn erkennt, sofort operieren, oder darf man hoffen, dass der Stein ohne Operation per vias naturales abgeht? Zieht man die Statistik zu Rate, so müsste man sich unbedingt auf den letzteren Standpunkt stellen, denn die Sache ist so, dass die Mortalität bei den operierten Fällen etwa 50 pCt., die bei ex- spektativem Verhalten 30 pCt. ausmacht. Trotzdem ist meiner Ansicht nach ein abwartendes Verhalten zu verwerfen. Die Statistik kann über solche Fragen keinesfalls entscheiden. Die Fälle sind in den beiden Kategorien an Schwere durchaus nicht gleichwertig. Es ist ja klar, dass die operierten Fälle durch- schnittlich diejenigen waren, bei denen schon eine Zeitlang ver- geblich abgewartet worden war. Nur in sehr wenigen Ileusfällen wird sofort der Chirurg zu Rate gezogen. Also auf statistischem Wege ist das Problem nicht zu lösen. Dagegen muss man doch zugeben: erstens, dass die operative Entfernung eines im Darm eingekeilten Gallensteines bei dem Fehlen von Komplikationen eine ziemlich ungefährliche Sache ist, und zweitens, dass das Abwarten an sich Gefahren bringt, die, abgesehen von allem I. Abteilung. Medizinische Sektion. 147 anderen, in der Gefahr der Druckusur des incarcerierten Steines auf die Darmwand beruhen. Diese Läsionen sind bei grossen Steinen an sich zu verstehen, aber auch kleinere werden bekannt- lich oft so fest von der Darmwand umschlossen — man hat ja über dieses Phänomen bekanntlich ausgiebig diskutiert — , dass auch sie leicht die Darmwand zu schädigen vermögen. Ich rate deshalb — in Paranthese gesetzt — auch bei der Entbindung des Steines nicht an der umklammernden Stelle einzuschneiden, sondern den Stein nach oben zu schieben und zu extrahieren. Die Darmnaht muss in gesundem Gewebe liegen. Diese Ueber- legungen also führen mich zu der unbedingten Empfehlung der Operation trotz der gegenteiligen Statistik. Etwas anderes wäre es, wenn man aus klinischen Zeichen erkennen würde, dass der Stein im Darm weiterwandert. Aber dies zu erkennen vermögen wir nicht. Es würde allerdings dieser Schluss z. B. erlaubt sein, wenn das Erbrechen aufhört. Dann könnte man annehmen, dass der Stein in den Dickdarm eingetreten ist. Aber wer will das Risiko dieses Abwartens tragen? Ein Patient, der, an Gallen- steinileus leidend, unoperiert stirbt, bedeutet auf alle Fälle einen schweren Vorwurf gegen die behandelnden Aerzte. Gelang es auch durch eine Operation nicht, den Patienten zu retten, so scheidet aus der Schuldfrage doch wenigstens das eine Moment aus, dass man eine naheliegende und natürliche Hilfe erst gar nicht versucht hat. 10* XV. Experimentelle Chemotherapie der bakteriellen Infektion. Von Dr. Richard Levy. Morgenroth und R. Levy1) konnten mit ihren gemein- schaftlichen Untersuchungen über die Chemotherapie der Pneumo- kokkeninfektion zum ersten Male den Nachweis dafür erbringen, dass es in der Tat möglich ist, eine fortschreitende bakterielle Infektion im Tierkörper selber durch chemische Agentien zu be- kämpfen. Es war uns in diesen Versuchen gelungen, die experi- mentelle Pneumokokkeninfektion der Mäuse, die bekanntlich in Form einer foudroyanten Septikämie bzw. Bakteriämie verläuft, nicht nur durch prophylaktische Anwendung von Aethylhydro- cuprein zu hemmen, sondern sie auch noch in eigentlichen Heilversuchen während ihres Verlaufs aufzuhalten. Ein grosser Prozentsatz der behandelten Tiere überlebte dauernd die Infektion und hatte einen hohen Grad aktiver Immunität erworben, bei den übrigen war eine zum Teil ganz erhebliche Verzögerung des Infektionsverlaufs eingetreten. Das Aethylhydrocuprein war das einzige Alkaloid der Chininreihe, mit dem wir zuverlässige Erfolge zu erzielen ver- mochten. Versuche mit wässerigen Lösungen der Salze des Chinins und Hydrochinins führten teils zu völlig negativen Er- gebnissen, teils war die zutage tretende Wirkung eine un- zuverlässige und verhältnismässig geringe zu nennen. Auch Fütterungsversuche mit Hydrochlorisochinin verliefen absolut negativ. Nachdem das Aethylhydrocuprein gegenüber seinem nächst niederen Homologon, dem Hydrochinin, eine so wesentlich höhere chemotherapeutische Wirksamkeit gezeigt hatte, war es die Frage, ob durch diese Veränderung des Chininmoleküls schon die optimale Heilwirkung erzielt war, ob und wie sie sich bei Ver- wendung höherer Homologe verhält. Nach den Untersuchungen von Morgenroth und Kaufmann2) scheint das Propylbydro- 1) Chemotherapie der Pneumokokkeninfektion. Diese Wochensohr., 1911, Nr. 34 u. 44. 2) Morgenroth und Kaufmann, Zur Chemotherapie der experi- mentellen Pneumokokkeninfektion. 6. Mikrobiologen-Tagung, Berlin 1912. Centralbl. f. Bakteriol., Bd. 54, Beiheft S. 69. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 149 cuprein um weniges toxischer zu sein, auch ihm kommt eine er- hebliche Wirkung gegenüber der Pneumokokkeninfektion zu, die aber diejenige des Aethylhydrocupreins zum mindesten nicht übertrifft. Das Studium weiterer Homologe ist in Aussicht gestellt. Die Technik der Versuche hat seit den ersten Mitteilungen von Morgenroth und Levy eine wesentliche Verbesserung, und die Ergebnisse damit haben eine sicherere Stabilisierung erfahren. Während wir damals mit wässerigen Lösungen des schwefelsauren und salzsauren Salzes des Aethylhydrocupreins gearbeitet hatten, vermochten Morgenroth und Halberstädter durch Verwendung von öligen Lösungen der freien Alkaloidbasen eine derartig zweck- mässige Modifikation zu finden, dass im prophylaktischen Ver- such mit Sicherheit 80 — 100 pCt. der Tiere die Pneumokokken- infektion dauernd überlebten. Auch unter diesen veränderten Be- dingungen hat das Aethylhydrocuprein seine überlegene Stellung gegenüber den auderen Chininderivaten gewahrt. Diese überaus ermutigenden Ergebnisse in der Chemotherapie der experimentellen Pneumokokkeninfektion der Mäuse mit dem Aethylhydrocuprein legten natürlich den Gedanken nahe, die Wirkung des Präparats auch bei anderen bakteriellen Infektionen zu studieren, speziell den dem Pneumococcus am meisten ver- wandten Kokkenarten. Versuche, die ich gemeinsam mit Morgenroth in dessen Laboratorium und auch in der hiesigen Klinik mit dem Strepto- coccus longus angestellt hatte, zeitigten lediglich negative Resultate. Dagegen erschien es mir aussichtsvoll, das Verhalten des Streptococcus mucosus einer genaueren Prüfung zu unter- ziehen. In unseren ersten Mitteilungen war hervorgehoben, dass wir besonders durch eine „Eigentümlichkeit der Pneumokokken, welche ie von den übrigen Bakterien, selbst von den morphologisch und biologisch nahestehenden Kokkenarten, unterscheidet und auf der anderen Seite ihr Verhalten dem gewisser Protozoen nähert“, uns zum Studium der Chemotherapie dieser Bakterienart veranlasst gesehen hatten. Diese Eigentümlichkeit ist das zuerst von Neufeld1) gefundene Phänomen der Auflösung der Pneumo- kokken durch Galle und gallensaure Salze. Im Anschluss an diese Beobachtung habe ich vor längerer Zeit eine Methode der Differenzierung der pathogenen Kokkenarten2) ausgearbeitet, die sich in der Folge bewährt hat. Bei diesen Untersuchungen konnte ich auch feststellen, dass neben dem Pneumococcus nur der Streptococcus mucosus durch gallensaure Salze aufgelöst wird. Auch aus seinen übrigen Eigenschaften durfte auf eine nahe Ver- wandtschaft mit dem Pneumococcus geschlossen werden. Der Stamm, mit dem die folgenden Versuche unternommen 1) Zeitschr. f. Hygiene, 1900, Bd. 34, S. 454. 2) R. Levy, Differentialdiagnostische Studien über Pneumokokken und Streptokokken. Virchow’s Archiv, Bd. 187. 150 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. sind, wurde mir von Herrn Privatdozent Dr. Oettinger vom Breslauer hygienischen Universitätsinstitut freundlichst überlassen^ er war aus dem Lumbalpunktat einer Meningitis gezüchtet und zeigte Schleimbildung auf festen Nährböden, Ketten in einer Kapsel, keine Lanzettform bei Diploanordnung. Bei der Schwierigkeit, den Mucosus in Kulturen dauernd fortzuzüchten — es gelingt meist nur in wenigen Generationen — bediente ich mich der Uebertragung der Infektion von Tier zu Tier. A.uf diese Weise wurde der Stamm über viele Wochen und mehr als 50 Generationen hindurch erhalten und in seiner Virulenz wesentlich gesteigert. Von prophylaktischen, chemotherapeutischen Versuchen habe ich Abstand genommen, sondern alsbald Heilversuche an Mäusen angestellt, die mit 1 ccm des in 8 ccm Nährbouillon auf- geschwemmten Herzblutes von zwei an Mucosusinfektion ge- storbenen Mäusen intraperitoneal infiziert waren. Die Behandlung bestand in der subc-utanen Injektion einer 2prozentigen heiss be- reiteten Lösung der reinen Aethylhydrocupreinbase1) in Olivenöl an vier aufeinanderfolgenden Tagen, und zwar je 0,4 ccm pro 20 g Maus. Bei dieser Dosierung sind auch von mir keinerlei toxische Erscheinungen an den Tieren beobachtet worden (Tabelle 1). Tabelle 1. Infektion mit Bouillonaufschwemmung zweier Mäuseherzen (Mäuse f an Streptococcus mucosus), 1 ccm intraperitoneal. Behandlung mit 0,4 ccm pro 20 g Maus einer 2proz. Lösung von Aethylhydrocupreinbase in 01. olivarum, zum ersten Male 2 Stunden nach der Infektion. Gleiche Dosis innerhalb der folgenden 3 Tage je einmal, stets subcutan am Rücken. Behandelte Unbehandelte Tiere Kontrolltiere Nummer Nummer Bemerkungen 1 2 3 4 16 g 17 g 20 g 16 g 5 6 7 8 1. Tag inf. inf. inf. inf. inf. inf. inf. inf. 9 v» 0 0 0 0 f f t 0 3. „ 0 0 0 0 t Kontrolltier Nr. 8 tot nach 40 Stunden 4. „ 0 0 0 0 5. „ 0 0 0 0 fi. „ 0 0 0 0 7. „ 0 0 0 0 3- 5) 0 0 0 0 Die Tabelle 1 gibt den ersten Versuch der Heilung einer Mucosusinfektion wieder, und sie zeigt, dass alle behandelten Tiere dauernd die Infektion überlebten, während sämt- liche Kontrolltie re innerhalb 24 bis 40 Stunden starben. 1) Das Präparat hatten die Vereinigten Chininfabriken Zimmer & Co. in Frankfurt a. M. freundlichst zur Verfügung gestellt. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 151 Tabelle 2. Versuchsanordnung wie in Tabelle 1, also Heilversuch 2 Stunden nach der Infektion. Behandelte Unbeh andelte Tiere Kontrolltiere Nummer Nummer Bemerkungen 11 12 13 14 20 g 18 g 15 g 19 g 15 16 17 18 1. Tag inf. inf. inf. inf. inf. inf. inf. inf. 2. „ 0 0 0 0 f t t f AlleKontrolltiere waren nach 18 Stunden tot. 3. „ 0 0 0 0 4. „ 0 0 0 0 5. „ 0 0 0 0 6. „ 0 0 0 0 7- „ t 0 0 0 8. „ 0 0 0 Aus Tabelle 2 geht hervor, dass die Virulenz des Stammes bereits hier eine sehr hohe war, indem die Kontrolliere der In- fektion schon nach 18 Stunden erlagen, und so dürfte es zu er- klären sein, dass Tier Nr. 11 doch noch am 7. Tage an der In- fektion zugrunde gegangen ist. Diese Steigerung der Virulenz machte sich in den späteren Versuchen in noch viel höherm Grade durch Misserfolge bemerkbar, indem hier nur eine aller- dings recht beträchtliche Verzögerung des Infektionsverlaufes, aber keine dauernde Heilung zu konstatieren war. Tabelle 3. Heilversuch 6 Stunden nach Infektion mit der mehr als 2000 fach tödlichen Dosis von Streptococcus mucosus. Behandelte Tiere Unbehandelte Kontrolltiere Nummer Nummer 36 37 38 39 20 g 16 g 20 g 12 g 40 41 1. Tag inf. inf. inf. inf. inf. inf. 9 0 0 0 0 f t 3. „ 0 0 0 0 4- „ 0 0 0 f abends 5. „ t abends ' f abends 6. „ t Immerhin beweisen auch diese Versuche (vgl. Tabelle 3), dass selbst bei einer Infektion mit einer mehr als 2000 fach töd- lichen Dosis noch eine wesentliche Hemmung des Infektions- 152 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Verlaufes möglich ist. Besonders muss hervorgehoben werden, dass bei diesem Infektionsmodus schon 4 Stunden nach der Impfung in einem feinen, aus der Schwanzspitze der Tiere ent- nommenen Blutstropfen der Streptococcus mucosus im Ausstrich- präparat nachgewiesen werden konnte, während die Behandlung erst nach 6 Stunden, also noch 2 Stunden später einsetzte. Der Nachweis der Bakterien im Ausstrichpräparat spricht bekanntlich für eine bereits in höchster Entwicklung begriffene Allgemein- infektion. Morgenroth und Kaufmann (1. c.) lieferten durch Züchtung aus dem Blut der infizierten Tiere den Beweis, dass bei einer In- fektion mit 10 — 1000 fach tödlicher Dosis nach 6 Stunden eine Bakteriämie vorhanden ist. Dass es aber immerhin gelingt, noch nach 6 Stunden die Mucosusin fektion mit einer mehr als 10 fach töd- lichen Dosis durch die Behandlung mit Aethylhydro- cuprein zu coupieren, beweist der Versuch in Tabelle 4. Tabelle 4. Heilversuch 6 Stunden nach Infektion mit der mehr als zehnfach tödlichen Dosis von Streptococcus mucosus. Behandelte Tiere Unbehandelte Kontrolltiere Nummer Nummer 70 71 72 73 15 g 17 g 15 g 16 g 74 75 76 77 1. Tag inf. inf. inf. inf. inf. inf. inf. inf. 9 0 0 0 0 t t 0 0 3. 0 0 0 0 t f 4- „ 0 0 0 0 5. „ 0 0 0 0 6. „ 0 0 0 0 U „ 0 f 0 0 8. „ 0 0 0 Die überlebenden Tiere aus allen Versuchsserien wurden nach Ablauf von 8 bis 9 Tagen durch Reinfektion auf Immunität geprüft. Die meisten überlebten die Kontrolltiere um einen oder mehrere Tage, hatten also eine erkennbare aktive Immunität er- worben. ijDass die Tiere, wenn auch verspätet, nach der Reinfektion starben, mag entweder auf zu hohe Dosierung der Bakterienaufschwemmung (s. o.) oder auf bereits eingetretene Festigkeit vielleicht zurückgeführt werden. Möglich wäre aber auch, dass im Zustandekommen einer aktiven Immunität wesent- liche quantitative Unterschiede zwischen dem Pneumococcus und Streptococcus mucosus bestehen. Jedenfalls ist durch die hier mitgeteilten Erfolge des Aetbyl- hydrocupreins gegen Streptococcus mucosus ein neues Glied in die I. Abteilung. Medizinische Sektion. 153 Kette der Beweise gefügt, die schon früher1) für die nahe Ver- wandtschaft dieser Kokkenart mit dem Pneumococcus vorgebracht waren. Die HeilversMche haben gezeigt, dass es in der Tat gelingt, auch die in voller Entwicklung begriffene In- fektion mit Streptococcus mucosus durch Aetliylhydro- cuprein zu hemmen und die Versuchstiere dauernd zu heilen, während die unbehandelten Kontrollmäuse aus- nahmslos in typischer Weise an einer Bakteriämie zu- grunde gingen. Diese Heilerfolge können noch erzielt werden, wenn die Behandlung einsetzt zu einer Zeit, wo nach Morgen - roth und Kaufmann schon mit einer ausgesprochenen Bakteri- ämie zu rechnen ist. 1) R. Levy, 1. c. XVI. Das Ehrmann’sche Froschaugenphänomen im Blutserum von Psoriasiskranken. Von Arthur Sommer, Medizinalpraktikant. Trotz zahlreicher Versuche, einiges Licht in die immer noch dunkle Psoriasisätiologie zu bringen, liegen einwandfreie Resultate bisher noch nicht vor. Deswegen sind Beobachtungen interessant, die ich bei der Einwirkung von Blutserum an Psoriasis leidender Menschen auf Froschaugenpupillen gemacht habe. Gleich die ersten drei Versuche zeigten, dass die Frosch- augenpupillen in dem Serum normaler Menschen sich bald erweiterten, während die Pupillen im Serum an Psoriasis Leidender eng blieben. Ich habe die Zahl meiner Versuche auf 21 gebracht, und alle 21 Fälle haben diese Reaktion einwandfrei und eindeutig ergeben; die meisten Versuche habe ich den Herren in der Klinik gezeigt; sie haben, ohne vorher zu wissen, welches Auge im Normalserum und welches im Psoriatikerserum lag, stets das Auge im Normalserum grösser gefunden. Als Kontrollsera verwertete ich das Blutserum teils vollkommen gesunder Menschen, teils von Patienten, die an Gonorrhöe, Lues, Ulcera mollia und Lupus litten. Interessant ist es, dass diese Reaktion für Psoriasis spezifisch zu sein scheint; denn das Blutserum von Patienten, die an Dermatitis herpetiforrais, Lichen chronicus Vidal, Lichen ruber planus, Prurigo, Ekzem litten, ergab diese Reaktion nicht. Die Ausbreitung der Psoriasis scheint auf die Reaktion einen quantitativen Einfluss zu haben; denn das Serum von Patienten, die fast vollkommen mit Psoriasiseffloreszenzen bedeckt waren, ergab gar keine Erweiterung der Pupille, während die Frosch- augenpupille in dem Serum von Kranken, die nur an wenig aus- geprägter Psoriasis litten, im Verhältnis zu den Froschaugen- pupillen im Normalserum zwar deutlich kleiner blieben, aber doch auch eine gewisse Vergrösserung aufwiesen. Die Technik der Herstellung dieser Reaktion ist eine äusserst einfache: Dem Frosch werden nach Durchschneiden der Wirbelsäule und Zerstörung des Rückenmarks beide Augen enucleiert und in physiologische Kochsalzlösung gelegt. Die Pupillen, die im lebenden Frosch weit waren, werden sofort eng. Man legt nun das eine Auge in das Serum normaler Menschen, das andere in I. Abteilung. Medizinische Sektion. 155 das Serum an Psoriasis Leidender. Schon nach ungefähr 5 bis 10 Minuten tritt an der Pupille des Auges im Normalserum eine deutliche Erweiterung ein, während die Pupille des Auges im Psoriatikerserum vollkommen eng bleibt. Erst nach ungefähr einer halben Stunde erweitert sich auch die Pupille im Psoriatiker- serum, wenn die Psoriasiseffloreszenzen nicht allzu sehr aus- gebreitet sind. Nach ungefähr 1— V/2 Stunden kann man die Reaktion als abgeschlossen betrachten. Ist dieses Phänomen nun ein begleitendes Symptom der Psoriasis, solange klinische Erscheinungen vorhanden sind, oder aber bleibt diese Reaktion auch erhalten, wenn von Psoriasis- effloreszenzen nichts mehr zu sehen ist? Ich hatte Gelegenheit, das Blutserum eines Patienten, bei dem vor 6 Jahren von einem hiesigen Arzte eine Psoriasis festgestellt worden war, auf diese Reaktion hin zu untersuchen. Auch bei diesem Patienten, der in der Folgezeit nur einigemal noch einzelne Psoriasiseffloreszenzen bemerkt hatte, fiel die Reaktion vollkommen einwandfrei aus. Ich möchte annehmen, dass diese Alteration im Blutserum, die diese Reaktion hervorruft, nicht etwas Sekundäres der Psoriasis darstellt, sondern möglicherweise mit der Aetiologie der Psoriasis in Zusammenhang gebracht werden könnte. Dafür spricht auch, dass die Reaktion durch das Abheilen der Psoriasis- effloreszenzen nicht beeinflusst wird. Welcher Art ist nun diese Alteration im Blutserum? Be- kanntermaassen vermag Adrenalin selbst in Verdünnungen von 1 bis zu 20 Millionen diese Reaktion auszulösen. Adrenalin- lösungen sind aber dem Sauerstoff gegenüber überaus empfindlich. Ich habe daher versucht, den Adrenalingehalt des Blutserums durch Sauerstoffzufuhr zu zerstören und habe trotzdem dieselbe Reaktion an der Froschaugenpupille auftreten sehen. Diese Unter- suchungen stimmen mit den Feststellungen von Embden, Fürth und O’Connor überein, nach denen trotz Zerstörung des Ad- renalins die Wirkung des Serums auf das Froscbgefässpräparat fast vollständig erhalten blieb. Es müssen also, wie schon auch andere Autoren nacbgewiesen haben, im Blutserum adrenalin- ähnliche Substanzen vorhanden sein, über deren chemische Natur man allerdings noch nichts aussagen kann. Jedenfalls müssen diese adrenalinähnlichen Substanzen nach meinen Versuchen in dem Blutserum an Psoriasis leidender Menschen in einer Minder- wertigkeit vorhanden sein, wodurch eine Erweiterung der Froscb- augenpupille ausbleibt. Ich glaube somit, einen neuen Fingerzeig für die Sympto- matologie und vielleicht auch für die Aetiologie der Psoriasis gegeben zu haben. Ueber weitere Versuche betreffend andere Hauterkrankungen als Psoriasis, Stärke der Reaktion im Vergleich zur Ausbreitung der Psoriasis, Erhaltenbleiben der adrenalinartigen Substanzen im Blutserum bei Kälte und Wärme, eventuelle Verwertung dieses Phänomens in therapeutischer Beziehung usw. hoffe ich später einmal ausführlich berichten zu können. XVII. lieber Mammaplastik. V 011 Dr. Max Weichert. M. H.! Der augenblickliche Standpunkt in der Chirurgie der Mammatumoren ist besonders bei den malignen fast un- bestritten der, dass man so radikal wie irgend möglich operativ Vorgehen muss. Der Grund, warum man so ausserordentlich radikal bei den malignen Tumoren vorgeht, beruht in der Erfahrung, dass, wenn auch die Tumoren zunächst klein und die regionären Lymph- drüsen nicht sämtlich beteiligt waren, eine unvollkommene Operation bald von einem schweren Recidiv gefolgt ist. In seltenen Fällen stellt sich zunächst eine anscheinende Heilung ein, und die Metastasen zeigen sich erst nach einer Reihe von Jahren, am häufigsten in den Knochen. Wir exstirpieren also bei malignem Mammatumor, gleich- gültig, ob wir bereits Metastasen in den regionären Lymphdrüsen fühlen oder nicht, stets die ganze Brustdrüse ohne Schonung der Haut und die sternale Portion des Musculus pectoralis major; der Pectoralis minor wird gespalten und in den verdächtigen Fällen gleich mitentfernt und die Drüsen und das ganze, die Achselhöhle füllende und die Drüsen umhüllende Fett als ein- heitlicher Klumpen im Zusammenhang mit der Brustdrüse selbst bis unter die Clavicula in der Mohrenheim’schen Grube ausgelöst. Wir vermeiden peinlich ein Hindurchgehen durch den Tumor, weil wir uns vor einer Keimverimpfung fürchten. Die obere Schlüsselbeingrube haben wir nur dann ausgeräumt, wenn wir ver- härtete Drüsen fühlten. Da wir aber wiederholt Fälle beobachtet haben, in denen bei sonst recidivloser Heilung der Mammaamputation nach zwei, drei Jahren latente Herde in den Supraclaviculargruben sich ent- wickelten und diese Lokalisation gerade sehr häufig höchst un- angenehme Circulationsstörungen zur Folge hat, so ist es wohl richtiger, auch prinzipiell die Supraclaviculargruben bei der Amputation der krebsigen Mamma auszuräumen. Wir verhalten uns bei schwerer Tuberkulose ebenso wie bei den malignen Geschwülsten, schonen aber etwas mehr die Haut. Zwischen den einzelnen bösartigen Geschwülsten selbst machen wir keinen Unterschied. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 157 Um auch äusserlichen Gründen gerecht zu werden, lehnen wir uns in unseren Operationsmethodeu an die bereits früher und auch in der Jetztzeit sehr zahlreich veröffentlichten Plastiken an. Den einfachen Ovalärschnitt mit medialer Weiterführung in die Achselhöhle haben wir völlig verlassen, da er mit seiner Narbe so unglücklich fällt, dass er durch direkte Verwachsungen oft schwere Circulationsstörungen macht. Der von uns angewandte Schnitt umgibt die zu entfernende Mamma in einem Oval und zieht dann in leichtem Bogen nach oben innen, um etwa in der Mitte der Clavicula zu enden. Es ist dies ein ähnlicher Schnitt wie der in der Literatur gewöhnlich unter dem Namen des Kocher’schen Schnittes geführte. Wir legen das Oval nicht quer, sondern schräggestellt (etwa Fall 3). Derselbe bietet in der Tat einen sehr guten Ueberblick namentlich in den letzten Stadien der Operation bei Ausräumung der Infra- claviculargrube und vermeidet so die spannende und störende Narbe in der Achselhöhle. Als Begrenzungslinien für den inneren Teil unserer Operation nehmen wir: Sternum, Clavicula, Serratus ant., Latissimus dorsi. Nerven suchen wir nach Möglichkeit zu schonen, vor allen Dingen den Thoracalis longus für den M. serratus und den Thoraco- dorsalis für den M. latissimus dorsi. Als Schnittführungen kommen im wesentlichen sonst noch in Betracht: 1. die ovaläre Umschneidung am inneren Rande des Pectoralis major, 2. Kocher’s, 3. Warren’s, 4. Meyer’s, 5. Beck und Pels-Leusden’s, 6. Tansini’s Methode u. a. m. Die letztere bildet gleichzeitig einen Uebergang auf die mehr direkt plastischen Methoden, wogegen die anderen nur den einfachen Schluss der durch die Operation gesetzten Haut- wunde erzielen wollen. Ist nämlich der gesetzte Defekt so gross, dass eine direkte Nahtvereinigung der Wundränder nicht möglich erscheint, so wird voraussichtlich kein Chirurg mehr den ungenähten Teil der Heilung durch Granulationsbildung über- lassen, sondern er wird ihn entweder durch Thier’sche Trans- plantationen decken oder bei zu grosser Ausdehnung durch Lappenplastik zu verschliessen suchen. Tansini verwertet einen gestielten Lappen vom Rücken mit einem Teil des Latissimus dorsi. Payr versuchte sich plastisch dadurch zu helfen, dass er gesunde Haut au der Operationsstelle sparte, und zwar so, dass er eine kleine Hautfettpyramide bilden konnte, die einer Mamma ähnlich sab. Andere Autoren wiederum verwendeten, und das lag ja wohl am nächsten, die zweite, gesunde Brustdrüse für die Deckung des Defektes; einerseits schälten sie die Haut und Fett der gesunden Brust von dem Drüsengewebe ab und versetzten es auf die andere Seite, so dass auf diese Weise eine Art der Zweiseitigkeit gewahrt wurde. Andere wieder teilten die gesunde Mamma in zwei Teile und versuchten so ein kosmetisches doppelseitiges Re- sultat. Wir haben mehrfach Gelegenheit gehabt, solche Mamma- plastiken auszuführen, und zwar ergab es die Eigenart der Fälle, 15S Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. dass verschiedene Methoden in Anwendung kamen. Der eine Fall betraf eine Sternum- und Thoraxresektion bei Carcinora- recidiv. Die linke Mamma wurde über die rechts freigelegte Lunge als Lappen aufgenäht. Die übrigen Fälle waren nur Mammaamputationen. Von diesen wurde einer (Demonstration) in derselben typischen Weise so operiert, dass die anderseitige Mamma als gestielter Lappen in den Defekt eingesetzt wurde. Diese Form gibt entschieden kosmetisch die besten Resultate, hat aber vielleicht den Nachteil, dass die Ernährung des Lappens manchmal etwas gefährdet erscheint. Deshalb kann man sich in anderen Fällen durch Entspannungsschnitte helfen, welche eine Lappenverziehung gestatten. Allerdings muss man dabei unter Umständen, wie auch wir in einem Falle, die Form der Cyklopen- mamma mit in Kauf nehmen, bei welcher die Brustwarze auf die Mitte des Sternums geraten ist. In einem Falle machten wir eine Plastik aus der ßauchhaut nach Hei den hain mit breitgestieltem Lappen, weil die nicht sehr grosse, wenig fettreiche, andere Mamma für die Deckung des mächtigen Defektes nicht ausgereicht hätte. Wir haben die erwähnten Arten der Defektdeckung deshalb lieber angewandt, weil es uns bequemer war, an nur einer, wenn auch grösseren, Partie des Körpers zu arbeiten, als zwecks Trans- plantation noch auf eine andere entferntere Körperstelle übergehen zu müssen. Ausserdem äusserten diejenigen Fälle, die mit ein- fachen Plastiken behandelt waren, und wo wegen eines grösseren Defektes die Transplantation nach Thiersch vorgenommen wurde, bei ihrer Entlassung ständig Schmerzen an der betreffenden Stelle, verbunden mit Druckgefühl und Atmungsbehinderung wegen Narben- zuges. Diese naturgemäss sehr dünne Haut war ferner leicht lädierbar und musste ständig unter Schutzverbänden gehalten werden. Auch bei solchep Fällen, deren Defekt nur mit grösserer Spannung gedeckt werden konnte, zeigten sich nach der Ver- narbung meist gröbere Beschwerden, die den vorher erwähnten sehr ähnlich waren. Durch die plastischen Methoden werden gerade diese Uebel- stände am besten vermieden. Als Vorbedingung freilich für das Gelingen aller Plastiken mussten wir die primäre oder nahezu primäre Heilung verlangen. Ich möchte Ihnen in Kürze nur einige Fälle zeigen, die unsere Schnittführungen und deren Resultate demonstrieren sollen : Von den bestellten Kranken ist nur eine erschienen, die anderen bin ich leider genötigt an stereoskopischen Bildern und schematischen Zeichnungen zu erläutern: Die erste Zeichnung zeigt immer die Schnittführung um den Tumor selbst, die zweite die endgültige Naht. Die vier Fälle, die ich beschreibe, sind herausgegriffen aus der ganzen Menge und bezeichnen sozusagen den Typus für vier verschiedene Formen: I. Abteilung. Medizinische Sektion. 159 Figur 1. Vor der Operation. Figur 2. Nach der Operation. Bei Hustenstoss. 160 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Pall 1. J. S., 43 Jahre. Ca. mamraae dext. recid. Aufgenommen 12. IX. 1908, entlassen 25. X. 1908. Anfang vor etwa zwei Jahren. Ursache unbekannt. Juni 1908 aus- wärts Mammaamputation rechts wegen Carcinom. Kommt jetzt wieder Figur 3. Nach der Operation. Bei ruhigem Atmen. Figur 4. Schnittführung. wegen Recidivs. Operation im Ueberdruckapparat nach Tiegel-Henle (Operateur: Prof. Tietze). Da das Recidiv etwa in der Höhe der vierten Rippe sitzt und fest mit der Haut und der dritten, vierten und fünften Rippe verwachsen ist, werden diese Rippen mit der Pleura I. Abteilung. Medizinische Sektion. 16t Figur 5. costalis reseziert, so dass ein über bandtellergrosser Knochendefekt’ent- steht. Die Haut muss ebenfalls sehr weit Umschnitten werden. Zur Plastik wird die linke Mamma durch Umschneidung von drei Seiten in etwa Viereckform mit abgerundeten Ecken verwendet. Die freie Viereck- seite liegt als breiter Stiel nach oben rechts. Der breitgestielte Lappen Figur 6. Vor der Operation. Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Kultur. 1912. II. 11 162 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. wird gelöst, sein Stiel unterminiert und er so um den Stiel als Mittel- punkt gedreht, dass er einen Kreisbogen beschreibt und rechts auf den Defekt zu liegen kommt. Möglichst enge Naht, zwei Drains. Die Figur 7. Nach der Operation. Figur 8. Spannung ist nur gering. Bei Nachlassen des Ueberdruckes nach vollendeter Naht massiges Einsinken der Haut und Mitbewegung bei der Atmung. Art der Schnittführung, Zustand vor und nach der Operation I. Abteilung. Medizinische Sektion. 163 zeigen die Figuren 1 bis 5 am deutlichsten. Die Kranke wurde aus unserer Behandlung völlig beschwerdefrei entlassen. Bei diesem Falle erwies sich die erwähnte Plastik direkt als absolute Notwendigkeit, um bei dem Pleuradefekt Lungen- koraplikationen zu verhindern. Figur 9. Fall 2. E. H., 38 Jahre. Sa. mammae dext. Aufgenommen 1. VI. 1912, entlassen 19. VI. 1912. Anfang vor etwa einem Jahre, angeblich nach Stoss mit der Tür. Es zeigt sich ein grosser, höckriger Tumor, der auf der Unterlage nur massig beweglich ist und einen Hautsaum ringsherum bereits infiltriert hat. Mikroskopisch: Sarkom. 5. YI. Operation mit weiterUmschneidung und typischer Exstirpation nach den oben erwähnten Gesichtspunkten. Defekt etwa 30 : 40 cm, Schnittführung nach unserer gewöhnlich geübten Art. Die linke Brust wird zur Deckung ähnlich Umschnitten wie Fall 1 11* 164 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. (s. Figur 6 bis 10) und mit breitgestieltem Lappen, der median rechts liegt, auf den Defekt gesetzt. Es mussten noch einige Entspannungsschnitte angelegt und die Umgehung, besonders nach dem Bauch hin, ziemlich weit unterminiert werden. Ein Zwischenakt der Transposition ist zum leichteren Verständnis durch Figur 9 erläutert. Völlige Naht, ein Drain unterhalb der Achselhöhle. Heilung bis auf zwei kleine Granu- lationsstellen per primam. Fall 8. A. K., 35 Jahre. Sa. mammae dext., etwa kopfgross (s. Figur 11). Aufgenommen 29. VI. 1912, entlassen 29. VII. 1912. Anfang etwa Februar 1911 mit kleinem Knoten. Ursache unbekannt. Psychose. Uns aus der Irrenanstalt überwiesen. Die grosse Geschwulst Figur 11. Vor der Operation. ist höckrig, an einigen Stellen weich, cystisch und nur wenig verschieb- lich. Achseldrüsen oder sonstige sind nicht zu fühlen. Mikroskopisch: Sarkom. Operation 2. VII.: Schnittführung wie gewöhnlich mit Ende über der Mitte der Clavikel. Der gesetzte Defekt etwa 25:40 cm. Plastik aus der linken Mamma ähnlich wie oben. Da der Defekt kleiner und die Haut beweglicher, ist die Transposition der linken Mamma nicht ganz vollkommen nötig. Sie kommt daher fast median über dem Sternum zu liegen, und es entsteht das Bild einer sogenannten „Cyklopenmamma“ (s. Figur 12, 13). Fall 4. F. H., 59 Jahre. Ca. mammae sin. Augenommen 4. VIII. 1911, gestorben 10. XI. 1911 an Erysipel und Metastasen im Herz- muskel. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 165 Angeblicher Beginn der Krankheit etwa Februar 1911 nach Stoss mit der Türklinke. Der Tumor selbst ist nur klein, dagegen besteht eine sehr grosse Infiltration mit entsprechender Hautveränderung bis weit in die Achselhöhle und nach der Clavikel hin. Zahlreiche Drüsen (s. Figur 14). Operation 8. V1IL: Wegen der Schwere des Falles muss ein sehr grosser Hautdefekt gesetzt werden. Zur Deckung wird ein Lappen aus der Bauchhaut der linken Seite gebildet (Figur 15, 16) mit Unterwühlung bis auf den Rectus bis fast zum Nabel. Der breite Stiel liegt Figur 12. rechts. Drehung des Lappens am Stiel nach oben und Transposition auf den Defekt. Es müssen noch mehrere Entspannungsschnitte angelegt und die fettreiche Haut sehr weit unterminiert werden, um überhaupt die Wunde schliessen zu können. Endlich gelingt es doch ohne wesent- liche Spannung bis auf eine kleine Stelle am Oberarm. Der Bauchdefekt wird quer vernäht, was nach entsprechender Mobilisation ziemlich leicht gelingt. Von der erwähnten Granulationsstelle am Oberarm aus bekommt die Frau nach etwa sechs Wochen ein Erysipelas migrans, dem sie bei gleichzeitig vorhandenen inneren Metastasen erliegt. 166 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Bemerkt sei noch, dass wir alle unsere Fälle mit Mamma- exstirpation, gleichgültig, ob wir radikal oder nicht radikal Vor- gehen konnten, sämtlich nach kurzer Zeit einer systematischen Figur 14. Vor der Operation. Figur 15. Röntgenbestrahlung unterwerfen. Wir glauben darin noch ein Mittel mehr gegen das Auftreten von Recidiven zu haben. Was nun die obenerwähnten Plastiken überhaupt angeht, so müssen wir immer wieder betonen, dass sie nur dann einen Vor- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 1G7 Figur 16. teil versprechen, wenn absolut aseptisch vorgegangen werden kann und eine Heilung per primam zu erwarten ist. Dass wir dann durch diese Plastiken gleichzeitig eine wesentliche Verkürzung des Krankenhausaufentbaltes erreichen, können wir nur mit aufrichtiger Freude begrüssen. XVIII. Ueber Spontangangrän des Zeigefingers und symmetrische Gangrän. Von Dr. Heinrich Harttnng. M. H.! Ich erlaube mir, Ihnen einen interessanten Fall von Spontangangrän des rechten Zeigefingers zu demonstrieren, um kurz darauf noch einen anderen Fall von früherer symmetrischer Gangrän zu besprechen, bei dem es sich jetzt anscheinend um ein Recidiv handelt. Der 66jährige Maler W. stammt aus gesunder Famile. Er hat im Jahre 1870 mit einem Gewehrkolben einen Schlag aufs Hinterhaupt be- kommen und ist seit dieser Zeit schwerhörig, ebenso leidet er seit jenem Trauma an leichten epileptiformen Anfällen. Er ist, wie gesagt, Maler, und hat seinen Beruf bis vor acht Jahren ausgeübt, ohne jemals die Erscheinungen einer Bleiintoxikation gehabt zu haben. Seit acht Jahren hat er mit Bleifarben nichts mehr zu tun. Vor etwa drei Wochen erkrankte Pat. an einer schweren Bronchitis, die aber abheilte, und am 20. November stellte sich ein pelziges, dumpfes Gefühl im Zeigefinger der rechten Hand ein, nachdem vorher ein phlegmonöser Prozess an der rechten Hand zwei Inzisionen auf der Volarseite und auf dem Dorsum von seiten des behandelnden Arztes nötig machte. Anamnestisch ist noch hervorzuheben, dass Pat. ein starker Raucher ist, der bis zu 9 Zigarren pro die konsumiert, ausserdem noch Pfeife geniesst, Zigaretten dagegen nie geraucht hat. Im Trinken ist Pat. stets sehr mässig gewesen, eine Infect. sex. hat er nie gehabt. Als der Pat. am 26. XI. 1912 in unsere Behandlung kam, konnte folgender Befund erhoben werden. Es handelt sich um einen sehr kräftigen Mann in gutem Ernährungs- zustände. Die Pupillen sind gleich weit, reagieren prompt auf Licht- einfall. , Halsorgane: o. B. Auf der Haut keine Exantheme. Das Herz zeigt starke Verbreiterung nach links, die Töne sind sehr leise, die Aorta ascendens perkutorisch nachweisbar und breit, röntgenologisch aneurysmatisch ausgebuchtet. Das periphere Gefässsystem sehr rigide, der Puls ziemlich hart. Blutdruck nach Recklinghausen syst. 145, diast. 105. Die Lungen: o. B., die Patellarreflexe erhalten. Lumbal- punktion: Liquor fliesst unter normalem Druck ab. Wassermann: — . Nonne-Apelt: — . Keine Lymphocytose. Ebenso Wassermann im Blut: — . Der Urin ist frei von Eiweiss und Zucker. Eine genaue Untersuchung des Nervensystems ergibt, dass dieses vollkommen intakt ist, namentlich ist die Sensibilität für alle Qualitäten an den oberen und unteren Ex- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 169 tremitäten wie am Stamm gut erhalten. An der rechten Hand wurde folgender Befund erhoben: Das Endglied des rechten Zeigefingers ist auf der radialen Seite bis zum 1. Interphalangealgelenk, auf der ulnaren Seite fast bis zum Metacarpo-Phalangealgelenk vollkommen schwärzlich verfärbt, d. h. es besteht eine typische Mumifikation der beiden End- phalangen, zum Teil der Grundphalanx. Dann kommt eine Zone, welche eitrig belegt ist und den Uebergang zu dem übrigen noch gut ernährten Gewebe darstellt. Der Handrücken ist in toto stark geschwollen, sehr entzündlich gerötet und zeigt über den Köpfchen der Metacarpi 2 und 3 ein grosses, im Grunde schmierig belegtes Ulcus. Eine ähnliche Ulce- ration findet sich radialwärts am Grundglied des Mittelfingers und ist wohl durch Kontaktinfektion von der oben erwähnten eitrigen Grenz- zone entstanden. Auch volarwärts findet sich im Bereich der Meta- carpi 2 und 3 die Palma manus entzündlich gerötet und geschwollen. Nach diesem Befunde handelt es sich um eine typische trockene Gangrän, welche die beiden Endglieder des rechten Zeigefingers ergriffen hat und zum Teil auf die Grundphalanx übergegangen ist. Eine Aetiologie in diesem Falle zu finden, ist ausserordentlich schwierig. Zunächst, glaube ich, können wir mit Sicherheit die sogenannte Raynaud’sche Krankheit aus- schliessen; diese tritt ja meist symmetrisch auf; sie beginnt mit starken Schmerzen, welche minuten-, stunden-, ja tagelang, manchmal andauern und durch die sogenannten angioskleroti- schen Anfälle bedingt sind. Diese fehlten aber vollkommen in unserem Falle, nur ein taubes, pelziges Gefühl zeigte den Be- ginn der späteren Gangrän an. Ausserdem fehlt das symmetrische Auftreten. ln zweiter Linie kam natürlich eine Gangrän auf Grund einer Carboisäureverätzung in Frage. Die genauen Erkundigungen bei dem behandelnden Arzte in dieser Richtung sind ebenfalls vollkommen ergebnislos gewesen; der anfangs entzündliche Pro- zess ist mit Umschlägen von Kamillentee und später mit ganz schwacher essigsaurer Tonerde behandelt worden. Also auch diese Aetiologie ist für unseren Fall auszuschliessen. Aus der Anamnese nun haben wir gehört, dass Patient vor Einsetzen der initialen Prodrome eine schwere doppelseitige Bronchitis durchgemacht hat. Es liegt natürlich nahe, den ent- zündlichen Prozess in den Bronchien mit der Gangrän in Zu- sammenhang zu bringen. Man könnte sich den Vorgang so denken, dass es auf Grund der Entzündungen im Gefässsystem der Lunge zu entzündlichen Thrombosen gekommen ist, die später durch irgendeinen Insult in die Blutbahn gelangten und nunmehr die Arterien des rechten Zeigefingers verlegten. Es wäre ja diese Möglichkeit wohl zuzugeben, allerdings wäre immerhin ausserordentlich auffallend die Lokalisation am rechten Zeige- finger. Interessant . ist in dieser Beziehung die Mitteilung von Wandel aus dem Jahre 1909 in der medizinischen Gesellschaft zu Kiel, der einen 22jährigen Gerber vorstellte, bei welchem sich im Anschluss an eine Pneumonie das charakteristische Bild der symmetrischen Gangrän in den Fingern beider Hände entwickelt hat. Es waren aber in diesem Falle Zeichen einer Hysterie vor- handen, ausserdem begann das Leiden mit sehr starken, heftigen 170 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Schmerzen in den betreffenden Gliedern, welche durch heisses Wasser kupiert werden konnte. Aetiologisch spielt aber doch nach Wandel zweifellos die Pneumonie eine gewisse Rolle, denn es ist uns ja bekannt, dass die Pneumonie mit ihren spezifischen Giften einen grossen schädigendenEinfluss auf dieVasomotoren ausübt. Ferner käme Lues in Frage. Anamnestisch hat sich gar kein Anhaltspunkt für eine frühere Lues ergeben, auch die jetzige Untersuchung in diesem Sinne ist vollkommen negativ ausgefallen, Wassermann im Blut wie im Lumbalpunktat negativ, das Nerven- system vollkommen intakt. Nach unserer Meinung kommt für unseren Fall am wahr- scheinlichsten als Aetiologie die Arteriosklerose in Betracht. Patient hat klinisch eine nachweisbar schwere Sklerose seiner Gefässe, und so wäre es immerhin denkbar, dass durch eine Endarteritis obliterans das Lumen der Gefässe allmählich verlegt worden ist und somit zur Gangrän geführt hat. Die Annahme der Arteriosklerose gewinnt für unseren Fall noch mehr Be- rechtigung, wenn wir den Beruf unseres Patienten mit verwerten. Der Patient ist Maler, und wie er selbst angibt, wird beim Streichen am meisten der rechte Zeigefinger in Anspruch genommen und ermüdet. Nun aber wissen wir, dass auf Grund neuerer An- schauung die Arteriosklerose als eine Abnutzungskrankheit zu betrachten ist. Wenn die Muskulatur des rechten Zeigefingers mehr in Anspruch genommen wird, so ist natürlich dadurch ebenfalls eine grössere Inanspruchnahme des zugehörigen Gefäss- Systems bedingt, und so kann es uns verständlich werden, dass gerade in den Arterien des rechten Zeigefingers schon frühzeitig ein endarteritischer Prozess eingesetzt hat, der jetzt zu völligem Verschluss der Arterien geführt hat. Allerdings könnte diese unsere Annahme nur durch mikroskopische Untersuchung gesichert werden. Es ist ferner hervorzuheben, dass Patient ziemlich starker Raucher ist und er vor allen Dingen das Rauchen schon sehr frühzeitig begonnen hat. Erb legt auf diesen frühzeitigen chro- nischen Nikotinabusus besonderen Wert, weil er gerade bei diesen Leuten am meisten das Auftreten von spontaner Gangrän beob- achtet hat. Gewiss muss auch in unserem Falle dieses Moment als ätiologisch mit herangezogen werden. Im Anschluss an diesen Fall, den ich zu den sogenannten Spontangangränen rechnen möchte, erlaube ich mir, ganz kurz noch einen anderen Fall von fiüherer symmetrischer Gangrän zu demonstrieren, welcher schon einmal von Strümpell be- sprochen wurde. Die jetzt 88 jährige Pat. bekam im Anschluss an einen Partus im Jahre 1908 eine croupöse Pneumonie und wurde damals auf der inneren Universitätsklinik behandelt. Nach Ablauf der Pneumonie traten, wie aus der Krankengeschichte ersichtlich ist, grössere Purpurallecken auf den Handrücken und an den distalen Enden der Vorderarme auf. Einige Tage darauf stellten sich ähnliche Flecken an beiden Knien ein. Wiederum nach einiger Zeit begann eine Blaufärbung der Endglieder beider Finger, Parästhesien, Sensibilitätsstörungen, ausserdem ausser- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 171 ordentlich starke Schmerzen in den Händen, die nach und nach sehr hochgradig wurden, stellten sich ein. Gleichzeitig mit der Blaufärbung der Finger trat ein auffallendes Oedem beider Hände, besonders auf der Rückseite, auf. Die Cyanose in den betreffenden Endgliedern nahm zu. Nach einigen Tagen gesellten sich Parästhesien und Cyanose in den Zehen hinzu, und am 28. Mai 1903 war die Mumifikation sämtlicher Endphalangen der Finger beendigt. Am 8. Juni waren die Endglieder der Zehen, und zwar rechterseits der 2., links der 2. und 3. Zehe mumi- fiziert. Der Verlauf war nun weiter der, dass nach der Demarkation sich an der rechten Hand die End- und Mittelglieder sämtlich spontan abstiessen, linkerseits nur die Endglieder, ebenso die genannten Glieder an den Füssen. Die Sensibilität war schon damals in den erhaltenen Gliedern vollkommen intakt. Die Pat. war nunmehr seit etwa einem Jahr wegen eines Fussleidens in Behandlung und wurde vor einigen Wochen auf unsere Abteilung aufgenommen. An den Händen sieht man rechterseits nur noch die Grundphalange erhalten, linkerseits Grund- phalange und Mittelphalange, am rechten Fuss fehlt das Endglied der 2. Zehe, linkerseits die Endglieder der 2. und 3. Zehe. Hierselbst sieht man ein ziemlich schmieriges Ulcus in der Gegend über dem 2. Meta- tarsophalangealgelenk linkerseits. Zu erwähnen ist, dass die Sensibilität für alle Qualitäten an den Extremitäten sehr gut erhalten ist, dass Pat. vor ihrer Aufnahme wiederum ausserordentlich heftige Schmerzen in der Gegend der ulcerierten Partien empfunden hat, dass das Nervensystem vollkommen intakt ist, die Wassermann’sche Reaktion im Blut dagegen positiv, der Urin frei von Zucker. Es handelt sich also in diesem Falle um eine typische symmetrische Gangrän an den Händen sowohl wie an den Füssen, die aber sozusagen in Heilung übergegangen war. Nach 8 Jahren nun treten unter Schmerzen in der Gegend des Grundgliedes der 2. Zehe wiederum Veränderungen auf, die natürlich zunächst abermals an eine Gangrän erinnern mussten. Allerdings hat der Prozess noch keine Neigung zur Demarkierung, es kommt hinzu, dass Sensibilitätsstörungen gar nicht vorhanden sind, und dass wir vor allen Dingen doch einen gewissen Anhaltspunkt für einen luetischen Prozess haben, denn die Wassermann’sche Reaktion im Blut ist positiv ausgefallen. Jedenfalls ist es in diesem Falle vorläufig noch schwierig, die Aetiologie für den ulcerösen Prozess am linken Fuss festzustellen, es ist vor kurzem eine antiluetische Behandlung eingeleitet. Der Effekt wird uns zeigen, ob es sich um einen luetischen oder um einen anderen Prozess handelt. Arteriosklerose können wir in diesem Falle vollkommen aus- schliessen. Es ist eine 38 jährige Frau, deren Herz- und Gefäss- system vollkommen normale Verhältnisse bietet. In Frage kommt noch eine sogenannte Arteritis obliterans, eine Erkrankung, die schon in mehreren Fällen zu Spontangangrän, namentlich an den Zehen, geführt hat. Sie unterscheidet sich im wesentlichen von der Arteriosklerose dadurch, dass es sich um Wucherungen, von der Intima ausgehend, handelt, die allmählich das Lumen des Gefässes verlegen. Es fehlen in vielen Fällen jedenfalls die Ver- fettungen und Verkalkungen in der Media, wie wir sie bei der Arteriosklerose doch regelmässig finden. Jedenfalls muss diese Aetiologie in diesem zweiten Falle mit in Erwägung gezogen werden. Allerdings kann auch hier nur eine mikroskopische Untersuchung sicheren Aufschluss geben. 172 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Natürlich liegt es, wie ich schon oben erwähnte, nahe, wiederum an den Beginn einer symmetrischen Gangrän zu denken, und dafür sprechen ja die ausserordentlich starken und heftigen Schmerzen, mit welchen der Prozess von neuem bei der Patientin einsetzte. Auffallend ist in unseren Fällen die Tatsache, dass die Gangränen im Anschluss an akute Prozesse der Lungen auf- getreten sind. Ich erwähnte schon den Fall von Wandel, wo es auch im Anschluss an eine Pneumonie zu einer symmetrischen Gangrän gekommen war, und es ist wohl Wandel zuzustimmen, wenn er behauptet, dass diese Prozesse zweifellos wohl doch eine gewisse Piolle für das Zustandekommen der Gangrän spielen; denn, wie gesagt, üben die toxischen Stoffe, die bei pneumo- nischen Prozessen der Lunge sich entwickeln, bekanntermaassen einen ziemlich erheblichen schädigenden Einfluss auf die Vaso- motoren aus. Kommen nun noch andere Momente hinzu, wie gerade in unserem ersten Falle, so ist es leicht verständlich, dass bei so disponierten Individuen im Anschluss an Infektions- krankheiten, speziell Lungenprozessen, derartige Gangränen ent- stehen können. Druck von L. Schumacher in Berlin N. 4. Verzeichnis ■ . sämtlicher toi der Seiles, Gesellsclaft ffir vaterl. Cultnr herasseepbenen Schrifteii. 1. Einzelne Schriften. Zwei Reden, gehalten von dem Reg.-Quartiermstr. Müller und Prof. Reiche bei der ersten Feier des Stiftungstages der Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie Schlesiens am 17. Dezember 1804. 8°. 48 Seiten. An die Mitglieder der Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie Schlesiens und an sämtliche Schlesier, von Rector Reiche, 1809. 8°. 32 S. Oeffentlicher Aktus der Schles. Gesellschaft f. vaterl. Cultur, gehalten am 19. Dezbr. 1810 zur Feier ihres Stiftungsfestes. 8°, 40 S. Joh. George Thomas, Handb. der Literaturgesch. v. Schles., 1824. 8°. 372 S., gekrönte Preisscbrift. Beiträge zur Entomologie, verfasst von den Mitgliedern der entom. Sektion,, mit 17 Kpft. 1829. 8°. Die schles. Bibliothek der Schles. Gesellschaft v. K. G. Nowack. 8°. 1835 oder später erschienen. Denkschrift der Schles. Gesellschaft zu ihrem 50jähr. Bestehen, enthaltend, die Geschichte der Schles. Gesellschaft und Beiträge zur Natur- und Gesehichtskunde Schlesiens, 1853. Mit 10 lithogr. Tafeln. 4°. 282 S. Dr. J. A. Hoennicke, Die Mineralquellen der Provinz Schlesien. 1857. 8°. 166 S., gekr. Preisschrift. Dr. J. G. Galle, Grundzüge der schles. Klimatologie, 1857. 4». 127 S. v V* 4 Dr. J. Kühn, Die zweckmäßigste Ernährung des Rindviehs, 1859. 8°. 242 S., gekr. Preisschrift. Dr. II. Lebert, Klinik des akuten Gelenkrheumatismus, Gratulationsschrift zum 60jähr. Doktor- Jubiläum des Geh. San.-Rats Dr. A nt. K-rocker, Erlangen 1860. 8°. 149 S. Dr. Ferd. Römet, Die fossile Fauna der sibirischen Diluvialgeschiebe von Sadewitz hei Oels In Schlesien, mit 6 lithogr. und 2 Kupfer-Tafeln. 1861. 4°. 70 S. Lieder zum Stiftungsfeste der entomologischen und botanischen Sektion der Schles. Gesellschaft, als Manuskript gedruckt. 1867. 8°. 92 S. 1 Verzeichnis der in den Schriften der Schles. Gesellschaft von 1804—1863 inkl. enthaltenen Aufsätze in alphab. Ordnung von Letzner. 1868. 8°. Fortsetzung der in den SchriftedN der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur von 1864 bis 1876 inkl. enthaltenen Aufsätze, geordnet nach den Verfassern in alphab. Ordn. von Dr. Schneider. General-Sachregister der in den Schriften der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur von 1804 bis 1876 incl. enthaltenen Aufsätze, geordnet in alphab. Folge von Dr. Schneider. Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. L Die Hundertjahrfeier (125 S.). II. Geschichte der Gesellschaft (149 S.), Breslau 1904. 2. Periodische Schriften. Verhandlungen der Gesellschaft f. Naturkunde u. Industrie Schlesiens. 8°. Bd. I, Hft, 1, 218 S., Hft. 2, 112 S. 1806. Desgl. Bd. II, l. Heft. 1807. Correspondenzblatt der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur, 4°. I Jahrg. ni, 1812. 96 S. IV, 1813, Hft. 1 u. 2 je 96 S. Jahrg. V, .1814, Hft. 1 u. 2 je 96 S. v£ 1815, Hft 1, 96 S. Jahrg. I, 1810, 96 S. „ II, 1811, do. ...... - . - Correfpondenz der Schles. Gesellschaft f. vaterl. Cultur. 8°. Bd. 1, 362 S. mit Abbild., 1819 u. 1820. DesgL Bd. H (Heft I), 80 S. mit Abbild., 1820. Bulletin der naturwissenschaftl. Sektion der Schles. Gesellschaft 1—11, 1822, 8<>. do. do. do. 1—10, 1824. 8». Übersicht der Arbeiten (Berichte sämtl. Sectionen) u. Veränderungen der Schl, Ges. f. vat. Cultur: Jahrg. 1888. XX u. 317 Seiten 8®. 1889. XI.IV u. 2S7 Seiten 8». 1890. VII u. 329 Seiten 8°. n. Erg.-Ileft 272Seit. 8°. 1891. VII. u. 481 Seiten 8». n.Erg.-Heft92Seit 8». 1892. VII u. 361 Seiten 8°. n. Erg.-Heft 160 K. 8». J893. VII u. 392 Seiten 8®. 1894. VII u. 561 Seiten 8®. n. Erg.-Heft 265 S. 8». 1895. VII u. 560 Seiten So. j • i»»ö. io< • 4». ADnanai. au seiten. . n. Erg.-Heft 57 Seit. 8°. *“ ' “*'• 1896. VIII u. 474 S. 8® n. Erg.- Heft V, 56 Seiten 8®. 1897. VIII u. 486 S. 8® n. Erg.- Hqft VI, 64 Seiten 8®. 1898. VIII u. 492 Seiten 8®. 1899. VII u. 380 S. 8®. n. Erg.- Heft VIL 85 Seiten 8®. 1900. VIII u. 668. Seiten 8®. n. Erg.-Heft 36 Seit 8®. 1901. IX u. 562 Seiten 8®, 1902. VIII u. 564 Seiten 8®. 1903. VIII ü. 601 Seiten 8®. 1904. X u. 580 S. 8®. n.Erg.- Heft VIII, 152 Seiten 8®..v 1905. VII u. 730 Seiten 8®. 1906. VIII u. 664.S. 8® n. Erg.- Heft VIII, 186 Seit. 8«. » .1907. X und 600 Seiten 8®. 1908. XI und 65Ö Seiten 8®. 1909. X und 844 Seiten 8®. 1910. Bd. I: VI u. 332 8®. . II: VIII u. 472 8®. 1911. Bd. I: VI' u. 518 8®. ‘ « II: VIII u. 210 8®. 1912. Bd. I: VI u. 602<8®. . II: VI u. 250 8®. Mitglieder- Verzeichnis ln 8® von 1805 und seit 1810 alle zwei Jahre erschienen. 1824. 65 Seiten 4®. Jahrg. 1859. 222 • 4®. 1825. 64 4®. 1860. 202 . 4®. 1826. 65 4®. 1861. 148 . 8». nebst 1827. 79 4®. \V '-. ..•* Abhandl. 492 Seiten. 1828. 97 4®. 1862. 162 Seiten 8®. nebst 1829. 72 4®. Abhandl. 416 Seiten. 1830. 95 4®. 1863. 156 Seiten 8®. 1831, 96 4®. 1864. 266 Seiten 8®. nebst 1832. 103 4®. Abhandl. 266 Seiten. 1833. 106 4®. 1865. 218 Seiten 8®. nebst 1834. 143 4®. Abhandl. 69 Seiten. -1835. 146 4®. ■ . \ >* 1366. 267 Seiten 8®. nebst 1836. 157 4®. Abhandl. 90 Seiten. 1837. 191 4®. 1867. 278 Seiten 8®. nebst 1838. 184 4®. Abhandl. 191 Seiten. 1839. 226 4®. 1868. 300 Seiten 8®. nebst 1840. 151 4®, Abhandl. 447 Seiten. 1841. 188 4®. 1869. 371 Seiten 8®. nebst 1842. 226 4®. Abhandl. 236 Seiten. 1843. 272 4®. nebst 1870. 318 Seiten 8®. nebst 41 S. meteorol. Beob. ■L • • Abhandl. 85 Seiten. 1844 232 Seiten 4®. 1871. 357 S. 8®. n. Abh. 252 S. .1845. 165 4®. nebst 1872. S50S.8®. n.Abh. 171S.‘ 52 S. meteorol. Beob. 1873. 287 8. 8®, n. Abh. 148 S. 1846. 320 Seiten 4®. nebst 1874. 294 Seiten. 8®. 74 S. meteoroLBeob. 1875. 326 . ■ 8®. 1847 404 Seiten 4®. nebst 1876. 394 • 8®. 44 S. meteorol. Beob. 1877. 428 • 8®. 1848. 248 Seiten 4®. « 1878.331 , • 8». 1849. Abtl 1.1, 180 S.,I L 39 S. p 1879. XX. u. 473 Seiten £®. n.44ä . meteorol Beob. 1880. XVI u. 2dl . 8®. 1850. Abth.I, 2048. 11*36 S. - ■ 1881. XVI ü. 424 . 8®. 1851. 194 Seiten 4°. ff 1882. XXiV u, 432 . 8®. 1852. 212 ff • 4«. 1883. XVI U. 413 - 8®. 1853. 345 k 4®. • 1884. XLI u. 402 . 8®. 1854. 288 . « 4®. 1885. XVI u 444 Seiten 8®. , 1855. 286 > 4®. n. Erg.-Heft 121.S. 8®. 1856. 242 ff 4®. 1886. XL u. 327 Seiten 8®. 1857. 347 ff 4®. n. Erg.-Heft 121 S, 8®. 1858. 224 Seiten 4®. 1887, XLH u. 411 Seiten 8®. - i : g r r - ■■■ '■ . . ■ - ■ -v"' ' - ' i ' ;.v r , ; ■ " •<.:■■■( L . - : • : ■ s ! ' ' *? ■ : - / k l ’fCi r • , ' - J *■ I _ ' - ■'*,'■■ 1 ■ ' > v? ' : : . . i; / V ' / ' , . ■ * : g &■: • : - ; ’i ' 1 . ' . & ' ’ , ' •; - •■■■ , :,v , , . ' - . . . v . : >,■/ 1 ',V 1 ; ■ ' ' ' - . - ■ . , • ~ ! ,, '.A "v ■ ' f.\AV v ■■ * - ' ' , - : M . V - ’ ■/ ; ■ .. .■ , 1 ' . ’■ - ' ■ v- ./ '' ' - g 1 '-'_■■■■ > "V. ' 1. A - A-. ' . - > , - ■ s» 'A :V:Ä,'. '.V ’ -i . $ V >A. ; .. ; ; A ■■ V , ■ , ■ 1 .. .. /, : ■■ . ,, • . - . . ■ V,vf - :/■ - i v . ■ • •• • s > f • 1 rjl "> ; . - ' . >*/ ;■■■ . ■ h'y ' ■ u • ’ . <■■■ & ■ :t ■ ; ' , . ' • ■ („ Y i i- ■ , .. £'■ <, '■ , V-, ■ . ■ / • . . gfiii