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101

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Inhaltsverzeichnis

zum 3. Jahrgang (1916) der Jüdischen Monatshefte

[Pl« römische Ziffer bezeichnet die Heftnummer, die «r»bi«che die Seitenzahl ]

Krie^Hanfsätse :

Zur Ostjudenfrage 12

Ostjuden IIMV 74

Das Ostjudenproblera IIMV 91 VIII-IX 249

Das osljüdische Rätsel V 148

Die Organisation der jüdischen Religionsgesellschaft

im (Generalgouvernement Warschau XI 323

Berlin 16

Kriefsgedankeu I 20

Die drei Weltübel I 28

Der Jenseitsglaobe im Krieg II 33

Den einst heimkehrenden Kriegern II 43

Der Weltkrieg im Lichte de» Judentums .... III-IV 101

Sommerzeit . . V 129

Die Wurzel des Krieges VII 214

Rosch-Haschana-Rrief VIII-IX 280

Geichäfts- und Staatsmoral X 287

Stimmen aus dem Jenseits XI 349

Aafsätie 1ib«r wiiieBsehftftliehe und aktu(^lit Themata :

Zur Lehre von den Zwangshaadlungen und Zwangsvorstellungen I 10

. "niDi 1D1D1 ^n^Dn ^'\r\„b i 14

Handschriftliche Bemerkimgen Rabb. S. R. Hirseh» ^'t^t

zu seinem Pentateuch-Kommentar I 16

Eine heikle Etikettenfrage I 24

iTD n-^':;-D ntD^my i so

Heine der Jude I 48 IIl-IV 109

Erziehungsfrafen III-IV 77

tt^-nn -iDi ni-iv loo

NnoDi ':^:V2 ni-iv loo

Die exakte Wissenschaft III-IV 119

Ahron Marcus ^'y III-IV 123

Zum Lehre vom Zwange als Schuldbefreiungsgrund

von dem Richtercolleginm

Eine Kabbiiierversamralung

Das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa

Vom Schächten

Talnpudisches . " .

Wie führen Propheten zum Sinai ? .

Ein interessantes Schriftstück .

Schofarklänge

80 Jahre 19 Briefe ....

Der Begriff des Wunders im Judentum

Zum jüdischen Eherecht .

Darf ein Deuterojesaja gelehrt werden ?

Zur Charakteristik der Breslauer Schule

Die kritische Methode im Beth-Hamidrasch

Zur Methodik des biblischen Geschicbtsunterriehts

Der Aufstieg zur Keduschah ....

Eine rätselhafte Ohrfeige

VI

V 133

V 143 VI 163 X 317

184 VlII-IX 272

VI 190

VII 195

VII 228

VIIMX 231

VI II- IX 233

VIII-IX 240

VIII-IX 258

X 297 XI 343

. XI 334

. XI 352

XII 355

XII 3«2

XII 370

XII 377

BeinerkBiigen :

Zum dritten Jahrgang

Literarisches

Notizen ....

Briefkasten der Redaktion

1 1

I 31 II 63 VIII-IX 286 X!I 378

. III-IV 1-26 VlIl-IX 282

III-IV 128

Jüdische Monatshefte

unter Mitwirkang von Rabbiner Dr. Salomon Breuer, Frankfurt a. W. herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kohn, Ansbach.

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^^

Jahrgang 3.

Heft 1.

Zum dritten Jahrgang.

Wenn wir der allgemeinen Sitte Rechnung tragen und unserem Organ zum Beginne des neuen Jahrgangs ein Geleitwort mitgeben, 80 w4irden wir am liebsten das wiederholen, was wir in der Werde- stunde der „Jüdischen Monatshefte" gesagt haben. Denn in] unseren Zielen hat sich nichts geändert. Es galt ja im vergangenen Jahr, an der schweren Aufgabe sich zu versuchen, die Synthese zu finden zwischen all den Eindrücken, die au§ ernster Zeit sich ergaben, und den Anschauungen und Hoffnungen, welche als heiligstes Erbgut uns eigen sind. Möge es uns beschieden sein, im kom- menden Jahrgang der Bemühung uns zu widmen, die inneren Er- rungenschaften der Kriegszeit mit dem frohen Aufatmen des gott- geschenkten Friedens zu vermählen.

Unser ernstestes Bemühen war es, den Burgfrieden zu wahren. Es ist klar, dass demzufolge mancher Gedanke nicht lum Auedruck gebracht werden konnte. Aber vielleicht ist es gut so; vielleicht hat sich in dieser Zeit manche Verständigung ergeben, welche uns freien Raum gewährt, ein abgeklärtes Bild unserer Bestreb- ungen im kommenden Jahrgang zu geben und in geruhsamen Ta- gen unsere Existenzberechtigung zu erweisen.

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Zur Ostjudenfrage.

Alle Kroise der deutschen Judenlieit befassen sich mit der sogenanntou Ostjudenfrage. Viel Gutgemeintes hört und liest man, Ktimantik vermählt sich mit nüchterner Realpolitik-, wenn wir nun auch in uusirem leitenden Artikel in No. 11 des vorigen Jahrgangs unsere 8tellungnalinie charnkterisiert haben, so dürfte es doch gut und im Jnteresse der öffentlichen Diskussion gelegen sein, wenig- stens die Problemstellung klar zu vinischreiben, wobei wir in aller Bescheidenheit feststellen möchten, dass eine Lösung der Pr.djleme nur nach sehr eingehendem Studium an Ort und Stelle sich ao- bahnen lässt.

Mit der wirtschaftlichen Seite kann man sicli in der Ueber- gangsperiode am allerwenigsten beschäftigen, obwohl diese Frage wer möchte das leugnen die vordringlichste ist. Denn vor- läufiji; kann die Tätigkeit nach dieser Richtung nur eine cbaritative sein. Die breiten Massen leiden noch unter der Nachwirkung des wirtschaftlichen Boykotts, welcher eine ganze Schicht fleissiger Menschen zum Proletariat herabgedrückt hatte. Es kann sich also zunächst lediglich darum handeln, die charitative Fürsorge zu or- ganis'ieren. Man darf zu den Juden des Ostens wohl das Ver- tram'-.i haben, dass für diesen Zweck alle Gegensätze schweigen und sich Vertraueusmäiiuer finden lassen, welchen diese Organisa- tion anvertraut werden kann. Denn das ist unbedingt notwendig. Es würde sich also darum handeln, den dortigen, bereits bestehenden Wnhitätigkeitsorganisationen Mittel zur Verfügung zu stellen oder solche Stellen zu schaffen, welche an die Verteilung lediglich den Massstab des Bedürfnisses legen. Sobald sich eine irgendwie ge- regelte Erwerbstätigkeit ergiebt, wird der rege Sinn und die un- ermüdliche Arbeitskraft sich auch nach der Richtung bewähren, dass sie sich auch etwaigen neuen, bisher ungewohnten Formen des Handels und Wandels in Bälde anschmiegt; die Reihen der Empfangenden werden sich lichten, die Reihen der Gebenden sich mehren. Denn es darf gerade bei der Beurteilung der charitativen Fürsorge nicht ausser Acht gelassen werden, dass gerade im Osten,

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insbesondere im occupierten Weichselland die Brüderlichkeit der offenen Hand ausserordentlich gut entwickelt sind.

Zunächst jedoch erscheinen wir, die deutschen Juden, als die Gebenden. Darin liegt eine Gefahr- leicht verirrt sich der Sinn des Gebenden dahin, das» er vom Empfangenden eine Gegenleistung heischt. Man beansprucht Einfluss auf Gebieten, welche weitab liegen von der sozialen Fürsorge, oft von der besten Absicht be- seelt. Was immer man in früheren Jahren grossen Organisationen, z. B. der AUiance, vorgeworfen hat, gehört in dieses Kapitel. Selbstverständlich ist Voraussetzung dieses falschen Willens die Meinung, dass man tatsächlich etwas zu bieten hat. So mochte die Alliance glauben, dass die Aufzwingung raffinierter westeuro- päischer Cultur das Glück der orientalischen Judenheit bedeute, dass es vor allen Dingen gälte, den Weg über die Erde zu bahnen und um diesen Preis alle ..störenden'* Einflüsse des Himmels zu entfernen. Es war sicher ein Vergehen weiter Kreise, diesem An- sturm gegen die Welt des Religiösen mit verschränkten Armen ge- genüber zu stehen. Die Consequenz hat sich fühlbar gemacht, als dieselben Kreise jüngst gegen solche Ideale ihren Angriff richteten, welche der Erde näher liegen; da sah man mit erschreckender Klarheit, wie leicht ein solcher Missbrauch erfolgt, wenn erst ein- mal die Bahn betreten ist, für Geld Seelen erkaufen zu wollen.

Dieses ernste Meraento müsste an die Spitze aller Bestreb- ungen der deutschen Juden gestellt werden. Man mag noch so hoch denken über die Art und Weise, wie wir das sogenannte Culturproblem gelöst haben, es wird doch niemand sagen, dass un- sere Lösung eine einwandfreie ist. Schliesslich genügt bloss die Erinnerung an die beiden Worte : Thora und Sabbat, um auch dem Befangensten klar zu machen, dass es denn doch noch einen an- deren Weg geben muss. Das Problem liegt so. Sind im Osten die Voraussetzungen für diesen anderen Weg gegeben? Begreift man unter diesen Voraussetzungen grössere Innerlichkeit des reli- giösen Lebens, umfassenderes Wissen in der Thora sowohl nach der Intensität, als auch in Bezug auf die dem Wissen zugeführten Massen, so mag man getrost diese Frage bejahen. Nun ist, wie männiglich bekannt. Wissen kein Gut, das ererbt wird; erkennt man also die Voraussetaung als richtig an, so muss man eine Mög-

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lichkeit suchen, dass das bisher besteheude Wissen nach den oben bezeichneten Richtungen erhalten bleibt. Da kann gar nicht oft genug wiederholt wei'den. dass es eine Fabel ist, wenn man et- waigen sozialen Niedergang bei den Ostjuden in der Vorkriegszeit auf ,, allzu einseitige religiöse Ausbildung" zurückführt. Man könnte im Gegenteil vom ganz nüchternen, rein praktischen Standpunkt ans behaupten, dass gerade diese Ausbildung und die durch die- selbe erzeugte Schärfe des Geistes einer denkbar ungünstigsten äusseren Lage zum Trotze vor vollständigem Untergang Ijewahrt hat. Allzuleicht vcrgisst man, dass man es dort im Osten nicht mit wenigen Individuen zu tun hat, sondern mit breiten Massen, welche auch in jedem anderen Lande nicht so ohne Aveiteres eine soziale Hochschicht bilden können. Nimmt man ihnen die Mög- lichkeit, durch intensives Thorastudium in der Jugend sich einen inneren Halt zu geben, so entsteht ein vierter Stand mit allen Schrecken und Schatten. Erhält man ihnen aber diese Möglichkeit, so werden sie sich wirtschaftlich je nach Begabung und Gelegen- heit entwickeln, alle aber werden gegen die moralischen Gefahren gefeit sein, welche sonst das Innenleben abhängiger Menschen bedräuen. So raüsste schon rein nüchterne Betrachtung mit allem Schwergewicht das Bestreben erzwingen, die „Chederbildung" in ihrem Wesen zu erhalten. Wie ganz anders erst gewinnt dieses Bestreben an Umfang, wenn man auch noch das religiöse Moment in Betracht zieht. Denn man mag die ganze Welt durchmessen, eines wird sich sicher ergeben : reiches Thorawissen ist in der Regel nur d<>rt. wo die früheste Jugend schon nMch der bisherigen Melhode des Ostens unteirich'et wurde, woliei wir gerne zuge- stehen, dass die Methodik Vcbesserungen verträgt. Es spitzt sich also das Problem zu der Frage: Wie kann man bei besserer Oekoiiomie der Zeitausnut/ung der osteuropäischen Jugend ein Schulsystt-m geben, welches Thor.-biidung und B< rufsbilduug ver- eint? Vielleicht könnten ungarische Erfahrungen hier ein gewich- tiges Wort sprechen. Wir werden deshalb in nächster Zeit in diesem Organ ein Bild zu geben versuchen, wie man in Trans- leithanien dieser Forderung gerecht zu werden versucht.

Will man aber die bisher bestehende Innerlichkeit des reli- giösen Lebens erhalten, so ist «rste Bedingung, dass man derselben

mit gebührender Achtimg entgegentritt. Da ist vonnoten, dass man namentlich der Jugend gegenüber sich jedes gönnerhaften Mitleids entschlägt. Eine Jugend, welche von ihren Eltern in den Erziehungsmaximen grossgezogen ist, dass es vor allem gilt, treu seinem Gotte zu sein, eine Jugend, welche gewohnt ist, die Alter- native r^Dp Yii nnifi pf< D{<i (wenn keine Thora, dann kein Brot) mindestens so hoch einzuschätzen, wie die andere in Westeuropa beliebtere n"i\n |\y n^p ]•{< Di< (wenn kein Brot, dann keine Thora), darf nicht mit der Meinung verwirrt werden, dass eigentlich ihre ganze Erziehung eine verfehlte sei, da dieselbe sie nicht zum Le- ben ertüchtigt habe. Das wirkt verheerend. Nötig ist vielmehr, dass man ängstlich darauf bedacht ist, stets das gemeinsame Ideal zu betonen, in der Jugend dort das Bewusstsein zu wecken von dem unendlich Grossen, was sie uns, was sie der Gesamtheit leistet, ihr einen Rückhalt zu geben, mit dem sie in ihrem Innenleben allen Gefahren begegnet, welche sich aus dem Sturze der Ghetto- schranken ergeben. Dann werden die Juden des Ostens in ihrem engeren Zusammenhang mit Westeuropa ein Volk der Dichter und Denker sein und bleiben.

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Berlin.

„Wissen Sie denn, dass es ein Berlin giebt, ein einziges, echte», starkes, wundervolles Berlin? Ach, keiner kennt es. Es ist auch nicht leicht. Andere Städte haben es besser. Sie sind älter und schon ihr Name löst Vorstelluniien und Gefühle aus. Rom, Paris. Wien. London, Petersburg: bildhafte Komplexe, histo- rische Tatsachen. Berlin das Neue, Unbekannte. Man muss umlernen für diese Stadt. Seine Stimmungen sind einzig, ohne Beispiel. Es ist auch alt, ja. Die Wenden aber davon ist nichts übrig. Draussen an der Havel da spürt man es noch. Die vielen Wasserwege, die Landzungen, Wälder, Hügel, Horizonte, das ist wendisch, slavisch traurig, östlich-schwermutsvoll, gar nichts von westlicher Seelenbefreitheit ist da in der I^andschaft. Aber Berlin ist ganz neu. Aus dem Boden gestampft. Ja. diese Fas- saden sind wild, gemein, diese Menschen und ihre Sitten üppig, ausschweifend. Aber warum? sie sind geil aufgeschossen, aus zu reichem Boden, der Ueberfluss bricht aus, die Jugend ist zu un- gestüm. Man gebe Berlin dreihundert Jahre Zeit und es ist die einzige Stadt Europas. Paris herrlich, berauschend, ja! aber es stirbt ja ab, es hat keine Zukunft. London, Petersburg, Wien, was sind sie? fertig, abgeschlossen, stagnierend, nichts treibt mehr neu. Rom: eine Ruine. Aber Berlin: die Jugend, die Zu- kunft, die Verheissung." (Kurt Münzer, Menschen von gestern, ein Berliner JRoman. 1916. München und Berlin bei Georg Müller S. 158 f.)

Wissen Sie nun, was Berlin ist? Falls Sie's noch immer nicht wissen, dann hören Sie weiter: . . . . Bahnhöfe, Kranken- häuser, Fabriken, Theater, Kasernen, iMuseen, Zuchthaus, Bordelle, Tanzhänser, Friedhöfe, Kirchen, Villen, Häten, Kinderspieli)lätze, Arheitorbaracken und Generalstabshaus, Reichstag und Kutscher- kneipe. Und dazwischen die Spree, der Fluss. Nachts die Lichter im Wasser. Das ist wie Natur, Landschaft mitten in der Stadt. Dieser Gegensatz zerreisst das Herz vor Wonne. Da unten zieh- endes Wasser, Plätschern, gebrochene Sterne, hinten Lokomotiven- pfiff, eine Keilerei, Betrunkene, Dirneukreischen, Autohupe, tausend

helle Fenster, still, freiiodlicli, oben auf dem Bahngeleise ein Zug, und ich wandle unter Bäumen . . . der Tiergarten duttet. Dort liebt man sich. In den Zelten Muaik. Am Utergitter einsame, verschlungene Paare." (das. S. 160).

Wenn Sie noch immer nicht wissen, was Berlin ist, dann ist Ihnen nicht zu helten, oder Sie müssen sich der Mühe unterziehen, entweder selbst nach Berlin zu reisen, um sich das Ding einmal aus der Nähe anzuschauen, oder, was billiger ist, den Münzerschen Roman von Anfang bis zu Ende durchzulesen ; denn ohne Berlin zu kennen, werden Sie Ihr Lebtag nicht in den Ruf eines Men- schen von Bildung und Weitblick kommen.

Xatürlich ist das Berliner Stadtbild, das Berliner Strassen- leben noch nicht Berlin. Sie lernen Berlin nicht kennen, wenn Sie sich bei Ihrem Studium blog auf kritische Ausflüge in das (iffentiiche Leben dieser Stadt beschränken. , Sie müssen die Ber- liner Familien, insbesondere die der Oberschicht, in ihrer häuslichen und gesellsehaftlichen Gebahrung beobachten, um zu wissen, was Berlin ist. Erschrecken Sie nicht, wenn Sie dabei auf eine unge- ahnte Fülle wurmstichiger Menschencharaktere stossen,

Da i»it z. B. Helene, die eine ganz sonderbare Auffassung über den Beruf der Frauen hat. Aus Liebe zu ihrem Manne will sie keine Kinder. Ihr Gatte, ein Franzose, begrüsst seine Schwä- gerin Anna mit den charakteristischen Worten: ..Also das ist meine Belle-Soeur? Wie heisst es auf deutsch? Schwägerin, Helene? Abscheulich . . ."

Hier haben Sic eine treffende Illustration des Unterschieds zwischen deutschem und französiachem Geist, zwischen deutscher und französischer Sprache. Und Sie werden verstehen, warum Berlin Berlin geworden ist, seitdem es den Ehrgeiz hatte, in , .westlicher Seelenbefreitheit" Paris zu übertrumpfen.

Anna denkt anders wie ihre Schwester Helene, sie sehiit sich nach der Mutterschaft. Doch im tiefsten Grunde läuft auch diese Sehnsucht auf einen verfeinerten Egoismus hinaus. Sie fühlt sich als halbes, unvollkommenes Wesen. Sie bedarf des' Kindes, um sich auszuleben. Der reine Pfiiclitgedanke. der sich auch mit Kinderlosigkeit als einer Jenseitsfügung abzufinden weiss, ist ihr

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fremd, und spöttisch nennt ihren Seelenzustand der Berliner Fach- ausdruck Psychose der Sterilität.

Die Berliner machen aus dem Schmutz eine Weltanschauung. Daher die grossen Worte für die gewöhnlichsten Niedrigkeiten. „Der Ruf in'« Leben", ..das Weltgefühl" : versuchen Sie einmal diese hochklingenden Phrasen in die Schulchan-Aruch-Sprache zu übersetzen, ob Sie da ein anderes Wort finden werden als ni:?! „Tugend ist paradox. Wenn sie unbelohnt bleibt, bringt sie nichts ein. Und ihre einzige würdige Belohnung wäre ihr Fall.'" Da haben Sie den Extrakt der Berliner Philosophie. Sie meinen viel- leicht, Paris sei noch immer die privilegierte Hochschule des miT. Sie irren. Den Rausch des Leichtsinns in Paris finden Sie in Berlin als ein mit deutscher Gründlichkeit ausgearbeitetes System moderner Lebenskunst wieder.

In dieses mit wahrhaft genialer Wucht emporgeschossene, alle Hauptstädte der Welt mit seinen Leistungen auf allen Gebieten menschlicher Geistesbetätigung in den Schatten stellende, und bei alledem doch so durch und durch sittlich verdorbene und verseuchte Berlin kracht mit einem Male am 1. August 1914 das Weltkriegs- gewitter hinein. Die einschlagenden Blitzscl-läge, mit welchen der Weltkrieg die Berliner Atmosphäre säubert, wirken in der ersten Zeit mit der ganzen Furchtbarkeit eines nie erlebten Naturereig- nisses. ,,0, Segen des Krieges ! Das Unfruchtbare starb ab oder wurde befruchtet. Uebrig blieb die Tätigkeit, das Schöpferische, Zeugende, Gesunde. In der verminderten Menschheit würden dennoch stärkere Kräfte walten. Es war die Geburtsstunde der Zukunft, eine bange und schwere Stunde, voll Schmerzen und Blutverlust! Aber das würde bald verwunden sein, morgen schon nichts mehr als ein l)itterer Traum ; der neue Himmel w^ürde das Opfer verklären, Was gebar der Krieg? Sehnsucht nach Leben, nach Ewigkeit. Nie mehr würde eine Frau sich gegen das Kind wehren. Der grosse Tod ringsum machte nicht lebensmüde, son- dern lebensfroher denn je. Es gab nur noch einen Stolz: Mutter werden, Mutter sein und also über den Tod triumphieren. Der Mensch, längst weiser als die Natur, weil er imstande war, ihre Fehler, Irrtümer und Strafen zu verbessern, war auch stärker als das Schicksal: der Krieg war Verhängnis, aber der Mensch

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/ konnte ihn ausgleichen : er wurde fruchtbarer und ergänzte die

Lücken doppelt!"

Die Biisserstimmung, die der Krieg über die Familien bringt, ist in dem Münzerschen Roman ganz prachtvoll und, was noch wertvoller ist, glaubhaft gezeichnet. Und doch, und doch auf S. 327 steht ein Satz, der noch viel glaubhafter ist: ,,Der Krieg muss ein Jahr dauern, ehe er unsere Leichtfertigkeit ausrottet. Und wer weiss, ob der Kurfürstendamm nicht vielleicht xäher ist, als der Krieg ? . . . Ach, ich glaube an die Läuterung des einzel- nen und an die Unverbesserlichkeit der Masse ; ich glaube an die Vergänglickeit der Liebe und an die Ewigkeit der Triebe ; ich glaube an die Lüge der Freundschaft und die Wahrheit der Heuchelei"

Und nun sagen Sie selbst: glauben nicht auch Sie, dass alle moralischen Erschütterungen des Weltkrieges sich schliesslich doch als schwächer erweisen werden als der HJ^OltD mi von Berlin ?

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Zur Lehre von den Zwangshändlungen und Zwangsvorstellungen.

1. Mit einer Strafe (39 Schläge oder Hinrichtung) und einer Sühnepflicht (Opfer) kann nur Jemand belegt werden, der die strafbare Handlung frei von Zwang verübt hat. Was heisst nun Zwang? Ausschaltung der Willensfreiheit. Die Macht, die den Willen ausschaltet, muss jenseits der Willenssphäre desjenigen, der die fragliche Tat ausführt, liegen. Ist aber die freie Selbst- bestimmung, wenn auch nur zum Teil, vorhanden, dann kann die Tat nicht als unter Zwang verübt angesehen werden. Das klas- sische Beispiel hierfür ist der Gegensatz zwischen byiD und bv^li. Beim ^^12 kann im allgemeinen von Dil« nicht gesprochen werden, nV'^'y i<bi^ "'"itt'P r^^, weil hier das Verbrechen nur unter Zustim- mung des Willens verübt werden kann. Schon im Augenblick ihres Entstehung war die Tat ein Verbrechen, denn ohne zustim- mendes Wollen des Täters hätte sie überhaupt nicht entstehen können. War aber die Tat in ihrem Ursprung legal und ist sie erst in ihrem weiteren Verlauf durch Hinzutritt eines von aussen kommenden Zwanges illegal geworden, dann kann auch der bV^Zi als ci:j< betrachtet werden : d:n: D"nN1 "in^n ny-b n^tt'J?: ^lli'V!^'«^ ^^^

Nin iiDj Dil« •'«11 vwp2 lü^v invnn (Jeb»moth 53 b nN''D mo^N d"3D'i

1, 9 und D"D das.)

2. Es giebt bekanntlich Fälle, wo die Treue zum Thorage- setz "iiDy ^Kl J"in'' selbst mit dem Tode besiegelt werden muss. Indessen handelt Jemand, der nicht märtyrerhaft genug ver- anlagt ist. nm sich lieber tödten zu lassen, als eine Thoravorschrift zu übertreten, gleichwohl unter dem Drucke eines Zwanges, der deshalb, weil ihm religionsgesetzlich nicht entsprochen werden darf, nicht auch zngleich als faktisch aufgehoben gelten kann. Ueber das religionswidrige Verhalten eines solchen Schwächlings darf daher pi rfz nrT'D nicht verhängt werden. Allerdings macht sich ein ]n r\^2, das in solchem Falle die Todesstrafe verhängt, keines ^CJ jmn w:ij;, sondern nur eines M^b Vl^l^V schuldig, weil doch immerhin von der Todesstrafe hier Jemand betroffen wird,

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der nur widerrechtlich noch am Leben ist. (|n"iM3D d"dCi1 20, 5

n"-nn das.)

Der Entschluss des Schwächlings, die ihm aufgezwungene Tat zu vollbringen, ist freiwillig, denn es lag in seinem Willen, sich tödten zu lassen. Nachdem er aber es freiwillig vorgezogen hatte, lieber am Leben zu bleiben und das ihm aufgezwungene Ver- brechen auszuführen, so kann deshalb doch der Akt des Ver- brechens selbst nicht als freiwillig bezeichnet werden. Nur der Entschluss zur Tat war freiwillig, die Tat selbst geschah unter Zwang. Mit dieser scharfen Unterscheidung zwischen Tat- entschluss und Tatvollzug entfällt auch, wie im o'*D zum d"DD1 a. a. 0. 20, 3 ausgeführt wird, der scheinbare Widerspruch, der zwischer dem hier behandelten Falle und dem oben erwähnten Grundsatz n^ib {<^{< '^W^P ]\'< gefunden werden könnte. Dieser Grundsatz kennzeichnet ein Verbrechen, bei welchem die Tat selbst ohne den zustimmenden Willen des Täters nicht ausführbar wäre, während hier die Tat selbst vom Anfang bis zum Ende unter Zwang geschieht. Durch den freiwilligen Entschluss zu einer Zwangshandlung wird die Handlung selbst noch nicht zu einer frei- willigen. Der Militärdienst z. B. bleibt deshalb doch eine Kette von Zwangshandlungen, obwohl man sich ihm durch Selbstmord ent- ziehen kann.

3. Die Uebertretung der '\^•2V^ ^^^^ J"in^-Pflicht stellt ein ^l^n DttTl dar, obwohl bei diesem unter Zwang verübten Verbrechen ]"'l n^'D nrr'D nicht verhängt werden darf. Natürlich liegt ein DBT! '^ibn- Verbrechen nur dann vor, wenn es unter ni<"inm Diiy geschieht. Die Zeugen sprechen ihre Verwarnung etwa folgendermassen aus: Wir machen dich darauf aufmerksam, dass du die götzendiener- ische Handlung, zu der man dich zwingen will, nicht volltühren darfst, du bist vielmehr verpflichtet, dich tödten zu lassen. Darauf er: ich will lieber am Leben bleiben, selbst wenn ich dadurch zu einer götzendienerischen Hsndlung gezwungen werde. Wenn er nun hingeht und den T'yAkt vollzieht, so geschieht diese Handlung, obwohl sie auf freiwilliger Missachtung der nt<"inn beruht, gleich- wohl unter Zwang.

4. Aehnlich wie mit den Zwangshandlungen verhält es sich mit den Zwangsvorstellungen. Zwischen einem JJI^ und einem riytoiD muss scharf unterschieden werden. Der Jjitt' befindet sich

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in einem belehrbaren, der nytsio in einem unbelehrbaren Irrtum. Das klassische Beispiel hierfür bietet die Mischna Sanhedrin 60b: iniiDV N'n IT "nVD ^y^^ '^^'ÜV lyion. Der -ii^d bV2 war ein Götze, dem durch Auswurf der Exkremente gedient wurde. Der i;2yy -iV'c, von dem die Mischna spricht, ist der Meinung, bei dieser götzen- dienerischen Handlung komme es vor allem auf die Absicht an, mit welcher sie ausgeführt werde. Diese Handlung ist im Sinne des "nj?D ^V>Kult8 ein Ausdruck der Götzenverehrung, sie kann aber auch, wenn sie nicht in der Absicht eine: Kulthandlung geübt wird, das Gegenteil, ein Ausdruck der Verachtung sein. Die Mischna belehrt uns nun, dass es hier auf die Absicht nicht an- kommt, vielmehr auch derjenige, der durch diese Handlung dem i'^yc 'r'JJD seine Verachtung ausdrücken will, sich eines ,"!;- Vergehens schuldig macht, weil irniDV k^Tl IT, sein Tun immerhin objektiv die beim "nyc ^VD-Kult nun einmal übliche Gepflogenheit darstellt. Wie haben wir uns nun hier die 3"'"iy fikSinn vorzustellen ? Sie sprechen zu ihm : Wisse, wenn Jemand "nyc ^yD^ IC^y lyiD ist, dann gilt er in jedem Falle im Sinne der Thora als Götzendiener ! Darauf er : Will ich denn dem "iiyr; bV2 dienen ? Ich will ihm meine Ver- achtung kundgeben ; das kann mir die Thora unmöglich verbieten wollen ! Der unterschied zwischen einem als j:>W Irrenden und einem als nyiDi;: Irrenden besteht also in folgendem : der 2^W wird infolge der von ihm nicht beachteten uNinP zum TTD, denn er kann belehrt werden und er ist belehrt worden und wenn er trotz der Belehrung die Sünde begeht, geschieht es aus Mutwillen; er steht nach der ri^inn nicht mehr unter dem Zwange einer irri- gen Vorstellung oder genauer: er wird vom Religionsgesetz nach der nxinn nicht mehr als unter dem Zwange einer irrigen Vor- stellung angesehen. Anders der nytJiQ. Das Religionsgesetz er- kennt an, dass er auch nach der n^^inn von einer irrigen Zwangs- vorstellung befangen ist, die es verhindert, dass ihn Zeugen be- lehren können. Gleichwohl macht ersieh eines Vergehens schul- dig, weil die Belehrung tatsächlich stattgefunden hat und seine Handlung objektiv einen Verstoss gegen das Gesetz darstellt. Wir sehen hier bei einer Zwangsvorstellung in ahulicher Weise sich wie- derholen, was uns oben bei der Zwangshandlung Itegegnete : wie dort eine, wenn auch nich! im Ursprung, so doch in ihrer Aus- führung unter Zwang sich vollziehende Handlung vom Religions-

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gesetz trotz stattgehabter Hi^nnn als Zwangshandlung anerkannt wird, so vermag auch hier die Tatsache der stattgehabten nxinn das Wesen des Verbrechens als einer zwar objektiv strafbaren doch subjektiv irrtümlichen Handlung nicht zu alteriereu. Mit Recht fragt darum der i"D"i (s. ni^D HDD zu m^in niD"» D"dD"i 5, 4) warum nur der nVL}1C nicht aber der D12J« für todesschuldig erklärt wird ; in beiden Fällen müsste doch die stattgehabte n^ifin, die unter gleichen Umstäuden erfolgte, die gleichen Folgen in Bezug auf die Bestrafung haben. Der ny^ü ^DD beantwortet diese Frage, indem er teststellt, das» auch der n>'l3"lD nicht todesschuldig, son- dern nur opferpflichtig sei, jedoch im Verlauf seiner Darlegung zweifelt er die vom ~!".':>~i aufgestellte Parallele zwischen D13K und nyt^lD in einer Weise an, die nicht recht verständlich ist. Er kon- statiert nämlich, dass die oben dargelegte Möglichkeit eines trotz nN"inn als Zwangshandlung anzuerkennenden Delikts einen unlös- baren Widerspruch involviere. Wir bitten unsere Leser, das bis- iier Gesagte sich gründlich durch den Kopf gehen zu lassen und damit den fiaglichen Satz im n:ifD HCD zu vergleichen: GNK' iy"D1 '1D1 nn^C D^^n 13 nnm ü:m<2 ü^DDO 12V. Wenn dieser Satz richtig ist, dann muss in unserer Darlegung ein Irrtum stecken. Wir wissen nur nicht wo und wären tür eine Aufklärung sehr dankbar.

R. B.

14 -

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15

^D bV pDDn ^2 ^2j D"ii^D «D^yi ü^lü^üD «I^IV ^im ^Di i;DD"i nr\J)7]

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/ Handschriftliche Bemerkungen Rabbiner S. R

Hirschs v^\ zu seinem Pentateuch-Kommentar.

nvNiD i'^y^ \nnDin mx^Dj «bn Nipi nldvz'dc i^üi^ uzb T\-\r\ tr^-ipn nbai y? onb -lypini ■^tt'Ci^i , t^np-i Ni^^tr^D xin ^^'-nr^n nd-iij^-i d^iid lyiTn {<^"i ifiin "i^iTD NHp"! Nwm nin ^inni n^Dic xnpi vSd^di nih ny -^^ Dn^byi mx^DD ^hndh::' m^Nin b-^ hd j?':id^ «b ht \>r\V'^ i'':yVi

7:c^ «"^n 'wvo T\y:b~ »»iTn "iKin i^^m n^icD in:D nin nbm nNn:i -1"« 'K D'D imnjcD Nn^N - n y d 7:0^ Irinnen t\-:-±>t\ ^iTm ] « d ^3pD ib^«D iiDT3 nnn "^y "j-iddh ^d ]jnv i"n ^dn n''t< j^on i''d nh«

vnuND ii<-in^ -iy oniiD piDNDi n^o d^ nynpD irm^N^ n^DB^n rby^ ^T^'w HDD 1^:0^ |ND n^'?:: in^Ti:i inniD: ib'n b^n idi^d , n i noi^i nirnn ]ct3 niD^n imKnD'n''D d::'- -^-ycm ^d -jd 'i:i ^'^n nih; i:^rv3

n^^:ij inrD^i gpvd d^d^h mi<D i'^non n^jj Tin"'D'i v^iü ^-z^n n?2N ^Di'?nn2 i:i^:Db rmiDi n^b:3 «^ntt' idd y^ron ^Di^nnz ir:D^ nmii 'N id"d mn;D - ormDK ^ry'? n::');'*:' -in^d^i d^djzi din ^:z myiiN'D "i^Ni ij;3ü«3 n"Dpn ^b nj^ina' ly T\^i:b ^b ]^rp vn nn^- '3 ^"1 ^1:1 '^:n

miDiin nvDDNn pin n^m .n^dldm dzd^ nn :3\nDi n^üitt' .dd^ "th m"iDy ''DN N^n -i«D Di^iyi piDy .Tp'^n ^d m-ci nnvy n-n:?^- n^i^riD VDtt'j 1:21 VDtt' DQ n-n;D^ mx^DD n^t^y py innc no^: i::'kS inns ^^n

DDiDD pNC^a njiD'i' pn D^ü-i'^ ^DDi NH nciiDDi ; DH^^DH ly ND^ npn^

^y pvjy TDi üüiDpz -i'^'N ]VDin miJD '?jid*d'i invD -iü c^i^on n;iDrD "in^D ^y ntt'D Toynb 'id "itt'CN ]d ^y , ni^yntsn vmiDi dinm -*: n^^jc

f yn n^NHD 'i'zn n"Dn i'? nf«-in n'^xn ny'i^

*) Vgl. Jüdische Monatshefte Jahrg. 1. No. 2.

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Vorsteheude Anmerkungen stützen sich auf die Ausführungen im Kommentar zu Ex. 12.2. 'DI Dd'? Hin ^inn- Daselbst heisst es: „D^li'in l^J^n kann nicht heisren: das Haupt, d. h. der erste der Monate. Es wäre dies einmal völlig tautologisch mit dem In- halt der zweiten Vershälfte, '1J1 ]üjb Nin ]"i::^kS~i, und es wäre nicht abzusehen, was diese Wiederholung bezwecken «olle. D"i'^in ^iTi, wo sie sonst noch vorkommen, heissen auch nie die ersten Mo- nate, sondern die Monatsanfänge. HTn ::'-inn kann daher nicht heissen : dieser Monat, sondern : diese Mondeserneuung. In der Tat heisst auch li'in an sich in allererster Bedeutung nicht Monat, sondern Monatsanfang, so Win2 ^^'in nbvj^ S^nn iriD) r\2^) ^in usw. Die Bedeutung Monat ist nur erst eine übertragene. Indem also Gott auf das neu erscheinende Mondeslicht hinwies und sprach: '1D1 öDb nin ^inn, so wird damit gesagt, was die Ueberlieferung in die Worte fasst: i:'ipi HNi mj (Rosch Hasch. 20 a) „Wie diese Erscheinung sehet fortan und heiligt euch Monatsanfänge".

Nach dem Nachweis im Kommentar ist die Interpretation, die die mündliche Lehre dem üDh mn ^IHTI gibt, dem Wortsinn durchaus entsprechend. Die Anmerkungen begreifen daher Raschi und Ramban b"f nicht, die neben dieser, nach ihrer Ansicht, dem Text sich nur anlehnenden Halacha, in Befolgung des Grundsatzes ^^^^r, i-i^q j^n^-ii j^npo pj^^ wonach der Text zunächst in seinem einfachen Wortsinn zu nehmen sei, die Übersetzung: , Dieser Monat sei euch der erste der Monate" auch für die erste Vershälfte vor- ziehen. Für Raschi b"] »»ag wohl das Nin des Nachsatzes ]Wm DD^ t<in sprechen M- Diese gram. Erwägung ist aber, nach des Verf. y'T Ansicht, nicht beweiskräftig. Man braucht nur nrn 'uinnn, das Mosche die am Himmel sichtbare Mondeserneuung weist, zu- gleich temporär zu begreifen, um auch das Nin des Nachsatze» zu verstehen : diese Mondeserneuung, die sich dir jetzt zeigt, eröffne dir in jedem Jahre die Reihe der zu zählenden Monate^). Nach

') i<TI bezieht sich auf niH ^"IPin des Vordersatzes und scheint dem- nach ^-pin als „Monat" zu nehmen zu sein.

. 2) Stellen wie 'i piDID : ]C^i nnt< ]\S1 jD^i HT , HTH ^IJiri , sowie

iS"n n*"d n"n ^Db'^M^ 0^:2^^ ab ^ni ^:^«i i^'ni ^sin dd^ , n^'v^'in ^iT)

\-2) und auch das. t3<iyio , toiy^^D GD^ kSIH ]WÜl . 131^0 Ujb HTH ^r^-inH D"'bjlbl ü"'DbCib niDl'? ^^V'^'D ~in{< sprechen nur scheinbar für Raschi. Aus

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Rasehi hätte li.an auch statt D^'v^in ^ir\, D^tt^inn B'Nn erwarten

sollen ').

Die Anmerkungen erläutern ferner zwei Aussprüche der Weisen '^"T. die das "Th 'ü^'inn in dem vom Kommentar entwickelten Sinne nehmen.

Wer über die sich erneuernde Mondessichel die Beracha spricht, empfängt im Anschauen Gottes sicli offenbarende Herrlich- keit. Hier heisst es : n T n znnn, so auch im Meereslied : ^'-N n T irn^SV Wie einst Gottes Herrlichkeit sich den Vätern am Meere im Anblick ül)erwältigender Wundertaten also offenbarte, dass sie, auf die sichtbar ihnen entgegentretende Gottesallmacht hinweisend, den gelobenden Vorsat/ fassten : Gott, der in seinen Allmacht und Grösse sich ihnen zeigte, soll fortan auch Gott ihres Lebens sein, so bekennt jeder, der im Anblick des sich erneuenden Mondes segnend zu Gott aufschaut, dass dieser Vorgang am Himmel ihm Offenbarune: des Wirkers der Wahrheit" sei. dessen ordnendes Schöpferwort in dem gesetzmässigen Wandel der Himmelskörper, dessen Allmachtsnähe in dem natürlichen Lauf der Dinge sich ebenso offenbart, wie sie sich einst am Meere in der wunderbaren Lenkung und Gestaltung der Menschengeschicke unserem Auge enthüllte.

Die Erfassung dreier Dinge sei Mosche so schwer geworden, dass Gott gleichsam mit dem Finger hin ihm gewiesen habe. CDb mn tt'inn die Bestimmung der iMondesanfänge habe Gott ihm gezeigt. Wer vermöchte auch restlos das Geheimnis astrono- mischer Vorgänge enthüllen ?

miiDH n^VO nn Die Menora habe Gott Mosche im ein- zelnen gewiesen. Denn gar tief und unergründlich erweist sich die^Symbolik der Menora. die sich an ihre Gestalt, aji ihre Masse und ihre Verzierungen knüpft. „Und selbst der Staubeshauch eines Löstngsversuchs, den das schwache Auge des Verfassers in

ihnen ergibt sich durchaus nicht, welche Uebersetzung von (h-n Weisen y*] als die dem natürlichen Wortsiuu entsprechende angesehen wurde. Der Erkenntnis, dass nin Idnri übertragen auch als erster ^^Monat in der Reihe der Juhresmonate zu nehmen sei, hat sich Verf. ^'^ natürhch nicht verschlossen.

') Daraut hat Verf. ^'i bereits im Kommentar in anderem Zusammen- hang hingewiesen, s. Komm. Ex. S. 100.

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seinem Kommentar gewagt, nicht anders denn als schwankende Vermutung will er sich geben" '). Wer aber möchte Gottes All- machtswort restlos erfassen ?

i<t2\^71 DD/ n!1 Auch bei der Nennung der acht Kriech- tiere, die im Tode HNDitO zur Folge haben, habe Gott Mosche „mit dem Finger" belehrt. Nach der tiefen Erläuterung im Kom. gehen die riiSDVt3-Bestimmungen der Thora hinsichtlich rh21 und yi^ von PD riNDIlO aus. „Wie aber durch Du, durch die menschliche Leiche unmittelbar mit dem ,, gestorbenen Leib" die Vorstellung von der Unfreiheit, somit von der blos physischeo Natur des Men- schen überhaupt, nahe liegt, so wird diese Vorstellung auch durch jeden dem menschlichen Körper ähnlichen Leib geweckt, der der Gewalt des Todes erlegen. Es sind daher nur die dem Menschen in Körperbildung nahe stehenden Tiere, zunächst die grösseren Landsäugetiere jeder Art, deren Leichname, als rhzi, G't^CtS sind. Unter den kleineren sind es nur acht, D''ii"i^ n:i1Dtt', von denen die uns bekannten, Wiesel, Maus, Mauhvurf ebenfalls zu den Säuge- tieren, und gehören sie wohl sämtlich zu den Wirbeltieren, deren Körperbildung sich nicht allzusehr von der Ähnlichkeit mit dem menschlichen Körper eotfernt" (Kom. Lev. S. 235). Die obigen Anmerkungen schliessen daher mit Recht aus der Tatsache, dass das Gotteswort gerade diese acht Kriechtiere in ihrem Tode nf<u>lt3 weckend sein lässt, auf besondere physiologische Ähnlichkeiten, die zwischen diesen Tierkörpern und dem Menschenkörper bestehen müssen, vielleicht jeder einzelne eine besondere, die vereint wun- derbare Autschlüsse über physiologische Eigentümlichkeiten des Menschenkörpers enthalten mögen. Die Erschliessung all dieser Geheimnisse mochten Mosche durch göttlichen Fingerzeig gewor- den sein.

1) So urteilt der Verf. "y"] über seine genialste Forschung !

J. Br.

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Kriegsgedanken,

„Er, der thront über dem Kreise der Erde, sodass ihre Be- wohner Heuschreckeji gleichen, der wie Luftdünniing die Himmel neif^t und sie ausspannt gleich einem Zelte /.um Bewohnen : der giel)t noch jetzt Staatenlenker dem Nichts hin, der hat die Macht- haber der Erde der Oede gleich gemacht ! Ho dass sie nicht gepflanzt, auch nicht gesäet waren, auch nicht in der Erde ihr Stumpf wurzelt auch wehte er gegen sie und sie verdorrten, der Stnrin aber trägt wie Spreu sie hinweg. Wem wollt ihr n>in mich vergleichen, dass ich ihm gliche? spricht der Heilige. Er- hebt zur Höhe eure Augen und sehet; wer hat diese erschallen, der in bestimmter Zahl ihr Heer heraufführt'? Sie alle ruft Er mit Namen. trotz der Fülle der Kraft und so überwältigend an Stärke, bleibt doch Keiner aus ! " (Jes. 40, 22ff.)

Wir nennen die Geschichte, die von den Menschen auf der Erde gemacht wird. Weltgeschichte. Es stekt viel Grössenwahn in diesem Wort, wenn ilim das selbstherrliche Treiben der Menschen als das einzig Ausschlaggebende im Weltgeschehen vorschwebt. Wie klein- lich müssen Gott die Bestrebungen der wie „Heuschrecken" auf der Erde sich tummelnden Menschen vorkommen, wie winzig mass Ihm ihr Aufwand an Macht erscheinen. Ihm, der die Himmel wie einen Schleier ausspannt! Gleichwohl kümmert sich Gott um die politischen Ereignisse auf Erden. Ja, der wirkliche Sieg kann nur von Gott erfochten werden. Eine Nation kann die andere nur unschädlich machen, sie „entwurzeln* kann nur Gott. Aus dieser gewaltigen Rolle, die Gott im politischen Leben spielt, ergeben «ich zwei Konsen.uenzen. Erstens: Ehrfurcht vor seiner ünver- gleichlichkeit. Zweitens : Gehorsam gleich den himmlischen Wesen, die das göttliche „Aufgebot" mit ihrer „Gestellung" pünktlich be- folgen.

*

Das jüdische Gesetz mit seinem Blntgenussverl)ot (Deut. 12, 23 ff.) will die bestialischen Instinkte der menschlichen Brust un-

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terbinden. Selbst im Kriege wurde die Heiligkeit dieses Rituals hochgehalten, wie aus Sam. I, 14, 32 f. erhellt. Aus Jecheskel 33, 25f geht hervor, dass frivole Kriegslust mit mangelhafter Scheu vor dem Blute zusammenhäogt. Erst- im Lichte dieser Propheten- verse wird verständlich, warum die Thora bei ihrem Verbot des Blutgenusses [Deut. a. a. 0.] sagt : ,I8S es nicht, damit es dir und deinen dir nachfolgenden Kindern gut ergehe; denn du thiist das, was in den Augen Gottes das Gerade ist." Die Scheu vor dem Blute verbürgt das Wohlergehen des Einzelnen und seiner Kinder; sie verhilft neben der Gesamtheit, der Nation, dem Staate auch dem Individuum zu seinem Recht-, und sie macht den Krieg unmöglich, indem sie das starre Besteben auf eigennützigen Rechts- ßtandpunkten durch das Billigkeitsprinzip des „Guten und Geraden" verdrängt und damit den gewöhnlichen Ausbruchsherd des Krieges verschüttet.

Wer ein neues Haus gebaut hatte, ohne es eingeweiht zu haben, wer einen Weinberg gepflanzt hatte, ohne ihn zum Genuss gebracht zu haben, wer eine Frau sich angetraut hatte, ohne sie heimgeführt zu haben, wurde nach Deut. 20, 5 ff. beim Ausbruch eines mwn-Krieges für unabkömmlich erklärt. Da« ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, dass für Israel das Jakob D'^briii DU^'i'' Prinzip auch im Leben des Staates gelten sollte. Das völlige Aufgehen des Lebens im Schwert (riTin "Din hv) war mit diesem Prinzip nicht vereinbar.

Der Gebrauch von falschen Massen und Gewichten ist „ein Abschen Gottes" (Deut. 25, 16), ein Verbrechen, dessen Schwere selbst ril'^ny ^:nv überwiegt, weil es seiner Natur nach durch HDIlfn nur schwer gesühnt werden kann. (S. Komm, das.) Merkantile Sünden sind ein schleichendes Gift, welches über seine ursprüng- liche Quelle hinaus das Blut des gesamten wirtschaftlichen Lebens zersetzt. Die Möglichkeit einer gründlichen mDD für nilQ "I^l^V ist bei einem die ganze Weit umspannenden Handel vollends un- terbunden. Sollte am Ende nur deshalb Krieg sein, weil der

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Welthandel sühnebediirftig war und es Tür ihn keine andere n"iDD gaW ali Durchschneidung seiner Adern ?

Die Sünde wird in unseren heiligen Schriften, so z. B. Ne= dariiii 32 b im Anschluss an Koheleth 9. 14, vielfach mit einer Festung verglichen. Dieses Bild verrät uns das Geheimnis, wie die Sünde zu bezwingen ist : wie eine Festung. Eine Festung aus- zuhungern, zu warten, bis die Sünde durch Krankheit, Alter usw. ihre Macht verliert, das ist kein Heldenstück. Der wahre Held wartet nicht, bis die Sünde sich von selbst ergiebt: er nimmt sie im Sturm.

Wenn im Judentum der Nationalismus seit jeher gehindert war, chauvinistisch auszuarten, so haben wir dieses der grossen Macht zu verdanken, welche die Idee der Menschheit auf die Ge- müter ausgeübt hat. Nun wäre es aber ein Irrtum zu glauben, das» der Krieg diese grausamste Verhöhnung der Idee der Mensch- heit — ausschliesslich der Ueberspanniing der nationalen Idee ent- s]iringt. Die Hauptquelle des Krieges ist vielmehr die üeberspan- nung eines reinmenschlichen Triebes, des Willens zur Macht. Das zeigt sehr anschaulich eine Midraschbetrachtung zum Todschlage Kajins (Tanchuma zu Gen. 4. 8) : D^n: b"a HD vnn bin bi< ]p ICN^I

n'?c2 HT iD-i bv ^itDn Hb bnn V'a -\:2'\d }2 ^Dpn:^ Dipo v^n bv p'^n rrinn r\i^ |vü Co '^ci') d^hd pnb^ n-^D cnvn2 ^n^i 'i^2^ Dn^:o nt^t^p- „Kajin sprach zu seinem Bruder Hewel. Was sprach er zu ihm ? Wir wollen die Welt unter uns teilen, doch ich als Erstgeborener beanspruche das doppelte Mass. Hewel antwortete : Meinst Du wirklich? i)arauf Kajin: Dann will ich wenigstens den mir gebüh- renden Teil um das heilige Fleckchen Erde vergrössern, wo dein Opfer wohlgef^illig aufgenommen wurde (und wo sich einmal der heilige Tempel erheben wird). Hewel erwiderte: Nein, auch das sollst du nicht bekommen. das war's, was ihren Streit veran- lasste. Denn es heisst : „Und es war, als sie sich auf dem Felde befanden" an und einer anderen Stelle (Jirm. 26) heisst es: „Ziou wird als Feld gepflügt". Dass Gott Kajins Opfer verschmäht hatte,

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bildete nur den Vorwand des Streites. Die wahre Ursache war die Konkurrenz bei der Verteilung der Welt. Kajin verbrämt sein Maehtgelüst mit angeblich religiösen Motiven. „Zion wird als Acker- land gepflügt" : d. h. die höchsten Ideen werden niedriger Hab- sucht in Sold gegeben. Und so ist es bei allen Kriegsanlässen bis auf den heutigen Tag geblieben.

Diesen unseligen Willen zur Macht wer kömite ihn bezäh- men? Auch darauf giebt uns der Midrasch Tanchuma eine Antwort. ViCD bv^ HDB' bemerkt er zu Gen. 4, 15, „Der Sabbath war ihm ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch", worin eine treffende Begründung der auf Kajius Verzweiflungsruf erfolgten Milderung des göttlichen Strafurteils liegt. Der einzige Milderungsgrund für Kajins unstillbaren Machthunger war der Umstand, dass ihm der Sabbath unbekannt war, dass Gott den Sabbath, der wohl schon seit dem siebten Schöpfungstage verkündet war, doch „eingeschlos- sen" hatte tür eine späteren Zeit, in welcher er zu einem das Le- ben beherrschenden und gestaltenden Gesetz erhoben wurde. Der Sabbath ist mit seinem HDi^^D IICN der wirksamste Bändiger des Menschenanspruchs auf das Weltimperium. Eine Welt ohne Sab- bath wartet vergeblich auf den ewigen Frieden Der Wille zur Macht ist ein sabbathloses Werktagsgelüst, das in wilden Kriegen emporlodert, um sich schliesslich in seinen eigenen Flammen zu verzehren.

R. B.

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Eine heikle Etikettenfrage.

Das Sicherlieben von den Sitzen als Zeichen der Ehrturcht ist eine Sitte, die wohl im allgemeinen als eine gesellschaftliche Zeremonie angesehen wird, die man ausüben aber aucii unterlassen kann, ohne sich damit eines tragisch zu nehmenden Verstosses gegen die Gesetze der Moral schuldig zu machen ; im Sinne des jüdischen Religionsgesetzes jedoch wohnt dieser Sitte eine nicht minder hohe Bedeutung inne, wie jeder anderen Norm, mit der die Tliora das Zusammenleben der Menschen geregelt hat.

„Man ist verpflichtet, vor seinem Vater aufzustehen." Mit diesem Satze (Schulchan Aruch Jore dea 240, 7) will das Gesetz auch in das Verhalten des Kindes zum Vater einen Zug steifer Förmlichkeit, das Distanzbewusstsein der Etikettenregel verpflan- zen. Nicht kamoradschaftlich, wie die vorurteilslose moderne An- schauung es will, soll das Verhältnis zwischen Kind und Vater sein. Das Kind soll nie vergessen, wen es im Vater vor sich hat. Es hat seinen guten Grund, wenn der ]"dO"i im Gegensatz zu Ra- schi im Verse „er fiel ihm um den Hals" (Gen. 46, 29) nicht Josef sondern Jakob als Subjekt erklärt. Wenn Vater und Sohn nach langen Jahren des Fernseins ein unverhofftes Wiedersehen feiern, dann geziemt es wohl Jakob seinem Sohne Josef um den Hals zu fiilleü, nicht aber umgekehrt. Das Kind soll seinem Vater auch in einer Stunde der Erregung nicht um den Hals fallen, sondern durch ehrfürchtigen Handkuss seinen Gefühlen einen förmlichen, disziplinierten Ausdruck verleihen. Sollte nicht auch der in vielen jüdischen Kreisen, zumal im Osten heimische Brauch, dass Kinder ihre Eltern nicht kameradschaftlich mit „Du" sondern etikettenhaft mit „Sie" anreden, weit entfernt, eine lächerliche Steifheit zu sein, vielmehr seine gute Begründung in den Regeln jener jüdischen Grandezza haben, wie sie der ]"DD1 als schon in der Patriarchen- zeit bestehend annahm ?

Nicht spielerisch sind die jüdischen Sitten, sondern ernst, erwachsen auf dem Boden einer vom Gottesgeist getränkten An- schauung von Welt und Leben. Man kann darum auch nicht im

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eigentlichen Sinne yon jüdischen Etiketteoregeln sprechen. Dem Begriff der Etikette haftet eine erhebliche Dosis vom Leerem, Kon- ventionellem, Borniertem, Spielerischem an. Sie gehört mehr zu den Verzierungen als zu den Faktoren des Lebens. Das Juden- tum kennt in seiner ernsten Schwere keine Lebensornamentik, son- dern nur ein Lebensgesetz, in welchem auch die äusseren F'ormen des gesellschaftlichen Lebens mit dem ganzen Pathos des jüdischen Ernstes umkleidet werden. Daher wir uns auch nicht wundern dürfen, wenn in unseren heiligen Schriften die' heikle Etiketten- frage, welches V^chalten in Bezug auf das Sicherheben vom Sitze geboten ist, wenn der Sohn der Lehrer seines Vaters ist. eindring- liche wissenschaftliche Behandlung erfährt.

Es stehen sich hier zwei Ansichten gegenüber : die des ^"ai auf der einen, die des D"dD"i auf der anderen Seite. Nach dem ^"kSn sind beide verpflichtet, der eine vor dem andern aufzustehen. Der Söhn vor seinem Vater aber auch der Vater vor seinem Sohne, weil er der Schüler seines Sohnes ist. Diese Ansicht des i:'"^') ist Kidduschin 3c5b begründet. Daselbst werden folgende zwei Fragen behandelt. 1. Ist der Sohn, w^enn er der Lehrer seines Vaters ist, verpflichtet, vor seinem Vater aufzustehen ? Antwort : rnin" ni war der Lehrer seines Vaters ^J^pin"^ 2"i. Gleichwohl rief ^NIDi:' einmal nilH'' D"i zu : 1"12}« "i^pD mp, erhebe dich vor deinem Vater ! Da sich aber die f^"iDJ mit dieser Antwort nicht zufrie- den giebt, weil \^: bü^ü'x; IQ ib^cj^i Nin ü^]l;:!D ^VDi bj^pin^ 21 ^:ü^

7]'Dpi2 D'^ap einem so ungewöhnlichen Manne wie 'pNpTn"' D~l gegen- über, dem selbst ^kSID'i' IQ durch Aufstehen seine Reverenz bekun- dete, es nicht zu verwundern ist. wenn auch sein Sohn trotz seiner Eigenschaft als Lehrer seines Vaters hierzu verpflichtet ist, so bleibt die Frage, die normale Fälle im Auge hat, schliesslich doch unent- schieden. 2. Ist der Vater, wenn er der Schüler seines Sohnes ist, verpflichtet, vor seinem Sohne aulzustehen? Antwort: }}^)n'* 'l ^ib ]2 sagte einmal : Wäre mein Sohn nicht mit dem i<^V2 rT'D ver- schwägert, dann passte es sich nicht für mich, vor ihm aufzu- stehen, — Da dieser Ausspruch doppelsinnig ist. nur dann, wenn es gewiss wäre, dass "i^b p yz^lü' 'n als Lehrer seines Sohnes seinen Ausspruch tat, könnte daraus gefolgert Averden, dass er als Schüler seines Sohnes sich vor ihm erhoben hätte, auch wenn er nicht mit dem N^'^*: n''2 verschwägert gewesen wäre, nicht

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aber, wenn er als Vater seines Sohnes sprach so bleibt die Frage, die auch hier normale Fälle betrifft, schliesslich doch un- entschieden. Daher der ^"n-\ nach dem allgemeinen für xpTD Nn-^n-'N-i geltenden Grundsatz in beiden Fragen erschwerende Ent- scheidung trifit.

Anders entscheidet der □"20"i : Der Vater ist nicht verpflichtet, vor seinem Sohne aufzustehen, obwohl dieser sein Lehrer ist, wohl aber ist der Sohn verptlichtet, vor seinem Vater autzustehen, ob- wohl dieser sein Schüler ist. (D^D^ 6, 4). Der n^ITD n.^ 7.. St. sucht an der Hand des ]"l nachzuweisen, dass die Entscheidung des □"2D1 aut dem Jeruschalmi beruht, wo uns (ji^npl p"D) die rührende Art geschildert wird, wie ]1D1L3 'l seine Mutter ehrte, (s. das.)

Während in der ii"}} '^D H^liy an:o 'n der Entscheidung des d"DD"1 der Vorzug vor der des 'i;"ü~\ gegeben wird (s. l"^), be- keunt sieh der ü"Dl zur letzteren mit der Einschränkung, dass der Sohn auf die ihm seitens des Vaters gebührende Ehrervveisung freiwillig verzichten kann, vorausgesetzt, dass durch diesen Verzicht kein rninn ]"i"'D (Verunglimpfung der Thora durch Antasten der Ehre ihrer Träger) entsteht. Dieser Möglichkeit wird am besten dadurch aus dem Weg gegangen, dass Vater und Sohn, die zu gegenseitiger Ehrerbietung verpflichtet sind, einander möglichst aus dem Wege gehen, damit sie nicht der Gefahr einer ungebührlichen Behandlung beiderseits sich aussetzen •, wie vom D"iniD (R. Meir aus Rothenburg) berichtet wird, der sich aus diesem Grunde, seit- dem er eine Thoragrösse ward, von seinem Vater fernhielt und sich auch den Besuch seines Vaters verbat. (Vgl. T"t3 z. St.)

Wir möchten dieser für uns massgebenden Entscheidung des N"D"i eine aktuelle Bemerkung anfügen. Mit dem Aufstehen vor dem Dl nimmt man es nicht in allen Gemeinden genau. Dieses Lüften des Sitzes empfinden auch orthodoxe Zeitgenossen als alt- fränkischen üeberfluss. Diese Emfindung hängt einerseits mit dem Schwinden der minn TQD, andererseits mit der Verschiebung der Aufgaben des Rabbinerberufes zusammen. Seitdem sich Jedermann einbildet, er müsse unbedingt eine Weltanschauung haben, er sei kraft des ihm zustehenden Selbstbestimmungsrechtes befugt, die Thora auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen, seitdem ferner der DI nicht autoritativer Träger und Vertreter der Thora, sondern isra- elitischer Kultusfunktionär mit hoher oder massiger oder geringer

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Besoldung ist, seitdem ist aus dem jüdischen Volksempfinden jener Geist des Heiligen, Gemessenen, der Geist jener respektvollen De- mut geschwunden, der die gewissenhafte Beobachtung der ""iinn "I"1DD- Etikette zur Weihe einer religiösen Zeremonie erhebt. R. Meir aus Rothenburg und sein Vater sind sich aus dem Weg gegangen nicht aus einer Empfindung hochtrabenden Stolzes oder kleinlicher Pe- danterie heraus, sondern weil sie, noch gänzlich unberührt von dem Gifthauche modernen Persönlichkeitsdünkels, auch in die Art, wie sie die gesellige Beziehung zwischen Vater und Sohn, zwischen Lehrer und Schüler empfanden, die ängstliche Scheu vor der Sünde hineintrugen, und weil ihnen der Widerstreit zwischen DN HDD und mmn "IIIid als ein schier unlöslicher Konflikt von tragischer Grösse erschien. Es ist nicht an dem, dass unsere Altvordern uns bloi in der Virtuosität übertrafen, all ihr Grosses und Kleines in ein, wie man spricht, scholastisch ausgeklügeltes System von eisernen Regeln zu pressen, oder, wie mau vernünftiger spricht, dass sie uns in der Tiefe ihres Lebensernstes voraus waren: sie hatten auch mehr Takt, mehr Lebensart, mehr Anstand, mehr Gemütstiefe und Seelenreichtum, sie waren auch feingeistiger, edelsinniger und gebildeter als wir.

R. B.

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Die drei Weltübel.

Dort wo die Bibel anfängt, uns von Jakobs Tod zu erzählen: ,AIs nun die Tage Israels dem Ende «ich näherten" (1. B. M. 47, 29). bleibt der Midraseh Tanchuma nachdenklich stehen und deutet auf den 8. Vers im 8. Kapitel des Buches Koheleth hin : „Nicht ist der Mensch Herrscher über den Geist, dass er zu tilgen vermöchte den Geist : Keinen Herrscher giebts am Tage des Todes, keine Entlassung giebt's vom Kriege, und es rettet der Frevel seinen Täter nicht." Was liegt diesem Fingerzeig zugrunde ? Wir wollen den Versuch einer zeitgemässeu Deutung wagen.

Drei Weltübel giebt's. An drei Uebeln krankt die Welt. Der Tod, das Böse, der Krieg. Der Tod ist das physische, das Böse das moralische, der Krieg das politische Weltübel. Die Zu- sammenstellung dieser drei ist nicht zufällig. tSie gehören zusam- men. Sie haben einen innigen Bund geschlossen, bestimmt, den Menschen zu quälen, zu beugen und ihm das Bewusstsein einzu- pflanzen, dass er an der bestehenden Ordnung der Dinge nichts ändern kann. Der Mensch kann weder den Tod abschaffen, noch kann er das Böse abschaffen, noch kann er den Krieg abschaffen.

Keinen Herrscher giebt's am Tage des Todes. So stolz sich die Medizin entwickelt hat und noch w^eiter entwickeln kann, den Zerfall des Leibes wird sie niemals aufhalten können. Alle Ver- suche, die Gesetze der Physis aufzuheben, werden am Tode und seinen Vorboten zerschellen. Und es rettet der Frevel seinen Täter nicht. Auch das Böse ist ein ehernes Weltgesetz. Wir können das Böse beklagen, ebenso wie wir uns über unsere Ohnmacht dem Tode gegenüber grämen können, wir können es aber nicht be- seitigen, ebensowenig wie wir den T(»d abschaffen können. Beides geht über unsere Kraft.

Bis zu diesem Punkte deckt sich das moderne Bewusstsein mit dem jüdischen. Beim dritten Weltü' el jedoch trennen sich die Wege. Die Pazifisten sind hier gläubiger als die jüdische An- schauung. Die Pazifisten glauben, dass es den Menschen aus eigener Kraft gelingen könne, ja gelingen müsse, den Krieg abzu- schaffen. An die Abschaffung des Todes, an die Abschaffung des Bösen glauben sie nicht, doch sie glauben an die Abschaffung des

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Krieges, Die jüdische Anschauung sagt: Es giebt keine r.ntlassung vom Kriege. Abgeschafft wird der Krieg erst werden .können, wenn auch der Tod und das Böse von der Erde scbwindon. Die drei Weltübel werden gleichzeitig beseitigt werden: am Ende der Zeiten.

Ist aber auch der Mensch nicht also Herrscher über den Geist, dass er zu tilgen vermöchte den Geist, kann er auch die Gesetze der Welt nicht aufheben und beseitigen, so kann er doch, wenn er will, sie bezähmen und überwinden. Als die Tage Israels dem Ende sich näüerten, versammelten sich die Kinder um sein Lager und der sterbende Vater gab ihnen ein Beispiel des Sterbens, das ebenso strahlend war, wie das Beispiel seines Lebens. Wer so stirbt, wie Israel starb, wer im Augenblick des Todes von der •Ewigkeit des persönlichen Seins so tief durchdrungen ist, wie Is- rael in seiner Todesstunde, der hat den Tod. wenn auch nicht als Weltübel getilgt, so doch als Schreckgespenst aus seinem persön- lichen Bewusstsein vertrieben.

Was ge^^enüber dem Tode möglich ist, das ist auch gegen- über den beiden anderen Weltübeln möglich. Ganz gewiss rettet der Frevel seinen Täter nicht. Das Böse giebt die Bösen nicht preis. Jedoch wenn auch nicht getilgt, so kann doch das Böse überwunden weiden, wenn das Gute im Menschen sich von Fall zu Fall, wenn auch in schweren Kämpfen, sich als die stärkere Macht erweist. Ganz gewiss giebt es keine Entlassung vom Kriege. Eines jenseitigen Eingriffs wird es einst bedürfen, um den Krieg gleichzeitig mit dem Tode und dem Bösen zu tiliren, Jedoch wenn auch nicht getilgt, so kann doch der Krieg überwunden werden, wenn das Friedenshedürfnis im Menschen sich von Fall zu Fall, wenn auch nach schweren Kämpfen, alr die stärkere Macht er- weist. Soll freilich der Krieg bis zur Erschöpfung der Parteien fortgeführt werden, dann sind es nicht die Menschen, die den Krieg führen, dann ist es der Krieg, der die Menschen führt, und es wird der Krieg zu einem Weltübel, dessen ünbesiegbarkeit selbst

die des Todes und des Bösen übertrifft.

R. B.

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Literarisches.

Ernst Horneffer, Am Webstuhl der Zeit. Alfred Kröner, Verlag in Leipzig.

,,Zwei Ideale haben bisher die geistige Welt der europäischen Kultur bstimmt: Das Ideal der Persönlichkeit und das Ideal der Gemeinschaft, entsprechend den beiden Polen, zwischen denen sich alles geschichtliche Leben der Menschheit bewegt, das eine ver- körpert in der Persönlichkeitskultur der Antike, das andere ver- herrlicht in dem sozialen Geiste des Chrisenturas. Seitdem sich das antike Ideal neben dem christlichen Ideal in der europäischen Bil- dung der Xeuzeit Geltung zu verschalen suchte, ist der Wunsch aller Besten und Edelsten darauf gerichtet gewesen, beide Ideale in eine höhere Einheit aufzulösen. Aber anstatt sich aufeinander zuzubewegen, haben diese Ideale sich anscheinend immer weiter von einander getrennt, bis sie in der Philosophie Nietzsches, der dem antiken Persönlichkeitsideal erst die volle Naturkraft einzuhauchen strebte, in schroffstem Widerspruche auseinandertraten. Indessen, wenn Gegensätze in der fernsten Spannung zu einander stehen, pflegt ein Umschwung zu geschehen, pflegen sie plötzlich einander zu suchen, um eine höhere Einheit zu schaffen. Das scheint mir die religiöse Aufgabe der Gegenwart zu sein. Diesem Gedanken dient mein Buch."

F. Köhler, Kulturwege und Erkenntnisse. Leipzig 1916. Ver- lag von Johann Ambrosius Barth.

Ein Buch, das mehr Belesenheit als Tiefsinn atmet. Es an- erkennt die religiöse Sehnsucht unserer Zeit als einen wertvollen Kulturfaktor, möchte aber die sogenannte Kirchenreligion durch das Surrogat einer mehr innerlich erlebten Religion überwunden haben und ist daher von positiv Gläubigen mit Vorsicht zu geniessen.

L. Braun, Lebenssucher. Roman. Verlag von Albert Langen in München. Ein Zeitroman grossen Stils. Unmittelbare Ver-

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gangeolieit und Gegenwart verbinden sieh darin, all ihrer wider- Kpruchsvolieii Gegensätze ungeachtet, zu einem einheitliehen Ganzen. Die grosse Rätselfrage unserer Zeit: wie konnte aus der anschei- nend durchaus dekadenten Gesellschaft der letzten Jahre das machtvollstarke Handeln, das heroische Geschehen entstehen, das wir in Deutschland mit staunender Bewunderung erleben, fin- det in \j. Brauns Koman eine künstlerische Antwort. Die literar- ischen, sozialen und religiösen, niemals zum Ziel führenden An- läufe, die ganze irrlichtelierende Sehnsucht der eben erst verflos- senen und doch in so ferner Weite uns erscheinenden Zeit, lebt in bildnerischem Reichtum wieder auf. Die Dissonanzen lösen sich in die Harmonie eines von aller Schwächlichkeit sich befreienden Heroismus, als dieser Zeit aus all ihren Irrungen und Wirrungen heraus, der Krieg mit seiner erschütternden und erhebenden Tragik" den Weg weist, auf dem sie ihr wahres Wesen findet. So entsteht in diesem Werk in zahlreichen Gestalten und im Ralimen einer spannenden, farbenreichen Handlung die Gegenwart lebendig, und wir können in ihm einen Zeitroman von wirklich innerlicher Grösse erblicken und willkommen heissen.

Jüdische Monatshefte

unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Saloraon Breuer, Prankfurt a. M. herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kohn, Ansbach.

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(S)

Jahrgang 3.

Heft 2.

Der Jenseitsglaube im Krieg.

Allderthal h Jahre geht der Tod um in der europäischen Welt. Die hltihendsten Mensehen rafft er hin, zum Teil noch ehe sie zu klarem Bewusstsein ihrer selbst und der Aufgaben, die ihrer im Leben harren, gelangt sind. Dsnn was weiss ein] achtzehn- jähriger junger Mensch, dem ein Granatensplitter den Lebenstaden durchreisst, vom Leben ? Singend, berauscht, naiv, unbewusst der unendlichen Hoheit eines idealen Opfertodes, opfert sich unsere Juo:end auf des Vaterlandes Altar. Und während sich auf den Kriegsschauplätzen in Ost und West, in Kord und Süd Soldaten- gräber an Soldatengräber reihen, verharrt daheim die ungezählte Schar der trauernden Hinterbliebenen in bald stillem, bald lautem, bald haderndem, bald dumpfem, doch immer verzweifelndem, händeringendem Schmerz. Als ob es kein Jenseits, keine Unsterb- lichkeit der Menschenseele gäbe !

Zwischen der Gewissheit einer jenseitigen Fortdauer des liieniedigen Daseins auf erhöhter, von irdischem Anhängsel los- gelöster Stufe und dem verzweifelnden Schmerze über den Tod eines teuren Angehörigen waltet ein schier unlöslicher Widerspruch. Wenn es wahr ist. dass im Grabe neben dem Leibe nicht auch

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die Seele eingeschaufelt wird, wenn das Bewusstsein vom Jenseits nicht blos als poetische, stimmungsvolle Phrase in unserer Phan- tasie, sonrlem als stolze, durch Gottes Autorität gestüzte und ver- bürgte Wahrheit in unserem Herzen lebt, warum sollten wir da nicht die Gestorbenen beneiden statt sie zu beklagen, warum sollten wir da den Tod nicht als beglückende Erlösung von irdischer Mühsal empfinden und feiern dürfen ?

Restlos können wir diesen Widerspruch nur lösen, wenn wir das Leben vor dem Tode nicht nur als ein Recht, sondern mehr noch als Pflicht begreifen. Wir müssen hier ausharren, so lange es geht. Wir dürfen das Diesseits nicht freiwillig mit dem Jenseits vertauschen. Und wir müssen nicht blos leben, wir müssen auch gerne leben. Wir müssen das Leben lieben. Wir müssen am Leben hängen. Wir müssen das Zusammenleben mit unseren An- gehörigen als Glück empfinden und den plötzlichen Abbruch eines Lebenslaufes als strafenden Eingriff der göttlichen pin Di^ beklagen. Welch schönes Jenseits uns auch immer bevorstehen mag, so müs- sen wir uns doch auch mit dem minder schönen Diesseits so fest und innig verwachsen fühlen, dass ein Aufhören des irdischen Lebens auf unser Gemüt immer wie eine schmerzliche Katastrophe wirkt. Nirgendwo feiert das diesseitige Leben als Pflichtbegriff einen stolzeren Triumph, als in der Thräne, die wir über den Tod eines im Tode zu jenseitigem schönerem Leben erwachten Nebenmenschen weinen.

Weinen dürfen und sollen wir, doch niemals verzweifeln. Denn mehr noch als in Friedenszeiten bietet im Kriege der Glaube an das Jenseits dem trauernden Gemüte Beruhigung und Trost. Wie sollen wir es aber anfangen, mit unserem an moderner Bildung gereiften Verstand diesen wundersamen Glauben zu vereinen ? Unsere alten Philosophen haben sich redliche Mühe gegeben, die- sen Glauben als ein logisches Postulat zu erweisen. Es giebt für die Unsterblichkeit der Menschenseele einen ontologischen Beweis, einen theologischen Beweis, einen nior «lischen Beweis, einen his- torischen Beweis. Gehen wir sie einmal in raschem Finge durch.

Sch(m Plato hat in seinem Phädon die Unsterblichkeit onto- logisch zu beweisen gesucht. Sterben können nur stoffliche Dinge. Die Seele aber widerstiebt ihrem unsterblichen Wesen nach der durch den Tod bewirkten Auflösung der Teile. Was sollen wir mit diesem Beweise anfangen? Bedarf es eines Beweises, dass

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eine als unstofflich d. h. als unsterblich vorausgesetzte Seele un- sterblich ist? Gebe ich einmal zu, dass in mir eine Seele und das« diese Seele unstofflich ist, dann verzichte ich gerne auf das gutge- meinte apologetische Geschenk, das sich mir in dem Nachweis ihrer Unsterblichkeit präsentiert. Wer überhaupt verspürt in Kriegs- zeiten noch jenen leidigen Drang, religiöse Gewissheiten logisch unterbauen zu wollen ! Wer im Granatenungewitter steht oder als Daheimgebliebener genug Einfühlungsvermögen besitzt, um die ge- waltigen Sensationen eioes zwischen Leben und Tod schwebenden Frontsoldaten nachzuempfinden, wer an die grausigen ^j<"i::''" V^'^- Eufe denkt, unter welchen unsere armen Glaubensgenossen, die als Väterchens liebe Juden für die Befestigung des Moskowitertums kämpfen müssen, in den Todesschlund der masurischen Seen ver- sanken. AVer sich das zehrende Heimweh, die Todesmattheit, die Sehnsucht nach Ruhe und Frieden vergegenwärtigt, die bei allen Beteuerungen mannhaften Durchhaltens bis zum endgültigen Siege nicht zum wenigsten in den Reihen unserer Feinde herrscht wen mit einem Worte in diesen unglaublichen Zeitläuften der Menschheit ganzer Jammer erfasst hat, der hat heute weder Sinn noch Zeit für ein grämliches Zweifeln au Dingen, deren Dasein und lebendige Wirkung vielleicht aus den kalten Regionen des logischen Kalküls doch nie und nimmer aus dem wärmeren Ge- tühlsbereiche des menschlichen Herzens verbannt werden könnte, der wird heute tiefer als je überzeugt sein, wie alles Elend der diesseitigen Welt nur aus der Zurückdrängung des Geistigen, Seel- ischen, Göttlichen aus dem Streben und Zusammenleben der Men- schen und Völker stammt und wie all der Jammer, der zur Zeit die europäische Welt belastet, sicherlich hätte vermieden werden können, wenn all die jenseitigen Ahnungen, Hoffnungen und reli- giösen Emotionen, die das Wort „Seele" umfasst, den Inhalt des- sen, was man unter europäischer Kultur versteht, so wesentlich bestimmen würden, wie die auf die Erforschung und Bezwingung des Dii'sseits gerichteten Ideale einer bei allem idealistischen Getue doch durcU und durch materialistisch gesinnten Welt.

Unter all den jugendlich frohen Menschen, die da seit nun- mehr anderthalb Jahren aus dem liebevoll umhegten Bereich ihrer Kindheits- und Jugendträume in Tod und Graus hinausgezogen sind unter dem Klange von Soldatenliedern, die mit ihren halb

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stolzen, halb wehmütigen Melodien einem zum Weinen nahe gehen : ,M der Heimat, in der Heimat, da giebtR ein Wieder- sehen" — : da ist keiner unter diesen Jünglingen, der das Wieder- sehen der Heimat nicht als sein schönstes Lebensglück empfände. Sie alle sind sich ja der Halbheit bewusst, zu der möglicherweise die Pflicht des Heldentodes sie mitsamt ihrem Lebenswerke ver- urteilt. Noch liegt erst ein kleiner Teil ihres Lebens hinter und der grösste vor ihnen. Noch sind sie zu voller Entwicklung dessen, was in ihnen liegt und wozu sie die Vorsehung vielleicht berief, nicht gelangt. Hat Jemand die stolzen Begabungen, die Talente, die Genies gezählt, die der Weltkrieg in den Soldaten- gräberu verscharrt ? Es muss auch, und damit trösten sich die naturwissenschaftlich denkenden Betrachter des Krieges, fragmen- tarische Lebensläufe, unausgereifte, weil zertretene Lebewesen, vom Sturmwind entführte und im Äther sich auflösende, verschwin- dende Pflanzen-, Tier- und Menschenkeime geben. Es muss doch nicht jeder Mensch am Leben bleiben. Auch die Tiere und Pflan- zen bleiben nicht alle am Leben. Und es hiesse doch der Zeugungskraft des menschlichen Genius misstrauen, wollte man den Aderlass einer Generation gleich als beginnenden Zerfall oder auch nur als nennenswerte Schwächung des Menschengeschlechtes selber beklagen. Dieser kühlen Betrachtungsweise, die sich als wissenschaftlich geriert, in Wahrheit aber nichts anders als ein Symptom einer Art moralischer Herzverkalkung, nichts anders als eine Ertötung des natürlichen Empfindens von geradezu künstlicher Grausamkeit ist, wird sich ein religiös fühlendes Herz niemals be- freunden können. Was wäre eine Religion, die den ewigen Wert und, was ja schliesslich dasselbe ist, das ewige Leben der ein- zelnen Persönlichkeit nicht höher einschätzen würde als die Ge- samtheit aller vermeintlichen Segnungen, die dem wissenschaftlichen Denken aus der Begründung einer logisch haltbaren und für Je- dermann handlichen Weltanschauung erwachsen könnten ! Was wäre das für eine Religion, die nicht mitten im Sturm und Wetter der Zeiten sich niederbeugte zu jedem einzelnen Wesen, das da am Wegrande der Weltgeschichte zu verbluten und zu verzweifeln droht, um ihm in der Gewissheit der jenseitigen Fortdauer den Trostesbecher zu reichen, der ihm unter dem Donner der Kanonen, beim ehernen Schritt des alles aufsaugenden und in Sold zwin-

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gendeu Staatsgedankens zum Bewusstsein seiner selbst verhiltt Darauf allein, auf dieser durch das religiöse Bewusstsein vei- bürgten Existenzberechtigung des Individuums neben dem Staat, beruht in der Zeit des Weltkrieges fester noch als in Friedeng- zeiten der teleologische Beweis tür die Unsterblichkeit der Menschenseele.

Wir sind von der Güte und Grerechtigkeit der deutschen Sache überzeugt. Wir sind von der Perfidie Albions, der ethischen Min- derwertigkeit des Zarismus und der verlogenen Rachsucht und Selbstgefälligkeit der Franzosen so innig durchdrungen, dass wir an der Gerechtigkeit des Weltschicksals sicherlich irre würden, wenn plötzlich was ja freilich nach menschlicher Berechnung so gut wie ausgeschh>ssen ist die Kriegsfortuna uns schnöde im Stiche Hesse. Wie aber würden und müssten wir im Angesichte einer solchen Schicksalswendung unser unfreundliches Geschick mit unse= rem guten Gewissen vereinen? Nur durch ein tiefes Durchdrungensein von der jenseitigen Fortdauer des göttlichen Weltgerichts, nur durch ehrliche Anerkennung, dass alles, was im Rahmen der irdischen Verhältnisse an Gutem und Bösem den Individuen und Staaten zu- stösst, wenn anders der Gerechtigkeitsbegriff keine aufgeblasene Farce ist, hinausweist in eine andere Welt, wo sich der hienieden so schwer vermisste gerechte Ausgleich vollzieht. So müsste im Jahre des Weltkriesres, aus einer philosophischen Demonstration zum Gipfelpunkt höchster politischer Weisheit erhöht, der moralische Beweis für die Unsterblichkeit der Menschenseele lauten.

Und nun der historische. Die Geschichte zeigt, dass kein Volk je über die Erde gegangen ist, das nicht irgendwie den Glau- be an die Unsterblichkeit als köstlichen Schatz seiner Gedanken und Gefühle behütet hätte. Die Inder und Egypter, die Babylo- lier und Assyrer, die Grichen und Römer, die Höllenfahrt der Istar, die Avesta bei den Parsen, die Sage von der Walhalla, der Kul- tus der Manen : jedes Volk hat sich sein Aulom habbo in der seiner geistigen und sittlichen Höhe entsprechenden Form kon- struiert — und wenn heute im Lager unserer Feinde die Vertreter der verschiedensten Kulturstufen und -Formen sich im Hasse ge- gen die Zentralmächte vereinen, so ist die Ahnung von der Existenz einer jenseitigen Welt das übelste Bindeglied gerade nicht, das Jen überfeinerten Westeuropäar auch in der Seele des neben ihm

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kampfenden Senegalnegers die ersten Spuren eines zwar primitiven doch immerhin verwandten xMcnschentums erblicken lässt. Was immer auch an Kulturgütern von übereifrigen Nationalisten als Früch- te, gereift am Baume des Nationalismus, erwiesen wird die un- sterbliche Menscheuseele ist kein nationaler Begriff.

Wir sehen: so überholt durch den Fortschritt des modernen Denkens die traditionellen Beweise für den Jenseitsglauben uns auch in Friedenszeiten anmuten mochten, der Krieg mit seinem gewaltsamen Zurückwerfen der Kulturwelt auf die Urformen der menschlichen Leidenschaften bringt es dennoch fertig, aus jenen Beweisen Gefühlselemente herauszuholen, die uns im Sturm und Graus unserer Tage als ewig wertvoll und unverlierbar dünken.

Wahrhaft lebenerzeugend wird freilich das zunächst nur gefühlsmässig Erkannte erst dann, wenn es zum Bestandteil einer ausgereiften, unerschütterlichen, weil im Boden tiefer und umfas- sender Kenntnis des Religiösen verankerten Ueberzeugung gewor- den ist. Und 80 wird auch der Jenseitsglaube, der uns im Kriege wie ein Gnadengeschenk von rätselhafter Herkunft zufällt, erst dann zu einer wirklichen Lebensmacht werden, wenn wir ihn als tra- genden Pfeiler eines von uns als absolut bindend und verpflichtend hingenommenen religiösen Lehrsystems erkannt haben. Was wäre das Judentum ohne diesen Glauben ! Allerdings die christliche Theologie kann sich ein Judentum ohne Unsteibliclikeit und Wieder- auferstchung sehr wohl denken. Ans der best<'n'alls ciiisiltiigen Art, wie sich das alte Testament über diesse Frag-^ ausspricht, aus dem Schweigen der Thtira über das Wie des Seelenlebens nach dem Tode und ihrem Verzicht auf ausdrückliche dogmatische Fest- legung des Gewissens auf den Glauben au das ewige Leben fol- gert die christliche Theologie seit ja, dass dieser Glaube gar nicht auf dem Boden des alten, vielmehr nur auf dem des neuen Tes- tamentes heimisch sei. Ueber die Unhaltbarkeit dieser theologischen Lehrmeinung, die übrigens nur der traditionellen Gepti@genheit der christlichen Theologen entspricht, die köstlichsten Wahrheiten des Judentums den christlichen „Ueberwindern" desselben zuzu- schreiben, ist schon manch treffliches Wort, u. a. auch von S. R, Hirsch in seiner Kampfschrift gegen die bremischen Pastoren ge- sagt worden, weshalb wir uns an dieser Stelle darauf beschränken wollen, die interessante Wandlung festzustellen, die sieh in neuerer

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Zeit bezüglich des Verhältnisses der christlichen Religion zum Jen- seitsglauben in manchen christlich-theologischen Kreisen vollzogen hat. So zeigt z. B. die von dem Frankfurter Pfarrer Zurhellen veranstaltete Untersuchung über Jathos Theologie und die religiöse Krisis der Gegenwart, dass es eine grosse Täuschung sei, wenn heutige Christen annehmen, dass ihr Glaube an ein Wiedersehen und Weiterleben nach dem Tode sich mit dem bezüglichen Glauben der alten Christenheit decke. Das sei nicht der Fall, nicht einmal im Ganzen und Grossen, wieviel weniger in den Einzelheiten. Es giebt eine modern-theologische [lypothese, welch'e die Quelh^n des christlichen Jenseitsglaubens weder im alten noch im neuen Testament, sondern in der persischen Religion zu finden glaubt.

Wir dürfen diese Anschauungen ruhig an uns herankommen lassen, denn wir werden sie ruhig an uns vorübergehen lassen. Wir, d. h. die im Thorageiste und Thoraleben verankerten Beken- ner des alten Testaments, haben schlechterdings kein Empfinden dafür, warum der Jenseitsglaube sollte problematischer sein als der Glaube an einen persönlichen Gott. Wenn es einen ewigen, ge- rechten, allmächtigen, allweisen, wahrhaftigen Gott giebt, dann wäre es eine denkwidrige Inkonsequenz, den Jenseitsglauben aus dem jüdischen Religionssystem als unverdaulichen Fremdkörper auszuscheiden.

S.oU denn der Gottesbegriff immer nur als eine leere Phrase in unserem Munde und nicht auch einmal als eine Lebensmacht in unserem Herzen leben? Wir müssen Ernst machen mit diesem Begriff. Wir müssen, wenn Vater und Mutter mit einem innigen „Behüte dich Gott" ihr Kind auf den Kriegsschauplatz entlassen, überzeugt sein davon, dass ein ewiger, gerechter, allniäehtiger, allweiser, wahrhaftiger Gott diesen Elternwunsch vernimmt und erfüllt, wenn die Erfüllung seiner Weisheit, oder versagt, wenn die Versagung seiner Gerechtigkeit entspricht. Wir müssen uns davor hüten, den Gottesbegriff zu einer konventionellen Konzession an den uns eingeborenen Hang zur Pietät herabzuwürdigen. Gott will nicht unsere Pietät, ,.Gott verlangt das Herz". Wir müssen in die Tiefen dieses Begriffs untertauchen, dabei aber den Begriff nicht mit der an Kant oder sonstwem gereiften Erkenntnis vermählen, sondern ihn so nehmen, wie er sich im Religionsgesetze giebt, als Quelle dieses Gesetzes und als Grund unserer Dienstbarkeit, mit

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welclier wir uns diosem Gesetze ewig unterworfen fühlen. Wir müssen uns klar machen, dass wenn Abigajil zu David sagt: „Die Seele meines Herrn wird in» Bunde des Lebens bei deinem Gotte gebunden sein" (Sam. I. 25, 29) wir unser Denken so lange zu er- ziehen und umzuformen haben, bis aueh wir imstande sind, die Seele in uns als einen Teil des Gottesgeistes, d. h. als ewig, als unsterblich zu begreiten. Wenn es wahr ist, dass unsere Seele von Gott stammt, dann kann sie nicht vergänglich sein. Und wenn es wahr ist, dass Gott gerecht ist, dann kann die Hoffnung auf eine jenseitige Belohnung der guten und einer jenseitigen Be- strafung der bösen Seele nicht blos eine schillernde Blase sein, die vergeht, sobald der Hauch einer nüchternen Erkenntnis sie be- streicht. Wir sehen im Weltkriege beides, das Gute und das Böse, in unerhörten Dimensionen sich aufrecken. Eine unerhörte Liebe und ein unerhörter Hass ist in diesem Krieg entstanden. Nur ein wirklicher, lebendiger, persönlicher Gott kann hier nach Gebühr belohnen und bestrafen.

Und wir müssen uns ferner klar machen, dass zum Begriff der göttlichen Allmacht auch die Möglichkeit einer sicheren Ver- geltung des Bösen gehören muss. ,, Bedenke, heisst es in den Sprüchen der Väter (IV, 29), dasa alles im Jenseits nach Gebühr erwo- gen wird. Lass dich von deinem Triebe nicht mit dem Gedanken einschläfern, dass das Grab eine Zufluchtsstätte für dich sei." Nichts demoralisiert die Menschen so. wie die Voraussicht eines völligen Aufhörens alles organischen Seins, wie die Spekulation auf die alles verwischende und in Vergessenheit tauchende Allgewalt des Todes. Wer das Leben als ein früher oder später schrill ab- brechendes Tonstück empfindet, wird sich in ein ganz anderes und zwar minderwertiges Verhältnis zu ihm setzen wie Jemand, der im Diesseits nur die Antangsaccorde erblickt, die sich zu voller Ton- stärke erst im Jenseits erheben, denn seines Lebens ganzen Zweck wird er lediglich darin erkennen, das hieniedige Leben möglichst gründlich auszubeuten, auszukosten, in die Enge seines persönlichen Seins einzufangen. Er wird skrupelloser leben als Jemand, der an die Ewigkeit des Lebens glaubt. Er wird weniper Bedenken haben, auf Abwege verbrecherisch abzugleiten, als Jemand, der die Pflicht der Verantwortung, die seiner im Jenseits harrt, zum

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beherrschenden Tenor des Diesseits erhebt. Denn im stillen, ohne dass es ihm selbst immer deutlich zum Bewusstsein käme, wird der Selbstmord als ultima ratio bei seinen Entschlüssen und Hand- lungen ihm vorschweben. Es war so lehrreich wie furchtbar, als in den Tagen, da über Serbien die Katastrophe hereinbrach, das Gerücht die Welt durchschwirrte, König Peter trage sich mit Selbst- mordgedanken. Leichter als einer Koalition europäischer Gross- mächte glauben sich politische und sonstige Verbrecher dem Straf- gericht des allmächtigen Gottes entziehen zu können, indem sie durch freiwillige Flucht ins Grab auch dem göttlichen Weltrichter die Beweisdokumente ihrer Schuld zu entwinden trachten.

Können wir aber auch im Kriege den Jenseitsglauben, nach- dem wir ihn uns unter dem übermächtigen Eindruck der Kriegser- lebnisse gefühlsmässig näher gebracht haben, nur dann zu einer wirklichen Lebensmacht erheben, wenn wir ihn auf dem Wege verstandesmässiger Zergliederung der Grundlagen unserer Lehre logisch unterbaut haben, so wollen wir doch hierbei nicht über- sehen, dass ein zwingender Beweis, ja auch nur ein halbwegs be- friedigender Ausgleich mit dem modernen Bewusstsein für die Wa' rheit dieses Glaubens niemals wird erbracht werden können, solange wir in dem verhängnisvollen Wahne befangen sind, wir raüssten den Glauben uns und nicht uns dem Glauben näher bringen. Nicht seine Gläubigen gewinnen will der Glaube, er setzt ihre uiibedingte Gefolgschaft voraus. Auch der elfte Glau- bensartikel, der von der jenseitigen Vergeltung, und der dreizehnte, der von dem Wiederaufleben der Todten handelt, beginnt mit den vielsa£:enden Worten : ,.Ich glaube mit vollkommener Treue." Religiöse Ueberzeugung ist nichts anderes als unbedingte Bereit- schaft zum Glauben.

Der Gehorsam als der eigentliche Träger des Glaubens kann nicht treffender illustriert werden, als durch dasPsalmwort 25,12— 13: „Wer ist ein Mann, der Gott fürchtet? Er lehrt ihn den Weg. den er sich frei erwählt. Seine Seele übernachtet im Glück, und sein Same erbt die Erde."

Den Weg, den uns Gott führt, den uns Gott vorschreibt, auf den uns Gott zwingt, frei zu wählen: das heisst Gott fürchten. Wollend zu üben, was sonstige Wesen willenlos üben: das heisst

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Gottesfurcht. In ihr finden wir die wahre Freiheit. Sie ist nichts anderes als Losf^elöstheit von den Fesseln der Naturgewalt, die sich in den verschiedensten Formen unserer Seele dienstbar machen will, als Leidenschaft, als Krankheit, als Tod. Gott befreit von diesen Fesseln, indem er uns auf den Weg zu dieser Freiheit zwingt. So ist der Mensch, wenn er sich auf diesen Weg zwingen lässt, schon hienieden unsterblicli. denn Unsterblichkeit heisst Freiheit. Die jen" seitige Unsterblichkeit ist als Ueberwindung der stärksten Xaturge- walt des T^des nur eine höhere Form der schon auf Erden zu ge- winnenden Fieiheit. Wie sich die Seele schon im Diesseits aus den Klamme» n der irdischen Gr*walten löst, so vermag sie dieses mit noch grösserem Erfolg, nachdem sie ihre Verbindung mit dem Körper gelöst hat. Sie stirbt nicht, sie ist frei, sie „übernachtet", wie der Psalmist so anschaulich sagt, während der Körper im Grabe schlummert, im Glück des Jenseits und wartet, bis der an- brechende Morgen der Wiederbelebung die Grabesnacht des Leibes beendet.

Es giebt aber noch eine andere Form der Unsterblichkeit. „Sein Same erbt die Erde.'' In diesen Worten liegt der tiefste Sinn der Pflicht zur Vaterlandsliebe und aller ähnlichen Pflichten, die ein Zurückdräugen der Einzelinteressen fordern, beschlossen. Die seelischen Motivationen, mit welchen der Patriotismus operiert, laufen letzthin auf die gleichen Antriebe hinaus, die zum Jenseits- glauben führen. Hier schauen wir auf die tiefsten Znsunimen- hänge zwischen Jenseitsglauben und Krieg. Was uns im Frieden als billige und oft recht abstossende Kriegsveteranenstimmung er- schien, erhebt sich im Kriege zu einer stolzen, an Grösse mit keiner anderen vergleichbaren Pflicht, ja im Sinne der den Krieg bejahenden und ihn als wichtigsten Kulturfaktor erklärenden Staats theorie zur wichtigsten Grundlage des Staates als Idee und Wirk- lichkeit. Sich als kleinen, winzigen Baustein zu lühlen. wenn es gilt, die Grösse des Vaterlandes zu begründen und zu befestigen; sich selbst für nichts, das Vaterland für alles zu achten ; im Be- wusstsein, mit Gesundheit und Leben das Glück der kommenden Generation zu sichern, einen herrlichen Trost für das persönliche Versinken in Graus und Tod zu finden; sich glücklich zu fühlen, wenn nur „der Same die Erde erbt"; die Gegenwart preiszugeben, wenn nur die Zukunft lebt: das heisst Vaterlandsliebe. Ist sie

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etwas anderes als eine politische Form der Unsterblichkeitsidee ? Bedarf es, um aufrichtig:e Vaterlandsliebe zu fühlen und zu betä- tigen, nicht derselben Losgelöstheit von der Fesselgewalt der irdi- schen Reize und derselben Kraft des Hinüberschauens auf das Kommende, wie beim Jenseitsglauben ? Und ist etwa das Erd- reich, dem die Vaterlandsliebe entblüht, nicht dasselbe, dem auch der Jenseitsglaube entstammt: der Glaube an Gott, die Gewissheit, dass im politischen so gut wie im persönlichen Leben ein auf Gott zurückweisender Sinn enthalten ist ?

Wir wären unglücklieb, wenn aller Sinn des persönlichen Lebens in dem wirren Komplex von Missmut und Freude, von Hoffnungen und Enttäuschungen beschlossen wäre, durch den wir uns im Diesseits fortwinden müssen. Wir müssten verzweifeln, wenn-, nicht auch in dem politischen Getriebe eine ordnende und versöhnende Hand tätig wäre, die das unter Thränen säende Ge- schlecht mit dem unter Jauchzen erntenden innerlich verknüpft. Kur der Gottesfürchtige glaubt an eine jenseitige Welt. Kur der Gottesfürchtige liebt sein Vaterland.

R. ß.

Den \ ^i heimkehrenden Kriegern.

Mit Sehnsucht harren wir Euerer Heimkehr. Ihr bringt uns den Frieden : den äusseren. Vielleicht auch den inneren. Jen-^^'n konnte der Krieg uns rauben. Diesen haben wir nie besessen. Ihr kämpft um den äusseren Frieden. Aber nur der innere Friede vermag auch jenem die Dauer einst zu geben. Ihr kämpft auch um ihn. Ihr habt ihn vielleicht euch schon errungen. Dann sind wir stolz auf euch und grüssen euch als Sieger.

Mehr als uns hat der Krieg Euch herausgerissen aus dem Ge- leise, in dem Euer Leben sich bis dahin bewegte. Zuerst mochte es Eucb mit sich fortgerissen haben, was der Drang des Augen- blicks an Forderungen euch stellte. Ihr habt keine Zeit zur Re- flektion gefunden. Halb betäubt, erfüllt von dem Ungeheuerlichen, das für jeden eine solche Stunde bedeutet, nähmet Ihr Abschied

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von allem, 'vas Euer Leben bis dahin Euch galt und folgtet dem Ruf der Pfiieht.

Nun liegt es hinter euch. Ruhepausen sind euch beschieden. Mächtig tritt es nun an euch heran, wenn Ihr deio Gedanken noch 7.ugänglich seid. Ihr denkt zurück an die Heimat, an die Jahre, die Ihr mit den Eueren verlebtet. Ihr sehet sie vor euch, die Freunde, die Altersgenossen. Ihr erschrecket über sie. Wäre es niüglich ?

Wie so manche ihre Jahre hinbringen in fürchterlicher Ge- dnnkenlosigkeit. Haben die Schule besucht, sich in das Leben gestürzt, erlernen und erwerben, geniessen und erschlaffen wofür ? Jagen sich durchs Leben wohin V Kommen vor lauter Arbeit und Zerstreuung nicht zum gedankenvollen Aufatmen, und gezählt sind die Wenigen, die vor die Frage ihr Leben gestellt haben: was soll das alles?

Ihr sehet sie vor Euch. Man kann nicht reden zu ihnen. Denn sie haben keine Zeit. Keine Fragen kann man an sie rich- ten. Denn sie begreifen nicht, was Fragen sollen. Sie wollen sich vergnügen. Sie wollen satt werden. Sie wollen Güter er- raffen. Ihr erschauert, wenn Ihr daran denkt, vor innerem Grausen. Und deshalb leben ? Weshalb leben denn dann die Hungrigen ? Weshalb die Unglücklichen, weshalb die Enterbten ? Sie denken nicht. Deshalb leben sie. Ihr aber wisst, sie leben nicht.

Ihr denkt an die Heimat. An die Jahre des Friedens. Waren es Friedensjahre '? Der Krieg zerstört Werte. Der Friedej oft nicht minder. Ihr seht die Halbwüchsigen, die grossen Kleinen, die kleinen Grossen. Auf ihrem Weg liegen Edelsteine, kostbare Perlen. Gemächlichkeit und rohe Gedankenlosigkeit lässt sie über sie hinwegtreten. Die Perlen sinken zertreten in den Schmutz. Sie schreiten weiter. Aufschreit der Schabbos. zu Tode getroffen, unter ihren Füssen. Sie hören ihn nicht. Wer möchte Kieselsteinen aus dem Wege gehen ?

Ihnen scheint Thora nur für die „Gläubigen" gegeben. Denen mag sie was bedeuten. Sie aber sind darüber hinaus. Sind keine Kinder mehr, sind der Mutterbrust entrückt, der Muttermilcli ent- wöhnt — und merken nicht, dass sie den rohen Faustschlag einer stolzen Vergangenheit ins Gesicht versetzen, der Thora Lebens- uotwendigkeit war. Und haben kein Empfinden tür die beschäm

mcnde Gedankenlosigkeit und ungebildete Oberflächlichkeit, der nicht einmal im entferntesten zum Bewusstsein kommt, was jüd- sche Geistesheroen aller Zeit gedankenschwer und sehn- suchtsvoll aus dem Thoraquell Lebenskraft und Lebensgewissheit schöpfen Hess.

Sklaven der G'ewohnheit sind's. die ihre Tage hindämmern in unglaublicher Oede wehe, die Oede ist ihnen Gewohnheit : sie schreckt sie nicht mehr !

Sklaven ihrer Genusssucht sind's, die ihre Jahre im Rausche verleben,°^au8 dem sie nur erwachen, um aufs neue den Becher der gemeinen Gier, der nervenzermürbenden Betäubung an die fahle Lippe zu setzen im Grabe werden vielleicht sie erwachen !

Sklaven des Goldes sind's! Sind aber Menschen denn auf Erden, dass sie gelbe Haufen sich mehren und türmen, um einst erschöpft Kinder zu gleichem Tun zu wecken?

Und weil die Gewohnheit sie führt und die Genusssucht sie lockt und "der Besitzwahn sie narrt, muss glatt sein die Bahn und eben der Weg, der solchen Zielen sie nähert. Und deshalb hassen sie, was straucheln sie lässt, was den Weg ihnen erschwert, was die Bürde ihnen häuft und führen den grauenvollen Kampf wider die Thora!

Ihnen ist Strauchelwerk, was halten sie will. Ihnen ist zur Last, was "^tragen sie will. Und zur Bürde ist ihnen, was auf den Augenblick nur harrt, da Wüstendurst und Hunger nach Labsal jämmerlich schreit.

0, wenn das Bilder des Friedens sind, dann stürzt Euch ins wildeste Schlachtengetümmel, denn es hat seine Schrecken für Euch verloren. Ihr habt grauenvollere Bilder des Friedens geschaut,

Wohl umbrüllt Euch Kanonendonner und stürmt grausiger Tod euch an, in Euren Herzen aber wohnt der Friede, und auf Euren Lippen leben die Lieder. Ihr schaut in eine Welt, deren Jammer das Herz euch zerwühlt, deren Trostlosigkeit aber den Frieden euch nicht zu rauben vermag.

Damals war's. Als es so plötzlich Euch herausgerissen und mit einemmale Euch alle gezwungen, mit der Möglichkeit raschen Todes zu rechnen. Dieser Augenblick hat Euch das Leben geboren. Was war das Leben, das hinter euch lag, was ist das Leben für das Ihr da bangtet ?

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Uiul isr (las Leben teuer euch noch, nicht in Gedankenlosig- keit fesselt es euch. Wer einmal in das Grab geschaut, weiss, wofür fortan er h^bt.

Damals, als die Urgründe alles Seins in der Rätselhaftigkeit ihres Wesens übermächtig sich Euch auf die Sinne legten, als Ihr in die Leere griffet nach der Stütze, in das Dunkel tapptet nach dem Licht, fandet ihr ihn, und es wurde Licht vor eurem Auge. Ihn schaut ihr fortan und verehret Ihn in allen unendlichen Wun- dern, mit denen sein Schöpfungswerk euch zur Anbetung lädt. Zu Ihm blickt ihr fragend empor, wenn eine Menschheit vor euren Augen irrend durch Seine Schö))fungswelt sich jagt; Hat sie Ihn gefragt, was Er auf Erden von ihr tordert? Ist es Sein Wille, dem sie in Hingebung dient?

Und Ihr vernehmt uranfängliches Schöpfuugswort. das Men- sehen Ziele und Schranken zu weisen sich anschickt. 0, hätten sie immer die Worte vernommen I Tausendjähriger Jammer und Gegenwartsnot wäre für immer ihnen erspart geblieben. Sie haben sie in den Wind geschlagen. Den Wahn bezahlen sie mit Tod und Oede, bis einst Trostlosigkeit sie packt und auch ihnen die Le- bensstunde schlägt.

Euch hat sie geschlagen. Mächtiger denn je tönt euch Sein Lebenswort. Ihr habt die Stütze ergriffen, die Er euch reicht: sie führt euch zum Leben, sie bahnt euch den Weg zum Frieden, der aus ahnendem Verstehen göttlichen Willens euch quillt.

Sein seid Ihr im Leben. Sein im Tod. Er braucht Euch! Er ruft es euch zu, so lang Ihr lebet. Er braucht Euch! Er ruft es euch zu, wenn einst aus dem Leben Ihr scheidet.

Seine Wege sind Eure Wege. Die weiset Ihr mit ausdau- erndem Mut, durch unbeugsame Kraft einer irrenden, der Trost- losigkeit verfallenen Menschheit.

Ihr seid Kämpfer. Erlöser seid Ihr. Ihr führet den Kampf für der Menschheit Gut. Ihr ringt euch durch, um die Kraft zur Erlösungsbotschaft euch zu stählen.

Ihr weinet, wenn in des Augenblickes Not Ihr dem Schabboss nur flüchtigen Giuss und nicht gewohnte Ehre zu zollen vermöget.

Ihr weinet, solltet Ihr durch unabweisbare Forderung der Notdurft genötigt sein, für den Augenblick ein Gebot zurückzustel- len, das durch Nahrungswahl zur Heiligung des Lebens euch ruft.

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Und je mehr Ihr euch härmet, wenn vielleicht einmal in ausserordentlicher Lage Ihr nicht ganz so euch geben könnt, wie Sehnsucht und Eifer es euch zuruft, desto glücklicher, desto wonniger griisst Ihr die göttlichen Boten, die mitten im Sturm, mitten in äusserer Oede und trostloser Wirrsal zum Frieden, zur Seligkeit euch geleiten.

Ihr ehret den Schab boss den heiligen, gottgesandten Engel.

Ihr esset nicht Trefoth denn Ihr weihet gottgeadelten sinnlichen Leib.

Ihr traget Tefillin und schmücket Arm und Haupt euch mit Tat heiligendem Symbol und Gedanken fürstendem Diadem.

Ihr schauet auf das Kleid, von dem Zizithmahnungen euch wallen, und das Lichtgewand priesterlicher Hoheit ruft euch zum Heiligen.

und die Mila nein, nein, Ihr vergesset es nimmer, nimmer, auch in heissester Stunde stürmender Leiden- schaft nicht, dass Gott liebender Zeuge sein will, wenn Menschen zukunftsäende Kraft dem reinen mütterlichen Schosse vertrauen!

Denn Euer Ohr vernimmt Sinaiwort, Euer Auge trifft göttli- cher Strahl, und weil Gottes Angesicht in Euer Angesicht geschaut, als Er zum heiligen, starken Werkzeug euch erkor, deshalb „ruht Gottes Furcht auf eurem Gesicht, damit Ihr nicht sündigt"

Und Ihr rasnert Euch nicht! und scheucht nicht Gottesfurcht aus eurem Angesicht, das, so lange es auch die keimenden Sprossen seiner Mannbarkeit schranken- setzendem göttlichem Gebot unterwirft und ihnen das Mal gottböriger Heiligkeit aufprägt, den reinen, unvergänglichen Kuss sichtbar noch trägt, mit dem einst Sinaigruss zum Leben Euch weckte !

So lebt göttlicher Friede in Eurer Brust, da Ihr in entsa- gungsvollem Ringen auf blutigen Feldern einer armen Menschheit den Frieden erkämpfet.

Den Frieden in Eurer Brust bringet uns heim, und wir werden Kränze euch winden und hiuhorchen auf Eure Botschaft, die den irrenden, träumenden Brüdern den Frieden kündet, kündet das Gut, kündet die Hilfe, die Zions Gott der Menschheit bereitet.

J. Br.

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Heine, der Jude.

Von H M.-H.

Hassan : . . . PestörUirn gleich Flieh jenes Haus, wo neuer Glaube keinnt. Dort zieht man Dir mit süssen Zan^entönen Aus tiefer Brust hervor das alte Herz Und legt Dir eine Schlang' difür hinein. Dort giesst man Dir Bleitropfen, hell und heiss, Aufs arme Haupt, dass nimmenuehr Dein Hirn (iesunden kann vom wilden Wahnsinnschmerz. Dorten vertauscht man Dir den alten Namen, Und gibt Dir einen neu'n, damit Dein Engel, Wenn er Dich warnend ruft beim alten Namer., Vergeblich rufe".

Es ^ibt Dichtungen, die in liöiierem und edlerem Sinn „historisch" sind, Romane, die bessere Biographien darstellen als so manche mühsam aus genaustem Quellenstudium und philologi- schem Bienenfleiss zusammeugekittete Gelehrtenarbeit. Man denke nm* an Shakespeares Königsdramen. Schillers Wallenstein, an Ro- mane wie „Eckehardt", C. F. Meyers Novellen aus der Zeit der Renaissance, oder neuesten Datums an Zeitgemälde aus der Feder Riccarda Huchs. Mit solch klassischen Erwartungen und strengen Massstäben darf man allerdings nicht an Doris Wittners neuer- schienenes Heine-Buch*) herantreten. Solche Ansprüche befriedigt es nicht. Wohl ist auch es als „Heine-Roman^, wie es sich im Untertitel nennt, gefeit gegen jeden Angriff" aus dem Lager der zünftigen Biographen und Liteiarhistoriker, gegen jede ver- gleichende Prüfung an der Hand von Quellen- und Nachlassmaterial. Braucht als Roman auch nur vor ästhetischen Normen zu besteheji und künstlerischen Ansprüchen zu genügen aber leider ist es in ühn reichlichem Masse „Roman". Eine gewisse Seichtigkeit des Geschmacks. Freude an faustdicken Knalleffekten, die Breite, mit der Hochstaplerschicksale sich neben den Hauptfiguren hervor- drängen dürfen, beeinträchtigen stark die Tiefe und Nachhaltigkeit des Gesamteindrucks und lassen einen reinen Genuss nicht zu.

*J Doris Wittner: „Die Geschichte der kleinen Fliege" ein Heine-Roman. Verlag Grethlein ä Co. Leipzig.

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Trotzdem ist das Buch nicht ohne wertvolle Momente, die es durchaus „lesenswert" machen. Drei grosse Szenerien aus dem Leben Heines rollt es aut : mit plastischer Anschaulichkeit be- schwört es uns das Hamburg Heines mitsamt der nahen Nordsee, das Leben und Treiben in Paris und zuletzt seine Matrazengruft Das ist mit grossem Geschick nacherlebt und nachgestaltet. Die historischen Figuren selbst sind mit krattvoller Lebendigkeit hin- gestellt, bewundernswert zumal die Sicherheit der Vision, mit. der Heine sich in Grazie und Ungezogenheit vor unseren Augen be- wegt und auslebt ja sogar vor unseren Ohren eigene Worte, seine gedruckten Sätze spricht. Dies wird zum Prüfstein : was zuerst geschmacklos klang und unverzeihlich schien (ist das Ohr empfindlicher als das Auge ?) störte nicht mehr, sobald man in den Bann des Geschaiiten geriet dies Bild blickt so sprechend, dass es nicht mehr frappiert, als es den Mund öffnet und wirklich spricht. Dann die Mönche selbst aus den dürftigen und wider- spruchsvollen Berichten der Zeitgenossen, aus der feinen und poe- tischen Gestalt, wie sie uns aus Heines Gedichten und Briefen und ihrem eignen Buche entgegentritt und aus der „Abenteuerin", als die sie'Meissner hinstellt, wird sie hier mit psychologischer Kraft zu einem Bilde verwoben, ohne doch den Zauber des Rätselhaften ganz einzubüssen. Am gelungensten scheint mir die Figur der Mathilde, die, ganz Typ des französischen Yolkskindes, sich wirkungsvoll und glaubhaft abhebt gegenüber Madame Jaubert, der Precieuse, der grande Dame eines geistvollen Pariser Salons. Hier ist mit viel Kraft und wahrscheinlich sogar objektiver Richtigkeit] die Mitte gehalten zwischen den üebertreibungen derer, die in Heines Frau nichts als die herzlose Grisette sahen und denen, die ^aus ihr die Idealgestalt einer liebenden Gattin und Hausfrau machen wollten.

Und ganz natürlich wachsen auf dem heissen Pariser.^Boden der dreissiger und vierziger Jahre, diesem Tummel-^und Kampf- platz aller Verbannten, aller Pioniere desFreiheitsgedankeus, Rassen- und Völkerprobleme und ziehen sich wie durch Heines Leben und Gestalt auch durch dies Buch, immer wieder aufklingend, verge- bens fragend, vergebens sich sehnend und ungelöst verhallend. Im Zeitalter des europäischen Zerfleischungskampfes, des Bank- rotts des Kosmopolitismus, in den Tagen der Internierungen aller

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„Fremden" und „Ausländer" gewinnen solche Motive leicht be- sondere Färbung, empfindet man umso stärker die tragische Ver- worrenheit in Heines nationaler Haltung. Und mit gemischten 6e- tühlen liest man Worte, wie sie z. B. in der berühmten Vorrede zum „Wintermärchen" stehen, heute wieder hört man in un- seren Tagen, da fanatischer Deutschenhass Schlagworte erfand von ungeahnter Zugkraft, die der grossen Masse die Unversöhn- lichkeit der Begriffe „Deutschland'^ und „Freiheit'' ach, nur zu überzeugend eingeprägt haben, einen der unermüdlichsten Vor- kämpfer der Freiheit Träume spinnen von rührender Kindlichkeit ,, alsdann wird die ganze Welt deutsch werden. Von dieser Sendung und Universalherrschatt Deutschlands träume ich oft wenn ich unter Eichen wandle".

Davon träumt er, Heine der Jude. Ganz ohne Messias mag er doch nicht sein. Und sein Messias wird Barbarossa. Wohl lebte ähnliches Sinnen und Träumen in dem ganzen feurigen Geschlecht seiner Zeit. Aber keinem ist der deutsche Einheitsge- danke wie mit natürlicher Selbstverständlichkeit zum Mensch- heitstraum geworden, keinem das Weh der Enttäuschung zum Weltschmerz.

Und sofort erhebt sich ein wilder Complex von Fragen und Erinnerungen. Nur zu oft hat er getobt, der leidige Streit der Meinungen über ,, Heine als Dichter", ,, Heine als Mensch", ,,Heine als Deutscher". „Heine als Jude", und wozu sonst diese Proteus- natur Veranlassung gab. So wenig ist selbst heute noch, fast 100 Jahre seit Erscheinen seines ersten Buches, der Streit geschlichtet, dass die Verfasserin unseres oben besprochenen Buches Veran- lassung nimmt, in ihrer Vorrede den Wunsch zu äussern, das Deutsche Volk möge bereit sein, seinen Dichter unter dem Zeichen des Burgfriedens (!) im Lichte gerechten Verständnisses zu sehen.

Nun wir für unser Teil werden im Rahmen dieser Hefte den Burgfrieden um Heines willen nicht weiter stark bemühen. In uuserem Lager hat man sich über den ganzen Heinestreit nie sehr aufgeregt uud gewiss nicht verletzt gefühlt. Uns tut keiner einen persönlichen Gefallen, der lür Errichtung von Heine- denkmälern Propaganda macht. Die Befriedigung darüber über-

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lassen wir gerne Andern. Die mögen entrüstet sein über Treitschke, Goedeke, Hehn, Julian Schmidt u. a. und neuerdings über Adolf Bartels; die mögen ihn weiss zn waschen und sein nur allzu schwankendes Charakterbild zu ., retten" suchen ,,denn er war unser!" riet einst pathetisch ein bekannter jüdischer Heine- forseher am Schluss eines Vortrages ,,Sie sollen ihn haben", antwortete es trocken aus dem Publikum.

Nein, wir wollen hier nur heiter und zwanglos in losem An- schluss an ein neuerschienenes Heinebuch einige harmlose Heine- betrachtungen anlügen. Nicht über Heine als Dichter, anch nicht über Heine als Mensch beides gehört unseres Erachtens bei diesem Lyriker von echtestem Schrot und Korn eng zusammen und würde uns zu tief ins rein Literarische hineinführen. Aber das Rassenproblem in Heine, der Kampt der Nationalitäten in sei- nem Bewusstscin, und im besonderen seine Stellung zum Judentum und des Judentums Stellung zu ihm das sind Fragen von solchem Reiz, solcher Eigenart und doch wieder von durchaus typischer Bedeutung, dass es sich wohl ein wenig zu verweilen lohnt.

Auf den ersten Blick könnte man meinen : welch grosse Worte um eine unendlich einfache Sache, Heine war eben ein getautter Jude ! Er war nicht der erste und nicht der letzte und noch dazu war gerade seine Epoche eine Zeit der Massentaufen. Kein Wunder, dass die •Epidemie auch ihn ergriff.

Aber so einfach liegt der Fall doch nicht.

Es hat vielleicht keinen gegeben, der verächtlicher über die Taufe als solche wie auch über sein eigenes Getauftsein gedacht hat, als Heine selber, keinen, der sich dessen so im wahrsten Sinn des Wortes geschämt hat. Der Gedanke der Taufe lag ihm nahe, wird ihm nahe gelegt, er tühlt, dass es so kommen wird und sperrt, wehrt sich dagegen, je mehr er es fühlt wie die •Motte kreist er um da« Licht, auf das alle Finger ihn weisen und da» ihn selber so unwiderstehlich blendet anzieht, und doch schreckt immer enger kreist er, immer angstvoller flattert er, immer schwächer wiederstrebt er, halb sinkt er hin, salb fasst sie ihn, die versengende Flamme, die trügerische Vision der Gleich- berechtigung, die Fata Morgana der glänzenden Carriere, das Ver- langen nach einem „Entreebillet zur europäischen Kultur". Ganz

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in der Stille, ao einsamem Orte kauft er siclis, erzählt vorher kcinom davon, spricht nachher in seinen Briefen lange noch nur in schamroten Andeutungen davon, will nur ja [keinen Zweifel darüber lassen, dass er sich selber verachtet und jeden, der derselbe getan; begreift seinen gleichfalls getauften Freund Gans nicht, der sich öfTentlich zum Christentum bekennt und bereits andere zu be- kehren sucht „tut er dieses aus Überzeugung, so ist er ein Narr,

tut er es aus Gleisnerei, so ist er ein Lump Lieber wäre mir

gewesen, wenn ich statt obiger Nachricht erfahren hätte, Gans habe silberne Löffel gestohlen ..... Es wäre mir sehr leid, wenn mein eigenes Getauftsein Dir in einem günstigen Lichte erscheinen könnte. Ich versichere Dich, wenn die Gesetze' das Stehlen sil- berner Löffel erlaubt hätten, so würde ich mich nicht getauft ha- ben .... Vorigen Sonnabend war ich im Tempel und^ habe die Freude gehabt, eigenhörig anzuhören, wie Dr. Salomon gegen die getauften Juden loszog und besonders stichelte : wie sie^^vou der blossen Hoffnung eine Stelle (ipsissima verba) zu bekommen sich verlocken lassen, dem Glauben ihrer Väter untreu zu werden. Ich versichere Dir, die Predigt war gut und ich beabsichtige, den Mann dieser Tage zu besuchen" ^). Und .furchtbar bricht sein Grimm aus, der Groll seiner Seele über die eigne Erniedrigung gegenüber der herrschenden Religion, die ihm dieselbe abgerungen: „Den Japanern ist nichts so verhasst wie das Kreuz ich will ein JapanergjWerden "''')! gegenüber der eignen Erziehung, der herr- schenden Kultur, die ihm das Rückgrat gebrochen „und Du bist zu Kreuz gekrochen, zu dem Kreuz, das Du verachtest, das Du noch vor wenig Wochen in den Staub zu treten dachtest. 0 das tut das viele Lesen jener Schlegel, Haller, Burke Gestern noch ein Held gewesen, ist man heute schon ein Schurke" ^).

Einfach, wie wir sehen, liegt der Fall nicht. Umso weniger, als man mit Fug die Frage aufwerfen muss: was bedentete Heine dieses jüdische Bekenntnis, von dem sich losgesagt zu haben er nie verwinden konnte ? Werfen wir einen Blick auf diese Be- ziehung seines Lebens, wie sie sich aus der Lektüre seiner Schriften und Briefe darstellt.

'] Briefe. >] Briefe. »] „Einem Abtrünnigen".

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Im Hause seiner Eltern hat er, wie man zu sagen pflegt, „nicht viel vor sich gesehen". Damals waren die „Segnungen" der Emanzipation von Napoleons Gnaden über Düsseldorf bereits aufgegan- gen. Der Vater Heines ein unbegabter, liebenswürdiger Schwäch ling, in seiner Jugend galanter Lebemann, dem anlässlich seiner Heirat christliche hochgestellte Gönner die Aufnahme in die Düssel- dorfer Gemeind erwirken mussten^). Die Mutter , aufgeklärt", Schülerin Rousseaus, strenge Deistin man weiss, was das, zumal in den Tagen nach Mendelssohns Tode, heissen will. Es scheint, dass das Ehepaar seine JKinder zur Beobachtung der jüdischen Lebensregeln anhielt in welchem Umfange, steht nicht fest. Aus Heines Dichtungen geht jedenfalls hervor, dass das Stimmungsvolle jüdischer Gebräuche und Ceremonien aus ejigenem Erlebnis un- auslöschliche Eindrücke bei ihm hervorgerufen hat. In welchem Geiste er jedoch unterwiesen wurde, erzählt uns der Sohn selbst: als es dem Vater einst zu Ohren kam, dass der Knabe, der von den Eltern in ein Gymnasium^^gesandt wurde, wo katholische Priester unterrichteten, die ihn früh mit philosophischen Problemen bekannt gemacht hatten, durch religiöse Spöttereien Anstoss errege, hielt er ihm folgende Rede: ,, Deine Mutter lässt Dich .... Philosophie studieren. Das ist ihre Sache .... Du kannst Philosoph sein, so- viel Du willst, aber ich bitte Dich, sage nicht öffentlich, was Du denkst, denn Du würdest^ mir im Geschäft schaden, wenn meine Kunden erführen, dass ich einen Sohn habe, der nicht an Gott glaubt ', besonders die Juden würden keine Velveteens mehr bei mir kaufen, und sind ehrliche Leute, zahlen prompt und haben auch recht, an der Religion zu halten .... Du darfst mir also aufs Wort glauben, wenn ich mir erlaube, Dir zu sagen, dass der Atheismus eine grosse Sünde ist"2). Mehr braucht man kaum zu wissen. Es ist sicher, dass Heine beim Verlassen des Vater- hauses mit Juden und Judentum keinen inneren Zusammenhang mehr fühlte. Noch während seiner Bonner und Göttinger Studen- tenzeit verkehrte er fast ausschliesslich mit Christen und kam mit Juden in wenig Berührung. Und in seinen Briefen aus jener Zeit offenbarte er eine unklare romantisch-mystische Hinneigung zum Katholizismus. Wenn man nun noch ferner ins Auge fasst,

-] Siehe Proelss : „H. Heine". *] Heine „Memoiren''.

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(lass Heiiio das juiistisclie Studium von vornherein, unter Zustim- mung der ganzen Familie, bereits in der stillen Voraussetzung ge- wählt hatte, dass es früher oder später zur Taufe werde kommen müssen, so steht es fest, dass in Heine selber die Bedenken erst während seines Aufenthalts in Berlin erwachen konnten.

Berlin im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts ! Es ist das Berlin der Erben Mendelssohns. Nie vollzog ein Geschlecht ra- scheres, strengeres und gerechteres Strafgericht an dem Prinzip, das es gebar. Saturn verschlingt seine Kinder und wird selber vom Kinde verspeist. Mendelssohns Leben und Wirken geht auf als Drachensaat, zeugt eherne, geharnischte Männer, die mit Kol- ben schlagen und Steinen werfen auf das Gebäude, das ihm selber das Allerheiligste noch gewesen. Und in blinder Folgerichtigkeit wendet die Drachenbrut, als sie das historische Werk der Ver- geltung geübt, Kolbenschlag und Steinwurf gegen sich selbst keiner rettet sich aus der allgemeinen Zerstörung auf festen, frucht- baren Boden, keiner findet aus der Wüstenei verneinender Skepsis in eine fette Oase schwellenden Lebensgrundes. Die Erben Mendels- sohns sind ein trauriges Geschlecht. Ihre geschichtliche Mission war wie die der Männer der grossen Synagoge. Freilich Mendel- sohn ist auch kein Esra geworden. Und so wurden sie die Zer- störer des dritten Tempels, den sie hätten bauen sollen.

Denn neue Möglichkeiten hatten sich eröffnet. Mit gewaltigem Flügelranschen war eine neue Zeit hereingebrochen. Unter dem Schlag ihrer Fittige wankten die Mauern der Ghetti, wankten alle festen Bollwerke der Gewalt und Unterdrückung des Ärmeren und Sciiwächeren. Aber es wankten auch die Grundmauern der Autorität, es zitterten Kirche und Thron, ja „Gott ist tot", hallte es frevelnd wieder von menschlicher Lippe, „lasst uns neue Tempel bauen, eigene Götter schaffen!" Und die Französische Revolution sinkt nieder vor der Göttin der menschlichen Vernunft und ihrem gewaltigen Erben huldigt alle Welt gleich einem Heros. Die Phi- losophie geht auf den Spuren Kants, löst in freier Willkür einzelne Balken aus seinem strengen Gebäude und baut sich daraus eigene Himmelsleitern Das „Ich" ist selbstherrlicher Schöpfer des Weltalls, kündet Fichte, ,nein, die Natur ist höchste, ge- heimnisvoll wirkende Urkraft und der ichbewusste Mensch höchste

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Stufe ihrer Entwicklungen, phantasiert Schelling, und vor gestopften Hörsälen huldigt Hegel dem staateubildenden, geschichteseienden VölkerJndividuum, predigt Schleiermacher eine neue Religion des selbstgenügenden Getühls, der frommen Empfindung.

Es sinken die Mauern der Ghetti und das jüdische Geschlecht von damals tritt in eine Welt der politischen Unreife, des religiösen Nihilismus, der gedanklichen Selbst-Abgötterei, der sittlichen Will- kür ohnegleichen und ist geblendet. Wie die Wilden bei der ersten Berührung mit den Weissen kostbare Federn und Steine i::e£:en wertloses Spielzeug tauschen, kindisch jubelnd ob des guten Geschäfts, so werfen Mendelssohns Erben ihre alten eigensten und heiligsten Güter fort gegen schillernde Gedankensplitter, gegen Zwiespalt innen und Zerissenheit aussen. Hätten sie die Treue der Väter gewahrt ! Nicht zu ermessen wäre der Segen. Sie brachen die Treue und immerdar noch heute schafft und wirkt der Fluch.

Man schliesst sich zusammen, man berät. Man besitzt einen Führer und Propheten man braucht den toten wehrlosen Men- delssohn ja nur ein klein wenig zurechtzustutzen, eine Kleinigkeit wegzulassen, eine Kleinigkeit herauszugreifen aus dem Zusammen- hang der Persönlichkeit und der „Luther des Judentums", der Re formator an Haupt und Gliedern steht da. In seinem Namen wird Stück um Stück des alteff Hausrats pi eisgegeben, wird ein ge- reinigtes Judentum in neugegründeten Schulen gelehrt, pflanzt sich die Sabbathentweihung aus den Häusern in die Tempel, aus den Tempeln in die Häuser. Und in Gewissensnot wendet sich schon 1799 David Friedländer in einem Sendschreiben an den freisinnigen Propst Teller und erbittet sich dessen Rat, wie es einem gewissenhaften Juden ermöglicht werden könne, ohne Ab- legung eines heuchlerischen Bekenntnisses in die grosse Gemein- schaft derer einzutreten, die sich Christen nennen.

Und es öffnen sich die Salons der schönen geistreichen Jüd innen. Es ist eine alte Erfahrung: die Frau ist radikaler, im Guten wie im Bösen, als der Mann. Die Geschichte des jüdischen Abfalls beweist es stets. Wo der Mann noch kämpft, zögert, Kompromisse schliessen möchte, da halten Frauen unentwegt an der Tradition fest oder haben längst jede Anwandlung, selbst der

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Pietät überwunden. In den Briefen von Mendelssohns Tochter Dorothea findet sich nirgends auch nur eine Andeutung von Ge- wissenskämpfen. Kahel hat nichts als kalten Zorn auf den Makel ihrer Geburt und hadert darüber mit ihrem Schicksal. Und in ihren Salons strömt alles, was irgend Anspruch erhebt aut Geist und Kultur, aus allen Kreisen und Schichten znsammen und das „junge Palästina" formt sich nach deren Bilde, passt sich an, lernt, saugt ihre Weise auf mit der ganzen Frische und Unver- brauchtheit des Neulings und ist bald ,, christlicher*' als der Christ. Und je mehr man sich anpasst, „fortschreitet", je mehr sich die innere Assimilation vollendet, desto stärker, schmerzlicher berührt der Cdntrast zu der äusserlich noch immer reinlich durch- geführten Scheidung. Den Prozess der Gleichstellung vor Staat und Gesellschaft zu fördern, der Reform als solcher wissenschaft- liche Grundlagen zu verleihen und ihre historische und logische Notwendigkeit zu beweisen, konstituirt sich der „Verein für Kul- tur und Wissenschaft der Juden". Hier finden wir auch Heine wieder.

Mehr als 20 Jahre später ') beschreibt er selbst die hervor- stechendsten Häupter der Tafelrunde, beschreibt sie interessant genug. Man fühlt die Wärme der Erinnerung, die Anhänglichkeit des Abgefallenen an die Treugebliebenen, und wieder, immer wieder die Verachtung für den, der gleich ihm das ,, sinkende Schiff" verlassen^). Die Zeiten, da Heine dem Vereine angeliörte, wirken wollte für Juden und Judentum freilich, wie e r es Ver- stand — waren die glücklichsten seines Lebens. Es ist immer, wie wenn er sagen wollte „seht Hir, damals war ich noch kein Lump." Hören wir ihn selber rückblickend klagen : ,,Das war eine gute Zeit. ... Es war damals Winter . . . und ist dach viel wärmer gewesen als heute den 23. April. . . , Wenn ich nicht irre, war Gans damals noch nicht getauft und schrieb lange Vereinsreden und trug sich mit dem Wahlspruch: „Victrix causa Diis placuit, sed victa Catoni." Ich erinnere mich, der l'salm ,,Wir sassen an den Flüssen Babels" war damals Deine Force, und Du rezitiertest, ihn so sciiöu, so herrlich, so rührend, dass ich jetzt noch weinen

') Nekrolog auf Ludwig Marcus. »). Eduard Gans.

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möchte und nicht bloss über den Psalm. Du hattest damals auch einige sehr gute Gedanken über Judentum, christliche Nieder- trächtigkeit der Proselytenmacherei, Niederträchtigkeit der Juden, die durch die Taute nicht nur die Absicht haben, Schwierigkeiten fortzuräumen, sondern durch die Taufe etwas erlangen, etwas er- schachern wollen und dergleichen gute Gedanken mehr, die Du ge- legentlich mal aufschreiben solltest .... Du brauchst Dich wegen meiner gar nicht zu genieren. Wie Solon sagte, dass man Nie- manden vor seinem Tode glücklich nennen könne, so kann man auch sagen, dass Niemand vor seinem Tode ein braver Mann ge- nannt werden sollte."^)

Der Zweck des Vereins ist kein anderer, als die „Vermittlung des historischen Judentums mit der modernen Wissenschaft, von welcher man annahm, dass sie im Laufe der Zeit zur Weltherr- schaft gelangen würde" und man begeistert sich für das grosse Werk der geistigen und moralischen Hebung, der bürgerlichen und politischen Emanzipation der jüdischen Rasse. Man veranstaltet Vortragsabende, man gründet eine Zeitschrift, ja sogar eine ünter- richtsanstalt (an der Heine selbst eine Zeitlang Geschichtsunterricht gab), man trieb Quellenstudien der jüdischen Geschichte, aber alles ohne rechten Anklang zu finden. Man gewann nicht viele Mit- glieder, Geldbeiträge flössen spärlich und selbst auf wissenschaft- liche Antragen bekam mau, oft monatelang von befreundeten Män- nern keine Antwort, Was immer die Gründe des Misslingens sein mochten . die enttäuschte Jünglingsschar gab die Schuld dem , gräulichen Verfall der Juden". Und in furchtbaren Prophezei- ungen giessen sie ihre Enttäuschungen aus^) und der Präsident lässt sich taufen. Für Heine aber brachte der Verein und vor allem der persönliche Verkehr mit dem Freundeskreise eine Fülle von neuen Anregungen und ihm bisher völlig fremd ge'oliebenen Empfindungen. Er hatte sich wohl schon, noch ehe er nach Berlin kam, in seinem Drama ,,Almansor" von der ursprünglichen Schwärmerei zu einer objektiveren Auffassung des Christenturas bekannt, ja sogar seinem Zorn über Verfolgung Andersgläubiger, Unterdrückung der Schwächeren zwecks Zwangs- bekehrune; starken Ausdruck verliehen. Aber das sind sehr allge-

1) S. Briefe. ^) Vgl. Zunz' Briefe an Wohlwill.

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mein gehaltene Motive. Denn Heine, indifferent erzogen wie er war, und aus Düsseldorf stammend, wo der Code Napoleon die Juden mit den Ciiristen auf fast gleiche Stufe stellte, hatte eine eigentliche religiöse und soziale Judenfrage noch gar nicht recht kennen gelernt.

In Berlin wird das sofort anders. Da gerät Heine zunächst tief, wahrhaft Hals über und Kopf in jüdische Strömungen hinein. Da wird er mit Schriftwerken vertraut, die die Anschauung des Zeitalters über die soziale Stellung, Psychologie und Geschichte der Juden bestimmen oder bestimmen sollen; hier trifft er L. Zunz und J. M. Jost und erwirbt sich selbst weitgehende Kenntnisse in der jüd. Geschichte, die er allerdings völlig im Sinne der ,. Aufklärung" und der Hegel'schen Geschichtsphilosophie interpretiert-, hier liest er antisemitische Schriften, sowie die Gegenschriften, die sie hervor- rufen; hier lernt er in den Juden das Volk sehen ,,aus jenem Teige, woraus man Götter knetet"; hier endlich wird auch die Frage der Judentaufe, mit der er bisher nur gespielt, ernsthaft von allen Seiten erörtert. Hier trifft er Stammesgenossen, die ihm, gerade als Juden, gewaltig imponieren, und ihr Beispiel weckte auch bei ihm ein starkes Stammesbewusstsein, das sich gründete auf dem Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer alten und, wie ihm scheint, in mancher Hinsicht sogar überlegenen Cullur. Von diesen Tagen her hat Heine nie aufgehört, sich mit der Judenfrage zu befassen ja. kurze Zeit geht sogar als echter Renegat ein starker Hass gegen Christentum und Deutschtum mit seinem neuerwachten jüdischen Xationalgefühl Hand in Hand. „Denn Nationalerinnerungen liegen tiefer in des Menschen Brust, als man gewöhnlich glaubt. Man wage es nur, die alten Bilder wieder auszugraben, und über Nacht blüht hervor die alte Liebe mit ihren Blumen"*), schreibt er bald darauf, noch unter dem fiischen Ein druck der Berliner Zeit.

Aber Heine ist auch der erste von all den Jünglingen, dessen Begeisterung ihn nicht hindert, kühlen, kritischen Blicks um sich zu schauen und über den Erfolg der Bewegung skeptisch zu wer- den. Sein Urteil ist merkwürdig scharf und trifft oft den Nagel

') Norderney.

J

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auf den Kopf. Er beginnt bald, die Arbeit der Reform als eine vergebliehe anzusehen und die Versöhnung von Wissenschalt und Religion, „die schon Philo von Alexandria versuchte", für eine un- mögliche Sache zu halten. Und gar die Arbeit der Prediger, die Reform des Tempels, die Modernisierung und Verchristlichung der Religion ist vielleicht von keinem so blutig verhöhnt und so boshaft verspottet worden wie von diesem ,, Ungläubigen", dem Glauben der Väter selber so völlig Entfremdeten und geschwore- nen Feinde jeder positiven Religion. So vergleicht er die Pre- diger „Friedländer & Co." mit Hühneraugenoperateurs, durch deren „Ungeschieklichkeit und spinnwebige Bandagen Israel verbluten müsse" ^), und kennzeichnet das Reform Judentum als eine Mischung von Religion und Geschäftsinstinkt, von Philosophie und Schacher, nennt Hamburg einen widerlichen Schlupfwinkel von getauften und ungetauften Juden, zieht erbarmungslos über den schlechten Stil der Zeitschrift des Vereins her, nennt es eine Verblendung, zu denken, das Herrlichste bestehe in der „Ohnmacht, in der Entäusserung aller Kraft, in einseitiger Negation und idealischem Auerbachtume", nein! offen und klar drückt er es aus: „Wir haben nicht mehr die Kraft, einen Bart zu tragen, zu fasten, zu hassen und aus Hass zu dul- den : das ist das Motiv unserer Reformation "2), Bekennt aller- dings sofort, auch er habe nicht mehr die Kraft, einen Bart zu tragen, sich „Judenmauschel'4 nachrufen zu lassen, zu fasten und sich die Zähne an ,,Mazzes" auszubeissen. Aber nichtsdestoweni- ger fühlt er es tief, dass Juden sowohl in religiöser als nationaler Hinsicht echte Juden bleiben sollten, ja, bezeichnet sich selbst als Anhänger des ,, konsequenten und rigorosen Rabbinertums", das einem hinkenden Nationalismus, der keine Religion mehr und noch keine Philosophie sei, wie allen Kompromisslern überhaupt weit vorzuziehen sei") und noch nach langen Jahren in eben jenem Nekrolog auf Ludwig Marcus, warnt er die Regierungen in ihrem eigenen und im Interesse der Menschheit, die Emanzipation der Juden nicht mehr hinauszuschieben ,, bedächten die Regierungen, wie entsetzlich die Grundpfeiler aller positiven Religionen, die Idee des Deismus selbst von neuen Doktrinen bedroht ist, wie die Fehde zwischen Wissen und Glauben überhaupt nicht mehr ein

•) Briefe.

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zalinios Scharmützel, sondern bald eine wilde Todesschlacht sein wird - hodächten die Regierungen diese verhüllten Nöten, sie iiiüsRtcn troh sein, dass es noch Juden auf der Welt giebt, dass die Sc'hweizergarde des Deismus, wie der Dichter (Heine) sie ge- nannt hat, noch auf den Beinen steht, dass es noch ein Volk Gottes giebt. Statt sie von ihrem Glauben durch gesetzliche Re- schriinkungen abtrünnig zu machen, sollte man sie noch durch Prämien darin zu stärken suchen, man sollte ihnen auf Staats- kosten ihre Synagogen bauen, damit sie nur hineingehen, und das Volk draussen sich einbilden mag, es werde in der Welt noch etwas geglaubt. Hütet Euch, die Taufe unter den Juden zu be- fördern. Das ist eitel Wasser und trocknet leicht. Befördert viel- mehr die Beschneidung, das ist der Glauben, eingeschnitten ins Fleisch; in den Geist lässt er sich nicht mehr einschneiden. Be- fördert die Zeremonie der Denkriemen, womit der Glaube festge- bunden wird auf den Arm , der Staat sollte den Juden gratis das Leder dazu liefern, sowie auch das Mehl zu Mazzekuchen, woran das gläubige Israel schon drei Jahrtausende knuspert. Fördert, beschleunigt die Emanzipation, damit sie nicht zu spät komme und überhaupt noch Juden in der Welt antrifft, die den Glauben ihrer Väter dem Heil ihrer Kinder vorziehen. Es giebt ein Sprich- wort, ,, während der Weise sich besinnt, besinnt sich auch der Narr."

Und Heine besann sich in der Tat. Er ist immer und über- all, wie wir sehen, ehrlich gegen sich, hängt nie ein scheiiüieilig Mäntelchen um seine Gedanken und Handlungen. Er erkennt scharf und klar, wie aus unseren Citaten hervorgeht : Das Wesen des Judentums ist unzertrennlich von seiner Religion. Seine Ge- schichte ist eine Geschichte seiner Leiden um diese Religion. Diese Religion aber ist ihm selber fremd, er ist nie in innerliche Fühlung mit ihr gebracht worden und er hat sie auch im Laufe seines Lebens nicht gewonnen. Im Gegenteil sie erscheint ihm frühzeitig als das älteste Beispiel jener intoleranten Staats- religionen, die er bekämpft in jeder Phase seines Lebens, Trotz- dem — etwa wie auch Nietzsche dem gewaltigen Monumentalbau der römischen Kirche Bewunderung zollt, während er gegen den liberalen Protestantismus Front macht versagt Heine eine Art

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platonischer Liebe und theoretischen Beifalls dem traditionstreuen und uno-lückliehen Judentum niclit. Aber er für sein Teil fühlt nicht die Kratt zum Märtyrer, nicht Charakterstärke genug zum Helden einer, wenn auch tausendjährigen, Tragödie. Und das Reformjudentum als Religion verachtet er. Da macht er nicht mit, legt stets Wert auf reinlichen Abstand. Wohl sympathisiert er mit den wissenschaftlichen Bestrebungen der Reform, verdankt ihr selbst ^Tosse Anregungen. Er versenkt sich jahrelang in das Studium der jüdischen Geschichte, in die Lektüre der alten Chro- nisten, namentlich in die Historia Judaica und zwar nicht nur. um Anhaltspunkte für seinen ., Rabbi von Bacharach'" darin zu finden, sondern ebensosehr ,,wegen inneren Bedürfnisses" und findet in diesen tragischen Annalen eine „Fülle der Belehrung und des Schmerzes". Und sein Ideal ist, mit seinem Herzblut den Romau des ,, grossen Judenschmerzes" zu schreiben.

Aber sein Ehrgeiz ist, eine Anstellung im Ministerium oder in der Diplomatie oder ein akademisches Amt zu erhalten. Und das Dekret von 1812 verbot ihm den Zutritt zu den Staatsämtern uud neuerdings gar die Verordnung von 1822 schloss ihn auch von der akademischen Laufbahn aus. Seine Studienjahre gehen ihrem Abschluss zu. 1823 schreibt er mit Rücksicht auf seine juristischen Pläne aus Hamburg ,,wie du denken kannst, kommt hier die Taufe zur Sprache. Keiner von mein^' J^'amille ist dagegen, ausser ich. Und dieser Ich ist sehr eigensinniger Natur. Aus meiner Den- kungsart kannst du es dir wohl abstrahieren, dass mir die Taufe ein gleichgültiger Akt ist, dass ich ihn auch symbolisch nicht wichtig achte, und dass ich mich der Verfechtung der Rechte meiner unglücklichen Stammesgenossen nur mehr weihen würde. Aber dennoch halte ich es unter meiner Würde und meine Ehre befleckend, wenn ich, um ein Amt in Preussen anzunehmen, mich taufen Hesse. Im lieben Preussen ! ! ! Ich weiss wirklich nicht, wie ich mir in meiner schlechten Lage helfen soll. Ich werde noch aus Arger katholisch und hänge mich auf. Wir leben in einer traurigen Zeit, Schurken w^erden zu den Besten und die Besten müssen Schurken werden. Ich verstehe sehr gut die Worte des Psalmisten : ,.Herr Gott, gib mir mein täglich Brot, dass ich deinen Namen nicht lästere" ... Es ist fatal, dass bei mir der

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p:anze Mensi-h durch da» Budget regiert wird. Auf meine Grundsätze bat Geldmangel oder Uebertluss nicht den mindesten Einfluss, desto mi-hr aul meine Handlungen. Ja, grosser Moser, der H. Heine ist sehr klein' ... Es scheint, dass Heine sich, wie Gans, eine Zeitlang mit der Hoffnung trug, durch eine Eingabe an das Cultusministerium die Vergünstigung zu erlangen, auch ohne vor- herigen Uebertritt in den Staatsdienst eintreten zu dürfen. Gaus erhält keine Professur ohne Religionswechsel. Er lässt sich taufen und wird Professor, Bald darauf lässt auch Heine sich taufen. Aber er erhält trotzdem nirgends eine Anstellung. Sein Uebertritt, teuer genug erkauft durch namenlose Selbstverachtuug und lebens- längliche Entzweiung mit sich selbst, hat ihm in der Tat nie auch nur den geringsten Vorteil, stets nur Nachteile gebracht. Er fühlt es bald selbst ..ist es nicht närrisch ? Kaum bin ich getauft, so werde ich als Jude verschrieen .... Ich bin jetzt bei Christ und Jude verhasst. Ich bereue sehr, dass ich mich getauft hab'; ich sehe noch gar nicht ein, dass es mir seitdem besser ergangen sei im Gegenteil, ich habe seitdem nichts als Widerwärtigkeiten und Unglück'' 0-

So ist es bis zuletzt geblieben. Den Juden war Heine stets der Christ den Christen stets der Jude. 5 Jahre noch irrt er in Deutschland umher, bald dies, bald jenes erhoffend, nirgends eine Stätte findend. Da bricht die Julirevolution aus. Und wirft neue Flammen in Heines ausgebranntes Gemüt. Er geht nach Paris, vernachlässigt für lange Jahre sein Dichtertum, verschreibt sich den Ideen der Revolution, wird Politiker, wird Sozialist. Schickt nach Deutschland lange Aufsätze über französische Zu- stände und sucht den Franzosen deutsche Philosophie und Litera- tur näherzubringen. Und Deutschland hasst ihn als den ,, Fran- zosen" und Frankreich wird ihm doch nie zur Heimat. Nirgends kann Heine Wurzel schlagen. Kein Volk und keine Religion em- pfindet ihn ohne weiteres als zugehörig. Und Niemand hat seine Entwurzelung und Heimatlosigkeit schärfer empfunden und bald schmerzlich beklagt, bald cynisch genossen, als Heine selbst. Er nennt sich den „Heiden", fühlt sich als ,.Hellene" und stürzt sich in den Strudel des Lebens, in den Rausch ungezügelten Genusses

') Briefe.

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und schlägt eine laute Lache auf ob der ,, dürren freudlosen Heb- räer" und der ,, trüben, qualsüchtigeu Nazarener" Evoe ! das Leben! Und hat doch Momente, da vergleicht er sich selber mit dem Ewigen Juden, dessen weissen Bart ihm kein Barbier abra- sieren kann und dessen schaurige Mär die Mutter im stillen Wahl- tal den Kindern erzählt.^) Und musste in zehniährigeni, beispiel- los furchtbarem Todeskauipf für sein Gelächter und sein Heiden- tum büssen.

Wie eine schaurige Mär, wahrlich! ist die Geschichte von Heinrich Heine. Wer sie verfolgt von Anfang bis zu Ende, dem kann leicht die Lust vergehen, aus noch so gerechtem Grunde ihm, dem Charakterlosen und vieler Sünde Schuldigen, Steine nachzu- werfen — er war gestraft genug.

(Schluss folgt.)

1] Briefe.

Literarisches.

Jüdische Kriegstrophäen von Judäus. Leipzig M. W. Kaufmann. Preis 0,75 M. Wer Judäus aus seinen geistvollen, anmutig- sinnigen Erzäh- lungen kennt, kommt auch in dieser dem Umfang nach kleinen, dem Inhalt nach bedeutungsvollen Schrift auf seine Rechnung. Wir möchten ihr die weiteste Verbreitung wünschen. Mögen unsere Kämpfer im Felde sie lesen und aus ihr die Weisung sich holen, wie sie der Erringung ,, jüdischer Kriegstrophäen" sich würdig machen können. Es lesen sie die Daheimgebliebenen, denn auch sie können an diesen Kriegstrophäen ihr Teil haben. Der Verfasser versteht die Zeichen der Zeit: sie reichen dem wahren Judentum und seinen Lebensforderungen unvergleichliche Trophäen. Aus Erscheinungen, die der Weltkrieg im deutschen Volke gezeitigt, fiiessen ihm fast spielend die Analogien, die auch dem Juden die Erfüllung seiner göttlichen Lebenspflichten gebieterisch auferlegen:

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das Gesetz triinni»hiert über den GlaiilxMi. nationale Eigenart er- ringt sich erliiilifo Berechtigung, Erlösim_i;sseliusuciit zieht durch die Gemüter, und die Hoflnung auf einen starken, wahren Frieden weist von selber jeden Gedanken von sich, der ihn mit Aui- opferung heiliger Güter erkaufen möchte. Von der gesteigerten Bedeutung, die dem religiösen Moment sich zuwendet, und der Waflenbrüderschaft, die Christen, Mohaniedaner und Juden Schulter an Schulter vereint, erhofft Verf. ein allmähliches Schwinden des Judenhasses und einen konfessionellen Frieden, der dem Avahren Judentum zu Gute kommen werde. In ihrer kläglichen Erbärm- lichkeit sinken die Schlagwörter und Meinungen eines sog. „Mode- judentums" vor unseren Augen in sich zusammen, für dessen Cha- rakterisierung Judäus die Quellen seines köstlichen Humors fliessen lässt. Eine herzerfrischende Hoffnungsfreudigkeit weht durch diese Schrift. Wir mussten an Sudermanns jüngstes Bühnenwerk ,,ent- götterte Welt" denken, in dem „szenische Bilder aus kranker Zeit" den sicheren Glauben an eine anbrechende neue, gesunde Zeit predigen. Wenn Sudermann die Gesundung seines deutschen Volkes von dem Weltkrieg erhofft, sollte sie Judäus nicht auch für das jüdische Leben erwarten dürfen ? ph. r.

Jüdische Monatshefte

unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Salouion Breuer, Frankfurt a. M. herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kohn, Ansbach.

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Jahrgang 3.

Heft 3 u. 4.

Sedernächt.

Die Hiingerncleu mögen kommen und sich sättigen. Millionen darben, und nur Wenige werden satt. Oder sind der Satten noch zu viel auf der Welt? Muss die Not noch wachsjen, das Elend an Wucht sich noch steigern, ehe auch sie den Hunger verspüren ?

Zum Weinen und zur Klage, dass sie die Haare sich raufen und in Sack sich hüllen, ruft der Weltengott seine Menschen. Dort aber herrscht Jubel und Freude, und man tötet Rinder und schlachtet Schafe, isst Fleisch und trinkt Wein „nur essen und trinken, denn Morgen sterben wir doch !" (Jes. 22).

Geht vorüber an ihrer Tafel, fliehet, von Eckel gepackt, ihre Nähe. Dort sitzt der Tod. Von Unflat und Auswurf starren die Tische. Da ist keine Stelle mehr rein. Und höret auf, von tierischem Schmutz, von schweinigem Schwelgen zu reden. Denn ihr habt Menschen gesehen, die es weit besser verstehen.

Und dann wisst ihr, weshalb der Erlöser noch immer nicht kommt. Weil so Viele ihn gar nicht brauchen. Nichts in der Welt, kaum noch eine Erscheinung des menschlichen Lebens, die der statistischen Berechnung sich entzöge. Denn sie berechnet dem Tod seine Beute, der Wirtschaft ihre Güter, dem Menschenfleiss seine Errungenschaften. Sic berechne einmal den Hunger auf der

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Welt, Und ein grosser Teil der Menschheit wird darben. Ob er auch darben wird, wenn ihm der Magen sich tüllt ?

Der Erlöser wird kommen, er muss kommen, wenn erst die Menschen den Bissen Brot hinnnterwürgen, weil sich ihnen die Kehle zusammenschnürt vor Weh, vor verzweifeltem Ingrimm. Wenn die Menschen erst einmal erwachen und sich gegenseitig fragen, ob es denn wahr sein soll, dass ihres Lebens Inhalt kein anderer sei. als Güter erwerben, um ihren Magen mit ihnen zu füllen, ob Leben dazu da sei, dass Menschen alles einsetzen an Geist und Kraft, um des Stück Brot sich zu verdienen, damit der tyrannische Magen sich befriedige. Und Menschen werden Bekenner- mut bekommen: Ob sie noch länger den tollen Tanz mitmachen sollen, von Jugend auf sich schuften und rackern, damit der Magen des Seine erhalte, um dann nach Ablauf von ethchen Jahrzehnten erschöpft und müde gejagt ins Grab zu sinken. Ob sie noch fort- fahren sollen, immer wieder in sinnloser Folge Generation auf Generation ins Dasein zu setzen, dass sie zu gleichem, sinnlosem Tun durch's Leben sich quäle. Und Kinder werden vor ihre Eltern treten mit dei Frage auf den Lippen: Wer ihnen das Recht gegeben habe, ihnen das Leben zu schenken, was sie ihnen zu bieten hätten an Gütern und Werten, die sie ans Leben zu fesseln vermöchten. Und spricht dann ein törichter Vater : Lieber Sohn, ich habe mein Geschäft in die Höhe gebracht, habe tausende von Goldbarren mir gehäuft, da sollst du nun zeitig zu arbeiten be- ginnen, um all das Wissen und all die Tüchtigkeit dir zu erwerben, die nötig ist, um mein Geschäft einst fortzuführen und die Gold- haufen mir weiter zu türmen dann wird der Sohn in ein gel- lendes, wahnsinniges Lachen seine Kehle ergiessen, und dem Vater wird es grauen vor solchem Lachen. Und Eltern werden sich um- sehen nach Brot, nach Lebensbrot, ehe sie es wagen werden, Kindern fortan das Dasein zu schenken.

Da habt ihr Israels ewigen Beruf. Und schaut stolz eine Welt auf die „Kraft ihrer Rosse" und leuchtet ihr Auge im Anblick dir „Schenkeln des Mannes", dann blickt Israel wehmutig stille auf solches Tun, und das Wort des Psalmisten lebt auf seinen Lippen, das ihm zeigt, wie Er Himmel in Wolken hüllt und der Erde den Regen bereitet, dass den Bergen des Gras entspriesse und dem Tier das Brot werde und den jungen Raben, wonach sie

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rufen und was denen mühelos in den Schoss fällt, darum sollten Menschen mit Rosseskraft und Mannesschcnkel ihr Lebenlanjr kämpfend sich mühen? Und das Leben?

Und Israel erhebt sich und wird sich jubelnd bewusst, dass der Sinn des Lebens sich ihm erschlossen.

Und kommt die Nacht des 14. Nissan, dann deckt es den Tisch sich und ruft die Hungernden, dass sie kommen und sich sättigen und wartet.

Und kämen sie, die nach Sättigung sich Sehnenden, Israel reichte ihnen vom Tisch seines Lebens die Mazza und lächelte selig und ewig beglückt.

Sie werden es einmal verstehen. 0, dass wenigstens wir es alle verstünden, welches Glück, welches Leben wir in der Mazza mit Händen greifen !

Das Brot aus Seiner Hand, Brot aus Gottes Hand! Sklavenbrot? Jawohl, Gottes Brot, den Menschen gereicht, die als Seine Knechte sich fühlen! Und Leben, freies; fröhliches Leben durchströmt den Menschen, der solche Mazza zu brechen versteht.

Reicht sie euren Kindern, und sie werden fortan wissen, wofür sie Leben von euch empfangen haben. Reicht sie ihnen, dass sie es wissen, dass sie die teuerste Lebenserrungenschaft dar- stellt, auf die ihr hinzuschauen vermöchtet, und dass ihr, bettelarm, am Leben verzweitelnd, nimmer den Mut gefunden hättet, ihnen das Dasein zu schenken, wenn ihr nicht die Mazza in Händen ge- halten hättet und für ein solches gottgewolltes, Gott dienendes Leben Kinder zu wecken als eures Lebens köstlichsten Inhalt betrachten konntet.

Schickt sie euren Söhnen und Brüdern auf das Kampffeld hin- aus, auf das blutgedüngte, von Jammer zerwühlte, dass sie mit ihr in der Hand gestärkt und gehoben dem Jammer zu trotzen und dem lauernden Tod kühn und getrost ins Auge zu schauen ver- mögen und bis zum letzten Atemzug nicht aufhören, mit immer gesteigerter Innigkeit die Worte des Lebens zu sprechen :

^:'^pbi< J^in. "IID die sie Tag für Tag mit segnender Huldigung zu Gott aufschauen heissen,

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niDo"? 1iN~i2l^ der sie in Seineoi Dienst, zu Seiner Ehre geschaffen! Er weiss wozu, Ihm dürfen sie voll stolzer Ge- wissheit vertrauen, und weil Er es weiss, wissen auch sie es : seiner Ehre gilt's, der Förderung Seines Willens auf Erden strömt jeder Blutstropfen ihres Lebens ;

D''Vinn p "i:b"'13m und dass ihnen in weiter Feme liegt, was Torheit und Menschendünkcl an Lebenswerten zu bieten sich er- kühnt, und lockt sie nicht, denn es weht Todesschauer, und Weltenjam- mer stöhnt ihnen von dort entgegen;

DÜH mm ):h ]n;i sie aber wissen es, mit der Mazza haben sie es hingenommen, das Wort, das Lebensgewissheit ihnen erschliesst und zur Lebenshöhe sie ruft h^DiriD Vm übiy ''Tll und pflanzen ewiges Leben mit allem Streben, mit allem irdischen Mühen, das dem Aufbau göttlicher, ewiger Ziele sich weiht 'IDI "iniiriD ^^2b nno'' t^in und haben nur eine Sehnsucht: immer

klarer, immer gewisser den. Weg zu schauen, den Gottes ewiges Wort allein Menschen zu führen vermag, und kennen fortan nur eine Furcht: die Furcht vor Ihm, und hegen keine höhere Liebe als die Liebe zu Ihm, und keine beglückendere Aufgabe, als abw DD^2 ^l^vb^ liim nwvb der Erfüllung Seines heiligen Willens

immer rüstiger mit ungeteiltem Sinn und hingebender Liebe zu leben, P""")!? J^ri ah püb denn ihnen graut vor der Leere, und sie wollen dem Nichtigen sich nicht mühen, rhrob "i'pj N^i ein Leben lang Seh ein werte erzeugen, deren Erkenntnis eines Tags mit

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fassungsloser, jämmerlicher Bestürzung sie erfüllt. Und so sättigt die Mazza sie.

Eine Nacht voll Unruhe geht der Sedemacht voran. Sie liegt uns im Blute, Danken wir den Müttern unseres Volkes, dass sie diese Unruhe uns bereitet, Sie lehrten uns, wie man Chomez forträumt aus den Häusern, wie man Chomez bannt aus seinem Herzen. Soll die Sedernacht mit ihren Wonnen und ihrer Seligkeit uns beschieden sein, dann gilt's vor Gottes Auge weggeräumt haben jede Spur der Selbständigkeit, aus dem Herzen getilgt haben jedes Bewusstsein eigenen, stolzen Kraftgefühls. Nur dann ist Raum für das göttliche Gnadengeschenk, das die Sedernacht uns bietet.

Und mit dem Scheine der Lichter leuchtet hinein in die dunkelsten Winkel eurer Häuser und tilget aus dem Herzen jede Chomezspur. Denn wo Cchomez die Hand hält, ist kein Platz für die Mazza. Wer Chomez hat, ist nicht hungrig nach Mazza. Suchet selber im Lichterschein nach der Chomezspur und wartet nicht, bis Gott in eure Mitte tritt und den Chomezstolz eures Herzens euch vernichtet.

Seht ihr das unheimliche Leuchten, das die finstere Nacht durchzuckt?

Gott ist yt^n '\^2r2\

Grausig, wenn Gott „Jeruscholajim mit Leuchten durchsucht" (Zeph. 1, 12) y-in lii^ Dir'D '\^pvb^ N"y DVD IV^b um einer von Chomezgesinnung erfühlten Welt mit den Flammen seines Zornes die gottleugnenden Denkmäler ihres Stolzes zu zertrümmern und den frivolen Hochmut ihres von leidenschaftlichem Wahn erfüllten Herzens zu brechen. Gott ist yf2r\ "1J?DD ! Und er trifft die Menschen, die „auf ihren Hefen ruhig lagern'' (das.) : nichts hat ihre Ruhe zu stören vermocht, sie waren satt und sehnten sich nicht nach der Mazza denn j;"!"' nH 'n D'13'*"' n"? ,,von Gott kommt nichts Gutes und auch nichts Böses".

Wehe den Menschen, PjDDi nS 'i:in die kein Sehnen mehr kennen, r^-i"i n'?! 'n HN ^^p2 üb "1^X1 denen Gottes lebenspenden- des Füllhorn nichts mehr zu bieten vermag: ! Sie werden noch

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in vcrzchrcidcr Sehnsucht nach der Mazza verlangen, wenn „ihr Vcrmiifi:cn der IMündcrimg, ihre Häuser der Verödung verfallen''.

Ihr aber wollt eneh, wollt euren Kindern die Seligkeit der Sedernacht erhalten. Dann gehet hin und suchet selber nach Chomez. und wo immer ihr eine Spur noch tindet, tilget sie weg, che die Sedernacht naht.

Leuchtende Kiiideraugen. Fragender Kindermund. Wenn eure alten Augpu ihren Glanz in der Sedernacht nicht mehr be- sitzen, auf euren welken Lippen die forschende, sinnende Frage nicht mehr lebt, dann wundert euch nicht, wenn eure Kinder eines Tags voll Gleichmut, in gähnender Langeweile die Mazza würgen, das Bitterkraut verschmähen und den heihgen Rundgang der Gott entgegengereichten Becher mit Wirtsliausgleichmut ertragen.

'? nxT no, die Frage des unerschlossenen, noch törichten Kindersinnes? 0, wer gäbe es, dass unseren Alten und Gereiften wenigstens diese Frage noch aus dem Herzen käme und nicht l)eschämendc Gedankenlosigkeit und hindämmernder, gesättigter Gleichmut jedes Leben ertötet hätte !

Denn auch ihnen weiss Gott die Lippe zur Frage zu öffnen. Weh ihnen, wenn sie erst dann zur stammelnden Frage sich regt. Wenn das leidvolle Weh, das grenzenlose Elend an sie herantritt, das über Millionen von Menschen die furchtbare Gegenwart üVier Nacht gebracht, und der Sinn des Schmerzensschreis für immer sieh ihnen verschliesst, der aus ungezählten, hingemordeteu Kinder- herzen zu ihnen dringt

Hören wir das Wort der Weisen.

IDT n"l'"^1 riTD ""D n'^^ii Auf die Geburtsstunde eines Menschen- kindes, nein, auf. den Entwicklungsgang einer ins Dasein sich rin- genden Menschenknospe lenkt das Gotteswort unseren Blick, und die Weisen stehen stille und sprechen mit Ijob (K. 36) "^y" N'i\s

Dl)i IHN ^^V^■.^b^ J)}n'\i2b „richte ich auf das Ferne meinen Blick, Gerechtigkeit zolle ich meinem Schöpfer" lO'j:'^ ITIZ'^C \D2 "l"N NT1 vry rivS ^n-ii.s vS*i'""i i"-n pinio x^r im« i;^zn anizN ':^r pini^ Cipcn nx. Preisen lasst uns Awrohoms Namen, der aus der Ferne den Weg einst ging.

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1^ 13Dlp1 DV^m li^^nir ri"2pn '?^ IDI^'? pnn^ro. Preisen lasst img Gottes Namen, wir waren Ihm so fern und sind ihm nun so nah.

Und ihr wundert euch, wenn ihr den Greis sehet, still und gefasst den Weg dahinschreiten, den schwersten, den vielleicht ein Vater je gegangen, piniD üpon TN Nl"'1 nach einem Ziele hin, das ihm so fern, so unsagbar, so unbegreiflich fern doch erscheinen musste Woher die Kraft, woher die Klarheit seines Blickes ?

0, über die Toren, denen das Unbegreifliche, ewig Unfass- bare dort erst aufgeht, wo der Weise die Klarheit und Bestimmt- heit des Urteils längst schon besitzt !

Erst wenn Gott zur Akeda den Menschen ruft, stutzen sie und fragen : weshalb ?

Erst wenn unschuldige Menschen leiden und bluten, fragen sie das törichte : weshalb ?

Erst wenn das Unbegreifliche, ünfassbare sie aufrüttelt, fahren sie empor aus hindämmernder Gedankenlosigkeit und fragen das gedankenlose : weshalb ?

Weshalb ?

"IDT rnb^} i ymn "^D ^tr^?. Wo wäre der Menschengedanke, der hineinzuleuchten wagte in die sich türmenden Rätsel, sich drängende Wunderwelt, aus der all die Millionen Menschenkinder ins Dasein sich ringen !

"'NZ'nD r\''D'\bzh rc^tJ mn^n )b f-^pco Überantworten unschein- baren, wesenlosen Samentropfen ihrem Gott, Cnb T'inD ""DpHi mc^*^ mriDr^D mZ'Di und das Wunder aller Wunder, der Mensch in seiner Schönheit und Wunderfülle geht aus ihm von Gott ge- worden hervor. Weshalb ?

Weshalb fragt ihr da nicht: weshalb?

\tSd: nii^ii: ^D bv 1"I1N (Ps- 139)Huldigen Avill ich Dir, das« ich in solch überwältigend wundervoller Weise geworden bin, ""'tt'yD nit<':^D: wundervoll sind Deine Werke "IN^ nyiv ^'^^y\ dessen ist fortan meine Seele sich bewusst !

Fraget doch : weshalb ? Hier, hier fraget, und wenn ihr dann verstummen, ehrfurchtsvoll schweigen müsset im Anschaun göttlicher Unbegreiflichkeit, dann wird ein heiliges Begreifen euch erfüllen und das Gelöbnis eurem Herzen sich entringen : ^Jnil ü^ii; "l~nD leite Du mich den Weg der Ewigkeit und werdet

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vcrtiniiensvoll tiir ein ganzes Lehen göttlicher Führung- euch hiu- gelien, für ein Lel)en, dass von ihm gewollt, von ihm geschaffen, von ihm allein verstanden.

Unser der Gehorsam Sein das Begreifen!

Fraget ihr noch, weshalh Awrohom nicht zögerte, nicht zwei- felte, als das Lehen zur Akeda ihn rief? Er hätte zusammen- hreehen müssen, wenn zum ersten Mal in seinem Lehen Gottes Muhegreitlicher Wunderwille sich ihm offenbart hätte, "'yi N^J< p^niD^ Sein Sinn war aber längst schon hineingetaucht in die Welt der Wunder, K>~)i IPN ''bvcbi und deshalb vermochte er auch iu dem schwersten Augenblick seines Lebens vertrauensvoll seinem Gott piü zu zollen.

Bleibet stille stehen, meinen daher unsere treuen Lebens- lelirer, wenn das Gotteswort zu euch spricht idt mb'') yiTD O PitTN - hier oder nie ist der Augenblick, w'o wahre Lebensanschauung zu gewinnen ist.

Hier oder nie '1^1 li^DN CülDN^ b^ 1Dt:6 pn^ti'D werdet ihr segnend aufschauen können zu eurem Stammvater Awrohom und werdet begreiten, woher die Kraft ihm kam, als er den Weg an- trat in die Ferne.

Lange und tief senket der Blick in den Weg, der von nrx ymn "»d hinführt zu ~IDT rn^''l, und wenn dann bebend eure Lippen das \n"i^D; niNii: "D ""IIN* sprechen, dann werdet ihr eurem Gotte huldigen )b "i^Dlpi cpim i:^"'h'Z'. Denn je mehr euer Sinn sich der Welt der Rätsel erschliesst, die euch umgieht, desto inniger und heilig-er wird der Gedanke Gott euch erfüllen, und werdet euren seh wachen, ohnmächtigen Verstand seinem ewigen Weisheitsplane willig beugen, mit dem Er über Menschenleben und Menschen- schicksal bestimmt: pTi ]nj< ^^yic'^x

Ewig hinschauen lasst uns auf den Weg, den Awrohom zur Akeda einst schritt, c'-^iy --n2 "^^n:! Auch wir müssen ihn gehen und können ihn gehen und müssten am Leben verzweifeln, wenn wir nicht freudig zu gehen ihn lernten.

Das nj^T ,"0 fragender Kinderlippen lebe auf eurem Munde, dass es von selber dem reinen, kindlichen Sinn sich ersehliesse, und die heilige Sedernaeht wird sie weihend erziehen für die Akeda ihres Lebens.

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Glücklich die Eltern, die ihre Kijider ruhig von sich scheiden sahen, als die blutigen Felder der Schlacht zur Akeda sie riefen. Sie hatten früh gelernt, in der Sedernacht ihr PsST rir2 zu fragen. Sie konnten jetzt schweigen.

D"'~nCiIi' ^""b-Lieder: Ahendlieder, Mitternachtsheder einer heili- gen, seligen Xacht. Nicht eine Nacht wie die anderen Nächte. Ein sternenbesäter Himmel wölbt sich über sie. Und aus den Sternen leuchtet und funkelt es gar seltsam, dass es tagt in der Seele, in der armen, gehetzten Seele unseres Volkes. Und der Verlassene, Ohnmächtige, Geknechtete erhebt sich und schaut voll Seligkeit in das Licht, das aus der Nacht ihm entgegen strahlt. □mci:' b'''^ stammeln seine bebenden Lippen. Wagt ihr noch da- ran zu zweifeln ?

Sich und einer grossen Welt ruft er es zu : es wacht einer über mir. der die Nacht heraufziehen lässt und mir leuchtet in ihr. Und nachdem ich es weiss, dass Er die Nacht mir bringt, will ich sie ruhig durchleben und harren auf Ihn !

Sein Wort lässt dämmern den Abend. Seine Einsicht ändert, wechselt die Zeiten und ordnet Sterne als Wachen über den nächt- lichen Himmel. Jede Nacht an^D^ ^"'b ! Und deshalb lässt er auch Dunkel zurücktreten vor den»» Licht, Er ist ni^üU 'n ist mein Gott, braucht von mir nur als mein Gott geschaut zu werden und □'"nOv^' hv wäre keine Wahrheit?

Er ist mein Goel, mein Erlöser, mir innig verwandt und trägt durch Nacht mich und lässt auch im Grabe mein Leben nicht enden.

Erlösungsbotschaft dringt an mein Ohr, und erquickender Tau frisch knospenden Lebens fällt in den erwachenden Morgen.

Der Kolnidre-Nacht stehe die Sedernacht an heiliger Weihe nicht nach, meint ein sinniges, altes Wort.

J. Br.

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„Ostjuden".

Ein hoher Beamter, welcher die Verhältnisse des oc- CLipierten Gebietes ganz genau kennt, äusserte jüngst die Besorgnis, es möchte über die Ostjudenfrage zu viel ge- schrieben, zu viel geredet werden. Es ist ja sicher alles so gut gemeint und trotzdem so vieles verfehlt. Das mag einer- seits seinen Grund darin haben, dass nach Lage der Dinge alles blos unter hypothetischen Gesichtspunkten beurteilt werden kann, dass Rücksichten auf das Wohl des Vater- landes jede politische Diskussion ausschliessen. Aber an- dererseits will es uns bedünken, als ob vieles noch allzusehr von dem Schimmer einer gewissen Romantik um- kleidet sei ; man empfindet vieles in die Ostjuden hinein, was ihnen gar nicht innewohnt, man spricht ihnen manches ab, was sie tatsächlich besitzen. Und nun gar, wenn man so tut, als ob erst der Krieg und seine Ereignisse uns da eine unbekannte Welt erschlossen hätten ; es wäre wirklich kein ehrendes Zeugnis für die deutsche Judenheit, wenn sie wirklich erst jetzt beginnen wollte, sich um das Wohl und Wehe der Ostjuden zu bekümmern. So liegt die Sache denn doch nicht und es darf nicht dahin kommen, dass die Ostjuden zum Objekt aller möglichen Experimente von wohl- meinenden Beglückern werden. Darum nur einige wenige recht nüchterne Worte.

Die wirtschaftliche Depression teilen unsere Glaubens- genossen des Ostens mit der städtischen Bevölkerung ohne Unterschied des Glaubens. Es ist nicht möglich, hier mit weitausgreifenden Plänen einzugreifen; da kann zunächst nur charitative Tätigkeit helfen. Aber für eines muss der Westen sorgen, dass die gespendeten Hilfsmittel nur nach dem Massstabe der Not verteilt werden. Es muss gelingen, aus der Mitte der Ostjuden selbst ein unparteiisches Comite zu gründen. Wir vertreten diese Forderung mit allem Nachdruck.

Ein zweites, womit wir den Ostjuden helfen können, ist die Hebung ihres gesunkenen Mutes. Schlimmer als die wirtschaftliche Not ist diese namenlos gedrückte Stimmung. Sie erwächst aus einer doppelten Befürchtung, die einen za-

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gen für die Zukunft ihres religiösen Strebens, die anderen für ilire Menschenrechte. Für die erstere Gedankenweise gelang es uns, eine ganze Reihe geängsteter Gemüter da- durch zu beruhigen, 'dass wir ihnen bewiesen, wie gerecht selbstlose, objektive Menschen ohne Unterschied des Glau- bens ihr religiöses Streben beurteilen. Sie haben dadurch die für sie namenlos beruhigende Ueberzeugung gewonnen, dass für ihre Anschauung in jeder Cultur Raum ist. Aber wir wünschten, dass diese Gerechtigkeit Gemeingut aller deutschen Juden würde. Auf dass arme Eltern nicht mehr bei jedem Deutschen, welcher die Grenzen zum occupierten Gebiet überschreitet, zittern, er käme, um ihnen die Seele ihrer Kinder zu rauben. Wahrhaftig, dazu wäre die Zeit schlecht gewählt. Und gerade deshalb ist der obenerwähnte Schimmer der Romantik ein gefährliches Spiel. Daraus könnte die Jugend des Ostens die Meinung schöpfen, als lebte sie in einem schemenhaften Märchenland, aus dem sie mit alier Energie den Weg zur Wirklichkeit suchen müsste. Und die Alten würden verzweifeln. Darum sagen wir, mehr Ehrfurcht, mehr Ehrfurcht vor der Gedankenwelt und den Idealen der im Occupationsgebiet wohnenden Juden, stärkere Betonung des uns Gemeinschaftlichen. Man hat ja hierzulande schon eine Ahnung von der erhitzten -Temperatur, in welcher sich zur Zeit das ganze Gedankenleb n unserer Glaubensbrüder dort bewegt. Man sollte nur die Zeitungen dort lesen, wie da aus den kleinsten Dingen ungeheuerliche Folgen gezogen werden, wie es da siedet und brodelt von Projekten und Träumen: dann würde man sich wirklich scheuen, nun auch unserers'^its diese Erregung zu steigern. Gewiss, wir sind weit entfernt davon, die Schwächen der Ostjuden, welche sich ja aus ihrer Vergangenheit mehr als zur Genüge erklä- ren lassen, zu verkennen, aber rein menschlich möchten wir zu jedem Schr-ftsteller. welcher über die Osljuden schreiben zu müssen glaubt, jedem deutschen Juden, welcher dorthin geht, sagen, es möge nicht vergessen werden, dass es letzten Endes denn doch heiliger Boden ist, die Ueberzeug- ungswelt von fast zwei Millionen Menschen. Kommt man aber zu diesen zwei Millionen mit dem ehrlichen Wort, dass

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ihr relij^iösos Erbgut als etwas Gutes, als etwas Grosses, als etwas Gemeinsames von uns geachtet, getragen, geför- dert wird, dann wird die Welt das Wunder erleben, welch aufrechte Menschen da erstehen werden.

Dies aber wird ihnen den Mut geben, der zweiten Fra- ge viel ruhiger ins Auge zu sehen. Wir können hier un- möglich Vermutungen über die zukünftige politische Ge- staltung desoccupierten Landes aussprechen, auch darüber nicht, wie nach der jeweiligen Lage nun das Verhältnis der Juden zu den andern Bürgern des Landes aussehen wird. Allein geben wir ihnen die Stärkung ihres religiösen Grund- gedankens, dann sind sie für alle Fälle gerüstet. Dann sind sie reif, als wertvolle Vollbürger jedweder (jemeinschaft ihren Platz auszufüllen, oder aber, wenn es die Vorsehung so fügt, dass neue Leidenszeit an die alte sich fügt, dann werden sie wenigstens ihr altes Gottvertrauen auch in die neue Zeit mit hinübernehmen. Nur vor solchen Träumen müssen wir sie schützen, aus denen es nur ein furcht- bares Erwachen geben könnte Nüchternheit ist hier der einzige Weg, auch dann, wenn diese Nüchternheit uns zum Schweigen zwingt.

Diese Nüchternheit endlich muss deutsche Juden und Ostjuden vor einer grossen Gefahr bewahren, der nämlich, dass sie den Boden der realen Verhältnisse verlassen, dass sie nicht jetzt schon Institutionen Schäften wollen, welche erst in ruhigen, wirtschaftlich anders begründeten, politisch gefestigten Verhältnissen Raum beanspruchen können, jetzt gilt es nur zwei Aufgaben, den hungrigen Leib vor dem Sterben zu bewahren und die zagenden Seelen vor Mut- losigkeit zu schützen. Wer diesen Augenblick benützen will, um Seelen zu erkaufen, ist ein Schacherer. Wer hel- fen will, braucht Geld, Geduld und Liebe. Und so löst sich denn die ganze Ostjudenfrage in eine rein menschliche; und alle Wahrheit versagt, wenn nicht reine Liebe ihr die Wege weist.

P. K.

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Erziehungsfragen.

Wenn nicht alle Zeichen trügen, wird der Krieg auch auf pädagogischem Gebiete Umwälzungen hervorrufen. Schon hat er zuwege gebracht, dass die Stimmung der Schule energischer noch als in den vergangenen Friedensjahren sich auf die Liebe zum Vaterlande und die erzieherischen Postulate, die auf diese Liebe abzielen, eingestellt hat. Auch in den kommenden Friedensjahren, nicht blos im Sturm der Schlacht und in der Opferbereitschaft der Zuhausgebliebenen während des Krieges, wird das Vaterland einer Gefolgschaft von unbedingter Treue bedürfen. Hierzu ist der Staat auf die Schule angewiesen. Höchstwahrscheinlich werden die Ver- bindungsfäden zwischen Schule und Kaserne nach dem Kriege noch fester und dicker gesponnen sein als bisher. Auch die Schlachten der Zukunft wenn nicht vorher der ewige Friede beginnt werden vom Schulmeister mitgewonnen werden müssen, wenn an- ders das Vaterland auf eine ihrer Pflichten bewusste und nicht blos (nach russischem Vorbild) blind gehorchende Streitmacht nicht ver- zichten will. Doch nicht von der Schule als einer Vorbereitungsan- stalt für den Krieg wollen wir hier reden. Wir wollen über Er- ziehungsfragen sprechen, welche die grosse Weltpolitik nur mittel- bar berühren, von der religiösen Erziehung der jüdischen Jugend, wie sie bisher beschaffen war und wie sie vermutlich nach dem Kriege unter dem Einfluss seiner Umwälzungen sich gestalten wird.

Der Krieg hat unseren kritischen Sinn geschärft. Es ist an- zunehmen, dass nach dem Kriege neben der politischen auch die religiöse Kritik mit ungeahnter Wucht hervorbrechen wird. Heute kann und soll auch noch nicht alles gesagt werden, was aus dem Herzen über die Drahtverhaue der Zensur nach den Lippen und zur Feder drängt. Denn mag man über die Zensur denken wie man will, sie ist ein Segen, insofern sie die Gedanken zwingt, sich gründlich auszureifen und insofern sie verhindert, dass eine halb fertige weil unausgereifte Kritik mehr Schaden als Nutzen bringt. Nur in vorsichtiger und vorläufiger Aussprache soll sich der Drang nach Klarheit entladen.

Wir haben bereits in einem früheren Artikel über das min ym "jll Dj;-Problem auf die Gefahren aufmerksam gemacht, die

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aus einer willkiirlicli niiwisscnscliaftliclK^n Auffassung, der von den Weisen cmpfdlilenen Vereinigung von Tliora und Derech Erez für (las jüdische Bewusstsein und die jüdisclie Lebenspraxis entstehen können, wie vor allem d i e Verirrung abzuweisen ist, die der Thora seihst die Anerkennung der Gleiehbereciitigung von jenseits der Thorasphäre heimischen Anschauungen, Denkweisen, Gefühlsarten, wissenschaftlichen Methoden, künstlerischen Bestrebungen, kurz: alles dessen suggeriert, was man im allgemeinen unter moderner Kultur versteht. Wir glaubten die Autonomie der Thora im Ge- gensatz zu der abhängigen Stellung von allem was Nicht-Thora ist, in die sie bei missverständlicher Auffassung des jüdischen Bildungs- probleras nur allzuleicht gerät, umso schärfer hervorheben zu sollen, je tiefer wir überzeugt sind, dass auch S. R. Hirsch, dem das offene und latente Reformgelüst liberaler und auch nicht liberaler Kreise als den Begründer einer neuorthodoxen Bildungsdevise zu feiern beliebt, bei aller Entschiedenheit, mit welcher er die pro- fanen Lehrdisziplinen dem Programm seiner P'rankfurter Schule einreihte, keineswegs einer Anschauung huldigte, die auf eine He- teronomie der Thora hinausläuft. Was wir dort kurz skizziert haben, wollen wir heute ausführlicher darlegen.

Theoretisch kann und darf vom Standpunkte des überlieferten Judentums aus von einem jüdischen Bildungsproblem überhaupt nicht gesprochen werden. Wie jüdische Kinder zu erziehen sind, darüber giebt es im Schulchan Aruch genau so bindende Vorschrif- ten, wie über sonstige Fragen, die sich auf die Ordnung und Ge- staltung des Lebens beziehen. Es müsste auch seltsam zugehen, wenn ein so weitschichtiges Kompendium von Lebensmaximen, wie es der Schulchan Aruch ist, in welchem Grösstes und Kleinstes auf der Wage des Heiligtums gewogen und mit dem Stempel des Heiligtums versehen wird, uns just über die Bildungsfrage im Dunkel oder auch nur im Halbdunkel Hesse. Tatsächlich anerkennt das Religionsgesetz neben der Thora keine andere wissenschaft- liche Disziplin als fähig und würdig zur Autnahme in eine jüdi- sche Kindesseele. Was immer wir an pädagogischen Erkennt- nissen und wissenschaftlichen Entdeckungen von jenseits der Thora- sphäre als zur Assimilation mit unserem Thorawissen geeignet in unsern jüdischen Lehrplan hinüberführen möchten, so müssen wir uns doch stets die grundlegende Wahrheit vor Augen halten: die

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Thora ist kein Fach neben anderen Fächern, keine wissenschaft- liche Disziplin neben anderen Disziplinen, ja ihrem Anspruch auf Alleinherrschaft genügen wir nicht einmal dann, wenn wir ihr die Stellung eines primus inter pares im Lehrplane zuerkennen, wir haben vielmehr ihrer absoluten Einzigkeit erst dann entsprochen, wenn wir sie als Ausgangs- und Schlusspunkt alles Wissens, als Inbegriff aller wahren Bildung und Zivilisation, als Beherrscherin „unseres Lebens und der Länge unserer Tage" begreifen.

Ein theoretisches Thora - Derech Erez-Problem giebt es nicht. Nur als eine Frage der Praxis ist dieses Problem im Sinne des Religionsgesetzes denkbar. Wir wollen uns nun in die zwei Denkweisen, die hier in der Hauptsache möglich sind, ver- tiefen.

S. R. Hirsch V'iiT war tief überzeugt, dass die sogenannte Cheder-Lehr- und Lern-Methode für die Gegenwart nicht passe, dass der jüdische Unterricht neben Bibel- und Talmudstudium auch die profanen Lehrfächer umfassen müsse. Schon im Horeb hat er einen entsprechenden Lehrplan aufgestellt, de.^sen Grundidee in seiner Frankfurter Realschule lebendig wurde. Diese Reform des jüdischen Lehrplans hat er keineswegs als Reform empfunden. Ihm standen die Glanzperioden der jüdischen Geschichte vor Augen, als umfassendste Thorakenntnis mit universeller moderner Bildung sich paarte, während später unter dem Druck des Golus die gewaltsame Zurückdrängung der Juden in die Enge eines kahlen, wirtschaftlich so unendlich schwer bedrängten Daseins ihnen die Neigung zur Kenntnis und zum Verständnis der Strömungen und Ziele der grossen Welt vergällte. Die Wiederkehr solcher Glanzperioden hielt er tür möglieh, ja im Interesse einer gründlichen Thoraerforschung sogar für notwendig. Hier ist der Punkt, wo die Denkweise Kirschs zu einem Höhenflug von erstaunlicher Kühnheit ausholt: Nicht nur erlaubt isfs, moderne und alte Sprachen, Geschichte und Geographie, Mathematik, Physik und Chemie usw. zu studieren, es ist im Interesse einer wahrhaft lebendigen Thorakenntnis sogar geboten. Nur Jemand, der auf der Höhe seiner Zeit steht, der ihre Kultur nicht blos äusserlich sondern als eine Bereicherung seiner Seele in sich aufgenommen hat, wird die überragende Ho- heit der Thora und die ganze Fülle ihres göttlichen Reichtums erst richtig intensiv zu erleben vermögen. Nur wer Himmel und

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Erde kennt, wird verstehen, was das lit-isst, im Anfang sei es Gott gewesen, der Himmel und Erde erschuf. Nur wer die Geni- alität des Meuschengeistes in seinem unermüdlichen Vorwärtsdringen bis zu den tiefsten Geheimnissen des Lehens nicht blos als Phrase im Munde führt, sondern im Studium der Versuche dieser Gelieim- nisenthüUungen wissenschaftlich erlebt, wird verstehen, was es heisst. erst durch P^inhauchen seines eigenen, ewigen Lehensodems habe Gott den Menschen zum Leben erweckt. Es gicbt keine doppelte Wahrheit im Bereiche des Geisteslebens. Was gut und wertvoll ist in den P^rkenntnissen aller modernen Wissenschaft, das kann unmöglich der Thora zuwiderlaufen, w^eil sie ja der Inbegriff alles Guten und Wertvollen ist. Darum nur mutig hineingetaucht in die Fluten des modernen Denkens, die Gewalt ihres Ansturms schwemmt keinen in den Tod, der sich der Führung der Thora anvertraut, sie hilft ihm über jeden Ansturm hinweg, indem sie ihn zum sicheren F^ort eines einheitlichen Denkens von ungestörter Harmonie geleitet. Xur an einen bedingten Sieg der Thora glau- ben heisst ihre Ewigkeit und göttliche Abkunft bezweifeln.

So dachte. Hirsch. So fest war er von der unbedingten Wahr= heit und alle Zeiten und Meinungen überdauernden Lebenskraft der Tliora überzeugt, dass er kein Bedenken trug, eine au sich un- anfechtbare Theorie in die Praxis der Jugenderziehung zu über- tragen. Eine theoretische Wahrheit war für ihn auch immer eine praktische Wahrheit. Im Schulwesen und im Gemeindewesen. In der Jugenderziehung und in der Gemeindepolitik.

Es giebt aber auch Meinungen, die anders denken, und es giebt auch Stimmen, die anders reden, die, von der Regel geleitet p plO l'NI rubn „es ist wohl manches wahr, doch man entschei- det nicht so" auf dem Gebiete der jüdischen Jugenderziehung zwischen Theorie und Praxis einen breiten, gefährlichen, nur schwer überspringbaren Graben gewahren. Sie sagen sich: je weniger ilie Thora sich vor der modernen Kultur zu fürchten hat. desto mehr haben wir uns vor ihr zu fürchten. Sie schauen mit Grauen auf die zerrissenen Seelen, die zu keinem Ausgleich zwi- schen Thora und Derech Erez zu kommen vermögen. Sie bewun- dern die Schar der Harmonischen, in deren Seelen Thora und Derech Erez einander glücklich befruchten, und »sie bedauern die Legion der Entwurzelten, die hinüber und herü1)er schwanken, ohne

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je 7A\r Festigkeit und Einheitlichkeit im Denken und Fühlen zu kommen. Und sie zählen die Schar der Einen und die Legion der Andern, und das Ergebnis ihrer Zählung erfüllt sie mit Schau- dern und Gram. Wer möchte es ihnen verdenken, wenn sie den Optimismus Hirschs wohl immer bewundern, doch niemals teilen

werden?

So seltsam es klingt, so dürfte es doch der Wahrheit nahe kommen, wenn wir behaupten, dass es zu den ungewollten Ver- diensten des Zionismus gehört, in weiten Kreisen der westlichen Orthodoxie das Verständnis für die zumal im Osten heimische ..Bildungsfeindlichkeit" geweckt zu haben. Es gab einmal eine Zeit, wo man in den Kreisen der westlichen Orthodoxie mit hoch- mütigem Dünkel auf den Standpunkt des bildungsfeindlichen Cha- ssidismus herunterschaute, weil man jedes Verständnisses für die Sehnsucht, nur aus altjüdischem iCultiirboden jüdische Persönlich- keiten zu gewinnen, bar war. Man wollte es nicht wahr haben, dass es denn doch einem Zweifel an dem Reichtum der Thora an Bildungselementen gleichkommt, wenn ihr als Vorbedingung ihrer Lebensföhigkeit zugemutet würde, ihr Blut mit dem Blute fremder Kulturen zu vermengen. Seitdem der Zionismus auftrat und eine Autonomie des Judentums propagirte, die wohl mit allem, was in Wahrheit Judentum ist, so schroff kontrastirte, dass sofort aus allen Lagern, die das Judentum als Konfession begreifen, lebhafte Pro- teste erschollen, aber doch, was Loslösung des Judentums aus der Tyrannis fremder Kulturen anbelangt, eine selbst über den Stand- punkt des Chassidismus weit hinausgehende Meinung vertrat, konnte es nicht ausbleiben, dass auch in den Kreisen der westlichen Or- thodoxie das Gefühl für die assimilatorischen Elemente, die in der Forderung eines frohgemuten Anschlusses an die Welt des Derech Erez stecken, sich verfeinerte. Hierin liegt eines der inneren Motive jenes erst in unserer Zeit erwachten Verständnisses tür den Os^en und des Wunsches einer Vereinigung von West und Ost, wie er in der Agudas Jisroel sich zu erfüllen strebte.

iMit der Konstatierung der Tatsache, dass unserem Verständnis die prinzipielle Ablehnung alles Fremden aus dem Allerheiligsten der Thoraerziehung viel näher gerückt ist als in jenen Tagen, da das Gefühl emanzipierter Jude zu sein, auch in orthodoxen Kreisen jede chassidische Emotion verdrängte, wollen wir selbstredend keiu

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enügültiges Votum über die Art und Weise, wie nun tatsächlich bei uns das Thora- Derech Erez-Problem in Zuknnf't gelöst werden müsste, abgeben. Wir sind uns der überragenden Weisheit, des ungewöhnlichen Tiefblicks, der unvergleichlichen Intuitionskraft kurz, all der seltenen Eigenschaften, die S. R. Hirsch b")i] zierten, nur zu klar bewusst, um die Zeit für gekommen zu erachten, die mit unbändigem Neuerungsdrang und Pfadtindersinn über die Methode, wie er jenes Problem löste, zur Tagesordnung' übergehen dürfte. Wir fühlen es tief, ein Mann von der Q''D'<V DNl'' und D'iQDn n;iON eines S. R. Hirsch wusste, was er sprach und tat, wenn er eine innige Vermählung von altjüdischer und neuzeitlicher Geistes- und Herzensbildung für eine der dringendsten Forderungen des Tages erklärte und praktisch zu propagieren strebte. Der logischen Klarstellung seines Standpunktes, die wir vorhin in Kürze versuchten, wollen wir nun die psychologische anreihen.

Moderne Bildung strömt aus verschiedenen Quellen: 1) aus der Schule, 2) aus geschriebenem oder gedrucktem Lesestoff, wie Bücher, Zeitungen usw., 3) aus den Stätten der Kunst und des Vergnügens, 4) aus den Trägern und Centren des Erwerbslebens, der sozialen und wirtschaftlichen Sphäre, den Geschäftshäusern, Fabriken, Eisenbahnen usw. Es ist nämlich ein grosser Irrtum, wenn man vielfach glaul)t, die Quellen der modernen Bildung ver- stopft zu haben, wenn man die Kinder in der Schule nach chassi- dischem Lehrplan (contradictio in adjecto ?) erziehen und unter- richten lässt. Bildung ist die geistige Atmosphäre, in der wir atmen. Von der Luft kann man nicht abgeschlossen werden und zugleich am Leben bleiben. Die gesamte Atmosphäre kann auch niemals luftleer gemacht werden. Verstopft man die eine Bildungs- quelle, so überfluten uns die anderen Quellen nur mit umso ge- waltigerem, nicht einzudämmenden Strom. Geht es aber nicht an, ja ist es vollkommen ausgeschlossen, sich sein ganzes Leben hin- durch von jeder Bildungszufuhr abzuschneiden, strömt die Bildung, ob wir wollen oder nicht, durch tausend und a])ertau8end Kanäle und Kanälchen über und in uns hinein, ist zumal das Erwerbsleben mit seinen auf die Entwicklung des technischen, wirtschaftlichen und industriellen Erfindersinnes eingestellten Gesetzen ein gewal- tiger Pionier der modernen Kultur, der auch diejenigen, die sich von allen sonstigen Bildungsquellen mit konseciuenter Energie fern-

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und freizuhalten wüssten, ohne viel Federlesens zu machen, mitten in das Getriebe dieser Kultur hineindrängt und hineinzwängt, sofern sie nur von der Anteilnahme am Erwerbsleben sich nicht auszu- schliessen vermöchten kurz: wenn die Luft, die wir atmen, von den Keimen des Modernismus niiht desinfiziert werden kann, dann bleibt eben nicht anders übrig, als sich und seine Kinder gegen die schädlichen Wirkungen dieser Keime dadurch immun zu machen, dass man die moderne Kultur, zurechtgemacht für die Zwecke des jüdischen Erziehungsplanes, aus einem Feinde der Thora in einen Herold der Thora verwandelt.

Zurechtgemacht für die Zwecke des jüdischen Erziehungs- planes. Hirsch hat nie geglaubt und nie verkündet, dass z. B. Schiller, dessen Andenken er in seiner berühmten Rede am Schiller- tage 1859 feierte, in den jüdischen Erziehungsplan ohne weiteres sich einfügen lasse. Er war sich des Umstandes durchaus bewusst. dass kein zünftiger Literarhistoriker es zu billigen vermöchte, wenn die köstlichsten Elemente des Schillerschen Idealismus kurzerhand der Schiller unbewussten Aussaat des jüdischen Geistes zuge- schoben werden. Warum sollten wir aber nicht auch als Juden unsere eigenen Gedanken über Schiller haben dürfen ? Warum sollten wir Schiller nicht für unsere Zwecke zurechtmachen und ihn unseren Anschauungen dienstbar machen dürfen ? Darf uns nur das, was die Thora billigt und anempfiehlt, als rein und wahr, als gut und schön gelten, ja. warum sollten und müssten wir nicht geradezu überzeugt sein, dass alles, was uns an Schiller als rein und wahr, als gut und schön erscheint, ein Erzeugnis jener grossen Aussaat ist, mit welcher das Judentum die Weltkultur seit je befruchtet hat? Dass ein deutscher Dichter auch ein jüdisches Herz zu einer echten Begeisterung entflammen kann, das ist ja keine Frage, über die man streiten kann, sondern eine Tatsache, die man anerkennen muss. Wir wissen nicht, wer zur Zeit der Liebliugsdichter der Pressburger Jeschiba ist. Früher war es Schiller. Das ist eine Tatsache, deren psychologische Bedeutung auch dann nicht entkräftet würde, wenn der statistische Nachweis gelänge, dass es durchaus nicht immer die im Talmud versirtesten Bachurim sind, die sich neben dem Noda Bijehuda auch an den Strophen des Don Karlos ergötzen.

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Was von der deutschen Dichtung gilt, das gilt ebenso von den andern Gebieten der deutschen Kunst und ebenso auch von den Trägern und Zentren des Erwerbslebens, der sozialen und wirtschaftlichen Sphäre, den Geschäftshäusern, Fabriken, Eisen= bahnen usw.

Zur Kunst gehört auch die Musik. Es wäre lächerlich, über die Zulässigkeit der Begeisterung für eine schöne Melodie im Öchulchan Aruch nachschlagen zu wollen. Der ästhetische Sinn ist dem Menschen ebenso angeboren wie der Geruchs- und Ge- schmacksinn und wie die anderen Sinne. Ihn ertöten zu wollen ginge wider die Natur. Im Reiche der Thora war Musik und Gesang von altersher zuhaus. In der Musik steckt aber ein ge- walliges Bildungsferment. Und dieser Bildungscjuelle kann Nie- mand aus dem Wege gehen. Auch das ist eine Tatsache, über die sich nicht streiten lässt, die man schlankweg anerkennen muss. In allen Synagogen wird die Kunst des Gesangs mehr oder min- der vollkommen geübt. Im Westen wie im Osten. Diese syna- gogalen Sangweisen konnten sich aber seit je von den Elementen der ausserjüdischen Singkunst viel schwerer freihalten als etwa das jüdische Denken von der Beeinflussung durch die ausserjüdi- sche Philosphie. Gar Mancher, der von Kant und Göthe nichts weiss, beherbergt im Gemüt Melodien, die aus der nichtjüdischen Welt via Sulzer oder Lewandowski an sein Ohr gedrungen sind und die bei aller Modelung und Formung für das synagogale Milieu ihre Abstammung aus nichtjüdischer Künstlerphantasie nicht ver- leugnen können. So kann man der Kunst viel schwerer aus dem Wege gehen als der Wissenschaft. Die letztere wartet bis wir zu ihr kommen, die erstere wartet nicht, sie verfolgt uns, und wenn auch nur, etwa auf das Niveau eines Gassenhauers herabgesunken, in primitivster Form, auf Schritt und Tritt.

Wir werden ferner auch durch das Medium des Erwerbsle- bens mit der modernen Kultur in Kontakt gesetzt. Gelänge es selbst, der Wissenschaft und Kunst mit Erfolg auf die Dauer aus- zuweichen, den Einflüssen des Erwerbslebens ist Jedermann aus- gesetzt, seitdem Gott die „Bezwingung der Erde" dem Menschen als eine grundlegende Aufgabe zuwies. Aus den Geschäftshäusern, Fabriken, Eisenbahnen usw. ergiesst sich über Jeden, der ihnen Pfihesteht oder auch nur gelegentlich mit ihnen in Beziehung tritt,

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ein BilduDgrsstroni, der viel gefährlicher"^ ist, als theoretische Ge- danken, die etwa in modernen Schulen oder Büchern zu gewinnen sind. Das Aufkommen der Eisenbahnen hat auf die Zeitgenossen der Postkutsche wie unheimlicher Teufelsspuck gewirkt. Nicht als ob Jemand, der die Eisenbahn benutzt, dadurch irgendwie in seiner religiösen Treue erschüttert werden müsste. Gleichwohl hat die Eisenbahn auf alle, die ihre Entstehung und erste Entwicklung miterlebten, mit der unwiderstehlichen Gewalt eines Symbole der selbstherrlichen Menschenintelligenz gewirkt. Das wichtigste und gefährlichste Angebinde, das die moderne Kultur ihren Adepten verleiht, ist aber nichts anderes als der Stolz über die unabseh- baren Möglichkeiten der Entfaltung des Menschengeistes, und da sind es eben gerade die nach aussen so ungemein imposant wir- kenden technischen Errungenschaften, die als die wirksamsten Pio- niere des Modernismus einen zwar latenten doch umso gefährlicheren Kampf gegen alles durch Tradition Geheiligte führen. Sehr deut- lich zittert in den Schriften Hirschs, zumal dort, wo sich, wie im Jescliurun, sein Emptindungsleben ungehemmt enthüllte, die Er- regung eines Zeitalters nach, auf dessen Kinder „Dampf und Elektrizität" wie eine Offenbarung wirkten.

Da Kultur unter allen Umständen etwas Unausweichliches ist, da Hirsch selber sie als übermächtigen ij^eltgeist empfand und da er den höchsten Stolz des Judentums in dessen Sieg über jenen Weltgeist erkannte, niusste er die innige Vermählung von Thora und Derech Erez als den wichtigsten Punkt des jüdischen Er- ziehungsprogramms der Gegenwart erklären. Es wird aber, wie gesagt, auf beachtlicher Seite aus Gründen der praktischen Durch- führbarkeit auch anders gedacht.

Einen dieser praktischen Gründe haben wir beieits oben er- wähnt. Wir sprachen von den Ungezählten, welchen die Ver- einigung von Thora und Derech Erez zu einem seelischen Ver- hängnis wurde und wird. Es ist sehr schade, dass es keine Statistik des religiösen Lebens giebt. Sie könnte uns über die Durchführbarkeit des Thora- Derech Erez- Programms wertvolles l)erichten. Von ihr könnten wir erfahren, wie viel jüdische Seelen es giebt, die mit gleicher Wärme und innerer Teilnahme einem Beth-Hamidrasch-Schiur und einer akademischen Vorlesung folgen und wie gross die Zahl der Opfer ist, die an den Klippen des

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Derecli Erez gesclicitert sind. Sic könnte uns aber auch erzählen

niul damit kommen wir aut den zweiten jener praktischen

Gründe zu sprechen wie e:ros8 die Einbusse an äusserem Um- fang und innerer Kraft ist. welche die mit Derech Erez gepaarte Thora aucli im Wissen und Leben ilirer Getreuen erleidet, welche Seite bei dieser Paarung im Vorteil und welche im Nachteil ist, ob Hirschs Erziehungsprogramm die faktischen Möglichkeiten der Erziehungstechnik ausreichend bedenkt oder ob es auf einem simplen Rechenfehler beruht. Eines steht fest, eine völlige, rest- lose Hingabe an das Studium dei Thora war bisher nur verein- zelten Grössen möglicu, nachdem sie mit der nichtjüdischen Kultur in ein mehr als oberflächliches Verhältnis getreten waren, von der jüdischen Masse gar nicht zu reden. Wir denken hierbei nicht einmal zuvörderst an den Zeitverlust, den das profane Studium kostet. Bedenklicher als die Kürzung des jüdischen Stundenplanes ist der Riss, den die einheitliche Stimmung erleidet, wenn sie in den verschiedenen Kultursphären, die das Thora-Derech Erez-Pro- gramm umspannen möchte, gleichzeitig heimisch werden will. Es ist gar nicht so einfach, von 8 9 in Goethes Tasso und von 9—10 in die Vorschriften über das Fleischsalzen sich zu vertiefen. Hierzu bedarf es einer elastischen Seele, die sich weder über die engen Grenzen des einen noch über die weiten Perspektiven des anderen Lehrgebietes täuschen lässt, die weder über das Grosse des Tasso sein Kleines noch über das Kleine jener Vorschriften ihr Grosses übersieht Es ist durchaus nicht so leicht, zwischen Thora und Üerech Erez eine durchgängige Harmonie herzustellen und sich weder von der Thora die Stimmung für den Derech Erez noch vom Üerech Erez die Stimmung für die Thora verderben zu lassen. Neben seelischem Schwung gehört auch ein starker, von innigem Glauben erfüllter, die Göttlichkeit der Thora aber auch die Gött- lichkeit des schöpferischen Menschengeistes energisch bejahender Wille dazu. Jedoch nur Wenige haben die Kraft, die Höhe dieses Gipfels zu erklimmen.

Trotz der Schwere dieser Bedenken müssen wir uns davor hüten nicht oft und energisch genug kann es betont werden , die universale Anschauung Hirschs als eine durch die Wucht der Tatsachen widerlegte und darum unfruchtbare Theorie hinstellen. Eine iu sich wahre Theorie kann niemals durch praktische Gründe

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erschüttert werden. Letztere köonen ein Anlass sein, jene Theorie auf sich beruhen und unverwirklicht zu lassen, sie können aber niemals stark genug sein, jene Theorie als innerlich unhaltbar zu beseitigen. Das Problem ist so schwierig, dass es kein Zeugnis unserer inneren Kraft darstellt, wenn nicht einmal der Krieg uns bisher zu einem gründlichen Durchdenken dieses Problems anzure- gen vermocht hat. üeber die soziale Hilfsarbeit, die jeder von uns jetzt und später leisten muss, sollten wir unsere geistigen Aufgaben, sollten wir vor allem die jüdischen Erziehungsfragen nicht vergessen. In ausserjüdischen Kreisen ist man uns darin voian. So hat, um nur ein Beispiel herauszugreifen, erst in diesen Tagen Gottfried Traub in Xo. 8 der ., Hilfe" auch für uns be- achtenswerte Leitsätze über die Zukunftsentwicklung des deutschen Protestantismus veröffentlicht. Wir lesen da u. a.: .Der kirchliche Protestantismus hat aus diesem Kriege zu lernen : l. Die lebendige Frömmigkeit ist die Quelle der religiösen Kraft. 2. Die ^Preiigt*^ in ihrer ungeheuren Bedeutung für Willensbildung und Gedankcn- beeiuflussung bedarf der vertieftesten Allgemeinbildung des Pfarrers besonders durch Hibeiforschung. Geschichtskenutnis und Philosophie. 3. Die unersetzliche Kraft der „Seelsorge'' in rein menschlicher, nicht in amtlicher Gestalt, erfordert die volle Hingabe des Pfarrers, die nicht durch Vereinsbeschäftigung z'^rsplittert, sondern durch psychologische, soziale und sexuelle Kenntnisse gefördert werden soll." Was können wir aus diesen drei Leitsätzen in den Bereich unserer religiösen Anschauungen hinübemehmen ? Den ersten Satz können wir ohne weiteres unterschreiben. Auch für uns ist die lebendige Frömmigkeit die Quelle der religiösen Kraft. Ja. wir können uns. in dieser Hinsicht noch weit über die christliche Anschauung hinausgehend, überhaupt keine richtige Religion vor- stellen, die nicht als erste und oberste Forderung das Leben in der Religion und aus der Religion hinstellte. Eine blos gedachte, erklügelte und erfühlte Religion, die nicht zugleich erlebt und ge- lebt wird, möchte uns beinahe als eine schlechte und überflüssige Philosophie erseheinen. Was ist aber von den beiden anderen Sätzen zu halten ? Gilt das, was hier vom Pfarrer gesagt wird, auch analog für den Rabbiner?

Wir glauben nicht vom Thema abzuschweifen, wenn wir hier einige Worte über den Beruf und die Aufgaben des Rabbiners

anfügen. Das Problem der jüdischen Erziehun^sfragen ist zugleich das Problem des Rabbiners. Denn wer die bisherigen Lösungen der jüdischen F^rziehungsfragen als unznlänglich erkennt, der kann auch mit den Auffassungen vom Rabbinerberuf, wie sie vielfach o-ang und gäbe sind, nicht zufrieden sein. Das eine hängt mit dem andern zusammen. Rücken wir nur dem Begriff der Predigt etwas näher. Da ist Wesentliches von Unwesentlichem, Ueberliefertes von Hinzugekommejiem, Echtes und Wahres von Falschem und Gleissnerischem zu unterscheiden. Es ist auch vor allem eine Geschmacksfrage. Willensbildung und Gedankenbeeinflussung sind eine Umschreibung für das hebräische Wort nriDin, daher Niemand, dem der Ernst der religiösen Pflicht der „Zurechtweisung" bekannt ist, die „ungeheure Bedeutung'' der Predigt unterschätzen wird, wenn ihre Kraft ausreicht, um den Willen der Zuhörer zu bilden und ihre Gedanken zu beeinflussen. Nun ist aber die Frage, wie nun wirklich gepredigt werden soll, um dieses Ziel zu erreichen, nichts anderes als ein Ausschnitt aus den jüdischen Erziehungs- fragen, über die es, wie wir gesehen haben, selbst in den Kreisen der Orthodoxie keine einhellige Meinung giebt. Denn war und ist es auch nicht fraglich, dass der Rabbiner, der den Willen und die Gedanken seiner Gemeindemitglieder wirksam bilden und beein- flussen soll, ein Mann von „vertieftester Allgemeinbildung" sein niuss, so dürfte doch über das Wesen dieser vertieftesten Allge- meinbildung bei dem Mangel an Einmütigkeit in der Beurteilung und Lösung jüdischer Erziehungsfragen ein unanfechtbares, weil alle befriedigendes Votum nicht zu formulieren sein. Eher dürfte die Forderung, dass die volle Hingabe des Rabbiners an seinen Beruf nicht durch Vereinstätigkeit zersplittert werde, auf allge- meines Verständnis rechnen dürfen. In dieser Hinsicht gewahren wir das Problem des Rabbiners zur allgemeinen Bedeutung einer Zeitfrage sich entfalten. Schon vor dem Kriege hat der heutige Mensch in seiner Betätigung als Zoon politikon das wertvollste Element seines persönlichen Lebens- und Glücksgefühls erkannt. Wir lebten schon vor dem Kriege in einem Zeitalter der Vereine. Das hängt mit der ungeheuren Grösse zusammen, zu der in unse- rem Bewusstsein alles Staatliche, Nationale, Genossenschaftliche, Soziale erwuchs. Wir werden nach dem Kriege, v ^rausgesetzt, dass die europäische Menschheit niclit zu Tode ermattet ist und ande-

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ren Erdteilen die politische Hegemonie übergeben muss, vielleicht noch einen grösseren Aufschwung des politischen Interesses und im Zusammenhang damit des Vereinslebens gewahren, denn was Politik bedeutet, das haben Hunderttausende, die vordem nur ein schmales Individualleben gelebt haben, erst während des Krieges und durch den Krieg erfahren. Diese Entwicklung dürfte aber dann auch insofern auf unser Verhalten zu den jüdischen Erzieh- ungsfragen einwirken, als noch energischer, als dieses bisher schon geschah, unsere Jugend sich herandrängen wird, um das Schicksal des Judentums mitbestimmen zu helfen. Aus der jüdischen Er- ziehung wird die patria'-chalische Stimmung, die ihr vordem das Gepräge gab. umso rascher verschwinden, je mehr sich unsere Jugend als politisches Lebewesen- empfinden wird, berufen, an vor- derster Stelle zu stehen, wann immer Thron und Altar des Schutzes und der Mehrung ihrer Macht bedürfen. Noch mehr wird dann aber auch der Rabbiner Politiker sein wollen und vielleicht auch müssen, als er es bisher schon war. Diese Zersplitterung des Rabbinerberufs durch Vereinstätigkeit ist aber ungefähr das Bedenk- lichste und Gefährlichste, was dem Rabbiner und mittelbar den von ihm vertretenen Interessen erwachsen kann. Wieviel Rabbiner giebt es denn schon jetzt, die den grössten Teil ihrer Kraft der Hauptaufgabe des Rabbiners „zu lerne» und zu lehren" widmen können und wollen? Vielleicht die Meisten in Deutschland beschäf- tigen sich während des grössten Teiles ihrer Zeit mit Dingen, die im besten Falle an der Peripherie, keinesfalls aber im Zentrum ihrer Aufgabe liegen. Darunter muss ihre theoretische Vervoll- kommnung leiden. Der heutige Rabbiner fühlt sich mehr als ein Mann der religiösen Praxis als der religiösen Theorie. Rabbiner, die jede Stunde beklagen, die sie dem „Lernen" entziehen müssen, gelten als Einsiedler, um nicht zu sagen Faulenzer, dagegen solche, die eine ausgedehnte Vereinstätigkeit entfalten, als Männer der Tat. Wie viel Hohles, Konventionelles, wie viel Zeitverschwendung und Kraftvergeudung wird aber durch Vereinstätigkeit in den Glorien- schein der lebendigen, fruchtbaren Tat gehoben ! Das parlamen- tarische Getriebe in den Vereinen, dieses ewige Reden und Ge- genreden, dieses Protokollieren und Abstimmen und zum Schluss eine glücklich durchgedrückte Resolution, die in gar vielen Fällen blos den Schein einer Tat vortäuscht und von der Tat selbst

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oft nicht weniger weit entfernt ist, als glattes Nichtstun ; dieses ewige Bereden von Dingen. ül>er die nur Vereinzelte eine achtungs- werte Meinung zu sagen vermöchten und die Vorherrscliaft der Phrase, die es einem geläufigen Mundwerk ermöglicht, sich selbst auf Kosten der Wahrheit durchzusetzen ; das Überwiegen des Ta- lentes der Schlagfertigkeit vor der schwerfälligen aber ernsten und gründlichen Sachlichkeit kurz: die innere Verlogenheit, an der so manches Vereinsleben krankt, sollte doch, meinen wir, manchen Rabbiner davor bewahren, sieh um des (jffentlichen Beifalls willen die Hauptaufgaben seines Berufes durch Rücksichten der Konven- tion beeinträchtigen zu lassen. Er hat anderes und besseres zu tun. Eine zersplitterte Tätigkeit und. was damit Hand in Hand geht, eine zerrissene Seele, geteilte Interessen, die vielseitig scheinen, in Wirklichkeit aber nur die Unfähigkeit verraten, sich ganz und restlos einer grossen Sache hinzugeben : auch darin lag ein wesentliches Stimmungsmerkmal der verflossenen Friedenszeit. Es gab damals auch in den Kreisen der von äusserem und inne- rem Glück Begünstigten nur sehr Wenige, die mit sich und ihrer Lebensleistung zufrieden waren. Es ist ein unleugbarer Kriegs- gewinn, dass wir heute für irdische Möglichkeiten, für den Anteil der Einzelnen am grossen Werke der Gesamtheit einen schärferen Blick haben. Wenn auch vielleicht nicht immer besser in unserer Lebensführung, so sind wir doch zweifellos reifer und sachlicher in unserem Urteil über irdische Dinge geworden. Ein kritischer Zug, ein Hang zum Nachdenken ist zur Zeit auch in solchen Seelen erwacht, die vordem das Leben als Schaugepränge, als Parade und Maskerade empfanden. Als dergleichen erscheint uns das Lel)en sicherlich nicht mehr. Diese ernste Falte, die seit Kriegsbeginn auf der Stirne der europäischen Menschheit erschien, möge sie in der kommenden Friedenszeit nicht wieder verschwinden.

R. B.

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Das Ostjuden-Problem.

Von Bezirksrabbiner Dr. Hermann Klein in Eisenstadt (Ungarn).

[Vorbemerkung der Redaktion :

Nicht mit allem, was dieser Aufsatz enthält, sind wir ein- verstanden. So will uns der Optimismus des Verfassers über die Ungefährlichkeit der westeuropäischen Kultur nach dem Kriege recht seltsam anmuten, denn es erscheint uns sehr fraglich, ob diese Kultur ihre taszinierende Macht über die Gemüter deshalb eingebüsst haben sollte, weil sie den Ausbruch und die sittlich bedenklichen Methoden des Weltkrieges nicht zu hindern ver- mochte, und ob eine Welt, die ihre Schäden durchschaut hat, des- lialb gleich unter die Herrschaft des religiösen Gedankens kommen müsste. Und selbst wenn letzteres geschehen sollte, so ist noch keineswegs sicher, ob die hervorbrechende religiöse Welle die Treue der Juden zum jüdischen Religionsgesetz wecken oder befestigen wird. Die Geschichte der Judentumsreform in Deutschland lehrt im Gegenteil, dass gerade zur Zeit, als es nach den Befreiungs- kriegen im reaktionären Deutschland jjiodern wurde, religiös zu sein, die religiöse Stimmung jener Tage von den jüdischen Refor- matoren zur Begründung eines neuen Judentums verwertet wurde, nachdem zur Zeit der Hochflut des freiheitlichen Gedankens der Abfall von der Thora in Taufe oder Nihilismus eingemündet war. Gleichwohl geben wir die Ausführungen unseres geschätzten Mit- arbeiters gerne Raum, weil uns sein Artikel für den Standpunkt der ungarischen Orthodoxie gegenüber dem Ostjudenproblem cha- rakteristisch erscheint.]

Mit inniger Freude und Genugtuung las ich den Aufsatz ni^Di ^2n in diesen Blättern, der in würdiger und sachkundiger Weise auf einige Seiten dieses Problems hinwies. Es ist schon an sich ein Verdienst, wenn man in dieser Zeit Sinn und Lust hat, sich mit Problemen abzugeben, die den Rahmen enger Augen- blicksbedürtnisse überschreiten. Wir erleben nämlicli ein ganz selt- sames Schauspiel. Während der Krieg uns mit ehernen Zungen,

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mit Kanonendonner und Mörsergebrüll die Xichtigkeit des Indivi- duums predigt, während wir täglich nnd stündlieh erfahren, dass der einzelne Mensch und sein Schicksal von geringfügigster Be- deutuug ist, küniniern sich die ein/einen Menschen doch um kaum etwas anderes als ihr eigenes Geschick. Alle Fragen, die die Allgemeinheit angehen, stagniren, das alliiemeine jüdische Leben hat zu ])ulsiren aufgehört, aber nicht etwa aus dem Gruude, weil wichtigere Fragen dominiren und das ganze Interesse absorbiren, sondern weil, wie man bei uns hier mit einer gewissen Naivetät zu sagen pflegt, „ein jeder mit sich genug zu tun hat''. Und doch sollte diese eiserne Zeit wenigstens das eine zur Folge haben, dass der kleinliche Egoismus schwinde, dass die Menschen endlich lernen, dass es in Wahrheit keine höhere Tugend giebt, als „an sich selbst als Person zu vergessen, und kein grösseres Verbrechen, als sich selbst als den Angelpunkt der Welt zu begreifen". Hat ja den ganzen völkermordenden Krieg nichts anderes verschuldet als der Utilitarismus und dessen Töehterreligionen, wie Egois- mus etc. Und wenn es sich gar um Fragen handelt, die Fragen der Allgemeinheit sind, da sollte man sich wirklich hüten, an sie mit kleinlichen egoistischen Gedanken heranzutreten. Solche Fra- gen dürften nur nach höheren Gesichtspunkten und mit absoluter Uneigennützigkeit behandelt werden. Ich darf nie und nimmer den Notstand eines Armen ausnützen, um ihn zu etwas zu bewegen, was ihm widerstrebt und mir wenn auch nur ideellen Nutzen ab- wirft. Ein edler Mensch wird dem Armen nur um seiner selbst willen helfen. Mit tiefem Abscheu erfüllt uns das Treiben der Missionsgesellschaften, die sich die Centren des jüdischen Elends aussuchen, um dort schnöden Seelenfang zu treiben. Die Schänd- lichkeit dieses Treibens würde auch die Ehrlichkeit der Intention, die Ehrlichkeit der Ueberzeugung, dass den Armen und Elenden durch die Annahme der Taufe der Weg in den Himmel, der Pfad zur Seligkeit, die Pforte des Paradieses geöffnet wird, nicht mil- dern. Man darf den Notstand des Armen auch dazu nicht aus- nützen, um ihn wider seinen Willen selig werden zu lassen. Die Wohltat hört auf Wohltat zu sein, wenn sie an derartige Bedin- gungen geknüpft wird. Was Vielen von uns auch die Tätigkeit der Alliance so missliebig machte, war ja auch nur, weil die Alliance von den von ihr Unterstützten intellektuelle und Gewissens-

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opfer verlangte, weil auch sie Seelenfang trieb, weil sie die Ge- währung der Unterstützung an gewisse Bedingungen knüpfte, weil sie in den von ihr gegründeten und unterhaltenen Schulen ihre Lehrer anstellte, weil sie auf die religiöse Eigenart der von ihr Unterstützten keine Rücksicht nahm, weil sie die von ihr Unter- stützten einer ihnen wesensfremden Kultur [zuführen wollte, weil ich spreche dieses harte Wort nicht gerne aus, aber es ist meine ehrliche Ueberzengung zwischen ihr und den uns so tief verhassten Missionsgesellschaften nur Gradunterschiede, aber keine Art- und Wesen suntersehiede bestehen.

Ich schicke dies voraus, um zu sagen, dass ich nicht glauben kann, dass von orthodoxer Seite die Gewährung materieller Hülfe an das Ostjudentum jemals an Bedingungen geknüpft werden könnte, die von den Ostjuden als gegen ihre religiöse Ueberzeug- ung oder auch nur Emphndung angesehen würde. Die Orthodoxie wird niemals die beengte Situation ihrer Brüder im Osten aus- nützen, um ihnen Anschauungen aufzuzwingen, die ihnen wesens- fremd sind. Xach der materiellen Seite hin wird es gewiss die ganze westeuropäische Orthodoxie als ihre Ehrenpflicht begreifen, den Ostjuden mit allen Mitteln beizuspringen, damit sie nicht den jüdischen Seelenfängern in die Hände fallen, die schon ihre Netze ausspannen, um unter dem Scheine unergennütziger Freundschaft, unter dem Deckmantel inniger Bruderliebe nach der Art , .aller, die nach Eigennutz strel)en, die Seelen der sich ihnen Vermählen- den zu nehmen." Dio materielle Hülfe seitens der westeuropä- ischen Orthodoxie an den Osten muss und wird bedingungslos er- folgen. Das ist für uns kein Problem und kann auch gar nicht den Gegenstand ernsten Nachdenkens bilden. Worin denn besteht eigentlich das Problem? Das Problem für die ernsten jüdischen Kreise, denen das Erbe der Väter heilig ist, die in der Erhaltung der Thora Sinn und fZiel alles jüdischen Strebens erblicken, ist folgendes Unsere Brüder im Osten, die bis heute wahrschein- lich zu ihrem eigenen und zu unserem Glücke mit der westeuro- päischen Kultur wenig oder gar keine Berührung hatten, werden nun durch diesen gewaltigsten aller Kriege, der ja die Landkarte von Europa wesentlich verändern dürfte, mit dieser Kultur näher bekannt werden und da steht zu befürchten, dass, wenn diese Berührung nicht ein wenig vorbereitet wird, wenn bei diesem

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Zusainmeiitreffeii (iieser so ganz wesensverschiedenen Kulturen nicht auf'li einige wegekundige Führer, die bereits in sieh das Thora-Kulturproblem, um den Ausdruck des eingangs citierten Auf- satzes zu gebrauciicn. gelöst haben, zuge-jen sein werden, diese Begegnunji von unheilvollem Einfluss für die ganze spätere geistige, seelische und religiöse Entwicklung des Ostjndentums werden könnte. So oft noch im Laufe der wechselvollen jüdischen Geschichte das Judentum mit einer anderen Kultur unvermutet in Berührung kam. ging es nicht ohne gewaltige Erschütterungen ab. Das erstemal traf das Judentum als solches auf dem Wege seiner Entwicklung mit der ihm wesensfremden griechischen Kultur zusammen. Und das Fremde gefiel, weil es fremd war, weil es blinkte und glitzerte, weil es glänzte und blendete und Unzählige fielen ab und in diesem Zusarameutreft'en ist auch die erste Ursache des Zusammenbruches des jüdischen Staatswesens zu suchen. Erst in der Fremde verlor sich der Wahn, zum grossen Teil wohl darum, weil das herumir- rende, unstete jüdische Volk keine Kulturbestrebungen haben konnte, und weil sie ja von den Kultursegnungen ihrer Wirtsvölker ausge- schlossen waren. In Spanien trafen die Juden wieder mit tremder Kultur zusammen und auch da ging es nicht ohne Kämpfe und ohne beklagenswerte Verluste ab. Wir sehen in den grossen Wer- ken der grossen Denker der spanisch-jüdischen Periode, für die zünftigen Geschichtsschreiber die Glanzperiode jüdischer Philosophie und jüdischer Poesie, das Bestreben, das Thora-Kultur-Problem zu lösen. Theoretisch waren ja vielleicht diese auf uns gekommenen Lösungen für die damalige Zeit befriedigend, ob aber auch in der Praxis für die grossen Massen das Problem gelöst, glücklich gelöst wurde, ist doch sehr zu bezweifeln. Die letzte Begegnung, deren Fol- gen wir noch heute spüren, hat nach der und etwas vor der Emanzi- pation der Juden stattgefunden. Die Bewegung, die mit der fran- zösischen Revolution einsetzt und noch heute nicht zum Abschluss gekommen ist, zeigt uns wieder, wie gefährlich es ist, wenn das Judentum jäh, unvermittelt und ohne Uebergang mit fremden Kul- turen zusammentrifft. Wir wissen ja, welche Verheerungen dieses Zusamentreffeu in den westlichen Ländern angerichtet hat. In Frankreich. Italien und in Deutscldand drohte diese unmittelbar hereinbrechende Kulturwelle das ganze Judentum wegzuspülen, es waren keine kundigen Lootsen da, die das Schiff jüdischen Lebens

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geleitet hätten. Das Fremde gefiel, weil es fremd war und weil man glaubte, sich der politischen Freiheit erst dann recht würdig zu erweisen, wenn man als Dank das Judentum opferte. Auf den Altären der Freiheitsgötzen opferten die Juden ihre wahre Freiheit und wurden zu Sklaven einer fremden Kultur, die nie ihre eigene werden konnte. Und daher ist die Befürchtung sehr begründet und des Nachdenkens der Berufensten und Grössten wert, wie wM)hl das Zusammentreffen der grossen jüdischen Massen des Ostens mit der Kultur des Westens vor sich gehen wird, welche Folgen es für sie, für ihre religiöse und geistige Entwicklung haben wird. Sollen wir sie sieh selbst überlassen oder ihnen mit unserer Er- fahrung, mit der Lösung, die wir für das Thora-Kulturproblem ge- funden haben, zu Hülfe kommen? Das ist im Wesentlichen das Problem, das heute einen grossen Teil der denkenden westeuro- päischen Orthodoxie beschäftigt und ich möchte gleich hinzufügen, auch einen grossen Teil der galizischen Orthodoxie bis in die höchsten Kreise der Chassidimrabbis, mit denen ich über diesen Gegenstand zu sprechen Gelegenheit hatte und von denen der eine, (kr geistig sehr bedeutende und auch einflussreiche Rabbi von Czortkow mir einen Auftrag erteilte, den ich in seinem Namen der deutschen Orthodoxie übermitteln soll, was ich auch im Rah- men dieses Artikels tun werde. "*

Das Problem verträgt auch eine wesentlich andere Fassung, aber versuchen wir vorerst, uns mit dem Problem in der Fassung zu beschäftigen, die wir ihm gegeben haben und die es ja für die Meisten haben dürfte. Ist die Gefahr wirklich so eminent, die der grossen Masse der jüdischen Orthodoxie des Ostens von der west- lichen Civilisation. von der nichtjüdischen Kultur droht, dass es nun in der Tat heissen muss: ,,Alle Mann an Bord"? Vergessen wir nicht, dass in allen Fällen, in denen bisher Juden und Juden- tum mit einer fremden Kultur zusammentrafen, im Altertum mit der griechischen, im Mittelalter mit der arabisch-maurischen und in der Neuzeit mit der französisch-deutschen es siegreiche, im Zenith stehende Kulturen waren, die schon etwas Bestechendes und Blen- dendes hatten, dass es erklärlich, wenn auch nicht verzeihlich ist, dass sich viele Juden ihnen in die Arme warfen. War ja die ganze Menschheit wie berauscht von den riesigen Erfolgen des Meuschen- geistes und namentlich in der Zeit der Aufklärung erklärte sich die

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Mcnsclilicit für niiiiidi;; und der mündige Mensch erklärte allen höhe- ren Mächten den Krieg. Nicht nur das jüdisch-religiöse Leben litt darunter, sondern das religiöse Leben überhaupt und das Verhäng- niss wollte es, dass das Ghettojudentum mit einer direkt antireli- giösen Kultur zusatumeiitreffen sollte. Mir gewissen Veränderungen trifft dies auch auf die Zeitpunkte zu, in denen das Judentum mit dem Hellenismus und der spanisch-maurischen Kultur zusammentraf, Kultur, Bildung hiess; Los von Gott. Die Autonomie des ^lenschen die Würde der Persönlichkeit sollte alle Religion ersetzen. Und dem Ghettojudentum gefielen die Schlagworte, erstens weil es ja wirklich Schein von Sein nicht unterscheiden konnte und zweitens weil ja den Schlagworten blendende Erfolge der menschlichen Kultur zur Folie dienten. Den Zusammenbruch dieser ganzen blendenden Kultur erleben wir nun heute. Ströme von Blut und Meere von Weh und Jammer schreien gegen diese Kultur zum Himmel und als Echo dieses Schreies widerhallt in jeder Brust ein Seufzer und von jeder Lippe ein durchdringender Scbmerzens- laut. An Stelle der falscheJi Propheten sind nun die Jirmijahus getreten, die mit tränenschweren Augen und sclimerzuurchzuckten Herzen nichts als Trümmer sehen. Ist von dieser in sich selbst zusammengebrochenen Kultur so gar viel fürs Judentum zu fürchten??

Wird man und werden gerade die Ostjuden, die die Seg- nungen dieser Kultur in dieser fürchterlichen, mit allen Qualen der Hölle erfüllten Zeit bis zur Xeige geleert haben, für diese Kultur ihr Judentum preisgeben ? Etwa für die Kultur Albions, das ja sicherlich als das kultivirteste Volk galt, dieses 'PTijn □"':nn T'"ii{<"' "inz r*-"i"in, dieser ungeheueren Seeschlanffe. die auf ihre glückliche insulare Lage pochend niemanden fürchtete und so zum nt^C zur Zuchtrute der ganzen Menschheit geworden ist ? Oder für die Kultur Frankreichs, die nichts als Sitteulosigkeit und für das ganze Volk das Gespenst des Aussterbens hervorgebracht hat? Von einer Kultur, die so kläglich geendet, von einer Bildung, die es nichteinmal verstanden hat, diesen nun schon einmal ausge- brocheiicn Krieg ein wenig zu zähmen, ein wenig menschlicher zu gestalten, sollte die Orthodoxie des Ostens so viel zu fürchten haben'? Die Hohlheit dieser Kultur durchschauen auch ihre Augen, die bei weitem scharfsichtiger sind als wir annehmen. Und zudem wird

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girh ja die ganze Kulturmenschheit über ihre Ideale und Ziele aufs neue orientieren müssen. Sind ja die alten Ideale gestürzt, als Idole erkannt, werden sie ja mit dem Kriege von dem Horizont der Menschheit für immer verschwinden. Und wenn nicht alle Zeichen trügen, wird die Neuorientiurung der Menschheit im Zeichen dee religiösen Gedankens vor sich gehen. Alle Sophismen ver- mögen über die eine Wahrheit nicht hinwegzutäuschen, dass Menschenliebe nur dann zu einer wirkenden Potenz in der Welt wird, wenn sie in Gottesliebe ihren Ursprung hat. Ist Gott un- ser aller Vater, dann sind wir Brüder, sonst sind wir Konkurrenten, stehen einer dem Anderen im Wege, nehmen ihm seinen Platz an der Sonne, sind wir Feinde. Diesen fürchterlichsten aller Kriege hat die G' ttlosigkeit der Menschen verschuldet. Dagegen spricht auch nicht die Tatsache, dass die Menschen auch im Namen Gottes, ja für den Glauben selbst Kriege geführt haben. Die jüdischen Kriege waren ihrem innersten Wesen nach Defensivkriege, wenn auch zuweilen die Taktik eine Offensive war. Das Recht zum Sein, zur nationalen Existenz wollte man den Juden nicht gönnen und wohl als Mandatar einer Entente kanaanitischer Könige erschien Amalek gleich nach dem Auszuge aus Egypteo, um den Juden anzukündigen, dass ihnen kein Platz auf Erden gegönnt werde. Mit allen üTTrigen sogenannten Reli- gionskriegen haben wir uns hier nicht zu Ijefassen. Defensivkriege sprechen aber nichts gegen die obige These, denn auch vom Bruder lässt man sich nicht ohne weiteres erschlagen. Wenn also die Menschheit zur Besinnung kommen wird, wird sie reuig zu Gott zurückkehren und die Menschen werden sich, wenn sie Gott wahrhaft im Herzen und nicht nur auf den Lippen tragen werden, als Brüder lieben und achten lernen. Wird aber die Entwicklung der Menscheit nach dem Kriege im Zeichen des religiösen Ge- aankens vor sich gehen, so ist ja nicht so sehr viel tür unsere Brüder im Osten zu fürchten. Wenn Religion wieder modern wird, werden vielleicht auch unsere westlichen Brüder zur linken Hand den Weg zur Religion zurückfinden, sicherlich ist aber dann die Gefahr für die Massen im Osten nicht so eminent, dass man sie nicht einmal für kurze Zeit ihren Weg allein gehen lassen könnte, dass man schon heute ihnen eine gewisse Bevormundung zuteil

werden lassen müsste. dass man ihnen schon heute westeuropäische Führer einsetzen müsste.

Denn und nun kommen wir zur Kehrseite des Problems.

sind wir denn so sicher, dass wir sie zu tühren vermögen ? Haben wir für uns das Thora-Kulturproblem restlos gelöst? Worin be- stellt diese Lösung? «Es liegt in der Devise pj< "jil CV min oder vielmehr in der Umpräung die dieser Begriif von Rabbiner Samson Raphael Hirsch b'')il erfahren hat." Zugegeben, aber ist denn dieser Zustand bereits erreicht? Ist diese Forderung nicht vielmehr noch immer ein Ideal, ein Ziel, dem zugestrebt werden mu88? Ich will nicht bestreiten, dass es in Deutschland sehr viele D'^DDH "^T'DS"! giebt, die ja dieses Ideal erreicht haben, die neben allgemeiner weltlicher Bildung auch ein protundes Thorawisseii in sich vereinigen, aber sind diese Talmide Chachomim nicht Aus- nahmen ? Hat aber die grosse Masse der westeuropäischen Or- thodoxie das Ziel erreicht ? Und darauf kommt es doch in erster Reihe an, denn das Ziel kann doch nicht sein, einzelne Menschen sondern die grosse Masse treu zu erhalt« n, sie vor Schaden an ihrer Seele zu bewahren. Und der Erfolg, der bisher für die grosse Masse erreicht wurde, ist nicht gerade sehr ermunternd. Ich möchte nicht raissve rstanden werden. Ich will nicht bestreiten dass es in Deutschland sehr viele echtfromme und sehr gebildete Jehudim giebt, «iber das Ideal, das Rabbiner Hirsch y'üT verwirk- licht sehen will, haben sie nicht erreicht. Denn dazu haben sie zu wenig n~iin, denn auch beim besten Willen lä«?8t sich nicht be- haupten, dass Thorakenntnis in Deutschland allgemein sei. Es wäre für die Zukunft des Judentums verhängnisvoll, wenn das ganze Judentum nicht anders wäre als das deutsche. Judentum ohne intensive und extensive, bis in die breiteste Masse des Volkes reichende Thorakenntnis kann nicht bestehen. Mit einigen ratio- nalistischen Gedanken über den Geist der Gesetze und über den Geist des Judentums lässt sich kein Judentum erhalten. Und ob Rationalismus allein so viel Berechtij;ung hat ! Rabbiner Hirsch ^'i»! war sicherlich kein Rationalist, seine ganze symbolische Deutung der mii:2, namentlich die der Tempelgeräte ist vom Hauche jüdi- scher Mystik umweht und vielleicht ist er der einzige von den Grössen der westeuropäischen Orthodoxie der jüngsten Vergangen- heit, der den Massen der östlichen Orthodoxie etwas bedeuten

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könnte. Im Hinblick auf dieses irrnn D^y^^ ''S sagte mir der Rabbi von Czortkow: „Ersuchen Sie in meinem Namen die deutsche Orthodoxie, dass die Werke Rabbiner Hirsch's b":i] in die heilige Sprache übertragen werden, damit wir etwas für unsere Jugend haben. Der ist modern und echtjüdiach, ja sogar chassidisch." Ich glaube nicht, dass der Rabbi von Czortkow ganz unrecht hat. Und wenn wir schon etwas tun zu müssen glauben, so könnten wir ja den Brüdern im Osten Rabbiner Hirsch V'^i zum Führer ge- ben, iudem wir ibnen seine Werke zugänglich machten. Aber dass wir, die Lebenden ihnen viel bieten könnten, dass die Erfolge unserer Praxis uns ermutigen könnten, den Massen des jüdischen Ostens zu sagen : Kommt und vertraut euch unserer Führung an, das möchte ich sehr bezweifeln. Wir sind ebenfalls noch Suchen- de, wir kennen das Ideal, aber den sicheren Weg zu ihm haben wir ebensowenig, wie die im Osten. Vielleicht könnten wir den Weg finden, wenn wir uns herbeiliessen, etwas von den Ostjuden zu lernen. Und so hat in Wirklichkeit das Ostjudenproblem folgende Fassung: „Was könnten wir von den Ostjuden lernen, damit wir sie dann führen können?" und darüber möchte ich in einem nächsten Aufsatz, die gütige Erlaubnis der Schriftleitung voraussetzend, einige Gedanken äussern.

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Der Weltkrieg im Lichte des Judentums

von Dr. Wohlgemuth. 2. Auflage. Berlin Nr. 24. Verlag des Jeschurim 1916.

Besprochen von Dr. Isaac Breuer.

„Die- vorliegenden zehn Aufsätze sind im Laufe des ersten Kriegsjahres unter Eindruck der Ereignisse unserer Zeit entstanden und bereits in der Zeitschrift „Jeschurun, Monatsschrift für Lehre und Leben im Judentum" Jahrgang I Heft 8 12 und Jahrgang II Heft 1 3, 5 6, 8—9 veröifentlicht worden. Sie behandeln von verschiedenen Gesichtspunkten die Frage: Wie stellt sich die Lehre des Judentums zu den Problemen, die der Weltkrieg der Religion aufgiebt."

Mit diesen Worten spricht sich der Verfasser in einer Vor- bemerkung über Entstehung und. Inhalt seines Buches aus. Er legt also Wert darauf, wissen zu lassen, dass die ungeheuren Erfahrungen der Gegenwart bei Abfassung des Buches ihn unmittelbar beeinflusst haben, und will auch für das Buch den impressionistischen Cha- rakter gewahrt wissen, den die einzelnen Aufsätze naturgemäss an sich hatten.

Allein wenn der Verfasser sich entschlossen hat, die Aufsätze zu sammeln und in Buchform nochmals erscheinen zu lassen, so wird er sich des Unterschiedes zwischen einzelnen Zeitungsaufsätzen und einem geschlossenen Buch sicherlich bewusst gewesen sein. Zeitungen, auch Zeitschriften sind selten so anspruchsvoll, Dauer- wert sich beizulegen. Der Tag hat sie gebracht; sie beherrschen den Tag und verschwinden mit dem Tag. Da ihr Dasein so kurz ist, gönnt man es ihnen gern, ganz dem Tag zu leben und legt an sie nicht den Massstab des Morgen an, der sie nicht mehr antrifft. In gesteigertem Umfang gilt dies noch in Kriegszeiten. Erst recht wird man es ihnen da zugute halten, wenn sie alle Exaltationen der Stunde getreulich widerspiegeln, und wird höchstens von ihnen verlangen, dass sie nicht bewusst die Wahrheit fälschen, nicht künstlich die Erregung steigern, nicht ]danmässig die öffentliche Meinung vergiften.

Anders das Buch. Tritt es auch noch so bescheiden auf. so will es doch, schon vermöge seiner Form, Literatur sein,

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den Tag ühördauern, auch morgen noch in die Hand genommen werden. Die Zeitung ist Photographie, das Buch Gemälde,

Dies alh'S hat der Verfasser sicher ül)erdaeht. Er hat Keine Aufsät/e, diese Kinder des Augenblicks, nochmals geprüft und hat sie würdifi befunden, sich eines längeren Lebens zu freuen. Ge- wiss nicht aus trunkenem Vaterstolz, sondern aus Pflicht. Denn auch gegen Kinder hat man Pflichten.

Ja. er ist noch weiter gegangen. Offenbar von dem Streben geleitet, nicht den mindesten Zweifel über den Ans])ruch zu las- sen, den er der Gesamtheit der Aufsätze zuerkennt, hat er ihnen einen Namen beigelegt, der wie eine Fanfare klingt und das Stimmengewirr derer übertönen soll, die von den Ereignissen sich tragen lassen, statt sie vom Steuer der Ewigkeitswerte zu meistern. ,,Der Weltkrieg im Lichte des Judentums''! Der Taumel der Gegenwart bestrahlt von der Lehre, die zeitlos ist! Klarer kann kein Verfasser die Bedeutung aussprechen, die seinen Auf- sätzen innewohnt, wenn sie gleich „unter dem Eindruck der Er- eignisse unserer Zeit" entstanden sind.

Kriegsaufsätze braucht man wirklich nicht tragisch zu nehmen. Aber der „Weltkrieg im Lichte des Judentums" will bewusst die Augen auf sich ziehen, wünscht, fordert Kritik und glaubt vor ihr bestehen zu können.

Diese Kritik ihm zuteil werden zu lassen, verlangt aber nicht nur die Rücksicht auf den Verfasser, sondern mehr noch die Rücksicht auf das Judentum, dessen Licht dem Verfasser nach seiner Bekundung geleuchtet hat. Juden sowohl wie NichtJuden werden vielfach geneigt sein, aus diesem Buch mit der verlocken- den Ueberschrift auf 1(35 Seiten mühelos zu erfahren, was die Mutter der Religionen zu der grössten Menschheitkatastrophe zu sagen weiss, die je die Welt gesehen und könnten aus dem Schwei- gen der Kritik gar zu leicht die Folgerung ziehen, dass sie die sichere Gewähr besitzen, das Urteil des Judentums in authenti- scher Form in Händen zu halten.

Ich wiederhole: Hätte der Titel des Buches gelautet „Gesam- melte Kriegsaufsätze von J. Wohlgemuth", und hätte ich das Buch auch alsdann gelesen, so hätte ich mich seines treftlichen Stils gefreut, das warme Temperament des Verfassers b ^.wandert, seine pohtische Belesenheit anerkannt, seine Erregung auf Rechnung der

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Zeit gesetzt, seine Gesinnnngstüclitigkeit gepriesen, seine Unzu- länglichkeit zur Kenntnis genommen und wäre im übrigen zur Tagesordnung übergegangen.

Aber der ^Weltkrieg im Lichte des Judentums" verlangt ein rundes Ja oder Nein. Verlangt bündige Auskunft darüber, ob der Verfasser die Frage richtig beantwortet hat, die er sich selber ge- stellt hat: ,,Wie stellt sieh die Lehre des Judentums zu den Pro- blemen, die der Weltkrieg der Religion aufgiebt ?"

Ja oder Nein?

Nein !

Zunächst und vor allem: Von den 165 Seiten dieses Buches enthält die weitaus grössere Hälfte nichts als allgemein politische Betrachtungen, wie man sie ungezählt oft in den Tagesblättern hat lesen müssen, Sie sind, ich gestehe es gerne, in ihrer Form etwas besser, als manche andere, haben aber mit dem Lichte des Judentums nicht das mindeste zu tun.

Man nehme den ersten Aufsatz, überschrieben: Der Welt- krieg. Er erstreckt sich von Seite 5 bis Seite 23. Von Seite 6 bis Seite 18 enthält er im wesentlichen nichts als den Nachweis, dass der Krieg, den Deutschland jetzt führt, ein gerechter Krieg ist, dass dagegen Russland ihn aus Verachtung- der Menschenrechte, Frankreich aus Rachsucht, England aus Neid entzündet hat. Mag sein. Aber bedarf es des jüdischen Lichtes, um diese Erkenntnis zu gewinnen?

Der zweite Aufsatz (Der Krieg und die Moral) stellt zu- nächst mit dürren Worten fest, dass die Bibel den Krieg nicht Ncrurteile, nimmt alsdann die Verletzung des Völkerrechts, wie sie die, Gegenwart gezeitigt hat, ,, nicht so schwer", regt sich aber dann über die das Mass notwendiger Verteidigung überschreiten- den Rohheitsdelikte unserer Gegner, über ihre und der Neutralen Heuchelei sehr auf, hebt hervor, dass demgegenüber bei uns „das Sittengesetz, das zur leeren Form geworden, wieder herrschende Norm im Leben der einzelnen und der Gesamtheit" sei, findet als das charakteristische Merkmal des deutscheu Volkes seine Ehrlich- keit und Redlichkeit, wie das aus dem Typ des „deutschen Michel*- zu erkennen sei und kommt schliesslich zu dem Ergebnis, dass das Moralische sorgsamer Pflege bedürte. Sehr schön. Aber im Lichte des Protestantismus könnte man zur Not ein Gleiches entdecken.

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Nach dem spärlichen Ertrag der beiden ersten Aufsätze fühlt man sich von der Ueberschrift des dritten begierig angezogen :

Der Jude und der Krieg. Aha, jetzt kommt's! Weit gefehlt!

Wohlgemut!) entdeckt, dass der Patriotismus der Juden (ob nur des deutschen oder auch des englischen??) rein, ernst und tief sei. dass ihm der Geist des Gehorsams, der das Judentum durch- dringe, in den gegenwärtigen Zeitläuften zugute komme, und dass ihm die Unterordnung unter das Staatsgesetz religiöse Pflicht sei. Das ist alles.

„Das grosse Hoffen'' (4. Aufsatz) ersucht den Leser, die Feinde nicht zu hassen; nur wer die Anstifter des Krieges hasst, diese „Giftmischer und fluchbeladenen Mörder", hasst gross.

Der Aufsatz „Unser Kaiser" untersucht an Hand des „pen- tateuchischen Gesetzes" (= Thora), „welche Stellung der Jude zum Königtum an sich einnimmt und was den Juden Deutschlands der Deutsche Kaiser ist". Diese Untersuchung hätte füglich auch vor dem Weltkrieg unternommen werden können. Sie ist zudem nicht frei von Bedenken.

Eine „Entweihung des göttlichen Namens" (6. Aufsatz) ist dieser Krieg, insofern er den Zusammenbruch der christlichen Zivilisation bedeutet und diese mit dem Namen Gottes verknüpft ist. Auch Wohlgemuth empflndet dies schmerzlich, denn „alle Religionen sind solidarisch." England trägt die Schuld. „Darum führt uns auch unser jüdisches Denken zu der Überzeugung, dass Englands grosse Schuld nur mit dem Tode gesühnt werden kann, dem Tod, wie ihn ein Volk stirbt, das von so unermesslicher Grösse war, das seine Wurzeln überall so tief in das Erdreich gegraben, dem Tod des allmählichen Absterbens und Niederganges." Also die Beleuchtung des Weltkrieges mit dem Lichte des Judentums führt zur Ueberzeugung, dass England dem Tode verfallen ist. Diese Ver(|uickung von Religion und Politik ist nicht sehr fern von Blasphemie.

Es werden alsdann („Warum hassen nns die Völker?") in wenig origineller Weise die Gründe des Deutschenhasses dnrgelegt und ihre .\ehnlichkeit mit den Gründen des Judenhasses behauptet. Diese Darlegungen sind harmlos.

,,Dc'r heilige Egoismus und das gottgesegnete Volk" polemi- siert wirkungsvoll gegen Italien und Amerika. Immerhin würde

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es sich empfehlen, diesen Aufsatz von Amerika fern zu halten, da sonst leicht unsere ohnedies schon so schwierigen Beziehungen zu Onkel Sam eine weitere Trübung erfahren könnten.

Es ist selbstverständlich, dass meine lakonische Inhaltsangabe der ersten acht Aufsätze zehn sind es im ganzen nicht die mindeste Vorstellung von ihrem stilistischen Wert zu geben ver- mag. Aber schliesslich will doch der Weltkrieg, vom Lichte des Judentums beleuchtet, nicht zum Gegenstand einer Stilübung gemacht sein. Die Probleme, die der Weltkrieg dem Judentum entgegenhält, sind so bitter ernst, sind dermassen schwierig, dass sie kein Spiel mit Worten, kein Schwelgen in Gefühlen vertragen. Wenn Wohlgemuth sich lediglich zum Vorwurf genommen hätte, die Gedanken und Gefühle des gebildeten deutschen Juden, wie er sie so beim Empfang der einzelnen Kriegsnachrichten hat, in ästhetischer Form wiederzugeben, so hätte sich natürlich dagegen nichts einwenden lassen. Aber den Weltkrieg im Lichte des Judentums zu werten, dazu gehört denn doch etwas mehr als po- litische — Kannegiesserei, gewürzt mit Zitaten aus dem „penta- teuchischen Gesetz" und aus den Propheten.

Die furchtbaren Leiden der Einzelnen stehen nicht einmal im Kern der Probleme des Weltkrieges. Mit Leiden ist das Ju- dentum stets leicht fertig geworden. Es sieht seine Bekenner seit mehr als zwei Jahrtausenden leiden. Das ist ihm ein gewohnter Anblick.

Aber dieser Krieg rührt, vielleicht zum ersten Mal seit der Zerstörung Jerusalems, an die Existenz des Judentums. Wie wird sich seine Zukunft gestalten ? Naht die Zeit, da die Lehre in Vergessenheit gerät? Wohlgemuth schweigt.

Wir sehen Staaten einander mit unerhörter Leidenschaft be- kämpfen. Es heiligt längst der Zweck jedwedes Mittel. Wie stellt sich das Judentum zur politischen Moral ? Steht die Gemeinschaft der Menschen unter anderen Gesetzen als wie der einzelne Mensch? Ist die Existenz, das Wohl des Staates sein oberstes Sittengesetz? Wohlgemuth schweigt.

Und dann das Problem der Probleme: die Rechtsgemeinschaft der Staaten. Ist nicht das Recht seinem Begriffe nach allumfas- send, dergestalt, dass es keine objektive Beziehung zwischen Mensch und Mensch geben kann, die nicht der Majestät des Rechts unter-

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liegt-, ist nicht der Staat selbst, seinem begrifflichen Ursprung zu- folge. Produkt des Rechts, und wie darf es dann sein, dass Staat zu Staat noch heute steht wie Wolf zu Wolf, er, der seinen Un- tertanen als organisiertes Recht entgegentritt? Was ist dem Ju- dentum der Staat, was ist dem Judentum die Rechtsgemeinscliaft der Staaten V

Hierzu nun schweigt Wohlgemuth nicht. Der neunte Aufsatz, überschrieben „Der ewige Friede", will sich anscheinend mit diesem Problem auseinandersetzen. Aber gerade gegen die hier vorgetra- "•enen Anschauungen muss im Interesse des Judentums schärfste Verwähl ung eingelegt werden.

Es ist unendlich betrübend zu sehen, wie Wohlgemuth sich im Namen des Judentums gegen die grossen Vorkämpfer der Humanität kehrt und das Ziel ihrer Sehnsucht als Utopie, ihr Ideal als Schwärmerei denunziert. Nach Wohlgemuth ist der Friede unter den Völkern ein Glück, das nur Gott ihnen bringen kann. Daher kann der ewige Friede im Judentum auch nicht als religiös- sittliches Ideal Geltung beanspruchen. Er ist keine „Forderung der religiösen Ethik" des Judentums. Der Universalismus der Propheten hat mit der Verkündigung des messianischen Zeitalters nichts zu tun.

Ich gestehe: Selten ist ein schwieriges Problem in kritischer Zeit mit grösserer Oberflächlichkeit behandelt worden. Statt gründ- licher Untersuchung ein blosses Spiel mit Schlagworten.

An das unglückselige Wort von der „Ewigkeit" des Friedens knüpft Wohlgemuth an, um daraus all seine Thesen abzufolgern. Als ob es sich darum handelte, die Ewigkeit des Friedens zu ga- rantieren, und nicht vielmehr darum, die Rechtsgemeinschaft der Staaten zu verwirklichen.

Gewiss ist der „Ewige Friede" eine blosse Idee, die schwer- lich ihre Verwirklichung linden wird. Das Ende der Zeiten wird ihn uns bringen.

Aber ist etwa bloss der „Ewige Friede' unter den Staaten eine Idee und nicht auch der „Ewige Friede" im Staat? Ist es bis heute gelungen, wird es den Menschen je gelingen, die Mörder, die Diebe, die Räuber vollends auszurotten ? Hat man aber Be- denken getragen, die Rechtsgemeinschaft des Staates zu begründen,

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weil er ja doch nicht den „Ewigen Frieden" unter den Staatsun- tertanen gewährleisten könne ?

Aus der tatsächlichen Unmöglichkeit eines „Ewigen Friedens" die Unmöglichkeit der Rechtsgemeinschaft unter den .Staaten her- zuleiten, ist ein Gedankensprung sonderbarster Art, Es heisst das Judentum kompromittieren, wenn man seine Autorität für derartige Unzulänglichkeiten in Anspruch nimmt.

Uer Universalisraus des Judentums, der alle Menschen als Gott ähnliche Wesen begreift, fordert schon begrifflich die Rechts- gemeinschaft der Staaten. Auf der Gottähnlichkeit aller Menschen beruht die Universalität des Rechts. Die Gleichheit aller Men- schen fordert als einzig mögliche Regelung ihrer gesellschaftlichen Beziehungen die Rechtsregel. Erst wer es versuchte, den Nach- weis zu führen, dass dem Judentum der Staat über dem Recht stehe, dürfte die Behauptung wagen, dass die Verwirklichung der internationalen Rechtsgemeinschaft keine Forderung des Judentums sei.

Aber das Gegenteil triift zu. Nicht müde sind die Propheten geworden, den Staat der Herrschaft des Rechts zu unterordnen, das Recht als seine einzige Stütze zu feiern. Wohl ist ihnen das völlige Schwinden des Rechtsbruchs, sozial wie politisch, Zukunfts- geschenk Gottes, aber das Streben nach"^ahrung des Rechts, nach Verwirklichung der Rechtsidee in ihrem grenzenlosen Uni- versalismus ist ihnen heiligste Forderung der Stunde. Ihnen ist der Staat nicht souverän, nicht -elbstzweck, sondern Mittel zur Verwirklichung des Rechts. Auf die Souveränität des Staates ist aber letzten Endes das „Recht zum Krieg" zurückzuführen. Wie steht denn das Judentum zur Souveränität des Staates? Ist das nicht eine Frage, die wie keine durch den Weltkrieg brennend geworden? Was sagt Wohlgemuth dazu? Er schweigt.

Es kann meine Aufgabe nicht sein, an dieser Stelle den Problemen, die der Weltkrieg dem Judentum zur Lösung entge- genhält, nachzugehen. Zu verhüten, das das Wohlgemuthsche Buch gewissermassen als Lehrmeinung der deutschen Orthodoxie er- scheine, ist allein Zweck meiner flüchtigen Andeutungen.

Das Wohlgemuthsche Buch mutet heute schon veraltet an. Das ist der beste Beweis datür, wie sehr es in Tagesimpressionen stecken geblieben ist. Nicht das Licht des Judentums hat darin

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über den Weltkrieg geleuchtet, sondern der Weltkrieg hat einige grelle Strahlen auf das Judentum geworfen und hat es verzerrt.

Doch ich will mit einem Wort der Anerkennimg schliessen. Der letzte Aufsatz, überschrieben, „Der Gott der Gerechtigkeit", ist nicht nur stilistisch der schönste, sondern enthält den einzigen ernst zu nehmenden Versuch, ein Kriegsproblem der Lösung näher zu bringen. Was hier über das Verhältnis von Liebe und Ge- rechtigkeit gesagt wird, verdient gelesen zu werden. Zwar kann ich dem Verfasser auch in diesen Darlegungen nicht beipflichten, schon deshalb nicht, weil die grundlegenden Begriffe, mit denen er operiert, von ihm in keiner Weise geklärt werden. Immerhin ist dieser Aufsatz ein Gewinn. Ich verweise namentlich auf die bemerkenswerten Ausführungen über die Kriegsgebete ■*. Vielleicht entschliesst sich der Verfasser, in der dritten Auflage nur diesen Aufsatz erscheinen zu lassen. Er allein wird auch nach dem Weltkrieg lesbar sein. Und was nicht oie grosse Probe bei der kommenden Abrechnung nach Beendigung des Krieges besteht, ist Makulatur !

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Heine, der Jude.

Von H. M.-B.

(Schluss.)

Wir fassen zusammen. Wir haben gezeigt und mit ausführ- lichen Citaten belegt, wie Heine als Jude geboren und doch nicht gesinnungstüchtig erzogen, aus der in seinem Milieu herrschenden Indifferenz gegenüber Juden und Judentum in Kreise und Verhältnisse kommt, die ihn tiet in die jüdischen Strömungen der damaligen Zeit hineinziehen und mit lebendigem und nie erloschenem Inter- esse erfüllen für alle Fragen der jüdischen Entwicklung und in ihm ein neues und nie erstorbenes Bewusstsein jüdischer Stammeszuge- hörigkeit wachrufen. Infolgedessen schreckt er vor dem von An- fang an von der Familie und ihm selber ins Auge gefassten Akt der Taufe zurück. Als er ihn dennoch vornimmt, hat er das Be- wusstsein schmählicher Fahnenflucht, des Verrats an einer grossen Sache. Und die Reue und die Scham darob haben ihn nie verlassen.

Für uns aber erhebt sich umso mehr die Frage : wer war Heine, der Jude? Was war das Judentum, das er begriff, das er verliess ?

Heine, der Jude, ist Einer von Vielen, ist trotz seiner Be- sonderheit und individuellen Eigentümlichkeit nur der Typus eines Jnden aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts, nur ein Glied jener urossen Familie der Zerrissenen und Zwiespältigen, denen das Erbe Mendelssohns, so herrlich es ihnen dünkte, zum Fluche ward. Sie priesen es bis zu den Sternen, während sie es durch die Gassen schleiften und achtlos durch Pfützen zogen. Und konnten nicht verstehen, warum der heilige Jugendmut so schnell gebän- digt, das grosse Streben im Dienste der Menschheit wie von selbst zu ganz gewöhnlichem Strebertum im eignen Dienste zerrann, und was so erhaben und umfassend begonnen und so rein ge- klungen, so klein und eng und mit solch grellem Misston enden

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konnte. Ju, sie sind Eine grosse Familie, die unabsehbare Schar der Jünglinge, die das sich öffnende Ghottotor krachend ausspic, und die mit der hungrigen Lebensgier im Auge, dem hellen, scharfen Kopf, der beissenden Selbstpersiflage auf der Lippe und nüchternen Satire der Feder, mit der ungezügelten Siniilichkeit, typisch für aus strengen Gesetzesbauden entronnene Sklaven - des eigenen Herzens, und niclit zuletzt mit dem natürlichen Kosmopolitismus des Juden und Outsiders Europa überfluteten und seine Literatur und Politik, sei.ie Philosophie und Sozialwissenschaften, seine Musik und The- ater gleichsam mit Beschlag belegten und mit dem eigenen Wesen durchsetzten. Der verrufene Menzel und selbst Treitschke man muss sie zu verstehen suchen, wenn sie in der Ul»erschwemmung Deutschlands durch diese Familie eine schwere Gefahr für das gutmütige und lebenstrotzende Deutschtum, für den gesunden und bärenhaften Teutonen sahen, wenn ihnen die jüdische Rasse iden- tisch schien mit einem verneinenden dekadenten Prinzip, das an- steckenden Krankheitskeim in alles trägt, was es berührt. Sie ver- kennen, welch scharfe Verstandesarbeit von diesen Jünglingen ge- leistet wird, wie von der Behendigkeit und Treffsicherheit ihres Witzes und der Klarheit ihrer Polemik so manches wuchernde Unkraut im Culturwalde Deutschlands ausgerodet wird und fühlen nicht die wühlende, zukunftsvolle /\.rl)eit ihres über das Eng-Nati- onale hinausweisenden Weltbürgertums. Was sie spüren und hassen, ist die blendende und doch kranke Persönlichkeit dieser Juden und der Hass sieht gut. Ja, sie sind krank, diese Juden, und stecken an, was sie berühren, tragen den Keim der traditions- losen Zersetzung; der Fluch der Heimatlosen und Entwurzelten ruht auf ihnen, und die sittliche Entartung der Gesetzesverächter bezeichnet ihren Weg. Denn damals war ja noch nicht, wie heute, der Abfall eine von Generation auf Generation vererbte und wie ungeprüfte Selbstverständlichkeit; sondern diese Jünglinge hatte, als sie noch Kinder waren, mit altjüdischem Singsaug die Mutter in den Schlaf gewiegt, oder wenigstens ragte ihnen gewiss noch die Gestalt eines ehrwürdigen und frominen Grossvaters in die Knabenzeit hinein, der mit sorgenvollem Kopfschütteln und zwei- felnder Frage den Namen Mendelssohn aussprach. Und dieser Tonfall des Grossvatcrrs und das Wiegenlied der Mutter verliess

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.sie nicht sie mussten's immer hören. Das war's, ob sie's wuss- ten oder nicht, was ihnen die Ruhe raubte bei Tag, dass sie im- merdar nach Betäubung lechzten, und was ihnen den Schlummer der Nacht so bleiern und schwer machte. Ungreifbare, körper- und geistlose Imponderabilien der iüdischen Vergangenheit waren es, die den Riss in ihr Leben trugen und das weithin sichtbare Kainszeichen der Schuldbewusstheit aut ihre Stirne drückten.

„Nicht gedacht soll seiner werden"!

Aus dem Mund der armen alten

Esther Wolt hört' ich die Worte,

Die ich treu im Sinn behalten ein armes altes Judenweib murmelt diese „Blume der Verwün- schung" — auf wen? vielleicht auf das eigne Kind, das den Glau- ben der Väter vi'rlassen und der Knabe Heine hört es und er- schrickt in kindlichem Grauen und vergisst sie nie, diese furcht- baren Worte und noch auf seinem Totenbette formt sich ihm eins seiner Lazaruslieder daraus. . . .

Es giebt Stellen in des Menschen-Brust, die noch keine Wissen- schaft durchleuchtet hat und die doch oft den Schlüssel seines Wesens in ihren Falten bergen !

Weit klarer und unkomplizierter als Heines seelische Bezieh- ungen stellt sich sein geistiges Verhältnis zum Judentum dar. Hier muss man vor allem anderen festhalten, was nach unseren bis- herigen Ausführungen auf den ersten Blick klar ist : seine Aus- einandersetzung mit dem Judentun» bleibt vollkommen auf der Oberfläche haften, dringt nicht entfernt bis zum Wesen und Kern desselben vor: bis zur jüdischen Religion. Auch darin ist er typisch für seine Generation, die in Mendelssohns „Jerusalem" nur mehr eine Marotte des grossen Philpsophen sah, der das Judentum keine religiöse, sondern nur noch eine Culturfrage war und mit der ganzen Unwissenschaftlichkeit des fanatisch begeisterten Neu- erers mit viel Geschrei und wenig Logik und ganz ohne ernstliche Sachprüfung den ganzen „Gesetzeskram"" und .,Ceremonienkrempel" als im 19. Jahrhundert unbrauchbar, zum alten Eisen warf. Wenn man die Anfänge der Reform verfolgt und ihre wissenschaft- lichen Bestrebungen auf ihren Umfang prüft, so erkennt man erst mit

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ganzer Deutlichkeit, wie das Programm clor ..neimzehn Briefe'', der Frage einmal wirklich sachgemäss von innen und nicht stets nur von aussen her näherzutreten, die jüdische Lehre einmal als Juden, und nicht als bereits abgefallene Juden zu lesen, den innersten Kern des Uebelstandes getroffen hat.

Heine hat sich selbst schlechthin .,den geborenen Feind aller positiven Religionen'* genannt. Fa- ist hier ganz Sohn der Auf- klärung und vielleicht ! dies ist eine Vermutung Sohn seiner Mutter, der ..strengen Deistin" und Schülerin Rousaeaus. Der Ein- flnss einer Mutter auf die religiösen Gefühle des Kindes und sogar die religiösen Gedanken des Mannes ist gewiss grösser, als sich nachweisen lässt! Sicher ist, dass Heine, in dessen Schriften Ge- danken und Geistesblitze über positive Religionen einen gar breiten Raum einnehmen, nie ernsthaft und sachlich diese seine Feindschaft gegenüber einem Gebiet, das ihn so stark interessiert, begründet hat sodass, widerspruchsvoll genug, uns diese Animosität selbst mit dem Anspruch eines Dogmas aufzutreten scheint, das, mit der Muttermilch kritiklos und gläubig eingesogen, Inventar seines geistigen Erbesj wird und stets mit besonderer Besitzerfreude her- vorgekramt und mit allerlei krausem Zierrat behängt wurde von philosophischem Wert oder auch nur religionskritisch ernst zu nehmen sind seine Aeusserungen auf diesem Gebiete nie. Sie sind stimt und sonders Blender von oft selbst bei Heine überraschendem Witz sie sind Einfälle, aber keine Gedanken, geschweige ein System. Es erübrigt sich daher, im Rahmen dieses Aufsatzes ihre Betrachtung im Einzelnen.

Nein, das Judentum ist für Heine einzig und allein eine Kulturfrage. Wohl erkennt er, dass die jüdische Religion zum Wesen des Judetums gehört, wenn nicht gar dies Wesen aus- macht — wohl spottet er über synagogale Reform und Verchrist= lichung des Ritus, aber persönlich steht er doch jeder Form der üebertragung von religiösen Normen in das persönliche und indi- viduelle Lebe^i fremd und gleichgültig gegenüber. Ans seiner bes- seren Einsicht erblüht ihm kein Leben.

Was Heine am Judentum reformieren will, liegt auf rein sozialem Gebiet. Das Interesse, das ihm solche Wünsche und

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Bestiebimgen durch mehrere Jahre zu einer Herzensangelegenheit raacht und das immer wieder auch später in ihm bei jeder Gele- genheit durchbricht, ist rein nationaler Xatur. Ja, erbringt zu- weilen sogar ein gewisses Gefühl des Xationals t o 1 z e s auf, ein Abkömmling jener Märtyrer zu sein, „die der Welt einen Gott und eine Moral gegeben und auf auf allen Schlachtfeldern des Ge- dankens gekämpft und gelitten haben".')

Aber die hochfliegenden Jugendjahre mit ihrem reformator- ischen Ehrgeiz und judenbegltickerhaften Bestrebungen verbrausen und ertrinken kläglich genug im Wasser der Taufe. Zurück bleibt der Katzenjammer an sich und der Welt und das ästhetische Interesse am Judentum. Nach wie vor verficht er das Recht der nationalen Besonderheit der Juden. Aber er kann es aus be- greifilichen Gründen nicht mehr in der gewohnten Freiheit und Eindeutigkeit tun. Nach wie vor ergreift er die Partei der Juden in der Frage ihrer sozialen Stellung gegenüber der herrschenden Staatsgemeinschaft aber er tut es im Gewände des revolutio- nären Volkstribuns, dem nur die Sache der Schwächeren gegen die Stärkeren, eines jeden Volkes gegen jede Regierung am Herzen liegt. Zurück bleibt in alter Stärke und Unverfälschtheit nur das ästhetische Interesse Heines am Judentum^ das Interesse des Dichters.

Wenn man Heines Beziehungen zum Judentum prüft, darf man nicht nur nie ausser Acht lassen, dass er als Denker ganz im Bannkreis der Ideen der französischen Revolution stand und schon daher ihm die Sache eines unterdrückten Volkes am Herzen liegen, sowie dessen Religion gleichgültig sein konnte und man darf ebensowenig vergessen, dass er ein Dichter war und alle Fragen, die seinen Geist beschäftigten, mit der ganzen Kraft, dem ganzen Reichtum seiner Phantasie aufgriff und ausschmückte uud mit dem Gemüte des Dichters empfand und belebte. Hier liegt der schnei- dende Gegensatz zwischen ihm und Börne. Hier liegt die Ursache seiner grossen Vorliebe für das „Alte Testament"; hier der Antrieb zu seinem Studium jüdischer Chroniken-, daher seine Sehnsucht, dem ^grossen Judenschmerz ", den er zwischen den vergilbten Blättern

,,Geständi8se".

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der Leidensgeschichte Israels stumm und dumpf verhalten fühlt, den erlösenden Aufschrei des Dichterwortes zu schenken. So ent- steht der gross angelegte Plan zum „Rabbi von Bacharach", den er mit „unsäglicher Liebe" in der Brust trägt, der ein „unsterb- liches Buch" werden soll, von dem er tühlt, dass nur e r es schreiben kann „und dass das Schreiben desselben eine nützliche gottgefällige Handlung ist"'). Er konnte es nicht ausführen. Die Taufe kam dazwischen und riss ihn aus der Stimmung, wie ihm auch sonst, oft in seinen schönsten Gedichten, die poetische Stim- mung durch die allzu gegensätzliche Wirklichkeit, durch den Riss und die Spaltung seines eigenen Wesens zerstört wird. Weiter findet man Beweise seines feinen Nachempfindens poetischer Mo- mente des jüdischen Lebens in den „Hebräischen Melodien", aber überschätzen darf man die Stärke speziell dieser Eindrücke nicht denn der Dichter der „Hebräischen iMelodien" ist auch der Dichter der „Wallfahrt nach Kevlaar" und hegt eine schwär- merische Bewunderung für die Poesie in der Symbolik katholischer Dogmen, deren „unendliche Süsse, geheimnisvoll selige Ueber- Bchwänglichkeit und schauerliche Todeslust" ihn überwältigt.'^) Demselben Dichter ist das Christentum zwar nur eine eigenartige Entwicklung der jüdischen Religion, sein Stifter aber „sublimste Blüte" der jüdischen Rasse und wird von ihm nicht nur in den „Nordseebildern", sondern auch sonst in zahlreichen Stellen seiner Prosa verherrlicht „welche von den vorhandenen Religionen haben Sie?" fragt eine junge Engländerin den Dichter in den „Reisebildern". „Ich, Mylady", antwortet er, „ich habe sie alle, der Duft meiner Seele steigt in den Himmel und betäubt selbst die ewigen Götter".

Zeit seines Lebens hat Heine zAvischen Hellas und Judäa, zwischen Dionysos und dem Manne von Golgatha, zwischen der Idee eines politischen (Barbarossa) oder eines religiösen Messias hin und hergeschwankt. Hat begonnen mit dem Weihrauchnebel mittelalterlicher Kirchhofsromanfik, wollte dann mit stolz geblähtem Segel, an Bord jüdisch=nationale Ideale, nach dem „Wunderlande Bimiui" ausziehen, litt kläglich Schiffbruch und rettete sich auf die

') Briefe. '•') Ge«tändisse.

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Planke eines dograenlosen Rationalismus, krampfhaft in der Hand schwingend das Segelfetzchen eines Weltverbrüderungsgedankens, auf den Lippen das halb trunkene, halb verzerrte Lächeln des Schönheitanbeters und Lebensgeniessers, dem doch die Melodie des düsteren Märtyrerliedes nimmer aus Sinn und Gemüte geht" mid endet mit einer grossen geistigen Auseiuandersestzung mit all den Göttern und Galten, denen er in gesunden Tagen geopfert, mit einem schauerlichen Titanen-Zweikampf zwischen Gott und Mensch im Augesichte des Todes röchelt unter den entsetzlichen Qualen seiner Krankheit noch die wahnwitzigsten Blasphemien, schleudert mit unverminderter Kraft des Witzes seine boshaftesten Pfeile und findet doch auch Töne der Bescheidung, der De- mut in Würde und Grösse, wie er sie nie zuvor gefunden, und beugt zuletzt das Haupt als Besiegter: „Bin kein göttlicher Bipede mehr; nicht mehr der ,,freieste Deutsche nach Goethe" . . . ich bin nicht mehr der grosse Heide No. II, den man mit dem weinlaub- bekränzten Dionysos verglich ... ich bin kein lebensfreudiger, etwas wohlbeleibter Hellene mehr, der auf trübsinnige Nazarener heiter herablächelte ich bin jetzt nur noch ein armer, todkran- ker Jude, ein abgezehrtes Bild des Jammers, ein unglücklicher Mensch!"') Und ganz ohne mystische Extasfi und aufdringUches Büssertum sinkt er in seinem letzten Testament auf die Knie und bekennt es laut: ,,Seit 4 Jahren habe ich allem philosophischem Stolze entsagt und bin zu religiösen Ideen und Gefühlen zurück- gekehrt ; ich sterbe im Glauben an einen einzigen Gott, den ewi- gen Schöpfer der Welt, dessen Erbarmen ich erflehe für meine unsterbliche Seele. Ich bedaure, in meinen Schriften zuweilen von heiligen Dingen ohne die ihnen schuldige Ehrfurcht gesprochen zu haben, aber ich wurde mehr durch den Geist meines Zeitalters als durch meine eigenen Neigungen fortgerissen."

Man überschätze auch dieses nicht. Von einer ,, Bekehrung" Heines zu irgend einer Religion auf dem Todenlagcr, von der oft gesprochen Avird, kann keine Rede sein. Er selbst verwahrt sich ausdrücklich dagegen. Auch fühlt er keine Liebe zu diesem Gotte, den er bekennt und kann sich keineswegs zum amor fati, zur Be-

Briete.

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jahun^ des Weltprozesses und zur Ergebung in das eigene Schick- sal durchringen. Was er tief und ganz empfindet, weil am eigenen Leibe erfahren hat, ist die Vergeblichkeit und Lächerlichkeit der Empörung der kurzlebigen und ohnmächtigen Kreatur gegen die unendliche Kraft, die sie geschaffen. Die Eitelkeit alles Athe- ismus, aller Selbstvergötterung des Menschen hat er klar erkannt, und giebt es ohne Ueberschwang und ohne rmschweife zu. AI er er findet weder Trost noch Erleichterung in seinem Bekenntnis. Notgedrungen muss er's zugeben und furchtbar in seiner Gross- artigkeit, niederschmetternd in seiner Grausamkeit und schrecklich in seinem Zorn bleibt ihm dieses göttliche Wesen, dessen Dasein er nicht mehr leugnen, nicht einmal mehr bezweifeln kann

Die Wirklichkeit schreibt die gewaltigsten Theodiceen.

Wir aber, wir haben weder Ursache, auf Heine, den Juden, stolz zu sein, noch ihn zu schmähen. Für tausendfaches Fehlen ward er tausendfach gezeichnet. Und seine Sünde wider sein Judentum war nicht, wie er selbst wähnte und bitter bereut hat, der Taufakt, den er über sich ergehen Hess, sondern die vorher schon und auch weiterhin empfundene Gleichgültigkeit gegen des Judentums Wesen und Inhalt, Form und Kern, Lehre und Symbol: gegen den ganzen Komplex der Gesetze und Bestimmungen, deren Uebertragung in lebendige Tat und an ihnen sich orientierende Gesinnung einzig und allein den Juden ausmacht. Daran ging Heine achtlos vorbei, obwohl er selbst das Gefühl hat, dass hier das Herz des Judentums schlägt, das man nicht beschädigen kann, ohne den Bestand des Ganzen in Gefahr zu setzen und gewiss nicht zum Besten einiger ,, vagen kosmopolitischen Ideen" zu Tode ver- wunden sollte. Uns wundert es nicht, dass ihm die aufrichtigste nationale Begisterung, so wenig wie das wärmste Nachempfinden des grossen Judenschmerzes nicht Halt und Rückenstärke genug bot, um auf jede Aussicht auf Carriere zu verzichten. Wohl waren diese Surrogate damals noch nicht mit den tönenden Ansprüchen auf selbständiges Eigendasein und als organisierte Sonderheiles- botschaft aufgetreten wie heute. Vielleicht hätte sich Heine iu unseren Tagen, die den Bedürfnissen der „Verlorenen Söhne" raf- finierter entgegenkommt und sie nicht mehr so einsam zwischen Himmel und Erde schweben und zwischen Leben und Tod wählen

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lässt, sondern ihnen schwimmende Inselchen zum Ruhepunkt bietet, vielleicht hätte er sich heute nicht taufen lassen. Es ist eine müssige Frage. Seiner Bestimmung als Mensch und Jude wäre er dadurch allein nicht treuer geblieben.

Nachwort.

Obiger Aufsatz war längst abgeschlossen, als in den Fenstern der Buchhandlungen ein neues dünnes Büchlein erschien : , »Heinrich Heine, der deutsche Jude", von Max Fischer''). Es sei in aller Kürze gekennzeichnet als „auch" ein Beispiel der typischen Heine- Beurteiler, die sein Verhältnis zum Judentum in der Wirkung auf sein Wesen, seine Lebensgestaltung und seine Dichtung wohl hoch genug einschätzen und demgemäss meist auch gründlich genug untersuchen, dieses Verhältnis selbst aber in seiner ganzen Eigen- art als Selbstverständlichkeit, als vollendete Tatsache hinnehmen, die keiner näheren Prüfung und selbstständigen kritischen Unter- suchnng bedarf. „Die Tragik des nie abzuwaschenden Juden", formuliert Fischer recht glücklich, habe äusserlich wie seelisch Heines ganzes Leben bestimmt; aber das Problem liegt für ihn du'Thaus nicht zunächst in der Frage, warum Heine sein Juden- tum habe abwaschen wollen, sondern warum ihm dies nicht ge- lungen sei. Und das Beispiel des „edelsten Juden der deutschen Geschichte", nämlich Friedrich Julius Stahl wird ihm nicht ohne Tadel entgegengehalten. Das ist die Art, wie ein Genie „den Juden in sich überwindet" und sich ,, jener Judennot und jenem Judenschmerz entzieht, an dem Heine zerbrochen ist". Und Heine habe d )ch, z. B. in der ,. Wallfahrt von Kevlaar". so gute Ansätze gemacht und hätte gewiss im Schosse ,, wundersamer Gläubigkeit" eine geruhsame Heimat finden können. Statt dessen, „sein besseres Ich verleugnend", bekämpfte er sie.

Nein, bei solch einseitiger Problemstellung kommt man dem Juden Heine nicht bei. Man mitss seine Krankheit wie jede an-

Heiuricb Heine, der deutsche Jude, von Max Fischer, Verlag' Cuttu.

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dere an der Wurzel fassen und zunächst da untersuchen. Alle Heinebiographen verfallen in Heines eigenen Fehler und behandeln das .Judentum nicht als Religion, die ernstzunehmende Ansprüche sowohl an ihre Bekenner wie an ihre Beurteiler erheben darf, deren Nichtbeachtung sich an beiden rächen könnte, sondern als „Unglück", das man entweder ergeben hinnimmt oder mit mehr oder weniger Geschick und Recht loszuwerden sucht oder aber sie sind Stammesgenossen und weisen nach, dass er trotz Sinai, trotz Taufe ein „guter Jude*' geblieben ist. . Die Wahrheit liegt weder hier noch dort.

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Die exakte Wissenschaft.

Eine unwissenschaftliche Betrachtung von Hermann Cohn, Nürnberg.

Es wäre Zeit, eine Umwertung- vieler Werte in der Wissen- schaft im Nietzsche'schen Sinne vorzunehmen. Vor allem mit dem Namen. Wissenschaft ist die Lehre von dem, was wir wirklich wissen. Der Inhalt der Naturwissenschaften besteht aber zu neun Zehnteln aus unbewiesenen Theorien und Glaubenssätzen. Und wie wunderbar sind diese. So ist beispielsweise erst jüngst ein wichtiger, oder besser der wichtigste Glaubenssatz von der Ewig- keit der Materie und deren Atomen zusammengebrochen, nachdem das Radium bewiesen hat, dass auch die elementaren Atome in Elektronen zerfallen und letztere eigentlich nur konzentrierte Kraftzentren sind. Bis jetzt besteht noch 4er Glaubenssatz von der Ewigkeit der blinden Kräfte, welche nach ewigen, unver- änderlichen Gesetzen den Kosmos, wie er uns erscheint, geschaffen haben sollen. Wir wissen oder glauben zu wissen, dass das Univer- sum seit unzähligen Jahresbillionen besteht und anscheinend duich die von der Wissenschaft angenommenen Kräfte, wie Anziehungs- kraft, Zentrifugalkraft usw. gelenkt wird. Wenigstens lassen sich die meisten Phänomena des Universums einwandfrei nach diesen angenommenen Gesetzen erklären. Aber ist damit die Ewigkeit dieser Gesetze bewieseii V Durchaus nicht. Die Wissenschaft hat Grund zur Annahme, dass das Universnn) resp. einzelne Teile desselben tausende Billionen von Jahren brauchte, um sich von einem Urnebel zu Fixsternen oder Planeten, wie die Erde im jetzigen Zustande zu entwickeln. Setzen wir nun statt tausende Billionen tausende Trillionen von Jahren, das wäre weiter zurück in der Vergangenheit als die kühnste Phantasie Entwicklungszeit für das Universum beanspruchen könnte. Und auch dieser un- fassbare Zeitraum wäre doch nicht mehr als eine Sekunde gegen

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die Ewigkeit. Können wir nun Kräfte, die sich, wenn unsere Annahme derselben ül^erhaupt stimmt, für unsere Erfahrung eine Ewigkeitssekunde bewährt haben, als absolut ewig betrachten ? Htellen wir uns vor, dass eine verstandbegabte Amöbe, Bakterie oder Noetiluca (die das Meeresleuchten verursacht) sich in einem fc^isenbahnzuge befände, der ununterbrochen 5—6 Tage fährt, um von New-York nach San-Francisco zu gelangen. Diese mikros- kopisch einzelligen Lebewesen vermehren sich durch einfache Teilung so schnell, dass eine einzige in einigen Tagen tausende Generationen hervorbringt. Wäre es da nicht selbstverständlich, wenn die hundertste oder fünfhundertste Generation ihren Aufent- haltsort, den Eisenbahnzug, als eine Welt, die sich „ewig" nach derselben Richtung in gleichem Tempo weiterbewegt, betrachten würde? Denn unzählige vorhergegangene Generationen haben diese Beobachtung gemacht, und wahrscheinlich können noch unzählige nachfolgende Generationen diese Beobachtungen bestätigen. Ausser- dem würden diese Einzeller an etwa parallellaufenden andern Eisenbahnzügen das „Gesetz" der gradlinigen »ewigen" Bewegung bestätigt finden. Diese Analogie zeigt, dass die Berechnungen tausender Generationen, relativ betrachtet, noch keine Gewähr für wirkliche Ewigkeit beobachteter Gesetze sind*). Überhaupt ist es so eine eigeue Sache mit den blinden Naturkräften, auch abgesehen

*) Friedrich Nietzsche sagt in seinem Werke : „Der Wille zur Macht" 3. Buch § 552, in Bezug auf Causalität des Wirkens der Naturkräfte: „Dar- „aus, dass Etwas regelmässig erfolgt und berechenbar erfolgt, ergiebt sich „nicht, dass es notwendig ertolgt. Dass ein Quantum Kraft sich in jedem be- „stimuiteM Falle auf eine einzige Art und Weise bestimmt und benimmt, macht „es nicht zum „unfreien Willen". Die „mechanische Notwendigkeit" ist kein „Tatbestand : wir erst haben sie in das tieschehen hineininterpretirt. Wir „haben die Furmulirbarkeit des Geschehens ausgedeutet als Folge einer über „dem Geschehen waltenden Necessität. Abir daraus, dass ich etwas Be- „stiuimtes tue, tulgt keineswegs, dass ich es gezwungen tue".

Und Xietzsclie kommt zu dem Schlüsse ; „Die Notwendigkeit (bei den „sogenannten Naturgesetzen) ist kein Tatbestand, sondern eine Interpretation".

Ich habe diese Schrift von Nietzsche erst lange nach Abfassung meines Aufsatzes gelesen, und war erfreut zu finden, dass sich die Ansichten dieses grossen Denkers fast genau mit der Auffassung von d n' Nichtewigkeit der sogenannten Naturkräfte decken.

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von der Ewigkeit oder Nichtewigkeit derselben. Blinde Kräfte, d. h. intelligenzlose, oder solche ohne Bewusstsein, welche durch gesetzmässiges Wirken das ganze Universum mit allen darin ent- haltenen Lebewesen aufgebaut haben sollen und dasselbe forter- halten, sind für den logisch denkenden Verstand zwei sich gegen- seitig ausschliessende Gegensätze. Von welcher Seite man auch diese Begriflfe betrachten möge, man kann nicht darüber hinweg- kommen, dass wenn „blinde Kräfte" gesetzmässig handeln, die- selben durch irgend etwas gezwungen sind, nach Gesetzen zu wirken. Und nicht nur im grossen Weltenaufban wirken die Kräfte gesetzmässig, sondern wir können ihr planmässiges Wirken auch im Allerkleinsten, organischen und unorganischen, beobachten. ]

Eine Schneeflocke z. B., die nichts anders ist als ein in festen Zustand übergegangener Eegentropfen, fällt nicht als form- loses Klümpchen, sondern als wunderbar geformter sechseckiger Stern zur Erde. Wodurch nun werden die ,. blinden Kräfte" ge- zwungen, gesetz- und planmässige Arbeit zu verrichten ? Wenn ein kunstvoller Bau, etwa ein Opernhaus, errichtet ist mit seinen festen Mauern, seiner künstlerischen Ausschmückung, mit der genau berechneten Akustik; wird da irgend jemand glauben, dass die personifizierten ,, blinden Kräfte'" wie Ziegelträger, Maurer, Ver- golder, Tapezierer usw. durch zufälliges Zusammenarbeiten das herrliche Gebäude errichtet haben? Ist nicht vielmehr Jeder über- zeugt, dass in all diesen ,, blinden Arbeitskräften" ein von ausser- halb derselben kommender Zwang der Befehl des Architekten wirkte, welcher die einzelnen intelligcnzlos arbeitenden Kräfte dazu brachte, ein planvolles Ganzes herzustellen ? Ein Arbeiter schaufelte die Erde für das Fundament aus, ein zweiter legte Ziegel auf Ziegel, ein dritter machte Stuckornamente alle diese arbeiteten, ohne eine Idee zu haben, wie das Vollendete aussehen würde, ja wahrscheinlich ohne Idee, was für ein Gebäude das gäbe und was Akustik bedeutet. Um nun zu den sogenannten Naturkräften zurückzukehren, scheint da nicht auch die Frage be- rechtigt : Woher kommt der Zwang, dass die ,, blinden Kräfte" planvolle Arbeiten hervorbringen; mit einem Wort: Was oder wer ist die ,, power bebind the throne"? Diese Frage wäre ja unnötig, wenn die , .exakte Wissenschaft" und ihre Vertreter sich entschliessen

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könnten, anstatt der an innerem Widerspruch krankenden ,, blinden Kräfte" eine bewnsst schaffende ..Kraft" (Schöpfer) anzunehmen. Aber davor fürchten sich die Vertreter der „Wissenschaft" wie vor dem Feuer. Ich denke mit Unrecht. An Kräfte, deren Ursprung sie nicht erklären können, glauben sie auch. Anstatt nun aber dieser unbegreiflichen Kraft ,,bewussten Willen" zur planvollen Gestaltung des Kosmos zuzuerkennen, schreiben sie lieber die wunderbaren Gesetze, welche letztere geschaffen und erhält, der ,,unbewussten Kraft'* zu. Logisch ist das nicht; vielleicht aber fürchten sie sich, die Intelligenz einer ,,bewusaten Kraft" anzuerkennen, da sie dann zugeritehen niüssten, dass es noch eine höhere Intelligenz gibt, als ihre eigene.

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Ahron Marcus b'^.

Ein seltsames Znsammentreffen wollte es, dass Ahron Marens just in dem Augenblicke starb, wo Staat und Volk, jüdische und nichtjüdische Welt dem sogenannten Ostjudenproblem erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen beginnen. Wie die Grenzen be- schaffen sein und wo sie liegen werden, die fürderhin Ost und West zu scheiden berufen sein dürften, wie man die zehrende Sehnsucht der ostjüdischen Jugend nach der westlichen Kultur Tereinigen kann mit dem ängstlichen Sichanklammern des alten Geschlechts an die altgewohnten Formen des Lebens, wie man den Westen nach dem Osten tragen kann, ohne die ewig wertvollen Elemente des spezifisch östlichen Judentums zu vernichten : just in dem Augenblick, wo die Geister über die Lösung dieser Frage heftiger als je aufeinanderzuprallen beginnen, stirbt ein Mann, dem diese Frage niemals eine Frage war, der von der Minderwertigkeit des spezifisch westlichen Judentums so innig überzeugt war, dass er schon als junger Mann das nüchterne Hambiu'g mit dem romantischen Krakau vertauschte, stirbt ein Mann, dessen ganzes literarisches Schaffen dem Nachweis gewid- met war, wie unwissenschaftlich und überheblich der Anspruch des Neuen auf Unterjochung des Alten ist, stirbt Ahron Marcus.

Man kann darüber im Zweifel sein, ob das Können dieses Mannes immer gleichen Schritt zu halten wusste mit seinem Wollen, Seinen Schriften fehlt das, was grossen literarischen Denkmälern eigentümlich ist, die werbende Kraft. Sein Buch über den Chas- sidismus ist eine treffliche Materialiensammlung, die von uner- müdlicher Forschung und ausgedehntem Wissen zeugt, wer sich jedoch aus ihm über das Wesen des Chassidismus- belehren möchte, wird den Eindruck einer unentwirrbaren Wildnis empfangen, in der sich tiefe Erkenntnisse mit phantastischen Träumen mischen. Vielleicht lag aber auch hierin System. Die Absage an den Rationalismus involviert vielleicht auch den Abbruch mit seinen wissenschaftlichen Methoden. Wer über den Chassidismus aus

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iiiiicnT Übcrzcnsmif? uiul eigenem Erleben sclireibt, wird vielleicht eine andere Darstellungsform wälden müssen als Jemand, der ihn auf dem Se/iertiscli der westlichen Kultur kritisch zergliedert. Immeriiin steht es fest, dass es Ahron Marcus nicht gelang, üher einen kleinen Kreis von vSachverständigciL hinaus sich eine grössere Gemeinde von Schülern und Nachfolgern zu erwerben. Das ist umsomehr zu bedauern, als seine Schriften ihrer Tendenz und den Resultaten ihrer Forschung nach durchaus geeignet sind, den Respekt vor dem überlieferten geistigen Erbgut des Judentums zu befestigen und zu vertiefen.

Stand er aber auch in seiner Art einsam da, so ist es doch das Bild der einsamen Grösse, in welchem er seinen Zeitgenossen vorschwebte und auch weiterhin vorschweben wird. Denn Ahron Marcus gehört zu den w'enigen jüdischen Schriftstellern der Neu- zeit, deren Schriften man es anmerkt, dass ihre Verfasser ihr gutjüdisches Denken nicht erst auf dem Wege umständlicher Ge- dankenoperation sich erkämpft, sondern als ursprünglichen Schatz ihres geistigen Lebens in sich vorgetimden haben. Überall bricht in seinen Schriften eine warme Welle echter Gläubigkeit hervor. Ob er sich mit der modernen Entwicklungstheorie vom Standpunkt der jüdischen Wissenschaft auseinandersetzt oder Probleme der hebräischen und talmudischen Sprachforschung behandelt, ob er das Verhältnis zwischen Glauben und Wissen im Judentum er- forscht oder die Geschichte der jüdischen Traditiouslehre beschreibt: immer ist es der vom Geiste des Thorawortes erfüllte und nicht blos künstlich in die Grenzen des Glaubens sich einzwängende Literat, der „zu Ehren der Thora" die emsige Feder führt. Ahron Marcus hat so viel gewusst und geforscht, er war in so vielen Bezirken des menschlichen Denkens und Grübelns daheim, dass er gleich manchen andern Verfechtern der überlieferten Lehre in seinem literarischen Schaffen zu manchem Opfer des Intellekts sich hätte bequemen müssen, hätte er nicht zu den gründlichsten und ehrlichsten Kennern und Bekennern des Chassidismus gezählt. Was für^ Andere eine Vergewaltigung ihres Intellekts bedeutet hätte, das war dem treuen Schüler des ,, Rabbi aus Radomsk" ein natürliches Postulat des Glaubens.

Wir glauben die Grösse dieses Mannes nicht zu schmälern, wenn wir seine langjährige Zugehörigkeit zur zionistischen Orga-

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nisation als eine Verirrung bezeichnen. Denn wenn auch die Romantik des Zionismus sich äusserlich mit chassidisehen Emo- tionen schmückt, so ist doch der innere Zwiespalt zwischen Chas- sidismus und Misrachi so gross, dass nur die demagogische Ge- walt, die der Zionismus in seiner Frühzeit entfaltet hat, es erklär- lich macht, dass ein Mann wie Ahron Marcus über die politischen Harmlosigkeiten dieser Bewegung die unendlichen Gefahren ül)er- schaute, mit welchen sie das Judentum im Sinne des Chassidismus bedroht. Am Ende seines Lebens löste er sich leise vom Zionis- mus ab, vielleich weniger infolge einer| theoretischen ürteiisrevision als einer Enttäuschung über die greifiichen Resultate der Bewegung. Fest dagegen und unerschüttert bis zuletzt blieb in ihm der Kern seines geistigen und Gefühlslebens : die Liebe zur Thora und die Liebe zur östlichen Judenheit. Starb er nun im Augenblick, wo über das Schicksal der Thora im Osten die Würfel fallen, so kann nur die Zukunft lehren, ob dieser Tod ihm künftige Freuden ver- sagt oder kommende Enttäuschungen erspart hat.

R. B.

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Notiz

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Briefkasten der Redaktion.

Herrn N. N. Sie schreiben uns aiKniyni. Das ist nicht schön von llinen. Denn so oder so: haben wir die Liel)en8\vür(ligkeiten, mit welchen Sie ujis bedenken, verdient, dann haben Sie an uns die religiöse Pflicht der Zurechtweisung erfüllt und es ist nicht ein/Aisehen, w.rirun) Sie scheu und verschämt in das Versteck der Namenlosigkeit flüchten-, haben wir sie nicht verdient, empfinden Sie Ihre eigenen Worte als Bösrede, dann mussten Sie sich doch sagen, dass eine Bösrede nicht dadurch zu einem geringeren Ver- gehen wird, wenn man sie durch den Schleier der Anonymität ver- hüllt. Glauben Sie vielleicht, dass inD2 ]nD auch bei yin ]rz;b eine noble Gesinnung verrät ? Oder gehören Sie vielleicht auch zu jenen anonymen Jammergestalten, die in jetziger Kriegszeit so üppig wuchern? Dann bedauern wir lebhaft, Ihr Schreiben nicht ungelesen vernichtet zu haben. Denn wer in solch ernster Zeit, die eine Welt in Flammen sieht, gelaunt ist, seine kleinen Ge- hässigkeiten weiter zu pflegen, wer bei dem grossen Hassen der Zeit an seinen kleinen Hass nicht vergisst, der verdient es nicht, ein Genosse dieser Zeit zu sein. Offenbar gehören aber auch Sie zu jener Klasse von Zeitgenossen, die unter Burgfrieden die Fort- setzung der alten hasserfüllten politischen Kämpfe mit anderen Mitteln verstehen. Der Hass ist stiller, dafür aber auch heimtückischer und raffinierter geworden, und wo er früher mit blanken Waffen kämpfte, dort sucht er heute in anonymen Nadelstichen seine Be- friedigung. Natürlich gehen wir auf den Inhalt Ihres Schreibens nicht ein. Es war uns blos hier darum zu tun, unseren Lesern einmal kurz und klar zu sagen, dass Jemand, der namenlose Schmähbriefe schreibt, damit nichts heroisches, somlern nur eine namenlose Schlechtigkeit begeht.

== loyb 21C0 srii =— J U E D I S CM E

mONflTSHeFTE

herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kohn, Ansbacli. unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Saiomon Breuer, Prankfurt a. M.

Jahrgang; 3. Heft 5.

Sommerzeit.

Die meisten Zeitgenossen verbringen ihre Zeit, ohne zu ahnen, welch ein seltsames Ding doch der Begriff der Zeit ist. Wir denken hier weniger an die Rolle, welche die Zeit in der Er- kenntnistheorie spielt, als an die übermächtige Stellung, die sie im praktischen Alltagsleben einnimmt. Denn kann man auch nicht verlangen, dass ein von allerhand Sorgen und Kümmernissen ge- plagter Durchschnittszeitgenosse sich darüber den Kopf zerbricht, ob die Zeit eine Form des inneren Sinns, wie Augustin, oder eine Anschauung a priori, wie Kant, oder ein Produkt des Vorstellungs- mechanismus ist, wie Herbart meint, so muss doch schon Jemand ein von philosophischen Neigungen völlig entleertes Hirn bi sitzen, wenn er nicht wenigstens einmal darüber nachgedacht hat, wie komisch doch das Leben wäre, wenn die Menschen nicht die eigen- tümliche Gewohnheit hätten, ihr praktisches Tun und Las?en. ihr Handeln und Wandeln, ihr Schlafen und Wachen, dem Szepter der allgewaltigen Zeit zu unterordnen. „Obgleich, wie es scheint, es nur die Zeit, ein äusseres Mass des Lebens bestimmt, so ist es

130 Sommerzeit.

docb auf dies Leben selbst, mit dem, was in ihm geschieht und unterbleibt, von nicht unbedeutendem Einfluss, ob und wie die Menschen ihre Zeit zählen. -So lange uns das innere Mass unserer Handlungen fehlt, oder doch nicht überall in Anwendung klar ist, wieviel geschieht nicht nach diesem äusseren Mass und geschähe vielleicht nicht ohne dasselbe, „In solcher Frist sei das geschehen" ist Gesetzgebers Ausspruch, gleichviel, des äusseren oder des inneren im Menschen, des rüstig kräftigen Willens und „(lies geschehe alle solche Frist einmal und kehre mit ihr wieder!" Ja, lebten wir wie mit Uhrtriebwerk ohne Weiser, und zählten unsere Tage nicht, kein Zeitdenkmal und Zeitstift wäre wöglich, ein Tag wäre dem andern gleich, und, wie den Unter- nehmungen das äussere Richtmass fehlte, so fehlte auch die Be- stimmung der Tage, die, Zeitteile weihend, über die übrigen hebt, und in wiederkehrenden Zeitdenkmälern aui der Vergangenheit noch spätester Zukuntt Früchte reifen lässt. Ebensowenig ist's gleichgültig, wie wir unsere Tage zählen. Wären unsere Jahre kürzer oder länger, als sie eben sind, wie manches geschähe in dem einen Falle rascher, häufiger, im anderen Fall langsamer, sel- tener oder gar nicht. Ja, unser ganzes inneres und äusseres Leben, das Zählen selbt nur äusserlich und willkürlich genommen, wäre in einem Fall rascher im Umschwung, besonnen-schläfriger im andern!" Tief und treffend hat hier der Horeb 250) die Wir- kungen der Zeit auf unser ganzes inneres und äusseres Leben umschrieben. Die Uhr ist uns eine Begleiterin durchs Leben, die uns ein äusseres Mass als Ersatz für das fehlende innere reicht Sie ist das spornende und mahnende Agens, wodurch das, was ohne sie ein massloses Tun wäre, in eine zweckvolle Handlung verwandelt wird. Ohne die Uhr wäre das Leben leer und schal, ein graues Einerlei, ohne Farbe und Licht. Xur das Zählen der Zeit ermöglicht das Herausgreifen von einzelnen Teilen der Zeit, die, zu Festtagen geweiht, auch die übrigen Tage adeln und er- wärmen. Und was ist Geschichte anders, als ein sinnvolles Zählen der Zeit? Wenn noch der spätesten Zukunft die Früchte der Vergangenheit reifen, wenn unsere spätesten Enkel noch von un- seren frühesten Vorfahren lernen werden, so wird dieser Zusam-

Sommerzeit. 131

menhaiig zwischen Vergangenheit und Zukunft nur durch „wieder- kehrende Zeitdeukniäler" d. h. durch Veranstaltungen befestigt, die, wie unsere F'est und Fasttage, die Geschehnisse einer ver- gangenen Zeit im Gedächtnis der Nachwelt erneuern und beleben. Nehmt dem Juden seinen Kalender und ihr habt ihm seinen Ka- techismus vernichte^ Ja. auch nur eine Aenderung unseres Ka- lenders ginge nicht spurlos an unserem inneren und äusseren Le- ben vorüber. Denn nicht nur, dass wir unsere Tage zählen, auch wie wir unsere Tage zählen ist von Belang. Unseres Lebens Pulsschlag und unseres Handelns Tempo wird durch die Uhr, durch die Art und Weise, wie wir unsere Stunden, Tage, Monde und Jahre zählen, reguliert. So ist der Mensch von seiner Uhr nicht zu trennen. Auch Pflanzen und Tiere sind organische Geschöpfe, doch sie leben ohne Uhr, ohne Zeitbewusstsein, ohne Mass und

Ziel.

Es giebt sicherlich sehr viele Menschen, die erst durch die

Sommerzeit auf das Problem der Zeit aufmerksam wurden. Im Leben des thoratreuen Juden übt die Zeit ein viel zu straffes und umfassendes Regiment aus, als dass er je achtlos über sie hinweg- sehen könnte. Schon die pedantischen Synagogenzeiteu, 6^^, 9^^ usw., die noch strenger eingehalten werden, als es bei den Plänen der Eisenbahn möglich ist, unterwerfen uns unentrinnbar dem Kommando der Zeit, und nur in den Kreisen der Chassidim wird diese Kommandogewalt der Gebetszeiten als synagogaler Militaris- mus bekämpft.

Wie komisch ist doch die Zeit, wie komisch sind aber auch die Menschen, die sich ihr unterwerfen ! Wäre es nicht viel ein- facher, statt den Uhrzeiger eine Stunde vorzurücken, die Uhr zu belassen, so wie sie ist und einfach eine Stunde früher aufzu- stehen und mit der Tagesarbeit eine Stunde früher aufzuhören ? Doch nein, nur dann erheben sich die Menschen um 5, und nur dann hören sie auf zu arbeiten um 6, wenn die Fiktion geschaffen wird, um 5 sei es 6 und um 6 sei es 7. Wir lassen uns gerne von unserer eigenen Uhr betrügen. Es kommt uns viel weniger auf die Dinge selbst als auf die Vorstellung an, die wir uns von den Dingen bilden, hi diesem Selbstbetrug liegt die Komik der Sommerzeit.

132 Sommerzeit.

Die Erfinder der Sommerzeit sind nicht wenig stolz auf ihre Erfindung. Ob sie ahnen, wie wenig originell ihre Erfindung ist ? Von Eingriffen in den normalen Ablauf der Zeit erzählt uns schon die Bibel. „Damals .redete Josua vor dem Herrn am Tage, da der Herr hingegeben den Emori vor den Kindern Israels ; er sprach vor den Augen Israels: Sonne, stehe still in Gibeon und Mond im Tale Ajalon ! Und es harrte die Sonne und der Mond stand still, bis sich gerächt das Volk an seinen Feinden. . . Und die Sonne stand still in der Mitte des Himmels und eilte nicht zum Untergange wie am vollen Tage. Wie dieser Tag war keiner zu- vor und keiner nachher, dass der Herr der Stimme des Menschen gehorchte, denn der Herr stritt für Israel." (Josua 10, 1 •? 14) „Hiskija fragte Jesaia: Welches ist das Zeichen, dass der Herr mich heilen wird und dass ich am dritten Tage in d;is Haus des Herrn hinaufgehen werde ? Jesaia antwortete : Das sei Dir das Zeichen vom Herrn, dass der Herr das tun wird, was er gespro- chen : soll der Schatten (der Sonnenuhr) zehn Stufen vorrücken, oder soll er zurückgehen zehn Stufen? Hiskija sprach: Es ist ein Leichtes, dass der Schatten zehn Stufen falle-, nicht doch, der Schatten kehre rückwärts zehn Stufen. Da rief der Prophet Jesaia zum Herrn, und er liess umkehren den Schatten an den Stufen, wo er hinabgerückt war an den Stufen des Achas, rückwärts zehn Stufen." (Kön. 20, 8 11).

Wie eine stümperhafte Nachahmung dieser biblischen Wunder mutet uns heute die Sommerzeit an. Was wohl die Menschen heute unternähmen, wenn sie nicht blos die Uhr sondern auch die Sonne regulieren und korrigieren könnten ? Sicherlich würde sie gleich dem freien Meere ein Streitobjekt nationaler Ambitionen werden. Seien wir darum froh, dass die Sonne ein Jenseitskörper und nicht ein Bestandteil unseres Planeten ist.

R. B.

Zur Lehre vom Zwange als Schuldbefreiungsgrund 138

vor dem Kichtercollegium.

Zur Lehre vom Zwänge als Schuldbe- freiungsgrund vor dem Richtercollegium.

Der Aufforderung in dem Autsatze des Heftes I, Jahrgang 3 Seite 10 folgend, soll das Folgende dargelegt wenlen :

Maimonides V, 4 rmn~ niC folgert aus dem Satze ]Di< ''IH')

steht dort drei mal im Sinne des WinJ min, dass eine Executi- onsstrafe durch ein Richtercolligeum, sei es 39 Schläge sei es die Todesstrafe, nur dann erfolgen kann, wenn der Täter, ebenso wie hei jener Handlung, bei vollem Bewusstsein ist. Wenn ihm aber das Bewnsstsein der Schuld fehlt ::v^, wenn er unter Zwang handelt Z1:k, oder wenn er im Irrtum befangen eine Schuld dort nicht sieht, wo sie die Thora statuiert nytDI/D, dann muss die Verurteilung durch das Richtercollegium entfallen. Maimonides motiviert dies wörtlich ni^^nni D^"1J;D1 i:iii"i3 l^^V^ abn pn^CDI ypbr2 ]^N*2', er ver- langt als drei Bedingungen zur rechtsgiltigen Execution durch menschliche Richterhand: 1. einen freien Willen, 2. den Beweis» durch Zeugen und 3. eine Verwarnung. Diese Verw^arnung be- handelt er ausführlich in XII, 2 piin;D '^D, es muss dem Täter die Strafe unmittelbar vor der Tat vorgehalten werden und der Täter muss expressis verbis zugegeben haben, dass er die sünd- iiatte Tragweite der Tat wohl kennt und „diese dennoch tut", in- dem er sich der Todesstrafe durch das Gericht anbietet Dnnnn riiTD^ ^D)iV "1^■^~ -i- ^vie der technische Ausdruck lautet.

Bei Handlungcu, die unter Zwang erfolgen, fehlen nun nach Maimonides nicht nur eine der obigen Bedingungen, sondern deren zwei: inwiefern auch die dritte, der Zeugenl)eweiss, hier leiden müsste, da ein Zwang bei Anwesenheit von fremden Personen kaum möglich wäre, und wenn er dennoch vorhanden war, er dann ohne jeden Zweifel als Exculpierung dienen müsste das soll hier nicht weiter erörtert werden. Sicher aber fehlt bei einem Zwange immer : der freie Wille und dazu die rechtsgiltige Ver- warnung. Das letztere wird von den Kommentaren angeführt : a. a. 0. XX, 3 1d"d, 1D nnn i^b^ ^NHI j^'l^^'Z'C und ist auch im

134 Zur Lehre vom Zwange als ScbuldbefreiungBgrund

vor dem Ilichtercollegium.

Texte des xMaimoiiides genau ersichtlich; die Logik besteht walir- sclieiiilich darin, dass der Gezwunjrene auch nicht im Staude ist, eine rechtsgiltige Verwarnung entgegenzunehmen, da auch dieses unter Zwang erfolgen würde: mit dem Entfallen der rechtsgiltigen Verwarnung muss aber eo ipso auch jede gerichtliche Execution gegen den Täter entfallen.

üer freie Wille kann nun auf zweifache Weise gestört wer- den : physisch und psychisch, denn der freie Wille zur Tat kann entweder unter Zwang zur physischen Leistung gestellt werden oder pyschisch kann dem Täter die freie Beurteilung über die moralische Seite seiner Leistung benommen werden. Ersteres wird der Fall sein bei D'ON, letzteres bei nVülD. :JV^. Um aber dem Letzteren, das ist auch dem geringsten Zweifel über das Fehlen der jjsychischen Uebereinstimmung mit der vom Strafrechte ver- lanjiten Absiclit zu begegnen, ist eben die angeführte Verwarnung statuiert worden: der Täter muss „sich dem Tode anbieten" "i^nn ~r\^i2b "iciij?; das heisst psychisch unter Zeugenbeweis stellen, dass er eine Schuldabsicht beim Begeben der Tat hatte. Soweit Mai- monides.

Rabbi Moses Kohen, der "l"D"l, hat hier nun eine andere Auf- fassung. Aus den Worten der Mischnah NTl IT "'■^VDb }^)iV ~iyiDn üOb ]"'"nn;D -irniDV deduciert er, dass bei einer erlolgten Verwar- nung, selbstverständlich mit der gesetzlich erforderlichen Accep- tierung der Verwarnung durch den Täter, all jene oben von Mai- monides angeführten Executionsausschliessungsgründe entfallen : denn eben diese Acceptierung hebt sowohl den psychischen, wie den physischen Entschuldigungsgrund ganz und voll auf, so dass dann eben die Execution durch das Richtercollegium, die 39 Schläge, event, die Todesstrafe zu erfolgen habe.

Der Gegensatz dieser Auffassung zum Ausgangspunkte des Mairaouides, da dieser doch auf einem Thorasatz beruht, wird auf folgende, direkt modernes Denken ' vorausahnende Weise aufge- hoben : Jener Thorasatz handle nur von der himnilisehen Todes- strafe, dem mD, bei dieser exculpieren die von Maimonides an- geführten Momente ; aber die Beurteilung, ob diese Momente ge- geben sind oder nicht, ist nicht Sache des Richtereollegiunis,

Zur Lehre vom Zwange als Sehuldbefreiungsgrund 135

vor dem Richtercollegium.

sondern eine Sache Gottes, des Richters und Allwissers, und Er wird wohl wissen, ob diese Entschuldij^ungen eintreffen oder nicht V, 4 n-i\nn n^c^ d"^ o}^'? dn -v^^^ü «in dn i?iv '-i^n^ Nim Sollte durch eine nicht ganz entsprechende Verwarnung dennoch das Schuldbewusstsein vorhanden gewesen sein, so wird auch diese Erschwerung Gott und nur Er zu beurteilen wissen. Wenn aber eine rechtsgillige Verwarnung vorhanden ist, wie das den Menschen bekannte Gesetz es vorschreibt, dann hat, ohne jede Rücksicht- nahme auf die nebenlaufende göttliche Bestrafung ob diese nun dennoch folgt oder nicht das Richtercollegium einzuschreiten und die entsprechenden Strafen zu verhängen, nach dem mensch- lichen Ermessen.

Nach Vorausschickung der obigen Darstellung, die andeutungs- weise in VII, 8 pin:D ,DVl3 DV niDCin enthalten ist, soll nun den Ausführungen des genannten Artikels gefolgt werden, und zwar nach dessen Einteilung :

1 Talmud, Maimonides und Remach und alle Autoritäten nehmen an, dass die geschlechtliche Handlung seitens des Mannes, des bv^l, die sogenannte Erection nur freiwillig eiTolgeu kann, und zwar unter voller physisch-psychischem Freiheit des Mannes. Ein äusserer Zwang, könne niemals eine Erection bewirken, er könne weder die physische Erection veranlassen, »loch psychisch den Mann 7A\ einer Erection bringen. Dieses einmal vorausgesetzt, muss gesetzlich immer der freie Wille als vorhanden angenommen werden, wenn eine geschlechtliche Schuld auf seifen des Mannes vorliegt. Das wird technisch mit nVl'r N'^N '^^^p TN bezeichnet und ist eine logisch ganz sichere Folge aus der angenommenen Vor- aussetzung I, 9 HN'^D mc^{< 'b~, daselbst d"d. Ist aber Hie Erec- tion einmal da, auf eine nicht als Schuld zu bezeichnende Weise, dann folgt alles weitere der Geschlechtshandlung den bei allen Taten normierten Bedingungen d. h. dann ist ein psychisch'^ und eine physische Beeinflussung der Tat möglich, und dies i;ilt dann auch als Exculpieruug. "in^HD ni^'pnr^ ]V2, a. a. 0. D^'r2, der den 'l"DNn erklärt.

2. Die Institution des D^V^ bii) JiD"' ist ganz aut den Zwang aufgebaut; aber die dort von Maimonides angeführten Bestimmungen

136 Zur Lehre vom Zwange als Schuldbefreiungsgrund

vor dem Richtercollegium.

gelten auch sonst überall, wo ein Zwang in Betracht kommt, wie es Mairaonides ausdrücklich anführt V, 4 rninn mo"'; dasselbe gilt übrigens auch nach der Ansicht des Rabbi Moses Kohen.

Nun wirft der Kesef Mischnah die Frage auf, warum denn bei der Geschlechtshandlung des Mannes ny-^ {<^i< ^^^p ]'N die ExecutioQ v.tn Maimonides zugegeben wird, dagegen beim Zwange des "iiDJ?"" ^N1 J"iri'^ verneint wird. Er erklärt es damit, dass die volle ganze Handlung, die unter Zwang geschah, eben von Anfang bis Ende erzwungen ist, so dass auch nicht das geringste Schuld- moment gegeben ist, während bei der Geschlechtshandlung, zu mindest der Anfang, die Erection, die '^V^p. nur unter voller ge- setzlich zur Strafe hinreichenden Freiheit des Täters erfolgt sei XX, 3 pin:ic 'bn D"D, er also dafür die Execution zu erleiden habe, Wenn aber dieser Anfang, die Erection, die ""l^rp, ohne Schuld erfolgt war, dann liegt mehr kein Unterschied zwischen Geschlechtshandlung und anderen Taten vor, und der Zwang gilt als voller Exculpieruugsgrund. Vgl. oben nr^'O Vj'2^ "l"DNn (Diese Teilung der Handlung seitens des Kesef Mischnah hat eine teilweise Begründung in dem zusammenhängenden Texte des Mai- monides, der a. a. 0. für die Frau in contrario die Geschlechts- handlung in Anfang und Ende teilt um auch sie auf diese Weise vor einer Execution zu beschützen ]iüiD iCiDI c:"i}<D nn^nn, jedenfalls ist dieser Ideengang in unseren Rechte vorhanden). Dagegen ist in den Worten des r2"D von einer Teilung zwischen einer Zwangsvorstellung vor der Tat und einer Zwangshand- lung keine Andeutung vorhanden; die Erection ist auch nicht eine Folge der vorangehenden Vorstellung, sondern der gleichzeitig vorhandenen psychischen Erregung.

8 Ein D^~ '^l^n ist im Gegensatze zur Auffassung des Ar- tikels auch ohne Verwarnung nach der Autfassung des Maimonides gegeben ; die Zeugen kommen ohne diese Verwarnung nur wenig in Betracht, denn die Anwesenheit fremder Juden ist doch be- grifflich schon bei einem D"'D"ID c^n 'pi'pn gegeben, da die Publi- cität durch Anwesenheit von Juden bei der Tat ein Bestandteil der ganzen Institution ist.

Zur Lehre vom Zwange als Schuldbetreiungsgruud 137

vor dem Kichtercollegium.

Eine Verwarnung ist aber bei dem Falle des "IDV ^N*l Jin"' auch begriffsmässig nicht vonnöten. Denn die Verwarnung soll doch nur einwandfrei feststellen, dass der Täter die Tat mit vollem Bewusstsein von der Straf höhe begangen hat; dieses ist aber schon durch die Umstände dieser Institution gegeben, denn die Weigerung des Täters die Tat zu begehen, wäre ganz überflüssig, wenn dem Täter das Schuldbewiisstsein fehlen würde. Nach Maimonides ist dies so selbstverständlich, dass der Kesef Mischnah sagt ir\ü^ XX. 3 -imn mc^ OD nnn ab^ ^nl^ Nto^tt'c inicoN^t' nny^, selbst- verständlich wurde hier der Täter nicht verwarnt ; wobei dieses freilich nach der maimonidischen Auffassung im Sinne der obigen Ausführungen auch nur wenig gerichtlich massgebend wäre.

Dagegen würde eine Verwarnung in der vorgeschriebenen Weise nach der Auffassung des Rabbi Moses Koben hier eine ge- richtliche Execution veranlassen, es müssen also Anrede und Ant- wort, zumindest von diesem Standpunkte aus, hier erörtert werden. Diese würden dann beiläufig lauten : Wir, Zeugen, machen dich, Täter, aufmerksam, dass die Handlung, zu der^du jetzt unter Todesandrohung gezwungen wirst, von unserem Gesetze mit der Todesstrafe belegt ist. und dass du mit dem Tode vom Gerichte bestraft werden wirst, wiewohl du sie unter Zwang begehst, da es deine Pflicht ist, den Tod zu erleiden und die Tat nicht zu begehen. Worauf der Täter antworten müsste : Ich tue die Tat dennoch, im vollen Bewusstzein des von euch Gehörten. Dieses Letztere, die Acceptierung der angedrohten Todesstrafe seitens der Zeugen nn^O^ }t2)iV "i\in ,nNnnn b^p ,D Dnnnn ist die Haupt- sache bei einer Execution ; vgl. 40 b ]n"in:D Nn"'"'"i2 und Raschi- kommentar daselbst.

4. Nun kommt die Auffassung des Maimonides in der Feor- sache aus der wie schon gesagt Rabbi^Moses Kohen seinen gegen- sätzlichen Standpunkt zu Maimonides deduciert Maimonides be trachtet den Tä^er in diesem Falle als nVt3"i?D, unter einem Irrtume handelnd, und schliesst deshalb eine jede Execution durch Richter aus. Auch eine Verwarnung würde hier nach Maimonides nicht viel helfen, denn, wie schon beim Zwange hervorgehoben wurde,

138 Zur Lehre vom Zwange als Schuldbefreiungs^rund

vor dem Richtercollegium.

macht seiu Irrtum den Täter auch immun gegen die Verwanninji; vom gesetzliclien Siandpunkte aus : er kann die Tragweite der Verwarnung nicht erfassen, weil er eben im Irrtume sich befindet nach der maimonidisclien Auffassung.

Anders, nach Rabbi Moses Koben, nach ihm ist eine Verur- teilung in diesem Falle möglich, und eigentlich direkt von der Mischnah 60 b piniD angeführt. Es muss also auch hier die Form von Anrede der Verwarnung und Antwort möglich sein, und sie würden beiläufig lauten: Wir, Zeugen, machen dich, Täter, auf- merksam, dass wenn jemand IIVD*? '^ü)iV lyiD, dann macht er sich der Todesstrafe schuldig, auch wenn er mit der Anbetung die Al)- sicht verbindet, dem Peor seine Verachtung durch diese seine Handlung auszudrücken. Worauf er antwortet : Ich tue es den- noch, weil ich mit der Anbetung die Absicht der Verachtung verbinde.

Diese Darstellung klingt nun ganz anders als im citierten Artikel, sie ist aber belegt durch N"::^inD ,64 a piniC mccm l'^bm yi^'in^ ^di^ d^'^ih msDin ,V, 4 min- ^-iic nri^D □n'^ VII, 8 piiniD. Denn würde der Täter seine Tat mit den Worten „Will ich denn dem Baal Peor dienen ? ich will ihm nur meine Verachtung kundgeben, das kann mir die Thora unmöglich ver- bieten wollen" beginnen, dann wäre er auch nach der Auff'assung des Rabbi Moses Kohen straffrei, denn dann liegt gar keine straf- bare Absicht vor, es ist nichts da, das bestraft werden soll; einen solchen nj?t3"lO exculpiert auch die Auffassung des Remach.

Dagegen ist die Execution nach dem Remach vorzunehmen, wenn die Tat mit Verwarnung in der von uns angegebenen Weise erfolgt war ; nach Maimonides ist der Täter aber auch dann von der Execution frei, weil eben ein schuldfreies Moment mitläuft und zwar die nebenlaufende Absicht, die Verachtung dem Götzen aus- zudrücken. [|\TDDi:'] ]D iDic irN d"j; [D"DDnnJ i;^D"n sagt der Lechem Mischneh von Maimonides inbezug auf diese Ansicht des Remach.

Hier von einer Zwangsvorstellung zu sprechen, geht schon deshalb nicht an, weil es doch keine geteilte Vorstellung gäbe, die Hauptabsicht liegt aber hier in der Anbetung, der Irrtum durch die

I

Zur Lehre vom Zwange als Schuldbefreiungsgrund 139

vor dem RichtercoUegiam.

mitlaufende Verachtung ist keine so decidieite Vorstellung, dass diese als Zwangsvorstellung der ganzen Tat als Zwangshandlung entgegengestellt werden könnte. Vgl. a. a. 0. D'^b.

Und nun kommen wir zum Öchluss, und zwar zur Erklärung des Stelle des Kesef Mischnah, die mit den Worten DX'Z' ^''D^ beginnt. Maimonides behauptet im Texte nach seiner Auffassung. dass bei der Institution des "nDV b{<1 .inn"^ der Täter straflos aus- geht. Der Remach widerlegt dies nach seiner Auffassung, dass bei einer rechtsgiltigen Verwarnung die Todesstrafe hier in Exccuthui komjnt. Nun will der Kesef Mischnah die Einwände des Reniaeh entkräften, und er sagt, dies sei eine contradictio in adjecto, dann wörtlich : We n n der Täter die Ve r w a r n u n g a c c e p t i e r t hat (d. i. wenn er sich nach der Verwarnung der gerichtlichen Todesstrafe unterworfen hat wie es oben in der Anrede und Antwort angeführt wurde) dann begeht er doch die Tat aus freiem Willen und ohne Zwang ; und wenn er sagt, dass er dennoch den Götzen dienen will, weil man ihn zwingt (d. i. nicht direkt seine Absicht kundgiebt, die Todesstrafe zu accep- tieren , also in dieser Beziehueg keine Sicherheit vorherrscht) dann ist er doch eben ein unter Zwang stehender und kein frei" williger Täter".

Durch den Mangel der Feststellung des Schuldl)ewusstseins in dem letzteren Falle kann daher der Täter höchstens zu einem Opfer als Sühne veranlasst werden ; ganz konform der niainioni- dischen Auffassung, die in der Peorsache höchstens ein Opfer des Täters vorsieht. III, 5 D"iDV nn'?".

Das Ergebnis der Erklärung des Kesef Mischnab stellt sich also folgendermassen dar :

Der physisch vorhandene Zwang bei der Institution des :"in'' "nDy bxi und der psychisch gegebene Irrtum bei der Peorsache werden von beiden Auffassungen, des Maimoeides und des Rabbi Moses Kohen, gleichmässig behandelt da sie eben auch von dem Thorasatze gleichmässig behandelt werden. Und zwar: ii}7]n

nytsiD üb} ::}Z'' nSi m:^ üb\

Nach Maimonides ist eine gerichtliche Execution in beiden Fällen ausgeschlossen, höchstens ist eine Verpflichtung zu einem

140 Zur Lehre vom Zwange als Schuldbefreiungsgrund

vor dem Richtercollegium.

Opfer möglich, ebenso VII, 8 pin^D Nni:tD-iDD V""); nach Rabbi Moses Kolien ist die Todesstrafe als Strafexecutioii zulässig, ebeuso 60b imrijD ''"li'i; nach dem Kesef Miscbnab in dem sog, „frag- lichen Satze" würde auch Maimonides die Execution der Todes- strafe bei der Institution des "112^ "^J^l J"in^ zugeben, wenn eine rechtsgiltige Verwarnung^ möglich wäre wie sie der Remach als gegeben annimmt. Vorausgesetzt, dass eine solche rechtsgiltige Verwarnung möglich sei, das heisst, dass dies nach der maimoni- dischen Auffassung von der Verwarnung zulässig ist. Dann würde aber diese Handlung aufhören, dem Begriff der Institution "tni JI"'' "nDV nach Maimonides subsumiert zu werden, weil er doch, wie oben angeführt, keine Unterscheidung zwischen der Einwirkung des Zwanges oder des Irrtums auf die Verwarnung und jener auf die Handlung kennt, und diese dann auch auf die Verwarnung aus- dehnt, wenn sie nur bei der Tat gegeben sind. Im Gegensätze zum Remach, der eben diese Unterscheidung für gesetzlich möglich und zulässig erklärt,

m, w. r, t.

Dem Kern des vorstehenden Autsatzes, dem Einwände näm- lich, dass unsere Darstellung des ini^DV Hl '^"in DV^b iDüV "iVIDH der Auffassung von 'Dlfi widerspreche, begegnen wir durch einen Auszug aus dem D^TI flllfl zu Sanhedrin a. a. 0. :

^^M2b i<bi^ ]'^))DDp i<bl J?D'Z'D N^'^i^ ,p VD^D ]wbri p«i Nin .dmidh

n'?« ^^^Düp mn ab n^:D dii ,n^:D ziii nidiv n'^y ^n-'^oi nyi .-iDwSp

im ,]^n^:nDo \n^^^ ü^n-i "»no -^jn M^h \si -^:d 3-11 ü^dm ^^itd^ n^n

rn^^vb in:TiD ^ni .nmo^ i<^H niDiyb in:iiD nn ,nmN m]^^ in^iiD nmD2 nmin^T niDiy^ piDn^ii' bna ,r^2^vb ahti nniiD^ "in:niD r{< nn

j

Zur Lehre vom Zwange als Sehuldbefreiungagrund 141

vor dem RichtercoUegium.

miDV 1^1 n^n pi:' in3:i:^ bv p-ip D^^ni -n^D D^^n id nnn dni ohidv ni^ü: riD^vb ^b n'^n}> omnb ]))Dr]D) ,i-j3 iduj? nyio niyc '^jjd

vn D^vivi :i"VN in HTu nDyir din n^n n^ d^ivd an^iNi im« ]^Dbpü «^n nm^v imo'? ]ion: i'i'^cn^' j^d'^'n omiDb N^i< ]ion: n^t mrp n^ihb'

jpnB'D ü"iDyn ^d vm ^:np p':'^ n^^^ic nooi xn^nDDi •in^j^:' ^y p^p in iD^v^iin^ Nin^ D^yiv vn'^ vd^d 'idi gin n^n xb G^iyo d^idi«i api :i"y{<i n^b ilj^di pn iidd'? "im "iddi nyio ntt'iD D-n -v^y Tpntr'D •mjrz^ ^y ]D-ipi HN^nnD nn^'o D^^m imiDy nr nn ^^in^i h^djid^ poD T"y nniyn : d^ jhd^ iS"y niD^no ^'dd ^'t a'PDnn ^did yott'D pi IN nr\V2b ^iD iiys'? iDiiy "lyion iü^d D^^n i^td im ni^'y }b^Di<-) hdi-id by ]3ip i<^3Di n^^n 1D3 in-iiDyi b^^m nmo'? "»id D^Sipnob pt^ pii in^^no 'Z'iDD i:^D-ii Nin nh^^d im ni ':?y nitro f^cDn dhd^' nai -in^ji:; nytoiD Nm ni^'CN ^{< n':'VD r:y':'i i^inn ib^xn n^j^n Dvn r:y^i .iiik^d «cp\s*b y'T D"DDnn ny- by nby n't n'^iyo ^«nn an dmidh viii ,Nin ^iriiD^ ^JDpn iiyo'? iDüy nyicm {<in -D^oyto noDO -Npin :)Ji::'d in^^ns •n^-^D -i^TDDi j^oVn N"y "iDiym i^^po^n ]n i^x ^:npn ONp '^^y^i ]n^:n?3 ^\D^ ■>n^\s i^idd 'idi myo^ ^mv nyion "^inpi n^D^j in^jncn '\D)b ^^ in^D Nnb N^s noNp n^Dij ]iT3nDb in^ jjiir'D ]n^:nD^ ^^idd irnm dhd'Z' •iDi^p ^^^i2b pnDD t^D"i y'yNi ]iT:inon n^by d"::' iDupi

nyiDnn nuDp ^t^ 11:^0: noi i^td^ :iji^ p P^nb Nn^D p^n nyi •nyit^n ijb} o^Sy ibDpo «in ninn N^n nmny ^^itz^ rv,DD xpi niyo'? iDiiy Nim n^y^ ah^ d mnn DvX ]d gn ,n{<ün D^^n N^n niiny i^bi iddi iDüy miDy ii<b ^^)ub piDO DN- "iDcp ^ni .d^^h'p ^d: niTD nt^yi n^itt'n ab »riNton 3'^n ^ndj« j:::' qn ]d Gi< ,d iinn gn nn^o G^^no {<':' id^t N^n .in^i^ Qipo bGD ,iGG iGy:;i y'yi^i .^^itgS piGn:! |vd ,gi^d nry ^s^ xm .iGi o'^yn by n"?« n^tan ]\s^2D i^ni ,]V]2b ngi-i« n^.s ]iiddp nnzy^ in^ ■piD pjy'i t^pn jiTjnQi G"GDin'? ^'d ^ni myi m^o n^ro a^y: n^ \sn"i bv ]2ip N^^Gnb G^^n 1GG in-iDyi b^j^in zod^d':' n^b mn p qn .n-"^« G^^n in:^j ''b^D nnn yo^o 'm pnp «^dct G^^n ghdi xn'Z'n ^Gt< ,^d:w f]ü injjtt' ^y pnp {«{^ddi n^nini:' nci •\-i::t:' ^y pnp n^ddi ,tv22 nr?D i:w2 n-i^Ni nriD Gm «iGiy nby "^n^^on gi^'o ir^n ,Nin Nio^'^Dn gj ^y iDi'^ n-in .Nono G^^n gogi y'y«"i •o::' n:^D ^Iogg '^^y n^'i^n Gvn p:y^i

142 Zur Lehre vom Zwange als Schuldbofreiungsgrund

vor dem Richtercollegium-

nmy n^ ncD idd pnc imxD n^^Tnir ]^2^^nn b^ nx::'i N*^?:n ,nn^D D^^n

n«"i^Di nDHNO d^::did "Diy i'^^dn nh mDmnn d'^^v pinc i:i:'Tctt' N*?« p nii'iy. lyNtt' ]VD imiD^D vbv i?2pD 'i:\'<^ Gnn ^i^tc ,j<D^b "nüD \^o:: ,iSin ]Vt2 ~-n mnny 'pdt ]1"'d kd" b^iS ohntd in din r\2nab •V'-n H'^^2üi NiDiVD VD'Z'DiD v^y ^b2pr2 ^^hd'? i^Dopi Aus dieser Darlegung des D^TI nmn wird der geehrte Herr Verfasser unschwer erkennen, dass jene problematische Tossafotii- .stellc durch die Konstruktion des BegrilTs einer Hauptabsicht und „nebeiilaufenden Absicht" durchaus noch nicht geklärt erscheint, sodass wir mit unserer Darstellung des fraglichen Mischnahsatzes nach \Yie vor im Recht zu sein glauben.

R. B.

Eine Rabbinerversammlung. 143

Eine Rabbinerve^sammlung.

Einem ausführlichen Berichte der „Deutschen Israelitischen Zeitung" in Regensburg entnehmen wir folgendes :

Der Rheinische Rabbiner-Verband hielt am 30. Januar die. ses Jahres eine K^egstagung ab. Das erste Referat hielt Dr. Rosenthal aus Cöln über jüdische Gefangenenseelsorge. Nach der Mittagspause berichtete Dr. K a h 1 b e r g aus Halle (als Gast und Vertreter des Mitteldeutschen Rabbinerverbandes) über die Verhandlung dieses Verbandes auf den jüngsten Tagungen in Halle. Die wichtigsten Ergebnisse waren: 1. Die Gründung einer Zeitschrift für die rabbinischen Interessen soll mit allen Kräften angestrebt werden. 2. Im Zeichen des Burgfriedens sollen die deutschen Rabbiner ihre früheren religiösen Streitigkeiten vergessen und zu einer dauernden Einigung zu gelangen suchen. Zahlreiche gemeinsame Bestrebungen, z. B. die höhere "Sabbathweihe im ge- werblichen Leben und vieles andere können die Brücke bilden. Der Mitteldeutsche Verband glaubt nach den ersten Verhandlungen mit der Vereinigung gesetzestreuer Rabbiner eille weitreichende Vcständigung erwarten zu dürfen. 3, Der allgemeine Rabbiner- verband sei aufzufordern, baldmöglichst eine Tagung zur Er- ledigung dringlicher Angelegenheiten einzuberufen, auch seinerseits die Vorarbeiten für eine Verbesserung des Judengesetzes von 1(847 in die Hand zu nehmen. Dem mit lebhaftem Beifall auf- genommenen Bericht folgt eine in die Tiefe gehende Aussprache. Dr. Jacob führt aus: Der Znsammenschluss soll nicht in dog- matischer, sondern vorerst in praktischer Hinsicht gesucht werden. Nachdem durch das Zusammenwirken konservativer und liberaler Rab])iner der Versuch, die Hörigkeit der Rabbiner in einem neuen Judengesetz zu verewigen, zu Fall gebracht worden ist, haben die Rabbiner die Aufgabe, die Neuregelung der Verhältnisse der Juden, besonders in Preussen, auf eine neue Grundlage zu stellen. Der Standpunkt der gegenwärtigen Wortführer, insbe- sondere der politischen Kommission des Verbaiides der Deutschen Juden, ist noch der mittelalterliche, der nur eine ü dische Re chtsgemeinschatt anerkannte. Der unsrige miiss den Charakter der Religions gemeinde hervorheben, und dem Rab-

144 Eine Kabbinerversamralung.

biner wieder das seit einem Jahrhundert entzogene Mit- bestimmiingsrecht der inneren Ausgestaltung des reli- giösen Lebens gesetzlich zurückgewinnen. Dazu ist da8 Zusammenwirken aller deutschen Rabbiner erforderlich und kann erreicht werden, wenn die extremen Elemente rechts und links sich selbst überlassen und ferngehalten werden. Ganz derselben Ansicht ist Dr. Samuel. Die grösste Bedrohung des Judentums erblickte er zur Friedenszeit in der sogen. Trennungsorthodoxie. Dagegen steht einer Verständigung zwischen konservativen und liberalen Rabbinern nichts im Wege, sobald man sich beiderseits der unend- ichen F'üUe des Gemeinsamen erinnere, und wohlerworbene abweichende Ueberzeugungen zu dulden und zu ehren bereit sei. Die dargebotene Hand der Liberalen anzunehmen empfiehlt mit kräftigen Worten Dr. II a n o v e r ; von liberaler Seite ist Dr. T a w- rogi ein warmer Fürsprecher der Versöhnung mit den konserva- tiven Amtsgenossen. Einstimmig wird folgende Entschliessunü: an- genommen : „Der Rheinische Rabbiner- Verband nimmt mit leb- hafter Genugtuung Kenntnis von den Verhandlungen des Mittel- deutschen Rabbinerverbandes, erklärt sich im wesentlichen mit dessen Bestrebungen zur Herbeiführung des religiösen Friedens ein- verstanden, wünscht diesem den besten Erfolg und wird sie tat- kräftig unterstützen."

Hierzu bemerken wir : Dass in weiten rabbinischen Kreisen. Deuts .'hlauds das Bedürfnis nach einer Stärkung der rabbinischen Autorität empfunden wird, ist weder neu noch unbegreiflich. Nur ist sehr zu bezweifeln, ob das in Aussicht genommene Stärkungs- mittel, Gründung einer Zeitschrift, den gewünschten Erfolg zeitigen wird. Denn die Gründe, die seit Jahr und -Tag zur Schwächung des rabl>inischen Ansehens geführt haben, liegen so tief und sind mit der allgemeinen Lage des Judentums in Deutschland so fest verwurzelt, dass sie wohl kaum auf journalistischem Wege beseitigt werden können. Ein wirksames Mittel wäre die Einigung aller deutschen Rabbiner, deren Zersplitterung und allseitiges Gegen- einanderwirken zu den wuchtigsten Gründen des unaufhaltsamen Sinkens der Stellung des Rabbiners auf das Niveau der „Höri g keit" zählt. Diese Einigung wäre aber wiederum nur möglich,

Eine Rabbinerversammlung. 145

wenn ihr eine Sanierung der allgemeinen religiösen Lage, ein Auf- hören des tiefen religiösen Zwiespaltes inneriialh der deutschen Judenheit vorausginge. Durch eine Rabbinerverbandsresolution im Zeichen des Burgfriedens dekretieren lässt sich allerdings eine solche Sanierung nicht, und solange nicht einmal die ersten schwachen Anzeichen eines Gesundungsprozesses sichtbar werden, kann und darf uns auch die Ruhe des Burgfriedens über die wirkliche Lage nicht hinwegtäuschen. Denn wozu es führt, wenn man, die VVirk= lichkeit ignorierend, krampfhaft nach Berührungspunkten zwischen orthodoxen und liberalen Rabbinern fahndet, beweist „die höhere Sabbath weihe im gewerblichen Leben", eine Notbrücke zwischen orthodoxem und liberalem Judentum, über deren Konstruktion und Tragkratt Herr Dr. Kahlberg der Oeffentlichkeit noch eine Er- klärung schuldet. Die Unmöglichkeit einer d|ogm atis che n Ver- einigung orthodoxer und liberaler Rabbiner ist offenbar auch von Herrn Dr. Jacob in Dortmund empfunden worden, wenn er den Zusammenschluss nicht in dogmatischer, sondern „vorerst" in praktischer Hinsicht empfahl, ohne sich des näheren darüber zu verbreiten, in welchem Bezirk des jüdischen Lebens eine praktische Zusammenarbeit ohne Uebereiustimmung in den theoretischen Grund lagen möglich ist.

Schon zur Friedenszeit erblickte Herr Dr. Samuel die grösste Bedrohung des Judentums in der sogenannten Trennungsorthodoxie. Wir können es ilim nachfühlen, wenn auch er die Stimmung des Burgfriedens dazu benutzen möchte, eine Verständigung zwischen orthodoxen und liberalen Rabbinern dadurch anzubahnen, dass auf beiden Seiten eine tolerante Gesinnung und das Bewusstsein von „der unendlichen Fülle des Gemeinsamen" geweckt wird. Bei diesem löblichen Bestreben sukundiert ihm auf konservativer Seite Herr Dr, Hanover. auf liberaler Seite Herr Dr. Tawrogi. Während Herr Dr. Kahlberg von „zahlreichen gemeinsamen Bestreb- ungen" sprach, ist sich Herr Dr. Samuel der „unendlichen Fülle des Gemeinsamen'' bewusst. Aus der Beschränkung der Zahl tritt mit einem Male die Fülle des Gemeinsamen in das freie Feld der Unendlichkeit heraus. Jedenfalls schweben Herrn Dr. Samuel nel)en „der höheren Sabbathweihe im gewerb-

146 Eine Rabbineiversainmlung.

liehen Leben" so unendlich viele Berührungspunkte zwischen Thora und Nichtthora vor, dass er lieber auf konkrete Angaben verzich- tet, mit deren Aufzählung er ja doch niemals weil sie ja un- endlich sind fertig werden könnte.

Uns würden jedoch wir gestehen es offen die Bestreb- ungen und Resolutionen des mittelrheinischen Rabbinerverbandes ziemlich kalt lassen, wenn im Verlaufe dieser Rabbinorversammlung nicht ein Punkt zur Sprache gekommen wäre, der für die unge- sunden Verhältnisse, die innerhalb des orthodoxen Judentums in Deutschland herrschen, so recht bezeichnend ist.

„Der mitteldeutsche Verband glaubt nach den (ersten Ve r h a n d 1 u n g e n mit der Vereinigung g e - 8 e t z e s t r e u e r R a b b i n (M' eine weitreichende Ver- ständigung e r w a it e n zu dürfen."

Es haben also mit der Vereinigung traditionell-gesetzestreuer Rabbiner in Berlin Verhandlungen stattgefunden, die nichts ge- ringeres bezweckten, als im Sinne der x\nschauung der Herren Dr. Kahlberg und Samuel im Zeichen des Burgfriedens die Kluft zwischen orthodoxen und liberalen Rabbinern zu schliessen. Diese Verhandlungen sind nicht ergebnislos verlaufen, denn'^sie lassen eine „weitreichende Verständigung" erwarten.

Wie weit diese Verständigung reicht, wissen wir nicht. Wohl aber wissen und fühlen wir folgendes :

1. Die Zeit der religiösen Kämpfe in der deutschen Juden- heit ist durch diesen Weltkrieg nicht begraben worden. Vielleicht werden diese Kämpfe nach dem Kriege noch mächtiger autlodern, wenn es sich darum handeln wird, innerhalb einer sich neu orien- tierenden Welt auch dem Judentum eine neue Heimstatt zu bereiten.

2. Diese religiösen Kämpfe werden endlich zu einer gründ- lichen Klärung des inneren Zwiespaltes fühnMi müssen, an welchem das orthodoxe Judentum in Deutschland krankt. Zur Zeit bestehen zwei orthodoxe Rabbinerverbände: der „Verband orthodoxer Rab- biner Deutschlands" und die „Vereinigung traditionell-gi^setzestreucr Rabbiner". Der Frage, ob die Orthodoxie in Deutschland stark genug ist, um auf die Dauer einen Zwiespalt zu ertragen, der

Eine llabbinerversammlung. 147

keineswegs ein oberflächlicher ist, sondern in mehr als einem Falle sich schon als eine furchtbare Zersetzungsgefabr erwiesen hat, wird man endlich einmal doch eine befriedigende Antwort suchen müssen. Hierbei wird man dann auch sich darüber zu verständigen haben, wer von den beiden orthodoxen Rabbinerverbänden ein besserer und treuerer Hüter der Interessen des orthodoxen Judentums in Deutschland ist : der , Verband orthodoxer Rabbiner Deutschlands" oder die „Vereinigung traditionell-gesetzestreuer Rabbiner". Der „Verband orthodoxer Rabbiner Deutschlands" hat in seinen Satz- ungen folgende Vorbemerkung stehen: „Der am 5. November 1907 constituierte „Verband orthodoxer Rabbiner Deutschlands" tritt an die Stelle der bisherigen Rabbiner-Commission der „Freien Verei- nigung für die Interessen des orthodoxen Judentums". Für das Wirken des Verbandes sind die Prinzipien der Rabbiner-Commis- sion massgebend. Er sieht in einer Unterschätzung oder Ver- schleierung der zwischen Orthodoxie und Neologie bestehenden Gegensätze eine ernste Gefahr, besonders im Hinblick auf die verschiedenen Bemühungen zur Herbeiführung einer staatlichen Gesamtorganisation der jüdischen Gemeinden. Die Grundsätze des Verbandes machen es ihm, wie früher der Rabbiner-Commission, unmöglich, Mitglieder des Allgemeinen Rabbiner-Verbandes aufzu- nehmen." — Eine ähnliche Vorbemerkung steht in den Satzungen der „Vereinigung traditionell-gesetzestreuer Rabbiner" nicht. Er hat es darum leichter, mit anderen Rabbinerverbänden in Verhand- lungen einzutreten, die eine ,, weitreichende Verständigung"'

erwarten lassen.

X.

148 Das ostjüdische Rätsel.

Das ostjüdische Rätsel.

Nichtjüdisohen Kreisen einen klaren Begriff vom Judentum zu verscliaffen, ist eine so dankenswerte aber auch so schwierige Aiifgahe. dass nur Jemand, der wirklich beides, die Seele des NichtJuden und - das Wesen des Judentums, gründlich kennt und über die nötige Darstelhnigskraft verfügt, um das jüdische Wesen in die nichtjüdische Seele hineinzuprojizieren, an der Lösung dieser Aufgabe sich versuchen sollte. Stehen sich ja auch sonst einander nahe Menschen in vielen Dingen wie Fremde gegenüber. Auf der ganzen Erde giebt es keine zwei Menschen, die sich ge8:ensei1ig restlos verstehen. Auch unseren intimsten Freunden gegenüber halten wir immer etwas zurück. Nicht einmal Ehegenossen schauen sich einander ganz auf den Grund. Wie viele, die ein ganzes Menschenalter miteinander verbunden waren, entdecken plötzlich, sie wissen selbst nicht wie, in der Seele des andern eine geheime Furche, die ihnen jahrzehntelang verschleiert war: überrascht, er- schreckt schauen sie einander an, und es ist ihnen, als ob sie erst jetzt Bekanntschaft schlössen Dem deutschon Christen ist selbst der deutsche Jude unbekannt. Was sollte er vom polnischen Juden wissen ?

Wir deutschen Juden bilden uns ein, dass unser Wesen, die Art unseres Denkens und Fühlens, unsere Mentalität unseren nicht- jüdischen Mitbürgern kein Geheimnis sei Gewiss sind wir in un- serer Assimilation weiter vorgeschritten, als die Vertreter des jüd- ischen Nationalismus es wahr haben wollen. Es hiesse aber doch den Einfluss der Religion auf die Mentalität unterschätzen, wollte man aus der Tatsache, dass bei der Mehrheit der deutschen Juden der Wille zu völligem Untertauchen in die nichtjüdische Umwelt besteht, die Assimilation als ein abgeschlossenes Faktum folgern. So leicht lässt sich die Religion nicht todtschlagen. Wäre es nicht gerade die jüdische Religion selbst, die uns deutschen Juden zur Pflicht machte, gute Deutsche zu sein, wären Thora und Deutschtum unversöhnliche Gegensätze, so reichte der Wille zum Deutschtum noch lange nicht aus, um die Konkurrenz der Thora auszuschalten. Was wissen aber unsere nichfjüdi.scheii Mitbürger von der Thora? Was können sie von ihr wissen? Der jüdische Gottesdienst ist ihnen ein

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Das ostjüdische Rätsel. 149

Rätsel. Das Anlegen des Tallis, das Umwinden der Tefillin. das Aufrufen zur Thora, das Leienen, das Duehenen, wo ist der Künst- ler, der nichtjüdischen Kreisen das Rätsel klären könnte, warum im Judentum Geborene und Erzogene mit diesen seltsamen Formen der Gottesverehrung so innig verwachsen sind, dass auch solche Juden, die sich ihrer Religion entfremdet haben, beim Anblick dieser Formen gar oft einer stillseligen Rührung und schämigen Ergriffenheit sich nicht erwehren können? Wenn wir in der Zeit vor Pessach jedes Krümchen Chomez aus den letzten Winkeln unserer Häuser bannen, wenn wir bei nur einmaligem Vergessen des Omerzählens ein fast physisches Unbehagen empfinden, wenn wir in der Schewuoth-Nacht die abgelegensten Mischnajoth mit einer Andacht rezitieren, als ob wirklich jeder Einzelne unter uns auch nur dem blossen Wortsinn nach verstände, was dieser Auszug aus der mündlichen Lehre enthält, wenn wir in den drei Wochen das Haarschneiden unterlassen und am Rausch-Haschonoh den Klängen des Schofars wie einer heiligen Offenbarung lauschen, die unvergleichliche Würde des Versöhnungstages, die blonderen Stim- mungen des Suckothfestes, Chanuckah-Licht und Purimroile :

glaubt man wirklich, dass es je gelingen könnte, nichtjüdischen Kreisen einen mehr als oberflächlichen Einblick in unsere durch Religion und Tradition, durch tausendjährigen Brauch und tiefge- wurzelte Sitte so unendlich originell geformte Psyche zu verschaffen?

Der naheliegende Einwand, dass wir deutscheu Juden auch die Seele des deutschen Christen nicht restlos verstehen und des- halb die Fremdheit des Christen unserem religiösen Erbgut und den Einflüssen desselben auf unsere Mentalität gegenüber nichts weiter erstaunliches sei, ist ebenso naheliegend wie unhaltbar. Ueber den Unterschied zwischen christlicher und jüdischer Fröm- migkeit kommt kein ehrlicher Denker und Psychologe hinaus. Der fromme Christ kann um gleich auf das hier Entscheidende ein- zugehen — Christentum und Deutschtum ohne Zwang vermählen, auch wenn er sich des Christentums als einer überragenden Le- bensmacht bewusst ist. Denn so fromm er auch sein mag, so ist er doch innerlich froh, dass der Anspruch der Religion auf Allein- herrschaft im Leben des Einzelnen und des Staates zugunsten des

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Weltlichen, des Staatlichen, des Nationalen im I.anfe der Zeiten sich bescheiden musste. Wenn wir Juden darum auch die intim- sten Emotionen und letzten Motivationen des christlichen Abend mahls, der Weihnachtsfeier usw. auch niemals restlos verstehen werden, so kann uns doch der deutsche Christ nicht shalb als ein verschlossenes Buch vorkommen, weil uns seine Religion fremd ist, denn diese Relij^ion verzehrt sein Innenleben nicht ganz, das deutschen Christen und deutschen Juden Gemeinsame tritt uns aus der Seele des Christen nicht- als etwas mit Anderem Ausgegliche- nes, nicht als Mischprodukt, sondern als Original entgegen. Auch in seiner Konfessionsschule lernt der Christ seine Konfession nur als eine Macht neben anderen Mächten kennen. In der jüdischen Konfessionsschule wird die Konfession auf den Thron der Allein- herrschatt erhoben, die jede andere Macht in tributpflichtige Ab- hängigkeit jocht, vorausgesetzt, dass es der Schule möglich ist, sich nach Massgabe der pädagogischen Normen ihrer Konfession zu organisieren.

Für den deutschen Christen ist es so schwer, die Seele des deutschen Juden zu ergründen, dass man wirklich neugierig sein kann, wie die bisherigen Versuche, dem deutschen Christen die Seele des polnischen Juden nahezueringen, wohl beschatfen sein mögen. Stehen doch selbst die meisten deutschen Juden dem ost- jüdischen Wesen wie einem Rätsel gegenüber.

„Für die einen sind die Ostjuden von Natur aus Engel, die durch die russische Unterdrückung einige unerfreuliche Eigenschaf- ten angenommen haben und nur in die richtigen Verhältnisse ge- bracht werden müssen, um so zu strahlen, dass alle NichtJuden in ihrem Glänze herumlaufen können ; für andere sind sie ein Gegen- stand des Absehens, den man sich möglicht weit vom Leibe halten muss . . . Wer aber unbefangen an das Studium der Ostjuden he- rantritt, dem tut sich eine Welt auf. so eigenartig und seltsam, wie keine in Europa und wenige in anderen Erdteilen. Wir hatten keine Ahnung, dass, es dicht vor unserer Tür so etwas gibt ..."

In diesen Einführungsworten, mit welchen die Redaktion der Süddeutschen Monatshefte ihr bekanntes Ostjudenheft herausgab,

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kommt das ganze naive Erstaunen der dem ostjüdischen Rätsel gänzlich fernstehenden Kreise zum klaren Ausdruck. Bisher ver- stand man die Ostjuden nicht blos nicht, man kannte sie nicht einmal. Man hatte keine Ahnung, dass es dicht vor unserer Tür „so etwas" gibt. . . Es ist aber freilich nicht so leicht, dieses „so etwas", dieses bunte Gemisch von heimelig anziehendem und schroff abstossendem richtig zu verstehen, und man kann nicht gerade behaupten, dass es dem genannten Ostjuden-Hefte durchweg ge- lungen sei, die Erwartungen, mit welchen man an seine Lektüre herantritt, zu ertüllen. Ja, es ist noch sehr die Frage, ob dieses Heft von der richtigen Seite aus die Lösung des ostjüdischen Rät- sels versuchte, ob es die richtigen Männer waren, die der nicht- jüdischen Welt das Ostjudentum zu erschliessen sich unterfingen, und ob der Schaden, der aus den Unzulänglichkeiten des Heftes erwachsen kann, den Nutzen, den das Zulängliche in ihm vielleicht stiften könnte, nicht überwiegt.

Sehen wir gleich den ersten Aufsatz: Die Bedeutung der Ostjuden für Deutschland von Adolf Friedemann. Wenn es da heisst: „, . . Die grosse Menge aber hat sich zu den Heiligtümern des alt- jüdischen Schrifttums geflüchtet, das neben den rein religiösen Abhandlungen die überlieferte Weisheit langer Reihen von Ge- schlechtern in sich schloss. So ist^eine seltsame Kulturmischung entstanden. Das Gehirn des östlichen Juden beherbergt neben den philosophischen Traktaten des Maimonides, talmudisch-juristischen Fragen und religiösen Vorschriften ohne Zahl stets deutsche Kul- turelemente, oft deutsche Klassiker, marxistische Gedanken, ek- lektisch aufgenommene Kulturbrocken aller Art. Diese^aber ver- mittelt durch das Deutschtum" glaubt da der Verfasser wirklich, seinen nichtjüdischen Lesern einen deutlichen Einblick in die Heiligtümer des altjüdischen Schrifttums und in das Gehirn des östlichen Juden verschafft zu haben? Was der Talmud den Ost- juden ist, wird kein NichtJude jemals verstehen, wenn'er nichts anderes erfährt, als was in diesem Aufsatze enthalten ist. Schon die Unterscheidung zwischen rein religiösen Abhandlungen und der überlieferten Weisheit langer Reihen von Geschlechtern giebt ein falsches Bild, denn in den Heiligtümern des altjüdischen Schrift-

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tnnis ist alles rein religiös. Und was soll die Rubrizieruiig des Jüdischen Gehiniinhaltes in pliilosopliische Traktate, talmudisch- jurislische Fragen, religiöse Vorschriften usw.? Mass der Nichtjude nicht glauben, dass jeder Ostjude eine „verschüttete Hsomiiii- büehse'* ist? Dass seiner Geistesbildung die innere Einheitlichkeit fehlt? Dass jene Harniouie im Wissen, Denken. Fühlen, die aus dem Erdreiche alier wahren Bildung spriesst, auf altjüdischem Kulturboden niemals Zugewinnen ist? In dieser lächelnden, halb anklagenden, halb verzeihenden Bewertung des alten Talmudju- denfums liegt viel Geringschätzung und Feindschaft, die nichts weniger als geeignet ist, nichtjüdische Kreise mit Respekt vor dem Talmud als Bildner und Erzieher zu erfüllen.

Auch der ostjüdische Rabbiner, den Lazar Abramson der nicht- jüdischen Welt in dem genannten Hette vorstellt, wird ihr nicht als das erscheinen, was er wirklich ist. Sie wird ihn für eine phantastische Mischung von Auskunftsbüro, iSchlachthofkontolIeur, Kechtskousulent und Dorfrichter halten, obwohl oder vielleicht ge- rade deshalb, weil sich der Verfasser alle Mühe giebt, die origi- nellen Seiten des ostjüdischen Rabbiners scharf hervorzuheben. Wir finden, dass dieser Aufsatz vornehmlich uns deutscheu Juden mancherlei Beachtliches sagt. So, wenn es da u. a. heisst: „Row kann man nur nach langem, ausserordentlich schwerem Studium wer- den. Staatlich anerkannte Rabbinerseminare, wie etwa in Deutschland, giebt es in Russland nicht. Die aus privaten jüdischen Mitteln unter- haltenen Lehrstätten der talmudischen Wissenschatten, „Jeschiwos", sind auch keine Seminare oder Hochschulen im europäischen Sinne und haben gar nicht den Zweck, Rabbiner auszubilden. Was die Jeschiwo von jeder anderen Schule unterscheidet, ist, dass es an ihr überhaupt keinen Begriff des Absolvierens giebt. Ebenso wie es nach der herrschenden Tendenz keinen Abschluss der Thora- und Talmudforschung giebt, so giebt es auch keinen Abschluss für das Studium an der Jeschiwo ; die einschlägige Literatur ninnnt niemals ein Ende, denn nach einem Ausspruch des Talmuds ist das gesamte Schäften eines jeden echten Gelehrten als eine göttliche Offenbarung zu betrachten." -Das sind sehr beachtenswerte Sätze. Nicht zuletzt für uns deutsche Juden. Das Studium an den Rab-

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binerseminaren ist weder lang noch ausserordentlich schwer. An ihnen werden Rabbiner „ausgebildet". Der Wert dieser „Ausbil- dung" erhellt aus der Tatsache, dass seit Jahr und Tag, sooft in einer grösseren orthodoxen Gemeinde die Stelle eines Rabbiners zu besetzen war, die Rabbinerseminaristen fast regelmässig über- gangen und ostjüdische Kandidaten bevorzugt wurden. In ganz Deutschland giebt es nur eine Rabbinerbildungsanstalt, die nicht als Rabbinerseminar auftritt, sondern nach dem Vorbild der ost- jüdischen Jeschiwos organisiert ist; die Thora-Lehranstalt (Jeschiba) in Frankfurt a. M, Fragt man nach den Gründen, wie es kommt, dass wir uns in Deutschland in der Art und Weise der Rabbiner- ausbildung vom Osten wesentlich unterscheiden, so wird man über die tiefgreifenden Einflüsse der politischen Lage des Westjuden- turas auf die seelische Verfassung der Westjuden nicht hin- wegkommen. Ich hatte neulich mit einem intelligenten Ost- juden ein Gespräch über dieses Thema. Er fragte mich, seit wann die deutschen Rabbiner im Gegensatz zu den örtlichen sich vornehmlich als Redner betätigen müssen. Ich sagte, hier sei vor allem eine Wandlung des Geschmacks zu berücksichtigen, die ihrer- seits wieder auf eine Veränderung unserer politischen Lage zurück- zulühren sei. Der Rabbiner kann hier nicht so reden, wie er im Osten redet. Und er muss oft reden, weil das, was er redet, viel- fach die einzige Thora ist, die seine Zuhörer hören. Zu eigenem tiefereindringendem Studium fehlen den deutschen Juden Zeit und Laune. Sie wollen daher, wenn sie in die Synagoge gehen, nicht blos beten, sondern auch hören, nicht blos andächtig sein, sondern auch geistig angeregt werden. Und sie wollen aus einer Predigt immer so etwas wie den Extrakt des Judentums, eine ganze Welt- anschauung mit nachhause nehmen. Die deutschen Juden streben alle nach einer Weltanschauung. Die Ostjuden kennen so etwas gar nicht. Ihre höchste geistige Anregung besteht in der Befrie- digung über eine gute biblische oder talmudische Textinterpretation, jeder Gedanke, auch der höchste und tiefste, erscheint ihnen schaal und reizlos, wenn er sich nicht als „Pschat" verkleidet. Der deutsche Jude dagegen ist froh, wenn er den einfachen Worfsinn einer Bibel- oder Talmudstelle versteht, aus ihr Perlen des Scharf-

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Sinns umständlich heranszuholen, das entspricht weder seinem auf Bequemlichkeit und Vereinfachung gerichteten kaufmännisclien Sinn, noch seinem an ausserjüdischer Kunst und Wissenschaft gebildeten Geschmack. Ueber einen deutschen Prediger mit seiner Salbung und seinem Pathos, mit seinen schmalzigen Tiraden und gekün- stelten Sentimentalitäten lächelt der Ostjude, wenn er sich unbeo- bachtet weiss und nicht in Gegenwart anderer durch Unkenntnis des deutschen Wesens einen Bildnngsmanko zu verraten fürclitet. Das konnte man so recht vor vier Jahren (ist es wirklich schon so lang) in Kattowitz bei der konstituirenden Versammlung der Agudas Jisroel gewahren. Die deutschen Herren sprachen damals wirklich gut. Doch gezündet haben sie nicht. Der Beifall, den ihre warmen Worte fanden, war konventionell. Es wäre auch grau- sam gewesen, sie nach einer vielstündigen Reise, nach so viel Strapazen und Geldopfern unapplaudiert nach Haus zu schicken. Wirklich aus dem Herzen kam der Beifall nicht. Erst als ein ostjüdischer Redner das Wort ergriff, hörte man im Publikum das charakteristische Wort: „Der redet wenigstens Wörter''. Wörter, die sie verstanden und die ihnen wie Heimatglocken klangen. Hüten wir uns, den Milieugegensatz zwischen Ost und West zu unterschätzen. Der ist so gross, dass der Ral)biner noch ge- boren werden müsste, der dem Westen und Osten gleich warm und innig aus dem Herzen redet. Wie liet denn die Bekanntschaft der Hirsch und Hildesheimer mit dem Osten ab ? Sie fühlten sich in Frankfurt und Berlin heimischer als in Nikolsburg und Eisen- stadt. —

Ueber den Ghassidismns wird das Publikum der Süddeutschen Monatshefte durch Alexander Eliasberg orientiert. Ob es ihm ge- lungen ist, durch eine Lebensskizze des „Beseht", durch Aufstel- lung von 7 Thesen der chassidisohen Lehre, durch eine kurze Schilderung des Lebens und Treibens rings um den Chassidimrabbi sein Ziel zu erreichen ? Wir bezweifeln sehr. Vom Chassidismus wissen auch die deutschen Juden nicht viel, obwohl sehr vielen von ihnen der Inhalt des Aufsatzes von Eliasberg nichts neues ist. Die Meisten verbinden mit dem Begriff des Chassidismus recht vage, zufällig angeflogene, phantastische Vorstellungen, die sie sicherlich

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preisgeben würden, falls sie Gelegenheit hätten, den Cliassidismns auch innerlich zu erleben und ihn nicht blos äusserlich zu verstehen sich bescheideten. Wenn so viel Lüge ist in der Welt, so haben daran nicht zuletzt die schnell fertigen Urteile schuld, die in der Welt umherflattern und Jedermann in den Stand setzen, über alles und noch einiges mehr seine wirklich ganz unmassgebiiche Meinung kundzugeben. Das Streben nach Popularisierung des Wissens hat viel Unheil gestiftet. Wer nur von den fertigen Resultaten irgend eines Wissenszweiges erfährt, läuft Gefahr, den dornenvollen Weg zu unterschätzen, der zu diesen Resultaten führt und sich über- haupt von dem Wert und der Tragweite dieser Resultate ein ganz falsches Bild zu machen. Was von der Religion gilt, das gilt auch ron der Wissenschaft. Die Religion darf niemals zu ihren Beken- nern hinuntersteigen, wenn sie die Zügel in der Hand behalten will, es müssen umgekehrt ihre Bekenner an ihr sich emporranken, ihr sich annähern, assimilieren, um schliesslich eins mit ihr zu werden. Das müsste auch bei der Wissenschaft so »ein. Auch sie sollte warten dürfen, bis wir uns ihr näher bringen, bis wir den Weg zu ihr finden, und nicht immer verpflichtet sein, zu den Niederungen unserer AUta^serkenntnisse und -Bedürfnisse herabzu- steigen, auch sie sollte ein esoterisches Heiligtum bleiben, statt, popularisiert und verflacht, allmählich eine esoterische Banalität zu werden. Was bleibt vom Chassidismus übrig, wenn ein wohl- meinender Vermittler zwischen Ost und West ihn so darzustellen sich bemüht, dass wir ihn wirklich zu verstehen glauben ? Statt sich zu sagen, er wird mir ewig fremd bleiben, so lange ich ihn nicht wirklich erlebe, so lange seine heisse Temperatur nicht auch in meine Adern überströmt, sich einzubilden, aus litterarischen Surrogateil ihn erkennen und verstehen zu können, ist schnöder Selbstbetrug.

Sehr instruktiv weiss Heinrich Loewe in Berlin über die Jüdisch-deutsche Sprache der Ostjuden zu reden. Was uns aber von jeher an diesen Versuchen, dem nichtjüdisrhen Publikum die ostjüdische Mundart sympathischer zu machen dadurch, dass man nachweist, dass man im Mittelalter auch in ausserjüdischen Kreisen 80 geredet hat, wie heute die Jude.i in Polen reden, problematisch,

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ja zwecklos erschien, das ist die unleugbare Tatsache, dass die Antipathie gegen die Sprache der Ostjuden niclit a'if mangelhafter Einsicht in den historischen Ursprung des polnischen Jargon zn- rückzutühren ist. Diese Antipathie wäre nicht geringer, selbst wenn der Nachweis gelänge, das» auch Goethe und Schiller Jargon gesprochen haben, weil die Verspottung des Jargon nicht auf ihn selbst, sondern lediglich auf seinen Sprecher zielt. Den Jargon schlägt man, seine Sprecher meint man, und das wird nicht anders werden, auch wenn der lange Rock der polnischen Juden noch so modern in der Zeit der Meistersinger war und „dawweuen" von d'^vovere und „chappen" von eapere kommt. Volksinstinkte setzen sich nicht aus wi-^senschaftlichen Erkenntnissen zusammen. Zudem wird der Jargon von den heutigen Jargonsprechern nicht aus Pietät vor der Zeit der Meistersinger beibehalten. Dieses Jüdischdeut>ch ist ein mächtiger Schutzwall für die Erhaltung des Judentums. Wir wissen sehr wohl, dass es heute eine grosse Jargonlitfratur giebt, die an Feindseligkeit gegen Thora und Mizw(»th gegen ihre westliche Schwesterliteratur nicht zurücksteht. Iniuierhin ist eine völlige Entfremdung der breiten jüdischen Volksniassen vom alten Judentum nicht zu befürchten, so lange sie Jargon sprechen. Die jndischdeutsche Sprache der Ostjuden ist mit dem altjüdischen Leben der Ostjuden zu innig verwachsen, als dass ein Untergang des alten Judentums dort zu befürchten wäre, wo der Jaro^(m den Zu- sanmienhang der jungen mit der alten Generation wenigstens äusserlich aufrecht erhält. Solange sich Eltern und Kinder sprach- lich verständigen können, wird der Riss zwischen ihnen niemals auf das Ganze geben. Die letzten dünnen Fäden werden bleibt;n. Und so glauben wir im Jargon mit Recht eine Bremse zu erkennen, die den religiösen Niedergang vor dem Sturz in die Tiefe, aus der es kein Heraufkommen mehr giebt, zum Stehen bringt. Insofern nun die Eigenart des jüdischen Stammes im Jargon sich ausprägt,

nsofern der Wille des jüdischen Volkes, seine religiösen Ueberlie- :erungen in allem Sturm und Drang der Zeiten als Protest des iwigen Geistes gegen den Wahn vergänglicher Menschen durchzu-

ragen, in einer jüdischdeutschen Sprache ungleich schärfer zum Ausdruck kommt, als wenn das Hebräische die Umgangssprache

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der polnischen Juden wäre, erscheint es durchfius erklärlich, wenn der Volksinstinkt im Jiidischdeutscben nicht blos ein zAifällifres Produkt des jüdischen Exils erkennt, sondern geradezu den Nie- derschlag des jüdischen Volksgeistes wittert und. in ihm zugleich die Ueberheblichkeit des „auserwählten Volkes" verspottet. Ob freilich die Erzeugnisse der Jargon-Literatur den wahren jüdischen Volksgeist, wie er sich uns unter dem Einfluss der Thora darstellt, immer getreu widerspiegeln, erscheint uns doch sehr fraglich, wenn wir, unbeirrt durch den Schwung der Phantasie und die Tiefe des Gemüts. Eigenschaften, die man den wertvollen Erscheinungen der jüdischdeutschen Poesie nicht absprechen darf, auf den Grund sehen. Das Gedicht „Mein Jingele", das aus Morris Rosenfelds gesammel- ten Liedern in das Ostjudenheft hinübergenommen ward, ist gewiss sehr gemütvoll, sehr rührend, sehr tief empfunden. Es leidet aber doch wie alles, was uns von Rosenfeld bekannt ist, an einer, wie sollen wir sagen. Hypertrophie des Gefühls Das wirkliche jüdi- sche Gefühl ist gar nicht so wehleidig, wie uns die JaVgonpoesie glauben machen will. Nüchternheit, aufrechte Würde auch im tiefsten Schmerz, Standhaftigkeit des Denkens gegenüber dem An- sturm und üeberschwang des Gefühls scheint uns ein wichtigeres Kennzeichen der jüdischen Seele, als ein schwelgerisches Sichver- lieren in Thiänen und Seufzern zu sein. In dieser Jargonpofsie steckt viel ungewollte Assimilation, sowohl wa« ihr Fühlen und Träumen, als auch was den Rythmus ihres Bingens und Sagens betrifft.

In dem lesensw'erten Aufsatze, in welchem Franz Oppenheimer nationale Autonomie für die Ostjuden fordert, interessiert uns hier vornehmlich die Stelle, die einen geringschätzenden Seitenblick auf das orthodoxe Judentum in Westeuropa wirft. Oppenheimer sucht nachzuw^eisen, dass die Juden wohl in Polen als eine besondere Nation anzusehen sind, nicht aber in Westeuropa. „In allen Ländern Westeuropas, auch in Westösterreich, leben die Juden als winzige Minderheit, sprechen die Sprache des Landes, unterliegen den Ein- flüssen seiner besondern Kultur, haben die Tracht, die gesellschaft- lichen Gewohnheiten, die Sitten und Anschauungen ihrer christlichen Umgebung angenommen. Mögen sie auch in einzelnen Fällen -

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die immer seltener werden noch der allerstrcnj^sten religiösen Observanz angehören; und mögen sie in zum Teil berechtigter Auflehnung gegen den Druck, der auf ihnen lastet, ihre „nationale Eigenart" mit noch so grossem Xachdruck betonen: sie sind den- noch zum grossen Teil völlig, zum kleinen Teil viel weiter und tiefergreifend- „assimiliert", als sie es sich selbst und anderen ge- stehen wollen. Was sie zusammenhält, ist in der Tat kaum mehr als das Band der Religion . . . ." Die orthodoxen Juden werden in Westeuropa immer seltener. Schade dass es keine Statistik des religiösen Lebens gibt, vielleicht würden wir staunen, wie mächtig das orthodoxe Judentum auch in solchen Seelen fortwirkt, die sich gewaltsam von ihm losgerissen haben. Denn darüber müssen wir uns klar sein und sollte sich auch ein so guter Kopf wie Franz Oppenheimer klar sein, dass die Aufstellung von Kategorien aut dem Gebiete der religiösen Treue zumindest ein sehr gewagtes Unternehmen ist, Juden von strenger strengster allerstrengster Observanz ? Was sollen wir mit dieser Staffelung anfangen '? I-nnnerhin steht es fest, dass das jüdische Relij::ionsgesetz. welches sehr wohl nach bestimmten Normen die Gr nzen der jüdischen Bekenntnisgemeinschaft absteckt, nur eine Minderheit der west- europäischen Juden als Juden in seinem Sinne anerkennen würde. Dann muss aber doch von jedem ernsthaften Forscher gründlich erwogen werden, ob es dem historischen Wesen dieser Bekenntnis- gemeinscaft entspricht, just die Religion, von der sich die Majo- rität der westeuropäischen Juden losgesagt hat, als das einzig ver- binde de Moment in dieser Judenheit zu erklären. Wie nun, wenn die Entwicklung weitergeht und die heute schon seltenen Exemplare der Juden strengster Observanz einmal, was ja nach Oppenheimer durchaus möglich ist, völlig aussterben werden ? Was wird in dieser Eiszeit des westeuropäischen Judentums die westeuropäischen Juden noch zusammenhalten? Das liberale Judentum? Die Orgel V Der Damenchor? Die Richtlinien? Liegt es nicht in der Tendenz des liberalen Judentums, die Judenheit auch als religiöse Gemein- schaft zu zei setzen und allmählich aufzulösen? Steht es fest, und wer möchte es leugnen, dass auch die westeuropäischen Juden, so- weit sie sich als Juden fühlen, ihre Gemeinschaft als eine weit über leere Kirchenzeremonien hinausgehende empfinden, ist es letzt-

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hin doch eine besondere Art des Denkens, Fiihlens und Wollens, die auch in Westeuropa das Judesein ausmacht und ist es darum auch einfach falsch, wenn Oppenheimer sagt, dass die Mehrheit aller europäischen Juden neben der Tracht und den gesellschaftlichen Gewohnheiten ihrer christlichen Umgebung auch deren Sitten und Anschauungen angenommen haben denn was bleibt denn um des Himmels willen von einer religiösen Gemeinschaft übrig, wenn sie nicht einmal eine besondere Art der Sitten und Anschauungen verbürgt dann müssten Männer wie Oppenheimer von ihrem Standpunkte, der ein allmähliches Verschwinden der überlieferten Religion voraussetzt, sich doch etwas ernsthafter mit der zionistischen Theorie auseinandersetzen, die auch für Westeuropa eine Gemein- schaft der Juden nur auf dem Boden des Nationalismus für möglich und erklärlich hält.

Nicht viel Neues erfährt man aus dem Aufsatz Nachum Gold- manns zur Psychologie der] Ostjuden. Ein interessanter Wider- spruch ist uns darin aufgefallen. Da heisst es gleich afh Anfang: ,, Woher sollte man in Deutschland bis jetzt die Möglichkeit haben, den Ostjuden zu verstehen? Die geistig-seelische Welt, in der er lebt, ist von der europäischen abgrundtief verschieden; seine Tra- dition, seine Lebensformen, die tiefsten Wurzeln seiner Wesensart stammen aus Sphären, die mit dem europäischen Kulturkreis nur wenig Gemeinschaft haben". Es ist das derselbe Nachum Gold- mann, der in seiner Broschüre „von der weltkulturellen Bedeutung und Aufgabe des Judentums" die Theorie verficht: „Die Grundlage unserer heutigen Kultur ist viel weniger das antike Griechentum als Idas alte Judentum". Man macht oft ganz niedliche Entdeckungen, wenn man unseren philosophischen und kulturhistorischen Journa- isten etwas genauer auf die Finger sieht. Irgend ein oberfläch- licher Eindruck verdichtet sich da gar leicht und bald zu einem festen Axiom. Dieses ständige Operieren mit halben Wahrheiten, dieses unbedenkliche Aufeinandertürmen von gewagten Hypothesen, dieses behagliche Nachsprechen von Gemeinplätzen und Schlag- wörtern ist harmlos, sohnge der Zweck der Übung in der Unter- haltung des Lesers sich erschöpft, es kann sich aber zu einer Ge- fahr auswachsen, wenn daraus Stimmungen entstehen, die für die

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ganze Zukunft eines Volkes eiitscbeidend sein können. Welcher Segen kann unsei-en (»stjüdiscliennianbensgenossen daraus erwachsen, wenji unsere iiichtjüdischen Mitbürger in Deutschland über das Wesen des Ostjudentums von Autoren belehrt werden, die über die Heziehun«:en des alten Judentums zur heutigen Kultur zwei sich widersprechende Meinungen auf Lager haben V

Zum vSchluss noch einige Worte über den Artikel des Geh.- Justizrats Dr. Eugen Fuchs ül)er „Jüdische Organisationen in Deutschland'. Man wüsste nicht, was dieser Artikel in einem Hefte zu suchen hat, welches das ostjüdische Rätsel dem nicht- jüdischen Deutschland lösen möchte, wenn sich der Verfasser hier- über nicht zu Beginn seines Aufsatzes deutlich ausgesprochen hätte: ..Niemand hat an der Regelung der ostjüdischen Frage ein stär- keres Interesse als die deutsche Judenheit: und niemand ist daher berufener und befugter, an der Regelung dieser Frage, soweit sie von Deutschland abhängt, mitzuwirken als sie. Die deutsche Judenheit aber bildet wohl innerlich, nicht aber auch in ihrem äusseren politischen Auftreten und Wirken eine Einheit. In i h i' e m X a m e n können darum nur die g r 0 s s e n j ü tl i s c h e n Organisationen handeln, und es ist somit für all jene, die der Ostjudenfrage Interesse entgegen- bringen, wichtig, einen übeiblick über die wichtigsten und bedeu- tenden jüdischen Organisationen Deutschland zu haben". Nun folgt eine ziemlich vollständige Aufzählung der jüdischen Organi- sationen Deutschlands, und zwar werden sie in römisch I und II gegliedert. Unter römisch i werden die Einzelverbände (Deutsch- israelitischer Gemeindebund, Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Freie Vereinigung für die Interessen des or- thodoxen Judentums, Agudas Jisroel, Vereinigung tür das liberale Judentum, Freie jüdische Vereinigung, Hilfsverein der deutschen Juden, Jüdische Vereinigung für Deutschland, Freie Organisation der Alliance Israelite Universelle, Grossloge tür Deutschland) auf- gezählt, unter römisch II paradiert in einsam stolzer Grösse der Verband der deutschen Juden. Herr Justizrat Fuchs ist 2. Vorsitzender des Zentralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und Mitglied des geschäfts führen den Ausschusses des Ver-

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bandes der deutschen Juden. Man muss schon mit der Geschichte dieser Organisationen, insbesondere der letzteren, vertraut sein, um die vielsagende Placierung des Verbandes der deutschen Juden auf den Isolierschemel einer eigens für ihn geschaffenen Rubrik richtig zu würdigen. Man muss wissen, wie schmerzlich seit Jahr und Tag in den Kreisen des Herrn Justizrals Fuchs das Fehlen einer staatlichen Gesamtorganisation der deutschen Juden empfunden wird, um diese charakteristische Klassifizierung der jüdischen Or- ganisationen und noch manches Andere in dem Fuchs'schen Artikel zu verstehen. Denn wird da bei der Kennzeichung der „Einzel- verbände" gesagt, dass im Gegensatz zu den Evangelischen, die in Preussen ihre Landeskirchen und im Könige als summus epis- copus eine gemeinsame Spitze haben, und zu den Katholiken, die sogar eine zwischenstaatliche Einheit bilden, die Judenschaft in den meisten deutschen Bundesstaaten in selbständige zusammen- hanglose Gemeinden „zersplittert" ist, so wird die Feststellung dieser Tatsache nur auf den in die inneren Kämpfe der deutschen Judenheit eingeweihten Leser den Eindruck eines schmerzlichen Stossseufzers machen,'^der diesen Kämpfen fernstehende jedoch wird an diesem Satze achtlos vorüberlesen. Der uneingeweihte Leser wird auch nicht wissen, welch ein Widerspruch darin liegt, wenn vom Deutsch-israelitischen Gemeindebund auf der einen Seite ge- sagt wird, dass die Behandlung religiöser Fragen von seiner Kom- petenz ausgeschlossen ist, dass er aber auf der anderen Seite gleichwohl u. a. die Förderung der Erziehungsangelegenheiten der jüdischen Gemeinden Deutschlands bezweckt, als ob im Sinne des überlieferten Judentums die Gründung israelitischer Fürsorge- erziehungsanstalten, wie sie vom Gemeindebund für Knaben in Repzin und für Mädchen in Köpenick verwaltet werden, nicht eine eminent religiöse Angelegenheit ist. Der uneingeweihte Leser wird ferner nicht wissen, dass der Satz, worin Herr Justizrat Fuchs von der Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Ju- dentums behauptet, „die Mitgliederzahl der Vereinigung ist nicht bekannt, wohl aber auf unter 10 000 vertretene Einzelpersonen zu schätzen^', erst dadurch richtig kommentiert und illustriert werden kann, wenn man sieh erinnert, wie vor Jahren einmal der Verband der deutschen Juden einer deutschen Staatsregierung das orthodoxe

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Judentum in Deutschland als eine , .abgesplitterte Sekte" zu igno- rieren empfahl und mit dieser Empfehlung zweifellos Glück gehabt hätte, wenn sich's die Orthodoxie hätte gefallen lassen und nicht energisch verkündet und nachgewiesen hätte, dass nicht sie, sondern Herr Fuchs und seine Gesinnungsgenossen als eine von der jüdi- schen Mutterreligion ,, abgesplitterte Sekte" zu begreifen seien. Der uneingeweihte Leser wird schliesslich nicht wissen, dass der an- dere Satz in dem Artikel des Herrn Justizrats Fuchs: „In dem Verband der deutschen Juden ist die Zentralorganisation geschaifen, die die verschiedenen jüdischen Organisationen zu gemeinsamer Tätigkeit vereinigt" von der Wahrheit ebenso entfernt ist, wie die' bereits zitierte Meinung des Verfassers, dass die deutsche Juden-J heit innerlich eine Einheit bilde. Das alles ist nicht wahr, so wenig wahr, dass wir dem Verlag der Süddeutschen Monats-^ hefte dringend empfohlen hätten, ihren Lesern erst das westjüdi- sche Rätsel zu lösen, bevor sie an das ostjüdische sich heranwagte. Denn nicht blos jenseits, sondern auch diesseits der deutschen Ostgrenze giebt es „so etwas", wovon unsere christlichen Mitbürger keine Ahnung haben.

R. B.

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mONATSHeFTE

Iiprausge gehen von Rabbiner Dr. P. Kolin, Ansbach, unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Salonion Breuer, Frankfurt a. M.

Jahr^aiio; 3. Heft 6.

Das orthodoxe Judentum ifT Mitteleuropa.

I.

Der geineinsame Krieg löst gemeinsame Friedensziele aus. Seitdem Deutschland und Oesterreich-Ungarn gemeinsa-n gegen die Ententemächte kämpfen, ist der Gedanke einer mitteleuropäischen Gemeinschaft wach geworden, ein Gedanke, der vielen im Herzen war und auf der Zunge lag, der aber erst i'i Friedrich Naumanns bekanntem Buch „Mitteleuropa" seine klassische 'Formulierung fand. Ob dieser Gedanke jemals in einem lebensfähigen politischen Ge- bilde sich verkörpern wird, bleibt abzuwarten. Es wird zur Zeit sorgsam jedes Für und Wider erwogen. Die einen können sich nicht denken, dass Völker, die gemeinsam gekämpft und geblutet haben, nicht doch nach dem Kriege einen festeren Bund anstre- ben werden, als er bisher kraft eines papiernen Vertrages bestand. Andere sind nachdenklicher und lassen sich durch den Reiz einer politischen Vision über die realen Widerstände nicht täuschen. Fest steht nur, dass, falls ein Mitteleuropa je erstehen sollte, der Weg

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Das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa.

dahin nur von dem Willen der Völker, nicht aber durch proble- matische Staatsverträge bereitet werden könnte. Erst müssen die Völker wollen, erst raiiss aus grossen und kleinen Kreisen der Völker Annäherung und gegenseitiges Sichverstehenwollen hinüber und herüber tasten, bevor die Staatsmänner in Berlin und Wien an die schwierige Aufgabe sich heranwagen können, Deutschland und Oesterreich-Ungarn zu einem festen mitteleuropäischen Block zu- sammenzuschmieden.

Seit jeher hat die allgemeine Politik auf die Religionspolitik abgefärbt. Ist ja die letztere insofern nur ein Ausschnitt aus der ersteren, als der Begriff der Staatsaufsicht doch etwas mehr als eine blosse Formalität bedeutet. Nur aus den politischen Konstel- lationen heraus können die Schicksale der jüdischen Religion im Exil verstanden werden. Es erscheint darum nicht weit hergeholt, es dünkt uns vielmehr nur der Niederschlag eines in der Luft liegenden Gedankens zu sein, wenn wir uns durch die politische Lage der Gegenwart angeregt fühlen, über das orthodoxe Judentum in Mit- teleuropa zu reden. Wir glauben 'nämlich hier ein treffendes Schulbeispiel vor uns zu haben, wie politische Tatsachen selbst in scheinbar weltentrückte Regionen ihre Ausläufer senden.

Als im August 1914 die geplante Delegiertenversammlung der Agudas Jisroel infolge des Kriegsausbruchs abgesagt werden musste, da mögen sich nur Wenige gesagt haben, wie segensreich es gewesen wäre, wenn schon damals ein fester mitteleuropäischer Block der Agudas Jisroel bestanden hätte. Wie die Dinge heute liegen, wird es wohl noch eine gute Weile haben, bis die Idee einer Weltorganisation des orthodoxen Judentums von ihrem da- maligen Kervenchock sich erholt haben wird. Umso bedauernswerter ist's, dass nicht schon vor dem August 1914 sich wenigstens die- jenigen Kreise der orthodoxen Judenheit gefunden haben, die neben zahlreichen Berührungspunkten mehr äusserlicher Art] auch eine innere Gemeinschaft besitzen, über die wir noch einiges zu sagen haben werden. Es ist heute nicht am Platz wir wollen den Burgfrieden nicht stören die gegenwärtige Leitung der Agudas Jisroel zu interpellieren, warum sie in den Jahren 1912— 1914 (Kattowitz Weltkrieg) immer mehr nach Russland als nach

Das orthodoxe Jadentuir in Mitteleuropa. 165

den mitteleuropäischen Ländern, vor allem Ungarn, schaute, Sie wird ihre Gründe gehabt haben. Wohl aber dürfen und müssen wir in einer Zeit, wo der Gedanke Mitteleuropa die Gemüter fas- ciniert, dem tiefen Bedauern Ausdruck verleihen, dass es nicht gelang und, wie es scheint, auch in absehbarer Zeit nicht gelingen wird, eine mitteleuropäische Orthodoxie zu schaffen, die, wir sagen es offen, der natürliche Kristallisationspunkt wäre, dem sich in der komniendeu Friedenszeit, wenn es wieder einmal gestattet sein wird, kosmopolitische Träume zu träumen, die übrigen Teile der Weltorthodoxie angliedern könnten. In diesem mitteleuropäischen Ausschnitt der Agud-^'^ Jisroel würde, jedenfalls was den Osten betrifft, nicht Oesterreich oder Mähren, oder Böhmen oder Galizien, sondern Ungarn den Schwerpunkt darstellen. Denn während in Mähren und Böhmen das orthodoxe Judentum schon seit Jahr und Tag auf ein kleines Häuflein unentwegter Bekenner hingewiesen ist, während Galizien auch in der Struktur seiner jüdischen Ortho- doxie Polen so ähnlich ist, dass selbst gewiegte Kenner der jüdi- schen Volkspsyche in einer durcheinandergerüttelten Gesellschaft von galizischen und polnischen Juden wohl kaum die einen von den andern unterscheiden werden, gewährt die ungarische Ortho- doxie das Bild einer schon durch die kompakten Massen ihrer Glieder gewaltig imponierenden Gemeinschaft, die zudem so viele originelle Züge aufweist, dass sie den Eingeweihten seit je aJs noiiV "'-C3 rfiD bekannt war. schon lange bevor auf der Versamm- lung zu Kattowitz Herr Direktor Gabel aus Grosswardein seine deutschen Zuhörer durch kaltblütige Entwicklung seiner ungarischen Grundsätze gruseln machte. Wer damals die Rede des Utigarn als schocking empfand, darf sich nicht zu den Wissenden zählen.

Es ist nicht leicht, die ungarische Orthodoxie zu verstehen. Was Naumann in seinem erwähnten Buche über das ungarische Volk sagt, das gilt in gewisser Hinsicht auch von der ungarischen oder, wie man dort gespreizter sagt, der ungarländischen jüdischen Orthodoxie: „Ich habe oft gerade über dieses merkwürdige Volk nachiredaclit, das weder slawisch noch germanisch in unserer Mitte sitzt und unsere deutscheu Schicksale schon jetzt mitbestimmt. Es ist nicht wie die andern, nicht so fein nervös wie die Westvölker,

166 Das orthodoxe Judentum in Mtteleurepa.

nicht so tief im Denken wie die Deutschen, nicht veiträiimt und lässig wie oft die Slawen, nicht mittelalterlich ehrwürdig wie die Türken, sondern auf altem Völkerwanderungsuntergrund ein merk- würdig modernes Volk, anspruchsvoll, leistungsfähig, stolz, herrisch und politisch, vor allem zäh in seinen nationalen Trieben." Merk- würdig sind auch die ungarischen Juden. Weder slawisch noch germanisch sind auch sie. Und auch die Schicksale ihrer deutschen Glauhensbrüder haben sie, wie wir noch zeigen werden, mitbe- stimmt. So fein nervös wie die deutschen Juden sind sie nicht. Sie zucken nicht gleich bei jedem scharfen Wort zusammen. Sie lieben das Drastische, Kernige. Offene, auch das Schreiende und Beleidigende zuweilen, in Gebärde, Schrift und Wort. Ob sie so tief im Denken wie die Deutschen sind, könnte erst dann festge- stellt werden, wenn die Ansicht des badischen Oberrats, dass unter Deutschlands liberalen Juden mehr Intelligenz angetroffen würde, als den orthodoxen, einmal unwiderleglich entkräftet werden könnte. Bis dahin möchten wir die Ansicht festhalten, doss in den Kreisen der orthodoxen Judenheit die Tiefe des Denkens im ge- raden Verhältnis zur Anzahl der starkbesuchten Talmudschulen (Jeschiboth) steht. Auch die ungarischen Juden sind nicht ver- träumt und lässig. Die berühmten rabbinischen Märchenaugen finden sich in beträchthcher Zahl nur in Russland und Polen vor Auch die übrigen Eigenschaften, die Naumann dem ungarischen Volk im allgemeinen nachsagt, sind bei den ungarischen Juden anzu- treffen. Sie sind anspruchsvoll. Sie bilden sich ein, dass sie einen wesenhaften Kern innerhalb der Gesamtjudenheit ausmachen. Sie sind stolz auf die besondere Art ihres Judeseins und auch in her- rischem Beiseiteschieben von Anschauungen und Tendenzen, die ihrem Wesen zuwiderlaufen, verstehen sie erkleckliches zu leisten. Denn auch sie sind zäh in ihren Trieben, halten krampfhaft fest auch an den religiouspolitischen Ueberlieferungen ihrer Väter, und sie wissen sich mannhaft zu wehren, wenn ihnen zugemutet wird, liebgewordene Denkformen auf ein ungewohntes Geleis zu schieben. Wir wissen sehr wohl, dass die Völkerpsychologie nicht zu den exakten Wissenschaften zählt. Gleichwohl glauben wir, dass nichts eine gegenseitige Annäherung von Völkern und Volkskreisen so

Das^ orthodoxe Judentum in Mitteleuropa. 167

trefflich anzubahnen vermag, wie ein liebevolles, wenn auch oft abwegiges Sichversenken in der Völker Trachten und Art.

Wir sollten uns während der Kriegszeit, die uns von Ru?sland absperrt, mehr mit Ungarn befassen. Wir sollten uns, nachdem wir vom westlichen und östlichen Europa abgeschlossen sind, mehr mitteleuropäisch betätigen. Wir sollten liebevoller, als dieses bis- her immer geschah, den zahlreichen Fäden nachgehen, die nur systematisch verknüpft zu werden brauchten, um das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa aus einem Hirngespinst in ein wesen- haftes Gebilde zu verAvandeln, Denn es bedarf nur eines flüchtigen Einblicks in unsere eigene Geschichte, um zu erkennen, wie innig seit je der Konnex zwischen uns und der orthodoxen Judenheit der Österreich-ungarischen Monarchie gewesen ist. Wir wollen nur ein paar Tatsachen zusammenstellen.

Der Stolz der ungarischen Orthodoxie, der Chassam Sofer ^'^iT, war uns zu einer Zeit bekannt, als wir von den russischen Grössen kaum mehr als den Namen wussten. Ungarn big uns näher als Russland. Der Chassam Sofer selbst fühlte sich sein ganzes Leben hindurch mit Frankfurt und Fürth auf das innigste verknüpft. Lebte er heute, dann würde die gesamte deutsche Orthodoxie eine Agndas Jisroel ohne Ungarn als eine unmögliche Rumpf Agnda empfinden. Selbst S. R. Hirsch, der vielleicht unter allen seinen Zeitgenossen das feinste kritische Empfinden für die Unzuläng- lichkeiten einer Zeit besass, „die mit wohlfeiler Connivenz lauter "G"':ix:ir, lauter „Eminenzen", lauter „grosse Leuchten", lauter „Wunder der Zeit", lauter "Din'^D'iDI D^J^DIO«, lauter „anzustaunende" Wissensgrössen schafft" (Ges. Sehr. IV, 353), beugte sich voll Be- wunderung und Ehrfurcht vor der ragenden Grösse des Chassam Sofer, „des Grössten unter allen im zeitgenössischen Andenken lebenden Grössen, des Mannes mit dem hellen Auge, mit dem milden Sinn, mit' dem scharfen Geist, mit dem umfassendsten Wissen, mit dem geradesten Urteil, des Mannes, vor dessen Namen ... alle lebenden Rabbinen tief und willig ihr Haupt neigen . . . den wahrlich nicht als Floskel die jüdische Welt: ^iD ^D bv IDI D^ljn, den ,, Lehrer der ganzen Judenheit'' nennt'" (das. S, 4*^'). Als zu Beginn des vorigen Jahrhunderts die Errichtung desRi-iurm-

168 Das oithodoxe Judentum in Mitteleuropa.

tenipels in Hamburg jene berühmte Gutachtensammlung veranlasste, das r\''l'2n ^~\21 'D, worin die grössten rabbinischen Autoritäten der damaligen Zeit jede liturgische Retorm als einen Bruch mit den Grundlagen der Religion erklärten, da war es der Chassam Sofer, der sich in seinem Gutachten mit besonderer Ausführlichkeit und mit einer Energie aussprach, die sich nur aus der nahen Be- ziehung erklärt, die schon damals zwischen der deutschen und uue-arischen Orthodoxie bestand. Wir hatten eben hüben und drüben ungefähr gleichzeitig die gleichen Erlebnisse. Die Arader Reform des Aron Chorin, den der Chassam Sofer int< nannte eine ironische Bezeichnung, welche die Anfangsbuchstaben des Namens und die Ähnlichkeit mit Elischa ben Abuja nahelegten war so gut wie die Hamburger ein deutsches Gewächs.

Diese nahen Beziehungen innerhalb der mitteleuropäischen Orthodoxie sind auch in der Folgezeit niemals unterbrochen worden. Es war sicherlich kein Zufall, dass S. R. Hirsch von Emden nach Nikols'ourg kam. Noch heute dürfte eine ähnliche Berufunir in eine jüdische Gemeinde Husslands auf grosse Schwierigkeiten stossen. In Mähren dagegen fühlte man sich schon damals der deutschen Orthodoxie nahe geniig, um auf den schwierigen und verantwor- tungsvollen Posten des Landesrabbiners eine Persönlichkeit zu be- rufen, von der man sich gerade auf Grund ihrer bisherigen Wirk- samkeit in deutschen Gemeinden die Erfüllung weitgehendster Zukuiiftshoffnungen versprach. Wenn es nun aber auch S. R. Hirsch nur zum Teil gelang:, die grossen Erwartungen, die man in Mähren auf ihn setzte, zu verwirklichen, wenn auch heute gesajit werden muss, dass die Lebensbasis der mitteleuropäii^chen Orthodoxie in Nikolsburg so wenig zu finden ist, wie in Oldenburg und Em- den, so dürfen uns doch die faktischen Widerstände, weil sie nicht alle Blütenträume reifen Hessen, nicht dazu yerleiten, die sympto- matische Bedeutung jener Berufung an und für sich zu unter- schätzen. Es steht eben doch fest, dass die speziellen Vorzüge, die einen Mann wie S. R. Hirsch zierten, auch in Mähren Beachtung und Verständnis fanden, auch wenn es dort gar manche Kreise gab, die in wehmütiger Rückerinnerimg an Gestalten wie R. Mor- dechai Baneth u, a., die Uirschs Vorgänger auf dem Nikolsburger

Das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa. 169

Rabbiiiatssitz waren, den Wandel der Zeit nicht tief und laut ge- nug beklagen konnten. Diese Kreise fanden sich in Hirsch nicht zurecht. Sie stiessen sich an Ausserlichkeiten und wussten mit der originellen Art, wie der neue ,,Landrow" die Thora lernte und lehrte, nichts rechtes anzufangen. Sehi bezeichnend hierfür ist eine Reminiszenz meines Vaters über den Eindruck, den S. R. Hirsch auf meinen Urgrossvater V'? machte, als dieser gelegentlich eines Besuches auf dem iDp seines Lehrers R. Mordechai Baneth b"] einer Predigt Hirschs an einem mii' "'"Tl r\2'^ zuhörte. Nach langen Jahren noch pflegte mein Urgrossvater, der zu den hervor- ragendsten D^^^l Ungarns zählte, kopfschüttelnd von dieser n'^li des Nikolsburger Landrow zu erzählen, in der von nichts anderem die Rede war als von ,,Sara" und nochmals ,,Sara" und immer wieder ,,Sara" .... Wir haben es heute leicht, über solche Ein- drücke zu lächeln, wir sollten sie aber niemals ausser Berechnung setzen, wenn wir bei der Schaffung des Riesenwerkes ekier Welt- organisation der orthodoxen Judenheit auf das einzig sichere Fun- dament der inneren Gemeinschaft nicht verzichten wollen.

Ein ähnlicher Vorgang wie die Berufung Hirschs nach Nikols- burg: war die von Israel Hildesheimer nach Eisenstadt, nur mit dem Unterschiede, das« im Gegensatz zu Mäbren, wo der Abgrund zwischen Orthodoxie und Neologie gemeindepolitisc-h verdeckt wer- den konnte, in Ungarn gerade in Hildesheiniers Tagen der seit Jahrzehnten schon wühlende und rumorende Widerstreit zwischen Alt und Neu mit vulkanischer Wucht zum Ausbruch kam. Viel zu wenig und viel zu scblecht kennen wir unsere eigene Geschichte, sonst dürfte es fürwahr nicht vorkommen, dass man die hämischsten und absprechendsten Urteile über die ungarische Orthodoxie von Leuten hört, die den Beginn der jüdischen (ieschichte von dem Augenblick des Wachwerdens ihres eigenen Interesses für das Judentum datieren, die immer nur vorwärts doch niemals rückwärts schauen und daher auch nicht den Dunst einer Ahnung haben, welch ein weittragendes, in seiner Art einzig dastehen- des historisches Ereignis der ,, ungarische israelitische Kongress" im Jahre 1869 war.

170

Das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa.

II.

Uns lio^t eine Ikoschüre vor : „Äusfürlicher Rechenschafts- Bericht der umstehend namhaft gemachten, zu einer Partei geglie- derten 35 Mit^-lieder des ungarischen israelitischen Congresses. Herausgegoben vun dem Mitgliede desselben Ür. Isrnol Hildesheimer. Erster Theil. Prag 1869. Verlag von Dr. 1. Hildesheimer." «chon die ersten Sätze des Vorwortes zeigen deutlich, was es mit diesem Kongress tür eine Bewandtnis hatte: ,,Ein für das jüdische Kultur- leben überhaupt und das ungarische insbesondere, hochwichtiger, ja wohl beisjnelloser Akt hat sich eben abgewickelt, ein kulturgeschicht- liches Ereignis von der grössten Tragweite, nach unserer gewissen- haften Ueberzeugung aber vor der verhängnisvollsten Tragweite. Der Congress geht zu Ende, der Congress, der eine so unbeschreib- liche Aufregung hervorgerufen hatte, der, noch im Anzüge begriffen, die Brüder noch viel mehr zerklüftete, als das schon frühere Fak- toren gethan hatten, den wohl eine Partei mit einem stürmischen Hosiana begrüsste, die andere aber wie eine dunkele Gewitterwolke heraufziehen sah, als ein grosses w^eites Grab, in welches die uns als Menschen und Religionsgenossen heiligsten und theuersten Güter eingesargt werden, und. wenn es dem Hüter Israels gegenüber möglich wäre, der Verwesung übergeben werden sollteu*'.-

Wir hatten in Deutschland niemals ein ähnliches Erlebnis. Bei uns spielten sich die religionspolitischen Kämpfe immer blos in engen Räumen ab. Selbst der Austrittskanipf Ende der siebziger Jalire des vorigen Jahrliuuders war lokal begrenzt und rührte nicht im entferntesten die Gemüter der gesamten deutschen Jnden- heit so von Grund aus auf, wie jener Kongress die ungarische Judenheit revolutionierte. Und wie lang hat es gedauert. Itis es der Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums gelang, in allen orthodoxen Kreisen die ihr gebührende Beachtung zu finden ! Auch die Kämpfe für und gegen die verschiedeaen Projekte einer Gesamtorgauisation der deutschen Juden wühlten keine \'<'lkstieten auf, obwohl es sich bei diesen Kämpfen ohne Uebertv. il)unii; um Sein und Nichtsein des überlieferten Judentums han'Icitr. Mag dieser Unterschied nun auf eine Verschiedenheit

Das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa. 171

des Temperaments oder der Intensität des religiösen Denkens und Fühlens beruhen, so steht es doch jedenfalls fest, dass unsere ungarischen Gesinnungsgenossen eine viel reichere politische Ver- gangenheit hinter sich haben und sich darum auch einer weit grösseren politischen Reife erfreuen als wir. Denn wer die Geschichte des ungarisch-israelitischen Kongresses kennt, wird wissen, dass alle^ jüdischen Probleme, die erst lange Zeit danach sich uns in Deutsch- land langsam aufdrängten, in Ungarn schon damals mit erstaunlicher Sorgsamkeit und Reife behandelt wurden. Organisationsfragen, Erziehungsfragen, das Problem des Kabbine. s, der Lehrer, der Je- schibah, des Seminars, Steuerzwang und Gewissensfreiheit, die Frage der Doppelkonfession unter den Juden, Dinge, die noch heute weiten Kreisen der deutschen Judenheit ziemlich fern liegen, sie wurden auf dem ungarisch-israelitischen Kongress mit einer solchen, auch in die Tiefe gehenden, Ausführlichkeit und mit solch starker Leidenschaft erörtert, dass wir diesen Kongress g;eradezu als den Höhepunkt in der Geschichte der jüdischen Religionspolitik des vorigen Jahrhunderts bezeichnen möchten. Wir können und wollen hier den Kongress nicht systematisch darstellen vielleicht entschliesst sich einmal eine der Landesrepräsentanz der ungari- schen Orthodoxie nahestehende Feder dazu, eine aktenmässige Schilderung zu schreiben nur ein paar Tatsachen wollen wir verzeichnen, damit unsere uneingeweihten Leser, und wohl die meisten dürften uneingeweiht sein, von den damaligen Vorgängen »ich wenigstens den Anflug einer Vorstellung bilden können.

Der Kongress war ein Kampf auf zwei Fronten, ein Kampf der Orthodoxie gegen die Neologie und ein Kampf innerhalb der Orthodoxie. Schon vor dem Kongresse tiat, wie die erwähnte Broschüre erzählt, „die grosse, schwerwiegende, und für die ganze Folge entscheidende Frage an uns heran : sollen wir engeren Ge- sinnungsgenossen uns streng auf unsere Partei beschränken und uns nicht nur nach Links, sondern nach Rechts absondern und nach beiden Richtungen hin Front machen, oder sollen wir alle Schattierungen der orthodoxen Partei zu einem compnkten Ganz'^n vereinigen ? Wir entschlossen ims zu letzterem" (das. S. 6). Es ist nun ungemein lehrreich, sich gerade in einer Zeit, in der wir

172 Das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa.

auch innerhalb der deutschen Orthodoxie Zerklüftungen erlebten, die Gründe zu vergegenwärtigen, aus welchen beim Beginn des Kongresses ein Zusammengehen der gesamten ungarischen Ortho- doxie sich noch als möglich und erforderlich empfahl. Hören wir was HildesheiTOer als ersten dieser Gründe bezeichnet : „Einmal nämlich mussten wir uns vergegenwärtigen, dass doch in der Tat die orthodoxe Partei, im Ganzen und Grossen betrachtet, eine einige ist, die rücksichtlich spezifisch-jüdischer Tendenzen im All- gemeinen dieselbe Zwecke verfolgt, die Erhaltung des ehrwürdigen altjüdischen Lebens, möglichst weiten und tiefen Ausbau der Thora und Bewahrung des streng religiösen Lebens in der Ge- meindeorganisation. Und gehen auch die Mittel und Wege zur Erreichung und Reservierung dieser heiligsten Güt'^r bei den Schattierungen der orthodoxen Partei ott, ja meist, sehr weit aus- einander, so waren wir doch geradezu verpflichtet, in erster Linie an die Identität des gemeinsamen Zweckes, innerhalb dessen sich die Hauptfragen des Kongresses bewegen sollten, zu denken, und der Hoffnung Raum zu geben, dass eine Vereinbarung der Mittel bei Gemeinsamkeit des Zweckes, trotz grosser Schwierigkeit der Verständigung, doch ermöglicht werden könnte". Je mehr wir heute geneigt sind, Fragen der jüdischen Gemeindepolitik als Kri- terien für das Wesen der Orthodoxie abzulehnen, desto wichtiger ist es zu betonen, dass damals zur Zeit des ungarischen Kongresses selbst die Orthodoxie, die an die Möglichkeit einer Verständigung mit der Neologie glaubte und auf Grund dieses Glaubens ihr Ver- halten zum und beim Kongress einrichtete, keineswegs gewillt war, den Begriff einer jüdischen Gemeinde zu neutralisieren. Auch ihr galt „Bewahrung des streng religiösen Lebens in der Gemeinde- Organisation" als eines der gemeinsamen Zwecke, in deren För- derung alle Schattierungen der Orthodoxie sich zusammenfinden müssen, wenn sie den Anspruch auf Zugehörigkeit zur Orthodoxie nicht verlieren wollen. Auch ihr war die „Erhaltung des ehrwür- digen altjüdischen Lebens" ohne „Bewahrung des streng religiösen Lebens in der Gemeindeorganisation" ein uninöglicher Gedanke.

Die Einheit der Orthodoxie blieb nicht lang gewahrt. Bei der Diskussion über die dem Kongress vorliegenden „Gemeinde-

Das orthodoxe Judentum in Mittsleuropa. 173

Organisations-Elaborate" kam es zum Bruch. .,Jetzt aber kam die Katastrophe, welche die Reihen unserer Partei sehr, sehr lichtete und bis zu Ende des Kongresses nicht wieder füllte. Herr Rabbiner Steinhardt war zum ri'ht* dazu berufen. . . . Herr St. . . . hielt die Gloriticationsrede seines Erzeugnisses, was man |ihm keineswegs verdenken kann, wenn er die Verantwortung dafür zu tragen im Stande ist. Es beliebte jedoch demselben nicht, dei der objek- tiren Behandlung stehen zu bleiben, sondern dem Kitzel der Selbstgefälligkeit seiner, der Fortschrittspartei dadurch freundlichst entgegen zu kommen, dass er sein Mütchen gegen die ganze or- thodoxe Partei, als welche wir alle an unserer Seite erschienen, kühlte. Letzterer Ausdruck ist wahrlich noch sehr gelind für fol- genden Passus seiner Rede, und unter der grössten Aufregung verliessen damals, wie es uns scheint, einige vierzig den Saal, und erweiterte sich später die Secession dieser, die den Saal nie- mals wieder betraten, auf 53. Wir zitterten wohl alle wie Espen- laub, die Knie wankten uns, wir mussten uns sagen, dassi^die Er- regtheit gegen solche Blasphemie ihre volle Berechtigung habe, und auch von uns selbst ging jeder ernst mit sich zu Rate, ob er Colt» H' N2:v sei, bei solcher Niedertracht im Kongresse zu bleiben-, und dennoch entschlossen wir uns, wohl gebrochenen Herzens und bezüglich unserer ganzer Tätigkeit lahm gelegt, zu bleiben, um noch manches Andere, wenn gleich wenig so herausforderndes, von einem Rabbiner ! ! ! Gesprochenes, doch so oft die Schamröte ins Gesicht Drängendes zu hören, um Märtyrer der Pflichterfüllung zu sein . . . Dass wir es an Bemühungen nicht fehlen Hessen, unsere Freunde zum Wiedereintritt zu bewegen, brauchen wir wohl nicht erst zu sagen. Dass sie vergeblich waren, ist bekannt wer weiss, vielleicht waren sie im Rechte. Unser gemeinsames Mitraten und Mittaten mit denselben wurde jedoch hierdurch noch mehr gelockert, da wir unseren Beratungen die Richtung der im Kongresse vorliegenden Spezialien geben mussten, jene aber in ihrer Weise berieten, was ihnen auf ihrem Standpunkte opportun erschien. So schied sich de facto die Clubverbindung. Wir kon- centrierten uns de facto mehr und mehr zu einer Fraktion, ob- gleich wir de animo nicht weniger Sympathien zu den ehrwürdigen Häuptern jener Fraktion haben".

174 Das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa.

Wenn wir die,en Passus aus Hildesheimers Rechenschaftsbe- richt wörtlich zitieren, so leiten uns hierbei zwei Gründe. Erstens dürfte schon der heisse Atem, der uns noch heute nach bald fünfzig Jahren aus diesen Sätzen entgegenschlägt, auch diejenigen unter unseren Lesern^ die von dem ungarischen Kongress bisher nichts wuss- ten, von der Richtigkeit unseres Urteils über die Bedeutung dieses Kongresses überzeugen. Denn wohl selten hat eine Versamnolung getagt, deren Vorgänge die Gestaltung einer ganzen Folgezeit so tiefgreifend beeinflusst haben, wie der ungarische Kongress die Zukunft des ungarischen und mittelbar auch die Zukunft des deut- schen Judentums bestimmte Diese Sezession der 53 orthodoxen Deputierten ( auf diesem durch den ungarischen Kultusminister eröffneten und mit dem ganzen Pomp des ungarischen Parlamen- tarismus geleiteten Kongress war die gesamte ungarische Judenheit durch gewählte Abgeordnete vertreten ) stellt das erste Beispiel einer über den Rahmen der akademischen Erörterung hinausgehen- den Absage an das nachmendelssohnsche liberale Judentum dar. Sie ward zum Ausgangspunkt einer Entwicklung, die zu einer über die Judenheit eines ganzen Landes sich erstreckenden Scheidung zwischen Orthodoxie und Xeologie führte. Was bei uns in Deutsch- land lokal begrenzt und halb widerwillig conzediert erscheint, das hat dort in Ungarn mit der ganzen elementaren Wucht eines un- abwendbaren Naturereignisses die jüdischen Gemüter eines ganzen Landes erfasst und sich bis auf den heutigen Tag durch alle Stürme und Kämpfe auch an Gegenströmungen im eigenen orthodoxen Lager hat es nie gefehlt durchzusetzen und zu erhalten ver- mocht. Wir in Deutschland suchen uns heute zu allen jüdischen Angelegenheiten in ein kühles, verstandesmässiges Verhältnis zu setzen. Wir fragen realpolitisch nach Vorteilen, die der Religion erwachsen können, wenn wir dies und jenes unternehmen oder unterlassen sollen. Den Meisten unter uns sind die Gefühlswerte der Religionspolitik längst abhanden gekommen. Denn wir haben niemals einen ungarischen Kongress erlebt. Uns ist die Leiden- schaft einer Sezession, die an das Grössenmass der rabbanitisch- karaitischen Kämpfe gemahnt, stets fremd geblieben, und nur ver= einzelte schwache Wellen der ungarischen Sturmflut des Jahres

Das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa. 175

1869 haben auch unsere Ufer bespült. Was z. B. von Frankfurt aus im letzten Jalirzehnt des vorigen und im ersten dieses Jahr- hunderts an religionspolitischen Kämpfen innerhalb der deutschen Orthodoxie sich ereignete, das geht mit seinen tiefsten Wurzeln auf die Erregungen des ungarischen Kongresses zurück, insofern damals die wichtigsten Vorkämpfer und Bekämpfer der sogenannten „Tren- nungsorthodoxie" in Deutschland dem vielgestaltigen Nährboden des ungarischen Judentums entstammten. Wie oft hat man dem gegenwärtigen Rabbiner der israelitischen Religionsgesellschaft zu Frankfurt a. M. die Ambition zugeschoben, das „Organisationstatut für die autonome jüdisch-orthodoxe Religionsgenossenschaft Ungarns und Siebenbürgens" auf deutschen Boden^ zu verpflanzen ! Sollte jemals ein mitteleuropäischer Block der Agudas Jisroel geschaffen werden können, so wird man sich hierbei nicht zuletzt an die Ver- biudungsfäden erinnern müssen, die nicht erst seit gestern und vorgestern vielmehr schon seit Jahrzehuten von der ungarischen zur deutschen Orthodoxie hinüber- und herüberliefen.

Noch aus einem anderen Grunde glaubten wir den citierten Passus des Hildesheimerschen Rechenschaftsberichts unseren Lesern wörtlich vorführen zu sollen. Unsere Leser erinnern sich vielleicht an den Aufsatz „Eine Kriegserklärung" in No. 6 des vorigen Jahr- gangs dieser Zeitschrift. Wir kamen da u. a. auf einen sehr be- denküclien Satz zu sprechen, den wir zu unserer Ueberraschung in einer sonst sehr sorgsam frisierten „Monatsschrift für Lehre und Leben im Judentum" fanden und der folgendermassen lautete: „Es handelt sich natürlich dabei nicht um den Karapt gegen die letzten Endes für den Westeuropäer ungefährlichen Fanatiker im Osten, wenn diese dem Vorkämpfer ihrer Sache in Ungarn auch das Leben schwer genug gemacht haben und Esriel Hildesheimer in den Bann getan." Wir erlaubten uns damals, diese Entgleisung mit einigen Bemerkungen zu glossieren, und der Herausgeber un- serer Zeitschrift erzählte in seinem Nachwort u. a.: „Dann kam man auf die widrigen Verhältnisse zu sprechen, welche der Rabbi h"Tt in Ungarn durchzukämpfen hatte, aber wer glaubt, dass dabei das Wort „Fanatiker" gefallen wäre? Wer glaubt das. der je den Rabbi S'i'T kannte?" Aus unserem Zitate wird auch der Ungläubige

176 Das orthodoxe Judentum in Mitteleui-opa.

erkennen, wie Hildesheimer über seine „fanatischen" Gegner in Ungarn dachte: , . . . wer weiss, vielleicht waren sie im Rechte" . . „obgleich wir de animo nicht weniger Sympathien zu den ehr- würdigen Häuptern jener Fraktion haben,"

Ob nicht um ein bekanntes Wort des früheren Reichs- kanzlers Bülow zu variieren das orthodoxe Judentum in Deutsch- land am unverstandenen Hildesheimer leidet?

Wenn sich noch während des Kongresses innerhalb der un- garischen Orthodoxie eine Spaltung vollzog, indem die Abgeordneten um Hildesheimer an die Möglichkeit einer Einigung noch in einem Augenblicke glaubten, als die hervorragendsten Autoritäten der Gegenseite zu einer Trennung entschlossen waren und diese bereits durch Lossagung vom Kongress begonnen hatten, so wäre es ein schwerer Irrtum zu glauben, dass die Gründe dieser Trennung le- diglich auf dem Gebiete wie man heute so gerne spricht „taktischer" Fragen lagen. Auch die „Seminarfrage", die „Reor- ganisation der niTtJ^'''', die „wissenschaftliche Ausbildung der Ba- churim" kurz, die Bildungstrage war es nicht zuletzt, welche die Gemüter heftig bewegte. Schon die Persönlichkeit Hildeslieimers, dessen edle Absichten auch von denen anerkannt wurden, die „ihm das Leben sauer machten", war ganz dazu getan, um einer neuen Bildungsdevise eine den n^SnJl jener Zeit unerwünschte Geltung zu verschaffen. Denn je gebildeter Hildesheimer selber war und je weniger unter seiner Bildung seine, Frömmigkeit und seine Thora- kunde litt, desto grösser war die Gefahr, dass der Nachahmungs- trieb, den eine ungewöhnliche Persönlichkeit immer weckt, auch Solche ergriif, die an Hildesheimer nur das bewunderten, wodurch er sich von den ungarischen ü'hli: unterschied. Vergessen wir nicht, was das für eine Zeit war, in der sich die ungarischen De- putierten zusammenfanden, um das ungarische Judentum zu „retten". Auch in Deutschland waren damals die Emnnzipationskänipfe kaum abgeschlossen. Die Erregungen der niendelssohnschen Zeit zitterten noch deutlich nach. Man hatte damals, nicht so wie heute, wo wir auf ererbtem Besitz geruhsam einzuschlaten pflegen, noch das deutliche, unmittelliare Empfinden von den katastrophalen Eigen- schaften und Wirkungen der „neuen Zeit'-. Die Kougressverhand-

Das orthodoxe Zudentum in Mitteleuropa. 177

lungen widerhallten von allerhand Revolutionstiraden, welche auch die gewaltige innere Anteilnahme der Orthodoxie an dem neuen Erleben nur allzudeutlich verrieten. Dieses Neue, Moderne war nicht immer so gründlich verdaut, wie es die seelische Gesundheit erfordert hätte. Wenn um nur einige Kongressstimmen wieder zum Klingen zu bringen der Abgeordnete Moritz Diamant sich also vernehmen Hess: ,,Sie wissen es alle, meine Herren, bis jetzt durchzog ein tiefe» Gähnen die gesamte ungarisch-siebenbürgische Judenschaft ; sie erwachen aber jetzt, unsere Brüder, sie hören auf zu gähnen, reiben sich die Augen und fragen: was haben unsere Deputierten, unsere Ablegaten für uns geschaffen? Träumen wir, oder träumen die Herren? Meine Herren, während wir in ernster und würdiger Stimmung die dem Kongresse vorliegenden Arbeiten beraten, geht die Weltgeschichte ihren regelmässigen Gang, mit ihrem eisernen Tritt und Schritt" oder wenn Herr Weinberger der Hoffnung Ausdruck verleiht, dass es ihm vielleicht doch gelingen ^werde, ,,ex memoria aus dem Paragraphenmecr einige §§ herauszufischen" oder Herr Philipp Schlesinger (der spätere Rabbiner von Nagy- Tapolcsäny, Yerfasserrdes tt>j li niin) die Gegenwart als die Zeit charakterisiert, ,,wo man das Inslebenrufen einer biblisch-karai- tischen Sekte in unserem Vaterlande anstrebt, wo wir unwillkürlich ausrufen müssen: Hannibal ante portas!" wenn Herr Rabbiner Weisse Worte spricht, ,,die ich mir gestern nicht mit Tinte, sondern mit dem Blute meines Herzens flüchtig aufgezeichnet habe',' wenn Herr Moritz Diamant sich später abermals erhebt und in den Saal u. a. auch die Worte schmettert: „Meine Herren, der Ruf, der uns hierhergebracht, lautet: Die ungarischen Gemeinden sind krank! Wir stehen nun als Chewra Kadischa Männer am Kranken- bette. Hüten Sie sich, den ungarischen Gemeinden die Feder vor die Nase zu legen, der vermeintliche Kranke wird mit einem Hauch Dire Paragraphen wegblasen unn seine Lebensfähigkeit beweisen" : so gewährt uns diese hochtönende, in Bildern und Fremdwörtern schwelgende, nicht immer geschmackvolle Rhetorik einen tiefen Einblick in die Stimmung des Kongresses und in die seelische Verfassung seiner Redner, und wir begreifen auch, dass Männer, die sich innerlich vor dem Einbruch des Neuen immer sorgsam

178 Das orthodoxe Judentam in Mitteleuropa.

abgesclilossen hatten, sich schon am Tone des Kongresses stossen »nussten, einem Tone,' der ein seltsames Gemisch von Beth-Haniid- •asch-Geist und halbverdauteu Bildungselementen war. Die Abkehr von Hildesheimer war daher sicherlich mehr ein Ausdruck des Misstrauens. welches die ,, Fanatiker" nicht seiner Persönlichkeit, sondern dem Sturm und Drang, der auch die Orthodoxie ergriffen hatte, entgegenbrachten.

Wie aber zumeist in einer Zeit des Sturmes und Dranges neben wilden, unausgereiften, geschmacklosen Gebilden auch Ewiges und Fruchtbares, ja oft Unvergleichliches und Geniales gedacht und geschaffen wird, so bietet auch der ungarische Kongress dieses Dop])elbild: neben unfertigen Gedanken und Forderungen auch solche von erstaunlicher Grösse und Reife. Wir haben es bereits gesagt, dass die jüdische Religionspolitik der Gegenwart kaum ein Problem aufweisen dürfte, das nicht schon auf dem ungarischen Kongress behandelt, zumindest gestreift worden wäre. Wir wüssten keine Versammlung, die mit solcher Gründlichkeit über das Wesen der jüdischeu Gemeinde und die damit zusammenhängenden Fragen sich Klarheit zu verschaffen gesucht hätte, wie der Kongress es getan hat. Man muss z. B. die Revisionsbewegung in Bayern mit- erlebt haben, man muss nur dabei gewesen sein, mit welch ner- vöser Angst auch in orthodoxen Kroisen Bayerns dem Kern dieser Fragen ausgewichen wurde, um die geistige Reife und sittliche Ehrlichkeit zu bewundern, mit der man damals in Ungarn über diese Dinge verhandelte. Einige treffende Aeusserungen über jüdische Gemeindefragen, die damals gefallen sind und die für gar weite Kreise der deutschen Orthodoxie auch heute noch des he- iehrenden genug enthalten, mögen hier Platz finden. „Wir stehen an der Schwelle von Beratungen über Organisation der Gemeinden und Schulen. Bevor wir zu diesen Beratungen schreiten, müssen wir uns einige Fragen s'ellen: Was ist das Wesen einer jüdischen Gemeinde, was ist ihre Aufgabe und welche Prinzipien liegen ihrer Organisation zu Grunde? Es ist unbestrittene Wahrheit, dass das Wesen einer jüdischen Gemeinde ein relii:iöses ist. Denn sie ist nichts anderes als eine Gesellschaft, die zusammentritt, um die gegenseitigen religiösen Interessen zn fördern, sonach auch ihre

])a8 orthodoxe Judentum in Mitteleuropa. 179

Aufgaben rein religiös sind, denn sie hat keinen anderen Zweck, als jene religiösen Institutionen, deren die Gemeinde bei Erfüllung ihrer religiös-en Pflichten bedarf, und die der Einzelne nicht an- schaffen kann, zu befördern, zu erhalten und ihren Glaubensgenossen zugänglich zu machen. Die Prinzipien aber, welche derselben zu- grunde liegen, meine Herren; das können wir durchaus nicht abstreiten sind die Religionsgesetze, unsere Fundamentalgesetze, die Grundprinzipien, auf denen sich die Gemeinde bewegt. Meine Herren, die jüdischen Gemeinden sind vielleicht das älteste Kommu- nalwesen der Welt, ihre Existenz zählt nach Jahrtausenden. Aber noch älter ist das Fundamentalgesetz, aus welchem die Gemeinden hervorgegangen sind. Es ist Niemand hier, der nicht gestehen würde, dass die Gemeinde aus diesem Gesetz hervorgegangen und nicht umgekehrt, dass das Gesetz aus der Gemeinde hervorge- gangen wäre. Die Organisation der jüdischen Gemeinde kann sich also nur innerhalb dieses Gesetzes bilden, sie hat noch immer «freien Raum genug; gegen das Gesetz dürfen wir nicht Verstössen. Eine Gemeinde, die sich anschickt das Gesetz zu Verstössen, negiert sich selbst und hört auf, eine jüdische Gemeinde zu sein. Meine Herren! Der Kongress ist die Vertretung aller jüdischen Gemeinden Un- garn und Siebenbürgens, der Kongress ist aus diesen Gemeinden

hervorgegangen. Man kann also dem Kongress kein grösseres Recht vindizieren, als die Gemeinden selbst haben. Unter dem- selben Gesetze, unter welchem die Gemeinden stehen, steht auch der Kongress, sein Wirkungskreis hat innerhalb des Gesetzes zu sein, seine Kompetenz darf er nicht überschreiten" (S. 29f.). Man

. merkt es dem Redner an, dass er die Schriften S. R. Hirsch's ge- lesen hat. Besonders der Satz „die jüdischen (gemeinden sind vielleicht das älteste Kommunalwesen der Welt" ist eine offenkun- dige Reminiszenz aus dem Jeschurun. Wie eingehend sind auf

- dem Kongress die Kriterien einer jüdischen Gemeinde beraten worden! Man braucht nur die verschiedenen Amendements zu dem verhängnisvollen § 2 des „Majoritätselabortits" zu studieren, um den Eindruck zu gewinnen, dass die Deputierten des Kongreisses auf der Höhe iiirer Aufgabe standen und das Bevvusstsein von der

180 Das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa.

Tragweite ihrer Verhandlungen und Beschlüsse ihnen keinen Augen- blick entschwand.

Wie eine erschlitternde Tragödie mutet das Verhalten des Kongresses zu dem Problem der Einheit des Judentums an. Die Einheit des ungarischen Judentums sollte durch ein offizielles Be- kenntnis der gesamten ungarischen Jndenheit zum Schulchan-Aruch aufrecht erhalten werden. Hätte sich der Kongress auf den Schul- chan Aruch festgelegt, dann wäre es wohl nie zu einer durch- greifenden Trennung gekommen. Und wie haben die um Hildes- heimer um die Einheit förmlich gebettelt! ,.Ich will nicht im Namen Anderer, denn dazu bin ich nicht berechtigt, aber in meinem eigenen Namen die Bitte stellen, in der Ueberzeugung, dass alle Mitglieder des Kongresses ich wiederhole es: alle, alle keine karaitischen, sondern mosaisch-rabbinische Juden sind. Das ist unser historischer Name. In der Ueberzeugung, dass alle Ihre Herzen für jüdisches Interesse, für alle jüdischen Brüder warm und liebe- voll schlagen, stelle ich die innige ^Bitte, sprechen wir es offen und unverhohlen aus, dass wir alle Bekenner dieses Judentums sind, und ferner, wie man es bezeichnet hat, des traditionell- jüdischen Judentums. Sie sind es, nun so sprechen Sie es in einem Paragraphen irgendwo aus, sprechen Sie es aus, das fromme Wort, Brüder und Freunde, es wird dieses Wort kein Wort, son- dern eine rettende Tat sein, ermöglichen Sie es, dass Ihre Brüder, die fast die Hälfte des Kongresses ausmachen, mit Ihnen transi- gieren. Meine Herren. Sie sind im Besitze der Macht, Sie sind gew^iss im Besitze der Intelligenz, treten Sie Ihren Brüdern näher, machen Sie das Wirken dieses Kongresses zu einem jetzt und in der folgenden Zeit vor Gott und Menschen wahrhaft gesegneten und crspriesslichen, das kann nur durch ein einheitliches Wirken geschehen. Der Monat Schewat schliesst heute, das ist der Monat, der nach der Tradition die Trennung eines Stammes von einem andern gebracht hat in der zweiten Hälfte; der Monat Adar be- ginnt heute Abend und da heisst es, dass die Freude grösser werde. Wolle Gott, dass uns dieser Monat zu einem wirklich freudigen werde." Dieser ungarische Kongress ist ein unvergängliches Zeug- nis für die auch in Deutschland erlebte Tatsache, dass die Einheit

i

Das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa. 181

des Judentums nicht durch einen Mangel an Friedensliebe aufseiten der Orthodoxie zerstört wurde. Hätte die ungarische Neologie den beweglichen Bitten der orthodoxen Kongressdeputierten sieh nicht hartnäckig verschlossen und es giebt heute im neologen Lager zahlreiche Stimmen, welche diese Hartnäckigkeit als einen schweren Fehler bezeichnen und zwar auch vom Standpunkte eines selbst- bewussten Liberalismus, der elastisch genug gewesen wäre, sich wie in die Bibel auch in den Schulchan-Aruch hineinzuinterpre- tieren - dann wäre nicht nur die Zerreissung des ungarischen Judentums verhindert, zumindest vertagt worden, es wäre auch nicht geschehen, dass die Orthodoxie mit der agitatorisch so un- endlich wirksamen Dornenkrone des Martyriums aus dem Kongress hervorgegangen wäre. Allerdings darf man sich nicht einreden, dass die Orthodoxie auf dem Kongress bloss geklagt und gebettelt habe. Es fiel gar manches mannhatte Wort, gar manche energische Forderung ward erhoben, die Kongrossatmosphäre war sogar zumeist explosionsreit geladen. Ja, es möchte uns heute fast naiv anmuten, wie man da nicht müde wurde, ausgesprochene Liberale auf den Schulchan-Aruch festlegen zu wollen. Man konnte sich eben damals noch nicht vorstellen, dass es einen vernünftigen Menschen geben könne, der sich ein Judentum ohne Schulchan-Aruch zu denken vermöchte. Einer der Redner führte zum Vergleich die pragma- tische Sanktion als den „heiligen, historischen Rechtsboden der ungarischen Nation" an. So müsse auch die „heilige schriftliche und mündliche Lehre unserer Religion" als unsere pragmatische Sanktion anerkannt wenden. Denn was bleibt von einer jüdischen Gemeinde, wenn sie den Boden des Schulchan-Aruch verJässt? In diesen Diskussionen über jüdisches Gemeindewesen fiel auch manch treffliches Wort über die Unmöglichkeit einer Scheidung von religiösen und administrativen Gemeindeangelegenheiten. „So wie die Schale des Eies mit wesentlich ist, wenn das Ei seinem Zweck entsprechen soll, wie die Rinde des Baumes den Bestand und das Leben desselben bedingt, so sind auch die äusseren scheinbar nur administrativen Einrichtungen des Judentums mit dem inneren Wesen desselben so sehr verwachsen, dass eine Ver- letzung der erstereu notwendig den Ruin des letzteren nach sich

182 Das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa.

zieht." Auch das neoIo<^e Dogma von der Gleichberechtigung der Richtungen ward gründlich zerzaust. Wenn Ilildesheimer damals sagte: ,. . . . eine Anschauung, die die ganze jüdische Vergangen- heit, selbst das älteste Institut, das Bundes/eichen, abrogiert, die terner dadurch, dass sie das, was wir unser Zukunftsideal, ja unsere Zukunft nennen, verleugnet, die dadurch mit unserer Zukunft ge- brochen hat: eine solche Anschauung, die die Vergangenheit sowohl wie die Zukunft verleugnet, kann selbstverständlic'i auch in der Gegenwart nicht im Judentum stehen" dann täten, meinen wir, auch heute noch, zahlreiche Abkömmlinge aus Hildesheimers Schule gut daran, einem Urteilsspruch, der Hildesheiraf^r ,, selbst- verständlich" war. doch etwas mehr Verständnis entgegenzubringen, als ihr religionspolitisches Verhalten in Gemeinden und Verbänden vermuten lässt. Mit der ganzen Vehemenz der ungarischen Rhe- torik entlud sich der Zorn der Orthodoxie auch gegen die geplante Gesamtorganisation der ungarischen Jndenheit. Vier Jahrzehnte vor den diversen Organisationsentwürfen des deutsch-israelitischen Gemeindebundes und des Verbandes der deutschen Juden wurde in Budapest von orthodoxer Seite gegen die Gefährdung der Ge- meindeautonomie Sturm gelaufen. ,, Wissen Sie, vor welchen Ge- spenstern wir so sehr zurückbeben? Vor dem misstönenden Geläute der 18 l'räsidenten-Glocken, von denen eine auch i\ Ihre Hand gelangen könnte; wir schrecken zurück vor dem schwarzen Schatten der 18 Tribunale im Lande mit den Präsidenten und Schriftführern an der Spitze, die drei Jahre ihre herrschende Gewalt uns fühlen lassen werden. Vor jenen Tribunalen, wo die besten Kräfte unseres Volkes durch die parlamentarische Taktik und raffiniert angewen- dete Hausordnung lahm gelegt werden. Vor jenen Tribunalen, wo die Ehre unserer ergrauten Religionsanwälte in Kot getreten wird, wo über deren Sein der Stab gebrochen wird. Vor jenen Tribu- nalen, wo man unseren Gemeinden ihre Autonomie rauben wir<l. Das sind keine Gespenster, das sind leibhaftige schwarze Gestalten, die vor unseren Augen auftauchen'". Die „Ehre unserer ergrauten Religionsanwälte" ist keine persönliche Angelegenheit der Rabbiner, sondern ebenso ein jüdisches Gesamtaniiegen wie die Autonomie der Gemeinden. Hierin darf uns die ungarische Orthodoxie vor-

Dai orthodoxe Judentum in Mitteleuropa. 183

bildlich sein. Eine nur von „im praktischen Leben stehenden -Männern" beschickte rabbinerlose Versammlung', wie die ,,zum Zwecke einer Aussprache über den Zusammenschluss der Gesetzes- treuen aller Länder"' einberufene in Frankfurt a. M. am 29. Okto- ber 1911 wäre in üng-arn ein Unding. Als der Kongress die Stellung, des Rabbiners in seiner Gemeinde behandelte und dabei ein Statutenparagraph zur Sprache kam, der ,,in und zwischen den Zeilen nichts als Animosität, Beschränkung seiner Machtvollkom- menheit und seines .moralischen Einflusses atmete", da konnten die Rabbiner es , unter ihrer Ehre" finden, „pro domo zu sprechen", und sie konnten dem ..gesunken Sinn der Oeffentlichkeit vertrauen", ,. solche Lieblosigkeit und Selhstschändung richtig beurteilen zu können". Ob auch bei uns eine solche ,, Selbstschändung" mit dem gleichen Vertrauen dem öffentlichen Urteil anheimgegeben werden könnte? Wir zweifeln sehr, denn wir kennen genau den Zersetzungsprozess der rabbinischen Autorität in seinem Zusammen- liang mit dem Schwinden der Thorakunde und des Thorageistes in den Gemeinden. Schön hat sich Hildesheimer auf dem Kongress über den unschätzbaren Wert einer talmudischen Volksbildung aus- . gesprochen: ,,Es ist unser grösster Stolz, wenigstens ich bin da- rauf so stolz, wie wenig andere, dass wir einen sogenannten Laien- stand haben, populär gesprochen, dass wir Balbatim haben, die durch ihr tiefes talmudisches Wissen im Stande sind, den Rabbiner zu kontrollieren. Denn der Rabbiner hat nicht die Macht zu binden und zu lösen, er hat nur die Macht, vorliegende Fragen der Vor- schrift gemäss zu interpretieren. Tut er dies nicht ganz, so wird einer der gewissenhaften Balbatim zu ihm gehen und ihm sagen, dass das nicht auf dem rezipierten Boden stehe, und der gewissen- hafte Rabbiner wird sich dadurch nicht beleidigt fühlen, wird viel- mehr hocherfreut" darüber sein und wird ihm sagen: Ich danke Ihnen; es ist wahr, Sie haben Recht, und ich freue mich, dass meine Gemeinde solche Mitglieder hat, die mich kontrollieren können**. In der Tat lehrt eine vergleichende Betrachtung der deutschen und ungarischen Orthodoxie, dass die Ueberhebung des Laienstandes gegenüber den Rabbinern im umgekehrten Verhältnis zu seiner Fähigkeit, sie zu kontrollieren, steht. (Fortsetzung folgt.)

R. B.

184 Vom Schächten.

Vom Schächten.

Das Schächten ist Gelegenheitszeremonic, während z. B. Schofar, Sucka, Lulaw i-e|;:el massige, an eine bestimmte Zeit ge- knüpfte und mit ihr stets wiederkehrende Uehnngen sind. Einen Unterschied in der „Weihe" kennt das Religionsgesetz nicht.

*

Die ])rin/,i])ielle Vorschrift des Schächtens ist in dem Gottes- worte der schriftlichen Lehre ausgesprochen. Die Einzelheiten des Gesetzes sind Moses am Sinai geoflfenbart worden.

4: *

*

Dass der Einzelne ohne Zeugenhekräftigung beglaubigt ist, die Schechita vorschriftsmässig ausgeübt zu hat en, während auf zivil- und kriiuiiialrechtlichem Gebiet ein Tatbestand nur durch Zeu- genaussage erwiesen werden kann, berulit auf dem Grundsätze, dass dort, wo es in der Hand des Ausübenden liegt, den Tatbe- stand zu schaffen, zu dessen rechtlicher Anerkennung es keines

weiteren Erweises bedarf.

* * *

Die theoretische Ausbildung des Schächters ist insofern noch wichtiger als die praktische, als unter Umständen die Schechita bei praktischer Unbeholfenheit doch giltig sein kann, weil die theoretische Kenntnis eienn etwa geraachten Fehler wahrzunehmen vermag.

*

Wie der Grundsatz „die Mehrzahl der sich mit Schächten Befassenden ist als des Schächtens kundig zu betrachten" zu ver- stehen ist. ist zweifelhaft. Für die Praxis hat er insofern keine Geltung, als in jedem Falle genaue Prüfung der Persönlichkeit des Öchächters erforderlich ist. An der Spitze der Qualificationsbe- dingungen steht Gottesfurcht. Das Schächten ist also kein Hand- werk, sondern eine religiöse Funktion, zu deren Ausübung der

Fungierende religiös qualifizierl sein muss.

* * *

Musikalisch gebildet braucht kein Schächter zu sein. Denn Einseitigkeit der Interessen und Konzentration des Geistes ist

Vom Schächten 185

wünschenswert, ja erforderlich zur vorschriftsmässigen Ausübung der Schechita.

* Der Schächter muss auch körperlich qualifiziert sein. Zit- ternde Hände, hohes Alter etc. legen die Befürchtung der Unfähig- keit zum Schächten nahe.

* * *

Dass Frauen nicht schachten, kann auf Brauch aber auch auf Gesetz beruhen. Schon die Alten lehren, dass dort, wo grosse Mühe und intensives Aufmerken erforderlich ist. Frauen, wenn es sich um eine Thoravorschrift handelt, zu keiner Vertrauensfunktion zugelassen werden. Es ist darum klar, dass Frauen, die körperlich und geistig nicht allen Anforderungen öffentlicher Funktionen ge- wachsen sind, von der Schechita, die sowohl an den Körper als auch

an den Geist nicht geringe Zumutungen stellt, ausgeschlossen sind.

* * ^

Der Gegensatz zwischen Nnn: n^ und f]lp nti>j;o, der in den Vorschriften über das Schächten eine Rolle spielt (bei der Frage, inwiefern ein ji'j? i^iy Unzulänglichkeiten des t:mtJ* zu paralysieren vermag ) beweist einerseits, dass das Schächten kein mechanisches Tun, sondern eine intelektuelle Handlung ist, andererseits wie klar bewusst die Thora sich der Aehnlichkeiten aber auch der Grenz- linien zwischen Mensch und Affe ist.

* * *

Nach Mancher Ansicht soll Jemandem, der noch nicht 18 Jahre alt ist, keine Schächterlaubnis (nh^p) gegeben werden. Erst

im Alter von 18 Jahren ist die nötige geistige Reife vorauszusetzen,

* * *

Der gottesdienstliche Charakter der Schechita tritt eklatant in dem Segensspruche, der beim Schächten gesprochen wird, hervor. Bei der Frage, ob einer, der nicht schachtet, für einen anderen, der schachtet und den Segeusspruch nicht sprechen kann (weil er stumm ist) einspringen darf, entsteht der Zweifel, ob die ntSNTkt^n r\D12 als pmn nD"i2 oder als mifö n3'i3 oder als nNmm nr^» n^na zu be- trachten ist.

* * *

186 Vom Schächten.

Audi dann, wenn das Meiscdi eines reinen Tieres nieht zum .Menschengenuss verwendet \v( rden soll, wird etii))f()hlen, rielitig zu sehäeliteu. I>as reine Tier, dessen Fleisch in den Mensehen Orga- nismus übergehen darf, wird so in jedem Fall aus der ül)rigen Tierwelt herausgehoben und gewissermassen als Eliregeschöpf

behandelt.

* *

*

Wer bedauernswerter ist, der Stumme oder der Taube, das hängt im allgemeinen von den Gefühlswerten ab, die jeder Ein/eine dem Reden- und Hört'nkr)nnen als (TJüeksfaktoren beilegt. Fest steht, dass Stumudieit sowohl als Taubheit die Selbstbehauptung des Meusehen im Daseinskampf und die Vollkommenheit seiner Leist- ungen wesentlich beeinträchtigt. Allerdings wird diese Beein- trächtigung entsprechend den Leistungen grösser oder geringer sein, und so liegt es sicherlich im Wesen der Schechita als einer geisti- gen, ja priesterlichen Funktion begründet, wenn das Religionsge- set/. beim Schocliet Stummheit als einen schwereren Mangel als Taubheit begreift. So einfach, wie es scheint, ist es nicht, über

die Gründe sich klar zu werden,

* * *

Die Schechita ist kein robustes Metzge.rhandwerk. Denn ab- gesehen von der religiösen Weihe, mit welcher das Schächten vom Keligionsgesetz umkleidet wird, stellt die Technik der Schechita selbst, auch rein konkret betrachtet, an den Schächter Anforder- ungen, die den Geist ungeschlachter Roheit von vornherein aus- schliessen. So soll sich der Schochet vom Genuss geistiger Ge- tränke möglichst fern halten, damit er jederzeit im Stande sei, an seinem Schächtmesser auch die kleinste und feinste Scharte w^ahr= zunehmen. Trunkenbolde können gute Metzger, doch niemals gute

Schochtim sein.

* *

*

Im Religionsgesotz wird eingehend die Frage behandelt, wie sich die Haushaltungen einer jüdischen Gemeinde zu verhalten haben, wenn sich nachträglich im Können und Wissen oder im persön- lichen Charakter des Schochet ein Maugel zeigt. Die Weihe des jüdischen Hauses hängt wesentlich von der gesetzmässigen Quali-

I

Vom Schächten. 187

fikatiou des Schächters ab. Nirgendwo tritt daher das Abfiaiien des religiösen Geistes so krass zutage, wie in der Minderbewertmig des Schächtens im Vergleich zu anderen Kultusangelegenheiten einer jüdischen Gemeinde. So oberflächlich, so äusserlich, so falsch und verschroben ist das jüdische Denken und Fühlen geworden, dass ihm der Schächter vielfach als ein Kultusbeamter niederen Grades erscheint, weil er seine heilige Funktion nicht im Ornat und Bäffchen vollzieht,

* In seinem auch für Nichtbayern sehr lesenswerten Buche „Die staatskirchenrechtliche Stellung der Israeliten in Bayern" spricht sich Prof. Heimberger in Bonn über das Schächten u. a. folgender- massen aus: „Das Schächten ist eine Kultusfunktion und Kultus- funktionen dürfen nur von approbierten und autorisierten Kultusbe- amteu vorgenommen werden. Zwar kann jeder bei der Tötung eines Tieres genau die äusseren Handlungen vornehmen, in welchen das Schachtel) besteht; aber er darf sie nicht als ritualmässige Kultusfunktion ausgeben, wenn er nicht als Kultusbeamter autori- siert ist. Tut er es dennoch, so liegt darin die von § 51 Rel.-Ed. gemeinte Verletzung .der Rechte und Gesetze der Kirchengewalt, gegen welche der Rabbiner den Scutz der Staatsgewalt anrufen kann." Wie sehr diese Ausführung Heimbergers im Sinne des Keligionsgesetzes ist, kann nur Jemand beurteilen, der die Erör- terungen kennt, die sich an den Satz des '"2 in den r^ii'üt* n';;'?- 1.11 knüpfen und insbesondere in den Ausgangspunkt dieser Erörter= ungeu, die Darlegungen des ü^'Nl, sich einmal gründlich vertieft hat.

Hinter dem Schächten steht immer die Persönlichkeit des Schächtenden. Der technische Akt des Schächtens kann noch so vollkommen sein, so liegt doch niemals ein ritualmässiges Schächten vor. wenn das Moment der religiösen Verpflichtung und Verant- wortlichkeit ausgeschaltet ist. nS'2: 'nir nü'nU* heisst es in der Mischna. Ein NichtJude kann niemals Schochet sein, auch wenn er das Schächten theoretisch und praktisch vollkommen beherrscht. Wäre die Schechita nicht eines der Kriterien des orthodoxen Ju- dentums, dann wäre die Reform, die sich an den SsniJ" *;f3ir-Kolo-

188 Vom Schächten.

raturen nichtjiidisclier Sängerinnen ergötzt, sicherlich auch auf die Idee der Einführung nichtjüdischer Schochtim verfallen.

*

Das8 jeder p]inzelne unter uns als 'yc "inc ifzv;' >'3lJ>i?3 der am Sinai heschworenen Gesetzestreue sich niemals entwinden kann, das ist keine rhetorische Phrase, sondern ein halachischer Begriff, der auch beim Schächten eine wichtige Rolle spielt. Ein Schochet z. B., der wohl zu Haus, nicht aber auf Reisen, wo es unl)e(iuemer ist, koscher lebt, der also als p^NTiS m'7''nj SoiK zu betrachten ist, findet keinen Glauben, selbst wenn er den heiligsten Eid schwört, dass er mit einem geeigneten Schächtmesser geschachtet habe. Denn warum sollte Jemand, der sich über den Sinni-Eid hinweg- setzt, Bedenken haben, auch sonst falsch zu schwören? Der Ab- fall von der Religion zertrisst auch die Wurzeln der Sittlichkeit.

^ * *

Der Verfasser des ]nb^r\ "jiny wirft in '2 p^D r]\:i^nv niD'pn folgende Frage auf: ]1VD DN* ,^"D nn^DT rillD |ry2 N^l .V'yNn vS"-» n^nnii np^^m n~i^n: hd ni^vb nn^n )r\:vj'^ nn^DT d^^ i^b^ ^^i)z:d (y^D d"d ^"tr^) nnDTi bb^-n n:^Ni micx nto^ni^'n n:ijn ntj^nt:' üD^n^ pi Im] ^dj^ dddd irf< n:nDn "jcvi^ iriiD ^Nmi y"y ~Tn pn i"y^i ]DnDi D^n^n p"dd V'^^pi noB'b i^i^Di c^i^ipD' r'^D -iio injii:' idid NHVD ^72 ]D^ biüD p^b H^'^:' i^o i^-noo dni tc^ i^^dn "tz ^^- jCi'^D niiiD"! nr^i*: DN1 "jD^nb n:nD ^^yin noS ^^d n:^o y"i<i:^ ^zid ^2{< ütd n^DDi ^ni^ nipiT::' ni: d"n njiiD y"Niy idid d: ^p^pb b^v^n «n^yn:^

nn'Z' b'pD tiiDD ]^}< ^Nm nl^ n^b ni pr'D-iD d-z? 'djd «m n^vi^ ncNm N"iQ:n li^yo n'pi :3"Dn ]c^d hl^d ppb iniddd D"yD ^:nD d^id^ rb'^y^^

Uns will bedünken, dass diese ganze Auseinandersetung auf eine Verkennung des Unterschiedes beruht, der zwischen dem Be- griff des Konträren und dem des Kontradiktorischen besteht. Es dürfte wohl nicht «lasselbe sein, wenn eine m2ff2 nicht in der Absicht n^'^h oder wenn sie in der Absicht ri^vh übt* erfüllt wird. Wenn Jemand erklärt, dass er nicht die Absicht hatte, den Schächtschnitt ntttt'S auszuüben, d. h. um damit das Tier genussfähig zu machen, es sei ihm vielmehr, etwa aus Spielerei, blos darum zu tun gewe- sen, die Luft- und Speiseröhre des Tieres zu durchscheiden, so

Vom Schächten. 189

dürtte doch das eine wesentlich andere Erklärung darstellen, als wenn Jemand sagt, dass er die Absieht hatte, np^:m rwr,i ni nWV^, das Tier gar nicht vorschriftsmässig zu tödteu und nur durch eine seltsame Fügung sei schliesslich doch eine richtige nüTit^» daraus geworden. Im ersten Fall wird der Zweck des Schäcbtens igno- riert, im zweiten negiert. Liessfe sich der gleiche Unterschied auch bei mj nh'^L^ nachweisen, dann ergäben sich auch dort die

entsprechenden halachischen Konsequenzen.

* *

*

Das Schächten niuss eine unmittelbar durch Menschenkraft gewirkte Handlung sein (nüTi'J'n DIN nr). Wann bei einer Schächt- maschine (''JDlü) die Mensclienkraft unmittelbar oder mittelbar {iro HD) wirkt, darüber finden sich im Religidnsgesetz interessante Unter- suchungen, die im Zeitalter der Maschine besonders lesenswert sind.

* *

*

r Nach der bekannten religionsgesetzliehen Entscheidung RJtbb.

Samson Rapliael Hirschs S'VT ist die Frankfurter Synagogengemeinde " „Israelitische Gemeinde" wie eine r>'-Gemeinschaft zu betrachten. Es bedarf darum sehr der Erwägung, ob nicht die im Dienste dieser Gemeinschaft stehende Ritual-Kommission religionsgesetz- lich wie eine unter '" p^c nü^Tki^ m^Sn [vvh n'CT^'^* ^r") zu subsu- mierende Institution zu begreifen ist.

* *

Für eine wichtige religionsgesetzliche Bestimmung beim Schäch- - ten ist die Geschichte von der Opferung Isaks vorbildlich geworden. ('£mz*h n'^^Nön HK "p'T n^NJü» u'iSnn a^nt* r:^'-t*h y:f: Chulin ]6a) Wer würde in einer Erzählung aus der biblischen Vorzeit etwas vermuten, was noch für unsere lieutigen Schcichtim massgebend ist! Aber so ist der Talmud. Für ilin besteht zwischen der Höhe des Moria nnd einem 8chlachth(tf, wo ritualmässig geschachtet wird, auch nicht der mindeste Milieugegensatz. Das sollten sich unsere Lehrer-Schochtini merken, die, weil sie biblische Geschichte unter- richtei:. den Schächterberuf als eine Erniedrigung zu em])tinden

pflegen.

* *

*

(Fortsetzung folgt.) R. B.

190 Talumdisches.

Talmudisches.

Von Bezirksrabbiner J. F r e u n d , Sztiszregen (Ungarn).

Gelegentlich eines Meinungsaustausches mit einem namhaften n"n aus Deutschland über D^nCDl ^"d 'n ni^n. vorzüglich über die Verschiedenheit der Lesarten in dem Satze IT '-^D daselltst. worauf bereits tD"^'in z. St. hinweist, wurde meine Aufmerksamkeit auf einen Aufsatz gelenkt, der über dieses Thema von Herrn l)r. A. Neuwirth, Mainz, verfasst und im „Israelit", Jahrgang 54, No. 16 17^ veröffentlicht wurde.

Beim Nachlesen fand ich nun, dass während einige der An- regung:en, die der Aufsatz bietet, in erhöhtem Masse heachtenswert erscheinen, dessen Postulate und Schlussfolü:erung:en, zum Teile als sachlich unzutreffend, weil den einschlägigen Quellenwerkcn. zuwiderlaufend, eine entsprechende Berichtigung erheischen.

Zur Begründung und besserem Versfändnisse dieser meiner Ansicht über die Neuwirth'schen Ausführungen möchte ich zunächst diese im Wesentlichen hier wieder^^eben und meine Bemerkungen ihnen folgen lassen, wobei versucht werden soll, für manche, wie gesagt, überaus berechtigte Fragen des betreffenden Artikels die Lösung zu finden.

Dr. Neuwirth behauptet :

1. ,,ln allen*) Mischnah.-Ausgaben findet man nur die For- mel: Dnüon irniDt^ l\s:i:^ nw bv "JiD"; und konstatiert die Ver- schiedenheit dieser Leseart von derjenigen unserer Hagadah, wo es bekanntlich heisst : f \"Onn'p li^ni^N b]i; Dp^D p^ticn üb'^ Dir bv Hü*: Um der Annahme vorzubeugen, als ob die Mischnah- Drucker, wie dies bei bekannten Liturgie-Stellen öfters der Brauch sei. nur den Anfang der Hagadah Stellen zitiert hätten, wird vom Verf. fest- gestellt, dass „in der Mischnah von Pesachim ibid.'* die anderen Stellen der Hagadah ,, vollständig angeführt" werden.

2. Dass r]"i-i die kurze Formel der ni^D. D"d^2~i hingegen die längere Variation der nun recipiert habe.

3. Dass die Verschiedenheit dieser zweier Lesarten auf einer Geteiltheit der Auffassungen über den Grund des ni:D Gebotes beruhe; dass nach D"DO"i der Grund für's nüD-Essen sei ,.weil unsere Väter keine Zeit hatten, ihren Teig beim Auszuge aus D"'~iyD sauer werden zu lassen"; r|"'»-i hinwieder die Begründung für die "üO-Pflicht in dem Umstände fände, ,, dass die niJ^D als

*) Nachstehend durch Sperrdruck überall von mir hervorgehoben.

Talmudisches. 191

schwer verdauliches Gericht von den Sklaven genossen" wurde ; nach n""i-| müssteh wir demnach darum m^d essen, weil ,,Gott uns davon befreit hat, diese Speise als Sklaven geniessen zu müssen".

4. Gegen die Formel des D":]0~i, beziehungsweise gegen dessen bezeichnete Vorstellung über die Ursache der niiD-Pflicht werden vom Verf. folgende Argumente in's Treffen geführt.

a) Gott hat n^D m^O unseren Vätern bereits vor dem Aus- zuge aus D^illiO, und zwar sowohl für D"'"i2iD 'nCD als auch mmi^ befohlen; in der Tat haben unsere Ahnen schon in der Erlösungs- nacht riiJO gegessen; auch die Hagada beginnt mit dem bedeutungs- vollen Satze D^DiDi isynt^:: i^^nnD^s i^d« n «^:j; i«^n^ vsn. Das nüD-Gebot könne demnach mit einer Erscheinung, die erst wäh- rend des Auszuges aus D'^lüD zu Tage trat, nämlich mit der Eile, mit welcher dieser vollzogen ward, nicht motiviert werden.

b) ,, Anzunehmen, dass die Israeliten nur mit Aussicht auf baldige Erlösung riiJD gegessen, widerspricht den klaren Worten

von iD):) ü^:v i^^n^ J^n"-

c) Die niin befiehlt, das nOD-Opfer solle pTDnn, in Eile ver- zehrt werden; nach D"DO"l jedoch sollte man erwarten, dass nicht es, sondern die n)iD in einem solchen Zustande gegessen werde.

d) ,,Und schliesslich der Ausdruck liiy Dn'?, was darauf hin- weist, dass unsere Ahnen als Sklaven dieses Brot gegessen, passt nicht zur obigen Erklärung (des Maimonnides) für das n^iD Gebot".

5. Aus all diesen Gründen räumt Verf. der Lesart und der Begründung des r|""*-i den Vorrang ein; und füglich bliebe unsere allgemein gültige Formel in der Hagadah s. v. v. unrichtig!!

6. Da ino unbestritten auf die Sklaverei hinweist, n'ü'D aber nach D"I10~i erst beim Auszuge aus derselben Begründung findet, sei die von ü"DDn gewählte Reihenfolge : HiiD "p "iPiS^T "niD ncD chronologisch unanfechtbar ; merkwürdig sei es aber, dass auch n"'''!, der ,,den Grund für n)iD als schon vor der Erlösung an- gängig bezeichnet'' (siel), ebenfalls die Reihenfolge: ~)MD nOD nüD D"n«1 hat.

7. ,,Ganz auffallend bleibt aber die Reihenfolge in unserer Hagadah, denn nach Maimonides wäre der Grund für n^iO erst beim Auszuge zu suchen" ; es sollte demnach nicht heissen : nCD "ino D"as*T nüD, sondern : niiD D"nNi miD nCD. „Leider wurde diese Reihenfolge von keiner Seite beanstandet".

Alldem gegenüber kann festgestellt werden :

Ad. 1. In allen Wilnaer Misehnah-Ausgaben findet sich die

sogenannte kurze Formel nicht nur bei DiJD, sondern auch bei nCD

und IMD.

192 Talmudisches.

Ueberall heisst es nur: ^nn bv Dipcn nDDtt' Dltt» bv .nCD- öw bv Hilf: ;2miDD irm^x )ba}:':; d)Z' bv .nyc ;Dn2iOD "ii\n^Dx

Ohne Zutat der entsprecheDden Scliriftverse zu je- dem Satze. In den Wilnacr Talmud-Ausgaben aber wird die „längere Formel", also mit Beifügung des je weil igen Schrift Verses als Motivierung, überall, auch in Betreff von riüD ange- wandt, ganz so, wie sie uns in der Hagadah voi liegt.

Dass dies voraussichtlich beim überwiegenden Teil aller Ausgaben der Fall ist, dafür bürgt der Altmeister auf dem Gebiete der niNDl^J ^Dl^^n, der Verf. des DnoiD pilpl, dessen dieställige Äusserung, der besprochenen Mischnah in den jüngsten Wilnaer Ausgaben als Randglosse beigefügt, also lautet : nvi^^'Dn b'D'n xn^S ^^dt^ n:^D2 d^xdidh irn^ ^d^ d^p^ddh 'Z^'Z'inn D^DiDim -D^i^^n c^ciDin bjn d"d^d^ '^t2b]:;^^^'2'<l; ny2?ü2) •d"-i (n"'^) •^^''üm DiD"i nnj< n^jH'z' ^'''i^'nnDn ^"Dy Diesem

Demnach kann es als unumstösslich gelten, dass die alten Mischnah-Ausgaben. da es sich um landläufige, allgemein bekannte Liturgien handelte, blos den Anfang der betreffenden Stellen an- geführt hatten, denn sie taten dies, nicht wie Verf. behauptet, nur bei n^Q, vielmehr auch bei riDD und ~niD. Die Lesart der Hagadah ist daher, von einer geringfügigen forinellen Unebenheit abgesehen, auf die wir noch zurückkommen, mit derjenigen der Mischnah restlos identisch, auch wenn wir uns an die älteren Drucke halten, geschweige denn nach den Talmud-Ausgaben. Immerhin wäre es nun interessant, zu erfahren, wo Dr. Neuwirth gefunden hat, dass die n;i:'Q bei n^D blos die kürzere, bei nCD und "inD hingegen die längere Formel gebraucht.

Ad. 2—3. Es ist, gelinde gesagt, vollends unerfindlich, wie Verf., dessen Namen man auch in halachischen Zeitschriften be- gegnet, dies aus den Worten des Rif herauslesen konnte. Abge sehen davon, dass, wie ad, 1 nachgewiesen, auch die n:^:2 keine „kurze Formel" in diesem Sinne kennt, schreibt ja der n"n aus- drücklich wie folgt: i D N J ^^ nnijci i:\-nDN iSs::^ DW bv ^"^^ "1D1J1 m ü 0 n m y ^ "i y q d i t< ^ ü - :-, i 'i' x p i{ d n n n i c n ^ i 'iDi nDHDnnb i^d^ i<b\

Dass dieser letzte Passus, die Begründung für die nüO mit dem Schriftverse: IDIJI püDn DH 1Ci<"'l in allen r|"n- Ausgaben zu finden sein wird, dafür liefert einen eklatanten Beweis ]"n zur Stelle. Es ist darum von vornherein irrig, wenn behauptet wird, dass nach n"^"i darum niiD gegessen werde, w^eil ,,uns Gott davon be- freit hat, diese Speise weiter als Sklaven geniessen zu müssen".

Talmudisches. 193

Mit dieser Motivierung stünde der auch von r]"i-) herangezogene Schriftvers, zumal dessen Schlusswort : ^b'D'' J^*?! D'^iiJOD I^IIJ "»D noriDnn'?, in keinem Zusammenhange. Dass der r)""'1 liest: bv HUD onüDD irniD« 1^n:ij::' DW. die Hagadah und D"DDn hinwieder: n"t:D DH^^y n':':;^' iy y^^rinb li^niDN b^ opiiD p^Don Nb'Z' ni^ by TO d'?J<J1 , dieser unwesentliche formelle Unterschied, da sachlich beide Lesarten dasselbe besagen : l'?t<j:tt' DW bv und G^NJI vermag an der klaren Ausdrucksweise, die, wie wir ge- sehen, ^'■"'1 zur Begründung gebraucht, nichts zu trüben und nichts zu ändern.

Wahrscheinlich versteht r]"i-i unter l^NJii:' Dil!' '^i? nicht nur, dass, sondern auch: wie sie, nämlich in Hast, erlöst wurden; und spricht mit i^KJJli:' Dllt' bv, nur in gedrängter Kürze, dasselbe aus, was die Formel der Hagadah ausführlicher kundgibt.

Ad. 4, a). Die Fragen können wir getrost mit der Annahme beantworten, die hier unter b) mit einer so leichten Geste abgetan wird.

n^y^"' irD"i D^3 wbn ''b'n^, der ein ]1^{<-i war. bemerkt nämlich zur betreffenden Hagadah-Stelle wortwörtlich folgende^ :

•"ino b^ D:n bv 21^20 nva ]2 bv ^nvrib. Auch verweise ich auf '2 '"i nDlHD, wo Tnyn ü^ bv NIP DDD erhärtet wird. Allerdings gibt sich {^"^^'-ino nn:N zu li HJ^D n"lD T"top O^nOD mit dieser Deutung nicht zufrieden, aber die Lesart der Hagadah lässt er unangetastet n"tt'"'"'y.

c) Wie das nOD-Opfer, so wurde ecoipso auch die dazu genossene HifD ~ in Eile gegessen, zumal nach b':'^!, der "IID "IIIDI nao riDD war. Und noch Eines. Auf die Eile, mit der später der Auszug bewerkstelligt wurde, wies die stoffliche Be- schaffenheit der n 5i D hin, in diesem Sinne heisst es: r\V2'^ DnyD y^üD nKy^ ]M€ir\2 ^2 myc vbv ^dnh D^r:^ -

Bei riDD hingegen, das ganz gebraten werden musste, hatte das ]1?Dn3 im Verhalten des Menschen während des Essen in Er- scheinung zu treten. Vgl. übrigens "'"l£^"i, wie «iry ]2i< z. St., da auch nach ihrer Auslegung die |"iiDn>Pflicht in diesem Sinne nur bei riDD, nicht aber bei ni^D angängig ist.

d) Zugegeben, dass "»Jiy DhS nnr Sklavenbrot bedeutet, lässt sich dieser Ausdruck mit dem Grunde, den d"DD1 für die riiJD- Pfiicht angibt, sehr wohl in Einklang bringen. Vgl. nämlich lillDD z. St,, der ausführt, n"Dpn habe auch hierin mo "I^JD niD gewaltet, weil die D^ilüo den Israeliten keine Zeit Hessen, ihren Teig sauer werden zu lassen i n der Sklaverei, sie trieben sie immer zur

194 Talmudisches.

Arbeit , wurde auch ihre Kiiösung in Eile und Hast vollzogen, dass sie keine Zeit zur Gäriin2: des Tei<;es hatten auch beim Aus- zuge a u s der Sklaverei.

Ad. 7. Schwerwiegeuder wird diese Frage, wenn man be- denkt, dnss d"3G~) selbst, der. worauf bereits riyz^^ HCD aufmerk- sam macht, in 'i 'n n"D D"in n zuerst ncc, dann "ITID und HHO zuletzt antührt, in seiner n"''?:" pT2 n"i:nn nC-, die er den niD'pn als Nachtrag beilügt, die Reihenfolge unserer Hagadah, nämlich : "1110 D"nN") MiiQ ,rCD feststellt. Der Grund hiertür dürfte m. E. in der Verschiedenheit der Art zu suchen sein, wie die praktische Betätigung der üiJC- und "niD-Gebote einerseits D^p p"nrr2'^ ]CTD, andererseits wie sie illP, jOTI] vollzogen wird.

Heute, da nOD nicht vorhanden ist, essen wir zunächst nao, dann in^. Die darauf folgende riD^D ist blos ^ip!2b "IDT. Da nun bei der praktischen Erfüllung der Gebote erst rii'O und dann lliD an die Reihe kommt, ist auch die auf sie bezügliche Formel in dieser Reihenfolge festgelegt. Zur Zeil jedoch, da das Heilig- tum stand, ass man, zumal nach D"Z1D"1 ibid. '") nzibn,- riiJD und IMü niüO^ zugleich, mZi"'1DD ; es konnte also die Reihenfolge in der zu sprechenden Formel mit Hinblick auf die Betätigungfolge dieser Gebote nicht vorgeschrieben werden, da sie zu gleicher Zeit erfüllt wurden. Man wählte darum die Reihenf(dge, die vom Gesichtswinkel der geschichtlichen Zeitfolge bei ihrem Entstehen berechtigt ist; also zuerst IMD mit Hinweis auf die Verbitterung des Lebens i n , dann riiJD als Erinnerung an die später erfolgte eilige Erlösung aus der Sklaverei, ncc wurde bei beiden Lesarten an die Spitze gestellt, da die Pflicht, bei Er- füllung dieser Gebote überhaupt etwas sprechen zu müssen, aus- drücklich nur bei ncc-Opfer geboten wurde. Vgl. ni^iD"! «''jic

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herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kohn, Ansbach, unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Salomon Breuer, Prankfurt a. M.

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Jahrgang 3.

Heft 7.

Wie führen Propheten zum Sinai?

Solange noch unserem Thorafest der Ernst der drei Wochen und Tischobeaw-Trauer aut den Fuss folgt, tönt der Wehruf schaurig durch die Welt: die Thora vom Sinai erfährt noch immer Kränkung von sterblichen Menschen, Schewuoth-Mahnung ist noch immer nicht verstanden, Menschen gehen noch immer in achtloser Gleichgültig- keit am Sinai vorüber.

Grausiger denn je tönt der Wehruf durch die Welt. Mehr denn je lastet Verantwortungsschwere auf jedem einzelnen, der den Wehruf vernimmt und nicht ernst sich gelobt, ihn zum Ver- stummen zu bringen.

Mosche steht am Sinai und will uns führen.

und Mosche führte sein Volk Gott entgegen

Nach Mosche taten es die Propheten. Sie schrieben ihre Worte nieder, damit sie für alle Ewigkeit zu uns sprechen und uns heute noch zum Sinai führen. Denn Kinder dürfen die Thora nicht allein aus der Hand der Eltern empfangen. Eltern müssen ihre Kinder zum Sinai führen. Nur dann werden Kinder bereit sein, die Thora für ihr Leben hinzunehmen. Nur wenn Eltern

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196 Wie führen Propheten zum Sinai?

imstande sind, ihren Kindern zu sagen, dass sie sell)er die Thora vom Sinai empfangen hätten, werden Kinder aufhorchen und sie nach dem Weg befragen, der zum Sinai führt. Dann aber mögen Eltern mit den Worten der Propheten zu ihnen si)rechen.

„Mein Kind ist nicht religiös veranlagt", antwortete mir eine Mutter auf meine Klage über die Gleichgültigkeit ihres Sohnes. Standen nur die religiös Veranlagten vor dem Sinai ? Hat Gott sein Wort nur den religiös Gesinnten gegeben ?

Haltet die Thora nicht um unseretwegen, nicht der Pietät halber. Pietät verlangt auch eine Mumie, eine von Altersstaub bedeckte Säule, eine altersgraue Handschrift. Wehe, wenn Thora um solche Pietät betteln muss !

Pietät vermag auf Achtung zu appellieren. Was auf Pietät Anspruch erhebt, ist wohl geschützt vor frivoler Missachtung. Aber Pieiät kann nicht ein ganzes Lehen fordern. Die Thora aber ver- langt es.

Blättern wir in den Büchern der Propheten. Überall leuchten Sinaiblitze und grollt Sinaidonner. Haben wir Augen und ein offenes Ohr.

Dein Auge schaut gedankenvoll in die Natur, haftet am Grossen und am Kleinen. Und das Kleinste wird dir zum Wunder- baren, Unbegreiflichen. Du gehörst nicht zu den Gedankenlosen, die zu schauen vermögen, ohne dass der Gedanke fieberhaft ar- beitet. Und die Rätsel erdrücken dich. Weshalb das alles? Du kannst nicht atmen, wenn du darauf keine Antwort vernimmst. Und von wem ? Und wozu ? Du schämst dich nicht kindlicher Fragen. Sie sind dir Lebensfragen. Da entdeckst du Gott. Überall schaust du Offenbarung seines Willens und gewahrst göttliche Un- begreiflichkeit. Mit deinem Leben selber bist du Ausfluss göttlichen Schöpferwillens, seiend durch ihn, bangend an ihm. Und Propheten hätten nicht recht, wenn sie von dir forderten, recht nahe dein Ohr zu neigen, um göttliches Lebenswort zu vernehmen? „Xeiget euer Ohr, kommet zu mir, höret, es lebe euere Seele " (Jes. 55).

Wie führen Propheten zum Sinai ? 197

Nur aus Gott erhält dein Leben Sinn, Der Verwirklichung göttlichen Willens dient eine Schöpfung, hat auch dein Leben zu dienen. Nach innigster Hingabe an den göttlichen Willen wirst du streben, und in dieser Hingabe deine Vereinigung mit Gott finden. In dieser Vereinigung erhcält dein Leben seinen Halt. Gott führt dich. Du bist Gott vermählt (Hos. 2). Du vernimmst gött- liches Liebeswort, wenn du Lebenswort von Ihm erwartest. Nur wenn du befähigst wirst, deine Lebensziele mit den göttlichen Ab- sichten zu vereinen, ist eine Ehe möglich. Nimmer aber bist du imstande, aus dir heraus zu begreifen, welche Ziele Gott mit dei- nem Lehen gefördert wissen will, Verstehst du, was es heisst, wenn Propheten dich auffordern zu kommen, um 'l "i^D niNlb (Jes. 1) göttliche Ziele zu erkennen V Sie warten, ob du gewillt bist, den Lebensbund mit deinem Gott zu begründen. Diesen Bund aber kannst du nur auf dem Sinai schliessen. Wer Gott die Treue

bricht, den nennen Propheten ri:i"l]: er hat Gott die Ehe gebrochen.

* * *

Ihr nennt Gott euren Vater. Fühlt ihr euch auch ohne ihn „verwaist"? Brechet doch mit der elenden Phrase! Eurem Vater verschliesst ihr den Mund, sobald er euch auf den richtigen Weg weisen will, fühlt euch mündig, sobald er Vaterrechte geltend machen will. Was kein Kind sich seinem Vater gegenüber erlaubt, erlaubt ihr euch gegen Gott. Gott ist euch mit seinen Lebens- forderungen der schlimmste Feind, der euch in den Lebensweg treten könnte (Hos. 14). Wäre das nicht der Fall, der Weg zum

Sinai wäre nicht so verödet.

* * *

Hast du dich einmal entschlossen, dein Leben aus Gott zu begreifen, und dazu musst du kommen dann wirst du kein höheres Streben kennen, als immer inniger dein Leben mit Gott zu verknüpfen, dass es als Ausstrahlung seines Willens sich dar- stelle. Das heisst Gott erkennen. Diese Erkenntnis reicht dir nur der Sinai. Sinai muss sein. Dein Streben wird sein, dem Sinai- gipfel immer näher zu kommen. Und du wirst verstehen, wenn Propheteuwort (Jer. 9) dir zur Devise setzt : „nicht rühme sich der Weise seiner Weisheit" denn was soll sie ihm, „nicht der

198 Wie führen Propheten zum Sinai ?

Held seiner Kraft" denn, was soll sie ihm, „nicht der Reiche seines Reichturas" denn was soll er ihm, „wohl aher rühme er sich, wenn er im Streben, mich zu erkennen, immer weiter ge- langt" — denn das verleiht seinem Leben Inhalt.

* * *

Solange Menschen nicht Gott sind, werden sie nimmer im- stande sein, göttliche Absichten aus sich heraus zu erahnen. Wer nicht Gott aus der Schöpfung und aus seinem Leben streicht, wird früher oder später mit unabweisbarer Notwendigkeit nach göttlichem Oftenbarungswort sich sehnen müssen. Deshalb begnügen sich Propheten, Menschen zu entgöttern und die Ohnmacht mensch- lichen Verstehens und Könnens zu erweisen. Propheten entgöttern den Menschen (Jer.. 16) und machen Raum für Gott. Sie rauben dem Menschenwort göttlichen Charakter und machen Raum für Gotteswort. Damit bahnen sie den Weg zum Sinai. Der ent götterte Mensch muss zum Sinai streben.

* Zu dieser Entgötterung des Menschengeschlechts reicht aber Prophetenwort nicht aus. Es bedarf dazu einer tränenreichen Ge- schichte, denn nur schwer und widerstrebend entschliessen sich Menschen, Götterrechten zu entsagen. Solange das nicht der Fall ist, wird es Sinaiverächter gebeii, wird aber auch der Jammer und die Ode in der Menschenbrust nisten. Wer das alles nicht mit- machen will, wird für Propheten wort Verständnis haben und auf Erfahrung am eigenen Leibe verzichten.

* * *

Jedes Kind der Schöpfung sehnt sich nach dem Licht, bis zum letzten Grashalm, der dem Lichte sich zukehrt. Menschen allein glauben, das Licht entbehren zu können, oder sind ver- messen genug, den Versuch nicht als gescheitert anzusehen, von dem Licht leben zu können, das sie in ihrer eigenen Brust ent- zünden. Dafür schaut ihr Blick auf eine Erde, und da herrscht Not und Finsternis, und sie selber von Drangsal ermüdet, hinaus- gestossen in Dunkelheit (Jes. 8) Und mitten in einer Welt, in Finsternis getaucht, wandelt ein Volk und schaut das Licht

Wie führen Propheten zum Sinai ? 199

(Jes. 9) Sinaiäarameu leucliten ihm. Wer Lust hat, vertausche dieses Licht mit dem fremden.

* „Wer Wind sät, erntet Sturm" (Hos. 8) davon weiss die Geschichte der Menschheit zu erzählen. Nur aus Gottes Hand sind die Saaten zu holen, die, in den Acker des Lebens gestreut, auf Früchte hoifen lassen (das. 10). Prüfet die Saat, die ihr in die Furchen der Zeit streut. Ist sie wirklich keimfähig, dass ihr die

Sinaisamen schnöde von der Hand weisen dürft?

* * *

„Wer hat je den Gottesgeist ergründet?" (Jes. 40). Alle Er- scheinungen einer wundererfüllten Schöpfung offenbaren dir Gottes i Geist. Solange menschlicher Forschergeist auch nicht einer ein- zigen gesetzlichen Erscheinung auf den Grund gekommen, solange er nicht Antwort auf das „Warum" auch nur eines einzigen Ge- setzes gefunden, sind Propheten berechtigt, es als wahnsinnig'e Vermessenheit zu betrachteu, wenn Menschen noch immer nicht aufhören wollen, ihrem eigenen Leben Gesetzgeber zu sein ! Ihr Leben gehört in das Leben der Schöpfung. Auch nur ein Schritt, der den Weg verlässt, den ihr Leben nach göttlicher Absicht zu wandeln berufen ist, zerstört die Harmonie einer wunderbaren

Schöpfung.

* * *

Um dem Sinai sich zu nähern, bedarf's nicht des gläubigen

Gemüts. Dich hat Natur und Menschenleben ergründende Ver- nunft zum Sinai zu führen! ''~\^V b'^Z^W ]n (Jes. 52).

* * *

Was sollst du mit deinem Leben? Gibt es für dich ein An- deres, als mit jedem Atemzug deines Seins göttlichem Willen zu entsprechen? Propheten rufen dich auf, ob du eine andere Lösung der Lebensfrage gefunden ! Freilich, wenn du für Lebensfragen

I kein Interesse hast, dann kannst du auch leben, ohne nach Ant- wort zu hungern. Diesen Hunger setzen Propheten voraus,

; Wenn er vorhanden ist, reichen sie Brot dir, auch Wasser, Wein und Milch (Jes. 55) aus Gottes Hand. Sein Wort allein ver- mag dich zu nähren. Sie warten, ob du was Besseres an seine

200 Wie führen Propheten zum Sinai ?

Stelle /AI setzen vermagst. Bis zum heutigen Tag ist es nicht ge- lungen. Propheten scheinen recht zu behalten.

* *

*

Siehst du, weshalb Propheten die Offenbarung göttlichen Wortes nie Gegenstand des Glaubens sein konnte? Sie bitten dich nicht, flehen dich nicht an, der Göttlichkeit sinaiitischer Offenbarung Glauben zu schenken! Lass es bleiben, wenn du den Mut hast! Versuch zu leben, ohne Sinaiwort zu vernehmen! Wenn du dumpf hinbrütest, wirst du es können. Wenn du das ablehnst, wirst du nach Lebensantwort dich sehnen. Du wirst dich viel- leicht berauschen, um leben zu können.

Der Rausch ist dir die Sinnesfreude. Und sie zeigen sie dir, wie sie taumelnd durchs Leben gehen, ums Haar die welke Blume, an der fahlen Lippe den schäumenden Kelch. Sie weisen aber auch den Anblick der Trunkenen in ihrer Entwürdigung : den Unflat, den Schmutz, der ihren Lebenstisch deckt (Jes. 28). Setz dich zu ihnen, wenn es dich gelüstet.

Der Rausch ist dir der Besitz. Unzählige opfern ihm ihr Leben. Sie beten ihn an und vergöttern die Mächte, die ihn er- schliessen. Propheten aber meinen, dass Menschen sich selber preisgegeben haben, sobald sie Göttern von Gold und Silber Weih- rauch streuen.

Der Rausch ist dir die Lebenslüge. Gegen sie kämpfen Propheten an. Du sollst dich nicht belügen. Du hast ein Recht, klar und Avahr zu schauen. Propheten räumen dir die Hinder- nisse hinweg, die dir den Ausblick auf den Sinai rauben.

* * *

In dessen Leben die Gleichgültigkeit gegen das Gottes wort, der Leichtsinn der Lebensauffassung lebt, hat kein Recht, Kindern das Dasein zu geben (Hos. 9). Dies Recht will erworben werden. Erst wenn du an deiner eigenen Lebensertüchtigung gearbeitet und dich zur Lebensklarheit hindurchgerungen, darfst du Kindern das Leben schenken. Denn nur dann kannst du deinen Kindern •Nahrung reichen. Dein Kind hat Anrecht auf "Lebeusbrot. Es darf an dich mit der Frage herantreten: warum hast du mich geboren? Du bist ihm Antwort schuldig. Weh, wenn dich einst sein stiller

Wie führen Propheten zum Sinai ? 201

Vorwurf trifft, flass du ihm leichtsinnig das kostbarste Vätererbe vorenthalten hast ! Ihr habt euch selber entwurzelt und seid schuld, wenn eure Kinder, die ihr geljoren, elend verkümmern.

Wen schauderte es nicht vor solcher Lebenstragik ?

* *

*

Propheten waren sich recht wohl bewusst, dass sie den Bei- fall gar vieler Kreise gefunden hätten, wenn sie „dem Wein und dem Rauschtrunk" .(Mi. 2) das Wort gesprochen hätten. Aber dann wären sie nicht Lebensführer gewesen. iSie gehörten nicht zn den Männern, die „den Frieden künden, sobald ihre Zähne was zn beissen haben" (das. 3). Sie wollen dir den wahren Frieden und das wahre Leben bringen. Es fragt sich nur, ob du dich

danach sehnst.

* * *

Propheten ist die Welt eine Öde (Jes, 40) solange yoü"

den Menschen der Pfad nicht betreten wird, der zu Gott führt. Menschen können sich nicht ans eigener Kraft das Paradies auf Erden schaffen. Du glaubst nicht an die Möglichkeit einer Para- diesesseligkeit? Wisse: du hast nur die Wahl zwischen Paradies und Hrdle! Gottes Wort schafft Paradies. Menschengesetz kann die Hölle nicht bannen. Du glaubst es nicht, glaube deiner

Erfahrung.

* * *

Menschen brauchen einen Halt, um leben zu können. Prüfe ernst, was dir bis zum heutigen Tag von Menschen geboten wer- den konnte, und es soll mich Wunder nehmen, wenn über dich picht „Hewel"-(iefahl (Jer. 16) kommt, und du nicht einsiehst, dass Vienschen vergebens sich mühen, ihrem Leben selber den Halt «n geben.

Du willst mit deinem Leben einem höchsten Gedanken dienen. Frage deine vermeintlichen Lebeusführer, ob sie dir diesen Ge- ianken nennen kilnnen. ohne dass du fragst: Weshalb? Und so- ange sie dir darauf keine Antwort geben können, sprichst du mit iem Propheten (das.): „nichts P'örderndes ist daran". Die Leere tarrt dir entgegen. Nur wenn Gott dir Führer ist. darfst du dich )eruhi2:eu, wenn du auf das Weshalb aus seinem Munde keine

202 Wie führea Propheten zum Sinai ?

Antwort erhältst. Er weiss es. Du bist aber nicht Gott, brauchst und kannst es vielleicht gar nicht wissen. Dir genügt, dass Gott es weiss. Du fragst nicht: weshalb.

* * *

Vom Sinai geht der Lebenscjnell aus. Menschen brauchen hn. Du zweifelst? Sieh um dich und erkläre mir. warum ver- stehen bis zum heutigen Tag die Menschen uiclit. die „Oede" ihres Lebens in den Gottesgarten zu wandeln. Warum gleicht ihr Leben dem Glutboden, der salzigen Steppe, wo kein Leben gedeiht?

Menschen aber sollen mit ihrem Leben wurzeln. Den dazu geeigneten Boden können sie sich nicht selbst bereiten. Glaubst du nicht der Logik des Gedankens, dann musst du der zwingenden Logik der Erfahrung Glauben schenken. Nur in den Boden, der getränkt ist vom „ewig lebendigen Quell", senk' die Wurzeln deines Lebensbaums, senk ihn tief ein, und mit einem Male wird dein Leben Halt gewonnen haben, dein Baum wird grünen. Früchte tragen ~ und die dorrende Glut nicht zu fürchten brauchen, die bis zum heutigen Tag noch immer dem auf andern Boden ge- pflanzten Baum die Früchte geraubt. Dich wird kein Sturm zu ent. wurzeln imstande sein. (Jer. 17.) Diese Kraft kommt dir von Gott. Diese Kraft ist sein Wort. Solange Menschen dies Gottes wort sich nicht s('ll)er erfinden können, müssen sie es aus Gottes Hand empfangen.

* * *

„Alles Fleisch gleichet dem Grass und es dorret das Gras, denn der Geist Gottes weht dagegen" (Jes. 40). Jede Macht auf Erden muss sich vor allem vergewissern, dass sie mit ihrem Streben dem göttlichen Willen dient. Denn weht der Gottesgeist dawider, dann ist, was eben noch in Machtfülle prangte, dorrendes Gras. Dieser göttliche Wille kann nimmer erahnt, erraten werden. Er muss vernommen werden.

„Alle Liebe gleichet der Feldblume -und es welkt die Blume, denn der Geist Gottes weht dagegen" (das.). Die herrlichste Blüte menschlicher Kultur ist die Liebe. Sie krönt die mensch liehe l'at imd haucht menschlichem Sein Leben ein. Aber uimme) können Menschen sich selber beleben. Es geht nicht an, dass >;•

Wie führen Propheten zum Sinai ?

203

diese herrlichste Blume dem Gottesgarten entwenden, sie auf eigenem Boden pflanzen und sich ihrer Kraft freuen Sie ge de.ht nur auf Gottesboden. Denn auch sie welkt, sobald der Gotteshauch dawider weht. Diese Blume gedeiht lebenskräftig inur auf dem Sinai. ^

* Kein Menschengrififel kann an Kraft mit den wuchtigen Stri- chen sich messen, mit denen Propheten dir (Hab. 2) die dämonische Grosse eines Welteroberers zeichnen - aber auch die furchtbare Ode seines Lebens, die nur Täuschung und Rausch ihm verdeckt und daneben steht das ehernq Wort: „Der Gerechte aber lebt durch seine Hingabe an Gott"! Wen packte da nicht die Sehn- sucht, das Leoen zu erringen, das nicht in den Palästen der Könige nicht auf den Märkten weltumspannenden Fleisses zu gewinnen ist' sondern nur m stillem, unverzagtem Streben nach Gottes Nähe dii^ «rmkt.? Auf solchem Weg kannst du den Sinai nicht verfehlen.-

* * *

Ich blättere in den Prophetenbüchern. Vergebens suche ich lach einen Worte, das unserem „irreligiös" entspräche. Dafür iber kommen auf allen Seiten Worte vor. sie entsprechen unserem- J)h ungebildet und gedankenlos, leichtsinnig, genusssüchtig. ' ropheten haben damit ausgesprochen, was die meisten auf ihrem ^ebensweg dem Sinai entfremdet. Welcher Jude aber möchte roh ^d ungebildet sein ? Der Irreligiosität geziehen werden verleiht ■ar Bildungsanstrich, „nd Religiosität tührt noch lange nicht zum >mai. Fluch solchen Worten!

* * *

, Menschen müssen „Schüler Gottes" (Jes. 54) werden ! Bist ^^ davon durch.lrungen - un.l es gibt für dich keine andere Er- wägung - dann führt dich der Weg schliesslich doch zum Sinai, ►enn nur dort belehrt Gott seine Menschen

* *

fei.v ^:j" ^"^t^«^^^^e»«t°i« sprecht ihr, und wendet der Thora den ucken.P Vergebens forscht ihr, das Gute in eurem Leben zu ent- ^cken : ohne Thora ist doch schliesslich Gold und Silber euer

204 Wie führen Propheten zum Sinai ?

Gott. Wundert euch nicht. Gott reicht euch, was euch gut ist,

ihr aber verschmälit es (Hos, 8.).

* *

Willst du ein Bild haben für das Unterfangen der Menschen, sieh selber den Lcbensquell zu erschliessen ? Menschen graben Cisternen und schütten Wasser hinein und machen sich weisa, das wäre nun frischsprudolnder „ewiger Quell" und müssen noch immer die niederdrückende Erfahrung machon, dass die Cisternen nicht einmal fest genug gefügt sind, um das Wasser zu halten. Vor ihren Augen zerfliesst (his Wasser, und der alte Durst bleibt. Du aber weisst es und bist nicht gewillt, den törichten Versuch immer wieder mitzumachen (Jer. 2).

* Pro])heten fordern von dir, dass du die Güter, die du dir sammelst, nach ihrem Gehalte bewertest. Das ist geboten, wenn du Anspruch auf Vernünftigkeit erheben willst. Du häufst Sill)er und Gold. Weshalb ? Lebst du, um es in dieser Kunst recht weit 7A\ bringen ? Auch das Wissen, das du dir mehrst, kann dich nicht befriedigen, so lange es Selbstzweck ist. Man lebt doch nicht, um zu lernen. Auch die Liebe, die du übst, und die Ge- rechtigkeit, die du vertrittst, kann dir Lebensinhalt nicht bringen. Du kannst deinem Leben nicht Inhalt geben, so lange du das Leben nicht begreifst. Gott allein begreift es. Er hat es dir gegeben. Er braucht es. Du musst von ihm verlangen, dass er dir den Weg weise, auf dem dein Leben sich zu entwickeln bestimmt ist. Du kannst es nicht selber. Sinai muss sein, so wahr Gott ist! „Höret au( mich, und geniesset das Gute'* (Jes. rö) sprechen Propheten mit unwiderleglicher, zwingender Wahrheit.

„Es ist unnütz, Gott zu dienen, welchen Xutzen bringt es denn?" (Mal. 3) das ist doch letzten Endes die Kernfrage. Sie entscheidet, ob der Weg zum Sinai dir wirklich eine Lebcnsan- gelegenheit bedeutet, oder nur dann Gegenstand ernster Erwägung dir ist. wenn durch ihn deine „Carriere" nicht gestört wird. Allet^ hängt daher davon ab, ob du zu den Erbärmlichen dich zählen willst, die nur dann gewillt sind, Lebensfragen Raum in ihrem

1

Wie führen Propheten zum Sinai '? 205

Leben zu göunen, wenn mit ihnen Magen- und Lustbefriedigung

zu gewinnen ist.

* *

*

,,Wer noch Empfindung hat für die Reinheit für die sittliche Weihe, zu der das Leben der Thora den Juden erziehen will, der wird keine Sehnsucht haben nach dem „Jauchzen der Völker" (Hos. 9). Damit aber schwindet der Hauptreiz, der dich dem Sinai zu entfremden droht. Sei nicht genusssüchtig, und der Ernst in dir- wird dich befähigen, dich zur Wahrheit der Siuailehre durchzuringen.

*

..Sättigung finden sie an meinem Gut'* (Jer. 31). Propheten warten, bis du hungrig bist. Und du wirst es werden, denn du findest nirgends Sättigung. Du wirst versucheu, ob das Brot, das deine Väter dir aus Gottes Hand reichen, dich nicht zu sättigen vermag. Und empfindest du dann Sättigung, sollte dann wirkHch etwas in der Welt imstande sein, dir das Brot zu rauben, damit du wieder darbest? Du wirst „über Getreide, Most, Ol und Rinder- fülle zum Gute Gottes streben". ,, Deine Seele gleichet dann einem getränkten Garten", und „du darbst nicht mehr''. Auf der ,.Höhe Zions" findest du diese Sättigung und Freude. Dort reicht man

dir aber Sinaibrot. Es ist alt und doch ewig frisch.

* *

*

Machen euch nicht stutzig die immerwiederkehrenden Worte der Propheten, die von der übermächtigen Kraft reden, die dem in Zion niedergelegten Sinaiworte innewohne : es zermalme Berge und zerstreue Hügel gleich Spreu? Ihr seid doch sonst vorsichtig. Prüfet doch gewissenhaft ihre Worte, und ihr findet euch auf dem

Weg zum Sinai.

* * *

Gott ruft dich auf, seinen Schabbos auf Erden zu wahren. Er sei dir die Wonne und aas heiligste Gut. Denn seine Frucht ist die Liebe: du wirst Armen dein Brot brechen, Nackte bekleiden, deinem Fleisch dich nicht entziehen und die Seele des Darbenden sättigen. Gott heisst dich ein Leben der Liebe leben. Gott führt dich und sättigt mit Wonne dein Leben. Dein Leben hat

I

206 Wie führen Propheten zum Sinai V

Inhalt. Du förderet deinem Gott das von ihm gewollte, von ihm begriffene Werk. Du brauchst die Oede deines Lebens nicht mit Scheinforderungen zu verhüllen. Dein Leben gleicht einem reich- getränkten Garten. Dein Wasser versiegt nicht. Gottes Herrlich- keit nimmt <lich einmal auf. Du fürchtest den Tod nicht. Du kennst ihn nicht in deinem Leben, du kennst ihn nicht im Grabe (Jes. 58). Nur wenn du Lebensoffenbarung Gottes besitzest, hören diese Worte auf, Phrasen, täuschende Phrasen zu sein. Solche Worte vernimmst du nur vom Sinai. Ehe du mir das nicht wider- legen kannst, bewundere ich deinen traurigen Mut, wenn du den Vätern nicht zimi Sinai folgst.

* *

Hast du, ehe du das Sinaiband zerreissest, auch klar erwogen und tief durchdacht das Prophetenwort (Sech. 8): Noch werden Völker kommen und Bewohner vieler Städte und werden sprechen einer zum andern, lasst uns gehen, Gott Zebaoth suchen, anflehen das Angesicht Gottes ; und werden in ihrer Sehnsucht erfassen die Gewandecken eines jüdischen Mannes und sprechen: wir w^ollen rait euch, denn wir haben vernommen, Gott ist mit euch

Dir selber bist du es schuldig, den gewaltigsten Geistesfürsten deines Volkes schuldest du es, erst diese Worte zu verstehen, ehe du deine Wege von den ihren trennest. Sie haben sie ver- standen, deshalb konnte auch nichts in der Welt sie veranlassen, dem Sinaiwort die Treue zu brechen. Du aber giebst dir nicht einmal Mühe, ihre Worte zu begreiten. Urteile selber, welch Geisteskind du bist, wenn du so handelst!

Zum Sinai weist Prophetenwort und verheisst mir: „ich lasse dich das Erbe deines Vaters Jakauw gemessen" Deine Väter haben OlTenbarungswort Gottes in ihrem Leben vernommen. Des- halb vermochten sie zu leben. Für dieses Offenbarungswort sind sie in den Tod gegangen, denn was hätte ihnen Leben ohne dieses Gut gegolten. Sie reichen dir dieses Erbe und weisen dich zum Sinai. Wenn du das Erbe der Väter nicht roh verschmähen, nicht gedankenlos in den Staub zerren willst, musst du ein Leben nachweisen, das diesem Leben an Inhalt gleichkommt. Erst dann darfst du sprechen: ich brauch der Väter Erbe nicht I

Wie führen Propheten zum Sinai V iJO?

Als Jude geboren werden giebt die Verpflichtung, zum Sinai zu pilgern und nicht zu ruhen, bis du Gottesstiramen vernimmst. Einer nichtjüdischeu Welt muss durch geschichtliche Erfahrung die Sehnsucht nach göttlicher LebensoiTenbarung Ivommen. Sie wird sie einst in Zion vernehmen. Dir aber reicht tausendjähriges Vätererbe, reicht das Lebensvermächtnis von Tausenden ge- waltiger Lebensheroen dieses Buch als göttliclies Lebensbuch du schaust gedankenvoll in eine Welt voll Jammer und Finsternis und hast den Mut vorzugeben, ein besseres Lebensbuch dein eigen zu nennen als das vom Sinai dir gegebene ! Solltest du vielleicht gar ohne Lebensbuch zu leben vermögen? Dann will ich es dir glauben. Du roher, ungebildeter Mensch I

„Auf dem Zionsberg winkt Rettung" immer wieder erhe-

)en Propheten (Jo. 3. Obad. Jer.) diesen Warnruf. Verfügt ihr

jereits über solche Lebenserfahrung, ist der Jammer der Welt so

lichtssagend, dass ihr den Mut haben kilnntet, diesen treu und

^ehrlich gemeinten Rat in den Wind zu schlagen ? Wollt ihr nicht

wenigstens versuchen, ob nicht doch ein Körnchen Wahrheit

an diesem Worte ist ?

* * *

Du willst an Offenbarung glauben, möchtest gerne glauben können, dass du mit dem Buche in deinen Händen Verkündigung göttlichen Willens, göttlichen Fingerzeig für dein Leben besitzest Lies den Satz: ., die Armen, die Dürftigen, die nach Wasser suchen, und es nicht finden, deren Zunge in Durst vergeht, ich Gott Averde sie erhören, der Gott Israels verlässt auch sie nicht" (Jes. 41) und wenn du diese Worte tief durchdacht hast, und es dir klar wird, wie arm und dürftig sich Menschen ohne Leljensoffenbarung fühlen müssen, und in Lebensöde nach dem Trunk Wasser ver- gebens schmachten, der ihre Seele zu erquicken vermöchte, dann wirst du nicht gewillt sein, deinen Reichtum von dir zu werfen und die Quelle mutwillig zu verschütten, aus der Lebenswasser dir strömt. Du wirst diese Urkunde fest halten, weil du ohne sie bettelarm wärst und dem Verschmachten verfielest, und wirst deinen Vätern danken, die sie dir vom Sinai geholt.

208 Wie i (ihren Propfieten zum Sinai ?

Du wirst nicht mehr sprechen : lehr mich an Oftenbaruiig glauben, du wirst vielmehr sprechen: lehr mich, wie man leben kann, ohne Offenbarung zu besitzen!

Du bist sehend, bist frei, in deinem Leben tagt es, weil du Gotteswort besitzest, mit Gottes Auge schaust, und von seinem Worte dein Leben beherrscht sein lassest Wisse, danach weiden, „meerferne Völker sich einst sehnen".

Gehe hin : „öft'ne blinde Augen, führe Gefesselte aus Kerker heraus, und aus Gefängnis die im F'instern Schmachtenden" (Jes. 42).

* *

Propheten erschliessen uns den Blick für das Weltthe- ater. Unser Ohr vernimnat das Weh, das von den Enden der Erde aufsteigt. Dieses Weh ist historisch beglaubigt. Das Ohr der Gegenwart vernimmt es. Keine leugnende Lippe vermag es zu mildern. In der einen Hand hält der Prophet die Urkunde, von der Heilung ausgeht : Friede und Seligkeit. In der anderen den Kelch mit d(;m Rauschtrauk (Jer. 25). Noch greifen Völker immer wieder zum Rauschtrank, schlürfen ihn in sinnloser Gier und tau- mebi und fallen Die Geschichte wird endlich doch zur Lehr- meisterin werden.

* *

*

Nur der Bote, der die Kunde bringt, dass Zions Gott Herr- scher geworden, dass eine Welt sich danach sehnt, willig das Ofifenbarungswort Gottes zu vernehmen, wird auch Herold sein für den Anbruch des Friedens auf Erden (Jes. 52), und dass Menschen das Gute und das Heil gefunden. Wer möchte nicht solcher Bot- schaft mit seinem Leben dienen ?

* * *

Nacht auf Erden. Kriegsrosse durchstürmen sie. Gott der „Kriegsmaiin" aber steht ruhig bei d(;n Myrten in schattiger Meeres- tiefe. Er eifert für Zion mit mächtigem Eifer (Sech. 1) Du aber willst Zion verlassen und der Botschaft jener glauben, dass „be- wohnt die Erde und ruhig sie sei" '? Keinen Fleck Erde ausser Zion findest du, wo Menschen im Frieden zu leben vermögen !

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Wie führen Propheten zum Sinai ? 209

Ganze Kapitel schildern den Kampf der Völker wider Jeru- schalaini. Die Tragik der Weltgeschichte ist die Tragik des Einzellel)ens. Die Weltgeschichte kannst du allein nicht gestalten. Al)er deinen Frieden kannst du mit Jeruschalaim schliessen. Der Jammer der Geschichte weist dir den Weg, auf dem du ihn fin- den kannst. Willst dn zum Sinai gelangen, dann miisst du Geschichte lesen.

„An dieser Stätte verleihe ich Frieden", spricht der Prophet (Chag. 2), und heisst unsern Blick in die von grauenvollen Er- schütterungen erfüllte Weltgeschichte sich senken. Solange die Menschheit sich nicht zur Wahrheit bekennt, der das Heiligtum dient, wird sie vergebens nach Frieden sich sehnen.

Das Heiligtum aber fordert Offenbarung Gottes im Menschen- leben, damit das Leben des Menschen in Gott seine höchste Voll- endung erlebe. Wenn du lür dich in einer friedlosen Welt den Winkel dir erspähen willst, wohin der Friede sich geflüchtet, dann rausst du früher oder später zum Sinai kommen. Deshalb warten Propheten, bis die Friedenssehnsucht dir kommt die wahre. Aber nur ein Teil der Menschen, die von Frieden sprechen, em-

jjfinden Sehnsucht nach Lebensfrieden.

* *

Der Fluch geht aus über die Erde. Denn eine Buchrolle fliegt zwischen Himmel und Erde (Sech. 5). Menschen lesen sie nicht, leer ist sie ihnen. Ihre Grösse entspricht dem Heiligtums- mass, doch Menschen brauchen kein Heiligtum. Solange lastet der Fluch auf Erden. Willst du den Segen?

Solange ^lenschen Gott mit ihrem Leben das Heiligtum nicht bauen, giebt es „keinen Lohn für Menschen, keinen Lohn für ihr Mühen, keinen Frieden dem Eingehenden, dem Ausziehenden, und Menschen stürmen wider Menschen" (Sech. 8) Kannst du dies

Prophetenvvortent kräften, nur dann gehen icht den Weg zum Sinai!

* * *

Meinst du wirklich, Gott habe seine Menschen zum Leben berufen, dass sie sich mörderisch gegenseitig zerfleischen? Wenn du von Gott erfüllt bist, aus Gott nur dein Leben zu begreifen vermagst, musst du an den ewigen Frieden nicht nur glauben,

210 Wie führen Propheten zum Sinai ?

(in musKt an seiner Herbeiführung: mit aller Kraft arbeiten. Wann wird Friede sein, wann die Schwerter in Sensen sich wandeln ? Gott niuss „7A\r Krone, zum Diadem" werden : Menschen dürfen keinen grösseren Stolz kennen, als mit ihrem Leben Gott zu dienen; Gott muss 7Ä\m „Geist des Rechts werden und selber zu Gericht sitzen" : Gott muss Quelle jedes Rechts werden, jede Rechts- sprechung von Gott ihre Berechtigung sich holen ; Gott muss zur Macht werden" (Jes. 28): Gott muss aufhören eine Phrase zu sein, Gott ist für dich keine Phrase, und du willst den Frieden dann hol du von Ihm dir dein Recht, von Ihm deine Kraft, und ich will abwarten, ob du um den Sinai herumkommst. Entweder Sinai oder blutgetränkte Schlachtfelder, ewige Gottesoffenbarung oder immer wiederkehrende Kriegsproklamationen ein drittes gibt's nicht!

* * *

Viele Völker werden einst gehen und werden sprechen: lasst uns hinaufziehen zum Gottesberg, zum Hause des Gottes Jakau'vs, dass er uns lehre von seinen Wegen, dass wir wandeln in sei- nen Pfaden (Jes. 2). Mit ergreifender Selbstverständliehkeit wird da ein Ziel verkündet, dem alle Geschichtsentwicklung zu- strebt. Es kann nicht anders sein. Was der einzelne nicht ver- mag, auch Völker, und wären sie noch so mächtig, vermögen es nicht. Der einzelne muss Gottes Lebenswort vernehmen, wenn er leben will, und im Völkerleben sollte nicht auch Gott allein lieben spendend sich erweisen ?

(Jehet durch die Welt, und sehet euch um, wo Menschen ihr Wasser in Freuden schJipfen sie graben vergebens nach dem

Fieudequell. Die Heilquellen springen nur am Sinai! (Jes, 12).

* * *

„Alles Fleisch wird einst kommen und sich mir hinwerfen" (Jes. 66). Bis dahin durchwandert ihr die Zeiten und bauet eurem Gott den Altar und weihet ihm euer Leben. Sein Wort weist euch den Weg. Und fragt einer aus eurer ]\Iitte, was euch denn veranlasst, dieses Lebenswort aus Väterhand hinzunehmen, was euch denn Bürge sei, dass dieses Wort Gottes wort sei? Ihr sprechet: Väter reichen es uns aus der Vergangenheit, Ihr teu- erstes Vermächtnis ist es. Geblutet haben sie für es. Denn sie

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Wie führen Propheten zum Sinai ? 211

wollten leben. Und wollten es ihren Enkeln vererben, dass auch sie leben. Die Väter holten es vom Sinai.

Du glaubst es nicht ? Dein Volk hat dich belogen ? Dann lass es liegen und geh ohne es durchs Leben. Für uns bist du verloren. Denn du vermagst nicht zu leben.

Nein, nicht so : Nimm es auf aus der Väter Hand, vernimm es als Gotteswort vom Sinai her, und dann öffne dein Auge und in die Vergangenheit blick zurück und in die Gegenwart schau hinein, und wenn du erschauernd zurückbebst vor dem Anblick der „Leichen", die den Boden decken Menschen sind's, die leben wollten ohne mein Wort und du erschüttert zurückschreckst vor dem Moderhauch, der ihrem Leben erströmt, dem „Feuerbrand", der ihren himmelstürmenden Lebensbau noch immer in Asche ge- legt (Jes. das.) und du vergebens nach dem Führer schaust, der dich durch's Leben führt, vergebens nach dem Quell gräbst, dem Lebenswasser entströmt, dann wirst du selig die Urkunde mit Händen fassen, und aus ihr Licht und Leben und Frieden dir lesen, und wirst mit ihr im Arme vor den Sinai treten und bebend die Worte stammeln: Sinai muss sein, wenn ich leben v/ill, Sinai muss sein, wenn Gott nicht den Jammer will, Sinai muss sein, wenn eine Welt nicht in Aschenbrand verglühen soll!

Dann war dein Leben der Weg zum Sinai. Dann hast du den W^eg zum Sinai dir erkämpft. Und Propheten grüssen Dich

als den Hiren, Du hast ihre Worte verstanden.

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*

Ergreitend wissen dir Prophetenblätter den Zusammensturz mächtiger Kulturstaaten vorzuführen: in dein Ohr dringt das Weh getäuschter Hoffnung, der Schmerz todesschauriger Nichtigkeitser fahrung, mit der noch immer Menschenwahn den Versuch zu büssen hatte, das Leben auf sich selber gründen za wollen. In das Weh einer grossen Welt mischt sich die träneuvolle Klage der Glieder deines Volkes: auf dem Weg nach der Heimat sind sie, auf dem Weg nach dem Sinai Zion suchen sie; Hessen sich locken und gleichen nun einer verirrten Herde, die ihren Hirten sucht, Ver- irrten, die nach Heimstätte sich sehnen fJer. 50) Wenn die Geschichte der Menschheit sich dir also erschliesst, dankst du

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212 Wie führen Propheten zum Sinai?

doineu Vätern, dass sie die Urkunde dir reichen, die vor Jammer- vollem Weh dich verschonen will.

Was wirst du wohl dem Gedankenlosen, dem Leichtsinnigen erwidern, wenn er sie dir aus der Hand wird reissen wollen ? Man verlässt doch sonst nur die Fahne des Besiegten und rettet sich vom Schiff, das Schiffbruch gelitten. Hat die Sinaifahne, die euren Vätern Jahrtausende voraniieweht, nicht die glänzendsten Siege errungen, haben nicht unter ihrem Zeichen die gewaltigsten Lebenskämpfer Kraft zu heroischem Todesmut gewonnen, hat nicht ihr Lebensschift" die Väter durch alle Stürme der Zeiten sicher hindurchgetragen was doch veranlasst euch, dieser Fahne treulos zu werden, in erbärmlicher Roheit mit Füssen sie zu treten und das stolze Schiff fluchtähnlich wie ein untergehendes Wrack zu verlassen?

Haben denn die Fahnen, denen ihr zueilt, sich bereits be- währt ? 0, über den Leichtsinn, über die erbärmliche Gedanken- losigkeit !

Hat Prophetenwort (Mi. 4) nicht recht, wenn es euch zuruft: „Mögen alle anderen Völker ein jedes im Namen seines Gottes gehen, wir aber wollen im Namen Gottes, unseres Gottes, wandeln bis in die uns verhüllte, aber gewisse Zukunft"

Du blätterst Prophetenbücher, und aus jeder Zeile spricht dir ihr heiliger Wille, dir Führer zu sein auf dem Weg zum Sinai. Und zu ihnen tritt dann vor allem das Buch des gJittlichen Sängers: sein Lebensbuch ist's, in das er hineingesungen hat jeden frohen Sieg, hineingeweint hat jede hinfällige Schwäche, die er in rsoinem Lel)en entdeckt hat auf dem kampferfüllten Weg zum Sinai. Wie er sich den Weg dahin erkämpft, wie er dem Ziele immer näher gekommen, davon wissen seine Lieder dir zu erzählen. Sie wollen dich innig mit deiner Thora verknüpfen. Sie soll dir nicht als Bürde von deinen Eltern auferlegt werden. Du sollst sie umarmen und in ihr alleinige Lebensmöglichkeit grüssen.

An Propheten reihen sich Tanaim. Amoraim, Geonim und Führer: Tausende und abermals Tausende Keine Literatur auf Erden vermag dir solche Geisteshelden an Zahl gleichzustellen !

Wie führen Propheten zum Sinai ? 213

Da war kein einziger, der sich nicht den Weg zum Sinai erkämpft hätte. Die Blätter deiner Geschichte wissen von ihnen zu erzählen. Der Weg zum Sinai war niemals leicht. Nicht erst in deiner Ge- genwart führt der Weg an Irrungen vorüber, durch die eine fremde Kultur in Gegensatz zum Sinai dich stellt. Dein Jahrhundert hat kein einziges Problem aufgeworfen, das nicht zu allen Zeiten die Gemüter der Menschen beschäftigt hätte. Die Führer deines Volkes sind offenen Auges den Weg zum Sinai gegangen. Sie konnten nur am Sinai leben und haben ihr Leben von sich geworfen, wenn man die Sinaiseele ihnen rauben wollte. Denn ohne sie wäre ihr Leben doch kein Leben gewesen.

Ihr teuerstes Vermächtnis hältst du in Händen. Sie haben es dir in deine Wiege gelegt. Du wirst es nicht roh von dir werfen. Du wirst das Erbe antreten und es prüfend zu erkennen suchen.

Schewaioth hat dich aufgerufen. Vom Sinai flammt dir das Leben deiner Väter entgegen. Mosche steht noch immer auf der Höhe,' in einiger Entfernung Ahron, die Priester dann, und am Fusse das Volk, Aus der Geschichte vernimmst du es: Wer von ihnen leben wollte, hat der Höhe zugestrebt. Du gehst nicht gleich- gültig vorüber. Denn du willst leben.

Ein furchtbares Beben erschüttert die Welt. Laut ertönt Zions Klage. Aus Gottes Augen fliessen Tränen, sie gelten dem Leid seines Volkes. Deshalb erzittert die Welt (Berachoth 59). An uns ist's, Gottes Tränen zu stillen. Und dafür hättest du keinen Sinn V

J. Br.

214 I>ie Wurzel des Krieges.

Die Wurzel des Krieges.

Vou Dr. iur. Isaac Breuer.

Fast zwei Jahre ist es min her, dass der furchtbarste aller Kriege die Völker Europas zertieischt und Europas Erde mit end- losen Strömen edelsten Blutes bedeckt. Vieles ist in dieser Zeit über die Ursachen und Veranlassungen der entsetzlichen Katastrophe geschrieben worden. Aber meines Erachtens ist die ilifentliche Auf- merksamkeit viel zu wenig auf ein dem modernen Staat aniiaften- des Begriffsmerkmal gelenkt worden, das als die juristische Wurzel des Krieges ül)erhaupt, als gefährlichstes Hindernis für die all- mähliche Verwirklichung des Friedensideals anzusehen ist: auf das Begriffsmerkmal der Suveränität.

Unter Suveränität des Staates versteht man die gänzliche Unabhängigkeit des Staatswillens von irgend welchen Faktoren, die nicht verfassungsmässig zur Bildung des Staatswillens berufen sind. Der Staatswille soll schlechterdings der höchste sein ; in ihm soll die Allmacht des Staates ihren reinsten Ausdruck finden. Es giebt daher kein Merkmal, über dessen Integrität der moderne Staat mit solcher Eifersucht wacht, wie gerade das Merkmal der Suve- ränität: sie stellt geradezu das Wesen des modernen Grossstaates dar.

Historisch ist der Begriff der Suveränität ein Protest gegen den mittelalterlichen Staat. Der mittelalterliche Staat war nicht suverän, denn die Una])hängigkeit des Staatswillens war sowohl von inneren wie von äusseren Faktoren bedroht oder geradezu eingeschränkt. Was die innerstaatliche Organisation betrifft, so kennt der suveräne Staat keinen grösseren Gegensatz, als den mittelalterlichen Feudalstaat. Das Wesen des Feudalstaats be- steht gerade in einer förmlich privatrechtlichen Belastung und dadurch verursachten Einschränkung des Staatswillens regel- mässig zn Gunsten von Staatsuntertanen, die solchermassen als gleichberechtigte Rechtssubjekte dem Träger des Staatswillens ge- genübertraten und seine Suveränität aufhoben. Andrerseits bedrohte die das ganze Mittelalter beherrschende spekulative Idee des römisch- deutschen Kaisertums und des römischen Weltpapstums von aussen her die Suveränität des mittelalterlichen Staates, da Kaiser sowohl wie Papst den Anspruch erhoben, höchste Richter der Christenheit zu sein, denen sich alle Staaten zu fügen hätten.

Als der Franzose Jean Bodin den Begriff des Staates einer neuen, grundlegenden Untersuchung unterzog und für ihn zum ersten Male bewusst und klar die Suveränität vindizierte, wollte er dadurch sowohl die internationalen Ansprüche von Kaiser und Papst, wie auch die innerpolitischeu Rechte der Feudalherren zu Gunsten des

Die Wurzel des Krieges. 215

franzäsischen Staatsoberhauptes entscheidend zurückweisen. Die Suveränität ist solchermassen als ein überaus taugliches Kampfin- strument in die Welt getreten, mit dessen Hilfe der moderne Staat mit seiner gegen Innen wie gegen Aussen gerichteten Unabhängig- keit errichtet worden ist. Die ganze, aus der Suveränität sich ergebende Machtfülle ist natürlich zunächst dem Fürsten zu Gute gekommen, dessen Person den Staat repräsentierte, Allenthalben ist jedoch im civilisierten Europa mittlerweile der Fürst organschaft- lich in den Staat einbezogen worden; diesem und nicht dem Fürsten steht daher gegenwärtig die Suveränität zu.

Nicht nur die Geschichte der Natur, sondern auch die Ge- schichte der Menschen zeigt das Vorhandensein von rudimentären Ueberresten einstmals überaus wertvoller Organe, die anscheinend ihre ursprüngliche Funktion längst verloren haben und in ihrem jetzigen Bestand dem lebendigen Organismus nur noch zu Gefahr und Verderben gereichen. So geht es auch mit der Suveränität. Sie hat ihre ursprünglich wertvolle Funktion längst ausgeübt, indem sie den modernen Staat seiner mittelalterlichen Fesseln entledigt hat. Aber mit Beendigung ihrer historischen Mission ist sie nicht zugleich vom Schauplatz verschwunden, Sie spielt heute noch eine bedeutsame Rolle, wenn auch in sehr verschiedenem Sinn als wie ehedem. War sie einstmals ein Vehikel des Fortschritts, so ist sie gegenwärtig zur gefährlichsten Zufluchtstätte aller Geister geworden, die einer gedeihlichen Weiterentwicklung des modernen Staatsbe= griffes von Herzen gram sind, in der Staatsidee der Renaissance vielmehr der Weisheit letzten Schluss tür alle Zeiten erblicken möchten. Keinen gefährlicheren Feind hat die auf relative Ver- wirklichung der Welttriedensgemeinschaft gerichtete Kulturbestre- bung, als den verknöcherten Suveränitätsbegriff. In diesem Begriff' liegt keimartig geradezu die logische Notwendigkeit des Krieges beschlossen.

Weil der moderne Staat, so argumentiert man, suverän ist, kann er keiner Rechtsgemeinschaft höherer Art unterworfen werden. Die seiner einzig würdige Art rechtlicher Bindung sei das ver- tragliche Rechtsverhältnis, das die Unabhängigkeit seiner Rechts- persönlichkeit gänzlich unberührt lasse; die modernen Staaten könnten höchstens in Rechtsverhältnissen internationaler Art zu einander stehen, nie aber dürften sie, ohne ihre eigenartige Würde zu verlieren, unter ein alle umfassendes Rechtssubjekt selbstän- diger Existenz einbezogen werden. Der suveräne Staat sei abso- luter Selbstzweck. Seinem freien Ermessen müsse die Entscheidung wichtiger, an sein Leben greifender Fragen überlassen bleiben. Selbst die verpflichtende Kraft der Rechtsverhältnisse finde bei dieser Entscheidung ihre scharfe Grenze.

216 Die Wurzel des Krieges.

Setzt nun aber jeder Staat, gestützt auf seine Snveriinitnt. sich selbst zum absoluten Selbstzweck und behält sich die gänzlich selbständige, lediglich interessegeboteue Entscheidung seiner Lel)ens- frageu vor, so folgt allerdings hieraus mit logischer Notwendigkeit die Alternative: Entweder üniversalstaat oder Krieg. Dem Universalstaat mag die Suveränität im absoluten Sinne ruhig zu- gesprochen werden, denn sie iindet keinen mit gleichen Ansprüclicii auftretenden Gegner mehr, an dessen eigener Suveränität sie sich reiben könnte. So lange aber der Universalstaat noch nicht ge- gründet ist, bedeutet die von einer Mehrheit von Grossstaaten in Anspruch genommene Suveränität nichts anderes, als die Statuirung des rohesten Faustrechts im internationalen Verk(dir als letzte und endgültige Instanz bei Aufkommen zentraler Lebensfragen zwischenstaatlicher Natur. So ist die juristisch-logische Konse(|Uenz der Suveränität nichts anderes als der Krieg.

Ich sage absichtlich: die juristisch-logische Konse(|uenz ! Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass wer das Begritfsmerk- mal der Suveränität als „richtiges" Recht anerkennt, auch den Krieg als vollkommen normale, ethisch zu billigende Erscheinung mit in den Kauf nehmen muss. Nicht darauf kommt es an, oh man den Frieden liebt, ihn bis zur äussersten Möglichkeit wahren will und „nur wenn es gar nicht anders geht", zum Krieg als letztem Mittel greifen möchte, den man im übrigen als „furchtbares Unglück" beklagt- auch daraufkommt es ferner nicht an. oh man es für mCtglich hält, Zustände zu schaffen, die einen ewigen Frieden verbürgen oder ob man die menschlichen Verhältnisse für so feh- lerhaft ansieht, dass sie den Krieg immer wieder von Zeit zu Zeit entbrennen lassen müssen : All die^e Erwägungen treffen den prinzipiellen Kern des Problems, auf den es mir hier ankommt, in keiner Weise. Ich sage: juristisch betrachtet liegt nach der beute noch herrschenden staatsrechtlichen Lehre von der Suveräni- tät die „Rechtfertigung" des Krieges weder in dem Vorhandensein einer Art von Notrecht (entsprechend etwa der civilrechtlichen Lehie vom Notstand und von der Notw(dir) noch in der Unzulänglichkeit der irdischen Dinge überhaupt: Juristisch ist vielmehr der Krieg die schlagendste Aeusserungsform der Suveränität, die der moderne Staat eben nicht nur gegenüber seinen eigenen Untertanen, sondern auch gegenüber allen übrigen Staaten ständig in Anspruch nimmt; ist der Krieg, weit entfernt, eine Ausnahmeerseheinung zu sein, viel- mehr die denkbar natürliehste Sache, über die sich nur wundern kann, wer das Wesen der Suveränität niemals mit voller Schärfe erfasst hat. Wer es grundsätzlich ablehnt, bei aufkommenden Streitigkeiten eine Instanz anzuerkennen, die, über den Parteien stehend, ihnen ihr Recht findet, wer es grundsätzlich ablehnt, in

Die Wurzel des Krieg-es. 217

Lebensfragen überhaupt je blosse Partei zu sein, dem l)leibt selbst- verständlich letzten Endes niciits andeies übrig:, als mit dem Schwerte dreinzuschlagen, um mit Gewalt den Gegner von der Rechtmässigkeit des erhobenen Anspruchs zu , überzeugen". Die Kehrseite der Suveräuität ist das Faustrecht.

Unter Faustrecht verstehe ich ein Recht, das nicht auf Gruud prinzipiell kontradiktorischer Verhandlung von einer über den „Parteien" stehenden Instanz ^.gefunden", sondern das der Strei- tende aus dem Schreine seiner Brust herausholt und dem Gegner zur Anerkennung unterbreitet. Man halte mir daher nicht vor, dass ich etwa Recht und Rechts Verwirklichung mit einander verwechselte. Von Reclitsverwirklichung ist hier überhaupt nicht die Rede. Ein grosser Fehler, den die Friedensfreunde oft be- gangen haben, besteht gerade in dieser Verwechslung. Welch un- geheure vSchAvierigkeiten die Rechtsverwirklichung im internationalen Verkehr linden muss, bedarf keiner Begründung. Diese Schwierig- keiten haben aber mit der Suveräuität als solcher nichts zu tun. Sie ergeben sich vielmehr vorwiegend daraus, dass man es beim internationalem Recht nicht mit Privaten zu tun hat, deren etwaiger Widerstand leichter zu brechen wäre, sondern dass es ungeheure Machtzentren sind, die unter Umständen dem Zwange des Rechts erst unterworfen werden müssten. Mag aber die internationale Rechtsverwirklichung noch so utopisch erscheinen, so ist dies noch lange kein Grund, gegen die prinzipielle Einbeziehung des inter- nationalen Verkehrs unter den Rechts begriff irgendwie Front zu machen. Dass aber bis. zum heutigen Tag nicht das Recht, sondern (prinzipiell) die Willkür unter den Staaten herrscht, daran trägt lediglich die Suveränität der Staaten alleinige und aus- schliessliche Schuld. Ich leugne geradezu, dass die Beziehungen der suveränen Staaten zu einander irgendwie Rechtsbeziehungen sind. Habe ich oben von einem zwischen ihnen bestehenden ver- traglichen Rechtsverhältnis gesprochen, so ist das nun hier zu berichtigen. Der Rechtsvertrag setzt das anerkannte Vorhandensein des Rechts voraus. Der freie Rechtsvertrag erhebt sich lediglich auf Grundlage des Rechts, das für ihn Raum gelassen, durch ilin weiter ausgebaut und den Einzelfällen angepasst sein will. Das Rechtsverhältnis besteht nicht kraft Uebereinstimmung der Parteien, sondern besteht, unter Voraussetzung dieser Uebereinstimmung, kraft Rechtens. Das Recht in seiner selbstherrlichen Hoheit kann niemals durch Verträge erstmals geschaffen werden, kann niemals seine Anerkennung prinzipiell erst von der Zustimmung der Par- teien abhängig machen. Das Recht ist selber suverän und duldet keinerlei Suveränität nel)en sich. Das Recht verleiht auch niemals Suveränität, behält vielmehr diese ausschliesslich für sich

218 Die Wurzel des Krieges.

selbor vor. Mit Suveränen weiss das Recht schlecliterdings nichts anzufangen. Es kennt nur Reclitunterworfe ne. Wenn suver- äne Staaten miteinander Verträge scldiessen, so liegt in diesen Verträgen, da eben die Staaten snverän Meihen wollen und iiirer Umwandlung in Rechtunterwortcne sieh entziehen, lediglich der Ausdruck des Vorbandenseins tatsächlicher Willensüberein- stimmung. Ihre Geltung schreiben diese Verträge nicht von einem über den suveränen Staaten stehenden Recht, sondern lediglich von dieser Willensübereinstimmung her. Es mag dann unanstän- dig sein, das gegebene Wort zu brechen, der Wortbruch mag ethisch verwerflich sein: rechtswidrig ist er nicht. Wir haben bis heute kein internationales Recht, sondern im allerbesten Falle eine internationale Ethik. Das Recht lässt eben nicht mit sich spassen. Kein Recht ohne Rechtunter- werfung. Keine Rechtunterwerfung ohne Losgelöstheit vom zu- stimmenden Willen der Rechtunterworfenen. Der Rechtunterwor- fene gehorcht nicht deshalb, weil er es so für richtig hält oder weil er sich an sein Wort tür gebunden erachtet, sondern er ge- horcht, weil er sich dem absoluten Gehorsam heischenden Willen des Rechts unterwirft, das ihn wie den Gegner in gleicher Weise umfasst und aus beiden Rechlsuntertanen macht. Für den suver- änen Staat giebt es kein anderes Recht, als das von ihm selber gesetzte. Ein über ihm stehendes, ihn wie die andern Suveräne absolut bindendes Recht erkennt er nicht an.

Ich weiss, dass man mir das sogenannte „Völkerrecht" ent- gegenhalten wird. Ich weiss, dass man fragen wird, ob ich denn etwa das „Völkerrecht" als Recht deshalb nicht gelten lassen will, weil es nicht zwangsweise durchführbar sei. Ich kann dem alier immer wieder nur entgegenhalten, dass es für mich eine Verkennung des Problems bedeutet, wenn man die „Schwäche" des „Völker- rechts" lediglich in seiner mangelhaften Vei wirklich ungsmög- lichkeit erblickt. Ich lehne das jetztige Völkerrecht als „Recht" ab, weil es dem Begriff des Rechts schlechterdings nicht zu sul)- sumieren ist. Die Rechtsnorm ist etwas unendlich Höheres als die vom Tageszufall diktierte Willensübereinstimmung*). Rechtsnorm ist die absoluten Gehorsam heischende suveräne Norm sozialen Verhaltens. Die gewillkürte Norm mag sich vielfach inhaltlich mit der Rechtsnorm decken. Aber das Eigentliche, das Wesent- liche der Rechtsnorm liegt eben gar nicht in ihrem Inhalt, son- dern in ihrer Form. Die gewillkürte Norm wird erfunden die Rechtsnorm lediglich gefunden oder, wenn so sagen will, ent- deckt. Von Ewigkeit zu Ewigkeit fasst das Recht die Subjekte

*) Oder eine allenthalben vorhandene ethische Ueberzeugung.

Die Wurzel des Krieges. 219

des Rechts in synthetische Einheit zusammen und giebt ihnen die Xormen ihres Verhaltens zu einander. Nur wo Rechtsgemein- schaft ist, ist das Recht auch wirklich „gefunden". Kur wo die Einzelnen (individuelle oder Staatseinzelne) sich als Glieder dieser Rechtgenieinschaft begreifen und als Glieder dieser Gemeinschaft das dieser Gemeinschaft gemässe suveräne Recht zu finden sieh bemühen, da können die Resultate dieser Mühe als Rechtssätze gelten, die zwar inhaltlich nicht immer „richtig" zu sein brauchen (denn Irren ist auch hier menschlich!), die aber formell den Rechts- charakter tragen und der Weihe und Heiligkeit des Rechts teil- haftig sind*).

So wenig wie die Rechtssätze erfunden werden, so wenig wird die Rechtsgemeinschaft geschaffen, konstruirt, künstlich aufgebaut. Die Rcchtsgeraeinschaft ist da, genau so wie das Recht da ist. Nur anerkannt will sie sein, gleichwie das Recht gefunden und beachtet sein will. Ueberall, wo Menschen sind, fasst die Vernunft sie zur Rechtsgemeinschaft zusammen und giebt ihnen die (inhaltlich natürlich nach Zeit und Umständen je- weils verschiedenen) Rechtsgemeinschaftsregeln. Es ist letzten Endes lediglich eine Kulturfrage, ob das Bewusstsein dieser Rechtsgemeinschaft in den jeweiligen Zeitgenossen vorhanden ist oder nicht. Die Rechtsgemeinschaft ist ein vernunftgebotener Kulturwert, genau wie die Zusammenfassung alles Seienden im Begriff der Natur, die Zusammenfassung alles Geschehens im Begriff Geschichte. Und wie dem kulturell unentwickelten Menschen das Seiende nichts ist als eine regellose Anhäufung von Sinneseindrücken. Erleben ihm nicht mehr bedeutet als Würfelspiel des blinden Zufalls, so mögen ihm auch, selbst wenn er die syn- thische Einigung der Staatsgenossen im Einzel Staat bereits anerkennt, diese Einzelstaaten selber nun als zusammenhanglose Monaden, als beziehungslose Substanzen, kurzum als Suveräne erscheinen. Mit solchem ist schwer zu streiten. Seiner kulturellen Weiterentwicklung ist mit Geduld entgegenzuharren.

Kein grösserer Widersinn, als die so oft gehörte Behauptung, dass das „Völkerrecht" zwar nicht „erschöpfend" die Beziehungen der Staaten zu einander regele, aber doch eine Reihe von Inter- essen seiner Ordnung unterworfen habe. Über die „Lücken" des Völkerrechts wusste man sich bald zu trösten. Das Völkerrecht sei eben noch jungen Datums (historisch gewiss falsch!!), sei noch in Entwicklung begriffen, müsse vor- und umsichtig „ausgebaut" werden. Ja, mit einer gewissen Genugtuung rühmte man sich gerade

*) Das „Völkerrecht ist nicht das suveräne Recht einer Rechtsgenj ein- schalt, sondern lediglich übereinstimmende AYillkür von Suveränen.

220 Die Wurzel des Krieges.

neuerdiDjA's, dass mehr und mehr uueh der Kriei;- ins Völkerrecht einbezogen werde, und soU'hermassen Uofljuing bestehe, die über- flüssigen, nicht zweckgebotene „Härten" des Krieges allmäblich aus der Welt zu schaffen. Die rechtliche Regelung des Krieges! Nie ist eine grössere Entweih ungs des Rechts erdacht, nie eine begriltswidrigere Gedankenverbindung ersonnen worden. Die Quadratur des Kreises ist ein wahres Kindersi)iel dagegen. Lasset das Recht aus dem Spiele, wenn ihr vom Kriege redet, kennet die Kriegsregeln meiuetlialbeu Anstandsregeln, nennt sie die Sätze eines „ritterlichen" Comments, aber traget nicht die Heiligkeit des Rechts in ein Geschehen, das überhaupt nur mög- lich ist, weil das Recht noch keine Stätte hat und vergebens auf Erden die Völkergemeinschaft sucht, die es begrifflich fordert ! *) Die Völker -Rechtsgemeinschaft ist die be- griffliche Voraussetzung für das Vorhandensein von Völker -Rechts regeln. Und der Begriii" des Rechtes fordert mit Notwendigkeit diese umflfassende Gemeinschaft. Wie könnte sich ihr auch entziehen, wer je das Wesen des Rechts mit Schärfe erfasst hat. Das Recht sollte im Staat seine Grenze fin- den? Die „Nationalität" des Rechts so weit gehn, dass das Recht des „Auslands" an der Suveränität des Staates scheitern sollte V Aber das Recht ist älter als der Staat, das Recht die sittliche Voraussetzung des Staats! Im Recht fasst die Vernunft die Menschen durch unbedingten Gehorsam heischende Regeln ihres Verhaltens zur Einheit zusammen und fordert zur tatsächlichen Verwirklichung dieser Rechtseinheit den Rechtsstaat. Aber dem Recht ist der Staat nicht die letzte und höchste Einheit. Die Zusammenfassung der, Menschen einigenden, Rechtsstaaten zur universalen Völker- Rechts-Einheit ist der im Recht zum Ausdruck gelaugenden Kul- turanschauung unbedingtes und grundlegendes Postulat. Die An- schauug: Recht ist nicht minder umfassend und lückenlos wie die Anschauung: Xatur. Es hat einst Kulturepochen gegeben, da man auch der „Natur" Grenzen anweisen und dem naturwidrigen, kausallosen Geschehen ergiebigen Raum gönnen mochte Aber längst hat die Natur- Wissenschaft einsehen gelernt, dass sie mit der^Universalität des Naturbegriffs stehe und falle, dass es nur die eine, einheitliche, alles Seiende umspannende und begreifende Natur gebe, der sich schlechterdings alles Seiende im „Ueberall und Immer" einzuordnen und zu fügen habe. Nicht anders aber

*) Wäre das Völkerrecht wahres Recht einer Rechtsgemeinschaft, so könnte es niemals sich aut den Krieg erstrecken, niemals weiteste Lücken orten lassen. Die synthetische Rechtseinheit kennt nicht den Krieg und duldet keine Lücken. Ihr Zusammenhang ist umfassend wie der der Natur.

Die Wurzel des Krieges. 221

steht es mit dem Recht. Sein Gebiet ist grundsätzlich gren- zenlos wie das Reich der Xatur. Die Stimme seines Gebots schallt vom einen Ende der Welt zum anderen. Kommune, Provinz und Staat sind nur Verjünguagen der einen, einheitlichen, unaufheb- baren Rechtseinheit, die überall ist, wo sittliche Wesen neben ein- ander weilen. Diese Rechtseinheit bedarf keiner Gründung ; sie bedarf nur der Auffindung. Und ist sie aufgefunden, so will sie organisatorisch zur tatsächlichen Darstellung, besser: Verwirklichung gebracht werden. Wie der Begriff Natur in seiner Unendlichkeit gegeben ist, lange bev^or die aktuelle Einsicht in das Ordniingsge- setz jedes einzelnen Seienden wirklich erreicht werden kann, der Begriff Xatur aber richtunggebende Voraussetzung ist für das Spüren nach diesem Gesetz, also ist die durch keinerlei Staats- grenzen behinderte Rechtsgemeinschaft zugleich mit dem Kultur- wert : Recht entdeckt und dieser Kulturwert : Recht fordert, dass der Einheit in der Kulturanschauung nun auch die faktische Einheit, durch Bewerkstelligung entsprechender Organisation, ent- spreche.

Im Anfang war auch das Individuum „suverän". Kraft- strotzend lehnte es jede Einordnung unter eine über seinen Willen sich erhebende Gemeinschaftseinheit ab. Man war deshalb gleich- wohl, je nachdem, ritterlich, kannte Treue und Anstand, schloss , Verträge" und hielt sie vielleicht auch und. hatte doch kein Recht. Denn das letzte Wort sprach die Faust. Und ganz gewiss hatte auch die Faust ihre ,, Regeln", und schon damals erkühnte man sich, diese Regeln der Faust als Faust ,, Recht" anzusprechen.

Nun denn: die ewige Forderung des Rechts ist am Indivi- duum zur Wirklichkeit geworden. Das Individuum hat sein Su- veränität aufgegeben. Der Suverän hat sich in einen Rechtunter- worfenen umgewandelt. Es hat seiner Suveränität zugunsten des Rechts entsagt, dessen Organisation eben der Staat ist. Aber nun nimmt der Staat die Suveränität für sich selber in Anspruch. Und der Staat ist doch nicht das Recht— ist nur seine Organisation und noch dazu nicht die letzte, umfassendste : wann Avird der Staat sich zu dem verstehen, was er dem Individuum siegreich ab- gerungen hat ?

Clausewitzens Wort, dass der Krieg nur die Fortführung der Politik sei, wenn auch mit anderen Mitteln, ist gerade in unseren Tagen ot genug zitiert Worten. Man versteht es heute gerne in dem Sinne, dass auch während des Krieges der Politiker nicht ausgeschaltet sein dürfe, vielmehr von ihm, den ihm vorschweben- den Kriegszielen entsprechend, die Art der Kriegführung ibre Orientierung zu empfangen habe. Allein das Wort ist im umge- kehrten Sinne unendlich wahrer: dass nämlich der Krieg, diese prinzipielle Negation der umfassenden Rechtsgemeinschaft, keines-

222 Die Wurzel des Krieges.

wegs im eigentlichen Gegensatz zu den „normalen" Beziehungen der Staaten untereinander steht, wie sie die „Politik" zu hand- haben berufen ist. Die suveränen Staaten das scheint mir der Kern des erwähnten Wortes zu sein, beiinden sich im Grunde genommen im permaneten Kriegszustand. Kur die Mittel sind verschieden, deren sich die Staatenlenker zur Er- reichung ihrer Ziele im Verlaufe des Kriegszustandes bedienen. Bald sind es „Verträge", bald sind es Vereinbarungen des „Völ- kerrechts", bald sind es Drohungen, bald Schmeicheleien, bald Verschwägerungen und bald Totschlag. In der Tat, eine über- aus grosse Mannigfaltigkeit. Auch die IndixMduen, als sie noch suverän waren, haben sich nicht ständig totgeschlagen. Totschlag schien auch ihnen ein unter Umständen wenig gangbarer Weg. Sie waren nicht alle direkt von Mordlust Iteseelt. Zum mindesten die Besseren unter ihnen haben sicherlich nur totgeschlagen, wenn's

gar nicht anders ging. Was aber doch nicht abhalten konnte und kann, auch sie als Anhänger des rechtswidrigen Faustrechts zu erachten. Denn darin liegt das Wesen der Sache : dass es nur ein Entweder Oder giebt; Entweder Faustrecht ^der^Rechtsge- meinschaft. Tertium non datur. Dem Recht muss man sich gänzlich und ohne Jeden Vorbehalt unterwerfen. Die Hoheit des Rechts verträgt keine bedingte Unterwerfung. Wer da also spricht; Ich will mich, solang es nur irgendwie geht, dem Recht wohl unter- werfen und will in meinem Nächsten den Rechtsgenossen erblicken

bloss, wenn mein vitales Interesse berührt wird (und wann dies der Fall ist, darüber habe ich selbstverständlich ganz allein zu befinden), bloss dann muss ich, traurig zwar, doch von Amtes- wegen den „Naturzustand" wieder in Kraft treten lassen und meine, selbstverständlich gerechte Sache, dem Schwert zur endgültigen Entscheidung übergeben und bloss für ein Weilchen! den an-

sonst herrschenden Rechtszustand sistieren : wer also spricht,

der lästert das Recht! Dem Recht die Bagatellsachen, der Faust die Lebensfragen: da schüttelt das Recht sein Haupt und zieht sich, in seiner Würde aufs schwerste getroffen, grollend zurück.

Wir alle haben sehenden Auges den furchtbarsten aller Kriege hereinl)rechen erlebt. Plötzlich war er da. Plötzlich alles Gerede, womit sich unsere Generation seit Jahrzehnten in Sicherheit ge- wiegt, wie Spreu hinweggefegt. Plötzlich alle Verträge ausser Kraft gesetzt. Plötzlich alles Gemeinschaf tsbewusstsein erloschen. Die Maske fiel, der Schein verflog und übrig blieb nur, wafj allein das Wesenhafte unserer heutigen Staatsstruktur ist: die Suverä- nität, die gänzlich beziehimgslose Allmacht, die entsetzliche Isolation, wie man sie sonst nur in der Tierwelt mit Schaudern ahnte. Der Staat oder die Staatengruppe wie in einer Höhle aus der keine andere Verbindung zur Nachbarhöhle geht, als die Verbindung, die Tod und Verderben hinüberspeit : und all das so unvermit-

Die Wurzel des Krieges. 223

telt, so blitzartig, so tibergangslos, dass nur die eine einzige Ein- sicht möglich ist, die solches Wunder erklären kann: Clansewitzens

Wort, dass der Krieg nur die Fortsetzung der Politik.

Zwischen Suveränen giebt es keine Rechtsbezjiehuugen. Nicht genug kann man diese Erkenntnis sich einprägen. Wer sie sein eigen nennt, ist vor Ueberraschungen gründlich gefeit. Ihm kann der Krieg nicht die Wunderblume sein, die gewissermassen aus dem Nichts plötzlich emporschiesst und alles Bestehende überschattet, sondern er kennt das Erilreich, in welchem er wurzelt, er sieht ihn keimen und wachsen, und begreift, dass es nur ein einziges Mittel giebt, die Gittwucherung zu scheuchen : mit starker Hand an die Wurzeln rühren, den Krieg entwurzeln, statt sich zu be- gnügen, seine Auswüchse zu beschneiden und ihm solchermassen beinah wie unter dem sorgenden Finger des Gärtners ein doppelt gesichertes Dasein zu gewährleisten.

Zwischen Suveränen giebt es keine Rechtsbeziehungen. Die Suveränität im eigentlichen Sinne, wie sie nur den Grossstaaten zukommt, ist ihrem Begriffe nach unteilbar und unverzichtbar. Nütz- liche ,, Verträge" können den Suverän in seinem Verhalten beein- flussen-, binden können sie ihn nicht. Gewiss entspricht es dem hohen Stand unserer Civilisation, wenn die Suveräne in Friedens- zeiten ihre gegenseitigen i^eziehungen mit dem Gewände des Rechts umkleiden. Aber das ist bare Fiktion.

Und zwar eine gefährliche Fiktion. Sie ist unendlich ge- eignet, die Völker in Sicherheit einzulullen. Sie überbrückt das gähnende Nichts, das zwischen Suverän und Suverän sich auttut. Ja, sie hat es fertig gebracht, dem vom Recht erborgten Flitter, der die Sätze des „Völkerrechts" umgiebt, den Schein besonderer Heiligkeit zu verleihen. Und zeigt sich doch gerade darin als echte Fiktion. Es giebt kein ,, besonders heiliges" Recht. Das Recht ist sich selbst genug. Sein Zwang nötig und ausreichend. Nur weil eben das Völkerrecht überhaupt kein Recht ist. hat die kluge Fiktion ein übriges getan und ihm einen beinah sakralen Charakter verliehen. Wie einst Zeus der Schützer des rechtlosen Fremdlings war und die Verletzung des Fremdlings darum als „ganz besonderer" Frevel erschien, so muss heute noch die Gott- heit herhalten, um den vom Recht nicht getragenen Sätzen des Völkerrechts Stütze und Halt zu gewähren. Wo das Recht fehlt, muss Gott den Suverän vor dem Suverän schützen. Aber Gott ist weit und der Zar ist nah.

Das Völkerrecht ist ein fiktives Recht. Die Beziehungen der Suveräne zu einander werden so angesehen, „als ob" sie Rechtsbeziehungen wären. So ist es vollkommen erklärlich, dass das Völkerrecht zu einer formlichen Wissenschaft herangediehen ist. Die bekannten Methoden des eigentlichen Rechts müssen her- halten, um auch das Völkerrecht in ein System zu giessen. Man

224 Die Wurzel des Krieges.

kann das tun. Nur hüte sich jeder davor, aus lauter Freude am System die Halth)sigkeit des ganzen zu verkennen. Der Völker- reehtslehrer gleicht dem Mathematiker, der mit den am dreidimen- sionalen Kaum abgelauschten Mitteln eine iörndiehe Geometrie des n dimensionalen Raumes aufstellt. Es soll auch Mathematiker ^e- ben, die letzterem eine ebensolche Realität zusprechen, wie unserem Ertahrungsraume, in dem wir uns so wohl fühlen. Das Völkerrecht ist das Recht der n dimensionalen Erde. Denn unsere ei<^ene Mutter Erde jjönnt ihm noch keine Stätte.

Es wird das, nicht eben beneidenswert. Verdienst Italiens bleiben, in diesem Kriege mit infernalischer Konse(|uenz den dicken Strich unter alle Prämissen gesetzt zu haben, die der Begriff der Suveränität ihm an die Hand gab. Quid enim respublica dolo fa- cere possit ? Diesen bekannten Satz aus dem römischen Recht kann man, auf den Staat übertragen, dem Verhalten Italiens zur Ueberschrift setzen. Der Suverän kann kein Unrecht tun. Er ist freiester Schöpfer des Rechts car tel est mon plaisir ! , und es ziemt dem Geschöpf gar schlecht, zum Ricliter seines Schöpfers sieh aufzuwerfen. Die Fiktion ist eben Italien etwas unbequem geworden. So liaben seine würdigen Staatsmänner den ganzen Ballast mit verächtlicher Geste bei Seite geschoben. Hätte ein privater Kaufmann je so gebandelt : die Gassenbuben hätten ihn Zeit seines Lebens hohnlachend angespien. Aber freilich! Der private Kaufmann ist eben kein Suverän.

Man hat vielfach klagen hören. Italiens Vorgehen habe uns um Jahrhunderte zurückgeworfen. Und in der Tat. man muss schon gar weit in Europas Geschichte zurückgreifen, um ein voll- kommen würdiges Analogon zu finden. Wie sollen künftighin noch zwischenstaatliche Verträge möglich sein, nachdem Italien der Welt gezeigt hat, dass selbst ein durch Zeitablauf geweihtes Verhältnis wie ein Spinngewebe zerrissen werden kann? Italien, so sagt man, hat die zwischenstaatlichen Beziehungen auf lange hinaus vergiftet. Der Bann sei gebrochen ; was in Jahrhunderten langsam gereift, über Nacht verdorrt und verweht,

Italiens Verhalten soll hier keine Beschönigung finden. Seine verblüffende Unanständigkeit spricht für sich. Aber aus Entrüstung über den Skandal darf die Wurzel des Uebels nicht verborgen bleiben. Italien hat eben von seiner Suveränität ergiebigen Ge- brauch gemacht. Hat in Tat umgesetzt, was die Zünftigen so oft mit der Miene unendlicher Uel)erlegenheit uns vorgetragen haben : dass es nicht eben Zeichen besonderer Erleuchtung sei, mit Bieder- manns Moral Politik zu treiben : dass das „Ueb' immer Treu und Redlichkeit" nicht als politische Weisheit erachtet werden könne ; dass die Politik es lediglich mit Machtfragen zu tun habe; u. s. w., u. s. w. Nicht Jedermann hat somit das Zeug und das Recht, sich über Italien voUbrüstig zu entrüsten. Die Zünftigen mögen streiten,

Die Wurzel des Krieges. 225

üb Italien klug oder uuklug gehandelt habe. Das „Recht" aber sollen sie lieber lassen stan.

Wenn ein Kulturstaat von Rang Italiens geschriebene Ver- träge im gegebenen Momente als ein wertloses Stück Papier er- achtet, so muss etwas faul sein im alten Europa. Zu deutlich tritt hier der klaffende Gegensatz zwischen Individuum und Stfyit zu Tage. Während die Individuen im westlichen Europa sich längst zu einem gewaltig hohen Grad von Kultur aufgeschwungen haben, während eine unendliche Fülle von Organisationen bis in die feinsten Verästelungen sie verbindet und eint, haben die Beziehungen der Staaten kaum einen Fortschritt zu verzeichnen. Noch hat die Bibel Recht, die für die Staaten in ihrem Nebeneinander kein an- deres Gleichnis kennt, als das Gleichnis von den wilden Tieren. Denn auch die wilden Tiere sind suverän.

Das ist das furchtbare, das unendlich Niederdrückende, das kaum Erträgliche an diesem Krieg, dass er dem Kulturmenschen die ganze Barbarei vergangenster Zeiten auf die Seele bürdet. In vergangenen Zeiten der Völkerstürme bestand zwischen der zwi- schenstaatlichen Kultur und der innenstaatlichen Kultur keine bedeutender ins Gewicht fallende Diskrepanz. Sie waren einander so ziemlich würdig. Man sündigte innerhalb und ausser- halb der Mauer in gleicher Weise. Wie ganz anders aber heute! Schlägt etwa der Kaufmann in der Gegenwart seineu lästigen und gefährlichen Konkurrenten tot? Brütet etwa der Gebildete von heute aus Rachsucht revanche Mord und Brand ? Stösst er hinterrücks dem Freunde den Dolch ins Herz, wenn sein Vorteil es als wünschenswert bezeichnet '? Haben wir nicht alle längst ge- lernt, unsere brutalen Instinkte ans Leitseil der Vernunft zu legen, unsere Leidenschaften von der Kultur gängeln zu lassen ? Und müssen nun dennoch entsetzten Auges erleben, wie die berufenen Träger der Kultur, ihre feinsten und reifsten Produkte, und das sind doch die Staaten, einander anfallen und kaum einen einzigen Paragraphen unserer Strafgesetzbücher unkonsumiert lassen ! 0 des grässlichen Jammers! 0 der bitteren Erkenntnis: Europas zwischen- staatliche Kultur ist den allerersten Anfängen kaum noch ent- wachsen ! Der Kulturmensch von heute muss das Kreuz vergangen- ster Barbarei geduldig auf sich nehmen und darf sich noch glücklich schätzen, wenn er sein eigenes Vaterland nicht als unmittelbaren Urheber des Brudermords bezichtigen muss !

Wir sind so glücklieh und das ist unser einziger Trost. Das Wort des Kaisers ist wahr. Sein Gewissen ist rein. Er hat diesen Krieg nicht gewollt.

Im übrigen zeigt sich gerade bei einer Untersuchung der Momente, die den Krieg herbeigeführt haben, welch geringe Rolle rechtliche Gesichtspunkte dabei im Grunde spielen. Man ist ge- wohnt, eine solche Untersuchung nach „Veranlassungen" und

226 Die Wurzel des Krieges.

„Ursaclicn" zu i;liedern. Regelmäissii;- tritt aber dabei bei'vor, dass i;erad(' die Veraidassiiiii^en, die iiatiiri;'emäs8 nur von s(d<iindärer Bedeutung sind, die Form eines Rech tsprocesses anzunehmen belieben, während die Ursachen gänzlich ausserhalb des Rochts- scheines liegen. Herbische Verschwörer ermorden den habsburgi- schen' Thronfolger. Oesterreich verlangt entsprechende Genug- tuung und Sicherheit. Serbien lehnt ab. Nimmt sich das nicht aus, wie die Vorgeschichte eines langwierigen Prozesses? Und doch! Der Streit, den heute die Völker ausfechten, hat mit Serbiens Unrecht wenig genug zu tun. Die Interessengegensätze, die Europas Staaten zerklüften, sind bei Gelegenheit des serbischen Kontlikts zur Katastrojdu' geworden. Das ist die letzte Weisheit, die man im Grunde über den Aus))ruch des Krieges vortragen kann. Sie ist dürftig genug. Aber sie ist unendlich lehrreich. Sie zeigt die Wahrheit des Satzes, dass zwischen den Staaten Europas noch der Naturzustand besteht. Denn die Staaten Europas sind siiverän. Suverän wie Jedes Naturwesen. Ein erborgter RechtHitter verdeckt ihre Naturblösse. Nun ist der Flitter verflogen. Und schaudernd sieht der Kulturmensch in die Abgrundtiefen der Menschheitan- tänge.

Warum hat Haag den Krieg nicht verhindern können? Vielfach hört man es seufzend fragen ; vielfach ist man auch ge- neigt, nach den Erfahrungen dieser Jahre mit müder Entsagung Haag in P^uropas Raritätenkammer, in der gar Vieles schlummert, endgültig zu verweisen. Zu Unrecht. Haag hat ganz Ertreuliches geleistet: hat namentlich der Vereinheitlichung der nationalen Rechte wertvolle Filrderung gegeben ; wird wohl auch nach dem Kriege hierin mit Erfolg fortfahren. Nur dass eben Haag, wie die Dinge einmal liegen, die Wurzel des Krieges nicht autasten kann. Der „ewige Friede" war das zündende Losungswort, unter dessen Zeichen der blutige Zar den Anfang gemacht hat, „Ewiger Friede": Das war zu viel. Alsdann ist Haag eine Stätte geworden, die eine Verständigung unter den Nationen bei sorgfältigster Wahrung ihrer Suveränitäl, unter fortwährender Betonung ihrer Integrität, anbahnen möchte : und das ist zu wenig. Es ist gar nicht wünsclu'nswert, wenn Suveräne mehr als unbedingt notwendig zu- sammenkommen. Suveräne tun am besten daran, gegenseitig gebührende Distanz zu halten . Es ist offenes Geheimnis , dass gerade Haag vielfach „Verstimmung" unter den Suveränen erzeugt hat. Drum halte man brenzlige Dinge besser vom Haag fern. Haag fahre fort, „praktische Arbeit" im Gebiet des „Erreich- baren" zu leisten. Mit der Wurzel des Krieges bat Haag vor der Hand nichts zu tun. Dies sich klar zu machen, ist dringend wün- schenswert. Denn es giebt keinen giösseren Hemmschuh des Fortschritts, als den falschen Schein.

Die Staaten müssen in Rechtsgemeinschaft treten.

Die Wurzel des Krieges. 227

Anders geht es nicht. Und die Rechtsgemeinschaft duldet keine Suveränität der ihrem Recht Unterworfenen.

Wird es je dazu kommen ? Schon die Frage ist Sünde an der Kultur. Die Rechtsgemeinschaft der Staaten ist wesentlicher Bestandteil unseres Kulturbewusstseins. Auf dieses Postulat kann die Vernunft nicht verzichten. Sonst wäre Geschichte sinnlos.

Man verwechsle die Rechtsgemeinschaft der Staaten nicht mit dem ,. ewigen Frieden". Was will man denn eigentlich immer mit dem „ewigen Frieden" ? Warum wirft man uns stets diesen Knüp- pel zu, wenn wir Vernunftnotwendigkeiten erstreben ? Herrscht etwa im Innern des Staates der „ewige Friede"? Hat das innenstaatliche Recht es bis heute zu Wege gebracht, den Rechtsbruch zu tilgen, den Verbrecher auszumerzen ? Und doch hat sich noch kein Vernünftiger gefunden, der die Berecntigung der einzelstaatlichen Rechtsgemeinschaft einzig aus dem Grunde ange- zweifelt hätte, weil sie den „ewigen Frieden'* im Staate nicht ge- währleisten könne, der „ewige Friede" vielmehr eine Utopie sei!

Nicht anders steht es mit der zwischenstaatlichen Rechtsge- meinschaft. Ganz gewiss wird auch unter ihrer Herrschaft für ab- sehbare Zeit der Friede nicht immer gewährleistet sein können. Aber der Krieg wird aufhören, die blosse „Forttührung der Politik" zu sein, wird toto coelo vom Normalzustand sich abheben, wird das sein, was bereits heute der Krieg im Innern ist: ein Rechts- bruch. Die zwischenstaatliche Rechtsgemeinschaft wird von der Suveränität der Staaten nur das übrig lassen, was diesen wirklich zukommt: suverän werden die Staaten noch Innen sein. Ihren Untertanen werden die Staaten als Finder und Wahrer des Rechts die höchsten Autoritäten darstellen. Tritt aber der Staat dem Staat gegenüber, so wird es nicht anders sein, als wie wenn Rechtsgenosse zum Rechtsgenossen Beziehungen knüpft. Das Recht aber wird suverän sein.

Unser Kulturbewusstsein ist bereits heute so entwickelt, dass es die Staaten gar nicht anders als wie in Rechtsgemeinschaft be- findlich betrachten kann; so sehr, dass es die traurige Wirklichkeit mit dem milden Schleier der Fiktion verhüllt hat. Diese Fiktion muss Tatsache werden. Die Organisation der zwischenstaatlichen Rechtgemeinschaft ist das höchste und heiligste Anliegen der Kul- turnienschheit.

Mitten im furchtbarsten aller Kriege sprechen wir die ruhige Zuversicht aus, dass dieser Rechtsgemeinschaft die Zukunft gewiss ist. Vielleicht bringt gerade dieser Krieg erwünschte Förderung. Gerade deutscher Geist erscheint berufen, der Welt die Uni- versalität des Rechts zu bringen. Gelingt es Deutschland, in die sem Kriege entscheidend zu siegen, so wird es seine dadurch er worbene Vormachtstellung nicht nach bonapartischem Vorbild zu Universalisierung der Macht, sonüern zur Universalisierung de

228 Ein interessantes Schriftstück.

Rechts gebrauchen. Ohnedies war deutschem Denken von Haus aus die üebersehwän,<,^lichkeit des Süveränitätsl)eji;ritTs fremd. Die Suveränität ist ronninischer Herkunft. Individualisireiides Rechts- bowusstscin war dem Deutschen stets zu eigen.

Noch ist der „Sinn" dieses Krieges um^rgründhar. Sicher ist es der furchtbarste alier Kriege. Vielleicht ist es auch der letzte , wenigstens der letzte, den die Staaten fuhren, weil sie suverän sind.

Ein interessantes Schriftstück.

In No. 18 der Wochenschrift des Dr. Bloch in Wien findet »ich fo];,'ende8 Schreiben ahgedriukt. das Dr. Nobel in Frankfurt a. M. an den Prä.sidenten des Kultusvorstandes der Wiener Gemeinde Dr. Alt'red Stern ^ericlitet liat.

Frankfurt a. M., 30. März 1916. Euer Hochwohlgeboren werden im Besitz meines Telegrammes sein, das ich von Berlin aus ;.n Sie zu richten mir erlaubt habe. Sogleich nach meiner Rückkunft aus Wien wurde mir hier eine Adresse überreiclit, die von den liberalen luid konservativen Führern der Gemeinde, vom gesamten Vorstande und Repräsentantenkollegium, von der gesamten „B'ne B'rith''-Loge unterzeichnet und ausserdem von 1800 Unterschriften bedeckt war. Die Gemeinde bietet mir Garantie dafür, dass ich, wie bisher schon de facto, so fortan auch de jure, ein Oberrabbinat bekleiden werde, ohne den Titel eines Oberrabbiners zu führen. Die einmütige Erklärung meiner Gemeinde gipfelt darin, dass sie in meinem Weggange einen unersetz- lichen Vorlust sehen würde nicht nur für Frankfurt a. M., sondern für die Sache der Einheit des deutschen Judentums gegenüber den Separationsbe- strebungen von rechts und links. Dies habe ich mit göttlicher Hilfe dinch eine friedliche, im Sinne der Milde und Versöhnlichkeit geübte fünfjährige Tätigkeit erreicht. Demgegenüber stehen die schweren Kämpfe, die tür mich in Wien zweifellos in Aussicht sein würden. Und nicht nur mir, sondern auch Ihnen, Herr Präsident, und der ganzen Verwaltung der Gemeinde. Ich bin keine Kamjjfnatur, sondern bin empfindlicher, als es einem zukommt, der bereits seit zwanzig Jahren in öft'entlicher Stellung steht. Aus all diesen Gründen bitte ich ergebenst, von meiner Berufung nach Wien abzusehen und mich auf dem triedlichen und bedeutenden Posten zu belassen, den mir die Vorsehung ange- wiesen hat. Ich muss es ausdrücklich aussprechen, dass mir die Absage sehr schwer fällt. Man spricht vergebens viel, um zu versagen der Andere hört von allem nur das Nein, so sagt der Dichter der Deutschen. Aber dies trifft docli bei so hervorragenden Persönlickeiten, wie bei Ihnen, Herr Präsident, nicht zu. Ihnen ist Weisheit und Menschenkenntnis verliehen. Sie werden einen Blick in meine Seele getan haben, in ihr Kämpfen und Ringen die Monate hin- durch, während derer die bedeutsame Angelegenheit schwebte. Ich hoffe, Sie haben erkannt, dass Sie keinem Unwürdigen Ihr so grosses, ehrenvolles Ver- trauen geschenkt haben. Hochgeehrter Herr Präsident, Sie sind für mich ge- adelt durch Ihr begnadetes Alter, durch Ihre begnadete Stellung. Ich muss Sie bitten, verj^essen Sie mich. Aber vergessen Sie mich nicfit ganz, sondern gedenken Sie meiner, als eines Mannes, der in tiefer Verehrung und Dankbar- keit mit Ihnen verbunden ist. Gott erleuchte Ihre Augen, dass Sie den rich- tigen Mann finden.

In bekannter Gesinnung

Der Ihrige

Anton Nobel, m. p.

Ein interessantes Schriftstück. 229

Wir haben diesen Brief in der Überschrift ein interessantes Schriftstück genannt. Er verdient in der Tat aus mehrfachen Gründen, den weitesten Kreisen mit der Bitte um gefällige Beachtung zugänglich gemacht zu werden. Diese Gründe sind die tolgenden :

1) Zunächst gesteht „Anton Nobel", dass er keine Kampfnatur, sondern empfindhcher ist, als es ihm zukommt. Er wünscht daher auf dem friedlichen und bedeutenden Posten belassen zu werden, den ihm der Vorstand der frank- furter Reformgemeinde nein ! nicht doch ! den ihm die Vorsehung ange- wiesen hat.

Dunkel, ott unerforschlich. sind die Wege der Vorsehung. Nur wenigen ist es beschieden, nur den Ganzgrossen wird es zu teil, sich selber jauchzenden Herzens als ihr unmittelbares Werkzeug zu begreifen.

Glücklicher Nobel, ich beneide Dich !

Aber die eine Frage sei mir an die Vorsehung gestattet !

Sie, die alles voraussieht, warum hat sie gerade den friedliehen und em- pfindlichen Nobel zu ihrem Werkzeug erkoren, in Frankfurt durch rücksichtslose und unbarmherzige Schaffimg eines Eruw mitten in einer Welt voll Flammen den Zank, den Hass, den Streit in die Familien zu tragen und die religiösen Gegensätze in einer Weise zu verschärfen und zu vertiefen, wie man das vor fünt Jahren, ehe dies Werkzeug seine „friedliche, im Sinne der Milde und Ver söhnlichkeit geübte Tätigkeit" begann, niemals für möglich gehalten hätte V

Oder war es der Wille der Vorsehung, dass ihr Werkzeug Milde und Versöhnlichkeit nur nach links betätigen, nach links nur zeigen sollte, dass ihm keine Kampfnalur zu eigen, nach rechts aber den einwandfreien Nachweis zu bringen bestimmt war, dass es empfindlicher sei, als es ihm zukommt ?

2.) Aber nicht nur auf die Vorsehung beruft sich Anton Nobel, um seine nach harten Kämpfen und hartem Ringen wie man sieht, finden in unseren bewegten Zeitläuften nicht nur an der Front, sondern auch hinter der Front, unter den Daheimgebliebenen harte Kämpfe statt I ertolgte Absage an den Wiener Kultusvorstand zu begründen. Einmütig hat ihm seine Gemeinde erklärt, dass sie in seinem Weggang einen unersetzlichen Verlust sehen würde nicht nur für Frankfurt a. M., sondern für die Sache der Einheit des Judentums gegenüber den Separationsbestrebungen von rechts und links.

Sicher errötete Nobel vor Bescheidenheit, als er eigenhändig diese Zeilen niederschrieb. Es will in der Tat viel heissen, so was nach fünt Jahren schritt- lich zu bekommen. Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Ohne besondere göttliche Hilfe ist es absolut unerklärlich. Sich da erst noch in Wien in schwere Kämpfe einzulassen, wo man in Fraukturt in behaglicher Unersetzlich- keit thront, ist wirklich eine sonderbare Zumutung. Nein, Herr Präsident, da müssen Sie schon den Nobel vergessen.

3.^ Eines aber ist zu schade ! W^as frommt es, in Frankfurt uner- setzliches Instrument der Vorsehung zu sein, wo man doch in Wien wahr und wahrhaftig leibhaftiger Oberrabbiner geworden wäre! Oberrabbiner Dr. Anton Nobel: Das klingt so übel noch lange nicht! Man braucht wirk- lich keine besondere „Weisheit und Menschenkenntnis" und kann, selbst ohne ■einen Blick iu Nobels Seele getan zu haben, unter solchen Umständen sehr wohl begreifen, wie schwer diese Seele Monate lang kämpfte und rang, bis sie es über sich brachte, auf die lockende Beförderung Verzicht zu leisten.

Wer aber möchte den Ausgang des Nobelschen Seelenkampfes ermessen, wäre ihm nicht seine Gemeinde in verständnisvoller Würdigung seines quälenden Zustandes rechtzeitig zu Hilfe gekommen. Es war das reinste Ei des Kolumbus. Den Titel eines Oberrabbiners freilich konnte sie ihm nicht geben. Das hätte sich wohl der Amtsbruder Seligmann nicht gefallen lassen, der schliesslich auch nur Mensch ist. Aber der Ausweg, den man fand, ist geradezu genial. Man schuf den völlig neuartigen Unterschied zwischen Oberrabbinat und Ober- rabbiner! Nobel bekleidet künftlichhin de jure, d. h. von rechtswegen, ein Oberrabbinat, ohne den Titel eines Oberrabbiners zu führen. Auf seinen Briefbögen wird nunmehr stehn : ,Das Oberrabbinat". Ihn selber wird

230 Ein interessantes Schriftstück.

man allerdings ganz simpel anreden müssen: „H e r r R a b b i n e r". Er führt ^ewissermassen das Oberrabbinat incognito. Doch halten wir es für schicklich, in an ihn zu richtenden Anschreiben der Tatsache, dass er zwar nur den Titel eines Rabbiners führt, in Wahrheit jedoch ein Oberrabbinat bekleidet, insofern gebührend Rechnung zu tragen, dass mlan sich auf den Briefumschlägen statt der bei einem gewöhnlichen Rabbiner üblichen Formel: ,Sr. Ehrwürden" lieber der einen höheren Grad von Ehrfurcht bekundenden Formel: ,Sr. Hoch- Avürden" befleissigt. Und dabei mag sich dann die liebe Seele beruhigen.

Eines allerdings ist mir noch fraglich, und ich bin trotz eifrigen Grübelns bis jetzt noch zu keinem endgültigen Ergebnis gelangt : Ob nämlich Nobel, nachdem er ein Oberrabbinat bekleidet, nicht in Wirklichkeit doch als so eine Art von Vorgesetzter des Cäsar Seligmann zu erachten sei. Die Frage ist von weittragender Bedeutung. Anscheinend legt Nobel keinen Wert mehr darauf, in der {konservativen Ecke seiner Reformgemeinde zu verharren. Offenbar er- laubt ihm sein Gewissen, die oberrabbinatlichen Hände segnend über die ge- samte Gemeinde nebst ihren Reformsynagogen, nebst ihrem Seligmann zu spreiten und solchermassen seine Unersetzlichkeit für die Sache der Einheit des deutschen Judentums erneut zu augenfälligem Nachweis zu bringen. W a 8 wohl der Würzburger Raw 8. A. hierzu sagen würde??

4) Wir haben im bisherigen genau und eingehend die Gründe beleuchtet, die Nob«l nach seiner eigenen Bekundung dazu bewogen haben, dem von ihm so hochgeehrten Präsidenten der Wiener Gemeinde eine Absage zu erteilen. N»nmehr ist es an der Zeit, zu demjenigen Grund überzugehen, der für Nobels Absage überhaupt keine Bedeutuug gehabt hat, über den er sich vielmehr leichten Herzens hinweggesetzt hätte.

Was ist denn das eigentlich für eine Gemeinde, deren Oberrabbiner Nobel werden wollte? Es ist natürlich nicht die sogenannte Schi ff schul, sondern die Wiener Grossgemeinde! Es ist die nämliche Gemeinde , der einst Rabbi Salomon Spitzer s. A. sein Amt vor die Füsse geworfen hat, nach- dem sie zur Einführung von Reformen geschritten war. Es ist die nämliche Gemeinde, hinsichtlich deren einige hundert Rabbiner, allen voran der Würzburger Raw s. A. selber, die unbedingte AustrittpHicht als gegeben erachtet haben. Es ist die nämliche Gemeinde, hin- sichtlich deren der Würzburger Raw s. A. in seinem spä- teren Kampf mit Rabbiner Hirsch s. A. ausdrücklich seine für die unbedingte Austrittpflicht sich aussprechende Entscheidung mit Nachdruck aufrecht erhalten hat.

Damit ist der schlüssige Nachweis erbracht, dass Anton Nobel sich an die Entscheidung des Würzburger Raw s. A. überhaupt nicht kehrt, vielmehr ledigUch der Willkür seines Herzens folgt.

Anton Nobel hat das Recht verwirkt, sich an den Würzburger Raw s. A. zu klammern.

Er mag sich nach wie vor von der Vorsehung nach Frankfurt berufen fühlen, mag sich in seinem Amtskleid wärmen, das, von aussen zwar unschein- bar, innen mit dem Pelz des Oberrabbinats gefüttert ist, mag fortfahren, gegen links Milde und Versöhnlichkeit zu üben und gegen rechts die Auswüchse seiner Empfindlichkeit emporwuchern zu lassen: für jeden denkenden und ge- wissenhaften Juden, dem die Frage des Austritts immer noch das ist, was sie sowohl für Rabbiner Hirsch s. A. wie auch für Rabbiner Bamberger s. A. war, nämlich eine schwerwiegende Frage der Halacha, eine Frage, deren Entscheidung vor Gott zu verantworten ist, für einen jeden solchen Juden hat er dauernd und endgültig seine Rolle ausgespielt.

Durch die ewig bedauernswerte Entscheidung des Würzburger Raw s. A. ist einst die jammervolle Spaltung in die Reihen der Gesetzestreuen getragen worden. Aber schon damals setzte Rabbiner Hirsch s. A. an die Stirn seiner Denkschrift den Satz : „Die Wahrheit besteht, die Unwahrheit besteht nicht !"

Uns scheint Anton Nobel ven der Vorsehung nach Frankfurt berufen, um diesem Satz die endliche Bestätigung zu bringen. Iwri.

JUEDISCHE

n70NAT5HeFTE

herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kühn, Ansbach, unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Salonion Breuer, Prankfurt a. M.

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Jahrsani!: 3. Heft 8 u. 9.

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Schoiarklänge. 233

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nn- Sri ,n:-n n^S r;S nssm K'-vn q^u*-;: nau> 'm:;- xicn mr ]*nnS c; nr 'cSi /S iiv:,^ cipa "S'n* a^ryS "nS^p n!::m c^ppir?:"! Dn'na 'cinn n\sT S'xin p^-,;:n nS- 'cinn r\'^'t'2 Vtx" c-im^!::! l:'".:!^?^; mxf^n hv:i '"im

,2'^'n p"m ,n:2n n^n y^tj» xS Snsci 'isx nn Sri arc^f:) ^ine

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Schofarklänge.

Gott ruft sein Volk. Der Sinai-Schofar tönt fort und fort. 0, wer seine Sprache doch verstehen möchte! Horchen wir den Worten des Paitons.^)

N".rN Erhebe ich meinen Sinn nach Gerechtigkeit, Gerechtigkeit meinem Schöpfer zu weihn, 0, so möchte ich das Recht mir erflehn, meine Stimme dem Schofar gleich zu Ihm zu erheben. ]^N Erhebt auch niemand seine Stimme für Ge- rechtigkeit, und dem Recht, dem Recht jagt niemand ihm

auch nach ich aber rufe: „Gerechtigkeit vernimm!" rufe es mit meiner Stimme, die in den Schofar sich mischt. 'n;3 Denn sinnend habe ich zur Erkenntnis mich purchgerungen,

') miDV^ '^om 1. Tag Rosch Hascbana : lyi j^^'{<.

234 Schofarklänge.

ZU Gott meinen Sinn, selbst wenn Er fern ist

von mir, zu erheben, denn den Wortausdruck der Therua lehrte

Er mich, als er seine Thora unter Schofarton mir gab. Der Schofar ruft. Er ruft zum Sinai. Ein Leben des P"lü fordert er. Und du vernimmst den Ruf und bebst, denn es fehlt dir piü, das du deinem Gotte bieten könntest Und wäre auch pliJ aus dem Leben geschwunden, tritt hin vor Gott, wenn sein Scholar ruft, und gelobe plii, und Gott hört, und Gott wartet. Denn wäre auch Gott uns noch so fern, seit dem Sinaitag wissen wir, dass wir seinen Schofar- ruf nur zu begreifen brauchen, um aufs neue seiner Nähe teilhaftig zu werden. Und ich weiss, wohin der Schofar mich ruft.

iD Wunderbar die Kraft, die vom Schofar aus- geht. Auch der schwache Arm fühlt neuen Mut, sich durch ein Leben der Pflicht seinem göttlichen Hirten zu nähern. nin Ti^J Wohl ruft der Schofar zum göttlichen Gericht, und bleierne Angst schlägt meine Glieder ich aber raffe mich auf, ich höre den Schofar, und Gott hat mich gelehrt, seinen Schofar zu begreifen: Gott ruft nicht zum Tode, Gott ruft zum Leben. „Heil seinem Volk, wenn es die Therua begreift " tri"! Denn der Gottesruf will Wunden heilen, ■'im und sprengt die Fesseln der Knechtschaft und führt der Freiheit entgegen; tt'iyn - bv:}Dr\ er reisst den Treulosen aus den Armen der Fremden und weist ihm den Weg, auf dem er verscherzte Reinheit wieder zu finden ver- mag. Denn nicht umsonst ergeht der Ruf aus gebogenem Schofar 1DD1 DNl Der Schofarruf scheucht den Feind hinweg, wenn er klagend wider uns vor Gottes Thron

Schofarklänge.

235

erscheint; denn er hat zur Erhebung uns ge- rufen ici^ :r-in2 lypn - 'dd^'^vd üD^i/m zu un- serer Erneuerung drang der Gottesruf in den Schofar und schmetterte hinaus in der Ferne die Mahnung zur Rückkehr und zur Freiheit und hat unser Herz gefunden und dem Leben uns zurückgeführt. Da verliert sich von selbst in die Ferne was unser Kläger klagend vor Gott in den Schofar zu rufen sich anschickt. Welches Wunder hat dieser Schofar nicht schon be- wirkt ?

HT Wahrlich, dieser Schofar, mehr als alle Stimmen, die an Israels zerstreute Gemeinden ergingen, hat zu starken Gemeinden sie immer wieder

emporgeläutert : der Thekiaruf unseres Schofars. Kümmerliche Gemeinden (vgl.Ps. 68,27) hat er zu starken .Gottesgemeinden emporgeläutert, die den Ruf des Führers vernahmen und vor dem Gedanken erzitterten, er könnte für immer seine Führerstäbe zerbrechen Oddt).

"•n Gott, der Lebendige der Lebenverleihende ruft zur Freiheit! Und hat sein Sinaischo- farruf zum erstenmal zur Freiheit gerufen, der Rosch Haschanaruf tönt stärker: er hebt selbst aus Sünde zur Freiheit empor ! ri3i3 -- VDlo Machtv^oll begleiten seine Töne die neun Be- rochauth unseres Mussafgebets : von Gottes Reinheit spendender Gnade und Wunden heilender Allmacht wissen mit Zuversicht sie zu künden. ^p^ - Dto^^ Wo wäre das Opfer, das einem Rosch Ha- schana gleichkäme, wenn an ihm der Weckruf zu Erneuung ergeht V Wem gliche an strah- lender Schöne das Herz, das unter Schofarruf den Lockruf zur wahren Schöne vernimmt ? Hat Gott einen herrlicheren Tag unter den

236 Schofarklänge.

Ta^en, die er in seinem \Valtungsl)uch ver- zeichnet y n^D Aufhorche die Welt, wenn Israel zum Schofar greift ! Es ist der Schofar vom Sinai, der Schofar, unter dem die Erde bebte (K. I. 1,40). unter dem Städte in Trümmer sanken (Jos. 6) Weh der Welt, wenn sie auf die Dauer dem Schofar das Ohr verschliesst ! Und ergehen heute ihre Thekiatöne es berstet die Erde, es sinken die Städte, unter des Schofars tosendem Schall.

bD Und die Menge der Uebeltäter, zitternd bricht sie zusammen, wenn zur Therua sie wecken, und Gottes Stimme wie mit Schofars Macht zur Huldigung ruft. )b)pb Wenn seine Stimme sie vernehmen,

sind von Schrecken gelähmt die Bewohner

der Erde, Nationen weht er im Sturm an. mit dem Sturmruf Seines Schofars. Denn der Scholar vermag auch zu brechen, und sein Sturmesruf weht X^Hkern (irabeshauch zu. Er bricht Golt leugnenden Hohn. Doch die ihn begreifen (vyiv^), vernehmen Vaterruf: D^LS r\Mfh wer erfasste die Seligkeit, wenn Gott unter Schofarruf seinen Thron besteigt? Es ruft der Vater die Kinder.

"i^lNID VCN1C Die Toren, di<' es nicht verstehen wollen, was ergreifend dieTcine des Scholars ihnen sagen; den gebrochen, kgrz schmetternden T()nen der Therua entspricht die Länge der Thekia (R. H. 8,3), der weckend warnenden Therua an Länge die rufende Thekia. Denn mit der- selben Kraft, mit der (iottes Schofar ni(Hler- schmettert, ruft er auch zu in Leben! Sie aber

Schofarklänge. 237

verachten die Thekia, sie sollen zittern vor der Therua. Denn der Schofar kündet einst den Anbruch der Gottes- herrschaft auf Erden, vor der Völkertrotz und Menschen- vvillkür zitternd vergehn.

}^m: Denn er reisst einst nieder die Mauern, macht ein Ende den Kriegen, wenn wie das Meeres Toben brüllend Sein Schofar spricht Und dann sinken die Mauern, mit denen vergeblich Menschen zu schützen sich suchten, und es schwinden die Kriege, die nur so lange auf Erden wüten und Menschen- glück vernichten, so lange Menschen kein Ohr haben für den göttlichen Schofar. Der aber tönt fort und fort. Es ist derselbe Schofar, der einst Sein Volk mit dem Gotlesbuch in der Hand vom Sinai in die Geschichte geleitete. Es ist derselbe Schofar, der Seinem Volke einst den wonnigen Tag der Erlösung zu bringen berufen ist,

ino Als Sein Geheimnis Er enthüllte am Sinai seinem Volke,

beschloss Er die Verkündigung seines Schrift- worts mit Schofarruf, der sie entliess. "iiD Und wenn das Geheimnis des Erlösungstags Er seinem Volke einst enthüllt, das um Ihn

sich schart, Wonne und Jubel ' wird Schofarruf dann künden. "ivrv Deshalb verdrängt er auch Jomkippurim, den Zehnten des Monats, verdrängt Schabboth, den heiligen Wonnetag, denn Sünden tilgen will er mit dem Kampfesruf seines Schofars. m^li? Und er tilgt die Sünden

und knüpft aufs neue den Dienst, Knechtende Lasten löst er, der schmetternde Schofarruf.

238 Schofarklänge.

Es ist derselbe Schofar, der den Befreiungsruf des Jo- beis am jomkippurim des fünfzigsten Jahres hinaussandte, vor dem selbst des Schabboth heilige Weihe zurücktrat : denn sein Freiheitsruf ist ein Kampfesruf wider die Sünde, und wenn er begriffen wird, löst er jede bestehende Knecht- schaft und knüpft aufs neue das einzig beglückende Band der Dienstbarkeit mit Gott.

"i:d Wann wird der Sinaischofar erschütternd in die Geschichte schmettern, um Edoms Herr- schaft zu vernichten V Heiss und innig entströmt dem Paiton die Tefilla.

]Vii Ein Denkmal, ein Wahrzeichen (steht es uns da): ' dreihundertfach einst der Schofar erklang,

und der Wehschrei Midjans drang hinaus vereint mit sich mengendem Schofarschall vriiD^i Und es jubelten die Gottesheere, als die Wunder sie sahen, als Wunder ihr P'els vollbrachte mit lieblichem Schofarruf. Aus Vergangenheit leuchtet ihm ein Denkmal, ein Wahrzeichen entgegen : aus midjanitischer Not (Ri. 7) hatte des Schofars Kraft einst Rettung' gebracht. Sollte sie nicht wieder einmal seinem armen Volke beschieden sein V

^ip (Hörst du nicht:) die Stimme der kraftlos Ge- schwächten, der zur Erde entkräftet Gebeugten '? Stimmen sind's : der Väter. Erbe ! Stimmen, die einst unter Schofar gegeben! Hör, o Gott, die Stimme der kraftlos (Jebeugten, zur F>de Gedrückten ! Hörst du die Stimmen V der Väter Erbe (n'Z''?'^' ]r\ü i:pn ni2i< m'rcn). wahren sie ireu! Hörst du die Stimmen V Deine Worte sind's, die einst unter Schofar ge- geben, denen aufopfernde Fliege sie weihen Du musst sie erlösen !

"ip Und zum Schofar greift er. Gott hat es gesprochen : auf den Schofar des Rosch

Schofarklänffe.

239

^na^m

Haschana folgt auch der Schofar der Zu- kunft.

Und seine Lippen beben, und seine Augen verzehren in Sehnsucht sich nach dem Augen- blick, da aus einem Flammenmeer der Ver- nichtung die Auferstehung seines Volkes sich vollzieht und die Toten erwachen i'^w) Bahn' vom Hermon Dir den Weg, um Edoms Macht zu brechen, und lass' in Todesschatten es schneeigt leuchten durch mächtig tosenden Schofar ! Und wie einst in ()de schreit' einher, wie einst, da die Lehre Du uns gabst, die

zur Wächterin uns ward, und lass in deiner Stätte vernehmen die Stimme, deren Ruf gleich dem Schofar

ergeht tosender Schofar schlägt Edoms Welt in 'Trümmer und hüllt eine Welt in Nacht. Aber aus Todes- schatten leuchtet es schneeigt <Ps. 68. 15) sein Volk er- hebt sich, und wie einst in wüster Öde schreitet Gott ihm voran (Hohel. 4, 8) und führt es und mit ihm eine ihm

i^Tf

iv^n

Gewaltig

folgende Welt mit Schofarruf zum Sinai.

J. Br.

240 80 Jahre 19 Briefe.

80 Jahre 19 Briefe.

Ueber den Vorwurf des Hirsch-Kultus, der unseru Monats- heften schon einmal von einer sehr beachtlichen Persönlichkeit der deutschen Orthodoxie gemacht wurde, glauben wir deshalb erhaben zu sein, weil wir schon in mehr als einem Artikel die be- denklichen Folgen einer einseitigen Stellungnahme zu Hirschs Werken und Wirken dargelegt haben. Kritische Ueberlegung scheint uns nämlich ganz besonders gegenüber einer historischen Erscheinung am Platze zu sein, die noch viel zu lebendig in unserem Kreise fortwirkt, um nicht vom Strudel der Tageskämpfe erfasst und vor allem in die religiösen Entscheidungskärapfe der Gegen- wart, die noch lange nicht abgeschlossen sind, niithineingezerrt zu werden. Kritik und Verehrung sind aber keine Gegensätze. Ja. eine ehrliche Begeisterung für eine grosse Persönlichkeit kann in Wirk- lichkeit nur das Ergebnis einer kritischen Würdigung und nur die Antwort auf tiefeindringende Fragestellungen sein. Und so glauben unsere Monatshefte, auch wenn oder gerade weil sie der Gefahr einer kritik- und geschmackloseTi Verhimmelung S. R. Hirschs im- mer sorgsam ausgewichen sind, seiner ragenden Bedeutung bisher noch immer gerecht geworden zu sein, gerechter jedenfalls, als wenn sie sich nach berühmtem Muster allmonatlich durch Auf- hissung der Jeschurun-Flagge als Universalerbin des Hirsch'schen Geistes proklamieren würden, auch wenn diese Flagge gar manche Bannware deckt, die der richtige Jeschurun niemals an Bord ge- führt hätte.

Wenn wir heute zum 80. Geburtstag der 19 Briefe einiges über dieses Erstlingswerk seines Verfassers sagen wollen, so glauben wir mit dieser Erinnerung an das nunmehr bald hundertjährige Leben der 19 Briefe einer Stimmung zu entsprechen, in der wir die Denkenden und Gemütvollen unter unsern Lesern zur Zeit durchweg befangen glauben. Wir alle werden nämlich durch den Krieg so stark an die Gegenwart gefesselt, dass ein Spaziergang in die Vergangenheit das einzige Mittel scheint, das wenigstens für eine kurze Weile uns von dem Wirrwarr unserer Tage ablenken könnte.

80 Jahre 19 Briefe. 241

Darum stellen wir jetzt die Frage: Haben uns die 19 Briefe heute noch etwas zu sagen ? Gehört die Stimmung, die sie erfüllt, das heisse Leben, das in ihnen pulst, die Sorgen und Hoffnungen, die sie verkünden : gehört das alles zu den Dingen, die schon vor 1914 das Merkmal des Greisentums und allmähligen Sterbens ge- zeigt haben und die <ler Weltkrieg v(>llig verschlungen oder durch eine andere Stimmung, durch ein anderes Leben, durch andere Sorgen und HofiTnungen vedrängt hat? Oder bleiben die 19 Briefe ewig jung? Gehören sie zu den Erscheinungen der jüdischen Lite- ratur, die sich von Generation zu Generation in gleicher Frische vererben, weil in ihnen ein Hauch jenes „heiligen Geistes" waltet, der das Buch dei- Bücher vor dem Welken und Sterben bewahrt? Sind die 19 Briefe noch modern, oder fangen auch sie schon leise an, unmodern zu werden? Werden sie weiter leben oder sind sie am Ende schon gestorben ?

Sie leben und sie werden weiter leben. Sie enthalten noch heute eine solche Fülle von Anregungen und Problemstellungen, sie sind noch heute so innig mit all den Fragen, die auf der Tagesordnung des jüdischen Lebens stehen, verwachsen, dass man immer wieder an sie zurückdenken und auf sie zurückgreifen muss, wann immer man sich über Gegenwart und Zukunft des Judentums Gedanken macht. Sie sind vor allem eine nicht hoch genug ein- zuschätzende Quelle des Verständnisses der Zeit, in der sie er- schienen sind. Es ist gar nicht so schwer, aus den 19 Briefen unter dem Titel „Rabbiner Hirsch und seine Zeit" ein neues Buch zu schaffen, das ungefähr folgenden Inhalt hätte :

Erster Abschnitt: Entartung. L Kapitel: Das neunzehnte Jahrhundert.

1. Mendelssohn. 4. Der a^\- miN.

2. Maimonides. 5. Der Geist vom Westen.

3. Der Chassidismus. 6. Im Zeichen des Verkehrs.

II. Kapitel: Revolution.

1. Das Vaterhaus. 4. Die Jugend.

2. Zwei Generationen. 5. Junge Leiden,

3. Vergangenheit u. Gegenwart. 6. Lektüre.

242 80 Jahre 19 Briefe.

7.

8.

Umeang. l^- Christliche Schriftsteller. Erziehung. H- Reforraliteratnr.

9.

Die polnische Thora.

III. Kapitel: (xeistige Kämpfe.

1. 2.

Philosophie. 4. Resignation. Kunst. 5. Die Milah.

H.

Jüdisches Literaten- niul Künstlerelend.

IV. Kapitel : Die Wisseiisehaft des Jadeutunis.

1.

Vorurteile. 4. Wissenschaft und Lidire.

2.

Die „Wissenschaft des Ju- 5. Spitzfindigkeit.

1

deutums". 6. ]nN 7m o; nmn.

Bibclkritik.

V. Kapitel: Das politische Leid.

9. 10. 11.

Emanzipation. Geistige und materielle Ju- dennot. Einigkeit. Behörden. Autorität.

Exil. 7.

Juden als Fremdkörper. H.

Nationalismus. Das jüdische Volk. Der jüdische Staat. Staatsbürger jüdischen Glaubens.

VI. Kapitel: Soziale Härten.

Das Geschäft. 5. Die Bequemlichkeit

Der Sabbath. 6. Das Geld.

Verkehr mit NichtJuden. 7. Genuss.

Auf Reisen. 8. Mönchtum.

VII. Kapitel: Das Reformjadentum

Religiöses Interesse. Religiöses Denken

Handeln. Assimilation. Abfall. Liberalismus.

und

, Glückseligkeit

und Voll-

kommenheit". Rabbiner und Prediger.

8. Toleranz.

9. „Tausend Schattierungen".

10. „Scheinvolle Präsentation".

11. „Die Kreisensstunde der

Gebärerin".

12. „Extravaganzen und Halb-

heiten". IH. „Die schwingende Schale". 14. .Dornen und Schutt".

80 Jahre 19 Briefe.

243

Zweiter Abschnitt: Der Weg zum Heile, I. Kapitel: Das jüdische Denkeu.

A.

Gott.

1.

Die „reinen Lebensfragen"

. 4.

Der „Alleine".

2.

Monotheismus.

5.

Vorsehung.

3.

Die „Allkraft."

B. D

ie We

lt.

1.

Natur.

6.

Stoff und Form.

2.

Pantheismus.

7.

Harmonie.

3.

Monismus.

8.

Erhaltung.

4.

Die „Gotteswelt".

9.

Entwickelung.

5.

Bestimmung.

10.

Nichts ist vergebens.

C

Der Mensch.

1.

Psychophysik.

15.

Das Vergängliche, das

2.

Der Gottesdiener

Ewige.

3.

„Der Mensch."

16.

Lebensinhalt.

4.

Persönlichkeit.

17.

Der Körper des Menschen.

5.

Arbeiten !

18.

Der Geist.

6.

Mensch und Erde.

19.

Gedanke und Wort.

7.

Ding an sich.

20.

Das Herz.

8.

Sympathie.

21.

Gut und Böse,

9.

Bewusstsein.

22.

Stolz.

10.

Freiheit.

23.

Entartung.

11.

„Güter":

24.

Sünde.

12.

Massstäbe.

25.

Eden.

13.

„Der Genius der Mer

sehen

26.

Die Höheren.

bildung".

27.

Gerechtigkeit und Liebe.

14.

Die Vielzuvielen.

D.

Die

Gesch

ichte.

1.

„Geschichte".

4.

Bereicherung.

2.

Leidenstheorie.

5.

Das Christentum.

3.

Verjüngung.

6.

Der Messias.

E.

Das

Judentum.

1.

Der „Begriff Jissroel

II

3.

tt^np '^:,

2.

D^jnD nD^öö«

4.

nnnx.

244

80 Jahre

19 Briefe.

5.

n31?2X.

<).

Israels Kern.

6.

nNn\

10.

Offenbarung'-.

7.

Die Befreiuni;-.

I 1.

Die Tliora.

8.

Die Mission des Jndeii-

12.

Synilxdik.

liuiis.

13.

Der Talmud.

II. Kapitel: (i»'

geiivvarfsaiifjrabeii.

l.

Die Jugend Hirsclis.

14.

Glauben und Wissen.

2.

Seine Eltern.

15.

Der gesunde Menschen-

8.

Sein Bildungsgang.

verstand.

4.

Wie Hirsch Rabbiner wird.

Iß.

Anarchische Neigungen.

5.

Hirsch als Scliriftsteller.

17.

Poesie.

6.

Die „Neunzehn Briefe".

18.

Das Hebräische.

7.

Naphtalis Antwort.

19.

HDIi.

8.

„Moria".

20.

Homiletik.

9.

„Horeb".

21.

Die Gemeinde.

10.

Hirsch als Uebersetzer,

22.

Die „Religionsgesellschaft".

11.

Jargon.

23.

Gottesdienst.

12.

Pathos.

24.

Schule.

13.

Apologetik,

25.

Hirschs "iiJ^Sn -[m.

Dritter Abscii

nitt

: Ausblick,

1.

Wo ist die Wahrheit?

ß.

„Das Kind in den Flam-

2.

Die Gegner.

men".

8.

Hirschs Sorgen.

7.

Hirschs Ruhm und Aner-

4.

„Der Reicherbegabte".

kennung.

5.

Hirschs „innere Stimme".

8.

Ein Einsamer.

Dieses aus den 19 Briefen hervorgegangene Buch wäre zu- gleich, eine übersichtliche Zusammenfassung der gesamten späteren theoretischen und praktischen Wirksamkeit des Verfassers dieser Briefe. Denn Hirsch hat später nichts gedacht und getan, was nicht schon im Keim in den 19 Briefen enthalten wäre. Sie ent- halten das Programm seines Lebens. Uud vielleicht w'ürde er durch dieses Buch, wenn es gut und gründlich geschrieben wäre, auch populärer werden, als er täuschen wir uns nicht tatsächlich heute ist. Es gab unter seinen Zeit- und Gesinnungsgenossen Schriftstpller, die noch heute beliebter sind als er, z. B. Lehmann,

80 Jahre 19 Briefe. 245

dessen Pessach-Hagadah in hocheleganter Ausstattung Auflage nach Auflage. erlel)t, obwohl man diesem Werke nicht zu nahe tritt, wenn man es als ein liebliches Kompendium von mehr oder Aveniger guten „Wörtchen" charakterisiert. Aber Lehmann kannte sein Publikum, und er wusste eine idyllische Feder zu führen, wie sie zu behaglichen Sabbathnachmittagsverdauungsstunden passt. In dieser intimen Bekanntschaft Lehmanns mit den spiessbürgerlichen Neigungen und Bedürfnissen des grossen Publikums'liegt seine grosse literarische Bedeutung, während Hirsch in seinen Schriften auf das geistige Niveau seiner Leser niemals Rücksicht nahm, und sie da- her auch von guten „Hirschianern" immer noch mehr gelobt und gepriesen, als studiert und gelesen werden. Dazu kommt der ganz eigenartige Stil dieser Schriften. Herr Dr. Wohlgemuth in Berlin gefällt sieht von Zeit zu Zeit darin, in Kirschs Schriften sprachliche Inkorrektheiten aufzuweisen. Das ist weder schwer noch neu. Denn während sonst bei Schülern, deren Aufsatzhefte die Rotstift- spuren der ach so billigen Lehrerüberlegenheit tragen, das Be- wusstsein der stilistischen Unzulänglichkeit fehlt, kann sich der stilistisch gemassregelte Verfasser der 19 Briefe auf das Vorwort seines Jugendwerkes berufen, allwo es heisst : „Was die Briefe betrifft, so gebe ich sie ganz so, wie ich sie vorfand ; und habe mir, als an dem Werk eines An,deren, auch nicht erlaubt, hie und da Härten im Stil zu verbessern, um nicht manche Eigentümlich- keit desselben mit zu verwischen". Jene so fürchterlich abgeklärt, durchgebildet und wissenschaftlich tuende Schreibart, die das reli- giöse Denken und Leben, koste es was es wolle, in akademische Formen presst, um mit Breslau konkurrieren zu können, war nicht Ben Usiels Geschmack. Er war sich stets bewusst, dass die Not- wendigkeit, heilige Gedanken und Gefühle in profaner Sprache wie- derzugeben, ein geiäbrliches Wagnis bleibt, auch wenn äusserlich kein direkter Verstoss der profanen Form gegen den heiligen In- halt wahrzunehmen ist. Wird das, was ich denke und fühle, auch in gleicher Reinheit vom Leser nachgedacht und nachempfunden werden? Und genügt es, wenn die Übertragung ohne Ansatz von Fremdkör- pern von statten gehen soll, die üblichen Leitungsdrähte der gewöhn- lichen Schriftsprache zu benützen? Ist es nicht viel wissenschaftlicher, eigentümliche Gedanken und Gefühle auch in einem eigentümlichen Stile

246 80 Jahre 19 Briefe.

wiederzugeben ? Und erweckt nicht Jemand, der Jüdisches in einem flecklosen Akademikerstil ausspricht, viel eher den Anschein, dass die Thora nur eine unter andern Geistesmächten ist, als Je- mand, der, um die ewig originelle Thora auch entsprechend origi- nell in deutsc'ier Sprache darzustellen, hierbei auf einen eigenen Jargon verfällt ? Solch ängstlichen Gewissensfragen entstammen Ben Usiels „Härten im Stil".

Die Popularität der 19 Briefe litt aber vor allem unter dem Ein- druck der Strenge und Härte, der von ihnen ausging. „Die neunzehn Briefe über Judentum" von Ben Usiel, einem Jünger Bernays" (1836), waren die ersten Laute eines kräftigen Widerspruchs gegen die Verflachung des Judentums zu einer Alltagsreligion, die in Predigt, deutschen Gesängen und Confirmatiou bestehen sollte, die, mit finem Worte, die Fülle seines Wesens in die vier Wände der Synagoge einzuschränken gedachte. Es war die Eröffnung eines Kampfes zwischen zwei verschiedenen Gruudanschauungen, der noch lange nicht ausgetragen ist" (Grätz;. Dieser Widerspruch war nicht blos kräftig, er war auch streng und hart. Dieser Wider- spruch war sich von vornherein bewusst, dass mit Gc^danken und Anschauungen, wie sie in den 19 Briefen vorgetragen wurden, sich keine Massen gewinnen lassen und kein literarischer Lor- beer pflücken lässt. Dieser Widerspruch war von vornherein auf den Verzicht auf öffentliche Anerkennung eingestellt. Auf Agita- tion und Reklame, auf die tausend Künste, Kniffe und Schliche, die man kennen und beherrschen muss, um „beliebt" zu werden, verstand sich Ben Usiel nie. Him war sein ganzes Leben hindurch ein völliges Unbekümmertsein um den Erfolg seiner Mühen eigen, und „die Wahrheit wächst aus der Erde" war das Leitmotiv seines Wirkens. Verzichten können dünkte ihm das Wesen der Orthodoxie zu sein. Ueber das, was einmal der Herausgeber dieser Blätter den Imperialismus der Orthodoxie nannte, hätte Ben Usiel heute wie vor 80 Jahren die Schale seines prophetischen Zornes geleert.

Dann aber litt und leidet die Beliebheit der 19 Briefe auch unter den grossen Ansprüchen, die sie an das Denkvermögen und an den Bildungsgrad ihrer Leser stellen. Man kann sie nicht so glatt hinunterleiem, wie man etwa einen Zeitungsartikel oder ein

80 Jahre 19 Briefe. 247

Ullsteinl)uch in sich aufnimmt. Man muss sich schon die Mühe nehmen, sie zu studieren oder sich erklären zu lassen. Gar man- cher unter uns ist zufrieden mit dem allgemeinen heilii;en Eindruck, den z. B. ein Kapitel der Psalmen hervorruft, auch wenn er fast kein einziges Wort darin richtig versteht. Leider ist der Spott unserer liberalen Stammesgenossen über die heilige Andacht, mit der so viele unter uns tagtäglich ihr ^ft^pf: ''VH radebrechen, nur wohl verdient, auch wenn die Folgerungen, die das liberale Judentum aus dieser Unzulänglichkeit der religiösen Andacht zieht, durchaus unberechtigt sind. Es wird in unsern Kreisen nicht viel ;,gelernt", aber auch nicht viel gelesen. Mit der sogenannten Bildung hapert es in unseren Kreisen stärker als man glaubt. Abgesehen von unseren höheren Töchtern, die in Ibsen und Strindberg machen, empfinden nur die Wenigsten unter uns ein wirklich inneres Be- dürfnis nach einer abgerundeten Welt- und Lebensanschauung. Nur die Wenigsten verfügen über die nötige Geduld, um ein ernst- haftes Buch gründlich durchzulesen. Dai unter litt und leidet die Verbreitung der 19 Briefe. Wie viele giebt's, die verstehen, was das heisst, Gott rief der Luftdünnung zu „werde Himmel der Erde"? .... ^Jegliches tragend das All und das All tragend ein jedes" .... Mit „Ideen" beschweren wir unser Lebensgepäck nicht gern. Frisch und frei wollen wir durchs Leben wandern. Erstaunhch viel Oberflächlichkeit herrscht in jüdischen Kreisen, und gar mancher wäre frömmer, wenn er nur etwas gebildeter wäre. Die heutigen Benjamins denken und reden anders als der Benjamin der 19 Briefe. Der war ein ernster, nachdenklicher Mensch, der das Judentum als Problem empfand, mit dem sich der [Jude doch etwas anders auseinandersetzen muss, als durch ober- flächlichen Spott und Hohn. Wie tief und treffend ist z. B. seine [Motivierung des Goluselends, dass Israel, obwohl „bis aufs letzte faller Volkstümlichkeit beraubt", dennoch als Volk betrachtet werde. iS muss damals viel gedacht und viel innerlich gekämpft worden sein in jüdischen Kreisen.

Bei einem Rückblick aui jene Zeit können wir uns heute nach 80 Jahren einer stillen Selbstbemitleidung nicht erwehren. Bei all dem Sturm und Drang, den sie durchmachen mussten,

248 80 Jahra 19 Briefe.

waren unsere Grossväter doch glücklicher als wir. Zwar hat man zu allen Zeiten auf Kosten der Gegenwart die Vergangenheit ge- rühmt, uns dünkt aber, niemals mit grösserem Rechte als^in'unserer Zeit. So erbarmungslos wie unsere heutige Generation vom Schicksal gezwickt und zerzaust, verwundet und erschlagen wird : das ist unseren Grossvätern doch erspart geblieben. Auch sie hatten ihre Kämpfe, ihre Sorgen, ihre Wunden, es spielte sich aber alles noch in den geruhsamen Formen eines Lebens ab, von dessen Art wir einen Hauch empfinden, wenn wir die 19 Briefe lesen und ims dabei aus dem, was zwischen den Zeilen steht und aus dem gan- zen Drum und Dran ein Bild jener Zeit zusammenfügen. „Ich musstc Ihnen die Unzulänglichkeit derselben eingestehen, bat um Ihre Belehrung, da rief der Postillon, und Sie konnten mir beim Lebewohl nur das Wörtchen „schriftlich" noch zurufen". Man fuhr damals noch mit dem Postillon und schrieb lange Briefe. Inzwischen haben die Erfindungen und allerhand Fortschritte auf allerhand Gebieten zu einer inneren Aufwühlung der Menschen und Völker geführt, die sich in ihrer ganzen Tiefe erst in dem uns auferlegten Weltkriege entladen sollte. Denn nur in einer Zeit, die mit den geruhsa-men Formen der Zeit der 19 Briefe längst gebrochen hatte, war dieser Weltkrieg möglich, der aus der Weltkultur so folgerichtig wie die Sündflut aus dem Sündenfall entstand. Viel können wir noch heute, viel werden auch unsere Nachkommen aus den 19 Briefen lernen. Auch ihnen werden die 19 Briefe eine Zeit und ein Geschlecht vor das Gemüt zaubern, die bei aller Horizontenge des äusseren Blicks an inneren Gesichten reicher waren als wir.

Als der Verfasser der 19 Briefe sein 80. Lebensjahr erreichte, neigte sich sein Leben dem Ende zu. Die 19 Briefe werden ihr 80. Lebensjahr überdauern.

R. B.

Das Ostjuden-Problem. 249

Das Ostjuden-Problem.

Von Bezirksrabbiner Dr. Hermann Kl ein -Eisenstadt (Ungarn).

II.

]mim V2P |n2N*bc □^:innNn min di^2 nnbv nn nii ^ynx anDN^Di DTD nrbv 1? n'^I HT n'? ^yiN „Die späteren Geschlechter gleichen nicht den früheren. Bei den früheren war die Thora das Feststehende und ihre Arbeit das Zufällige und sie brachten es in beiden zu etwas, bei den späteren ist ihre Arbeit das Feststehende und ihre Thora das Zu- fällige und weder eine noch das andere ist von Erfolg begleitet".

In diesen Worten unserer Weisen finde ich am prägnantesten den Kontrast zwischen Ost- und Westjudentum gekennzeichnet, wenn auch das Ostjudentum nicht mehr ganz im Geiste der früheren Geschlechter lebt. Für die Treuen im Osten, ob sie nun zu den Chassidim oder zu ihren Gegnern, den!Misnagdim, gehören, war es bis vor einigen Dezennien gar keine Frage, wie sie ihr eigenes oder das Leben ihrer Kinder gestalten sollten. Ein Erziehungs- problem gab es da ül)erhaupt nicht. Es war für jeden jüdischen Vater eine Selbstverständlichkeit, dass sein Kind lernen müsse. Das Wort der Lehre ""»^Db Dn^JB^I lässt ja gar keine andere Deutung zu und dieses Wort war die Lösung aller Erziehungsfragen und aller Erziehungssorgen. Mit 8 oder 9 Jahren verliess der Knabe das untere Cheder, um in das höhere zu treten, wo es wirklich lernte. Mit 8 oder 9 Jahren begann es x~id: zu lernen und der Knabe lernte immer weiter, bis er zum Jüngling heran- wuchs und der Jüngling lernte er recht bis er in die Jahre kam, wo er daran denken musste, oder richtiger, wo die Eltern daran denken mussten, ihm ein Haus zu gründen, denn auch n^i^ Mi^^nb gehört nach der Mischnah zum Pflichtenkreis des Vaters. Und während der ganzen Zeit des Lernens trübte niemals die Sorge um den späteren Lebensberuf die Seelenruhe der Talmudjünger. Jeder, der seine Jagend in den Jeschiwoth verlebt hat, wird es

250 Das Ostjuden-Problem.

mir bestätigen, dass nirgends eine gleiche Ainiosphäre der Sorg- lohigkeit herrscht wie in diesen Tliorastätten. Kleingläubige im Sinne unserer Weisen, denen die Sorge um den Morgen das Haar bleichen würde, giebt es da überhaupt nicht. Es war für die V'äter keine Frage, was sie mit ihren Kindern anfangen sollen. ]n~nn V2p fest stand es für sie, dass die Söhne min ^22 werden müssen, die Kinder sollten ebenso lernen wie sie gelernt haben. Es lebte in den jüdischen Vätern des Ostens - und zu diesem Osten gehört auch Ungarn etwas von dem gewaltigen Geiste eines Abraham, der sein Kind ohne weiteres zur nipyi führt, weil ^ es sein Gott geboten. Er lässt sich durch nichts abhalten, mag Satan als hilf- loser Greis oder als kraftstrotzender Jüngling oder als ein gewaltiger Strom ihm erscheinen, er sieht all die Hindernisse gar nicht, denn das Ziel am Morija hat sein Auge gebannt, er muss es erreichen. Auch die Väter des Ostens waren von diesem Geiste beseelt, gar viele hätten der Söhne zur eigenen Stütze bedurft, gar viele wussten, dass man auf den Jeschiboth alles erlernen könne, nur nicht die Kunst, wie man Geld verdient und gar vielen war die kärgliche Unterstützung, die sie ihren Söhnen in den Jeschiwoth angedeihen lassen mussten, ein fast unerschwingliches Opfer, das man nur bringen konnte, wenn man es sich im buchstäblichen Sinne des Wortes vom Munde ersparte, aber weder die Sorge um das eigene Alter, das ohne Stütze blieb, noch die viel brennendere Sorge um die Bedürfnisse, um das materielle Wohl des Jünglings, um seinen zukünftigen Lebensberuf Hess die Väter von dem Akedahweg ab- irren. Morijah ist das Ziel und dieses Ziel muss erreicht werden! Was aus dem Jüngling werden soll ?, wovon er leben soll ?, wie er sich und seine Familie erhalten soll? Es wird sich schon etwas linden 1 Man muss keinen festen Beruf haben ! Sein Vater hatte auch keinen festen Beruf, sein Grossvater ebensowenig und es ging doch. ^J?1N DfiDN^DI Der Beruf hing vom Zufall ab. Man ver- suchte sich als Wirtshäuser, Ökonom, Gemischtwarenhändler und wenn alle Stricke rissen, so wurde man Schächter oder Melamed. Und es ging wirklich. Nur diesem Berge versetzenden priLSD, von dem die jüdischen Väter des Ostens beseelt waren, verdanken wir es, dass die Thora im Osten noch immer eine Heimstätte hat^

Das Ostjuden-Problem- 251

Wir leben noch immer von den Brosamen dieses ]int22. Dieses Gottvertrauen verlieh den Vätern die Sicherheit, wie sie ihren Weg gehen sollen. Durch diese Sicherheit lernten die Kinder, durch dieses in sich sichere Vertrauen schritten die Jünglinge in der Vollkraft ihrer Jahre zur Familiengründung und erzogen ihre Kinder genau in demselben Geiste wie sie von ihren Eltern erzogen wurden. So war es bis vor einigen Jahrzehnten. Es ist bei uns ein wenig anders geworden. Die socialen Verhältnisse haben sich geändert. Und wenn man früher wirklich sich sagen konnte, dass man sich um den Lebensberuf nicht allzusehr zu kümmern braucht, denn es wird schon irgendwie gehen, so hat dies durch die Wandlung, die eijierseits das sociale Leben der nichtjüdischen Welt erfahren, anderseits durch verschiedene gesetzesgeberische Massnahmen eine wesentliche Einschränkung erfahren. Verschiedene Berufe, die früher ganz in jüdischen Händen waren und die man über Nacht erlernen konnte, sind in die Hände von Xichtjuden geraten. Der typische jüdische Dorfwirtshäuser verschwindet nach und^nach'^ganz. Das commerzielle Leben, das bis vor ganz kurzer Zeit bei uns sich in ganz primitiven Formen bewegte, stellt heute schon viel höhere Ansprüche an den Kaufmann. Und es ist ja unverkennbar, dass eine Wandlung sich vollzogen hat, aber im grossen und ganzen gilt auch noch heute bei den wahrhaft Frommen die Maxime omin ''V"!N* DnDf^'pci yDp. dass das Kind hauptsächlich lernen müsse, der weitaus grössere Teil des Tages muss dem intensiven Thorastudium gewidmet sein und nur ein Bruchteil des Tages soll einem pro- fanen Unterricht gewidmet sein, der den heranwachsenden Jüngling befähigen soll, den veränderten Zeitverhältnissen ent-iprchend sich irgendeinem Berufe zu widmen, einem Beruf«, bei dem man weiter lernen kann und der einem das Leben als Jehudi ermöglicht. Das Problem ist noch nicht ganz gelöst, aber die Lösung kann man sich bei uns gar nicht anders denken als in diesem Geiste. Nach wie vor geht alles Streben der wahrhaften D'Nn"' dahin, die Jeschi- woth zu erhalten, denn in ihnen erblickt man nicht nur die Boll- werke der Thorakenntnis, sondern das Judentum schlechthin. Werden die Jeschiwoth der Jugend und die Jugend den Jeschiwoth erhalten, so hat das Judentum eine Zukunft, wenn aber nicht, so

252 Das Ostjuden-Problem.

ist nicht nur das Tborastudium, sondern die ganze Gesetzestreue und mit ihr das o;anze Judentum in Frage gestellt. Das Wort Rabbiner Sanison Kaphael Hirsohs b")i'\, dass mann in unseren Tagen das Wort der Weisen TDH ]nNn DV ah^ in ein ^"in^ ^n^n cy n'^ erweitern müsse, dass heute ein Unwissinder gar kein treuer .Jehudi sein könne, wird hier bei uns in seiner ganzen Tiefe und Bedeut- samkeit gewürdigt. Mit der Zukuntt der Thora ist die Zukunft des Judentums eng verknüpft und unter Thora versteht man in- tensive Kenntnis von D^V^^ min. Wober die intensivere Pflege der mündlichen Lehre im Osten stammt? Wahrscheinlich weil im Osten das i'\f2bb stets mit dem r\W}!b in Verbindung stand, weil im Osten das Tborastudium stets mit der Praxis, mit der Betätigung des Gelernten Hand in Hand ging, weil im Osten die min niemals tote Wissenschaft, sonder stets D^^n rnin Lehre des Lebens, Lehre für das Leben, mit einem Worte lebendige Thora war, und ja be- kanntlich die eigentlichen Lebensnormen nur aus der mündlichen Lehre zu gewinnen sind, daher stammt die weitaus intensivere Beschäftigung mit E:"y3i:' min als mit DnDDi:' mm. Und mag man auch in gewissen Kreisen ülter den yiüb aus dem Osten, der einen Bibelvers aus Traktat Sabbath oder Gitin citiert, gering- schätzig die Achseln zucken, es wäre ein Unglück fürs Judentum, wenn diese Nm^mi^l yinn ''DV und jiDll D'^DDH "'TD^n, wie man diese specics bei uns witzig bezeichnet, ganz verschwinden würden. Sie sind echte Jünger der unorganisierten Jeschiwoth, deren Stärke und Grösse, deren nachhaltige Wirkung vielleicht zum grössten Teile auf ihre Desorganisation zuzückzuführen ist. Die Jeschiwoth waren nie Rablnnerschulen. sie sollten und wollten keine Rabbiner ausbilden, sie waren keine Seminare mit wohlgeordneten Stunden- plänen und frisirteii Wisseüsfächevn, sondern Thorastätten, wo Thora gelehrt und gelernt wurde, Thora fürs Leben in dem Sinne, dass man die Jünger befähigte allein zu lernen. Es kam nie darauf ;in. wie in den Rabbinerschulen ein gewisses Pensum zu erlernen, dessen Beherrschung unerlässliche Vorbedingung zur Erlangung des Rabbinerdiploms ist, sondern Hauptgewicht wurde darauf ge- legt, dfiss die Bachurim sich einen richtigen l}ri^^r\ "jm aneignen, der sie befähigen sollte NnD^m xn^^N j^nnVCtt' ^p^Cüb, aus der

1

Das Ostjuden-Problem. 253

Controverse die richtigen Folgerungen für die Praxis zu ziehen ; die Jeschiwoleiter betrachteten es als ihre Auptaufgabe l^^bb ip^^ das „Lernen" zu lehren, wie dies der ehrwürdige Leiter der ein- zigen Jeschiwoh nach östlichem Muster im Westen, der "^Dl der „Thoralehranstalt in Frankfurt a. M." auszudrücken pflegt. Die Jeschiwot in ihrer ürsprüuglichkeit 'zu erhalten ist die einzige Sorge der ostjüdischen Kreise. Für das Fortkommen im Leben, für den socialen Beruf soll man durch privaten Unterricht sorgen, aber nach wie vor herrscht die Auffassung "»yiN DflDt^bDI vor, dass, will man nicht die nmn vernachlässigen, man an keine {feste Be- rufswahl denken darf. Der sociale Beruf soll n'ach wie vor etwas „zufälliges" sein. Man kann sich auf keinen bestimmten Beruf festlegen. Der Beruf des Juden ist Jude zu sein, und daher ist es oberste Pflicht, das Judentum zu kennen, denn zum Juden hat unser Schöpfer uns berufen. Wir sollen uns den Beruf erwählen, zu dem wir Beruf fühlen. Für den socialen Beruf genügt eine Bildung, die sich nicht aufs Specielle erstreckt, sondern ganz all- gemein bleibt. Kenntnis der Landessprache im grossen und ganzen, die Elementarbegriffe''''des Rechnens und 1—2 Jahre Tätigkeit in einem Greschäfte oder 2 3 Jahre für das Erlernen eines Handwerks, das soll für die Wahl eines Berufes genügen. Dass hiezu aber vor allen Dingen das alte |ini3D notwendig ist, wer möchte es be- bezweifeln. Aber dieses felsenfeste Vertrauen lebt noch in den Vätern des Ostens und stählt den Mut der Jünglinge, die noch immer in hellen Scharen die altehrwürdigen Thorastätten aufsuchen, utn zu lernen und deren Schlaf die Sorge um ihren zukünftigen Lebensberuf noch immer nicht stört.

Das nachmendelssohnische Judentum des Westens hat die umgekehrte Devise auf seine Fahne geschrieben Dmim V2p DHDN^D ""yiN. Die Ghettomauern waren gefallen und den in die Frei- heit ziehenden Söhnen der Ghettos standen alle Berufe und alle Bildungsstätten offen. Mit einem wahren Heisshunger stürzten sich diese Kinder des Elends auf die Berufe, die ihnen vorher ver- schlossen waren. Und nach dem Muster ihres Wirtsvolkes wollten sie etwas Gründliches erlernen. Und der sociale Beruf ward die Hauptsache. In seinem Berufe es zu etwas bringen, in seinem

254 Das Ostjuden-Problem.

Berufe etwas Tüchtiges leisten, galt als Lebensziel und Lebens- zweck. Und jeder sollte, jeder niusste einen Beruf haben, der eine sollte Arzt, der andere Advokat, der dritte Kaufmaiui und der vierte Apotheker usw. werden. Und der Beruf wurde schon an der Wiege bestimmt. Von der Wiege bis znm Gral)e lebte man nun diesem Berufe. Und wenn in der ersten Zeit der ""nn noch als "'yiN ein l)escheidenes Plätzchen im Erziehungsplane und später im Leben gegönnt wurde, wenn auch jeder noch etwas lernte, soweit es eben das Berufsstudium gestattete, so wurde aber der Beruf immer schwieriger, die Wissenschatten differenzierten sich und so ward das Studium, das Brotstudium immer complizirter und für die min blieb immer weniger Zeit, bis auch sie zum Be- rufsstudinm hinabgesunken war d. h. dass die niin nur noch von denen gelernt wurde, die aus dem Studium der Lehre einen Brot- erwerb machten, von den Rabbinern und Theologen. Aus den Jeschiwoth floh die rmn in die Seminarien oder richtiger in das Seminar zu Breslau. Sonst erstreckte sich das Thorastudium auf einige Religionsstunden, in denen man es höchstens zu einer Fer- tigkeit im Hebräischlesen und notdürftiger Kenntnis des Inhaltes der Bibel brachte. Die Thora schied aus dem Leben. „Mein Kind soll ja kein Rabbiner werden", war die stereotype Antwort der Väter, wenn man es sich einfallen Hess, sie aufzufordern ihre Kinder etwas niin lernen zu lassen. Und weil die Thora blos Domäne der Berufstheologen blieb, so wurde sie von diesen erst recht vernachlässigt. Diese schufen sich erst recht eine neue min. Es war ja niemand da, der sie controlliren konnte. Nie hätte die Reform in Ueutschlang selche Verheerungen anrichten können, wenn im V'olke die Kenntnis der Thora nicht fast ganz verschwunden wäre. Es sind ja im Osten auch Reformatoren aufgetreten, sie haben auch Anhang gefunden, aber die grosse Masse des Volkes, selbst die aus Leichtsinn oder anderen Gründen ihnen folgen, ist sich des unjüdischen Charakters dieser Reforrabestrebungen vollauf bewusst. Mit Hohngelächter weisen sie es zurück, wenn man ihnen dieses Spiel als Ernst hinstellen will. Als Komödie, als Pikanterie lassen sie es sich ja gefallen, aber sie wissen auch wo das richtige, das ernste Judentum ist. In Stunden, wo der Ernst des Lebens

Das Ostjuden-Problem. 255

an sie herantritt, werden die eingefleischtesten Neologen den Weg zum orthodoxen Rabbiner finden. Aber im Westen kam den Pre- digern des neuen Judentums die Unwissenheit der Massen zustatten. Sie hatten keine Kontrolle. Die Massen hatten mit ihrem Berufe genug zu tun und fühlten sich nicht berufen, in theologischen Fragen mitzureden. Die Thora ward herrenloses Gut, ein jeder konnte schalten und walten mit ihr, wie es ihm gerade beliebt, '^IM px

Und als dem Judentum des Westens, als der nim im Westend die D'^b^lJ erstanden, als Rabbiner Samson Raphael Hirsch V'^T und die anderen grossen jüdischen Männer auf dem Plane erschienen, um die Thora für das Judentum des Westens und das Judentum des Westens für die Thora wieder zu gewinnen, so mussten sie damit rechnen, dags dieser Gedanke, dass jeder Mensch seinen sicheren socialen Beruf haben müsse, dem der weit- aus grössere Teil der Kraft und der Zeit des Menschem gehöre, zum eisernen Bestand des Charakters der Westjuden gehöre, dass sie bei der praktischen Lösung ihrer Aufgabe dem Berufs- studiiim einen weitaus grösseren Raum gönnen müssten, als es ihm nach ihren ausgesprochenen Prinzipien zugekommen wäre. Di? TD^D ym "1"! heisst ja erst min, dann wieder mm und erst dann "J~ii ym, aber in der Praxis ward es doch Beruf und Beruf und dann erst min. Aber dies allein war ja schon ein Riesenfortschritt. Die min ward wieder heimisch auch in Laienkreisen, man lernte wieder und die Lösung der weiteren Aufgabe konnten die Grossen dem der min innewohnenden Lichte überlassen. Dass das Prinzip des pN im oy mm von Rabbiner Hirsch ^'i^T ganz und gar im Sinne unserer Alten aufgefasst wurde, bedarf für den Kundigen keines weiteren Wortes. Nicht müde wird er, die Centralstellung, die der mm im Leben des Jehudi gebührt, zu betonen, mit ein- dringlicher Kraft mahnt er, in der Kenntnis der mm unseren Lebensberuf zu erkennen, nicht erlahmt er in der Geisselung der ganz und gar unjüdisehen Auffassung der min als Theologie, als Wissenschaft, keiner hat kräftigere und wahrere Töne gefunden, um die nilfi als Leben regelndes, Tat erheischendes Gesetz, als die wahre D'^'^n n~i\n zu verkünden, von ihm stammen folgende

256 Das Ostjuden-Problem.

Worte, die vielleicht am schlagendsten beweisen, wie er dieses Prinzip verstanden. „Aber die Möglichkeit! die Möglichkeit!" „Unsere Kinder haben so viel und so vieles zu lernen! Wir leben nicht mehr in den engen Ghettosphären. Frei bewegen wir uns, noch freier werden sich unsere Kinder im Weltverkehre bewegen und unendlich gesteigert sind die Anforderungen, die das Leben an den gebildeten Menschen macht und die in der Erziehung und dem Unterrichte keinen Raum für den „hebräischen" Unterricht nach alter Väterweise lassen. Sollen unsere Kinder denn gegen die übrigen Zeitgenossen an Kenntnis und Bildung zurückstehen? Sollen sie ihnen nicht ebenbürtig gleich stehen in Kenntnis der Sprachen und Realien? Sollen sie im Geiste den beschränkten Gesichtskreis der alten Ghatti noch fortbewahren? Sollen sie auf alle die geistigen Vorzüge der Neuzeit verzichten?" Das sollen sie nicht. Müssten sie's freilich, bliebe uns in der Tat keine andere Alter- native, als entweder unsere Kinder unwissend zu lassen in allen Kenntnissen, die den leiblich als Juden Ge- borenen auch erst geistig zum Juden machen oder auf manchen Schatz der neuen Bildung für sie Verzicht zu leisten, gäbe es nur diese eine Alternative, wir stünden keinen Augenblick an zu erklären: Dürften wir nur das eine oder das andere wählen, wir müssten als Juden auch auf geistige Vorzüge verzichten, so wir sie nur auf Kosten des jüdischen Geistes erkaufen könnten. Unsere Väter müssten für ihr Judentum noch ganz andere Dinge opfern. Und auch für uns hiesse es: Erst Judentum, dann Bildung." lyiN hDn'^'DI V2p nmn heisst dies mit anderen Worten. Es unterliegt keinem Zweifel, dass es in der Konsequenz seines ganzen Denkens liegt, der niin den Primat zu sichern. Sein ganzes Leben und sein ganzes Streben war einzig und allein dem Ver- suche geweiht, das yiiü ~\l- dV min l)d7D oder das Thora-Kultur- Problem zu lösen. Und wie wenn er gefunden hätte, dass. sein Versuch nicht die richtigen Früchte gezeitigt, dass bei seiner Lösung, des ym "i~n zu viel und der niin "zu wenig sei, dass die Sorge um den Beruf die besten Kräfte der Münner absorbiere, dass das Berufsstudium kaum Zeit lasse für ein flüchtiges Durchblättern der

Das Ostjuden-Problem. 257

DflDTiT min, dass aber tür ein intensives Eindringen in d"^ und □VD1C keine Kraft und keine Zeit da sei, dass daher wieder eine Verflachung dem Judentum droht, weil es nicht gekannt wird, wenn er sehen würde, dass die Sorge um den Beruf auch das jüdische Leben der Praxis nachteilig beeinflusst, dass z. B. im Westen der n:^ n{<0 ]2 ~iy;, der greise Jüngling nicht zu den Seltenheiten ge- hört, er würde nicht anstehen zu erklären: Erst Judentum, erst Thora, dann Beruf und dann Bildung! Er würde den Juden des Westens zurufen: Gehet hin und lernt von euren Brüdern im Osten, dass yDp ^n^D sein müsse, lernet von ihnen etwas jinjOD und wenn sie vielleicht etwas zu sorglos in den Tag hineinleben und dadurch social gegen ihre Mitbürger zurückbleiben, helfet ihnen und belehret sie. Wenn ihr aber ihie Lehrer werden wollet and ihr köimet ihnen ja sieher vieles bieten, dann müsset ihr prst bei ihnen in die Schule gehen, auch euch muss erst y2p rmn werden, dann werden euch eure Brüder im Osten in der Belehrung des 'i'nxIlinDiS':'D ein williges Ohr leihen. Der rechte Meister lernt am meisten von seinen Schülern.

258 Der Begriff des Wunders im Judentum.

Der Begriff des Wunders im Judentum.

Von Dr. Jsaac Breuer.

I. Das Judeutum ist kein Wunderreligioii. Der Dualismus zwischen gottgewirktem und natürlichem Geschehen ist ihm unbe- kannt. Ihm ist das natürliche Geschehen keine vom Sittongesetz losg(d()8te und unbeeintiusste Zwangsabfolge einander kausierender Erscheinungen, in die Gott erst zermalmend und vernichtend ein- treten müsste, um die Spuren seines Daseins zu ziehen; vielmehr ist ihm das Naturgesetz selber nichts anderes als eine Offenbarung göttlichen Willens, ist ihm heiliges Gottesgesetz nicht minder wie die andere Gottesoffenbarung, wie das an das jüdische Volk ge- richtete Gottesgesetz. Nicht bloss im Wander, sondern auch im natürlichen Ablauf der Dinge, ja gerade in ihm erst recht, erkennt das Judentum das Walten Gottes.

1. Daraus folgt mit Sicherheit, dass das Wesen des Wunders im Judentum nicht in der göttlichen Bewirkung des wunderbaren Hergangs erblickt werden kann. Gott bewirkt nicht nur das Wunder, sondern bewirkt alles, was in der Natur geschieht. Der tägliche Wechsel von Licht und Finsternis ist ebenso unmittelbarer AusHuss göttlichen Willens wie die Spaltung des roten Meeres. Unmittelbarer Ausfluss: Die Regelmässigkeit des Wechsels ist selber Wunder aller Wunder. Denn sie erscheint dem Judentum nicht als Bindung göttlichen Willens, sondern von Stunde zu Stunde in voller Freiheit geschaffen. Die an den täglichen Wechsel der Zeiten geknüpften Gebete des Judentums sprechen dies in herrlicher Klarheit aus, und machen diese Erkenntnis zum Gemein- gut der Nation,

2. Es folgt aber auch weiter hieraus, dass das Wesen des Wunders nicht in dem Zusammenhang erblickt werden kann, in dem es stets zur sittlichen Erziehung von Menschen steht. Wenn der Nil sich zu Blute wandelt, weil der Mizrerkönig das Juden- volk nicht aus der Knechtschaft entlässt, so darf der Umstand, dass hier ein Naturgeschehen als Folge eines sittlichen Missverhaltens in Erscheinung tritt, nicht als etwas Absonderliches erachtet werden: der durch und durch monistischen Anschauunii- des Judentums ist

Der Begriff des Wunders im Judentum. 259

dieser Zusammenhang eine bare Selbstverständlichkeit. Der Gott der Natur ist ja zugleich der Gott des Sittengesetzes. Wie könnte es daher anders sein, als dass alles, was die Natur gewährt, als Lohn oder Aufgabe, alles, was sie versagt, als Strafe oder Prüfung gefasst wird, sodass dem Sitteiigesetz geradezu der Primat vor dem Naturgesetz zuerkannt ist. Das tagtägliche Schema-Gebet mit seiner an das sittliche Wohlverhalten gebundenen Regenverheissung prägt diese Wahrheit schon dem jüdischen Kinde ein.

Weder in der Göttlichkeit seiner Bewirkung noch in seiner Bedeutung für die Sittlichkeit kann somit die Eigenart des Wunders im Judentum liegen. Worin aber denn?

II. Die landläufige Auffassung hat sich der Durchbruchs- theorie bemächtigt. Ich verstehe darunter die Lehre, dass das Wunder eine von Gott bewirkte „Durchbrechung" der Regelmässig- keit des Naturablaufs darstelle, durch die gezeigt werde, dass auch diese Regelmässigkeit nichts anderes sei, als Ergebnis gött- lichen Willens. Denn wer die Regel stören kann, ist Meister der Regel. „Durch ein von Gott angekündigtes und vollbrachtes Wunder springt die Göttlichkeit der natürlichen Ordnung der Dinge in die Augen; es zeigt sich dass die natürliche Ordnung der Dinge nicht nur einen Urheber hat, nicht nur mit ihrem Ent- stehen, sondern auch mit ihrem Bestehen in Gott wurzelt, nicht besteht, weil sie einmal durch Gott geworden, sondern, weil und solange Gott ihr Fortbestehen will. Die Göttlichkeit der natür- lichen Ordnung der Dinge zu lehren, ist der Wunder Zweck." (Rabbiner Hirsch s. A. im Commentar zum Exodus 3, 20.)

1. Diese Theorie tut dem einfachen Sinn Genüge und giebt ihm zu weiterer Frage keinen Anlass. Wer also von meinen Lesern sich bis jetzt dabei beruhigt hat, höre hier auf zu lesen: Denn ich will keine Köpfe warm machen, sondern die warm gewordenen kühlen.

2. Es sind zwei Me/kmale, die bei der Durchbruchstheorie hervortreten und eingehender Erörterung bedürfen. Einmal die Ankündigung der bevorstehenden Durchbrechung und dann der Be- griff der „Regelmässigkeit des Naturgeschehens" oder der „natür- lichen Ordnung der Dinge". Ich beginne mit letzterem.

260 Der Begriff des Wunders im Judentum.

a. Dass in dem Neben- und Nacheinander, wie wir es er- leben, Ordnung oder Regebnässiükeit obwaltet, drängt sich uns allen ohne weiteres auf. Die Möglichkeit, Erfahrung zu sammeln, beruht ja vollkommen auf ihr. Nur weil und soweit unter gleichen Umständen- gleiches sich wiederholt, können wir uns zurecht finden. Die Annahme der Gesetzmässigkeit des Geschehens ist Voraus- setzung für die Zweckmässigkeit unseres Handelns.

Allein unsere Kenntnis von der Ordnung der Dinge ist doch nur eine beschränkte. Sie sichert uns niclit vor Ueberraschungen. Es kann eine Erscheinung sehr wohl in der natürlichen Ordnung der Dinge liegen, d. h. in ihrer kausalen Gesetzmässigkeit später- hin nachgewiesen werden, ohne dass diese Gesetzmässigkeit dem Erlebenden bei Zutagetreten der Ei scheinung überhaupt irgendwie klar wird. Man hat oft darauf hingewiesen, dass die modernen Errungenschaften der Technik vergangenen Geschlechtern, die sie plötzlich sehen würden, ohne die wissenschaftliche Entwicklung mitgemacht zu haben, ohne Zweifel als wahre Wunder vorkommen miissten, die ausserhalb der natürlichen Ordnung der Dinge liegen.

Ist aber somit unsere Kenntnis von der natürlichen Ordnung der Dinge eine stets in Entwicklung begriffene, so folgt daraus, dass auch das Vorhandensein einer Durchbrechung dieser Ordnung niemals mit Sicherheit von uns festgestellt werden kann. Denn um die GewMSsheit zu haben, dass wirklich eine solche Durch- brechung der natürlichen Ordnung vorliegt, müsste man im absoluten Besitz der Kenntnis dieser Ordnung sein, müsste mau die Gewiss- lieit haben, dass es auch späteren Geschlechtern mit entwickelterer Naturkenntnis niemals gelingen könnte, das. was uns als Durch- brechung erscheint, restlos der natürlichen Ordnung aui Grund er- weiterter Erkenntnismittel einzuverleiben.

b. Es giebt Manche, die sich diesem Argument beugen und statt der absoluten nur noch der relativen Durchbruchstheorie huldigen. Eine eigentliche „Durchbrechung" der natürlichen Ord- nung, sagen sie, brauche beim Wunder tatsächlich gar nicht vor- zuliegen; es genüge vielmehr vollkommen, wenn die wunderbare Erscheinung den Zeitgenossen als Durchbrechung der natürlichen Ordnung deshalb vorkommen müsse, weil die Mittel ihrer Natur-

Der Begriff des Wunders im Judentum. 261

erkenntnis weder zur Bewirkntig dieser Erscheinung noch zu ihrer kausalen Erklärung ausreichten. Der Umstand, dass die wunder- bare Erscheinung zu einer Zeit zu Tage trete, die zu ihrer naturalen Bewältigung schlechterdings ausser Stande sei, genüge vollkommen, um sie zum Wunder zu gestalten, selbst wenn es dann Späteren gelingen sollte, sie ganz harmlos in ihrer naturalen Gesetzlichkeit aufzudecken.

Diese Leute dünken sich mit dieser relativen Durchbruchs- theorie ungemein klug. Sie glauben allen Anfechtungen entronnen zu sein. Sie würden gar nichts darin finden, wenn es eines schönen Tages gelingen würde, Mittel zu entdecken, wie man die Fluten des Meeres zwingen kann, sich wie eine Mauer rechts und links zu stellen, dass man trockenen Fusses hindurchschreitet, solange nur feststeht, dass jedenfalls die Zeitgenossen Mosis diese Mittel nicht kannten. Der Idee nach müsste sich, so meinen sie, jedes Wunder bei hinreichender Xaturerkenntnis restlos erklären lassen, und vermutlich finden nach ihnen Wunder heutzutage nur deshalb nicht statt, weil es bei unserer umfassenden Naturkenntnis wirklich gar zu schwer wäre, Dinge zu produzieren, über die nicht sofort unsere Gelehrten mit Dissertationen herfallen würden.

Ich muss gestehen, dass ich die relative Durchbruchstheorie von geradezu abstossender Hässlichkeit finde. Wunder sind be- stimmt, eine Ueberzeugung zu übermitteln. Wer das Wunder er- lebt, glaubt an die Durchbrechung der Naturordnung und glaubt deshalb auch an die Göttlichkeit dieser Naturordnung selber : und nun stellt sich auf einmal heraus, dass er das Opfereines frommen Betrugs geworden, dass der Bewirker des Wunders die Naturordnung gar nicht gestört, vielmehr nur auf Grund seiner überlegenen Naturkenntnis die Ordnung der Dinge in Lauf gesetzt hat! Eine relative Durchbrechung der Ordnung ist eben über- haupt keine Durchbrechung. Wer auch nur im Prinzip zugiebt, dass ein Wunder sich, früher oder später, kausal erklären lasse, leugnet das Wunder überhaupt.

Der immer wieder erneute Versuch, das Wunder der kausalen Erklärung zugänglich zu machen, bildet eines der übelsten Kapitel einer innerlich haltlosen Apologetik, die nicht eher ruhen zu dürfen

262 Der Beiiiilf des Wunders im Judentum.

^Hauht, bis sie das fran/e Judentum in das Prokrustesbett des tlaclisten Menschenverstandes gespannt bat. Da will es uns über- aus bedeutsam erseheinen, dass bereits bei dem ersten Auttrctcn der Wunder in Aegypten sich Vorg-änge abgespielt haben, die, wie nichts arideres, geeignet sind, der Relativitätstheorie den Hoden zu entziehen.

„Aharon warf seinen Stab vor Pharao und vor seine Diener, da ward er zu einer Schlange.

„Pharao aber rief auch die Weisen und die Zauberer; auch sie, die Schriftkundigen Mizrajims, taten mit ihren Blendwerken also.

„Es warf jeder seinen Stab hin, und sie wurden zu Schlangen. Aharons Stab aber verschlang ihre Stäbe."

Es scheint, dass die Wissenschaft der mizrischen Weisen und Zauberer bereits so weit gediehen war, dass sie die wunderbare Erscheinung der Stabumwandlung auch kausal bewirken konnten. Nach der Relativitätstheorie niüsste man somit zugeben, dass Gott die Natnrkenntnis der Mizrer stark unterschätzt und ein überaus schlechtes Beispiel für den Nachweis seiner Naturbeherrschung ge-. wählt hat.

Aus dem in der Heiligen Schrift geschilderten Hergang vor Pharao erhellt mit Sicherheit, dass das Wesen des wunderbaren Ereignisses nicht in dem liegen kann, was goschielit, sondern einzig und allein in dem, wie es geschieht. Zwischen dem Wunder und dem „natürlichen Geschehen" muss mit anderen Worten ein qualitativer, "und nicht bloss ein quantitativer Unterschied be- stehen. Das Wunder geschieht auf dem Wege der Durchbrech- ung der Natur, während der natürliche Vorgang, wenn er noch so ausserordentlich ist, seinem Begriffe nach im Naturzusammen- hang verbleibt.

Nach wie vor bleibt aber, nach Ablehnung der Relativitäts- theorie, die Schwietigkeit zu lösen, wie denn das Vorhandensein einer „Durchbrechung" der natürlichen Ordnung bei unserer stets in Entwicklung begriffenen Kenntnis dieser Ordnung mit Sicher- heit festgestellt werden kann. ^.

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Der Begriff des Wunders im Judentum. 263

c. Hier wäre nun auf das (U*ste Merkmal der Durchbruehs- theorie einzugehen, nämlich auf das Merkmal der göttlichen An- kündigung des Wunders.

Man könnte sagen: Die Ankündigung des Wunders ist seine Legitimation als Wunder. Durch die Ankündigung wird es aus dem Kausalzusammenhang hinausgehoben und erscheint als un- mittelbare Folge göttlichen Geheisses.

Allein man wird sich auch hierbei nicht beruhigen können.

Es ist zunächst nicht einzusehen, inwiefern die Ankündigung einer Erscheinung, deren Charakter als Durchbrechung der natür- lichen Ordnung bei unserer stets in Entwicklung begriffenen Kennt- nis dieser Ordnung überhaupt nicht feststeht, durch diese An- kündigung mit einem Male in ihrer Gegensätzlichkeit zur natür- lichen Ordnung ausser jedem Zweifel gesetzt sein soll. Thaies von Milet hat seinen erstaunten Zeitgenossen das Eintreten der diesen völlig unerklärlichen Mondfinsternis vorausgesagt: Ist denn den Zeitgenossen des Thaies dadurch die Mondfinsternis zu einem Wunder geworden? Und wenn sie es diesen geworden ist, ist sie es denn auch uns noch?

Vor allem aber bedarf ja auch die Persönlichkeit des An- kündigenden noch der Legitimation. Gewiss, wenn man wüsste, dass er im Auftrage Gottes ein Wunder ankündigt, so wäre es nicht schwer, in der angekündigten und eingetroffenen Erscheinung ein Wunder zu erkennen. Woher aber die Sicherheit, dass er wirklich im Namen Gottes spricht, dass er nicht Anhänger der relativen Durchbruchstheorie ist und, ein zweiter Thaies, auf Grund überlegener Naturkenntnis blosse Naturtatsachen vorausbestimmt?

Endlich aber ist es überhaupt nicht richtig, dass das Wunder durch die vorherige Ankündigung legitimiert wird, vielmehr wird ja ganz im Gegenteil der Ankündigend« in seiner Eigenschaft als Vollstrecker göttlicher Aufträge, d. h. in seiner Eigenschaft als Prophet, gerade durch das Eintreffen des von ihm Vorausgesagten nach gesetzlicher Vorschrift (Deuteronomium 18, 21 f.) erwiesen. Unmöglich können sich doch Prophet und Wunder gegenseitig legitimieren! Wie man sieht, ist hier kein Weiterkommen.

264 Der Begriff des Wunders im Judentum.

III. Prophet und Wunder stehen in enger Beziehung. Nioht als ob des Propheten eigentliche Aufgabe im Wirken von Wundern gipfelte. Der Prophet im Judentum ist ganz allgemein Vollstrecker göttlicher Aufträge. Diese Aufträge sind nur ausnahmsweise gegen- ständliche Wunder. Aber das Innewerden g'öttlicher Autträge, die Gewissheit, die der Prophet haben muss, dass wirklich Gott zu ihm geredet, ist wahrlich nicht der Wunder kleinstes. In der na- türlichen Ordnung der Dinge, da jede Erscheinung durch eine andere kausiert ist und eine Kette ohne Ende alles Seiende ver- knüpft, ist kein Raum für göttliche Mitteilung. Wer die Wunder auf „natürliche Weise" erklärt, darf auch vor der Prophetie nicht Halt machen und muss sie notwendig leugnen, da hier nicht einmal die relative Durchbruchstheorie ausreicht.

IV. Die Schwierigkeit, die dem Begriffe des Wunders im Wege steht, ist aber noch keineswegs erschöpft, wenn man ledig- lich auf unsere mangelhafte Kenntnis der „natürlichen Ordnung" hinweisst. Weit bedeutender fällt ins Gewicht, was die Erkennt- nistheorie dagegen vorzutragen hat.

1. Die natürliche Ordnung der Dinge gilt dem Philosophen nicht als einfach vorhanden, sodass sie nur wahrgenommen zu werden brauchte. Eine Kritik unserer Erkenntnismittel ergiebt, dass diese zur Erfassung unabhängig von uds bestehender Dinge nicht geeignet sind, dass sie sich vielmehr auf Sichtung und Ord- nung von uns Gegebenem, aber nicht unabhängig von uns Be- stehendem, beschränken müssen. Das Ergebnis dieser Sichtung und Ordnung ist eben das, was man den „natürlichen Lauf der Dinge" zu nennen beliebt. Weil und insofern die Dinge gesichtet und geordnet sind, können wir sie erkennen. Ein Hauptsicht- ungsmittel ist gerade der Kausalitätsbegriff. Ohne ihn ist uns Er- kenntnis des Seienden unmöglich.

2. Hieraus folgt erkenntniskritisch, dass ein Wunder, falls es sich vollzöge, tür uns, mit unseren Erkenntnismitteln, als solches überhaupt nicht erkennbar wäre. Die „Durchbrechung" der Kau- salität ist zugleich die Durchbrechung unserer Erkenntnisfähigkeit, da wir nur mittels des Kausalitätsbegriffs einer Erscheinung be- wuBst zu werden vermögen und sie als zu bestimmter Stunde und

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Der Begriff des Wunders im Judentum. 265

an bestimmter Stelle erfolgt zu identifizieren im Stande sind. Ent- weder ein Wunder ist unwahrnelimbar oder es hört anf, ein Wunder zu sein, im Moment, da es von uns wahrgenommen ist.

3. Nicht als ob wir stets und sofort Einsicht in die Verur- sachung aller Erscheinungen hätten, die wir als solche wahr- nehmen. Es giebt für die Naturwissenschaft immer noch Rätsel genug, an deren Lösung sie sich bis jetzt vergebens gemüht hat. Allein mit Recht lehnen wir es ab, Erscheinungen, in deren Ver- ursachungssystem wir noch keine Einsicht genommen haben, des- halb als Wunder anzusprechen. Die Tatsache, dass wir diese Er- scheinungen mit unseren Erkenntnismitteln überhaupt wahrnehmen, ist uns hinlängliche Gewähr dafür, dass sie irgendwie kausiert sind, dass sie sich auf irgend eine noch zu ermittelnde Weise dem Ganzen der Erscheinungen einordnen lassen, das wir Natur nennen. Sie sind uns Aufgaben, die ihrer Lösung entgegen- liarren, sie gelten uns als noch nicht hinlänglich wahrgenommen.

4. Daran würde auch nichts geändert, selbst wenn wir eines Tages eine Erscheinung wahrnähmen, die unserer bisherigen Er- fahrung ungemein widerstreitet.

Vom Wasser gilt beispielsweise der Satz, dass es das Be- streben zeigt, den ihm zur Verfügung gestellten Raum restlos aus- zufüllen. Würden wir nun mit einem Male erleben, dass an einer bestimmten Stelle sich Wassermengen in die Höhe streuben und rechts und links zur Mauer erstarren, so wäre dieser erstaunliche Vorgang höchstens geeignet, unsere bisherige Erfahrung über die Eigenschaften des Wassers urazustossen und würde vermutlich eine wahre Sintflut von Doktordissertationen in Umlauf setzen. Niemand aber würde daran denken, den Vorgang als Wunder zu erachten und etwa der Naturwissenschaft zuzumuten, sich damit zu beruhigen. Die Annahme eines Wunders wäre hier im Grunde nichts als ein Asyl der Faulheit.

Daraus ergiebt sich, dass das Wesen des Wunders nicht in der Erstaunhchkeit des objektiven Herganges liegen kann, so wenig das Wesen der Prophetie in der Güte, der Vortrefflichkeit oder der Originalität dessen zu finden ist, was der Prophet sagt. Nicht was der Prophet sagt, macht ihn zum Propheten, sondern dass

266 Der Bej^riflf de» Wunders im Judentum.

er es im Namen Gottes, in göttlichem Auftrag zu sagen in der Lage ist, die Herkunft also seiner Botschaft, nicht ihr Inhalt hebt sie über all das hinaus, was Menschengeist und Menschenherz ersinnen, und verleiht ihr Zeiten überdauernde und bezwingende Geltung. Genau so aber verhält es sich auch, nach allem Bis- herigen, mit dem Wunder. Der erstaunlichste und wunderbarste Vorgang ist noch' lange kein Wunder, so lange er im allgemeinen Naturzusammenhang verbleibt. Und andererseits kann das schlichteste und bescheidenste Ereignis zum Wunder sich gestalten, wenn eben Gott es ist, der in ihm hat tätig werden müssen. Das ungeheure Drama der Purimgeschichte ist kein eigentliches Wunder; aber das unscheinbare Chanukaereignis ist allerdings ein Wunder.

Wie aber ist je Gewissheit zu haben, dass wirklich ein Wunder vorliegt und nicht bloss unsere Kenntnis des natürlichen Verlaufs der Dinge zu mangelhaft ist? Und wie ist das Wunder, wenn es wirklich in seiner den Naturzusammenhang sprengenden Originalität vorliegt, von uns wahrzunehmen, ohne dass seine Originalität gänzlich verloren geht?

Genau die gleichen Fragen sind, wie bereits erwähnt, auch bei der Prophetie zu stellen.

V. Als charakteristisches Merkmal des Wunders sowohl wie der Prophetie hat sich uns im Bisherigen ihre, die allem Seienden gegenüber lediglich auf die Erfassung der Zusammenhänge abge- stellten menschlichen Erkenntuismittel übersteigende zusammen- hanglose Ursprünglichkeit ergeben. Das führt die Unter- suchung auf einen dritten Grundpfeiler des Judentums, für den genau das Gleiche gilt wie für das Wunder und die Prophetie: nämlich auf die Tatsache der Schöpfung.

1. Im Anfang war das Wunder. Denn aus Nichts hat Gott den Himmel und die Erde geschaffen. Völlig fassungslos stehen unsere Erkenntnismittel dem ersten Satz der Heiligen Schrift gegen- über. Uns hat die Zeit keinen Anfang, der Raum keine Grenze und das Nichts keine Wirkung. Und doch wird Alles drei zugleich in dem kurzen Lapidarsatz ausgesprochen. Da schwinden die Sinne, und der Geist des Herrn allein schwebt, Wie am ersten Tag, so heute noch über dem Geheimnis des Urgrundes der Dinge.

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Der Begriff des Wunders im Judentum. 267

2. Das Geheimnis der Schöpfiiog ist aber im Prinzip genau das Gleiche, wie das Geheimnis der Prophetie und das Geheimnis des Wunders. Es liegt hier wie dort nicht in der überwältigenden Grösse des Gegenstandes, sondern in der absoluten Originalität der Herkunft, liegt in der gänzlichen Zusammenhauglosigkeit, der zu Folge heute etwas ist, was gestern nicht nur noch nicht war, sondern was gestern sich nicht einmal in Entwicklung befand : im Verhältnis zum Kausalsystem:, ein Etwas aus dem Nichts, wobei es gar nicht darauf ankommt, was nun dieses Etwas ist, wenn nur feststeht, dass lediglich das Nichts ihm vorausgegangen ist.

3. Die Mittel der menschlichen Erkenntnis sind nichts als Mittel zur Autfindiiug von Zusammenhängen. Da Wunder, Pro- phetie und Schöpfung ihrem Wesen nach eben in der Zusammen- hauglosigkeit wurzeln, sind sie den Mitteln unserer Erkenntnis ein für allemal entrückt.

Es stünde um die Glaubenstreue unserer jüdischen Zeit- genossen, namentlich sofern sie die akademischen Hörsäle füllen, um ein Erkleckliches besser, wenn sie sich entschliessen könnten, obige Sätze dem Schatze ihre kritischen Einsicht dauernd einzu- verleiben.

Zwischen dem Schöpfungsbericht der Heiligen Schrift und den Ergebnissen unserer Xaturerkenntnis kann ex definitione nie- mals ein Widersprach bestehen. Vielmehr gelten beide stets voll- kommen zn Recht.

Sache unserer Erkenntnismittel ist es, im Seienden lücken- lose Zusammenhänge aufzufinden und festzustellen. Das Geschaffene muss sich notwendig unseren Erkenntnismitteln als lückenloser Zusammenhang darstellen, weil das Geschaffene nur als ein solcher Zusammenhang von unseren Erkenntnismitteln überhaupt in unser Bewusstsein gehoben werden kann.

Xie und nimmer werden wir aber auf Grund unserer Erkennt- nismittel uns zur Aufstellung der Behauptung fortreissen lassen dürfen, dass das Seiende, weil es von uns als lückenloser Zu- sammenhang erkannt wird, nun auch als lückenloser Zusammen- hang erschaffen sei. Denn über das Was und Wie der Schöpf- ung vermögen unsere Erkenntnismittel ebensowenig auszusagen,

268 Der Begriff des Wunders im Judentum.

als etwa der Bliiulgeborene von Farben. Schöpfung und Ziisanmien- hanglosigkeit sind identische Begriffe. Wer nichts als Zusammen- hänge sucht, hat von der Zusammenhanghjsigkeit zu schweigen.

Welch klägliche Kritiklosigkeit, den heiligen Schöpfungs- bericht mit der Naturwissenschaft in Einklang zu bringen! Der Naturwissenschaft zuzumuten, Schöpfungstatsachen dem System ihrer Zusammenhänge einzuverleiben! Welch furchtbare Gedankenlosig- keit, das Sechstagewerk diesem System etwa dadurch schmack- hafter zu macheu, dass man jedem Tag die Länge eines Jahr- tausends andichtet! Als ob der Blindgeborene die Farben besser begreitt, wenn er sie betastet. Werden denn die Söhne unseres Volkes niemals verstehen, dass der heilige Schöpfungsbericht nicht unseren Erkenntnismitteln zur gefälligen Nachprüfung, sondern lediglich unserem Handeln zu gefälliger Danachachtung gereicht ist, und dass den Schöpfungsbericht zu rationalisieren ein genau so wahnsinniges Unterfangen darstellt wie etwa der Versuch der Quadratur des Kreises!

VI. Das Problem des Wunders hat uns über das Problem der Prophetie schliesslich zum Problem der Schöpfung geführt. Die Verbindung dieser drei Probleme und zugleich den Nachweis ihrer inneren Zusammengehörigkeit, ja Einheit finden wir bei der Grundtatsache, mit der das ganze Judentum steht and fällt: nämlich bei der Offenbarung am Berge Sinai.

1. Prangend in den Myriaden des Heiligtums hält Israels Gott seinen Einzug auf Erden: Das ist das Wunder der Wunder.

Hallend dringt sein Wort von Sinais Höh'n ans Ohr der Volksgemeine. Da wird ganz Israel Pro])het.

Aus seiner Rechten reicht P2r ihr Gesetz gewordenes Feuer: Das ist die zweite Schöpfung aus Nichts, Israels Gesetz.

Drum: wer das Wunder rationalisiert, wer die Prophetie ver- menschlicht, wer die Schöpfung an Massstäben des Entwicklungs- zusammenhangs misst. der leugnet die Offenbarung und damit die Grundlage des Judentums überhaupt.

2. Offenbarung ist der Zentralbegriff, der über die Begriffe des Wunders, der Prophetie und der Schöpfung Licht verbreitet.

Der Begriff des Wunders im Judentum. 269

Offenbarung geht nicht auf den Gegenstand, sondern auf die Person, die ihrer gewürdigt wird: Sie verlangt Einsieht in das unmittel- bare Tätigwerden Gottes und damit die selbstsichere Gewissheit, dass der Gegenstand der Offenbarung unmittelbar von Gott herrührt.

Was auf dem Wege der Offenbarung erlebt wird, kann nicht in den Kausalzusammenhang menschlicher Erkenntnis eingereiht werden, weil es nicht mit den Mitteln menschlicher Erkenntnis erkannt ist.

„Schamor" und „Sachor" hat die Sinaigemeinde zu gleicher Zeit aussprechen gehört: Hier tritt das Offenbarungserlebnis in klaren Gegensatz zu allem durch menschliche Begriffserkenntnis vermittelten Erleben. Was menschhchen Erkenntnismitteln schlechter- dings unzugänglich ist, ermöglicht die Offenbarung durch Verleihung neuartiger, intuitiver Erkenutnismittel.

3. Nur auf dem Wege der Offenbarung könnte die Welt- schöpfung begriffen werden. Aber nur die Tatsache der Welt- schöpfung ward uns mitgeteilt; sie selber bleibt Gottes Geheimnis : Wehe dem, der daran rührt.

Jedes erlebte Wunder ist aber erlebte Teilschöpfung Gottes. Denn nicht in dem Gegenstand des Wunders, sondern in der Art, wie es erlebt und wahrgenommen wird, besteht nach allem Bisherigen, das Wesen des Wunders. Wer ein Wunder erlebt, wird durch dies Erlebnis zum Propheten. Denn er hat in diesem Augenblick einen, nicht durch menschliche Erkenutnismittel, sondern durch unmittelbares Schauen gewährten Einblick in das Tätig- werden Gottes erlangt, das sich jeder Einreihung in den Kausal- zusammenhang des begrifflich erkannten Seienden entzieht. Mensch- liche Erkenntnismittel können Wunder als solche nicht erkennen, da sie nur dadurch erkennen, dass sie in Sinnzusammeuhang ein- reihen. Jedes Wunder ist eine Offenbarung. Was aber offenbart wird, wird eben nicht erkannt.

Bileams Eselin „sieht" den Engel des Herrn, während das auf die Kausalzusammenhänge gerichtete Auge des Neunmalweisen blind ist. Erst als Gott ihm das Auge „enthüllt", ihm die Erkennt- nismittel verleiht, steigt er vom Tier und sinkt verehrend zu Boden.

Nicht [die Störung der normalen Erkenntnismittel, der som- nambule Zustand der Verzückung etwa, erscheint im Judentum als

27Ö Der Begriff des Wunders im Judentum.

Voraussetzung des Wunders sowohl, wie der Prophetie. Vielmelir beruhen beide auf der Verleihung höchster Erkenntniskraft, die nicht mehr mühsam am Leitfaden zusammengeraffter Begriffe den Gegenstand des Erkennens schematisch aufbaut, sondern ihn un- mittelbar in göttlicher Klarheit schauend erkennt und (erkennend schaut: Die Legitimation des Wunders ist das Wunder selbst.

Unendlich lehrreich ist hier die Offenbarung Gottes an Moses am Dornbusch.

„Moses aber hatte inzwischen die Schafe seines Schwieger- vaters Jithro, des Priesters von Midjan, geweidet. Er führte die Schafe der Trift nach und kam zum Gottesberge, zum Choreb.

„Da ward ihm ein Engel Gottes sichtbar im Herzen eines Feuers aus der Mitte des Dornbusches. F^r sah, und siehe, der Dornbusch brennt in dem Feuer und der Dornbusch wird nicht verzehrt!

„Ich will doch hingehn, sprach Moses, und diese grosse Er- scheinung sehen. Warum verbrennt nicht der Dornbusch?

„Als Gott sah, dass er hinging, um zu sehen, rief Gott ihm aus der Mitte des Dornbusches zu und sprach : Moses, Moses ! Er sprach: Hier bin ich!

Moses ist kein „wundergläubiger" Wüsteneinsiedler, kein „phantasiebegabter Hirt", der bei joder auffallenden Tatsache gleich geneigt ist, eine „Durchbrechung des natürlichen Laufes der Dinge" anzunehmen, kein verzückter Schwärmer, der in Fasten und Kastei- ung sich selber durch Verwirrung seiner Sinne auf das heiss er- sehnte Wunder „präpariert." Moses denkt offenbar an gar kein Wunder und steht auf der sturmgesicherten Höhe der Vernunft- kritik. Moses erblickt das Feuer in der Mitte des Dornbusches, aber noch sieht er nur mit menschlischen Erkenntnismitteln und kann daher vorläufig nur mit Staunen eine „grosse Erscheinung" feststellen. Weit entfernt, voreilig an ein Wunder zu „glauben", fühlt er sich durch die , .grosse Erscheinung'' nur zu dem angeregt, was auch der }i;ewiegteste und nüchternste Naturforscher an seiner Stelle getan hätte: ..Ich will doch hingehn, um nachzusehn!' Denn noch ist er geneigt, den Vorgang in den allgemeinen Sinnzusammenhang des Seienden einzureihen und fragt dahermit Recht: „Warum verbrennt

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Der Begritf des Wunders im Judentum. 271

nicht der Dornbusch?" Erst als Gott sich ihm „offenbart", da ,, ver- birgt Moses sein Angesicht, denn er scheut sich hinzuschauen zu Gott." Wird ein Dornbusch irgendwo vom Feuer nicht verzehrt, da mag man ruhig hingehen, um mit den Augen zu schauen. Wo aber Gottes Walten in die Erscheinung tritt, da schaut man nicht mit des Leibes Augen, da birgt man sein Angesicht und bleibt des Rufes des Herrn gewärtig.

VII. Nicht eine Durchbrechung der natürlichen Ordnung der Dinge ist das Wunder, sodass erst gefragt werden müsste, woran denn und wie denn das Vorhandensein einer solchen Durchbrech- ung festgestellt werden könnte: Sondern die Verleihung schauender Erkenntnis göttlichen Schaffens ist das Wunder, und gerade in der Verleihung dieser Erkenntnis besteht sein eigentliches Wiesen. Als ein Schöpfungsakt stellt sich uns das Wunder dar, aber die Mittel menschlicher Erkenntnis reichen nicht aus, um eine Schöpfung zu erkennen. Klar und deutlich bezeichnet auch Moses das Wunder der Vernichtung des Korach als eine solche Schöpfung: „Wenn aber eine neue Schöpfung Gott schaffen wird,- und es öffnet der Erdboden seinen Mund und verschlingt sie und alles Ihrige und sie so lebend ins Grab sinken: so werdet Ihr wissen, dass diese Leute Gott gehöhnt," Vielleicht war's nur ein ganz gewöhnliches Erdbeben, mag mancher ,, Moderne" denken und sich dabei ganz ungewöhnlich schlau dünken. Er mag sich beruhigen. Wenn Moses eine ,,neue Schöpfung'* ankündigte, so haben alle den Her- gang auch wirklich als ,, Schöpfung" erlebt und dadurch erst den so-nst bloss erstaunlichen Vorgang als Wunder begriffen. Schöpf- ungen aber lassen sich mit unseren ,, ableitenden" Verstandesmitteln nicht erkennen. Denn unabgeleitet rühren sie aus Gottes Hand.

VIII. Schöpfung Gottes ist auch das jüdische Gesetz in seiner Totalität. Aber, wie es beinahe scheint, nicht nur seiner Entstehung nach. Erwägt man, welch' abstossenden ünsinu nichtjüdische Kreise an der Hand der allgemeinen Verstandesmittel nicht selten aus dem jüdischen Gottesgesetz herauslesen, so ist man geneigt anzunehmen, dass nur wessen Seele am Sinai gestanden und das Wunder seinei Offenbarung erlebt hat, seinen Sinn und Zusammenhangbegreifen kann. Es genügt nicht das Gesetz zu sehen, um seine Wunder zu erkennen.

Drum betet David, der Psalmist: „Enthülle meine Augen, dass ich schaue Wunder aus Deiner Lehre." -

272 Vom Schächten.

Vom Schächten.

(Fortsetzung.)

Das Schächten ist eine wertschaffende (ppH) und zugleich wertzerstörende Tätigkeit (bipbr^). Insofern das Schächten Tier- tleisch in den Znstand der Genussfähigkeit versetzt und selbst im Falle das Tier sich als trefo erweist, immerhin das Tin ]12 "QN V^erbot torträumt, ist es eine wertschaffende Tätigkeit; insofern es jedoch die wirtschaftlichen Gewinne vernichtet, die beim lebenden Tiere zu erzielen sind (Tiergeburten, Milch, Eier usw.) ist es eine wert- zerstörende Tätigkeit.

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Nach dem Rarabam darf auch in der Gegenwart an der Stätte der nitV dort, wo einst im Heiligtum zu Jerusalem nur Opfer ge- schlachtet wurden, für den Profangenuss nicht geschachtet werden, denn die Heiligtumsstätte hat nach der Aufsicht des Rambam ihre heilige Weihe bis auf den heutigen Tag sich bewahrt. Das ist eine der zahlreichen religionsgesetzlichen Bestimmungen, du'^ch deren Beherzigung der Zusammenhang mit unserer nationalen Ver- gangenheit wirksamer aufrecht erhalten wird, als durch allerhand Tiraden von Palästinaliebe und Palästinasehnsucht, wie sie der Zionismus salonfähig gemacht hat.

* * *

In alten Zeiten war es vielfach Brauch, dass der Schächter im Monat Tewes und Schwat eine Gans nur dann schachtete, wenn ihm ein Teil derselben zum Genuss überlassen wurde. Es bestand nämlich die üeberlieferung, dass in den genannten Monaten eine Stunde sei, in welcher der Schächter sein Leben aufs Spiel setzt, wenn er eine Gans schachtet, ohne sich an ihrem Genüsse zu beteiligen. Im Religionsgesetz wird dieser Brauch als Aber- glaube bezeichnet und zurückgewiesen. Immerhin steht es fest, dass jene Zeit, die das Schächten mit mystischen Vorstellungen und zuweilen auch mit abergläubigen Empfindungen durchsetzte, der Weihe des Schächtens innerlich näher war, als die Gegen- wart, die das Schächten so gerne zu einem prosaischen Handwerk erniedert. Aberglaube ist fiebernder Glaube. Unglaube ist er- storbener Glaube.

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In talmudischer Zeit hatte das liberale Judentum eine zeit- gemässe Reform des Schächtens eingeführt. Die Zdukim und Minim

Vom Schächten. 273

Hessen beim Soliäeliten das Blut in eine ad hoc ausgehöhlte Ver- tiefung; des Erdbodens fliessen. In der Miscbna wird uns mit den Worten ip'^j; bj N^iJ^ ptDnVv:? ]tt< der Protest gegen diese reformierte Schächtweise (jedenfalls n^nriD^) noch heute zur Pflicht gemacht.

Dem Sinn des Schächtens kommen wir mit rationalistischen Erwägungen nicht näher. Wenn wir immerfort von einer Absicht der Veredelung des an und für sich tierischen Geniessens von Fleisch und Fett reden, so haben wir damit noch lange nicht den tiefsten Grund des Schächtens erfasst. Fische und Heuschrecken brauchen nicht geschachtet zu werden. Ob es gestattet ist, sie lebend zu verschlingen, das hängt theoretisch von der Auffassung des Thosseftasatzes (Therumot 9): C^HD p ]"'"'n ]^2 D^l^ü) D"":! bDMi ab, ist aber praktisch für uns keine Frage, weil die rezipierte Ha- lacha den Genuss von Fischen und Heuschrecken, solange noch Leben ifi ihnen ist, als üebertretung des lüp^n "^D- V^erbotes be- trachtet. Demnach kann der Genuss von nicht geschächteten Fischen und Heuschrecken keine unedle Handlung sein; die Ver- edelung besteht hier im Abwarten des völligen Verendens dieser Tiere; und es muss daher auch das Schächten dort, wo es ge- boten ist, in eine überrationale Welt hineinragen, die wir mit ver- nünftigen Ueberlegungen wohl lieben lernen, doch niemals restlos ' begreifen werden.

* * *

lieber den Begriff ,,Trefo" schwirren unhaltbare Meinungen in der Welt umher. Nicht alle wissen, dass man diesen Begriff" nicht genau erfasst. wenn man einfach sagt, ein Tier, das trefo ist, darf deshalb nicht genossen werden, weil es nicht lebensfähig ist. Das stimmt nicht ganz. Auch Fische und Heuschrecken sind oft nicht lebensfähig, ohne deshalb trefo zu sein. Der Begriff Trefo kann nur im Zusammenhang mit dem Begriff des Schächtens richtig erfasst werden. Xur solche Tiere, bei welchen das Schächten vor- geschrieben ist, kJinnen trefo sein, doch niemals solche, die zum Genuss erlaubt sind, auch wenn sie von selbst verenden. Man kann e.s auch so fornuiliereu; Ein Tier ist trefo, wenn es sich nach dem Schächten als längst zur ,.Newelo*' prädestiniert erweist; ein Tier, das niemals ,,Newelo** werden könnte, kann auch niemals trefo sein.

Ein lebensfähiges n'J^pD ]2 muss mit Rücksicht auf iTNiD ]''j; geschachtet werden. Wo die Rücksicht w^egfallen kann, z. ß.

274 Vum Schächten.

))ei abnormen Körperbildungen, bedarf es keiner Schechita. denn es weiss da Jeder, dass ein a])normer Fall vorliegt und eine miss- verständlichc Uebertragung auf normale Fälle ist nicbt /u betürchten.. Es verrät nun ein ungemein tiefes Verständnis rür das Wesen der „öffentlichen Meinung", wenn im Talmud darüber gestritten wird; ob ein öffentliches Missverständniss schon durch nni< nrT'On oder erst durch ^1^^"^^ """in verhindert werden kann. Unsere Weisen wussten genau, welch' ein wandelbare«, schwer fassbares, unbe- rechenbares Ding die öffentliche Meinung ist

Was wir in unserem Aiitsatz über das Verbot des Tragens am Sabbath (Jahrg. I S. 383) über die „Koordination aller be- gritflich verwandten Tätigkeiten" gesagt haben, das tritt uns auch

in den'' rTiDTIi:^ nobn bei der Gleiclisetzung von «^''^r 1DN "^yci} "izi"

Dun ny^nDD ^dn "t^n mit miyb y^ri ^*y^^ D'^^ip ^'^ip 1^2 und i^d

Di^^l-ii"? Y)n lNiJ'''vi^ W^bp ^^Ip entgegen. Auch hier entkleidet die Halacha die Dinge jedes accidentiellen Beiwerkes und bahnt unserem Blick den Weg zu ihrem Wesenskern. Wer hier von Herl)eiziehen der Dinge mit den Haaren spricht, darf sich nicht zu den Ver- siehenden zählen.

Das Schächtverbot bei Küchlein, die noch keine Flügel haben, beruht auf dem natürlichen Widerwillen, der den Ge- nus« von noch nicht ausgereiften Lebewesen hindert. Allerdings ist der ästhetische Sinn, der sich auch beim Essen nicht verleug- net, etwas durchaus persönliches und variables. In talmudischer Zeit waren die palästinensischen Juden im Essen penibler als die babylonischen (Kethuboth 62, Sabbath 145).

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Wüsste man genau, ob ein neugeborenes Tier die Periode der Reife (9 Monate bei Grossvieh 5 Monate i)ei Kleinvieh) völlig zurückgelegt hat, dann dürfte es sofort nach der Geburt geschachtet werden. Wenn damit im Sinne des Religionsgesetzes bis zum 8. Tage gewartet werden muss, so tritt in dieser Vorschrift der Mangel an Wissen zutage, der bei allen Fortschritten und Errungen- schaften der Wissenschaft das Geheimnis des organisehen Werdens der menschlichen Erkenntnis noch heute so hartnäckig wie vor Jahrtausenden verhüllt.

Vom Schächten. 275

Das Schächten dürfte schon deshalb die humanste Tötungsart sein, weil die Thora- Vorschrift „Rind, Ochse oder ein Schaf, es und sein Jiing;es sollt ihr nicht an einem Tage schlachten" (Lev. 22, 28), nur für's . Schächten gilt. Wär's nicht unsinnig, „dem Tierkind um seiner Mutter willen, der Tiermutter um des Kindes willen einen Tag zu schenken und damit die Idee der Humanität in dem Moment uns 7A\ vergegenwärtigen, in welchem wir ein Tier zur Assimilierung mit unserem Wesen bestimmen'' (Komm, das.) , wenn die ,,Idee der Humanität" durch das Schächten selbst am grausamsten verletzt würde?

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Denken wir uns zwei Tiere, eine Tiermutter und ein Tier- kind, von denen das eine um 6^^ nachmittags geschachtet wird: dann darf das andere eine Viertel Stunde später geschachtet werden, wenn um 7 Uhr Nacht ist, weil dann beide nicht an einem Tage geschäch'tet werden. Ignoranten, die sich tür Skeptiker halten, werden fragen, ob denn die „Idee der Humanität'' durch den Glockenschlag ein- und ausgeläutet werde, denn sie wissen nicht, dass ethische Lehren, die zu lebendigen Taten werden sollen, nur durch Kodifizierung und Paragraphierung praktisch brauchbar werden.

* * *

Barmherzigkeit als Instinktempfindung ist auch bei den Tieren zu Haus. Ist nicht genau bekannt, ob Tiermutter und Tierkind wirklich zusammengehören, dann beweist ihre Unzertrennlichkeit nicht unbedingt, dass dieses Kind wirklich dieser Mutter ange- hört, und. wer sie beide an einem Tage schachtet, wird nicht durch niD^D bestraft, nni^ "l^l':' ü3 nsnio ■''i'lNI (Bechoroth 24a), denn vielleicht ist es ein fremdes Tierkind, , dem dieses Tier ein mütter- liches Erbarmen zuwandte. Nur Barmherzigkeit als freie Pflicht- tat ist ein Kriterium reinen Menschentums.

* * *

Um dem "IJD nxi inv^- Verbot auszuweichen, kann es oft von

Belang sein, festzustellen, ob und an welchem Tage die Tiermutter

oder das Tierkind geschachtet wurde. Es giebt nun vier Tage,

an denen vorausgesetzt werden nuiss. dass ein Tier sofort nach

dem Kauf geschachtet wird: Am nCD D~iy, myiDIT 2~\V, l^N") 2iy

Ditt^n und niDID b^ innxn JD"!"» 21V, weil an diesen Tagen grosse

Vorbereitungen zum Festmahle stattfinden, nicht aber am Rüsttage

zu den vorderen Tagen Suckoth, weil hier die Beschäftigung mit

der D^'lbl riDIC n^yn die Zurüstungen zum Festmahle einzuschränken

pflegt. Wir Heutigen, die wir Fleisch- und Fettknappheit als

276 Vom Schächten.

drohenden Weltuntergang: omjifinden, können uns vielfach ein Snk- koth-Fest ohne Suckoh und Lulow viel leichter vorstellen als ein Suckoth-Fest ohne Ochsen- und Kalhfleiscb. Auch unsere Alten assen am 2iL3 DV gern, auch sie wussten: ,,Zur Festesfreude gehört Fieischi^enuss"'. man braucht aber nur den Eifer zu kennen, mit welchem selbst, in sonst ganz ..religiösen* Kreisen (auch in länd- lichen Gemeinden) das ..Suckosessen ohne Suckoh' vorbereitet wird, um zu wissen, wie sehr sich heutzutage der :^"v nn'D'i'-Begrill' zu einem profanen Magonvergnügen vergröbert iiat. Ueber religiösen Materialismus Hesse sich ein ganz hübsches Büchlein schreiben.

* * *

Ob sich das i;d DNI imN- Verbot neben der Tiermutter auch

auf den Tiervater bezieht, ist zweifelhaft, denn es lässt sich bei

Tieren die Vaterschaft nicht sicher feststellen, weil die Tierehe

nicht monogamisch ist. Diese Halacha sollten sich unsere neuen

Ethiker merken, die für ,, freie Liebe ' schwärmen, ohne zu merken,

wie sie mit ihrer sexuellen Aufgeklärtheit nur die Grenzen zwischen

Tier- und Mensch enreich verwischen.

* ,,Trefo" ist kein physiologischer sondern ein religionsgesetz- licher Begriff. Das Wort darf darum niemals mit ,, krank" über- setzt werden. Wie ein krankes Tier (npiCC ) religionsgcsetzlich zu behandeln ist. darüber giebt es in der Halachah besondere Vorschriften, aus welchen klar erhellt, wo die Grenze zwischen krank und trefo liegt. Er ist vielleicht nicht weit hergeholt, wenn wir folgende Proportion aufstellen: Wie sich auf dem Gebiete der Sabbathgesetzgebung der Begriff ,,Werk" zum Begriff ,. Arbeit" ver- hält, so verhält sich auf dem Gebiete der Speisegesetzgebuug der Begriff ,,trefoh" zum Begriff ,, krank". Auf beiden Seiten ist eine Ausdehnung und zugleich Einschränkung wahrzunehmen. Nicht jede ,, Arbeit" ist am Sabbatb als ..Werk'* verboten, wie anderer- seits der Begiiff ,.Werk" Betätigungen der menschlichen Intelligenz umfasst, die völlig ausserhall) des Begriffs der ..Arbeit" stellen. Aehnlich wird auch der Begriff „krank" durch den Begriff ,, Trefo" erweitert und eingeschränkt. Nicht jedes Tier, das vom Schächter als trefo bezeichnet wird, ist im Sinne des Tierarztes krank, und ein vom Tierarzt als krank erklärtes Tier muss nicht in jedem Falle vom Schächter als trefo bezeichnet werden. Hier wie dort können Begriffs Verwechslungen zu schweren Irrtümern führen.

* *

*

Auf dem Schäcbtmesser darf, wenn es zum Schächten taug- lich sein soll, auch nicht die kleinste Scharte sein. Die Tauglich-

Vom Schächten. 277

keit wird durch Prüfung; mit dem Fing-ernagel festgestellt, der empfindlich genug ist, eine jede Unebenheit am Messer wahrzu- nehmen. Während man in talmudischer Zeit und noch zur Zeit des Rambam die Untersuchung des Schächtmessers so vorgenommen zu haben scheint, dass man das Messer am Fingernagel entlang- führte — was auch der Ausdrucksweise NiDltSJ^I ^i^w''"'D{< ni:'''!^ (nicht t^"iDit3D1 «"i^-idd) und der Aehnlichkeit von ]''jzr\ np'^lD mit riED^n^n ny*^n iXllin bv l'^UCn DDb^n entspricht fordert der heute bei uns massgebende Brauch, dass umgekehrt der Fingernagel am Messer entlang geführt werde. Mag nun diese Wandlung der Prüfungsmethode wirklich, wie der jn^tiTl "inj? vermutet, auf eine Verschiedenheit der klimatisclien Verhältnisse der Länder, in welchen die Weisen des Talmuds und der Rambam lebten, einerseits und denen in unseren Gegenden andererseits insofern zurückzuführen sein, als die bei uns grimmigere Winterkälte auf die Empfindlich- keit unserer Fingernägel nicht ohne Einfluss ist, so geht doch jedenfalls aus diesen genauen Ueberlegungen der Halacha über jede auch scheinbar geringfügigste Einzelheit des Schächtaktes hervor, welch' ein Gegenstand angelegentlichster Sorgfalt im Judentum das Schächten ist und wie die schon seit Jahren projektierten Schächterschulen längst gegründet wären, wenn unsere öffentliche Meinung nicht immerfort an allerhand ,, grossen Gesichts- punkten" laborieren möchte. Der ., weitblickende" Religionspoli- tiker läuft Gefahr, über die grossen Wunden, die „am jüdischen Volkskörper klaffen", die kleinen mc"':ic zu übersehen.

* * *

Zuweilen kommt es vor, dass eine kleine Scharte am Schächt- messer erst nach zwei- oder dreimaliger Untersuchung entdeckt wird. Das Tastermögen macht's eben nicht allein, es muss sich mit ihn n;nD und nyin 2W, mit Andacht und Aufmerksamkeit paaren, wenn ihm sell)St die winzig kleinen m!2"'JD nicht entgehen sollen. In dieser Abhängigkeit des Tastermögens von der geistig- seelischen Verfassung des Tastenden liegt ein wertvolles Stück halachischer Psychophysik, deren Erforschung ein dankbares Objekt für Fachleute wäre. Auch die Ueberlegungen der Halacha, worin das grössere Tastvermögen liegt, im Fingernagel oder im Finger- fleisch, verdienen von Psychophysik ern ernsthaft erwogen zu werden,

* * *

„Häufig hat folgender Fall in der Praxis zu Zweifeln und

Schwierigkeiten Veranlassung gegeben : In einem Rabbinatsbezirk

werden Schächtungen von einem Schächter vorgenommen, der

überhaupt keine Approbation besitzt oder zwar eine solche von

278 Vom Schächten.

anderen Ral)l)inern, z. B. vom Rabbiner dos benachbarten Rabbinats- bezirks. aber nicht vom Rabbiner des Distrikts, in welchem er schachtet. Dieser Rabl)iner ersucht die Distriktspolizeibehörde, dem Schächter das Schächten im Rabbinatsbezirk zu verbieten und die Befolfi:ung des Verbots durch Strafandrohung und eventuell Strafverliängung (An. 21 Pol.-Str.-G.-B ) zu erzwingen. Die Be- hörde muss diesem P^rsuchen nachkommen. Nach jüdischem Reli- gionsgesetz darf niemand schachten, der nicht die Autorisation des zuständigen Ral)biner8 besitzt. Es ist eine „Verletzung der Rechte und Gesetze der Kiichengewalt", wenn jemand ohne diese Auto- risation schachtet. Dass er die Approbation anderer Rabbiner besitzt, ändert nichts an der Sache. Der durch die Approbation fremder Rabbiner nachgewiesene Besitz der Fähigkeit zu schachten berechtigt noch nicht zur Ausübung dieser Fähigkeit, hiezu ist die Autorisation des zuständigen Rabbiners nötig. Fehlt es an dieser, so kann der zuständige Rabbiner dem unbefugten Schächter die Ausübung seiner Tätigkeit verbieten und gegebenen Falles den Schutz der Staatsgewalt anrufen, der ihm nach § 51 Rel.-Ed. „von den königlichen einschlägigen Landesstellen nicht versagt werden darf", da er mit seinem Verbot „die Grenzen seines eigt'nt- lichen Wirkungskreises nicht überschreitet" 51 Rel.-Ed.). Die weltliche Gewalt leiht dem Rabbiner ihren Arm, indem sie die Ausübung der Schächterfähigkeit durch den nicht autorisierten oder nicht einmal approbierten Schächter untersagt und ihrem Verbot durch Strafandrohung nach Art. 21 Pol.-Str.-G.-B. Nachdruck ver- leiht." (Heimberger, die staatskirchenrechtliehe Stellung der Is- raeliten in Bayern S. 270 f.). Wer in den einschlägigen religions- gesetzlichen Quellen (Chulin 18, Schulchan Aruch Jore Dea 18) zuhaus ist, weiss, dass diese Darlegung Heimbergers nur einer altbekannten religiösen Vorschrift staatskirchenrechtlichen Aus- druck verleiht.

* Was fangen die Vegetarier mit der niDTlB^n InziiD an? „Ge- segnet seist Du, 0 Gott, der uns mit seinen Geboten geheiligt und uns auf das Schächten verpflichtet hat". Diese Verpflichtung auf das Schächten ist so zu verstehen, dass Fieischgenuss im Sinne der Thora zu den angeborenen Eigenschaften der menschlichen Gattung zählt und daher das Schächten geradezu in der Form eines apodiktischen Gebotes sowohl im Bibeltext {^b'Dii^ nnZTi) als in dem erwähnten Segensspruch auftreten kann, obwohl die Thora Niemanden zwingt Fleisch zu essen und nur im Fall Jemand Fleisch essen will, ihm das Schächten zur Pflicht macht, weshalb der Segensspruch dem genauen Sinn der Vorschrift entsprechend cigent-

Vom Schächten. 279

lieh hätte lauten müssen: Gesegnet seist Du, o Gott u. s. w., der uns verboten hat n^^Di» nD""*!!:: und Tin ]0 "IDN zu essen und uns das Schächten erlaubt hat, ähnlich der pDTi"^N DDiD. die, einzig- in ihrer Form, mehr das Verbot der Unzucht als das Gebot der Ehe unterstreicht: HN ):b i^nm mcni^n PN 13^ nDf^i mnyn bv ^"^px '1D1 niNV^^n. Was aber um des Himmels willen sagen die Vege- tarier dazu ?

Zwischen dem Segensspruch über das Schächten und dem Schächten darf nichts Profanes gesprochen werden. Ungestört muss sich der Sinn des Schächtenden im Au!j;enblick des Schäch- tens mit der Heiligkeit und Weihe seines Tuns erfüllen. Nicht oft genug kann es betont werden: Das Schächten ist kein Hand- werk, sondern eine gottesdienstliche Handlung, die in gleichem Range steht wie die übrigen Vorschriften des Religionsgesetzes.

Wie geschachtet werden soll, darüber findet ihr in der Bibel nichts. Nicht einmal die Stelle des Tierkörpers, wo das Messer angesetzt werden muss, wird in der Bibel ani^egeben. Das beruht wie alle sonstigen Einzelheiten des Schächtgesetzes auf sinai- tischer Tradition. Deukt euch einmal in die Seele desjenigen hinein, der zum ersten Mal ein Tier zum Zweck der Fleischge- winnung zu töten sich vermass. Entweder beseelten ihn die grau- samen Gefühle eines an Blut und Todesröcheln gewöhnten Rohlings oder es erfüllte ihn das stolze Bewusstsein des auch am Tiere sein Herrenrecht ausübenden Herrn der Erde. Im Thoragesetz seht ihr, wie die religiöse Schächthandlung neben d^m Recht des Herrn auch die Pflicht des Knechtes betont : aus dem Rohling wird ein Priester, der, mehr demütig als stolz, mehr Knecht als Herr, als Organ des göttlichen Willens so und so und nicht anders die blutige Handlung vollzieht.

R. B.

280 Rosch-Hoschanah-Brief.

—— I

Rosch-Haschanah-Brief

von Dr. Samson Breuer (im Felde.)

Zum drittenmale, seit der Weltkrieg die Erde entvölkert, verhüllt sich der Mond für den Tag unseres Festes, die Zeit unserer Freude, zum dritten- male naht der Tag, an dem nach unabänderlichem Gesetze Jakobs Gott Gericht hält über Völker und Menschen, Bestimmung trifft für Jahresfrist über Frieden und Weltenhader, über Leid und Freud', Tod und Leben derer, die ihn kennen und die noch nicht ihn erkannt. Nie denken sie so voll Sehnsucht einander, die durch weite Fernen noch immer getrennt sind, als zu dieser Frist des wandelnden Jahres. Ob aber daheim sie wohl verstehen, was ihre Stihne und Brüder im Felde gelernt und was sie empfinden in den kommenden ernsten und heiteren, hier draussen aber ach so schweren Tagen? So seltsam es klingen mag, es gibt keinen Tag, dessen Bedeutung hier draussen wir tiefer würdigen, dessen Lehren wir besser verstehen als die des ^{^3 rii^lfPi- Von einer Zeit, die in Erwartung des Tages, da Gott der bräutlichen Liebe wieder gedenken werde, mit der Israel ihm in die Wüste gefolgt, der Braut den Schmuck der Krone nahm, vor einer Zeit, die in fassungslosem Schmerze über miDlp ^1u3D ^^^ Genusses von Fleisch und Wein sich dauernd enthalten zu müssen glaubte, führt bald zweitausendjährige Entwicklung zu der unseren, der die neun fleischlosen Tage oft zu schwer sind, der das Buch x"!p''1 oft mit lieben Siegeln verschlossen dünkt. Denn in zweitausend Jahren haben wir vergessen, was wir verloren, was einst wir gehabt. Es war eine Zeit, die noch nicht lange entschwunden, da des fll^J Druck ungleich härter war, sie war dennoch reicher an innerem Glück, für dessen Güte sie mehr Verständnis hatte als die unsere. Da war noch kein leeres Wort geworden, was wir täg- lich sprechen i^'^i^i ~]~i\n{^ li^'T! GD "'Di da bemass man den Wert der Tage des Lebens noch nach ihrem Gehalt an nilÜOI niin- ^^ wusste man noch, dass das Leben des Juden in der Golah ohne t>"i{^n nVI^fin ni11»D doch nur ein halbes sei, da war der ^{^D ny^H noch nicht der Tag, wo es etwa am Platze war, die Synagoge mit Trauerflor zu behängen, es war ganz einfach der Tag, da mn ^q^d VH '\^i< H^DnO bj H^nD^ ri^TJ ^0^ D^b'^n^ HIDT^ da der Jude ganz besonders sich bewusst wurde, welche Schätze durch eigenes Verschulden einst uns entrissen wurden. Ganz aber schwand dies Bewusst- sein nie, und selbst an dem ■^'yf^ QV. desgleichen auch in Zeiten des höchsten Glückes Israel nur noch einen kannte, selbst am D'^IIDDH DV brach der Schmerz um das Verlorene durch. Kein Wunder auch ! Wusste man doch noch, was der iic^ q)i einst gewesen, als wir noch nicht sprachen "»ymnDl£' D''1C n^'r^il) als der y'riD noch seines Amtes waltete, als eine Fülle von ni^x^Q noch der ^"^i brachte, was Wunder, dass im Gedenken des Verlorenen der ija^^c spricht -^^]i;r}^ n^N^l yO^D^ i^'^n nbü HflNn PV ntt'«! Wenn aber manchem vielleicht das Gefühl für solchen Schmerz gemangelt, wem das Verständnis für die Trauer um D">b^"i"|ii ii"i^ abhanden gekommen, in diesem Kriege hier draussen konnte er es wiederfinden, hat sicherlich so mancher es wiedergefunden. Wer einmal am n""l den iqv^ b^i s'cli trug, ohne doch seine Stimme zu hören, wer einmal am mznC die Stadt, in der er gestern grade riDlD nnd □"i^iQ '1 gefunden, verlassen musste, wird Zeit seines Lebens wissen, warum wir bei allen zeitlich gebundenen nilüD die pDID "li'^Tin^ sprechen. ünendUch vieles hat ein Jeder verloren, der hier draussen weilt ! Wenn der ^{^iiq klagend vergangene und gegenwärtige Zeiten ver- gleicht, dann spricht er in wehmutsvoller und doch so stolzer Freude die Worte ni^TH rniDH p"l IVli^ ^i{^ ! Fast können auch diei wir hier draussen

i

Kosch-Hoschanah-Brief. 281

nicht sprechen. Was in zweitausendjährigeiu nib^l nicht gewesen, nun ist's fast geworden. Wer hat hier draussen den fiDIi' immer zu hüten, ^3{<^ "'71"1D"'N rin'^QI stets peinlichst zu wahren gewiisst, auch nur hie und da einmal ^^npQ n~l'^*i? Vi^D sein können! Fast scheint es, als ob so viele geschwunden aus dem Leben der Juden im Felde, von jenen nn^SL^» ^^^ ^'^ daheim noch be- wahrt, gleich jenen die wir alle verloren, seit ^^li verstört. Messiassehnsucht zieht durch die Welt. Des ewigen Mordena müde, sehnt die Menschheit den Mann herbei, der die Schwerter zu Sicheln stumpfe. Wer aber vermöchte zu sagen, ob in der Tat jene Zeit schon nahe. Eine Fülle neuer Aufgaben und Ptlichten wird sie dem Juden bringen, wenn einst sie kommt, und wer weiss, o:> selbst der in der n^lJI bewährte Teil des jüdischen Volkes in der n^li^ü sich bewähren wird. Gar mancher schon hat lange geiragt. wie einst nach Friedensschhiss Israels Söhne i<"n~*{<"i Cyt^ ICJ/'t!"! wieder zurücktinden werden in Israels altgewohnten Pflichtenkreis. Doch wenn auch die Gewohn- heit eine getährliche Macht besitzt, auch si wird keinen und wenn er noch so lange dem Zwange hat nachgeben müssen dem Gesetze entfremden. Und kehrt zum drittenmale der i~i'^i'r, wieder, und wird der n>"l"in DT' wiederum so manchem nur "yiin '1"1DT Cl"' sein weiss doch keiner hier draussen, wo er morgen ist so wird die Erinnerung an den immer neuen Schmerz auch die Rückkehr gewährleisten in den Kreis der Pflichten die, nicht zeitlich ge- bunden, uns stets begleiten. So wird die Heimkehr aus dem Felde, die Rück- kehr des Friedens. Avenn nicht die nblN.1 selbst, so doch der erste Schritt zur einstigen ri'^IX^ sein. Finden sie alle den Weg zurück ins Vaterhaus, das sie einst verlassen, um in das härteste ni^j ^u ziehen, das je Jakob getroffen, kehrt mancher vielleicht auch dorthin zurück, der vordem nicht dort geweilt, dann wird auch einst Israels Gesamtheit den Weg ins Vaterhaus zurückfinden, das vor zwei Jahrtausenden sie verlassen, dann ist im tiefsten Sinne die Zeit des Weltkriegs ,s»n^t:?D1 mDP^V-

282 Notizen.

Notizen.

I.

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nvi:':!^ ^d'? y':n m^ca d".i «in nn ,vbv ]V^b in« ly ^c bv pt^\^n^ nTDN ^d: n: t"d^i .mp^D 'i'V «bi n^cw* bv i^b b^D d^ji i:n px n^vi2 li'Do noii Nin n^i^n n^nnb n^i to:n nx pinrb pi d\sd D'^^D^om :'d rtD^JD Htt'mDD nid: ijj «in ni d^ini y':Di D"DDim n"^in ^iDib -iDi ^in n"i niDDinDi öv p^y) "i^^n r,2?Nn niid^n piniTNi ndh ^dn«

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y'DDi 2"d3 n^CN DN i^DniiD^i' 'Diiin Dyt2 nhi o:^n mT ^dn .::'\^ h'Z'n n^rz'H bti?' idi^dn: np^v'Z' ^d^ ,D^:nnNn innDtc' iod «m nrn: nv^2 N^üiDr -y^n p-i m:^N: i^ ly^ "d^d'^i Cj pii^:) N:^:y n^ip di::'c nih ,'Q.in b'^ N^pcDü ^cb' p-i Nin ni d"ni o"nN n^i inm^br nwr^ byicn ^n

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I

Notizen. 283

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284 Notizen.

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nnj? niDi n^D'^r^ 3nD:i zn:b i^j n; 12:12' p^'n^: G-ip -^vd n^yz'n cnrn

-"CN -ii^'D :djd r'2;~\:b b^'D^l NLD"':^•D t^rn npin -3; {<"tt ,-? idjd t:'-):^ Z'^^^iT iv~ nny ^"dj? ni ^2:2 n'^'-n^o-i nrnDn nnf< |n:-i n^n N"Tn npo ^"di; D^JiN:n '1 nn^, ipih nny^i .'v:'"^^^ d": V':- ^jj;n in:'? ic'?::' no

.V'iiT i:nm 'iDi viDi'r n^Ni \yD^ n"iD 'ii '^d D"n y"nN c"n n^iu'nz n;n '^ZiS* ^"Di:n n^^^r'ipD ic:ii;o n^ynir -y-'^ir c">2e:- |iN:n 21- n-i::cD '^n'.cc \nf<i'Di '1D1 N^:^D n"i V'ii ]^^in 'mnn n^d" d:i ,^'2" n"idcd mr^ n^Dm nD~ mN"'D2 inNui^' ri"nND y'p ic^D y"n{^n anci^ n^D n^r^nD □:) ^DvS ,nDnND '^'"^^j? d": D^^«^3^ y':n p'^in 'cinn n^- d"j N^zHiT 'zinn D^^DT'iS p^DDD-i Nnts* y^pri^ no "iiDin ^nz V'2n rbin 'cmD i^^y-on n:n i"d 1"^ ir"iy p^yi r^m ^"^^y IT NHDCD S"D f<^ nzniNn i<üD^ ,ü^^p^d^

DfiTiT x"yn '^HD \^^iD^ idd nim ,nTD -iy ji-'? ^^ ^^ nzin n^J^i n"D ]D^D D"n: pxjn^ d: ^hn^d n^n bzx --jc^n'? ^^^«^^ y^^ i^inünr^ d: NivnDntt'N ^2j ^''b moD^i nhd iDb: t"i^^ m n^dcd d"j ^hdit 'i p"D irn:in ny'^Di |Vd y"3:fi n"bi ai:' n"nn ij^^di ,]cn:- ^<^^ a:r\^Di n^nm 1:3 npD ah^ ,y'hnb in z?n:^ i^d ht ^^i^^:; pi ,y"D::'i -i\-in^ tjü n^ D"nN ND^ >im:DN: pimm |cn:-i ]vdi nnin idjd pryot^'D pn -pin

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.d"dni y^ -nyi ^b":n {^-iDob niDn tn

^1^ bvi DtD'^n -1ND 1:^1100 nm mrn^ miis^ bic' -n^n nüc n^:id2 j^dvoi ni^n ]0 HT -1C5::' n^ by ]iod n^^ic D"nNn mbo^ 1*1:1:'" inline i:i< D*iD"'D ~":y^ "'^Di riB'N d: ^3: icd b'cd iüi nSi: npTn ^in D'lni pTm?2 «in ^d

i:'"dd mbn npinD xa^ idd ]iD?2rn N^iJi«^ D^tt'n n!? c"d ,-iDi«: itd n^b' i"pD- ]vj pTmD n"^ D"y3i d"pd D"ji ]d^di d"pd N"ii ]d^d D"in ""'^n n"d n"3D 'Din-D iriiDD *imDDDT ^"^^y ^:i:nb ix D^byio"? in "inpino NJi''

Notizen. 285

."3^12 ntiny. i"Dn^Di 'nn^ ^2d. ^''dh^^d ]y^n p"pD u"idi dh nyDi

III.

nrN DDD }<^ }<jnD ^"nnon n;n : (]d^:i 'n hin ir^nn^) nmipn niDinno pDiD N'o^n m^pn'^ y'201 nt. nn^cnn D"y i<na:in ^y n ic? i:) n pi ]^n\n

^yi '^ ? n^pn \sd D"f<i ü"22 'cmD inn^D n-'nDn ii^'n^ D"nn n^iD ^^d

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IV.

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286 Literarisches.

Literarisches.

Das Bach von den polnisclien Juden herausgegeben von S. J. Agnon und Ahron Eliashorg'. Jüdischer Verlag.

Das vorliegende Sammelliuch will die polnischen Juden ans ihrer eigenen Kultur heraus verstehen und lieben ielireii. Die Kultur eines Volkes findet ihren wahrnehmbarsten Niederschlag in seinen geistigen Schöpfungen, in seiner Dichtung, seinen Märchen, seineii Legendon. seinen Sprichwörtern, seinem Witz, seinen Rechtssatzungen und Verträgen. Aus diesem eigenen, von der Aussen- welt unbeeinflussten und für sie auch nicht bestimniten Schaffen, aus dem Ur- quell der Volksseele, haben die Herausgeber zu schöpfen gesucht und glauben ein Buch zustande gebracht zu haben, das die polnischen Juden in ihrer un- gebrochenen Eigenart zeigt.

Martin Buber. Die Jüdische Bewegung gesammelte Aufsätze und An- sprachen inOO 1915. Jüdischer Verlag.

Martin Buber's Werk beschränkt sich nicht auf seine bekannten Biiciier. Auch in zahlreichen Aufsätzan und gelegentlichen Ansprachen hat er seit mehr als anderthalb Jahrzenten seine Gedanken verkündet. Diese verstreuten und nicht mehr erreichbaren Arbeiten der Vergessenheit zu entreissen, ist der Zweck der vorliegenden Sammlung.

Achad-Haam. Am Scheidewege, zweiter Band, aus dem Hebräischen von von Dr. Harry Torczyner. Jüdischer Verlag.

Der vorliegende Band bildet den Abschluss der deutschen Ausgabe von Werken Achad-Haani's, dieses „tiefsten Denkers der jüdischen Wiedergeburt", wie ihn Martin Bubcr in seiner ,, Jüdischen Bewegung" bezeichnet. Sehr lesens- wert in diesem Buche sind die Ausführungen, welche die Unvereinbarkeit des Zionismus mit dem Standpunkte einer ehrlichen und konsequenten Orthodoxie dartun.

Für die Dauer der Abwesenheit des Herausgebers dieser Zeitschrift in Warschau sind alle für die Redaktion bestimmten Sendungen an den stellvertretenden Redakteur Herrn Rabbiner Dr. Breuer in Aschaffenburg. zu richten

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JUEDISCHE

f mONflTSHePTE f

herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kohn, Ansbach, unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Salomcn Breuer, Frankfurt a. M.

Jahrgang 3. Heft 10

Geschäfts- und Staatsmoral.

Ueber die Moral des Staates ist im Verlauf dieses Krieges schon so viel gedacht, geredet und geschrieben worden, dass man im Zweifel sein könnte, ob es noch möglich ist, über dieses Thema etwas Neues zu sagen. Und doch glauben wir, dass in einer Be- ziehung wenig oder gar nichts auf den Grund gehendes geäussert wurde, nämlich über die Beziehung zwischen Geschäfts- und Staats- moral. Bei der Betrachtung dieses Krieges, seiner Wurzeln und Aeusserungsformen, war man sich unseres bescheidenen Erachtens bisher immer viel zu wenig des Umstandes bewusst, dass die Staats- moral nur eine unter den verschiedenen Formen der öffentlichen Moral darstellt. Man hat wohl auch hin und wieder vom Krieg als einem Geschäftsunternehmen des Staates gesprochen, ist sich aber dabei nicht deutlich bewusst gewesen, dass ja auch in Frie- denszeiten das ganze geschäftliche Leben, so wie es sich uns immer in seiner ganzen Blosse darstellte, von moralischen Anschauungen getragen war, die den Grundsätzen der Privatmoral schnurstracks zuwiderliefen, und daher dieser Gegensatz zwischen Geschäfts- und Privatmoral mindestens einen solch krassen Widerspruch zu den

288 Geschäfts- und Staatsraor^l.

Forderungen einer durchgängigen Harmonisierung des persönlichen und öffentlichen Lebens darstelle, wie der Gegensatz, der zwischen Privat- und Staatsmoral besteht.

Auf die Anpassungsfähigkeit unserer moralischen Anschau- ungen an bestehende and unabänderliche Tatsachen ist es zu- rückzuführen, wenn wir im allgemeinen die Formen des geschäft- lichen Lebens als moralisch einwandfrei empfinden und nur in be- sonders krassen Fällen uns von der Geschäftsmoral degoutiert ab- wenden. Es müssen schon die Zeitungen in spaltenlangen Artikeln von geschäftlichen Betiügereien berichten, wenn die Kritik er- wachen soll, die sich mit den Grundlagen und den inneren Gesetzen des geschäftlichen Lebens befasst. Das normale Gesicht der kauf- männischen Welt ist nicht aufreizend genug, um Kritik auszulösen. Mit den kaufmännischen Usancen der Rücksichtslosigkeit, des ab- soluten Egoismus, des energischen, bedenkenfreien, skrupellosen Draufgängertums, der schreienden Reklame, des Kampfes gegen die Konkurrenz auf Leben und Tod, der blinden, fanatischen Ziel- strebigkeit, die auch den "Weg über Leichen nicht scheut : damit hat sich das öffentliche Urteil so gründlich abgefunden, dass Jemand als ein sonderbarer Schwärmer gilt, der so naiv ist, diese Erscheinungen vom Standpunkte seiner privaten Bibel- und Fibelmoral zu werten.

Nicht alles aber, womit die öffentliche Meinung sich abge- funden hat, kann vor den Massstäben der objektiven Moral be- stehen. Auch dort, wo die öffentliche Kritik stumpf geworden ist, müssen wir das Feingefühl des moralischen Ehrbegriffs gegen die Gefahr einer unmerklich doch sicher und unabwendbar sich vor- bereitenden Vergröberung schützen. Sonst laufen wir Gefahr, unsere] heiligsten Begriffe auf der Arena des Erwerbslebens durch die Rosshufe der Habsucht und des heiligen Egoismus zerstampft' werden zu sehen.

Es ist zunächst ein Irrtum, wenn man glaubt, dass die Ge- scbäftsmoral seit je diesell)en Züge aufgewiesen habe wie heute] zur Zeit des Kapitalismus und der Grossindustrie. Das ist keines-] . wegs der Fall. Es gab einst Zeiten, wo das kaufmännische Lebenj in stilleren, geruhsameren Formen sich abwickelte als heute. Mai

Geschäfts- und Staatsmoral. 289

P braucht nur in Sombarts Buch „Die Juden und das Wirtschafts- leben" das Kapitel über die Herausbildung einer kapitalistischen ^ Wirtschaftsgesinnung nachzulesen, um klar zu sehen, welch tiefe ^. Kluft auch im Wirtschaftsleben die Gegenwart von der Vergan- genheit scheidet. Im Mittelalter dachte man über Geschäftsmoral anders als heufe. „Immer schwebte die bäuerliche Nahrung als Idealgebilde vor : wie der Bauer sollte auch der] gewerbliche Produzent und der Händler seinen umfriedeten Bezirk haben, in- nerhalb dessen sie ihres Amtes walten konnten. Was für den Bauern sein Landlos, das war für den Städter die Kundschaft : sie, die Abnehmerin seiner Erzeugnisse, war gleich wie die Scholle für den Bauern die Quelle seines Unterhalts. Sie musste eine bestimmte Grösse haben, damit ein Geschäft in traditionellem Um- fang von dem Absatz an sie bestehen konnte. Sie sollte dem einzelnen Wirtschaftssubjekte gesichert bleiben, damit er stets sein Auskommen habe : auf dieses Ziel sind eine Menge wirtschafts- politische Massregeln gerichtet; dieses Ziel verfolgt vor allem auch die kaufmännische Moral. Recht und Sitte während dieser ganzen Zeit, noch ebenso wie im Mittelalter, verfolgen gleichermassen den Zweck, den einzelnen Produzenten oder Händler gegen Uebergriff seines Nachbarn in seinem Tätigkeitskreis, also in seiner Kund- schaft zu sichern" (das. S. 143 f.). Es ist nun bekannt, wie Som- bart mit einem ungeheuren Anfwaad von historischem und statisti- schem Material nachzuweisen sucht, dass in die mittelalterliche Wirtschaftsgesinnung die tiefste und nachhaltigste Bresche zu schlagen den Juden vorbehalten geblieben sei. Die Juden seien es, die als die eigentlichen Väter der modernen Wirtschaftsgesinnung angesehen werden müssen, weil sie die ersten waren, die mit allen Schranken des Erwerbsstrebens aufgeräumt haben. Freie Konkur- renz, Warenhaus, Einfuhrhandel, Reklame, Ratenzahlung, billige Lieferung, kurz, all die Züge des Wirtschaftslebens, die man als modern bezeichnen kann, gehen auf den Einfluss der Juden auf das Wirtschaftsleben zurück. Sie haben die Geschäftsgebahrung des Mittelalters schon zu einer Zeit durchbrochen, in der man für die Neuheit ihrer Geschäftsmoral noch nicht das richtige Verständnis hatte, und alle Verfolgungen, welche die Juden zu erleiden hatten,

290 Geschäfts- und Staatsmoral.

sind nur als Reaktion eines für die moderne Wirtschaftsgesinnung noch nicht reifen Geschlechts zu verstehen. Was damals im Mit- telalter ein jüdisches Spezifikum war, ist heute zum Gemeingut der Wirtschaftsgesinnung der ganzen modernen Welt geworden. Wie das alles im Sombartschen Buche ausführlich nachgelesen werden kann.

Nun ist es hier nicht unsere Sache, zu prüfen, ob diese Theorie von dem überwiegenden Einfiuss der Juden auf die Her- nnsbildung einer kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung richtig ist oder nicht. Mag sich dieses wie immer verhalten, das eine steht test : das Judentum, die jüdische Religion, die Thora weiss nichts von einer Wirtschaftsgesinnung, die mit skruppelloser Energie den Erwerb als Selbstzweck begreift und betreibt, ja, unsere heiligen Urkunden reihen die moderne Geschäftsmoral unter die Schar jener mannig- faltigen Ausartungen von Moral und Sitte ein, die auch auf an- deren Gebieten vorhanden sind und auch dort als Begleiter- scheinungen einer fern von dem Einfiuss des göttlichen Sittenge- setzes sich betätigenden Selbstherrlichkeit des Menschen zu be- trachten sind.

pxD bn:r. i^a ^nbniD d"':!:^«! iSnj i^^? ^y-i ^^2: rcn n^

nn'i:'l'p 1^ ]n: "^'^pba 'n li:'«. Nicht sollst du verrücken die Grenze deines Nächsten, die vergangene Geschlechter gezogen haben in deinem Erbe, das dir zu teil wird in dem Lande, das Gott, dein Gott, dir als Besitztum reicht (5. B. M. 19, 14).

Hast du, lieber Leser, dich einmal in die Urtiefen dieses biblischen Verses versenkt ? Ist dir bekannt, wie unsere alten Weisen diesen Satz verstanden und erläutert haben ?

Wenn Jemand hingeht und die Grenze zwischen seinem und seines Nächsten Felde zu seinem Vorteil weiter hinausrückt, 80 ist das ein Verbrechen, vor welchem nicht erst in einem l)e- sonderen Thorasatz gewarnt zu werden brauchte, nachdem es in der Thora ausdrücklich heisst : du sollst nicht rauben. Die Auf- stellung eines besonderen Verbotes für das Verbrechen der Grenz- verrückung bezweckt aber nichts anders, als im heiligen Lande {'^J) bn:r\ l^i^ "^rhri^^) dieses Verbrechen mit der Schwere eines doppelten Verbrechens zu belasten (pl«^ ^2l^•2 "i3iy '^NH'^^ pND

I

Geschäfts- und Staatsmoral. 291

b)]:r\ üb üWD abi< 12VJ i:^N y'inDl). Wer ausserhalb des heiligen Landes die Grenze seines Nachbarn verrückt, ist ein Räuber, der das Verbot „du sollst nicht rauben" übertritt. Wer das gleiche Verbrechen im heiligen Lande begeht, übertritt neben dem Verbot des Rauhens auch das von der Thora für das heilige Land be- sonders hervorgehobene Verbot des Verrückens der nachbarlichen Grenze. Mit dieser im Sifri erv^^ähnten und auch von Raschi citierten Klarlegung des Rätsels, warum die heilige Schrift es für nötig hält, ein Verbrechen, das doch nur eine besondere Form eines von der Thora bereits unter Verbot und [Strafe gestellten Verbrechens darstellt, zum Gegenstand einer besonderen Rubrik im Gesetze zu erheben, ist uns blos eine Andeutung gegeben worden, wie wir das Verbot der Grenzverrückung verstehen sollen, und nur dann, wenn wir diese Andeutung als Ausgangspunkt zu weiteren Deutungen verwerten, können wir hoffen, auf den Urgrund (dieses biblischen Verses- zu schauen.

Hierbei werden wir dann auf eine doppelte Absicht des Ge- setzgebers stossen. Wenn Kirschs Kommentar z. St. auf die Tat- sache hinweist, „dass die Bodenverteilung nach Besitznahme des Landes nicht nur nach Stämmen, sondern sofort bis zum Einweis

jedes Einzelnen in seinen Besitz vollzogen wurde dass

jede Bodenverrückung durch Verkauf oder Schenkung, ja nach einer Auffassung sogar eine jede Erbteilung mit Eintritt des Jobel- jahrjes rückgängig wurde" und daher wohl die Annahme nicht irrig sein dürfte, „dass unter Herrschaft des Gesetzes im grossen Ganzen die erste Grenzregulierung selbst der einzelnen Acker dauernd zu bleiben hatte", so werden wir in Ergänzung dieser Annahme noch ein weiteres hinzufügen dürfen, wenn wir das rcn J^SVerbot in seinem weiteren und weitesten Sinne begreifen werden.

Der Zentralbegrifif scheint uns hier der Begriff der Pietät zu sein. Wenn wir im allgemeinen Sprachgebrauch von Pietät reden, so schwebt uns hierbei immer etwas Unbestimmtes, Verschwom- menes, Vages vor, ähnlich wie bei dem Worte Zeremonie. Ebenso wie Jemand, der gegen ein Zeremoniell verstösst. damit noch nicht gegen die Grundlagen der Moral verstösst, wie eine Zeremonie mehr oder weniger dem subjektiven Belieben jedes Einzelnen über-

292 Geschäfts- und Staatginor»!.

lassen ist und daher der Begriff Zeremonialgesetz zwei sich wider- sprechende Begriffe, das starre, verbindliche Gesetz, die nach- giebige, unverbindliche Zeremonie in eins umfasst (vgl. die treff- lichen Ausführungen in den Ges. Sehr, über die Zerenionialgesetze), ebenso wird ein pietätloser Mensch im schlimmsten Falle gegen den Anstand Verstössen, niemals aber eine Grundlage der Moral erschüttern. In der jüdischen Gedankenwelt erscheint dieser Be- griff zu einer absolut verbindlichen moralischen Forderung ver- härtet. K^n «nb^D N:n:Dl JNDD a^il^rNI i'pd: ^^N. Deine Vorfahren haben die Aecker auf dem Felde abgegrenzt. Hier ist es ausge- sprochen, dass auch der Minhag, der Brauch, die überlieferte Sitte so gross, so bedeutsam, so heilig und verbindlich ist wie ein grund- legendes Gesetz. Dir steht es nicht zu, einen Minhag, der sich Generationen hindurch von Vater auf Sohn vererbt hat, willkürlich umzustossen. Du hast im Minhag die Vergangenheit und ihre Ueberlieferung zu ehren. Seltsam! Wir Juden gelten als die ge- borenen Revolutionäre und Sozialdemokraten. Wir, die wir an unseren Minhagim so fest und so starr wie an den Grundlagen der Religion festhalten, die wir das von der Vergangenheit und vom Alter Geweihte zur Bedeutsamkeit eines vom Gottesworte selbst gelegten Fundaments erheben. Uns ist Pietät nicht Anstandsform, sondern Lebensodem. Kann man sich einen höhereu Grad von Pietät denken, als die Ehrfurcht vor den Grenzsteinen, l^DJl Itt'i^ D^:n^N"i, die ein früheres Geschlecht gelegt hat ? Du sollst nicht meinen, du seiest klüger und sachverständiger als deine Altvordern waren. n^N D^HDi jni^^ n"N ^JDn: "iD ^Ni^^ "i"n D^ir^:'«"! }bn: ^nd V7]^ ahn Dn vv"! ^2^^' ^^^^ ^^^^ ^^^ -Kii^^ ^-^^' ^"•'•nn '\^v^ "»^d

pt^ b]V HDItt^'D D''f<V^. „Was heisst das: „die^Grenzen" welche die Früheren gezogen haben ?" R. Samuel b. Xachmani antwortet im Namen von R. Jonathan : Es steht geschrieben : „Dies sind die Söhne Scirs, des Choriten, die Einwohner des Landes". Wohnen denn die übrigen Menschen im Himmel ? Es soll aber damit nur gesagt werden, dass sie kundig waren der Besiedlung des Landes" (Sabbnth 85 a). Deine Altvordern, die auf Gottes Geheiss das jüdische Land so und so und nicht anders eingeteilt haben, stehen dir als die massgebenden Führer und Wegweiser da, auch wenn

Geschäfts- und Staatsmoral. 293

du auf Grund deiner heutigen Einsicht noch so triftige Gründe hättest, eine andere Landverteilung vorzunehmen. Mit andern Worten : die Wirtschaftsgesinnung, die im jüdischen Staat mass» gebend sein sollte, war ein durch und durch vom Geiste der Pietät getränkte und Hess eine von der ein für alle Mal als heilig und unantastbar anerkannten wirtschaftspolitischen Tradition abweichende Norm von vornherein nicht aufkommen. Im jüdischen Staat herrschte auch auf wirtschaftlichem Gebiete ein konservativer Geist von solch rigoroser Strenge, dass all die umstürzlerischen Bewegungen, die zur Herausbildung einer kapitalistischen Wirtschaftsgesinnung ge- führt haben, vielleicht auf den Einfiuss der dem Geiste ihres Stammlandes entfremdeten, weil aus ihrer Scholle entwurzelten Juden, niemals aber auf den Einfiuss des immer noch mit dem alten Testament identischen Judentums zurückgeführt werden kann. Pietätvolles Festhalten an den Bräuchen der Vergangenheit, Abweisung jeder Neuerungssucht, wenn sie nicht im Religionsgesetz begründet ist und mit dem Geiste der Vergangenheit harmoniert, Unterordnung des Werdenden unter das Gewordene, der konser- vative Grundzug des jüdischen Geistes soll sich auf wirtschaftlichem (^ebiete nicht verleugnen. Der berühmte jüdische Familiensinn, das ewige Sichverbundenfühlen mit längst gestorbenen Ahnen, wie es mit solch wir möchten sagen fanatischer Innigkeit nur in jüdischen Familien vorhanden sein dürfte, ist ebenfalls nichts an- deres als eine Form der im jüdischen Sinne als feste Lebensnorm geltenden Pietät. In alten Zeiten waren z. B. Familiengräber eine weitverzweigte Einrichtung in jüdischen Kreisen. An diesen Arabern jing jedes Familienglied mit der ganzen Kraft der jüdischen Pie- tät. Ging aber Jemand hin und riss durch Verkauf sein Grab aus der Vereinigung mit den anderen Familiengräbern los, dann war die Familie nach seinem Tode berechtigt, ihn gleichwohl, ohne auf den Einspruch des Käufeis zu achten, in dem verkauften Grabe beizusetzen (Bechoroth h2 b). Denn wie kam er dazu, was be- rechtigte ihn, sich der Befürchtung eines etwaigen ünDl^D DJD zu entbinden? Niemand hat das Recht, sich als Individuum aufzu- lassen und zu betätigen. Nur im Zusammenhang mit dem Ganzen und der Urzelle der Gesamtheit, der Familie, ersteht Jeder zu dem,

294 Geschäfts- und Staatsmoral.

was er ist. Wer aas diesem Zwangsverhältnis willkürlich heraus- tritt, vergeht sich gegen das Verbot der GrenzTerrückung. "iiDD^ p"'2D

m b)n:i ron k^ ^'n n"bD i2}w rni^x "i3p-

Schon aus diesem einen Beispiele könnten wir klar entnehmen, wie unter dem Regime des Verbotes der Grenzverrückung eine Geschäftsmoral, die moralische Bindungen des Erwerbstriebes ver- wirft, unmöglich ist. Jenes Verbot umfasst aber noch viel mehr als die Einschränkung im Kauf und Verkauf liegender Güter. Wir begegnen hier u, a. einer gesetzlichen Bestimmung, die uns sehr geeignet scheint, der selbstbewussten Theorie von der Kulturhöhe moderner Rechtsanschauungen einen Dämpfer aufzusetzen. Unser heutiges Rechtsbewusstsein tut sich sehr viel darauf zu gut, dass unter der Herrschaft des modernen Rechts das geistige Eigentum ebenso geschützt werde, wie das materielle Gut. Nun zeigt aber da» ron K^-Verbot, das» der Grundgedanke des Urheberrechts das bekanntlich erst im vorigen Jahrhundert in Deutschland sich einbürgerte unseren Talmudweisen eine selbstverständliche Kon- sequenz des biblischen Verbotes der Grenzverrückung war: ]''"'JD

"]yi biDj ron i^h V'n r\"b2 i^iy Ninir -nnto t^Dto bv^ j^dd -iint: bv-

„Wo steht geschrieben, dass man durch Vertauschen der Aussprüche des R. Elieser und R. Josua ein göttliches Verbot übertritt? Ant- wort: Es heisst, du sollst die Grenze deines Nächsten nicht ver- rücken." (Vgl. den Versuch des n"n zur Stelle, den Sifri mit dem Jeruschalmi auszugleichen.)

Wenn aber die Grenzverrückung selbst in ihrer sublimsten Form, nämlich als Nichtachtung des geistigen Eigentums, von un- seren Talmudweisen als ein Verstoss gegen göttliche Anordnung verurteilt wird, was bedürfte es da noch weitläufiger Beweise, um darzutun, wie die verächtlichen Seiten der heutigen Geschäftsmoral, jenes rücksichtslose, draufgängerische Ueberspringen der Grenzen zwischen Mensch und Mensch, jenes räuberische Einfallen in die kaufmännischen Interessensphären Anderer, von unseren Talmud- weisen, diesen einzig berufenen Interpreten und Sachwaltern des jüdischen Geistes, eingeschätzt werden mögen. In der Tat lehrt schon ein flüchtiger Blick in die einschlägigen Partien des Religi-

Geschäfts- und Staatsmoral. 295

onsgesetzes (vgl. die vom n"n z. St. citierten Stellen aus dem D"n V"^), wie das, was wir heute unter geschäftlicher Konkurrenz verstehen, mit gleich ernster Entschiedenheit und ünerbittlichkeit religionsg-esetzlicher Regelung, Bindung und Einschränkung unter- worfen wird, wie jede andere Sphäre des alltäglichen Lebens, wo wir dem wegweisenden Anspruch und Einspruch der Tliora auf Schritt und Tritt zu begegnen gewohnt sind. Leider erscheint so Vielen unter uns das Judentum immer nur in der Vorstellung eines kirchlich-synagogalen Gebildes. Was ist über das umfassende Wesen der jüdischen Religion nicht alles schon geschrieben und gepredigt worden! Und doch erscheint so Vielen unter uns die Thora immer noch im Bilde einer Bet- und Fastenreligion. Das Wort im achtzehnten der Neunzehn Briefe: „Allmählich kam in die Hände des Volkes ein Teil eines Werkes, das, ursprünglich nur für Repitition der Gelehrten bestimmt, die letzten Resultate der talmudischen Wissenschatt rein für die äussere Praxis darstellt; vorzugsweise nur andersgeordneter Auszug aus dem systematischen Werke des Rambams, wodurch dieser uns gerade als der grosse Erhalter des praktischen Judentums in den Zeiten des übergrossen Golusdruckes erscheint. Aber unglücklicher Weise kam fast nur ein Teil dieses Werkes in die Hände der Leute, der nur die Abschnitte Edauss und Awaudoh enthält, des Gottesdienstes und der Festtage; die übrigen Pflichten werden in den anderen Teilen entwickelt und zwar auch seinem Zwecke gemäss für Gelehrte, nicht fürs Volk. Da erzeugte sich nach und nach die unglückliche Ansicht hie und da, als ob das Eigentümliche des Judentums nichts sei als beten und Festtage feiern, aber das Leben blieb unerkannt" : dieses Wort ist noch heute so aktuell wie zur Zeit, da es geschrieben ward. Sehen wir uns doch einmal um in unseren Kreisen. Wie Viele unter unseren Gesinnungsgenossen, die täglich morgens und abends Schulen gehen, täglich Tallis und Tefillin legen, ohne Brocho nicht essen und trinken würden, ihre Sabbatbe und Fest- und Fasttage halten und demgemäss der öffentlichen Meinung als fromme, orthodoxe Juden gelten wie viele von ihnen wissen oder ahnen auch nur, dass der Talmud am Anfang des dritten Perek von Kiduschin das grosse Wort spricht : "i^y

296 Geschäfts- und Staatsmoral.

J?^"i {^"ip: liD'Tl n'-'^:} "IHN i^DI niira "IDHO^ wer einem armen Konkurrenten seinen Verdienst wegnimmt, wird Hösewicht genannt. weil, wie Raschi bemerkt, Ti"'Dn "'Tl'? livr, er mit Kaul)tierpf<)ten die Existenz des Nächsten zertritt und das? es im Schulchan Aruch Choschen Mischpat ein ganzes Kapitel giebt (T"b"i ]D"'C), wo die einzelnen Modalitäten dieses Konknrronzverbrecbens besprochen werden, ein Kapitel, das Jedem zum Studium empfohlen sei, mit dessen Orthodoxie eine skruppellose Gesehäitsmoral sich verträgt, oder der den traurigen Mut besitzt, nach dem Vorbilde moderner Wirtscliaftstheoretikcr, die Herausbildung einer gewissenlosen, durch moralische Schranken nicht eingeengten Wirtschaftsgesinnung auf das Konto unserer heiligen Thanroh zu setzen!

Alle diese Vorschriften aber, mit welchen das Religionsgcsetz auch den jüdischen Kaufmann an seine Zugehörigkeit zum „Reich der Priester und heiligen Volke" gemahnt, wurzeln in dem bibli- schen Verbote ~y"i 'r'iD.I TDri t*'^, verrücke nicht die Grenze deines Nächsten. Dieses Verbot erhebt sich solchermassen aus der Enge seines ursprünglichen Sinnes zur Höhe eines die Geschäfts- und Staatsmoral ordnenden Reglements. Denn die Moral des Staates ist von der Moral des Geschäftes nicht zu trennen. Stellt eure Geschäftsmoral auf eine neue Basis und ihr habt das grösste Hin- dernis zur Gesundung des Staatsmoral aus dem Weg geräumt. Seit Italiens und Rumäniens Treubruch scheint uns die ganze Atmo- sphäre des öffentlichen Lebens von der Giftstoffen des Lügens und Betrügens durchsetzt zu sein. Zur Reinigung dieser Atmosphäre kann Jedermann beitragen, der in seinem Berufsleben vor die ver- hängnisvolle Wahl zwischen Erwerbsvorteil und Gewissenspflicht gestellt wird und, wenn auch nach schwerem Kampf, so wählt, wie es das Gebot der Achtung eigener und fremder Menschen- würde heischt.

Man kommt sich leider recht einfältig vor, wenn man in einer Zeit, in der das verhängeisvolle Wort „Realpolitik" zu einer Über- schwemmung der Erde mit kostbarstem Menschenblut geführt hat und führt, mit Moral zu kommen sich getniut. Ist aber die ewige Moral nicht die erste und wichtigste Grundbedingung des ewigen Friedens '? R. ß.

Zum jüdischen Eherecht. 297

Zum jüdischen Eherecht. *)

Von Dr. A. Neu'wirth (Mainz.)

In den letzten Jahren kamen verschiedene Mädchenliändler- prozesse zum Austrag. Unter den Angeklagten und Verurteilten befanden sich auch mehrere Juden aus Galizien und Russland. Wegen dieses Sachverhalts haben wiederholt die Antisemiten die ganze Judenheit des Mädchenhandels angeklagt. Die kriegerischen Ereignisse im Osten, die den Durchmarsch hunderttausender deut- scher Soldaten durch Galizien und Russisch-Polen veranlasst, haben dieser Anklage noch eine festere Unterlage geschaffen. Die Schlachten spielen sich nämlich an Stellen ab, wo die jüdische Bevölkerung sehr zahlreich vertreten ist; worunter auch manch' zweifelhafte Person, die sich für schnöden Lohn preisgibt, sich befindet.

Es ist leider eine sehr traurige Tatsache, dass in den unteren jüdischen Kreisen der russisch -polnischen Gettostädte, wie auch anderswo in grossstädtischen Proletariervierteln, die Sittlichkeit vieles zu wünschen übrig lässt. Trotzdem ist eine Verdächtigung der russischen Judenheit oder gar der jüdischen Gesamtheit ob des Mädchenhandels durchaus ungerechtfertigt. Wir wollen auf die näheren Ursachen dieser traurigen Erscheinung nicht weiter ein- gehen, denn sie liegen gar zu klar und offen vor jedem unbe- fangenen Beurteiler der jüdischen Verhältnisse im Osten. Nur auf zwei Momente möchten wir hinweisen. Zunächst klingt es wie eine Ironie, wenn zur selben Zeit, wo diese Beschuldigung erhoben die Berichte aus dem Osten sich mehren, die mit klagender Stimme verkünden, dass viele jüdische Mädchen sich lieber freiwillig in

*) Anmerkung der Redaktion: Die Aneigung der jüd. Frau voll- zieht sich unstreitig nach Rechtstformen, die dem Kaufakt analog sind, rin'''"' ■""'"IDi? nil^^Q rirTip, wie auch die Halacha unter iqc^ ji^p (Lev. 22, II), die Ehe- frau begreift. Dass aber damit in keiner Weise der sittlichen Wertung der jüdischen Ehe und der Stellung der jüdischen Frau Einbusse geschieht, ihre Würdigung und heilige, gottgewollte Aufgabe vielmehr aus ganz anderen Voraussetzungen heraus begriften werden muss, ist bereits erschöpfend in tiefgründlichen Abhandlungen nachgewiesen worden. Vgl. Rabb. Hirsch, das jüdische Weib i. Ges. Sehr. Bd. 4, sowie Isaac Breuer, die rechtsphilosophiscnen Grundlagen des jüdischen und des modernen Rechts i. Jahrbuch der jüd. lit. Gesellschaft. Bd, 8.

Die folgenden Darlegungen polemeaieren gegen diejenige wissenschaft- liche Auffaieung, die da behauptet, die altjüdische Frau wurde wie eine ein-

298 Vom jüdischen Eherecht.

den Tod stürzten, sich in den Fluss warfen, oder Wochen lang ein- gem;uiert lebten, als sich von den Kosackcn entehren 7A\ lassen. Wo derartige Heldentaten für die lieinerhaltung der Sittlichkeit vollbracht werden, muss die Keuschheit noch fest fundiert sein. Die UntersAichungskommission der Entente, die unter anderen auch die angeblichen Vergewaltigungen der belgischen und fran- zösischen Frauen und Mädchen seitens deutscher Soldaten feststellen wollte, habe wohl, in erlogener Weise, soundsoviele Vergewaltig- ungen der Welt verkündet. Aber keinen einzi£;en Fall, wo ein Mädchen oder eine Frau ihre Ehre mit dem Tod erkauft hätte. Selbst von Nonnen und Schwestern wurde nur berichtet, dass sie Mütter geworden, nicht aber, dass sie freiwillig sich das Leben genommen hätten.

Und dieses Verhalten der polnisch -jüdischen Mädchen und Frauen bildet keine Ausnahme. Die Geschichte des jüdischen Volkes weist vielmehr neben unzähligen Märtyrerinnen des Glaubens auch eine stattliche Zahl von solchen zu Ehren der Sittlichkeit auf. Es führte hier zu weit, sie im Einzelnen aufzuzählen; wir verweisen daher auf M. Kaiserlings „Jüdische Frau", wo ausführlich davon erzählt wird. (vgl. S. 63 ff.)

Wenn es demnach ungerechtfertigt ist, die russisch-polnischen Juden in ihrer Gesamtheit des Mädchenhandels und der Kuppelei anzuklagen, um so unverantwortlicher erscheint es, die deutsche Judenheit wegen der Fehler ihrer östlichen Glaubensgenossen zu verdächtigen, oder gar sie dafür verantwortlich zu machen. Fol gender Umstand müsste selbst den Antisemiten vor einem der artigen Vorgehen zurückschrecken. Es ist wohl kaum noch vorge- kommen, dass man einen deutschen Juden des Mädchenhandels oder der Kuppelei angeklagt hätte. Ebenso darf es wohl zu den Seltenheiten gerechnet werden, wenn man einen deutschen Juden

fache ,,Ware'' veräussert, und demzufo'ge auch als schütz- und rechtloses Subjekt Eigentum des Mannes war. Diese Auseinaadersptzungeu sind umso interessanter als sie einerseits die Unhaltbarkeit und die ünpenauigkeit derartiger wissenschaftlicher Behauptungen klar nachweisen. Dann aber auch die traurige Erscheinurg feststellen, dass selbst gesetzestreue Kreise sich von der Bibel- kritik iiubewusst beeinflussen lassen. Schon der erste Aufsatz zeigt, dass ein einfachrs Kennen des jüdisch-sittHchen Lebens eine derartige Hypothese nicht zeitigen könnte.

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Zum jüdischen Eherecht. 299

als Besitzer jener unzähligen Bordelle, die auch aut deutschem Boden wie Unkraut wuchern, findet. Und damit bildet der deutsche Jude keine Sonderstellung: auch der französische, englische und amerikanische Jude gibt sich mit solchen kulturschänderischen Ge- werben nicht ab. Dabei ist zu bedenken, dass derartige Geschäfte den Unternehmern den Verdienst in leichter und reichlicher Weise zuführen und der Jude von seinen Gegnern immerfort als Mam- monknecht verschrieen wird.

Ebenso zeigen die polizeilichen Erhebungen, dass unter den Insassinnen verdächtiger Häuser in den westlichen Kulturländern eine deutsche, französische, englische oder amerikanische freie Bürgerin jüdischen Glaubens eine Seltenheit bildet. Sowohl die jüdischen Prostituierten wie auch die jüdischen Mädchenhändler stammen samt und sonders aus Russland und Polen. Dass nun der diesbezügliche klar zu Tage tretende Unterschied zwischen den Ost- und Westjuden auf keinem blossen Zufall beruht, vielmehr durch verschiedene innere Gründe motiviert wird, ergibt sich schon aus einer Betrachtung der einzelnen Länder des mächtigen Habs- burgerreiches. In allen Teilen der Monarchie, wo die Juden un- behelligt und ungestört sich eine Existenzmöglichkeit sichern können, findet man einen jüdischen Kuppler oder eine jüdische Prostituierte sehr selten. In Galizien und der Bukowina dagegen, wo die Juden dem Antisemitismus ausgesetzt sind, sieht man der- artige Individuen nicht selten.

Die angeführten zwei Momente haben uns die Ungerechtig- keit und die Unwahrheit der erwähnten Beschuldigung klar und deutlich zeigt; auf eine nähere Feststellung der tieferen Gründe des schmachvollen Mädchenhandels im Osten w^ollen \\\r hier nicht eingehen. Dagegen möchten wir einen andren Punkt, der mit jenem in engem Zusammenhange steht, näher untersuchen. Wie nämlich in den letzten Jahrzehnten, wo die vergleichende Alter- tumswissenschaft zur Blüte gekommen, schon wiederholt äusserlich gleich scli.einende Handlungen miteinander identifiziert wurden, so hat man neuerdings zwei Vorgänge, die sich auf die Art der Ein- gehung einer Ehe im alten Israel und im alten Babylonien be- ziehen, mit einander gleichgesetzt. Im alten Babylonien geschah

300 Zum jüdischen Eherecbt.

die Ehe durch Kauf des Mädchens. Die Frau war als das Eigen- tum des Mannes betrachtet. Wenn demnach die Frau sich einen Ehebruch zu schulden kommen Hess, so hing es von dem Willen des Mannes ab, ob sie bestraft werden soll, (ins Wasser stürzen), oder nicht. Geschah diese Untreue nach der Verlobung d. h. nach der Erlegung des Kaufgeldes, so unterblieb eine jedwede Strafe.

Ein jeder Kenner des Judentums weiss, dass nach jüdischem Recht im Falle der Unzucht, die Braut gesteinigt, die Frau da= gegen gewürgt wurde. Schon dieser Umstand allein besagt klar und deutlich, dass im alten Israel eine Kaufehe nicht stattfand. Denn bei einer Kaufehe besitzt der Mann das Recht, der Frau ihr Vergehen zu verzeihen, was doch im Judentum nicht der Fall war. Trotz dieses Sachverhalts versucht man aus verschiedenen Stellen der Bibel den Nachweis zu führen, dass im alten Judentum die Heimführung der Frau durch Kauf geschah. Und so fest fundiei-t. scheint vielen diese Hypothese zu sein, dass sie ihr in vielen bib lischen Archäologien und theologischen Enzyklopädien Aufnahme verschafft haben. Eine kritische Feststellung über diesen Punkt darf heute mehr denn je von Interesse sein. Dies umsomehr, als neuerdings diese Hypothese auch von jüdischen Autoren als ge- schichtliche Tatsache betrachtet wird und dies selbst von Gesetzes- treuen, ohne sich der Tragweite der Sache bewusst zu sein.

Bevor wir noch zur Untersuchung übergehen, möchten wir ein paar Wortführer dieser Ansicht hier anführen. So meinen z. B. Beringer (hebräisch. Archäol.) und L. Freund (zur Geschichte des Ehegüterrechts bei den Semiten). Die Stellungnahme der Frau im Judentum wird dadurch gekennzeichnet, dass sie ein Eigentum ist, erst ihren Eltern, die sie verkaufen, dann das ihres Mannes, der sie mit Geld erwirbt. Der Kaufpreis wurde Mohär genannt und betrug in ältester Zeit 50 Schekalim. War der Mohär vom Bräutigam bezahlt, so war das Mädchen verlobt. Die jüdische Ehe behält religionsgeschichthch den Charakter einer Kaufehe und noch zur Zeit des Talmuds blieb ihr dieser Kaufcharakter.''

Wir werden weiter den Beweis zu erbringen suchen, dass diese Hypothese unhaltbar sei; hier möchten wir vorerst noch die Meinung eines jugendlichen jüdischen Autors anführen. Wir können

Zum jüdischen Eherecht. 301

daraus erkennen, welche giftige Früchte die Bibelkritik selbst in gesetzestreiien Kreisen gezeitigt haben. Im Jahrbuch der Jüdisch. Literarischen Gesellschalt (IX. Jahrg. S. 110 ft.) schreibt Leopold Fischer mit souveräner Sicherheit: Der Ursprung der Verschreib- ung (der Kethuba) geht w(»hl auf den in der biblischen Zeit dem Vater gegebene Kaufpreis zurück. In alter Zeit zahlte der Bräutigam dem Vater des Mädchens einen nach dem Stande der betreffenden Personen verschiedenen Kaufpreis (Gren. 31, 15; 34, 12; Ex. 22, 15 16, „imis") an dessen Stelle aber auch eine dem Kaufpreise angemessene Dienstleistung treten konnte (Gen. 29, 15—29; I. Sam. 18, 29; II. Sam. 3, 14). Mit den veränderten Zeitverhältnissen und der höheren rechtlichen Stellung der Frau verwandelte sich dieser Kaufpreis in die Verschreibung. die nun nicht mehr dem Vater des Mädchens sondern der Frau als eine Schuld des Mannes zu- kommt, welche erst bei der Autlösung der Ehe, sei es durch Tod oder Scheidung, zu bezahlen ist." In der Anmerkung meint Fischer, der Kaufpreis war eine auch bei den orientalischen Völkern eingetührte Sitte, ebenso ist die Umwandlung des Kaufpreises in die Verschreibung eine gemein semitisch-orientalische.

Nach Fischer billigt die pentateuchische Gesetzgebung den Kauf der Frau. Dies hält aber Fischer nicht ab, in derselben An- merkung zu sagen: Sogar schon zu Hammurabis Zeit gab es Ehen ohne Frauenpreis, ja nach Curz war die Kaufehe schon zu Hamm- rabis Zeit eine blosse Zeremonie. Auch die Töchter Labans be- klagen sich, dass ihr Vater sie verkauft habe und ihr Geld ver- zehrt habe; es wird somit vorausgesetzt, dass der Kaufpreis nicht mehr dem Vater gezahlt wurde. Da nun Fischer als Beweis für den Kaufpreis Exodus 22, 15—16 sowie I. Samuelis 18 2^ anführt, also pentateuchische und nachpentateuchische Belegstellen anführt, so scheint Hammurabi und die Töchter Labans einen höheren sitt- lichen Standpunkt eingenommen zu haben, als die pentateuchische Gesetzgebung sie kennt!! Fischer ist hier, ohne vielleicht es zu wollen, den Radikalen gefolgt.

Zunächst möchten wir nun die Konsequenz dieser Anschauung feststellen. Die grosse Masse des Ostens lebt und webt in den Anschauungen von Bibel und Talmud. Alle biblischen Handlungen,

302 Znm jüdischen Eherecht.

soweit sie von der Bibel selbst nicht als ungesetzlich bezeichnet werden, gelten ihr vorbildlich. Nicht nur die religiösen und kul- turellen Bestimmungen, sondern auch die Jurisdiktion, alle Streitig- keiten werden nach den Entscheidungen von Bibel und Talmud geschlichtet. .Beruhte nun die erwähnte Behauptung auf Wahrheit, so dürfte eine gewisse Schuld des Judentums an den traurigen Zuständen im Osten nicht ganz abzuerkennen sein. Denn wenn auch der angebliche Frauenverkauf in der biblischen Zeit, nicht wie dies heute der Fall, zu unsittlichen Zwecken geschah, vielmehr soll nur die Eingehuiig der Ehe auf einem Kaufvertrag beruht haben, so würde doch das Faktum als solches, dass die Frau durch Kauf erworben, einen sittlich nachteiligen Eindruck bewirken.

Eine weitere Konse(]uenz des Frauenverkaufes würde die niedrige Stellung der Frau innerhalb der Ehe sein. Denn wo der Frauenkauf tatsächlich eingeführt war, da war die Behandlung der Gattin eine minderwertige. Sie wurde eben als Eigentum des Mannes betrachtet und demzufolge auch ihm schutzlos preisgegeben. In der Tat suchen diese Forscher verschiedene Gesetze und Mass- nahmen im Judentum festzustellen, die die Frau sehr benach- teiligen sollen; wie wir weiter sehen werden, wurde der Sinn der betreffenden Gesetze von diesen Wissenschaftlern unrichtig erfasst und nur dem äusseren Anscheine nach beurteilt.

Wir werden weiter in einem besonderen Kapitel die an- scheinend die Frau benachteiligenden Gesetze und Massnahmen des Judentums näher besprechen. Zunächst möchten wir hier die Argumente, die für den Kauf der Frau in der biblischen Zeit an- geiührt werden, genau prüfen.

Dies eine darf jetzt schon als feststehend betrachtet werden: dass wenn dem wirklich so wäre, dass es einen Frauenkauf und verschiedne zurücksetzende Gesetze im biblisch-talmudischen Juden- tum gegeben hätten, die Frau sowohl wie auch die jüdische Familie demoralisiert worden wären. Wie über alle Massen erhaben aber der sittliche Stand Israels in der biblisch-talmudischen Periode war, dafür gibt das diesbezügliche Urteil eines christlichen Gelehrten beredtes Zeugnis. Hans Wagner meint : „Das jüdische Volk hat seine Sexualität Jahrtausende lang gesund erhalten, einen Familien

Zum jüdischen Eherecht. 303

sinn ausgeprägt und ein Zusaramengehörigkeitsbewusstsein, wie es kein anderes Volk der Erde aufzuweisen hat. Die jüdische Kultur beruht auf der Familie, die Familie auf der Sexualität und die Sexualität ist da Religion, Es wäre für kein Volk Schade, wenn es sich von dieser Art jüdischer Sexualität innerlich etwas aneignen möchte. Griechen und Römer sind an Verirrungen der Sexualität untergegangen, Israel allein hat sich von allen alten Völkern er- halten". („Das nächste Geschlecht" S. 31 f.).

In einem Kreis, wo die Sexualität auf einer geheiligten Höhe steht, kann eine Benachteiligung der Frau nicht stattfinden. Demi die Frau bildet das ganze Rückgrat der Familie. Wir dürfen daher das obige Urteil als einen indirekten Beweis gegen den angeblichen Kauf und andere Zurücksetzungen der Frau betrachten. Nur dem Scheine nach enthalten manche Massnahmen des Juden- tums eine Benachteiligung der Frau : wir müssen eben sie von historischem, religionsphilosophischem und psychologischen Stand- punkte aus zu erfassen suchen.

Für eine Umdeutung oder richtiger eine tiefere Erfassung aller Bestimmungen, die die Stellung der Frau ungünstig zu be- einfluHsen scheinen, sprechen noch andere Momente. Zunächst die verherrlichenden Aussprüche von Bibel und Talmud über die Frau und die Mutter. Bekanntlich wissen die Propheten für das innige, vertrauensvolle und beseligende Verhältnis zwischen Israel und Gott kein andres Bild zu zeichnen als das tief empfundene Inein- anderaufgehen von Mann und Weib. Der Spruchdichter lobt und preist die Glückseligkeit und Freude, durch die die Frau das Heim des Mannes fördert und schmückt. Von den zahllosen Aussprüchen des Talmuds, worin die Frau verherrlicht wird, seien hier nur ein paar angeführt. „Ein Mann ohne Frau verdient den Ehrennamen ,, Mensch" nicht, denn erst nach der Erschaffung der Eva wurde der erste M^.nn aiN „Mensch" genannt. Der Mann ist verpflichtet, seine Frau mehr als sich selbst zu ehren, und sie wie sich selbst zu lieben". „Stets sei der Mann bedacht auf die ehrenvolle Be- handlung seiner Frau, denn ihr verdankt das Haus seinen Segen." Wenn dem Manne die Frau stirbt, so ist es, als ob ihm das Heilig- tum zerstört worden wäre. Jeder Mensch esse und trinke weniger,

304 Zam jüdischen Eherecht.

als seine Vermögensverhältnisse erlauben; nach seinen Verhält- nissen kleide er sich, aber sein Weib ehre er mehr, als seine Ver- hältnisse erlauben. Wo derartige Grundsätze heimisch sind, da kann die Frau keine untergeordnete Stelle einnehmen.

Die Weisen des Talmuds haben sich mit den verherrlichenden Aussprüchen über die Frau nicht begnügt; sie haben dieser An- schauung entsprechend, auch die Forderungen und Ansprüche der Frau geregelt. Man spricht heutigen Tags soviel von der Frei- heit und Selbständigkeit der Frau, aber die Ansprüche, die eine moderne Frau von ,, Rechtswegen" an ihren Gatten stellen kann, bleiben weit hinter der talmudischen Frau zurück. Wir wollen zunächst zwei Strafbestimmungen der Thora hier anführen. Die Thora verpflichtet den Verführer eines Mädchens dasselbe zu hei- raten. Und wenn sonst dem Manne freisteht, sich von seiner Frau scheiden zu lassen, in diesem Falle ist es ihm untersagt (Deut. 22, 28f.) Wenn der Mann die Sittlichkeit seiner jung verheirateten Frau verdächtigt und es sich nachträglich als unbegründet herausgestellt, so wurde der Mann öffentlich mit Stockhieben gezüchtigt, ihren Eltern musste er hundert Schekalin als Beschämungggeld zahlen und von seiner Frau darf er sich niemals scheiden lassen (ibid. V. 13ff.).

Ferner muss sich jeder Mann gleich bei der Heirat ver- pflichten-, und zwar schriftlich, dass: DilDJ^l pi'NI l'plNI D^DJ« n:«»

]^r\^mb j-'DJnDOi ]'m p-ipioi i^n'^si r^-in^ i^dij hidS-d ^j^b 'D\n^ "NtDkyipD Ich werde dir dienen, dich ehren, ernähren und unter- halten, nach der Art der israelitischen Männer, die ihren Frauen dienen, sie ehren, ernähren und unterhalten in aufrichtigster Weise.'' Diese Heiratsurkunde musste von zwei Zeugen unterschrieben werden. Ebenso musste die Frau dieselbe während des ganzen Zusammenlebens aufbewahren; ist sie durch Zufall verloren ge- gangen, so ist der Mann verpflichtet, eine andre auszustellen.

Was diese Verpflichtungen des Mannes bedeuten, können wir erst bei einer näheren Betrachtung all der Bestimmungen, die im Schulchan Arach Eban hoeser als kodifizierte Rechte der Frau auf- gezählt sind, beurteilen. Danach ist die Frau verpflichtet den Hausstand zu führen, dafür erhält sie den ganzen Unterhalt vom

Zum jüdischen Eher echt. 305

Manne. Verzichtet nun die Frau auf den Unterhalt, so braucht sie tür den Mann nicht einmal die allernotwendigsten Verrichtungen auszuführen. Dagegen hat der Mann nicht das Recht zu sagen: ich verzichte auf deine Arbeit, ich will dir den Unterhalt nicht ge- währen (Eben hoeser 69, 4). Dieses Gesetz repräsentiert eine der neuesten Errungenschaften auf dem Rechtsgebiete der Frau: die Güterteilung. Ist nun eine derartige Vereinbarung zwischen Mann und Frau nicht getroffen, so hat der Mann doch die Verpflichtung' das von der Frau in die Ehe mitgebrachte Vermögen in einer solch gewissenhaften und verantwortungsvollen Weise zu ver- walten, wie es das modernste Frauenrecht nicht kennt. Ueber die Güter, die die Frau in die Ehe gebracht hat, hat der Mann kein direktes Verfügungsrecht; er hat in den meisten Fällen eine Voll- macht von der eigentlichen Besitzerin zu erwirken (ibid. Par. 85). Dies geschieht allerdings auch heute. Aber eine Klausel der jüd. Heiratsurkunde geht darüber weit hinaus. Darin verpflichtet sich der Mann: n^^Dp Kl «nsDim P"! {^^lilli Nn i^HD^nD i^^ mnnx» ninn '>b n\sn ]^:^:p) pdd: ji« id'2; b-D'2 yisnn'? ^{iin^ ^m^ bv^ '^bv "])rib n^^n nrin^ ]in^ n^^i i^^^pr^b ü:ü i^nj;ni \^:p-i i^^r^':; b^. „Die

Bürgschaft für alle in die Ehe gebrachten Güter übernehme ich hiermit-, diese Bürgschaft übergehe auch auf meine Erben. Man solle gegebenenfalls, von den besten Gütern, die ich bereits be- sitze und von denen, die ich eventuell noch kaufen werde, den Wert der eingebrachten Güter einfordern; von meinen Immobilien und Mobilien."

Das heutige Recht sichert die Frau im Falle einer Scheidung nur soweit , dass , wenn Vermögen vorhanden ist, sie nicht ganz leer hinausgeht. Besitzt der Mann bei der Scheidung nur solche Güter, die er von seinen Verwandten geerbt oder anderweitig aus eignen Mitteln erworben hat, so hat dagegen die Geschiedene nur das Nachsehen. Nach dem jüdischen Ehe- vertrag wird der Frau das Recht zugesprochen, von allen Gütern, die im Besitze des Mannes sind, ihre Mitgift einzukassieren.

Der Mann ist ferner verpflichtet tür den Unterhalt seiner Frau zu sorgen. Ist nun die Frau an bessere Kost und Komfort als der Mann gewöhnt, so ist er gehalten, ihr alles so zu ge-

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währen, wie sie von Hause aus gewöhnt ist (ihid. 70, 1 f.). Der Mann uiuss sich eventuell als Arbeiter vermieten, um die Frau an- ständig ernähren zu können, (ibid. 3).). Selbst der weniger Be- mittelte hat . die Pflicht, es zu ermöglichen, dass seine Frau sich so kleiden könne, wie es am Wohnort üblich ist. Pflegt man z. B. einen ganz langen Schleier zu tragen, so muss er ihr einen solchen kaufen (ibid. 73, 1). Dasselbe gilt von dem landesüblichen Schmuck, wie von den kosmetischen Mitteln (ibid. 73, 3). Ein ver- mögender Mann kann dazu gezwungen werden, seiner Frau seinem Vermögen entsprechende Kleidung und Schmuck zu gewähren; widrigenfalls kann die Frau auf Scheidung drängen (ibid. 4).

Wie nun der Mann hinsichtlich des Unterhalts der Frau unter allen Umständen verpflichtet ist, den landesüblichen Gewohnheiten nachzukommen, so darf er andererseits der Frau in Führung und Haltung soweit selbstredend sie gegen die gute Sitte nicht vcr- stösst keinerlei Beschränkungen auferlegen, wodurch diese in der Gesellschaft an Achtung und Freundschaft verlöre. So hat der Mann kein Recht zu sagen, schmücke und kleide dich nicht mit diesem oder jenem (ibid. 74, 1). Er darf ihr nicht verbieten, ge- wisse Sachen zu verborgen, wodurch sie in den Ruf des Geizes käme (ibid. 3). Er darf ihr nicht verwehren, ihre Freundinnen oder gar ihre Verwandten zu besuchen (ibid. 3). Er hat kein Recht ihr Gratulations- oder Kondolenzbesuche zu verbieten, wenn dadurch ihr Ansehen herabgesetzt oder ihre Freundschaft in die j Brüche gehen könnte (ibid. 5). Die Frau kann den Mann zwingen, seine Verwandten, ja sogar seinen Vater oder seine Mutter au8' dem Hause zu entfernen, wenn ihr Aufenthalt in der Familie zu irgendwelchen ünzuträglichkeiten führt (ibid. 12). Will der Mann ihr nicht nachgeben, so kann sie auf Scheidung drängen. Um schliesslich wird der Frau auch das Recht zugestanden, den Orl der ersten Niederlassung beim Eingehen der Ehe als testen daui erndon Aufenthalt zu erwählen. Wie ungemein bedeutsam dies* Bestimmung ist gegenüber einem gewissen unruhigen und unbe- rechtigten Wandertriebe, der einer Anzahl von Männern zu allei Zeiten eigen gewesen ist, ist leicht zu erkennen.

Zum jüdischen Eherecht. 307

In einer Gemeinschaft, in der eine Frau all die aufgezählten Rechte geniesst, kann sie unmöglich eine untergeordnete Stellung einnehmen, geschweige denn, dass sie wie eine ,,Ge kaufte" be- trachtet werden könnte. Diese Rechte dürfen aber auch als in- direkte Beweise gegen die Annahme, im Judentum geschah die Heimführung der Frau durch Kauf angeführt werden. Wo das Mädchen jdurch Kauf erworben, da ist es Eigentum des Mannes und ist, richtig genommen, ihm untertänig.

Hierzu kommt noch ein besonderes Moment, wodurch die erwähnten Rechte in vollem Umfange zur Geltung kommen konnten. Wo die Frau des Wissens und der Bildung bar ist, da nutzen alle Rechte der Welt nicht, denn sie versteht eben nicht sie zur Geltung zu bringen. Im Judentum hat sich die Frau zu jederzeit einer gewissen Bildung erfreut. Daher findet man Frauen in grosser Anzahl, die eine führende Stellung einnehmen. In der biblischen Zeit waren es Prophetinnen, die dem Volke vorstanden, in der talmudischen ^varen es gelehrte Frauen, die mit den Männern in der Traditionslehre wetteiferten, und im Mittelalter waren es Dichterinnen, deren fröhliche und ernste Weisen denen der Männer wenig nachstanden. Im Talmud findet man nicht selten Frauen aus den unteren und mittleren Ständen, die ihre Männer wegen Vernachlässigung oder Verletzung irgend einer Pflicht beim öffent- lichen Gerichtshof verklagten oder aber ihre Klage vor einen an- erkannten Gelehrten vortrugen. Diese an zahllosen Stellen des Talmuds bezeugte Tatsache lässt darauf schliessen, dass die Frauen in der talmudischen Zeit sich ihre Rechte wohl zu sichern wussten ; ähnlich gestalteten sich die Verhältnisse auch später.

Gegen diese Ansicht Avurde, ganz besonders .in neurer- Zeit die bekannte Mischnah von Sota, die ein Verbot des Thorastudiums für die Frauen zu enthalten scheint, angeführt. Die Mischnah lautet: „m^DH niü? 1^N*D min in:D lDbt2n bj "1C\S* llVbi^ 'l Wenn einer seine Tochter Thora lehrt, so gleicht's, als ob er sie ün- sittlichkcit lehrte" (3, 4). Die Mischnah scheint demnach der An- sicht zu sein, dass das Studium bei den Frauen nur die Sittlich- keit lockere. Aber eine derartige Auslegung der Stelle ist schon daher unrichtig, weil die Thora ausdrücklich befiehlt, die Lehre

308 Zum jüdischen Eherecbt.

auch den Frauen beizubringen: „Versammle das ganze Volk, Männer und Frauen, damit sie alle (auch die Frauen) die Lehre vernehmen und damit sie lernen Gott zu fürchten und alle die Worte der Thora zu beachten." (Deut. 31, 12). Neuerdings wurde daher die Warnung R. Eliesers nur auf ein bestimmtes Lehrgebiet, wodurch die Frau über sexuelle Verfehlungen zuviel aufgeklärt werden würde, und demnach bei ihr gewisse Begriffe gelockert würden, bezogen.

Diese Auslegung scheint richtig zu sein, denn die Mischnah selbst verordnet das Thorastudium für die Frauen. So lesen wir (Nedar. 4, 3): NnpD Vm2D HNT V2D n^« ID'^D ITDHD HN^H miDH „Wer sich die Nutzniessend des Andern durch ein Gelübde versagt darf seine Söhne und Töchter in der Thora unterrichten " Ferner heisst es (Kid. 4, 13) : DnoiD n^H IDbn ab „Eine Frau darf sich nicht als Schullehrerin ausbilden". Wenn aber die Frau nicht lernen darf, wie sollte sie lehren können? Im Talmud linden wir verschiedene gelehrte Aussprüche vou Frauen. Am bekanntesten sind die Arznei- verordnungen von der Pflegmutter der Abaji. Ebenso auch die Aussprüche der Jaltha, die über das Verbot von Milch und Fleisch in eine grosse Auseinandersetzung mit ihrem Mann gerät (ChuU. 109 b). Dort wird auch der Satz angeführt: „mn n':' h^2 ^2D n'^b V^D'^'i 1N^ ^N N"IDN". ,,Wenn er diese gesetzliche Bestimmung von seiner Frau nicht gehört hätte, so hätte er nicht so entschieden (ibid. 110a). In der 'J2 .'"i p"iD NDp NDD ,D">'?D «nDDID wird in einer schweren Frage mniOl ^^{^2^tD die Ansicht der Tochter des R. Chanina ben Tradjon angerührt. Diese steht hier nach einer Lesart mit ihrem Bruder, nach einer andien mit ihrem Vater in Kontroverse. Und schliess- lich möchten wir nur auf die bekannte und gelehrte Magd voi Rabbi verweisen.

Unsre bisherigen Ausführungen haben klar und deutlich be- wiesen, dass die jüdische Frau in der Ehe eine in jeder Weise geachtete Stellung einnimmt, von der Behandlung einer Gekauftei ist keine Spur zu bemerken. Betrachten wir nun die Gesetze, ii denen man gewisse Worte als Hinweise auf den Frauenkauf ii alten Israel deuten könnte, etwas näher. Wir glauben beweise]

Zum jüdischea Eherecht. 309

zu können, dass die ganze Annahme auf eine falsche Erklärung i:ewisser Ausdrücke beruht.

In der Bibel wird die Heimführung der Frau durch das Ver- bum npb. das gewöhnlich „kaufen" bedeutet, bezeichnet. Noch die Mischnah gebraucht den Ausdruck „n^NH Hilp", was zunächst mit Kaufen einer Frau übersetzt werden muss. Ferner hatte nach biblischem Rechf der Vater die Erlaubnis, seine Tochter als Sklavin zu verkaufen. Ebenso wird an verschiedenen Stellen das „"iniD nibiriDn", was angeblich der „Kaufpreis der Jungfrau" heissen soll, erwähnt. Dann berichtet uns die Bibel, dass der Knechtj Abrahams zur Werbung der ßebekka alle Kostbarkeiten seines Herrn mit sich führte (Genes. 24, 10): 1TD v:j-ik D"il2 ^Dl "l^""!. „Er ging und nahm alle Kostbarkeiten seines Herrn mit sich"). Und schliesslich wird von dem Stammvater Jakob erzählt, dass er um die zwei Töchter Labans vierzehn Jahre gedient hat. (ibid. 31, 41: 7m:D \-i^2 n:^ nn^'y V2ii< Tn"i:iy. Aus diesen Stellen wird der Frauenkauf im alten Judentum bewiesen.

Betrachten wir nun diese Argumente etwas näher. So be- deutet „Pipb" wohl „kaufen", wird aber in der ganzen Bibel auch für „nehmen" gebraucht. Dieses Verbum kommt für beide Be- deutungen in gleicher Anzahl vor. Nun sagen wir auch im Deutschen eine ,,Frau nehmen'', ohne im Entlerusten an einen Frauenkauf zu denken. Wir können demnach das „fipb'" auch im gleichen Sinne fassen. Dies scheint um so richtiger zu sein, als an keiner einzigen Stelle, wo dieses Verbum bei der Heimführung der Frau erwähnt ist, von einem Preis, Geld oder Geldeswert gesprochen wird, was aber der Fall sein, müsste, wenn hier von einem Kauf die Rede wäre ').

') Die in den talmii (Tischen Schriften sehr oft wiederkehrende Deduk- tion: „]Tiny m'ii'iD nnV i^np'' ^'^ von einem Kaufeii(die Rede ist, schein gegen unsere Ausführung zu sprechen. Jedoch bemerkt bereits der D"l3*2~l nV.:.*\SO 2"~ «"O- 'l^ss rßj v^y^-ip nur D^DID n^lO 'St 'vgl. Q"n^ zur Stelle). Demnach ist die ;i>";j von p"inj; nT^L'ü nW^p nH^p k<-ine xn''*~l\^~i- Anch der -!:i"'Dn rmn zu Deut. 24, 1 bemeriit, dsss die Deduktion von -fl"',"' nn"'p n'T eine fci; ci"ß blose Andeutung und eine t^r^^yi] NPüCCN ^•"'^ '^i"" lache Anlehnung sei, wie sie oft im Talmud vorkömmt (vgl. daselbst). Weshalb

310 Zum jüdiiche» Eherecht.

Aber davon abgesehen, kann das „r\pb" „kaufen" an den betreffenden Stellen gar nicht bedeuten. Denn lesen wir ja auch: Lev. 20, 17: imn« np "Wii VW. Kann dies heissen: so je- mand seine Schwester „kauft"? Oder wenn wir lesen: „~\Wii tt'"'i< vna ntt'i^ nj^ np"'", kann dies bedeuten: „Wenn jemand die Frau seines Bruders kauft? Wenn die Frau im alten Judentum durch Kauf erworben worden, wäre ferner unbegreiflich, weshalb konnte der Ehegatte ein sittliches Vergehen der Gattin, nach dem bib- lischen Recht, nicht verzeihen-, weshalb wurde- sie mit dem Tod bestraft, wo sie doch das Eigentum des Mannes war? Der Kodex Hammurabi kennt den Frauenkauf, er sieht aber auch die Be- stimmung vor, dass der Mann seiner Gattin ein sittliches Vergehen verzeihen kann. Die erwähnten Momente beweisen, dags das Ver- bum ,,npy' bei der Schilderung von der Heimfiihrung der Frau nicht ,, kaufen" bedeuten könne. So begreifen wir, dass die älteste üebersetzung der Thora, der aramäische Onkelos, das Wort „npy^ an den l)etreffenden Stellen mit „^DV' „nehmen", dagegen wo wirklich von Kauf die Rede ist, mit ,,]DT*' „kaufen" wiedergibt.

Wenn nun das biblische „Dpb" bezüglich der Heimfiihrung der Frau nicht kaufen bedeutet, so wird wohl auch das misch- nische „njlp" oder ,,n:p''2", das doch nichts andres als eine dem biblischen Sprachgebrauch entlehnte Redewendung ist, nicht „kau- fen" bedeuten. Dies ergibt sich aber auch aus einer näheren Be- trachtung der Mischnah selbst. Denn erstens lesen wir an der Stelle, wo das np'? bei der Frau erwähnt wird, auch ,,'\ü'av PK niipn" was doch unmöglich heissen kann, und die Frau kann sich selbst ,, kaufen" d. h. sie kann sich ihre Unabhängigkeit erkaufen, weil nach den Bestimmungen der Mischnah die Frau ihre Unabhängig- keit nur durch eine Scheidung, also durch Mittel, die nicht in ihren Händen liegen, sich erwerben kann.

Das Entscheidende für die Anwendung des Verbums ,,n;"ip" in der Mischnah sind aber folgende zwei Momente. Die Mischnah gebraucht beim Manne dieses Wort in passiver Form „rT'Jpw Htt'Kr; lü^'i^nS'*, die Frau wird erworben für den Mann und nicht '^"'«n

die Rabbintn die noD '^Vllp eingeführt haben, werden wir weiter zu ergrün den h»ben. Um die Frau zu „kaufen" gewiss nicht.

J

Zum jüdischen Eher«cht. 311

ritt'i^n riilp der Mann kann sich eine Frau erwerben, womit aller- dings der Frauenkauf wenigstens angedeutet wäre. Bereits der Talmud weist auf diesen feingewählten Sprachgebrauch der Misch- nah hin und meint ebenfalls, der Mann kann sich, nach jüdischem Recht, keine Frau erwerben, nur die Frau kann sich freiwillig dem Manne zueignen lassen (b. Kidd. 2 b: nn"lD bv2 r\^:p: nV/nn ]"'J^). Und dann bemerkt die Mischnah, wodurch findet diese Aneignung der Frau an den Mann statt? j,"!!^;^^^ IDDD'' durch einen Pfennig, wie die Hilleliten es erklären und durch eine Urkunde, worin die Worte: ,,sei du mir geheiligt'* stehen. Beim zweiten Mittel ist es klar, dass von keinem Geld oder Geldwert, als Kaufpreis für die Frau gesprochen wird, denn die Heiligungsworte dürfen ja auch auf jedwede wertlose bewegliche Sache geschrieben werden. Aber auch beim ersten kann von einem Kaufpreis keine Rede sein, da die Mischnah nur einen Pfennig angibt, was doch unmöglich als Kaufpreis betrachtet werden kann. Setzt doch die Bibel den Preis des niedrigsten heidnischen Sklaven auf 30 Schekalim fest. Ebenso bestimmt die Thora für den Vergewaltiger eines Mädchens eine Strafe von 50 Schekalim; wie sollte nun eine Frau einen Pfennig kosten ?

Und schliesslich sei noch auf Folgendes hingewiesen. Wäh- rend an der Stelle, wo das Verbum „mp^^ in der Mischnah ange- wandt, wird, wie bereits erwähnt, nur die passive Form rT'ipJ nif i<n angetührt, steht bei dem Verbum tt'ip ,, heiligen" die aktive Form „IJ'lpD »'"•Nn". der Mann heiligt die Frau; erwerben durch Geld kann er sich keine Frau, wohi aber heiligen durch Worte. Nach alledem kann man weder aus dem pentateuchischen noch aus dem mischnischen Sprachgebrauch des j.npV" ein Fräuenkanf im alten Judentum erweisen.

Was bedeutet nun die Angabe des Mischnah, dass rri^pi nu^N "^nDDD, dass eine Frau durch Gelt sich dem Manne aneignen lassen kann ? Welche Bedeutung liegt diesem Aneignen zu Grunde '? Viele erklären es als ein Symbol (so Saalschütz, Mosaisches Recht 2. Aufl. S. 736 und Kaiserliug ibid.). Demnach ist der Kauf der Frau nicht ganz aufgehoben, sondern nur idealisiert. In diesem Sinne hat man die Peruta der Mischna mit der römischen „Coemtio"

312 ^ Zum jüdischen Eherecht.

identifiziert, die ebenfalls nur ein Symbol des Kaufes aus- drücken sollte.

Diese Annahme ist aber aus folgenden Gründen unlialtl)ar. Zu- nächst — wir folgen hierin P. Buchholz, Die Familie S. 44 beruht die Coeratio auf dem Grundsätzen des Kaufes und das Charakte- ristische derselben ist die mancipatio, die selbst sich auf der potestas des Vaters oder des Tuturs gründen. Das As wird diesen übergeben und die Frau von denselben in die manus des Mannes tradiert. Da sind nun drei der mosaisch - talmudischen Lehre fremde Begriffe: mancipatio, patria potestas und manus-, die Pe- ruta wird der Frau selbst und zwar als volles Geschenk ohne Bedingung und jeden Vorbehalt übergeben, so dass auch, wenn das Verlöbnis aufgelöst wird, das Kiduschingeld, so hoch es sich auch belaufen mag, der Frau verbleibt (vgl. B. Batbra 145 a, Maimonid. Sechia 5, 18 und Kidduschin 6 b).

Ferner pflegt ein Symbol fixiert zu sein, wie das As bei der Coemtio, bei dem Verlöbnis durch Geld aber kann dasselbe Je nach dem Belieben des Bräutigams jede belebige Höhe ersteigen und die Peruta ist nur als Minimalsatz festgestellt. Und endlich kann auch Geldeswert oder eine Dienstleistung die Stelle der Peruta vertreten, ja in einem gewissen Falle das Verlöbnis da- durch Gültigkeit erlangen, dass die Frau dem Manne Geld oder Geldeswert überreicht (vgl. Kidd. 7 a, Eben Haeser 27, 9), was doch bei einem Symbole wohl nicht angängig w^äre.

Dem mischnischen Grundsatz HDDD iTip; ri"'i< scheint viel- mehr folgende Auffassung zu Grunde zu liegen. Nach mosaisch- talmudischem Rechte kann eine jede Willensäusserung nur durch eine sie bekundende Tat rechtliche Folgen haben ^). Die Haupt- bedinguug zur Gültigkeit des Verlöbnisses, der Consens, ist durch das blosse Jawort nicht genügend ausgedrückt, sondern muss durch eine Tat bekräftigt werden.

') Vgl. j^in^* bj VIDI 1"i: bv: ß- ^athra 42, f^niiV^N ir^^l B. Me- zia 14, vjr]. Tosaphat z. St. Ferner 'nDJHD npim NI^C^OD n^ip: HC: H^HD Kidd. '25 1). Eine Ausnahme bildet nur die Willensäusserung eines Sterbenr kranken, die sofort mit dem Tode desselben Gültigkeit erhingt (ß. Batbra 15 b).

Zum jüdischen Eherecht. 313

Das Entscheidende für den Brauch der Mischnah des Ver- bums '^nip,, ist aber folgendes. Die Uebergabe einer Peruta an die Frau genügt nämlich nicht. Vielmehr muss der Mann, damit der animus maritalis unzweifelhaft zu Tage tritt, bei der Übergabe der Peruta eine mündliche Bekräftigung verlautbaren. Diese lautet: „Du seist mir angeheiligt nach dem Gesetze Moses und Israels" (Ketub. 3a, Gittin 33a). Der Mann hat diese Formel in einer der Frau verständlichen Sprache auszusprechen, denn ihre Aussage, sie hatte dieselbe nicht verstanden, macht das Verlöbnis ungültig. Demnach ist diese Heiligensformel die Hauptsache.

Auch steht das Verbum ^^T]:ip,, selbst bei abstrakten Dingen

z. B. Aboth 2,8: NDH D^iyn ^^n )b HJp -"nn nni )b r^2p 3itD üty r\2D.

Ähnlich bei einer Person: IDH 1^ ^^P- Hi^^' kann es gewiss nicht kaufen bedeuten. Und schliesslich ersieht man, wie fremd der biblischen Auffassung jedweder Frauenkauf ist, aus folgendem Vers: "n^Dtt'D Htt'J^ 'HDI HDN rhn2 ]^ni iTD,, „Haus und Gut kann dem Menschen als Vätererbe zufallen ; eine verständige Frau da- gegen nur von Gott"' (Spr, 19, 14). Nicht der Mensch erwirbt oder kauft sich eine Frau, sondern Gott bestimmt sie einem.

Betrachten wir nun die pentateuchische Bestimmung, wonach der Vater das Recht hat, seine Tochter zu verkaufen. Das Gesetz lautet folgendermassen: ,,Und wenn jemand seine Tochter zur Magd verkauft, so soll sie nicht ausgehen, wie die Knechte aus- gehen. Wenn sie missfällig ist in den Augen ihres Herrn, so dass er sie nicht für sich bestimmt, so soll er ihr zum Loskaufen verhelfen; an Fremde hat er nicht die Macht sie zu verkaufen, da er treulos gegen sie war. Wenn er aber sie seinem Sohne be- stimmt, so soll er nach dem Rechte der Töchter ihr tun. Wenn er ihm (dem Sohne) eine Andre nimmt, so soll er ihre (der Magd) Kost, ihre Kleidung und ihre Wohnung nicht vermindern. Tut er ihr diese drei Dinge nicht, so soll sie umsonst, ohne Geld, aus- gehen. (Exod. 21, 7—11).

Dieses Gesetz bezieht sich so viel ist auch dem Wortlaut zu entnehmen auf den Verkauf eines Mädchens. Fest steht aber auch, dass es sich hier nicht um einen einfachen Verkauf handeln kann. Zu näherer Erklärung auch dieser Sache, wollen

314 Zum jüdischen Eherecht,

wir den hebräischen Text hier anführen: in2 riN tf*« l^'DD'' ^D"i-»

m;2n r^c'^'^D n:iv^^ 1:2^ dnt -n^ ii:d2 rnjr^b br^'^^ ab nD; D:;b n^kS r^*.:' cni -vir «b nnnyi nmcD ni«'*:? 1':' np^ mn« dk •r.':' r,::'^^ "nDD f N D:in nN'i^l n^ n'^r «b. Zunächst wird hier von einer Un- treue gesprochen, die der Herr damit begangen, däss er die Ge- kaufte nicht geehelicht hat; wird stillschweigend hier somit voraus- gesetzt, dass der Käufer das Mädchen heiraten muss. Ferner wird betont, dass in der Ehe, die Gekaufte in keiner Weise benacli- teiligt, sie vielmehr wie eine rechtmässige Frau betrachtet werden muss. Dies muss auch dann geschehen, wenn der Herr neben dieser Gekauften noch eine selbstständige Frau geheiratet hat.

Die Schrift verbietet auch die Gekaufte weiter /ai verkaufen. Nun wird hier gesagt, dass er sie an „""iDj ÜV" an Fremde nicht verkaufen darf. Aus dieser Redewendung schliesst der Talmud, dass selbst der Vater sie nur einem Manne verkaufen darf, der sie nachträfrlich auch heiraten dürfte; an nahe Verwandte oder sonst wo ein Eheverbot besteht, darf der Verkauf nicht stattfinden (vgl. Kidd. 18 b. D^nnp^ .niDlD p«). Ferner wird gesagt „nicm" der Herr soll ihr zum Loskaufen verhelfen. Dies wird in Kidd. ibid. a dahin erklärt, dass, wenn der Herr sie nicht heiraten will, so muss er ihr wenigstens erlauben, dass das bereits Abgediente von dem zurück zu erstattenden Gelde abgezogen werde. Ebenso ist der Vater, wenn er unterdessen zu Mitteln gekommen, oder wenn nicht, die Verwandten, dazu verpflichtet, die Verkaufte loszulösen.

Der Ausdruck ,,"1^"'" wird bezüglich aer Ehelichung sowohl bei dem Herrn selbst, wie auch bei dessen Sohne angewandt. Dieses Verbum bezeichnet, sich gegenseitig zu einer Vereinigung oder Zusammenkunft zu bestimmen. Damit will die Schrift die Ehelichung der Verkauften nicht nur von seinem sondern auch von ihrem Einverständnis abhängig machen (vgl. Kidd. 19 a {<^{< "ny ]\^< ""!''"! ni*l?i). Und schliesslich schreibt die Schrift vor. dass wenn der Herr oder sein Sohn die Gekaufte nicht geehelicht und sie auch von ihren Verwandten nicht ausgelöst wurde, sie umsonst und ohne jegliches Entgelt frei werde. Im Talmud wird die ein-

Zum jüdischen Enerecht. 315

getretene Pubertät als die Zeit angegeben, wo sie ohne jegliches Entgelt frei hinausgeht.

Im Talmud und Mechilta werden für den Verkauf noch fol- gende Bedingungen vorgesehen. Der Vater ist verpflichtet, bevor er seine Tochter verkaufen will, Haus und Hof und sein letztes Hemd zu veräussern; als letztes Mittel darf er zum Verkauf seiner Tochter und zwar, wie bereits erwähnt, nur mit der Bedingung einer Heirat seitens des Herrn, greifen. (Kidd. 20 a). Ebenso darf nur der Vater, der seiner Tochter einen Schutz gewähren kann, nicht aber die Mutter, ihre Tochter verkaufen (Sot. 23 b). Noch weniger darf die Tochter sich selbst veräussern, da sie dann völlig schutzlos dastehen würde (ibid.). Um die Würde der Ver- kauften in jeder Weise zu schützen, ist dem Herrn verboten, sich zwei Sklavinnen als Frauen zu erwerben (Mechilta z. St.). Und schliesslich dauert die Erlaubnis des Vaters, seine Tochter zu ver- kaufen nur während der Zeit völliger Unmündigkeit, bis zum Ein- tritt der Pubertät, mit welcher das Mädchen eine ,,n"iy;" wird, in der Regel bis zum zurückgelegten zwölften Jahre (Erechin 29 b.).

Fassen wir nun all die Bedingungen, die beim Verkauf einer hebräischen Sklavin nach Bibel und Talmud festgesetzt, auf eine Formel zusammen, so lautet sie tolgendermasiien: Ein völlig ver- armter Vater hat das Recht, seine noch nicht mündige Tochter an einen Israeliten als Dienerin zu verkaufen, jedoch nur mit der Be- dingung, dass der Herr sie später als Frau ehelicht. Wenn die letzte Bedingung nicht erfüllt wurde, so ging sie trei heraus. In jedem Fall, wenn sie grossjährig ward, war sie frei oder verheiratet.

Gegen die obige Ausführung scheint Deuteronomium 15, 12 zu sprechen. Wir lesen daselbst: rT'izyn 1{< nnyri "j^riK ~b ~IDC"' 'D „IDVD ^^cn i:n^i:'n n^y^z'Z'n n:u;2^ ü^:^ "tv "j-djji". Wenn sich dir dein Bruder, der Hebräer oder die Hebrärin verkauft, sechs Jahre soll er dienen, am siebten soll er frei von dir hinausgehen.'* Hier wird somit von einem selbständigen Verkauf einer hebräischen Magd gesprochen. Aber nach der Tradition spricht auch dieser Verkauf von einem Verkauf, den der Vater an seiner unmündigen Tochter, also ähnlich wie der eben behandelte Verkauf, vorgenommen (vgl, Raschi z. St.). Dass diese Erkläurung keine willkürliche ist, ergibt sich aus

316 Zum jüdischen Eherecht.

einer näheren Betrachtang der Stelle im Exodus. Wo es sich nämlich um einen einfachen Verkauf eines Sklaven, auch eine« Hebräers, handelt, da wird gesagt: „"»"iDy 113^ n^pn ''D". Wenn du einen hebräischen Knecht kaufst." Dagegen von dem Verkauf einer Magd wird gesagt: .„n':f<b ^D2 :r\^ 1D^^ "»DV. „Wenn ein Mann seine Tochter als Sklavin verkauft." Während im ersten Fall vom Er- werben gesprochen, handelt der zweite vom Verkaufen. Ebenso wird zuerst von einem allgemeinen Verkauf gesprochen, dann von einem Verkauf, den ein Vater vornimmt. Dabei folgen die beiden Vorschriften unmittelbar aufeinander. Eine derart auffallende Ab- weichung kann nicht auf blossem Zufall beruhen. Sie will viel- mehr besagen, dass ein Mädchen nur durch den Vater nicht aber sich selbständig verkaufen darf. Nun wird auch im Deuteromium von „IDD" „verkaufen" und nicht von ,,n2p" von „kaufen" ge- sprochen. Die beiden Stellen scheinen demnach auf derselben Grundlage zu ruhen. Im Deuteronomium wird der Verkauf einer hebräischen Sklavin nur daher erwähnt, um, wie es Raschi erwähnt, darauf hinzuweisen, dass auch die Sklavin im siebten Jahre ihrer Dienstzeit, auch bevor sie ihre Pubertät erlangt, frei herausgeht.

(Fortsetzung folgt.)

Das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa. 317

Das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa.

III.

Wir haben im vorigen Abschnitt den Lesern einen ungefähren Einblick in die Vorgänge des ung:arisch-israelitischen Kongresses verschafft. Wir haben ihnen gezeigt, wie die ganze jüdische Neu- zeit w^ohl kaum eiu zweites Ereignis aufweist, das in gleicher Stärke und Tiefe die jüdischen Fragen, die uns noch heute be- schäftigen, aufwart und sie zu lösen suchte. In keinem anderen Lande haben sich unsere Gesinnungsgenossen mit diesen Dingen jemals so intensiv beschäftigt, wie damals in Ungarn vor nunmehr bald einem halben Jahrhundert. Es sieht wirklich beinahe so aus, als ob der Begriff Mitteleuropa im orthodoxen Judentum schon zu einer Zeit heimisch war, als draussen in der grossen Politik die Ereignisse des Jahres 1866 diesen Begritf für immer zu vernichten schienen.

Wir wollen heute unsere Ausführungen durch einen Blick in das bereits erwähnte „Organisationsstatut für die autonome jüdisch- orthodoxe Religionsgenoss 'nschaft Ungarns und Siebenbürgens" ergänzen.

Die ungarische Orthodoxie fühlte sich durch den Kongress verkauft und verraten. Die Neologie hatte es gar trefflich ver- standen, den Kongress auf das Fahrwasser ihrer Grundsätze und ihres Machtwillens zu leiten: Ueber das gesammte ungarische Ju- dentum sollte die Zwangsjacke einer staatlich anerkannten Orga- nisation geworfen werden, die ihrer ganzen Struktur nach bestimmt war, diesem ungarischen Judentum, dem in jener Zeit noch eine Fülle von Lebenskraft innewohnte eine überwältigende Majori- tät stand ja damals noch fest auf dem Boden der Tradition allmählich das gesunde Leben abzuschnüren. Da galt es denn zu handeln, ehe es zu spät war. Und man handelte. Am 31. August 1870 erliess ,,die Durchführungskommission der autonomen lisch- orthodoxen Religionsgenossenschaft Ungarns und Siebenbürgens" einen Aufruf Dn^niDirif: moipD ^DD 'n DV n^n^ bi<i^^ ^:2 irn^S der als unvergängliches Dokument des Lebenswillens einer auf sich selbst gestellten und sich selbst genügenden Orthodoxie noch heute lesenswert ist, auch wenn der seltsame Titel der Kommission dem stilistischen Geschmack der deutschen Orthodoxie ebensowenig wie die Adresse des Aufrufs den hebräischen Kenntnissen des grossen Publikums hierzulande entspricht. Wir glauben auf das Interesse unserer Leser rechnen zu können, wenn wir den histor- isch bedeutsamsten Teil dieses Aufrufs hier wörtlich zum Abdruck bringen.

318 Das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa.

,, Teuere Glaubens- und Gesinnungsgenossen ! Eine fröhliche und erfreuliche Kunde !

Die Konstituirung der orthodoxen Juden Ungarns und Siebenbürgens zu einer autonomen Religioasgenossenschaft ist nunmehr eine vollendete Tatsache !

Teuere Glaubens- und Gesinnungsgenossen ! Die herben Leiden und Schmerzen, welche den orthodoxen Juden Ungarns und Siebenbürgens von Seiten der Kongresspartei bloss aus dem Grunde zugefügt wurden, weil si-^ die antijüdiBchen Kongi-essstatuten mit eiserner Konsequenz zurückgewiesen sind Ihnen allen wohl bekannt. Sie haben die wuchtigen, niederschmetternden Hiebe mitempfunden, die seit ca. einem Triennium gegen die gesetzestreuen Israeliten geführt wurden ; Sie haben tief und lange geseufzt unter dem drückenden, ja erdrückenden Joche, welches allen jenen aufgezwängt wurde, die an ihrem altererbten Glauben mit unerschütterlicher, ungebrochener Kraft festhielten. Die Anstrengfungeu, die von Seiten der gesetzestreuen Israeliten zur Wahrung ihrer religiösen Ueberzeugung gemacht wurden sie eind Ihnen nicht bloss bekannt, sondern haben Sie alle an denselben tatigen und lebhaften Anteil genommen. Sie wissen es wohl, dass nicht einmal und nicht zweimal, sondern hundert- und abfr hundertmal unsere unermüdlichen Anstrengungen leider als resultat- und erfolglos sich erwiesen haben.

Doch der wahrhafte Jehudi verliert den Mut dort nicht, wo es sich um Wahrung und Erhallung der heilige Thauro handelt; er verliert den Mut nicht, weil die mehrtausendjährige Geschichte Israels es zur Genüge dargetan, dass Gott sein Volk nie verlässt!

Und Gott hat uns nicht verlassen!

Aus allen Punkten Ungarn» und Siebenbürgens petitionirten die gesetzes- treuen Israeliten bei dem h. Reichstage um endliche Befreiung von den drückenden Fesseln, in welche sie, mit Hintansetzung des S e 1 b s t b e - stimm ungsrechtes der Gemeinde und des Individuums von der Kongressnartei geschlagen wurden.

Auf der Höhe der europäischen Bildung und Gesittung stehend, hat sich die Petitionskommission in der am 18. März 1. Jahres stattgehabten öifentl. Reichstagssitzung über diese hochwichtige Angelegenheit folgen dermassen ansgesprochea :

,In Anbetracht, dass der Reichstag die Religions- und Gewissensfreiheit prinzipiell angenommen und dass der diesbezügliche Gesetzentwurf vom Minister bereits vertagst und veröffentlicht wurde und in kurzer Zeit vor die Legis- lative zur Verhandlung gelangen werde ; in Anbetracht ferner, dass es mit den Grundsätzen der Religions- und Gewiisensfreiheit schnurstracks kollidieren würde, so die Mitglieder der Konfession gezwungen wären zur Annahme einer von der Majorität des Kongresses geschaflfenen Organisation, die ihren Funda- mental-Glaubenslehren zuwiderläuft ; in Anbetracht endlich, dass den Ausein- andersetzungen der Petenten gemäss die Beschlüsse des isr. Kongresses mit den Grundlehren der jüd. Glaubensgesetze und konsequenterweise mit der durch diese festgestellten Fundamental-Organisation kollidieren und somit die auf Grundlage der Kongressbeschlüsse sich', organisierende Konfession eine von der in Ungarn bisher bestandenen, auf der Basis der jüd. -traditionellen Glaubenslehre beruhenden Konfes- sion wesentlich verschiedene Körperschaft bildet, als deren Mitglied in Gemässheit der Religions- und Gewissensfreiheit jedermann nur durch freiwilligen Entschluss, nicht aber mittels Zwanges, betrachtet werden kann erachtet die Petitionskommission, vermöge erwähnter Prinzipien, die

Das orthodoxe Judentnm in Mitteleuropa. 319

Gesuche der Petenten als beriickBJchtigungswert, um deren Be- schwerden ehestens Abhilfe zu leisten, weshalb ihr Gutachten dahingeht: Dass diese Petitionen dem Kultus- und ünterrichtsminisier mit der Weisung übergeben werden, dass er auch bis zum Zeitpunkte, wo die Legis- lative hierüber eingehender verfügen werde, bei Anwendung von etwaigem staatsbehördlichen Schutze und Hüte zur Durchtührung der Konsre^sstatuten im Sinne obiger Prinzipien verfahre, und die betrefifs dieser An- gelegenheit bereits getrotfeneu Verfügungen, die erwähnten Prinzipien etwa zuwiderlaufen, sofort s i s t i e r e n möge."

Nach Beendigung obiger Berichterstattung erhob sich der gefeierteste Patriot des Vaterlandes, Franz Deak, und sprach : „Es scheint, dass die Befolger des mosaischen Glaubens auch hier in Ungarn in zwei verschiedene Konfessionen sich teilen; die eine unterscheidet sich von der andern, ihrer eigenen Behauptung nach, auch in wirklichen dog- matischen Fragen. Sie haben diesbezüglich meines Wissens auch zahlreiche rabbinische Koriphäen des Aus andes befragt und geht auch die Meinung dieser dahin, dass zwischen den beiden Konfessionen ein w a h r li a f t e r dogma- tischer Unterschied vorhanden.

Wem wir nun die Religionsfreiheit tatsäch ich wünschen, wenn wir diese im Prinzipe bereits auch aucgesprochen, wenn wir die ehemöglichste Vorlage des diesfälligen Gesetzentwurfes sebnlichst wünschen, in dem die Aus- übung der Religionsfreiheit in umfassender Weis» auseinandergesetzt und in welchem wahrscheinlich auch der Grundsatz ausgesprochen sein wird : dass die Konfession auf dem Wege der Vereinigung zu einer be- sonderen Körperschaft sicli konstituiren möge erachte ich es nicht bloss als ungerecht und schädlich, sondern geradezu als r e c h ts widriq^, so zwei derartige Konfessionen, die auch betreffs i'rer Dogmen von einander sich unterscheiden, in eine Kirche, in eine Körperschaft ge- zwängt würden. (Allgemeiner Beifall.) Das natür iche Resultat der Glaubens- freiheit besteht darin, dass diejenigen, die von einander betreffs von Dogmen sich unterscheiden, zu besonderen Konfessionen sich konstituiren können. (Allgemeiner Beifall.) Es können wohl Fragen vorkommen in Betreff von Fonds und sonstigen Angelegenheiten der Konfessionen ; diese mögen sie jedoch unter sich, auf dem Wege der Vereinbarung regeln, sollten sie selbst eine Vereinbarung nicht erzielen können, dann dürfen sie jene Methode befolgen, welche die altgläubigen Konfessionen zweier Nationalitäten beobachten, indem sie nämlich durch richterlichen Ausspruch jene Fragen ent- ■cheiden lassen; auch hiegegen hätten wir selbst die kleinste Einwendung nicht; allein betreffs ihrer Petition, dass sie nicht genötigt würden; dies ist, so glaube ich, vollkommen gerecht. Ich nehme an die Ansicht der Petitionskommis- eion." (Allgem. Beifall.)

Der Reichstag machte sich den Bericht der Petitionekommission und die auf Recht und Gerechtigkeit basirten Auseinandersetzungen D e a k s einstim- mig zu eigen , wonach : erstens, die auf Grundlage der Kongressbe- Schlüsse sich organisierende Konfession eine von der in Ungarn bisher bestandenen, auf der Basis der jüd.-traditionellen Glaubenslehre beruhenden Konfession wesentlich verschiedene Körperschaft bildet ; zweitens: dass jede Konfession auf dem Wege der Vereinigung zu einer besonderen Ivörper- schaft sich konstituiren möge.

Auf Grundlage dieses einstimmigen Reichtagsbeschlusses haben sich die freiwillig gewählten Vertrauensmännsr der orthodoxen Juden Ungarns und Siebenbürgens am 9. 1. Monats in der vaterländischen Metropole versammelt, um ein Konstituirungswerk im echt jüdischen Geiste und Sinne zu schaffen, das wir Ihnen hiemit behufs fi-eiwilliger Annahme zu übermitteln die Ehre

320 Da» orthodoxe Judentum in Mitteleuropa.

haben. Durch di« spontane Annahme dieses Organisations-Statuts haben die einzelnen Gemeinden ihren Anschluss an die autonome Jüd. orthodoxe Keli- gionsgenossenschaft Ungarns und Siebenbürgens bewerkstelligt. Sie haben hiedurch die Rechtsbasis okkupiert, die ihnen von Seiten der hohen Legislative am 18. März einstimmig zugestanden wurde, und haben vollkommen Anspruch auf jenen Schutz, den der Staat einer formgerecht konstituirten Religionsge- nossenichaft zu gewährleisten verpflichtet ist.

Teuere ölaubens- und Gesinnungsgenossen ! Vom Geiste dgr Gewis- sensfreiheit und des wahren Liberalismus geleitet, wurde es zum obersten Grundsatze erhoben, dass selbst jene Gemeinden, die in der konsti- tuirenden Versammlung durch ihre selbstgewählten Vertrauensmänner vertreten waren, zur Annahme dieses Organisations-Statuts in keiner Weise gezwun- gen werden.

Die konstituirende Versammlung, die sich bloss zeitweillig vertagt, hat aus ihrer Mitte eine aus den Unterzeichneten bestehende Durchführungs- konimission vorzüglich und in erster Reihe zu dem Behufe gewählt : die Anerkennung dieses Organisations-Statuts von Seiten der hohen Legislative und der Regierung, wie dessen Inartikulierung und Publizierung ehe- niöglichst zu erwirken. Nun kann aber die Durchführungskommission ihre diesbezügliche Tätigkeit selbstverständlich insolange nicht mit Ertolg beginnen, bevor sie aul eine beträchtliche Anzahl von Gemeinden hinweisen kann, die ihren endgiltigen Entschluss kundgegeben : auf Grundlage des soeben geschaffenen Organisationsstatuts sich konstituiren zu wollen. Aus diesem Grunde sind die Reitrittserklärunjen von Seiten der einzelnen Gemeinden die unerlässliche Vorbedingung der von der Durchführungskommission einzuleitenden hochwichtigen Aktion.

Teuere Glaubens- und Gesinnungsgenossen ! Hinsichtlich der vollkom- menen Korrektheit dieses Organisationsstatut» von jüd.-religiösem Standpunkte dürfen Sie sich um so eher beruhigen, als jede einzelne Bestimmung desselben erst nach eingeholter Begutachtung von Seiten der hier versammelt gewesenen D^JIXj zum endgiltigen Beschlüsse erhoben wurde. Betreffs des liberalen Geistes, von dem diese Arbeit in all' ihren Teilen durchweht ist, wäre unseres Erachten» jedes Wort überflüssig. Im ganzen Statute ist die Freiheit der Minorität, das Selbstbestimmungsrecht des Individuums mit jener Aengstlichkeit gewahrt und garantiert, die von einer Versammlung mit Recht gefordert wer- den kann, die eben dem Prinzipe der unumschränkten Gewissensfreiheit ihr Dasein, ihre Existenzberechtigung verdankt."

IV.

Wir gehen nun dazu über, uns mit einigen Bemerkungen über das erwähnte Ori^anisationsstatut zu verbreiten. Der erste Abschnitt handelt von der ,, Religionsgenossenschaft". Es wird darin gleich im ersten Paragraphen ausgesprochen, dass „die seit jeher auf Grundlage der im Schulchan Aruch kodifizierten Religions- gesetze stehenden orthodoxen Juden Ungarns und Siebenbürgens Aschkenasim und Sefardim sich zu einer selbständigen auto- nomen Religionsgenossenschaft konstituieren". Was dem Kongresse nicht abgerungen werden konnte, die Anerkennung des Schulchan- Aruch als des ersten und obersten Gemeindebildungs- und Erhal- tungsprinzips, wird hier statutarisch als , .Grundlage" des Begriffs Orthodoxie erklärt. Also nicht Judentum, auch nicht gesetzestreues

Das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa. 321

Judentum, sondern Schulchan-Aruch. Damit wird einer jeden Zwei- deutigkeit vorgebeugt, denn unter allen Begriffen, die das Wesen der Ortiiodoxie wiederzugeben versuchen, hat sich der Begriff Schulchan-Aruch immer noch am reinsten, eindeutigsten zu erhalten gewusst. auch wenn oder vielleicht gerade weil er das gesetzmässige Wesen der Orthodoxie noch deutlicher unterstreicht als das Wort Orthodoxie selber, worin die dogmatische Seite zu scharf hervor- tritt. Wenn in § 2 dieses Abschnittes die unverbrüchliche Geltung der ,jm Schulchan Aruch kodifizierten Religionsgesetze und Be- stimmungen bei gleicher Berechtigung der IJD'Z'N' "'Jn:iD und ^:n:D "nDD für alle religiösen, kultuellen und rituellen Angelegenheiten der Religionsgenossenschaft und der Gemeinden" ausgesjjrochen wird, so liegt darin nicht etwa eine Einschränkung auf einzelne Gebiete des Gemeindelebens, sondern es tritt im Gegenteil in dieser begrifflich nicht abgegrenzten Dreiheit von religiös, kultuell und rituell nur die Tendenz einer möglichst weitgehenden Ausdehnung des Geltungsbereichs des Schulchan-Aruch hervor: unter welchem Schlagwort sich immer eine Gemeindeaugelegenheit anmelden mag, sie wird sich der Kompetenz des Schulchan Aruch niemals ent- ziehen können. An seinem Massstab muss und wird alles ge- messen werden. Nur was sich mit dem Schulchan Aruch verträgt, ist Judentum. Eine Gleichberechtigung von Judentum und Nicht- judentum giebt es nicht. Die Aschkenasim und Sefardim sind gleichberechtigte Richtungen innerhalb des einen und desselben dem Schulchan Aruch gemässen Judentums. Was hier im ersten Abschnitt des ungarischen Organisationsstatuts konstatiert wird, ist zwar eine Selbstverständlichkeit für den, der über diese Dinge jemals nachgedacht hat, wer sich aber an die bayerischen Revisi- onskämpfe vor dem Ausbruch des Weltkrieges erinnert und noch weiss, wie damals in einem unter der Aegide der bayerischen Orthodoxie erschienenen Gutachten der Gegensatz zAvischen Ortho- doxie und Neologie in Parallele gesetzt wurde zu dem Gegensatz zwischen Aschkenasim und Sephardim, wird zugeben, dass die bayerischen Revisionsfreunde gut daran täten, wenn sie die Ruhe des Burgfriedens dazu benützen würden, um sich durch eingehen- des Studium des ungarischen Organisationsstatuts für die nach Friedensschluss vielleicht wieder beginnenden Kämpfe um die Re- vision des bayerischen Judenedikts würdig vorzubereiten.

Eine Gemeinde, die sich zum Organisationsstatut bekennt, ist Mitglied der Religionsgenossenschaft. Ob die Gemeinde wirklich in allen ihren Lebensäusserungen den im Schulcban Aruch kodifi- zierten Religionsgesetzen entspricht, danach kann und braucht die Religionsgenossenschaft nicht zu fragen. Ihr kann und muss es

322 Das orthodoxe Judentum in Mitteleuropa.

genügen, wenn sich die Gemeinde zu ihren Grundsätzen bekennt, um sie als Mitglied aufzunehmen. Hier ist der Funkt, wo die unjrarische Orthodoxie am verwundbarsien ist und auch seit Jahr und Tao; den schärfsten Angriffen austresetzt ist. Man spricht von einer politisclien Orthodoxie, von einer Art jüdischen Zentrums und stellt es als widersinnig- hin, dass ein foiniales Bekenntnis zu einem Organisationsstatut über den religiösen Cliar;ikter einer Gemeinde entscheiden soll. Man vergisst bei dieser Kritik, die oft recht feindselig: empfunden und hämisch vorgetragen wird, den Weg an- zugeben, den nach Meinung des Kritikers die ungarische Orthodoxie im Jahre 1870 hätte einschlagen sollen, um nach den Erfahrungen des Kongresses sicli autonom und lebensfähig zu eih.ilten. Einen anderen Weg, als den ste einschlug, gab es nicht, ihr kam es vor allem darauf an. Vorsorge zu treffen, dass jedenfalls die Gemeinden, die sich auf der Grundlage des Schulchan Aruch er- halten wollten, von der ebenso rührigen wie rücksichtslosen Keologie nicht verschlungen würden. Welch anderen Weg hätte sie nun einschlagen sollen, als in § 3 ihres Statuts die Parole auszugeben: „Der Anschluss der einzelnen Gemeinden an die selbstständige autonome jüdisch-orthodoxe Religionsgeuossenschaft Ungarns und Siebenbürgens wird durch die Annahme dieses Or- ganisationsstatuts bewerkstelligt. Der Anschluss von einzelnen Israeliten oder Gruppen, die sich nicht zu einer selbständigen Be- zirksgemeinde konstituiren. geschieht durch Einverleibung in eine jüdisch-orthodoxe Gemeinde, resp. in ein orthodoxes Kabbinat." Wer hier von der Schaffung eines jüdischen Zentrums spricht, soll zeigen, wie er's besser machen kann. Denn was an der ungar- isch-orthodoxen Religionsgenossenschaft ausgesetzt wird, das kann man mit demselben Fug und Recht auch an den einzelnen Ge- meinden aussetzen. Sind denn alle Mitglieder aller als fromm und orthodox geltenden Gemeinden Zadikim? Und wird deshalb Jemand, w^eil dieses oder jenes Mitglied einer auf Basis des Schulchan Aruch konstituierten Gemeinde in Gesinnung und Tat gegen den Schulchan Aruch verstösst, den orthodoxen Charakter der Gemeinde selbst anzweifeln? Wann die Zugehörigkeit zu einer jüdischen Gemeinde automatisch erlischt, darüber gibt es in jedem Gemeinde- statut Bestimmungen, die wohl nur dann gesetzmässig sind, wenn sie dem Geiste des Religionsgesetzes entsprechen, die aber durch- aus nicht selten auch Erwägungen der Oportunität ihre Aufstellung verdanken. Was aber bei einer einzelnen Gemeinde recht ist, wird wohl auch bei einer ganzen Religionsgenossenschaft als billig gelten dürfen.

(Fortsetzung folgt.) R. B.

JUEDISCME

mONflTSHeFTE

-T

I 4^

herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kohn, Ansbach, unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Sulomon Breuer, Pranlifurt a. M.

Jahrgang 3. Heft 11

Die Organisation der jüdischen Religionsgesell- schaft im Generalgouvernement Warschau*).

Von Rechtsanwalt Dr. Breuer.

Nur wenige Tage nach der Proklamation des polnischen Kö- nigreichs hat der deutsche Generalgouverneur die Proklamation der Juden des Generalgouvernements Warschau zu einer Religionsge- sellschaft des öffentlichen Rechts erlassen. Beide Ereignisse gehören zusammen, denn beiden kommt eine ganz ähnliche Bedeutung zu.

Noch ist Polen lediglich okkupiertes Gebiet, dessen endgültige Losschnürung vom russischen Riesenleib nur durch völkerrechtliche Anerkennung vollzogener Tatsachen erfolgen kann. Der Eroberer hat nur das Recht des Besitzes, dessen Umfang und Dauer von der Macht zum Besitz ganz und gar abhängt. Aus dem Besitz- recht sind beide Proklamationen entflossen, und sie enthalten inso-

I

fern keine eigene Gewähr ihres Bestandes.

Aber diese völkerrechtliche Selbstverständlichkeit tut der realen Folgenschwere beider Proklamationen keinen Abbruch: In ihnen hat der Eroberer den Staaten der Welt seinen endgültigen, unabänderlichen Entschluss kundgetan, alle ihm heute und späterhin

*) Wir gebt-n zunächst dieser allgemeinen Besprechung liaum und lassen demnächst eine Abhandlung über die einzelnen Bestimmungen des Statuts folgen. (Die Redaktion.)

324 Die Organisation der jüdischen Reliffi(tnsgesellschaft im

Generalgouvernement Warschau,

zur Verfügung stehenden Machtmittel dafür einzusetzen, das» die völkerrechtliche Anerkennung derjenigen Gestaltung der Dinge zu Teil werde, die, 'den Inhalt der Proklamationen bildet. Sie sind nicht nur eine feierliche Bekanntgabe deutscher Friedensbedingungen, sondern sie sind selber schon mitten im_Kriege vorweggenommene, dem Kriege abgerungene deutsche Friedensarbeit. In den uner- hörten Fluten kostbaren Menschenblutes, das die Erde deckt und die höchsten Höhen der Kultur verhüllt, sind sie das teure Oelblatt, das an entschwundene Glückszeiten mahnt, das an kommende Glücksmöglichkeiten erinnert. Während die Gegner auf Konferenzen sich bemühen,''/iie erforderlichen Massnahmen heute schon zu er- greifen, dass nicht die Flammen des Hasses, die gegenwärtig zwischen den Völkern lodern, nach Beendigung des Krieges allzufrüh unter der Asche tausendfältiger Menschentrümmer ersticken, trägt Deutsch- land Sorge, dags der Strahl der Freiheit, den seine siegreichen Waffen in die Nacht der Verfolgten unter den Kationen getragen, nicht wieder verlösche, sondern das" Morgenrot sei, des sich zum Tage entwickele.

Wie immer die Dinge kommen mögen: die Spuren dieser beiden Proklamationen werden sich nicht mehr tilgen lassen. Nie wieder wird Kongresspolen zu einem einfachen Zartum herabge- drückt, nie werden Kongrc^^spolcns Juden zu Väterchens Kammer- knechten zurückverwandelt werden können. Man kann Völker all- mählich versklaven, aber man kann die frei gewordenen nicht über Nacht unter die alten Ketten zwingen. Mögen die Proklamationen zunächst nur die binden, die sie erlassen haben : nach dem allge- waltigen Gesetz der historischen Entwicklung können sich ihrem Einfluss auch die Gegner nicht entziehen. Historische Tatsachen bedürfen, wenn sie nicht den Keim des Todes in sich selber tragen, keiner weiteren Anerkennung. Sie wirken, weil sie da sind und lassen sich nicht mehr ungeschehen machen. Hat es den Bourboncn genutzt, dass sie Napoleons Kaisertum nicht anerkannten? Als er selber längst vernichtet war und die Fülle der Macht in den Hän- den der Lilienkönige ruhte, erwiesen sich seine Schöpfungen, so- weit sie Leben in sich trugen, weit stärker »Is alle Massnahmen der Legitimität und brachten diese zu Falle.

Die Organisation der jüdischen Religionigesellschaft 325

im Generalffouverneraent Warschau.

Ik Mögen ferner die Gegner immerhin betonen, dass der Erobe- rer bei all seinen Handlungen im okkupierten Gebiet nichts anderes als seinen eigenen Vorteil im Auge habe, und die Befreiung der Unterdrückten ihm nie und nimmer Selbstzweck sei. Sie scheinen nicht zu ahnen, wieviel Schmeichelhattes sie damit über Deutsch- lands Sache sagen. Denn diese Sache kann doch keine gar so schlechte sein, wenn ihr Vorteil es erheischt, die Ketten der Skla- ven zu lösen und den Parias unter den Menschen den Genuss des Rechts zu gewähren.

Unendlicher Einfiuss kommt beiden Proklamationen auf die künftigen Friedensverhandlungen zu. Polens Juden werden das Schicksal der Juden Rumäniens nicht teilen. Nicht mehr am Schlüsse endloser Verhandlungen, wie weiland auf dem Berliner Kongress, wird man, noch kurz vor dem Abschied, eine belanglose Kund- gebung zu Gunsten der Juden entwerfen; Heute schon sind die Juden Polens unter die freien Menschen eingereiht und der künt- fige Kongress findet fertige Arbeit vor.

Denn dies und nichts weniger bedeutet der erste Satz des Judenerlasses, der die Juden zu einer Religionsgesellschaft des öf- '"entlichen Rechts proklamiert: er reiht die Juden als einen inte- ;^rierenden Bestandteil in den neu gegründeten Staat ein und macht lie jüdische Religion zu einem Gegenstand öffentlicher Pflege dieses Staates. Korporationen des öffentlichen Rechts dienen dem Staat ;ur unmittelbaren Erreichung seiner Zwecke. Die jüdische Religion, veit entfernt, ihren Bekennern staatliche Nachteile zu bringen, er- icheint vielmehr von mm an dem polnischen Staat neben den an- leren Religionen als taugliches Mittel zur Erziehung und Fortbil- lung seiner Bürger.

Ein vorgeschobenes Bollwerk westlicher Gesittung soll nach ileinuug seiner Gründer das neue Königreich werden. Drum musste ler Tag, der Polens Staatentum brachte, den Juden die Freiheit :ünden. Nie wird Polen den Zusammenhang vergessen dürfen, ler zwischen beiden Proklamationen tief innerlich besteht. In iesem Zusammenhang liegt der geheime Sinn des jungen Reiche» eschlossen.

326 Die Organisation der jüdische ReligionBgeseliachaft

im G«neralfouvernement Warschau.

II.

Der Blick schweift in die Vergangenheit, und dem ersten Jubel übor die königliche Tat folgt die bange Sorge auf dem Fusse.

Trauertöne, wohlbekannte, schallen ans Ohr der deutschen Orthodoxie und wecken die Erinnerung an Niedergang und Tod.

„Oberster Rat der Juden" (= Oberrat), „Verwaltungsrat dei Kreisgemeinde", »jüdische Grossgemeinde", „Gemeindezwang und Kultusverein": da sind sie ja, die guten Bekannten aus unserei Leidensgeschichte, da sind sie ja, die Deükmäler des guten Willens einer arglosen Regierung, des Fanatismus der sie raissbrauchendei] Reform, die Raben sind's, die sich an der Leiche des in eine wohlgezimmerte Verwaltung eingesargten badischen und württera- bergischen und* elsässischen Judentums mästeten, und ist nun die Zeit gar gekommen, da sie das lebenstrotzonde, thoragesättigte Judentum Kongrescpolens umkrächzen, ein gleiches Schicksal auch ihm weissagend ?

Uns, der deutschen Orthodoxie, waren Polens Juden stete eine geheime Hoffnung. Wir wiegten uns *in dem schönen Ge- danken, dass unsere Väter vielleicht nicht umsonst gelitten, dass, wenn auch wir nicht mehr in dem Masse zu retten waren, wie es die Grösse ihrer Kämpfe, wie es der Aufwand [an Geist, den sie daran gesetzt, wohl verdient hätte, so doch wenigstens den Juden Polens der Erfahrungsschatz zugute kommen werde, den sie uns, hinterlassen, die Juden Polens dermaleinst ihre Erbschaft antreten könnten, die wir ihnen bis zur Zeit zu hüten gewillt waren, da auch ihnen die Schicksalsstunde schlagen sollte.

Nun denn, diege Schicksalsstunde hat "geschlagen !

Nie seit den Tagen Moses Mendelssohns hat die europäische Judenheit folgenschwereres erlebt, als wir in diesem Augenblick. Die polnischen Juden, eben noch im tiefsten Ghetto schmachtend und von der Teilnahme an der europäischen Judengeschichte fast ausgeschlossen, werden plötzlich von dem rasenden Strudel der Ereignisse ergriffen und werden über Nacht der ordnenden Hand westlicher Staatsauffassung unterworfen.

Soll sich das alte Spiel wiederholen? Soll, wie einst bei uns, im Namen der Ordnung Erstarrung, im Namen der Bildung religi-

Die Orgaüisation der jüdischen Religionsgeeellichaft 327

im Ganeralgüuvernement Warachau.

Öse Unwissenheit im letzten, im grössten Reservoir europäischer Geeetzestreue Platz greifen? Gar manche Spuren führen in die Höhle des Oberrats. Aber keine Spuren führen aus ihr hinaus.

Die grossen Gesetzeslehrer Polens, die neben ihnen wirkenden Männer hinreissender Frömmigkeit, sie alle, deren Autorität bis jetzt in dem ihrer Persönlichkeit freiwillig gezollten Tribut wurzelte, wie werden sie, bis jetzt ein jeder eine Welt für sich, zu diesen Gebilden moderner Verwaltungstechnik sich verhalten? Wird in diesen Gebilden, deren Masse nach dem Durchschnitt genommen sind, Platz für sie sein, dass sie nicht, wie einst bei uns, refor- mistischen Schwätzern weichen müssen?

Und vor allem: die religiöse Wahrheit, die jeden Gegensatz als Lü^e begreifen und bekämpfen muss, wird sie nicht genötigt sein, unter dem gemeinsamen Dache der Zwangsorganisation mit hierarchischer Spitze die Lüge neben sieh zu dulden und damit sich selbst zu gefährden? Müssen nicht wir vor allem, denen Rab- biner Hirsch s. A. gezeigt hat, dass eine jüdische Organisation nur gesetzestreu oder gesetzlos, niemals aber beides zugleich sein könne, müssen nicht wir die Errichtung der Zwangsorganisation in Polen als ein ungeheures Unglück begreifen, angesichts dessen ihre politischen Vorteile gar nicht in Betracht kommen können, 'ja müssen wir nicht sogar befürchten, dass die polnische Zwangs- 'organisation auch in Preussen zum Muster und Vorbild werde und den Rest des Lebens ersticke, das kümmerlich genug sich bei uns 'noch erhalten hat?

So folgt dem ersten Jubel die bange Sorge auf dem Fusse.

IIL

Ueber Jubel und Sorge muss die Klarheit der Distinktion zur Erkenntnis der Aufgabe führen.

Der deutsche Generalgouverneur fand sich in Polen einem überaus schwierigen Problem gegenübergestellt. Russischer Herr- ^chermethode hatte es entsprochen, die polnische und die jüdische Rasse gegen einander auszuspielen. In völliger Getrenntheit roll- iog sich das jüdische und das polnische Kulturleben, und es gab ieinen Mendelssohn, der eine Verbindung und Versöhnung beider Elemente erstrebt hätte. Die russische Fremdherrschaft gestattete

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im Generalgouvernement Warschau.

der polnischen Kultur nicht, frei ihre Schwingen zu entfalten un sich, gleich der deutschen, 7ai einer übernationalen, zu einer un verseilen Bedeutung zu erheben, die den Anspruch hätte hege können, dass sich das Judentum mit ihr auseinandersetze und ihre Ewigkeitswerten Anerkennung zolle. Ein Prozess des Ausgleicl zwischen Judentum und Tolentum, wie er etwa zwischen Judentu und Deutschtum yor mehr als einem Jahrhundert begonnen, wj solchermassen noch nicht einmal im Entstehen begriifeu.

Nun sollte der Polenstaat gegründet werden. Dass es ei polnischer Nationalstaat werden musste, stand von vornherein fee Die Erfüllung polnischer Sehnsucht nach staatlichem Eigenlebe sollte er ja bringen und sollte der lange geknechteten polnische Nation die Möglichkeit allseitigen Sichauslebens gewährleisten. D: polnische Nation, bis jetzt selbst in Polen nur ein unterdrückt« Volksteil neben dem anderen, wird Herrin im Hause und schiel sich an zu regieren.

Was aber soll mit dem anderen Volksteil, was aber soll mit de Juden geschehn? Sollen sie nur den Despoten wechseln und di russische Knute mit dem begreiflichen Uniformierungsfanatismi einer zu neuem Leben erwachten Herrschernation vertauschen?

Unmöglich! Die Polenproklamation darf nicht ohne die Judei Proklamation in die Welt gehen, soll nicht das Recht gekiänkt seil

Aber wie soll sie lauten ?

Drei Wege stehen offen. Einen vierten giebt es nicht.

Die Judenproklamation konnte eine rein politische sein: Si konnte sich darauf beschränken, aus den geknechteten Juden vo gestern israelitische Polen von heute zu machen und ihnen dg volle Mass staatsbürgerlicher Rechte sicher zu stellen. Von d( jüdischen Religion hätte sie alsdann völlig schweigen dürfen. E hätten, etwa nach preussischem Muster, etlicbe Normativbestin mungen für die israelitischen Gemeinden genügt, und neben dei etwaigen Gemeindezwang hätte eine Austrittsklausel allenfalls nid zu fcihlen brauchen. Im übrigen wären die israelitischen Polei etwa nach preussischem Muster, ins Polentum einzureihen gewese und dann : Gute Nacht, polnisches Judentun

Ich wage es offen auszusprechen: Dieser Weg hätte nur de

Die Organiiation der jüdischen Religionsgesellschaft 329

im GeneralgouverneDsent Warschau.

Assimilanten Vorteil gebracht, die polnische Judenorthodoxie aber jählings gemordet. Er hätte ihr religiöses Leben, das nirgends umfassender wie gerade dort zu einem echten jüdischen Kultur- leben, soweit es in der Diaspora und unter »(immerwährender Knechtung möglich, sich ausgeweitet hatte, der ungeheueren Ge- fahr völliger Polonisierung ausgesetzt, der es umso eher unterlegen wäre, je weniger irgend welche Vorbedingungen zu einem ge- wissenhaften Ausgleich zwischen Judentum und Polentum bereits vorhanden waren und je dringender der junge polnische Staat den Wunsch hegen musste, die polnische Kultur auf schnellstem Wege zur Aileinherrscherin auf polnischem Boden zu machen. Nur als organisierte Einheit kann das polnische Judentum dem Ansturm des Poientums gegenüber sein Dasein behaupten. Die Organisation muss jene andere Einheit ersetzen, die unter der Russenherrschaft die politischen Knechtungsgesetze geschaffen hatten. Den Juden die politische Freiheit zu geben und damit die bisherige Knechtungs- einheit aufzuheben, im übrigen aber die nunmehr isolierten Juden- gemeinden dem Ansturm des mit der Macht des Staates umkleideten Polentums auszusetzen : das hiess nichts anderes, als das Judentum der politischen Freiheit zum Opfer zu bringen. Nur Assimilan- ten konnten dies wünschen.

Aber die Judenproklamation konnte auch eine rein nationale sein. Sie konnte die als notwendig erkannte Herstellung einer organisierten Einheit des Judentums auf nationaler Grundlage vor- nehmen und die Juden zu einem von den Polen zu achtenden und in seiner nationalen Eigenart zu fördernden Volksstamm fremder Herkunft gestalten. Von der jüdischen Religion hätte auch diese Proklamation schweigen können und hätte statt dessen die Bildung jüdischer Wahlkurien für alle politischen Wahlen sowie das System der politischen Verhältniswahl gewährleisten müssen. In Polen hätte es alsdann auch Juden ohne jüdische Religion geben könuen und dann : Gute Nacht, polnisches Judentum!

Wieder spreche ich es offen aus: Dieser Weg hätte nur den Zionisten Vorteil gebracht, das Judentum in Polen aber ruiniert. Statt der polnischen Propaganda wäre das polnische Judentum dem im Grunde weit gefährlicheren zionistischen Ansturm ausgesetzt

k

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im Gener»lgouverneraent Warschau.

gewesen, gefährlicher deshalb, weil er aus dem eigenen Schosse hervorgegangen wäre und in der gesetzlichen Anerkennung eine ungeheure Stütze gefunden hätte. Die eigenartige Kultur des polnischen Judentums, bisher mit vollendeter Ausschliesslichkeit in der Religion wurzelnd, hätte nach sattsam bekanntem Muster eine durchgängige rein nationale Umdeutung erfahren und innerhalb der auf nationaler Basis rnhenden Einheit wäre alsbald ein Kultur- kampf ohnegleichen entbrannt. Mit allen Mitteln der leidenschaft- lichen zionistischen Agitation auf den Schauplatz politischer Be- tätigung gerissen, wäre die Jugend gar bald dazu gebracht worden, Geist und Herz für nationale Scheingüter zu verschwenden, denen, am Massstab des Judentums gemessen, jedwede Eigenbedeutung abgeht. Eine vollendete Umwertung aller jüdischen Werte hätte sich umso schneller vollzogen, je verlockender die völlig neuartige Betätigung erscheinen musste und je mehr man es verstanden hätte, sie als höchste „Ehrensache" jedes „treuen" Juden zu deklarieren. Erfahrungsgemäas hätte zudem eine rein nationale Organisation nicht einmal einen genügenden Schutz vor der polnischen Kultur- propaganda gewährt, da infolge der zionistischen Aushöhlung des jüdisch-religiösen Kulturinhalts polnische Kulturwerte von selber in den leeren Raum gedrungen wären. Zionismus ist Assimilation unter nationaler Flagge.

So blieb denn nur der dritte Weg übrig: Die Judenprokla- mation musste eine religiöse sein. Getreu der geschichtlichen Tradition musste die jüdische Religion zur alleinigen Grundlage und zum Wesensinhalt der organisierten Judeneinheit werden, selbst auf die Gefahr hin, dass innerhalb dieser Einheit schwere religiöse Kämpfe ausbrechen könnten.

Ich gestehe : nur die furchtbare Lage, in der sich das aus Knechtschaftseinheit plötzlich entlassene polnische Judentum in seiner Zerstückelung gegenüber dem mit Naturnotwendigkeit nicht nur nach politischer, sondern auch nach kultureller Allein- und All- herrschaft strebenden Polentum befunden hätte, kann auch in unseren Augen diese hierarchische Organisation, die wir in Baden und Württemberg als schwerstes Unglück beklagen und vor der uns in Preussen der gütige Gott bewahren möge, rechtfertigen.

Die Organisation der jüdischen ReligioDsgetcllschalt 331

im Generalgouvernement Warschau.

Denn ehe das Judentum in Polen der Tummelplatz haltloser Assi- milanten werden, ehe es zionistisch verkommen soll: lieber möge es durch Errichtung einer religiösen Organisation vor die schwere Aufgabe gestellt werden, die frei geborene, am Ideal entzündete Begeisterung und Hingabe in einen ihr innerlich fremdartigen Verwaltungsapparat hineinzuretten und gegen die Willkür des Un- glaubens und des Abfalls zu verteidigen. Ein von Kämpfen um Gottes einzige Wahrheit erfülltes Judentum ziehen wir einem Ju- dentum unbedingt vor, das für einen Sitz im Parlament wie für ein beiliges Palladium streitet, während die Lehre verachtet zur Seite steht.

Keben der Polenproklamation musste eine Judenproklamation kommen. Das reiche, umfassende religiös-nationale Leben des pol- nischen Judentums konnte der deutsche Generalgouverneur nicht einfach ignorieren und damit dem Polentum wehrlos ausliefern. Dass diese Proklamation die Religion als alleinige Grundlage der selbständigen polnisch::jüdischen Kultur anerkennt, ist ohne Zweifel ein bedeutender Erfolg der Orthodoxie. Man darf nicht vergessen, dass die neue jüdische Organisation ja nicht nach dem deutschen Muster im wesentlichen nur den synagogalen Gottesdienst und den Religionsunterricht zum Gegenstand hat. Nach § 3 ist Aufgabe der jüdischen Gemeinde neben der Pflege des religiösen Lebens die gesamte Erziehung der Jugend, die Armenpflege wie überhaupt die gesamte soziale Fürsorge. Hier sieht man deutlich den Zweck der Organisation: die kulturelle Eigenart des polnischen Judentums zu erhalten, zu pflegen und zu fördern. Wenn aber diese umfas- sende kulturelle Eigenart, deren staatliche Anerkennung den Assi- milanten ins Gesicht schlägt, statt national ausschliesslich religiös radiziert wird, so hat die Orthodoxie am wenigsten Grund, sich über diese von ihr stets als richtig vertretene, zutreffende Erfassung des Wesens des Judentums sonderlich zu beklagen.

Dazu kommt aber noch folgendes: Sind wir richtig nH'^ntiert, so giebt es zwar auch in Polen dem jüdischen Gesetz Enllrcmdete, aber es giebt kein System des Abfalls, keine Geiger und Philipp- sohn, die, als Nachfolger der höchsten jüdischen Gesetzeswürden- träger sich dünkend, das Recht zu lösen und zu binden als ihnen

332 Die Organisation der jüdischen Religio nspesellschaft

im Generalgouvernemei t Warschau.

legitim zustehend arrogierten, Es fehlt in Polen dem Abfall das Pathos, mit dem er sich weiland in Deutschland zu umkleiden wusste, es fehlt ihm der blendende Glanz, den die vor den Wagen der deutschen Reform gespannte deutsche Kultur ihm in Deutsch- land verlieh. Noch ist die Einheit des religiösen Bekenntnisses in Polen nicht wesentlich gefährdet, und die Einheit der religiösen Organisation legt sich", nicht schmerzend um zentrifugale Glieder.

Und endlieh: während in Deutschland die grossen Rabbinen mit seit den Tagen des Eibenschütz'schen Streites und seit den Tagen des Meudelssohnstreites völlig gebrochener Autorität in den Kampf mit der Reform der neuen Zeit eingingen, ist annoch die Autorität der polnischen Rabbinen völlig unversehrt und wird selbst von den Söhnen des Abfalls nicht angetastet. An ihnen, den ge- borenen und erkorenen Führern ihres Volkes wird es liegen, mit frischem Mut und in froher Zuversicht auf göttliche Hilfe sich auf den Boden der Organisation zu stellen und so manche Handhaben wirksam zu gebrauchen, die ihnen das unverkennl)are Wohlwollen des Statutes bietet.

Auf deutschem Boden sind die Zwangsorganisationen g e- richtet. Aber in Polen fängt gewissermassen die Geschichte, wie man zu sagen pflegt, erst von vorne an. r^o grundverschieden die polnischen Verhältnisse, die auf einem massiven jüdischen Volkstum beruhen, von den deutschen Verhältnissen sind, so grund- verschieden können vielleicht die Erfahrungen, die die polnische Orthodoxie mit der Zwangsorganisation macht, von den unsrigen sein. Der Geist ist alles, der Buchstabe nichts. Die belgische Verfassung, fast wortwörtlich nach Preussen übertragen, hat gleich- wohl in Preussen eine ganz andere Praxis erzeugt als wie in Bel- gien. In Belgien hat sie ein nicht wurzelständiges, künstlich ein- gepflanztes Königtum in völlige Abhängigkeit vom Parlament ge- bracht, aber in Preussen hat sie die historische Stellung des nati- onalen Königtums nicht grundsätzlich zu erschüttern vermocht Viel- leicht kommt es in Polen ebenso. Die Geschichte kennt keine getreuen Wiederholungen.

üeber Jubel nnd Sorge führt die Einsicht in die Notwendig- keit dieser Organisation zur Erkenntnis der gewaltigen Aufgabe,

Die Organisation der jüdischen Eeligionsgesellschaft 333

im Generalgouvernement Warschau.

vor die sie die Gesetzeslehrer des polnischen Judentums stellt. An ihnen wird es sein, die Erfahrungen, die unsere Väter auf deutschem Boden erworben, sich anzueignen und nutzbar zu machen. Die grösste Gefahr droht von dem Mechanismus der Verwaltung, der gerade in religiösen Dingen so gerne ein Scheinleben an Stelle des frisch pulsierenden, wenn auch der Regelung wider- strebenden Lebens setzt. Die zweite Gefahr droht von den Söhnen des Abtalls, die, wenn vielleicht einmal zu grundsätzlicher Klärung gelangt, im Rahmen der Organisation gleichsetzende Anerkennung heischen und damit die jüdische Wahrheit entstellen könnten. Ge- lingt es, die erste Gefahr zu vermeiden, so wird auch die zweite nicht zu fürchten sein. Das Verhängnis des deutschen Judentums bestand keineswegs darin, dass ihm zn spät oder zum Teil gar nicht die Möglichkeit des „Austritts" geschaffen worden ist: lange, ehe die Austrittsmöglichkeit bestand, blühte in Frankfurt, von ge- nialem Geist geweckt, neues jüdisches Leben empor. Das Ver- hängnis lag vielmehr in der allmählich eintretenden Versandung, hervorgerufen durch Unkenntnis des Gesetzes, die wiederum auf einem falschen Erziehungssystem beruhte.

Vor dieser Versandung schütze Gott das polnische Judentum. Dann wird es sich, was den „Austritt" anbetrifft, schon selber zu helfen wissen.

Mitten im grossen Krieg bricht solehermassen für das pol- nische Judentum eine neue Zeit an. Die Zeichen der Schmach fallen von ihm ab, von den Schlacken der Knechtschaft wird es sich reinigen. Wunderbar ist die Stimme Gottes. Ihr Schall ruft zu Verwüstung und Graus und zu unerhörtem Morden. Aber der nämliche Schall weckt aus Verwüstung und Graus neues, junges Leben.

Gott stähle Seinem Volke die Kraft und segne Sein Volk mit dem Frieden.

334 Darf ein Deuterojesaja gelehrt werden ?

Darf ein Deuterojesaja gelehrt werden?

Was verstellt die ,, Wissenschaft" unter Deuter(\)esaja? Das ist bald gesagt. Nichtjüdische Interpreten des Prophetenliuches lassen Jesnja nur bis zum 40ten Kapitel die Autorschaft. Vom 40ten Kapitel ab und weiter spräche ein anderer Verfasser, der, da sein Name nicht bekannt, von ihnen Deuterojesaja genannt wird. Das ist nun weiter kein Gegenstand der Aufregung. Seitdem unser Gottesbuch auch in unjüdischen Händen ruht und mit un- jüdischem Auge und unjüdischer Gesinnung gelesen wird, niuss es sich gefallen lassen, als Spielball einer vorgefassten „vorurteils- freien" Forschung zu dienen, unter deren Hand, nach subjektivem Belieben mehr oder weniger zerzaust, es von vorne herein fest- stehende Theorien zu stützen hat, ode^, gründlich präpariert, keiner auf anderem Boden erwachsenen ,,wissenschaftlicheu" Hy- pothese sich hindernd mehr in den Weg stellt. Es darf uns daher auch nicht Wunder nehmen, dass, nachdem einmal die Wissenschaft neben Jesaja einen andern, freilich namenlosen Verfasser entdeckt hatte, der wissenschaftliche Fortschritt in gründlicher Erforsch i;ng des Prophetenbuches nicht stehen bleiben konnte. Es stellte sich denn bald heraus, dass es nunmehr auch unmöglich sei. Je- saja den ersten Teil seines Buches bis Kap. 40 zu gönnen. Er durfte höchstens bis Kap. 12 gesprochen haben. Kap. 13 23 hat gleichfalls einen selbständigen Verfasser. Kap. 24 35 gar mehrere, Kap. 36 39 sind überhaupt nur zufällig hineingeraten, und auch Deuterojesaja blieb nur kurze Zeit in unbestrittenem Besitz seiner Kap. 40—66, um bald erfahren zu müssen, dass die Wissenschaft ihm zu viel zugetraut, er höchstens bis Kap. 55 und auch nicht durchweg das Wort haben dürfe, da die ,,Ewed"-Lieder einem selbständigen Verfasser zuzus])rechen seien, und dann erblickte zu guter Letzt noch ein „Tritojcsaja'- das Licht der Welt! Aber auch diese Scheidung ist natürlich noch viel zu wenig wissenschaftlich! Der versteht nichts von ,, innerer Kritik'", der nicht bei genauem Zusehen merkt, dass die Worte dieser Jesaja-Schriftsteller ineinan- der gewürfelt das ist nämlich eine merkwürdige Eigenschaft „alttestamentlicher Schriften sodass modernere Jesaja- Ausgaben

Dart ein Deuterojesaja gelehrt werden? 335

(wir nennen nur beispielsweise die von B. Duhm) den Drucker bitten mussten, ihnen mindestens acht verschiedene Schrifttypen (!) für den Text des Prophetenwortes zur Verfügung zu stellen, damit so dem Leser deutlich und übersichtlich der „gereinigte" Text vorgelegt werden könne. So erst nähert sich die biblische Wissen- schaft den unerlässlichen Anforderungen kritischer Akribie.

Solches Verfahren mag jüdisches Empfinden verletzen, und gesundes, vorurteilsfreies, wissenschaftliches Denken allmählich em- pören. Denn wer die Unterlagen prüft, die den Gelehrten das Recht zu solchen Verstümmelungen geben, wird uns zustimmen, dass wir jederzeit bereit sind, mit genau so viel Recht den Nach- weis zu erbringen, dass auch die Schriften Schillers und Goethes unmöglich etwas anderes als eine Sammlung einer ganzen Reihe von Schriftstellern sein können!! Unser Trost aber mag jenes alte Weisheitswort (Midrasch Rabba Ex. Abschn. 47) sein, das das alles vorausgeschaut, und deshalb von uns desto mehr erwartet, dass wenigstens wir uns rein erhalten von unjüdischer Anschauung und das schriftliche, so blutig zerfetzte heilige Wort der Bibel wenigstens in unserer Mitte, geschützt durch das Gefäss mündlicher üeberlieferung, eine vor Verun- glimpfung gesicherte Heimstätte finde.

Desto schmerzlicher musss es uns berühren, wenn auch in unserer Mitte jüdische Denker nicht zurückschrecken, aus „wissen- schaftlichen" Gründen Bahnen zu betreten, die, was sie sicherlich nicht wollen, den Ruin unserer jüdischen Heiligtümer zur Folge haben müssen. Darf ein Deuterojesaja gelehrt werden ? Diese Frage richten wir, so betrübend es ist, an unsere Kreise. Denn es ist traurig, dass eine solche Frage überhaupt gestellt werden darf. Denn wer den Deuterojesaja zugiebt, wer die Autor- schaft der Kap. 40 66 unserem Jesaja aberkennt, hat auch kein Recht, sich gegen die weitere Zerstückelung des Buches zu sträuben und muss ruhig mit ansehen, wie unser herrliches Prophetenbuch Stück auf Stück unter dem blutigen Seziermesser der Wissenschaft sein edles Leben verhaucht.

Unsere heiligen Ueberlieferungen wissen aber nichts von einem Deuterojesaja, haben vielmehr klar und deutlich

336 Darf ein Deuterojesaja gelehrt werden?

die mit Kap. 40 einsetzenden .,T r o s t e s w o r t e" de m Jesaja des ersten Teils zugesclirieben.

a) Baba bathra 15b gruppiert eine bekannte Boraitha unsere Propbetenbüeher im Gegensatz zu der üblichen Reihenfolge der Massora nach innerlichen Gründen und da steht rr'yz^"' 'c obgleich, wie dort bemerkt, n^V^'' Zeitgenosse von nD''D ü^DV W^^ gewesen, nach '^Npm^ 'd: n'^V^^ ^^*pT^^ n"'0"i^ D^jbü ö^ü^i: b^ pic. Die Begründung lautet: den Königsbüchern, die mit dem Unter- gang des Staates enden, schliesRt sich das Buch n^Dl^ an, das ganz im Zeichen des Untergangs steht, ihm folgt ^Hpin"' 'C, das T)'^''^'^! NnonJ n^C'DI {«i^lin zu Beginn den Untergang schaut, aber dann den Blick in die tröstliche Zeit der Geula erhebt, dem sich dann innerlich n^J?tt'^ 'D anschliesst: «rrn: n^^p n^ytt'M So sehr war ihnen das ganze Buch ein Trosteswort, dass selbst die Teile, in denen der Prophet den Verfall seiner Zeit geschaut und das Go- luthgescbick seines Volkes in erschütternden Worten gezeichnet, ihnen nur als dunkler Hintergrund erschien; von dem die glänzenden, beseligenden Verheissungen einer grossen, von Gott verbrieften Zukunft desto leuchtender sich abheben.

b) Midrasch Echa (Kap. 1) zieht eine Parallele zwischen Je- saja und Jirmeja und kommt zu dem Ergebnis mJ^IDi bj^ ii)i')ü nn« jNDni -^V^"^ nnpn bt^i^'' bv n^Di^ ^iDJn:)tt' nwp, dass für alle schweren Verkündigungen, die Jirmeja gesprochen, Jesaja schon im Voraus die endliche Heilung verheissen, und da werden fast ausschliesslich Verse aus Kap. 40—66 herangezogen, die Jesaja vor Jirmeja gesprochen habe! Der Deuterojesaja aber hat erst lange nach Jirmeja gelebt!

c) In mehreren Stelleu der Pessikta (s. zu lOni) werden Worte aus dem ersten und zweiten Teil des Prophetenbuches aus- drücklich einem und demselben Propheten in den Mund gelegt (s. auch Jalkut zu Kap. 6 ICIDH "in^l^m "liiy iC"i).

d) Jebamoth 49b berichtet eine bekannte talmudische Ueber- lieferung von der Ermordung Jesajas durch Menasche. Es werden Menasche Worte der Anklage in den Mund gelegt, die er gegen den Propheten erhoben. Menasche habe zum Propheten gesprochen: ,,Dein Lehrer Mosche meinte ^m DIJ^D "'^i^T' üb P, wie konntest du

Darf ein Deuterojesaja gelehrt werden? 337

sagen: «tt'il Dl NDD !?yrD^V_'n HN HN^Ni (K. 6)? Dein Lehrer jMosche meinte I^^N lIN^p ^DD irp*?« 'n2 ^D Du aber sprichst: INÜDH^ 'n Vi'"i"i (K. 42!)"— Armer Prophet! Du hcättest doch zu deiner Lel)ens- rettung auf die zweite Anklage entgegnen können : Von Kap. ab bin ich es nicht, das war ein Anderer

Nachdem tür uns erwiesen ist, dass unsere talraudische Ueberliefernng nur einen Jesaja kennt, dem sie beide Teile des Buches zuschreibt, müsste es sich tür uns erübrigen, noch weitere Momente geltend zu machen, die es uns verbieten, von einem Deuterojesaja zu sprechen.

Wir könnten Fr. Delitzsch zitieren, der in besonnener, man- chen jüdischen Forscher beschämender Reserve auch auf die grossen Bedenken hingewiesen, die der Annahme eines Deuterojesaja gegenüberstehen. Für ihn ist das Buch noch von einem Geist getragen, für ihn tragen noch sämtliche Kapitel jesajanisches Ge- präge, für ihn hat das^ganze Buch noch einheitlichen, wunderbaren Aufbau, wonach der erste Teil innerlich und bewusst zum zweiten Teil hinüberführt. Er kann die Assur-Kapitel des ersten Teils nicht lesen, ohne die Emptindung zu haben, in ihnen nur den Unterbau zu den die Babel Katastrophe schauenden Weissagungen zu besitzen, für ihn enthalten Kap. 14, 21 oder 35 grandiose An- schauungen, die erst durch die unvergleichlichen Worte des zweiten Teils ihren vollendeten Abschluss erhalten. Und wenn er auch die Frage eines Deuterojesaja nicht ablehnt, so war sie ihm doch ein nicht mit Bestimmtheit lösbares Problem, über das auch ferner ,, undurchsichtiger, dichter Schleier-' liege - und noch war De- litzsch nicht zu der frivolen Kühnheit modernster Jesajafor- scher fortgeschrittfn, für die es der ,. ganzen Kritik- und Verständ- nislosigkeit" der letzten Jahrhunderte vor unseier Zeitrechnung bedurfte, den Deuterojesaja, den „grössten Idealisten unter den Propheten" für eine Person mit dem „grossen Realisten des achten Jahrhunderts" zu halten!

Da haben wir die berühmten Schlagwörter. Der Jesaja des ersten Teils lebte im 8. Jahrb., er war „religiöser Politiker" schreibt ,für die Politik des Tages", war Realist. Der Deutero- jesaja des 6. Jahrh. mit seiner „beweglichen Phantasie und grosser

338 Darf ein Deuterojesaja gelehrt werden?

Gefühlswärme", seinem „höchst sanguinischen, lebhaften und ge- räuschvollen Temperament" Idealist von reinstem Wasser. Nun leistet sich der Realist freilich auch im ersten Teil die bekannten messianischen Verheissungen und die Ausblicke in die Zeit des ewigen Friedens, und auch die Auferstehung der Toten ist ihm eine, herrliche Gewissheit da ist aber eine wissenschaft- liche Kritik nicht verlegen. Der Realist kann natürlich solche ideologische Phantastereien nicht gesprochen haben. Sie werden ihm einfach entzogen, ein anderer Autor ist geboren, und der Re- alist ist gerettet und Deuterojesaja mag ruhig weiter den Vor- zug besitzen, im Gegensatz zum Realisten des ersten Teils der Idealist unter den Propheten zu sein!! Das nennt sich Wissen- schaft !

Da lobe ich mir doch noch besonnene Forscher, denen es angesichts der vielen Jesaiase, die so unter der Hand der „inneren Kritik'" entstehen müssen, denn doch etwas schwül zu Mute wird. Ihnen erscheint es wenigstens noch seltsam, dass ,,der Geschichts- schreibung alles Wissen um diese jesajanische Prophetenreihe ab- handen gekommen", rätselhaft, dass „der Name des grossen Exils- propheten (Deuterojesaja), welcher der Rückkehr aus. dem Exil ungleich näher stand als Ezechiel, der Vergessenheit verfallen ist", mehr noch, dass dem „Sammler" dieses Buches alle Namen unbe- kannt waren, obgleich sie ihm doch zeitlich näher standen als der alte Jesaja.

Dass man aber auch gar keine Anzeichen hat, wer wenigstens dieser Deuterojesaja, der bedeutendste (von den Dutzend anderen nicht zu reden!), gewesen, oder wenigstens wo er gelebt. Doch halt! Man ist ja nicht umsonst Wissenschaftler. Der Deutero- jesaja verrät Kenntnis der babylonischen Weltstadt (K. 47) kennt babylonische Ströme (44,27) und Babylons Schiffahrt (43,14) er lebte demnach in Babylon! Grossartig. Wo überall müssen wohl die Propheten gelebt haben, die in ihren welthistorischen Ver- kündigungen eingehendste Charakteristik von Land und Leuten der Staaten bieten, über die sie im Namen Gottes den Wehruf er- heben. Doch nein, sagt die neueste Forschung: er lebte wahr- scheinlich im nördlichen Phönizien. Man lese nur K. 49,12. y'\ii D^^iiD sei, so vermutet sie, Phönizien. Der Prophet hebt aber dieses

Darf ein Deuterojesaja gelehrt werden? 339

Land wohl nur deshalb hervor, weil er dort gelebt! Wirklich, streng wissenschaftlich.

Nun hat freilich die ., innere Kritik" auch Momente geltend gemacht, die für die Einheitlichkeit des Buches sprechen. Beide Teile verhalten sich in gleicher Weise zu anderen biblischen Schritten: sie enthalten beide Reminiszenzen an Ijob, ihr Verhalten zu Miclia'*^und Nacbum sei genau das gleiche (Delitzsch), und alles spreche datür, dass Jirmeja ') Kenntnis von beiden Teilen des Jesajabuches gehabt habe (Caspari). Dagegen werden aber auch stilistische Verschiedenheiten vermerkt und Worferscheinungen verzeichnet, in denen die beiden Teile des Buches auseinandergehen. Es erübrigt sich für uns, auf das Haltlose solcher Argumente hin- zuweisen, da man auf Grund solcher Entdeckungen mit demselben Recht jederzeit imstande ist, einem Schriftsteller seine feststehenden literarischen Erzeugnisse abzusprechen. Ich bin jeden Augenblick bereit, mit derselben wissenschaftlichen Methode zu beweisen, dass auf Grund stilistischer und grammatischer Verschiedenheiten Schiller unmöglich der Verfasser der Räuber und zugleich der Braut von Messina sein könne! Wer aber auch nur einigermasseu den frivolen Missbrauch kennt, der mit dieser wissenschaftlichen Me- thode getrieben wird, wird als gewissenhafter Jehudi sich scheuen, an Jesaja eine Methode anzulegen und aus ihr Schlüsse zu ziehen, die mit demselben Recht auch zur Zer- stückelung unserer Thora führt und geführt hat! Was dort recht ist, ist auch hier billig,

Wer die über „Deuterojesaja" entstandene Literatur auch nur oberflächlich prüft, wird aber zur Erkenntnis kommen, dass weder stilistische noch grammatische Erwägungen den Ausschlag gegeben haben, als es galt, Jesaja die Autorschaft von Kap. 40 ab zu nehmen. Folgendes stand aber im Weg. Jesaja lebte im 8. Jahrb., und er sollte das damals noch unbeachtete Babel in seiner weltgebietenden Herrscherstellung, sein armes jüdisches Volk jedoch in Babels Mitte im Elend geschaut haben, er sollte Jahrhunderte voraus in die Mitte seines Goluthvolkes getreten sein, um mit Worten des Trostes die Untröstlichen aufzurichten, Jahrhunderte voraus ihnen Geula, Erlösung zu verkünden, Jahrhunderte voraus ihnen

^) Wir behalten uns vor, auf diesen Punkt gelegentlich näher einzugehen.

340 Darf ein Deuterojesaja gelehrt werden?

den Namen des Herrschers zu nennen, den Gott vom Norden ge- weckt, und der vom Sonnenaufgang in Gottes Namen den babylo= nischen Staat zertrümmern und dem geknechteten Volke Erlösung bringen sollte Jesaja lebt im achten Jahrh. und soll das alles geschaut, voraus verkündet, voraus erlebt und Cyrus mit Namen genannt haben?

Das macht eine Wissenschaft nicht mit. Der Verfasser von Kap. 40 ab lebt natürlich im sechsten Jahrh. und mit genialer Einfachheit ist man von der unbehaglichen, unheimlichen Geschichte befreit. Der Deuterojesaja hat ihr die Erlösung gebracht! Unserer Wissenschaft ist eben nichts unmöglich.

Mau versuche aber freilich den anonymen Goluthpropheten, den Zeitgenossen des Cyrus, nunmehr zn lesen.

Zu einer grossen, nichtjüdischen Welt gewandt, spricht er: , .Bringt euren Streit her, wird einst Gott sprechen „sie mögen uns doch einmal darlegen und sagen, was sich begiebt. Sprechet auch nur einmal die bereits geschehenen Er- eignisse also aus, dass wir unseren Sinn darauf richten und ihre einstigen Ausgänge erkennen können; oder lasset uns hören, was im nächsten Augenblick geschieht (K. 41. 21 22)

,,Ich habe aus dem Norden (Cyrus) geweckt, und er kam, vom Sonnenaufgang ruft er in meinem Namen, und er kommt über Fürsten und sie werden ihm wie Ton ,,Wer hat das von An- fang an verkündet, so dass wir es wussten, von längst her, dass wir nun sagen, er ist gerechtfertigt? Niemand eizählt, niemand verkündet (V. 25—26)

Ei, der tut doch so, als ob er von Uranfang das verkündet und er lebt doch zur Zeit des Cyrus! Seltsam. Weiter.

,,Alle Völker sind versammelt, Staaten mögen sich zusam- mentun, wer unter ihnen kann das verkünden (43, 9)

„Ich bin's, der das Wort seines Dieners verwirklicht „bin's, der zum Cyrus spricht: sei mein Hirte (44, 2(3. 28) ,,So hat Gott zu seinem Gesalbten, zu Cyrus gesprochen (45,1) wer hat das von Anfang an hören lassen, von jeher dies verkündet? Ich, Gott (V. 21).

?Dip:2 nj^T T^]i;n ^c Der Redner scheint sich zu irren ist doch Zeitgenosse des Cyrus!

Darf eia Denterojesaja gelehrt werden? 341

Und gar: ,, ich verkündigte sie (die Erlösung aus Babel) dir längst voraus, bevor es eintrat, Hess ich es dich hören, damit du nicht sagest, mein Götze hat sie gestaltet (48, 5 usw.)

Angesichts solcher Worte bleibt nichts anderes übrig, als von der „poetischen und religiösen Naivität'' des Denterojesaja zu reden , .jeder beliebige Andersgläubige würde ihn widerlegt, wo nicht gar verlacht haben er hat nicht das kleinste Körnchen Selbst- kritik" (Duhm). Doch genug. Mehr als genug. Erst rauben sie dem alten Jesaja das halbe Wort, das heilige, göttliche Wort, das in seinem Munde zum sieghaften Denkmal göttlicher Geschichts- lenkung lür alle Zeiten geworden, an dessen Kraft wir uns auf- richten und Trost und felsenfeste Zuversicht schöpfen, um es einem späten Anonymus in den Mund zu legen, den aber eine höhere Kritik alsbald entlarvt, und seine Worte, die er einjiaar Jahr- hunderte zurückdatiert wissen wollte, in die Zeit hineinrückt, in die sie vernünftiger Weise gehören, mag auch darüber der Prophet man verzeihe zum Schwindler werden!!

Zu uns aber, spreche ein Mann, der freilich sonst in seinem wissenschaftlichen Denken und den Ergebnissen seiner Forschung uns durchaus nicht immer massgebend sein kann, und dem wir nicht immer beizupflichten in der Lage sind: S. D. Luzzatto, dessen Ausführungen zur Frage des Deuterojesaja (Kerem chemed Bd. 7) wir in der Uebersetzung folgendes entnehmen: „Wo eine Entheiligung des göttlichen Namens (ütt^njbl'^n) droht, erweist man auch dem Lehrer nicht Ehre. Es könnte aber jemand fragen: was für eine Entweihung des göttlichen Namens liegt denn darin, wenn wir den Teil des Prophetenbuches Jesaja nehmen und ihn einem anderen Propheten zusprechen? Aus den Worten des Propheten ergiebt sich klar, dass sie mit der Absicht geschrieben sind, der Leser möge glauben, sie seien lange Zeit, bevor sie in Erfüllung gegangen, geschrieben'' ,,Wenn wir überzeugt sind, dass Gott mit Menschen gesprochen, so kann es uns nicht auffallend sein, dass der Prophet die Zukunft lange Zeit vorausgeschaut, vor seinem Auge ein Geschlecht ersteht, das noch nicht vorhanden, und die Welt so sieht, wie sie in der Zeit, die er prophetisch verkündet, beschaffen war, und weilte Israel in

342 Darf ein Deuterojesaja gelehrt werden?

seinen Tagen noch auf heimatlichen Boden, und waren die Chal- däer damals noch ein verächtliches Volk, so schaut er dennoch Israel im Exil und Babel als Fürstin der Länder" Und Luzzatto erinnert an den Segen Jakauws, an die göttliche Vorausverkün- digung des m'izrischen Goluth und seines Endes, an den göttlichen, die Jahrtausende vorausschauenden Sang Mosches, an die pro- phetische Verkündigung in Jos. 6 und Kön. I. 13 (vgl. auch Luz- zatto in seiner Einleitung zu seinem Jesaja-Commentar).

Aber kann man denn einer ganzen Wissenschaft zum Trotz den Deuterqjesaja ablehnen, ohne Gefahr zu laufen, seinen ,, wis- senschaftlichen" Ruf in der Welt zu gefährden?

Hören wir wieder Luzzatto: ..Zur Ehre des Himmels kann ich nicht schweigen " Der Deuterqjesaja werde in allen Hör- sälen der Universitäten gelehrt, wer könne da an der Berechtigung noch zweifeln? „Wird denn das allein in den Stätten der Wissen- schaft öffentlich gelehrt? Zahlreiche, angesehene und hochbedeut- same Gelehrte Deutschlands lehren doch, dass niemals Gott mit Menschen gesprochen, und dass Propheten alle nur Eingebungen ihres Herzens verkündet gewaltige Philosophen leugnen das Dasein Gottes überhaupt und bringen alle für ihre Worte ihrer Ansicht nach starke Beweise, und eine Jugend, der die Augen nicht geöffnet, schlurft mit Durst ihre Worte liest die Darbiet- ungen in gefälUger Sprache, der Schreiber hat einen berühmten Namen, da prüft sie denn auch nicht, ob seine Worte auch ernster Prüfung stand halten. 0, wären sie vernünttig, sie würden bald erkennen, wie wenig beweiskräftig, wie haltlos solche Theorien sind und sie zum Teil in sich selber schon zusammenstürzen Nicht alles, was gedruckt und inHörsälen gelehrt wird, ist wahr. Der eine lehrt dieses, der andere jenes. Was hier als vollendete Wahrheit gelehrt, wird dort als vollendete Lüge verlacht, was dieser Generation noch Wahrheit ist, ist der fol- genden Lüge. "

Wir aber wiederholen, und die Schamröte steigt uns ins Ge- sicht, dass diese Frage noch gestellt werden muss: darf nach all dem von uns ein Deuterojesaja gelehrt werden? J. Br.

Zum jüdischen Eherecht. 343

Zum jüdischen Eherecht.

Von Dr. A. Neuwirth (Mainz). (Fortsetzung.)

Wir möchten hier noch zwei biblische Berichte anführen, in denen von hebräischen Sklavinnen die Rede ist. So berichtet Je- remia von einem Vorfall seiner Zeit. Das ganze Volk hat nämlich beschlossen, der Vorschritt der Thora gemäss, die Sklaven im sechsten Jahre zu entlassen. Die Eigentümer bereuten es aber bald und zwangen die Sklaven zur Arbeit. )2^'^^\^ ^12^ n^< l'^^nm IDl^m»

DniN vz'DDm D^c3b D^t^'Dn üDub^^i; i::'n* inncii' hn* :r^«i rov na ]i;^n "r\}nC'^b^ D^-^y':' Dd't nvnS (Jer. 34, 16) „Ihr kehrtet zurück und entweihtet meinen Namen, ihr brachtet zurück ein jeglicher geinen Sklaven und seine Sklavin, die ihr bereits frei entlassen habt ; ihr zwanget sie euch als Sklaven und Mägde zu dienen". Einen ähnlichen Vorgang berichtet uns Nehemja. Vor seiner Ankunft in Jerusulem geriet das Volk, durch verschiedene traurige Ereignisse veranlasst, in grosse Bedrängnis, so dass sie ihre eigenen Kinder verpfäBden mussteu. Nun klagt 'das Volk über diese Zustände. ir:D HvS D^'^DiD ^J^:^i n:m i:^:d arrz^j ):i'r2 '):^nN i^-n^ nnyi., "'iDi iri^ '^{«^ ]\><i mt:'DDJ irm:DD ^^i n^-Qvb ^rm^D pni „und

nun wie der Leib unsrer Brüder ist unser Leib und man zwingt nnsre Söhne und unsre Töchter zu Sklaven : manche unsrer Töchter sind zu Sklaven gezwungen und wir haben keine Macht dagegen" (Neh. 5, 5). Beide Berichte beschäftigen sich mit der Sklaverei der Frauen.

Hieraus nun einen Beweis zu erbringen, dass im alten Ju- dentum die Frauensklaverei geduldet war, ist unzulässig. Denn beide Vorgänge bezeichnet die Bibel selbst als ungesetzliche Handlungsweise und sie verurteilt das Verhalten der Besitzer. Wir sehen sogar, dass der Bericht in Xehemja die Unterjochung der Frau viel schroffer als die Sklaverei der Männer verurteilt. In der oben zitierten Stelle aus Nehemja bemerkt man nämlich, dass zuerst die Unterjochung von den Söhnen und Töchtern gemeinsam

344 Zum jüdischen Eherecht.

geschildert und dann noch einmal die Sklaverei der Mädchen be- Itesonders betont wird (nirDDi i:^m:DD i:"l).

Wir haben nachzuweisen versucht, dass der Ausdruck "nph„ bei der Heimtiihrung nicht den Kauf bezeichnet ; versuchen wir nun das m^5nDn "imc, das ebenfalls bei der Brautwerbung oft erwähnt wird, zu erklären. Vielfach wird dieses Wort als Kauf- preis der Jungfrauen bezeichnet. Haminurabi schreibt tatsächlich verschiedene Gesetze über Kauf])rei8 der Jungfrau vor. Wir wollen hier die Bestimmungen, die sich mit dem Kaufpreis im Falle einer Authebung der Verlobung beschäftigen, anführen. „Wenn ein Mann, der in das Haus seines Schwiegervaters Präsente gebracht, und den Kaufpreis gezahlt hat, nach einem andren Weibe blickt, und zu seinem Schwiegervater spricht: „Ich heirate deine Tochter nicht", so behält der Vater des Mädchens, alles was er ihm zuge- führt hat" 159). „Wenn, nachdem ein Mann in das Haus seines Schwiegervaters Präsente gebracht und den Kaufpreis gezahlt hat, der Vater des Mädchens sagt: ,,Ich gebe dir meine Tochter nicht" so zahle er ihm, was der Mann gebracht und verdopple es" 160). Die Bestimmungen bekunden klar und deutlich, dass im alten Babylon ein Kaufpreis der Frau allgemein oder wenigstens viel- fach eingeführt war. Daher wird darüber verhandelt, was eigent- lich mit diesem Kaufpreis geschehen soll, wenn die Verlobung aufgehoben wird. Auch macht das babylonische Recht einen Unter- schied zwischen dem Fall, wenn der Vater nur den Kaufpreis er- halten und einer wirklich Verheirateten; nur bei einer Verheirateten wird ein Ehebruch geahndet.

Diese hammurabischen Gesetze über den Kaufpreis der Braut haben mit die Veranlassung gegeben das m'rinDn iniD der Bibel ebenfalls als Kaufpreis der Jungfrauen zu deuten. Diese Bedeutung mag auch das „imD,, in dem Fall der Dina haben. Und zwar dies aus zwei Gründen. Erstens wird da neben ""imD» noch "jnc» erwähnt. Nun kennt das hammurabische Recht tatsächlich einen „tirhatu" = "imc» und eine „nudunü" "pD-, einen Kauf- preis und eine Morgenagbe. Es ist somit anzunehmen, dass diese "]nci.. "ImICm dasselbe wie bei Hammurabi bedeuten. Auch sehen wir in dem Fall der Dina, dass das "imD» eine sehr dififeriereude

Zum jüdischen Eherecht. 345

Summe ist : sie war je nach den Yermögensverhältnissen. Daher heisst es: "^bü nONH l^üD -:nNT jnci -imo INO ^by idi-» „Ver- meliret nur "]nD1 ini^,. und ich will es geben, wie ihr sprechen werdet" (Gen. 34, 12). Beide waren demnach keine bestimmt abgerundete Summe. Tatsächlich war die Summe von „tirhatu" und „nudunü" in Babylonien ganz unbestimmt und richtete sich nach den Vermögensverhältnissen.

Aber in dem Fall der Dina handelt es sich um die Aus- drucksweise und Auffassung eines kananäischen Fürsten. Nun steht heute durch die Tel Amarna-Briefe fest, dass um die Zeit der Patriarchen in Palästina das babylonische Recht eingeführt war. Die kananäischen Herren Sch'chem und Chamor leben tat- sächlich der Anschauug, Frauen kann man durch Kauf erwerben Wir haben hier einen Beweis für die Authentie der biblischen Er- zählungen. Denn die Bibel kennt einen babylonischen Brauch, der Jahrhunderte vor der sinaitischen Gesetzgebung in Palästina Ein- gang gefunden hat.

Wie fremd aber dem Jakob und seiner Familie ein Frauen- verkauf war, dies ersieht man aus dem Xachspiel, das das Vor- gehen von Sch'chem hatte. Dem Jakob und seineu Söhnen wer- den für die Dina die grössten Summen angeboten. ..Vermehret nur Mohär und Matan, ich will euch geben, wie ihr sprechet" (ibid. 34. 12). Aber damit konnte man die Entrüstung und Em- pörung der Brüder der Entführten wenig besänftigen. Die Brüder planen einen Anschlag, wobei sie selbst ihr Leben aufs Spiel setzen. Sie erschlugen all« Einwohner von Sch'chem. Selbst der Zorn und die Furcht des alten Vaters konnte die Söhne von diesem Vorhaben nicht abbringen. Kaltblütig wiesen sie jede Gefahr mit dem Hinweis ab: "limnx fiN ü^i/^ niiTDü,, sollen wir denn unsre Schwester wie eine Buhlerin machen lassen? (ibid. V. 31). Es ist sehr charakteristisch, dass die Söhne Jakobs in ihrer Bedingungen an Sch'chem keine Silbe von Geld und Geschenken erwähnen. Das Angebot von Mohär und Matan ignorieren sie vollkommen. Statt dessen erwähnen sie die Grundbedingung, wie Sch'chem und Chamor Juden werden können: die Milo. Nicht Geld, sondern die Religion entscheidet über die Wahl der Ehe.

346 Zum jüdischen Eherecht.

Aber das ""iniDr», das im pentateiichischen Gesetz erwähnt, wie das n^ah 'b ninriD'^ mno oder "m^in^n inroD bp^^ noD" kann aus folgenden Gründen „Kaufpreis" nicht bedeuten. Denn wie wir oben bemerkt haben, besass ein Mädchen in Babylonien auch nach- dem der Vater den Kaufpreis empfangen, den Charakter einer Frau nicht. Nun geschah die Übergabe des Kaufpreises daselbst, wie aus den oben angfiihrten Gesetzen ersichtlich, zur Zeit der Verlobung. Alle Ausdrücke in der Bibel, die man neuerdings als Frauenkauf deutet, kommen ebenfalls bei der Verlobung vor (vgl. z. St. n^N^ )b niiriü^ "nno oder H'vTN )b np^ ^D tt'^Xl). Die Ver- lobung ist aber im Judentum der Heirat völlig gleichgestellt. Nach pentateuchischem Gesetz wird die Untreue einer Verlobten mit dem Tode bestraft : die Art des Strafvollzuges ist bei einer Verlobten (Steinigung) noch strenger als bei einer Ehefrau (Würgung). Gesetzt, dass im alten Judentum es üblich war, bei derJVerlobung einen Kaufpreis zu geben, so muss ihm jedenfalls eine hohe Hei- ligung zugesprochen worden, denn sonst wäre diese Strafe uner- klärlich. Mit Recht bemerkt D. F. Müller: „Die Verlobung ist im mosaischen Gesetz in rechtlicher Beziehung vollkommen der Ehe gleichgestellt, dagegen steht sie im Gesetze Hammurabis zum Teil noch auf der Stufe des Geschlechtsrechts. Dieser Umstand erklärt auch, dass im mosaischen Gesetz die Regelung des Kaufpreises im Fall der Authebung der Verlobung fehlt : Verlobung und Ehe ist völlig gleichgestellt" (Die Hammurabichen Gesetze S. 132). Wir möchten noch einen Schritt weiter als Müller gehen und behaupten: gerade weil die Thauro eine jedwede Regelung über den Kaufpreis eines Mädchens unterlässt, folglich kennt die Thauro keinen im Volke gebräuchlichen Kaufpreis.

Zum selben Resultat führt auch folgende Erwägung. An keiner der vielen Stellen wo "l^n^ü„ vorkommt, wird eine festge- setzte Summe erwähnt. Nur die Ausdrucksweise in Ex. 22, 16 nibinDH "imOD bptr'' ncD weist auf eine Stelle hin, wo die Summe von imo genau festgesetzt ist. Dies Moment veranlasst auch den Talmud diese m^inDM imo, das hier als Strafe für den Verführer bestimmt ist, mit einer ähnlichen Strafbestimmuug in Deuteronominm in Zusammenhang zu bringen und demzufolge auch das Strafmass

Zum jüdischen Eherecht. 347

von hier näher zu bestimmen. Wenn jemand ein Mädchen zwingt und mit ihr Unzucht treibt, so wird bestimmt DDlirn ^\sn iriil,, "f]DD D"'::'^n H"iy:n "'Dxb nov „So gebe der Mann, der bei ihr schläft, fünfzig Silberstücke" (Deut. 22, 29). Der Talmud bestimmt demnach das "m^iriDn irnDf, mit fünfzig Silberstücken (Ket. 29b). Diese Feststellung, dass "mbinDH irm„ fünfzig Silberstücke be- trägt, bekundet uns klar und deutlich, dass es sich hierbei nicht um einen Kaufpreis handeln kann. Denn an einer anderer Stelle des Pentateuchs wird der Höchstwert eines Mannes und Höchstwert einer Frau für den Fall festgesetzt, dass sie ihren ganzen Wert dem Heiligtum gespendet haben. Nun wird gesagt, der Mann habe nur 50, die Frau nur 30 Schekalim zu bezahlen (Lev. 27, 3 4). Wenn aber das Mohär, den Kaufpreis der Jungfrauen bedeuten solle, so kann es unmöglich 50 Schekalim sein.

Man wäre nun geneigt, das "m^lfiDn iniDf» als "ptt'np «IDD» das der Vater erhalten, zu fassen, also nicht Kaufpreis, sondern Heiligungsgeld. So wäre es dann erklärlich, dass die Untreue nach her Verlobung so hart bestraft worden. Aber diese Annahme ist aus verschiedenen Gründen unhaltbar. Denn zunächst bestimmt doch die Thauro, dass wenn der Vater sich weigert dem Verführer seiner Tochter sein. Kind als Frau zu geben, imOD h}pf^'^ rp-zi ^\)b^^\'2^i. Es ist nun wohl nicht anzunehmen, dass im Fall der Trennung die niin ein ]''''\:;Mp rpj dem Vater zu geben vorschreiben sollte. Dann bemerkten wir bereits oben, dass nach dem D"DD~l in mt:'''NO Zi"r\ {^"q ein jegliches y^^Z^Mp ^D'D nur piDIID ist und demnach kann es die Thauro hier nicht vorgeschrieben haben. Und schliesslich ist es mehr als unwahrscheiulich, dass die min ohne Einschränkung vorschreiben würde "ni:'^'? )b DJiriD^ llnDf/ womit sie p^np HDD gemeint haben soll, da nach allen Ansichten pii'lpO nN"'::n iSn^mvSID ; und an allen Stellen, wo nilHD"' "IIHD vorkommt eine ni^'^2 vorhanden war. Wenn aber zu dieser rii^^D der Vater nachträglich seine Einwilligung gibt, sind rtJ^llp f^DD gewiss nicht notwendig vgl. Kethuboth 39a N^üiV^D^ Y-L'N.

Um den Begriff' und den Inhalt eines Wortes genau feststellen zu können, hat die sinaitische Tradition uns die bekannten 13 Regeln zur Hand gegeben. Eine von diesen lautet : ""li'^jVD "ID^n IDlf»

348 Zum jödischen Eherecht.

Aus dem Zusammenhang;, wo das Wort vorkommt, kann dessen Bedeutung fest}i;estellt werden. In diesem Sinne glauben wir die Bedeutung von "i~1"2 erfassen zu können. Zwei Etymologien dieses Wortes scheineu uns grosse Wahrscheinlichkeit für sich zu haben. Beide Worterklärungenhaben auch eine Stütze in der talniudischen Erfassung der Stelle, Die eine bringt es mit "m;::» „vertau- schen", die andere mit "iriQi- „sich beeilen" zusammen.

Buchholz meint, dass zum Verständnis dieses Wortes (des nniQ) der Umstand beachtet werden niuss, dass "im?2 nur an solchen Stellen des Pentateuchs vorkommt, wo von einer virginitas erepta die Rede ist (vgl. Gen. 34, 12; Ex. 22. 15—16). Es scheint da- her mit der ungebräuchlicher Radix ""llO» welche nur im Hiphil vorkommt und dann „vertauschen" „wechseln" und „ersetzen" bedeutet, verwandt zu sein und „Ersatz" zu bedeuten und zwar „Ersatz" für die f;eraubte Jungfernschaft. In der bekannten Stelle von der Dina erbietet sieh Sch'chem soviel Ersatz geben zu wollen, als sie ihm immer auferlegen wollen. Das Gesetz bestimmt als normalen Ersatz 50 Schekel. gewährte sie aber nur dem Vater der Verführten. Der Verführer hatte entweder ib Hiinc^ "11,1:2 r'^i^b „er heiratete zum Ersatz die Verführte" oder b^p''I^'' nC2 nibinDT imiOD „er musste Silber wägen, wie. der Ersatz der Jung- frauen", nämlich der keuschen Jungfrauen, die nicht der Ueber- redung, sondern der Gewalt unterlagen (ibid. S. 41). Im Talmud findet diese Erklärung insofern einen Anhalt als allgemein "iri'C- mit "D2p- erfasst wird (vgl. z. B. Keth. 3, 4 und 4, 1).

(Fortsetzung folgt.)

Stimmen aus dem Jenseits. 349

Stimmen aus dem Jenseits.

Durch den Krieg werden die Menschen so verroht, dass es nicht überflüssig ist, sie an die Grundtatsachen der Moral zu er- innern. Für uns Juden sind diese moralischen Postulate Gegen- stände der göttlichen Offenbarung. Wir wollen uns daher einmal im Religionsgesetz umsehen, wie wir unser Verhalten zum Leben und zur Gesundheit und zur Würde unseres Nebenmenschen einzu- richten haben. In einer von Rauch und Blut erfüllten Welt werden uns Zitate aus den Tirana Smn msSn wie Stimmen aus dem Jen- seits anmuten.

* * *

Du darfst deinen Nebenmenschen nicht schlagen, und wenn du es doch tust, dann übertrittst du ein göttliches Verbot. Die Thora verlangt, dass gewisse Vergehen durch Verabreichung von 39 Schlägen gesühnt werden. 39 und nicht mehr. Der 40. Schlag wäre ein Verbrechen am Verbrecher, der trotz seines Verbrechens nicht aufhört, Mensch zu sein. Wenn also nicht einmal der Ver- brecher mutwillig geschlagen w^erden darf, um wieviel weniger

der Unschuldige.

* *

*

Schon das blosse Aufheben der Hand, die Gebärde des Schia- gens ist sündhaft. „Wer die Hand aufhebt gegen seinen Nächsten, auch ohne ihn zu schlagen, wird Bösewicht genannt."

* *

Nur aus Notwehr darfst du deinen Nebenmenschen schlagen. Wenn Reuben den Simon schlägt, darf sich Simon retten, indem er den Reuben schlägt; aber auch Lewi darf, um Simon zu retten, den Reuben schlagen, vorausgesetzt, dass eine Rettung auf anderem Wege nicht möglich ist. Unsere heilige Thora will unter ihren Bekennern keine mensurtüchtigen Raufbolde haben. Ihr gelten Duellspuren auf dem nach Gottes Ebenbild geformten Meuschen-

antlitz nicht als Ehrenmale.

* * *

Auch in unserer grossen Zeit, in der sich Jedermann vom Geist der Weltgeschichte angeweht fühlen müsste, giebt es Frauen, die von ihren Männern geprügelt werden. Nach jüdischem Religi- onsgesetz ist der Mann verpflichtet, seine Frau zu lieben wie sich selbst, sie zu achten mehr als sich selbst. Es ist dabei L:ar, dass ein Mann, der seine Frau schlägt, noch ein schlimmerer Bösewicht ist als Jemand, der sich an seinem Nebenmenschen vergreift. Die Frau soll dem Manne melir sein als Nebenmensch. Ob und wann auch hier Notwehr möglich ist und Scheidung der Ehe erzwungen

350 Stimmen aus dem Jenseits.

werden kann, darüber finden sich im Religionsgesetz Ueberlegungen, die von Grefühlsduselei und Aktenstaub gleich weit entfernt sind.

* * *

Eine Verordnung aus Urväterzeit (D'JliSTp ppn) bestimmt, dass Jemand, der seinen Nebenmenschen sehlägt, aus der Gemeinschaft Israels ausgeschlossen werden müsse, dass es verboten sei, ihn zu Minjau zu zählen, einen von ihm gesprochenen Segensspruch mit Amen zu bekräftigen usw. und erst eine durch aufrichtigen Gesin- uungs und Charakterwandel erwiesene Reue ("2*U'n) seinen Wic- deranschlu.ss an die jüdische Bekenntnisgcraeinschaft ermögliche. Wenn sich die heutige rabbinische Praxis zu einem solchen Hann- edikt nicht aufzuschwingen pflegt, so kann daraus noch nicht auf eine höhere Kultur der heutigen Generation geschlossen werden, in der etwa weniger Schlägereien vorkänsen, als eliedem, sondern. wie der jnht^n "jinv wehmütig meint, mi ncpn i:"!" pN irn"",>': c:^N '1D1 QT2 nm!3 |\S'1 iTn a^naii» D^Jö t; die Rohlinge sind nicht weniger, nur die Autorität der jüdischen Religionsbehörden ist ge- ringer geworden.

* * *

Im Religionsgesetz wird eingehend nachgewiesen, warum der Satz „Auge für Auge, Zahn für Zahn usw." nicht wörtlich, sondern in übertragenem Sinne zu verstehen ist: dass Jemand, der seinem Nächsten ein Auge aasschlägt, hierfür nicht durch den Verlust seines eigenen Auges bestraft, sondern zum Ersatz des Wertes des vernichteten Auges verurteilt wird. Gewiss wäre es näher gelegen, wenn dies schon in der Hibel deutlich gesagt worden wäre, wenn es statt |''j? nnn yy geheissen hätte |"'J? rinn f'J? 'ö". Einmal geht aber die vorliegende Fassung auf die stilistischen Methoden der schriftlichen Lehre zurück, die sich mit Vorliebe vieldeutig auszu- drücken pflegt, damit ihre Unklarheit die Notwendigkeit der münd- lichen Lehre ei weise, ferner sollte vielleicht durch die drakonische Form des Urteils die Schwere des Delikts pathetisch herausgestellt werden. So gewiss jedes Wort der Thora auf die Wagschale ge- legt werden muss und wird, so ist sie deshalb doch kein trockenei' Rechtskodex, der auch schwere Rohheitsdelikte ohne ein Zeichen des Affekts nüchtern paragraphieren müsste. Der Grund ton der Thora ist pathetisch,' auch dort, wo sie ihre ewigen Wahrheiten in den Mantel juristischer Formen hüllt.

*

Körperschaden, Schmerz. Arbeitsunfähigkeit. Heilungskosten. Beschämung: nach fünf Richtungen hin müssen die Folgen einer gewaltsam verursachten Beschädigung des Nebenmenschen erwogeii werden. Für die Abschätzung des verursachten Schadens und der

i

Stimmen ans dem Jenseits. 351

aus deu Folo:en sich erj2:ebenden Ersatzpflichten stellt das Religi- onsgesetz feste Xorraen auf. Am schwierigsten ist der Grad der Beschämung festzustellen. Denn hier hängt alles von der Persöu- Hchkeit des Beschädigten ab, wie intensiv er die ihm angetane Schmach zu empfinden vermag. Hier ist's eben die geistige Per- sönlichkeit des Menschen, die durch den Schlag getroffen wurde, während die vier anderen Kategorien der Ersatzptlicht den ge- schädigten Menschen mehr als eine in ihrem Räderwerk gestörte Arbeitsmaschine im Auge haben. Ob bei der Entschädigung un- serer Kriegsinvaliden, bei ihrer Zuführung zu neuen Arbeitsgebieten usw. auch immer mit der wünschenswerten Sorgfalt auf die Be- dürfnisse ihrer geistigen Persönlichkeit geachtet werden kann und wird ? Denn sind es auch Ehrenwunden, die sie aus dem Felde mit heimbringen und eine Entschädigung für verursachte Scham daher dem Staate nicht obliegt, so ist doch die Persönlichkeit des Menschen ein viel zu kompliziertes Gebilde, um eine schematisclie Behandlung zu vertragen, und es sollten darum die berufenen Stellen die Verhältnisse jedes einzelnen Falles so gewissenhaft er- kunden, als gälte es bei der Fürsorge für die Krieger nicht blos um eine wirtschaftliche Versorgung, sondern um eine Ehrenrettung

unserer Invaliden.

*

* *

Es ist bekannt, dass es kaum eine Sünde giebt, die in den alten Mussarschriften so oft und so scharf verurteilt wird, wie die Bösrede (>••„" pti*S). Im Religionsgesetz erscheint diese Sünde in einer Linie mit den körperlichen Schädigungen. Auch die Zunge ist ein Schwert, das verwunden und tödten kann. Wir erleben es ja in diesem Kriege Tag für Tag, wie die ßösrede vielleicht die wirksamste Munition in der Hand unserer Feinde ist. Als ein Mittel gegen die Leidenschaft der Bösrede wird im Religionsgesetz das Studium der Thora hezei<^hnet. p'* n''n ]♦>' p^^'S scn?: iTin min." N'n C". Wer sich mit Thora beschäftigt, dessen Zunge wird gemildert und gezähmt. Das Lernen der Thora verleiht eine innere Würde, die sich auch im Affekt nicht verliert, geschweige zur VerungHmpfung des Nächsten sich verführen lässt. Bösrede ist die Waffe des Feigen. Um ein Schwert zu ergreifen und zu schwingen, dazu gehört immerhin Entschlossenheit und körperliche Kraft und seelischer Mut. Zur Verleumdung aus dem Hinterhalt bedarf es dagegen nur eines üblen Charakters, dem aber auch auf dem Wege der Selbstüberwindung, der geistig-sittlichen Erneuerung erfolgreich beizukommen ist,

353 'Stimmen aus dem Jenseits.

In B. Kama 27 b findet ihr eine 8kala von Strafen, die von der Tiiora für das Verbrechen des Schiagens bestimmt würden. Ein Fusstritt wird mit fünf Selaim bestraft, ein Ellenbogenstoss mit drei Selaim. ein Faustschlag mit dreizehn Selaim usw. Die Staffelung der Strafen entspricht der Grösse der verursachten Ehr- verletzung. Eine eingehende Betrachtung dieser gesetz-lichen Nor- men im Vergleich mit den Anschauungen moderner Strafgesetze würde eine belehrende Einsicht in die etwaigen Wandlungen und Verschiedenheiten des Ehrbegriffs innerhalb und ausserhalb der

Thorasphäre ergeben.

* *

*

Wenn der Krieg aus ist, wird zweifellos ein moralischer Katzenjammer über die europäische Menschheit kommen. Die Völker werden sich betroffen gegenseitig ansehen, wie ^lenschen, die aus einem von wüsten Träumen erfüllten Schlaf erwachen. Und auch unsere jüdischen Feldgrauen werden gut daran tun. wenn die Friedensglocken läuten, die )y2u2 S;*" n'^hr, zu repetieren.

R. B.

Zur Charakteristik der Breslauer Schule.

Von Rabbiner Ph. Fischer in Särospatak, Ungarn.

Herr Rektor Schwarz in Wien hat vor einigen Jahren eine Schrift unter dem Titel: ,,Die Controversen der Schammaiten und Hilleliten" herausgegeben. Der Vertasser nennt in diesem, übrigens grosse talmudische Belesenheit verratenden. Buche mit vielem Rechte den verstorbenen Breslauer Seminardirektor Z. Frankel seinen „Lehrer und Meister", weil darin ganz und gar der von S. R. Hirsch so markig charakterisierte Frankel'sche Geist einer gelinde gesagt ,,Umdeutung" des Begriffes der Göttlichkeit der mündlichen Tradition herrscht.

Doch nicht hierüber wollen wir gegenwärtig mit dem Verfasser rechten. Sondern folgender Umstand ist es, den wir hier zur Sprache bringen möchten. Herr Rektor Schwarz schreibt Seite 36 Note, 1 obigen Buches folgendes: ,,Es ist ein gewaltiger Irrtum, w^enn man meint, Hillel sei der eigentliche Urheber der Schewah Middoth gewesen. . . Auch machen die hermeneutischen Deduktionen, mittelst welcher Hillel die Norm r\2)i^n na nnil HDC begründen will, auf die

Zur Charakteristik der Breslauer Schule. 353

\

B'ne Bathray durchaus nicht den Eindruck einer neuen Entdeckung; die B. B. kennen vielmehr den tJ>p\i und die m^ mnj genau so wie den K-il Vochaumer und widerlegen alle drei etc."

Nun aber arbeitet der Verf., Herr Rektor Schwarz, für iic- wöhnlich mit einem äusserst grossen gelehrten Apparate, was ich übrigens nur rühmenswert finde. Seine Noten wimmeln sozusagen von Hunderten von Zitaten. Orthodoxe und Reformer, Bücher und Zeitschriften, alles wird von ihm zitiert. Nur in erwähnter Fuss- note fehlt irgend ein Zitat. Und doch hätte der gelehrte Verf. auch hierorts diesem Mangel so leicht abhelfen können. Denn was der Verf hier schreibt, das hat bereits einige .Jahrzehnte früher S. R. Hirsch in seiner berühmten niederschmetternden Kritik gegen seinen treulos gewordenen Schüler Graetz, der doch auch zu den Lehrern des Herrn Rektor Schwarz zählte, geschrieben.

Der Herr Rektor Schwarz beliebe einmal den Jeschurun von S. R. Hirsch, 11. Jhrg. S. 156-176, besonders aber S. 166 (Ges. Schriften V, S. 351 371) nachzulesen, wo Hirsch inbezug auf Graetz' Geschichtswerk ausdrücklich schreibt: ,, Nicht wie der Ver- fasser vorgiebt: ,,sind die Interpretationsregeln, die später als voll- giltige Norm anerkannt wurden, hier zum ersten Male aus Hillels Munde als etwas Neues und Unbekanntes aufgetaucht", viel- mehr sehen wir begreiflicher Weise die .Synhedrialhäupter mit dem ^p'n, dem l!2im Sp und der r\rz^ HT-t: an sich ganz einverstanden, sie weisen nur nach, dass die von Hillel gebildete Analogie und Schlussfolgerung mangelhaft sei und der Wortanalogie die tradit- onelle Bedingung fehle, durch welche wesentlich deren Zulässigkeit bedingt sei".

Das steht nun einmal fest für uns, dass Herr Rektor Schwarz diesen Aufsatz Hirsch's seiner Zeit gelesen haben muss. Denn die Kritik Hirsch's gegen Graetz erregte zu viel Aufsehen, als dass jemand, der mit der zeitgemässen jüdischen Wissenschaft im Con- takte hätte bleiben wollen, dieselbe nicht gelesen haben sollte. Umsoraehr Interesse hatte jene Kritik Hirsch's für die Schüler des Breslauer Seminars, da sie ja diese Lehranstalt in ihren Funda- menten erschüttern musste. Und wie bereit^ erwähnt war doch auch Herr Rektor Schwarz ein gelehriger Schüler jener An-

354 Zur Charakteristik der Breslauer Schule.

stall. Demzufolge halte ich es für ausgeschlossen, dass derselbe keine Kenntnis von Hirsch's Ausführungen gehabt hätte.

üa taucht aber die Frage auf, warum werden sie von Rektor Sciiwarz nicht erwähnt ?

Nun, da ich es bei einem Gelehrten vom Range Schwarz' für unmöglich halte, dass derselbe sich einfach mit iremden Federn schmücken wollte, so habe ich hierfür nur eine, wenn auch höchst bezeichnende Erklärung. Herrn Rektor Schwarz verleitete eine jedenfalls eigentümliche Pietät seinen gewesenen Lehrern Frankel und Graetz gegenüber dazu, die Ideen eines Mannes, der seine eben erwähnten Meister so gewaltig und siegreich befehdete, sich wohl anzueignen, die Quelle aber, woraus er geschöpft, zu verschweigen, da eben dort sein ehemaliger Lehrer Graetz eine 'seiner grössten literarischen Niederlagen erlitten hatte.

Aber vielsagend bleibt es allenfalls, dass eine jener Aus- führungen Hirsch's, wegen deren ihn die Breslauer Schule zu einem „unwissenschaftlichen Sidurlamden" degradierte und der ehemalige Schüler zu einem „ketzerriechenden Klausner" brandmarkte, nun- mehr zu einer selbstverständlichen Voraussetzung für einen der hervorragendsten Gelehrten der Breslauer Richtung geworden ist. Wie lautet doch das Losungswort Hirsch's: \yp xS N-ipti> \sp ü'^ty Wahrheit besteht, Lüge vergeht.*)

*) Vgl. it einen Aufsatz: „Ein Anhänger Frankeis über den Hirsch- Frankelscheu Streit etc. im Israelit, 1909, No. 46.

^^ iQV^ 31C2 tr-n JUEDISCHE

mONATSHeFTE

herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kolm, Ansbach, I unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Sulomon Breuer, Prankfurt a. M.

L

Jahrgang 3. Heft 12

Die kritische Methode im Beth Hamidrasch.

Ob man berechtigt ist, im Beth-Hamidrasch die kritische Methode anzuwenden, Schwierigkeiten, die sich beim Talmndstudium ergeben, mit operativen Eingriffen des Rotstiftes aus der Welt zu schaffen : für diese Frage ist sehr lehrreich ein Aufsatz im 7. Jahrbuch der Jüdisch^literarischen Gesellschaft: „Kritische Bemer- kungen zur talmudischen Literatur ". Wir registrieren ein paar Tatsachen.

I.

„Mitunter wurde nach der NJpDö oder der halachischen Ent- scheidung des Babli die LA. in der Mischna geändert. Wir weisen zuvörderst auf eine bekannte Stelle hin. In Chullin 54a hiess es ursprünglich: xintJ> h^ nJO\-i vrili^il 12:sn nSi::, wie die Ausgaben von Neapel, Cambridge und Alfasi haben (vgl. die Varianten in den neuen Wilnaer nvJti^a). Nur nach dieser LA. versteht man die Frage des Talmuds (4Ha) : ,njtj>ö nnD3 ,noS,n ^"1 , . . löxm. In Chulin 46a ist anstatt n'12 ... pnm zu lesen: n^D ... N''jnm. Indessen wurde, weil im Talmud 43 a die Halaeha n'lD entschieden wird» diese LA. in die Mischna hineincorrigiert. So hat es bereits Raschi und Tosafot vorgelegen, weshalb diese die Frage des Talmuds 43a nur mit Zwang erklären können" (das. S. 304).

356 Die kritische Methode im Beth-Hamidrasch.

Wir wollen einmal die Fraise ganz auf sieh beruhen lassen, ob die vorliegende Lesart wirklich nur auf Grund der halachischen Entscheidung in die Mischna hineincorrigiert wurde und lediglich prüfen, ob die Frage des Talmuds 43 a nur nach der ursprüng- liche« Lesart zu verstehen sei und ob Raschi und Tosafoth diese Frage nur deshalb „mit Zwang erklären können", weil ihnen be- reits die spätere Lesart vorgelegen habe. Bei einer aufmerksamen Prüfung der betr. Talmudstelle stellt sich nun aber folgendes Re- sultat heraus. Des Verfassers Bemerkung, die Frage des Talmuds 43a sei nur zu verstehen, wenn in der Mischna statt nn^ die ur- sprüngliche Lesart NiniJ' h^ stehe, wäre richtig, wenn sich diese Frage wirklich auf jene Mischna bezöge. Das ist aber doch keineswegs der Fall. Die betr. Talmudstelle lautet doch folgen- dermassen : n'^D lölNn nili rohn pnv 'n ISN ?]DV '313 pnT ") "ICSI n2t*f2 DnD3 n^hn pnv 'i nöx n^n in 12 nnn ncNm ^nn yj'v 'i ncx ^di n^n 'in nSi rya mti^n yn'^^ an aiSn n:ö\"i r^rwi^i ah} inrn n^ij'j pm. Die Frage des Talmuds bezieht sich also keineswegs auf die Mischna 54a, sondern auf die Mischna 42a, aus welcher etwas ge- folgert wird, womit der Ausspruch des R. Jochauan, "i)::iNn '"imn riDhn, fi'TD nicht harmoniert: Aus der Mischna 42 a geht nämlich hervor, dass rinn nicht erforderlich ist und schon ü'n'i^ Sd genügt. Natürlich müssen sich Raschi und Tosafoth mit der naheliegenden Frage befassen, mit welchem Rechte die Gemara sich auf die Mischna 42a beruft, nachdem doch der Ausspruch n'lD löixn "1312 nnS" in der Mischna 54a eine Stütze hat; und wenn sie nun diese Frage damit begründen, NsriD "j-D Nöno "[n n'öSlN \s*!:t, so ist das keines- wegs ein „Zwang", wie der Verf. meint, sondern die einzig mög- liche Art, wie diese Talmudstelle erklärt werden kann, solange nicht erwiesen ist, dass dem Talmud in der Mischna 54a die Lesart NintJ» Sa tatsächlich vorgelegen hat. Dass dies nicht der Fall ist, beweist ja am schlagendsten die erwähnte Talmudstelle selbst, die sich zur Entkräftung des Satzes n'7D nö'Nn nniD riDhn auf die Mischna 42a beruft. Hätte dem Talmud in der Mischna 54a die Lesart NiniJ^ hD vorgelegen, warum beruft er sich nicht anf diese Mischna, wo doch ausdrücklich gesagt ist, was aus der Mischna 42a erst indirekt gefolgert werden muss? Zitiert man freilich die

Die kritische Methode im Beth-H»midrasoh. 357

Frage der Gemara nur halb: njli'ö DnD3 n^hn ^""i . . . n?::xm, dann bleibt es natürlich offen, auf welche jMisclma die Gemara hin- deutet: man kann diese Frage auf die Mischna 54 a beziehen, in welcher der Gemara die Lesart xiriii» '72 vorgelegen hat und es bleibt notgedrungen nichts anderes übrig, als in der Stelle 46 a : ns3 n3ü\- T'^Dki':! nnon h'c: pnm (wo sich einem die störende Erkenntnis aufdrängt, dass dem Talmud in der Mischna 54 a offenbar doch die Lesart n^TD vorgelegen haben muss) das Wort pnm flugs mit N"'jnm zu vertauschen. Allein dieser „Zwang" scheint uns doch mindestens so gross zu sein, wie jener andere, mit welchem nach des Verfassers Meinung Raschi und Tossafoth die Frage des Talmuds 43 a erklären.

II.

„In Ketubot 18 b lehrt eine Baraita: irT ariD llöN"^» nnvn] ^hü^Zih a^jf^a: ya [^y'n nrr; ^Sidö ^^^^ a^r^rp ir\n □'dun h^a n: xin [ynn'^ n'^n xin noNtJ' r^,:n'^*] q^jokj Dn^ix □'?:3m i\s'ö 'n nm. Die eingeklammerten Worte werden im Talmud nicht zitiert. Man muss aber dieselben zur Ergänzung hinzufügen, und zwar die ersten aus der Mischna auf derselben Seite, die letzten Worte setzt der Tal- mud unmittelbar darauf in seiner Diskussion voraus: 'J pil N!2bki»3 n^nn^ nzin hmi noNi^^ nsnti» i-'"'?2Vl:. Nun untersucht der Talmud weiter, was wohl der Grund für die Entscheidung Rabbi Meirs sein mag, mit folgender Diskussion : Richtig ist (seine Entscheidung) im Falle von nnj? 'SlDD, da der Gläubiger selbst von vorne herein genau darauf achtet (dass die auf dem Schuldschein unterschriebe- nen Zeugen zeugnisfähig seien); auch bei dem Falle von Q'ycp (ist seine Entscheidung richtig), wie R. Simon ben Lakisch gesagt hat, denn Resch Lakisch sagt; Es ist zu präsumieren, dass Zeugen keine Urkunde unterschreiben, wenn der Akt (den die Urkunde bestäti}2:t) nicht von einem G"oss jährigen vollzogen w^orden ist, usw." ..

Hier bleibt jeder Verständige stille stehen und fragt: 1) Wa- rum giebt der Talmud bei n^jüp nicht denselben Grund an wie bei miy 'h^üZi (vgl. die gezwungenen Erklärungen in Tossafot und nxmpö ni2''t:>) 2) Wie passt der Ausspruch des Resch Lakisch zu dem Falle, der damit begründet wird? Raschi meint: ,, Sowie die Zeugen keine Kauf Urkunde unterschreiben, wenn nicht die den

358 Die kritische Methode im Beth-Hamidrasch.

Akt vollziehenden Personen, Käufer und Verkäufer, Grossjährige sind, ebenso lässt der Käufer keine minderjährigen Zeugen seine Urkunde unterzeichnen." Diese Logik ist mir unbegreiflich. Hier wird das vorausgesetzt, was ja erst durch die Urkunde bewiesen werden soll, dass er in der Tat der Käufer des betreffenden Grundstückes ist, was doch, wenn die Zeugen minderjährig waren, nicht bewiesen ist. Ausserdem ist die ganze Folgerung eine falsche. Denn wenn wir von ehrlichen Zeugen präsumieren, dass sie kein falsum begehen und einen Akt von Minderjährigen durch ihre Un- terschrift bestätigen, so lässt sich doch nicht eine gleiche Ehrlich- keit resp. Korrektheit von jedem Käufer oder Geldverleiher vor- aussetzen.

Verständlich und klar wird uns die talmudischa Diskussion erst dann, wenn wir in den der Baraita in Paranthese vorange- stellten Satz vn D"'Jt2p anstatt lyn D''JKp setzen, „vn, sie, die den Akt vollziehenden Personen, waren minderjährig", sagen die Zeugen, Demnach ist auch in der Baraita eine richtige Gradation vorhan- den. Im ersten Falle oyn a'DUX) sagen die Zeugen, der ganze Akt sei ein Falsum; im zweiten Fall (vn nTi^p) ist der Akt wohl wahr, aber wegen der Minderjährigkeit der Personen ungiltig: im dritten Falle endlich oyn m"lj? "'SlDS) ist der Akt auch giltig, aber die Zeugen waren unfähig, ihn zu bestätigen. Nach der uns vor. liegenden LA. in der Mischna ist ij''\"i D'ycp dasselbe wie nnj? 'SlDD ir\n. In der Tat fehlen auch in der alten Neapeler Mischna- Ausgabe die Worte )y'n □''jüp. Der Talmud muss aber wohl auch in der Mischna n^Jtip gehabt haben, weil er sonst in der Baraita die oben eingeklammerten Worte nicht hätte weglassen dürfen. Wohl aber ist es nach der Diskussion des Talmuds höchst wahr- scheinlich, dass ihm nicht lyn ü'ycp sondern vn D''jJ2p vorgelegen hat." (das. S. 309 fF.)

Ein Erklärung von Tosafot und nyilpe n^l')^ als ..gezwungen'', Raschis Logik als „unbegreiflich" und eine Folgerung Raschis kurzerhand als eine „falsche" zu bezeichnen, dazu bedarf es einer mutigen Ueberzeugung, die sich selber für unwiderleghch hält. Die Ausdrücke unserer Altvordern: yhl, T'VoS, rvi usw. klingen etwas bescheidener und wissenschaftlicher. Die Neigung zum Abur-

Die kritische Methode im Beth-Hamidrasch. 359

teilen war niemals ein Kennzeichen des wahren wissenschaftlichen Sinnes. Doch schauen wir einmal zu, was es mit der „falschen'* Logik Raschis im vorliegenden Falle für eine Bewandtnis hat.

Warum soll Raschis Folgerung falsch sein? ,,Denn wenn wir von ehrlichen Zeugen präsumieren, dass sie kein Falsum begehen und einen Akt von Minderjährigen durch ihre Unterschrift bestä- tigen, so lässt sich doch nicht eine gleiche Ehrlichkeit resp. Kor- rektheit von jedem Käufer oder Geldverleiher voraussetzen." Warum nicht? Welchen Vorzug hat ein Zeuge vor dem Käufer oder Geldverleiher? Dass er ehrlich ist? Wer verbürgt uns aber, dass er ehrlich ist? Nur die npTn, die wir präsumieren. Warum soll aber die gleiche npTn nicht auch gegenüber dem Käufer oder Geld Verleiher präsumiert werden können? Im Gegenteil: Der Käufer oder Geldverleiher hat doch an der Rechtsgültigkeit des Ti:'^ ein viel grösseres Interesse als der Zeuge, dem es doch ziem- lich gleichgültig sein kann, ob die von ihm unterzeichnete Urkunde korrekt ist oder nicht. Allein selbst zugegeben, des Verfassers Einwand gegen Raschis Folgerung wäre haltbar, wie erklärt sich's der Verfasser, wenn es unmittelbar zuvor in der Gemara heisst; DriMüi p''i pi't: Nip-^ye n^cu mSö nnj? 'Sidö nr^ht'il Die Ge- mara selbst ist es ja, welche die Richtigkeit von Raschis Folgerung verbürgt. Wenn Raschi sagt:] a^ina nplSn |\v npTn q^jI^P '2, so hat Raschi hier vom "p",'? nichts anderes präsumiert, als was unmittelbar zuvor die Gemara selbst vom m So präsumierte. Damit hört aber auch zugleich die Erklärung von Tossafoth auf, eine „gezwungene" zu sein. Denn wenn 'Din meint: ti»ni rff:';'^ J"K p^n pl^ö mSöT üT^Q 'öJ .TDIi fi^'ph, so hat 'Din damit nichts anderes sagen wollen, als dass die npTn dem np^h gegenüber auf der gleichen logischen Voraussetzung beruht, wie die npiri dem n^hf: gegenüber. Ist demnach Raschis Logik falsch, dann ist auch die Logik der Gemara falsch.

So schaut das wissenschaftliche Fundament aus. auf welchem die Korrektur der Mischnaworte ir\"i C":t;p in V" D':*t:p beruht!

Sehen wir uns nun die Korrektur selbst etwas genauer an. Schon rein äusserlich betrachtet, ist es doch höchst unwahrscheinlich, dass neben ir\"i a'DüvS* und ir'n HmV *SlC£ es mit einem Male

360 Die kritische Methode im Beth-Hamidrasch.

heisscn soll: m D'^üp, zumal das Subjekt flicses vn nirgendwo genannt ist und nur mit Zuhiltenalnne der Phantasie substituiert werden kann. Wir möchten einmal sehen, ob, im Falle die Mischna tatsächlich die Lesart V,l aufwiese, nicht schon des harmonischen Gleichklangs wegen die Konjekturalj)hanta8ie der modernen Talmud- kritik zu der umgekehrten Korrektur des vn in ir\"i sich angeregt fühlte und zum Zweck dieser Korrektur Raschis , .falsche" Logik nicht mit einemmale als eine durchaus einleuchtende erkennen würde! Dazu kommen aber auch noch innere Gründe, die für die Lesart ^y^'^ sprechen. Uns dünkt nämlich, die Gradation in der Mischna ist viel klarer, wenn mau die drei Zeugenaussagen sich folgendermassen abstufen lässt: 1) 'ly^n a''Dl3S. Hier liegt das Mo- ment, welches die Ungültigkeit des nttti* herbeiführen soll, nicht in der Persönlichkeit der Zeugen selbst, es haftet ihrem Charakter nicht unverwischbar an, trat vielmehr von aussen an sie heran. 2) ir\T a'Jüp. Hier ist es schon eine persönliche Eigenschaft der Zeugen, die sich der Beurteilung des "i^t* darbietet. Allerdings haftet diese Eigenschaft ihrer Persönlichkeit nicht als ein dauerndes, ihr Wesen charakterisierendes an. Es ist nicht richtig, wenn der Verfasser meint, lyn D'j'tip sei dasselbe wie i:"n nrr; ''h'üZ. Nur im uneigentlichen Sinne könnte ein ycp, der noch nicht zeugnis- fähigj ist, unter nnj? •'SlDD begriffen werden. L)as negative Moment der Abwesenheit einer Eigenschaff, worin ja die Minderjährigkeit besteht, ist keineswegs identisch mit den positiven Merkmalen, welche 3) Q''31*lp oder x-impn □^pnt»;^ zu nny "Sica machen.

Ausserdem scheint sich uns die Lesart vn auch noch aus folgendem Grunde zu verbieten. Das Thema der Mischna ist doch die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Zeugen, die sich selbst und damit dem von ihnen unterzeichneten ycc* einen Makel anheften, glaubhaft sind. Durch die nachträgliche Bekundung "iyn DT'JX oder 'iVn nny ^SlCC heften sie sich selber einen Makel an. Es erscheint uns aber keineswegs so ausgemacht, ob die Tat- sache, dass in einem bestimmten Fall die hv j'ömn D'Tyn |\S' ,~p7n Snn nt'y: D"NX nt:ti»n versagt hat, von der M'schna als ein die Glaubwürdigkeit der Zeugen selbst derart tangierendes Moment begriffen worden wäre, um sie auf dieselbe Linie zu stellen wie

Die kritische Methode im Beth-Hamidrasch 361

^yn D''D1JN und ly^n nny ^Sidd. Denn an den Grad des Leichtsinns, dessen es bedarf, um einen Akt als D''DlJvX fflDD nana natürlich) oder rrnj? •'SlDD mit seinem^Zeii^nis zu bekräftigen, reicht doch die Sor^losi<,d<eit, die es unterlässt, sich zu vergewissern, ob nti^yö h^ □"'Snja TotJ^n geschieht, keineswegs heran.

III.

,,Wir dürfen sonach ohne Anstand zur Beseitigung von Schwierigkeiten, die sich bei der Erklärung mancher Talmudstellen erheben, annehmen, es habe dem Talmud eine andere LA. in der Mischna vorgelegen, resp. es habe in der Mischna des Talmuds ein P?ssus gefehlt, der nachträglich hinzugekommen ist. Wir wollen hierzu einige Beispiele bringen, in Sabbat 78a findet es Tosafot v. rDDlU» niiffälüg, dass der Talmud seine Frage gegen die Baraita und nicht gegen die Mischna 70 b richtet. Die Schwierigkeit löst sich am einfachsten durch die Annahme, die Worte VDölti^n Sdi n''J7''312 seien erst später aus der Baraita in die Mischna gekommen und haben dem Talmud in der Mischna nicht vorgelegen." (das. S. 317 f.)

Diese Lösung der von 'Din selbst anders gelösten Schwierig- keit wäre in der Tat die ,, einfachste", wenn sie der tatsächlichen Wahrheit standzuhalten vermöchte, was jedoch nicht der Fall ist. Denn was fängt der Verfasser mit der Talmudstelle Nasir 38a an, wo auf die Mischna Sabbat 76 b mit folgenden Worten Bezug ge- nommen wird: n''j?''n"ia □"DDitJ^n Sdi riT^^n ypt^ün Sd nxun pni (Vgl. n'nn mn:in)! Hier zeigt sichs doch unwiderlegiicli, dass die uns vorliegende Lesart in der Mischna auch dem Talmud vorge- legen hat und daher zur Lösung jener Schwierigkeit nichts anderes übrig bleil)t, als reumütig in die Arme von Tosafoth zurückzu- kehren, zumal hier eine Korrektur des pnm in X''3nm (vgl. Ab- schnitt I) mit Rücksicht auf den verschiedenen Wortlaut von Mischna und Baraita sich von selbst verbietet. *R. B.

362 Zur Methodik des biblischen GeBchicltsunterrichts.

Zur Methodik des biblischen Geschichtsunterrichts.

Unsere jüdischen Lebrer sind im allgomeinen von dem ernsten Bestreben erfüllt, den Religionsunterricbt so fruchtbringend wie möglich zu gestalten. Allen Hindernissen zum Trotz, die ihnen von relii;'iöser Gegnerschaft oder Indolenz der Eltern bereitet zu werden pflegen, gehen sie es giebt natürlich auch unrühmliche Ausnahmen unbeirrt ihren Weg und bemühen sich, wenn auch nicht immer mit Erfolg, die Saaten jüdischen Wissens und jüdi- scher Gottesfurcht in die Herzen der ihrer Lehre Anvertrauten zu säen. Und doch glauben wir, dass der ganze heutige Religions- schulbetrieb an einer inneren Halbheit, Unwissenschaftlichkeit, ja Unaufrichtigkeit krankt. Es wird viel zu viel nach nichtjüdischem Muster unterrichtet. In den Hirnen unserer Lehrer macht sieh alles mögliche Methodik, Systematik, Pädagogik, Didaktik breit und nur das im Grunde wichtigste fehlt : die Gestaltung des religiösen Lehrstoffes nach den in unsern heiligen Bekenntnis- schriften niedergelegten Direktiven.

Dass in unseren Religionsschulen im Gegensatz zu den öst- lichen Chedarim der Talmud die Rolle des Aschenbrödels spielt, damit haben wir uns in Deutschland längst mit der Begründung abgefunden, dass es an der nötigen Zeit fehlt, um die Schüler neben Chumesch- und Tefilloübersetzen, biblischer Geschichte und Religionslehre auch noch mit den harten Nüssen des talmudischen Lehrfaches vertraut zu machen. Neben dem Zeitmangel spielt aber auch die stille Ueberzeugung von der relativen Nebensächlichkeit des Talmuds mit, wenn in unseren Religionsschulcn die in hand- lichen I^eitfäden kodifizierten Lehrfächer den in schweren F'olianten einhertrabenden Talmud verdrängen. Wozu soll eigentlich der Talmud? Das wichtigste in ihm steht auch in Sterns Vorschriften der Thora, vom Kizzur Schulchan Aruch gar nicht zu reden. Un- sere Kinder brauchen ja keine spitzfindigen Pilpulistcn zu werden, die ihr ohnehin genug belastetes Gehirn mit t;"v:D ni'?ir^' n:i"'D- Problemen überfüllen.

Zur Methodik des biblischeo Qeschichtsuuterrichts. 363

Von welch haarsträubeuder Unwissenscliaftliclikeit diese weiter «l8 man glaubt in Leliierkreisen verbreitete Denkweise ist, das soll heute nicht hiei- des näheren dargeleg-t werden. Man muss im Talmud schon selber etwas heimisch sein, um zu wissen, wie diese Derdvweise den gan/.en Lebensnerv des jüdischen Denkens und Lebens vernichtet. Wir wollen heute nur an zwei Beispielen zeigen, wir nicht nur die Religionslehre im engeren Sinne, die Kenntnis des Religionsgesetzes, auf einer Kenntnis des Talmuds beruht, sondern auch die biblische Geschichte, wenn sie im Sinne des überlieferten Judentums unterrichtet werden soll, nur im Zu- sammenhang mit dem Talmud und nur auf Grundlage des Talmuds verstanden und erzählt werden muss. Unsere Lehrer ahnen nicht, welch unendliche Bereicherung und Vertiefung ihre eigene Kenntnis der biblischen Geschichte erführe, wenn sie, statt immerfort Metho- dik, Systematik, Pädagogik und Didaktik auszuströmen, dafür etwas vertrauter mit der Art und Weise wären, wie unsere alten Talmud- weisen biblische Geschichte trieben.

L

Wer kennt nicht die Geschichte von Naboths Weinberg ? Diese Geschichte ist eine Fundgrube moralischer Anknüpfungs- punkte. Es muss schon Jemand ein sehr stümperhafter Lehrer sein, wenn er den Schatz ethischer Lehren, den diese Geschichte birgt, nicht heben kann. Und doch würden unsere Lehrer diese Geschichte ganz anders geistig durchdringen und vertiefen können, wenn ihnen folgend ; Talmudstelle geläufig wäre :

idn: -^20 iS'bm -nn^ ^di^ n^b n^N* l^'^'-n^b ]""'cd: hidS^d ^:m- ^din W)^''b ^iN-n -"^n VDN \^i^ ]2 ]nb novs* ^n^'-\b d^i; ii-» iva m^: gidd n:n »b DU ^Di^:]^ }i- i^:n nj<i in\s* jn'^ lOiS )b vn 0^:2 n^nn N^^m n^n

i^d^^2 1i*3D HNü'^ I^IKin D^.3D N^HH ji^m \TN-1 l-'iD ^^"1 HXI HIDi ^21

-lOvsn \ur2b x'^N -^01 D^pbn nn: -12 Tn^i ir'n ",Sob ;nrD: -i-^n- ]aDb «nnn ^zf^^ah abi^ ^b Düb n^p^ti icyco''?! -\bü^ ^b riüb \'v-\vb j-^dd:

.b"y n"D pin:D) xnnn ^w^^ab ^d: kdh

Der Lehrer, der mit dieser Talmudstolle vertraut ist, kennt vor allen Dingen die Familienverhältnisse Kaboths besser, als wenn

864 Zur Methodik des biblischen Gdschichtsunterrichts.

er seine Kenntüisse lediglich aus Bariuh Sterns biblischer Ge- schichte schöpft. Er weiss, dass Nal)oth ein leiblicher Vetter des Königs Achaß war und nicht bloss einen schönen Weinberg, sondern auch zahlreiche Kinder besass. Zwar wird ihm Naboths Kinder- reichtum nicht ganz fremd sein, da er von Baruch Stern weiss, dass nach der Tötung Jorams durch Jehu dieser zum Obersten Bidkar sagte: „Wirf ihn aufs Feld Naboths; denn so hat Gott gesprochen: Auf diesem Felde will ich das Blut Naboths und das Blut seiner Söhne rächen", er dürfte aber doch in pein- liche Verlegenheit kommen, wenn ein findiger Schüler ihn fragt: Aber, Herr Lehrer, Sie haben uns doch in der Geschichte von Naboths Weinberg gar nicht erzählt, dass auch Naboths Söhne getötet wurden! Falls nun der Lehrer aus pädagogischen Gründen seinem neugierigen Schüler nicht antworten will: Was Baruch Stern nicht erzählt, brauche ich auch nicht zu wissen so wird ihm nichts anderes übrig bleiben, als bei unserer Talmudstelle Rat einzuholen, die ihm auch die nötige Auskunft geben wird. Er wird da erfahren, dass zwischen nmn"' "i und den pni ein Streit ist, wie das Wort Jehus zu verstehen ist. Nach rt1)n' '1 ist es wörtlich zu verstehen: Achab hat nicht blos Naboth, sondern auch Naboths Söhne tödten lassen. Nach den pn bezieht sich Jehus Wort auf Naboths ungeborene Söhne, die mit Naboth vernichtet wurden, noch ehe sie ins Dasein traten. Wer einen Menschen tödtet, tödtet zugleich alle Kinder, die von ihm noch hätten ge- zeugt werden können. Oder ist's am Ende unpädagogisch, in der Religionsschule von Zeugung und Geburt zu reden? Wohlge- merkt; strittig ist blos die Frage, ob ausser Naboth auch seine vorhandenen Söhne getödtet wurden. Dass er Söhne besass, be- streiten auch die pni nicht, wie die talmudische Diskussion be- weist. Allerdings ist nicht klar, aus welchem Bibelvers die pni den Kinderreichtum Naboths erfahren, wenn sie das Wort Jehus in uneigentlichem Sinne verstehen. (Vgl. Raschi zu Sanhedrin a. a. 0. :

Ein findiger Schüler könnte aber noch weiter fragen. Offen- bar war doch König Achab bestrebt, sein Vorgehen gegen Naboth äusserlich in durchaus rechtliche Formen zu kleiden. Zu diesem

Zar Methodik des biblischen Geschichtsunterrichts. 365

Zwecke liess ja Isebel durch zwei falsche Zeugen Naboth der Gottes- und Königslästerung' überführen. Musste nun der König nicht mit der Möglichkeit rechnen, dass sein verbrecherisches Ziel vom Volke durchschaut werden würde, wenn er nach Naboths Hinrichtung sich in den Besitz von Naboths Weinberg setzte ? Erst unsere Talmadstelle rückt diese ganze Geschichte in klares Licht. Wir haben nach jüdischem Religionsg'esetz zwischen "^Jlin HId'^D, todesschuldigen Verbrechern, die sieb gegen die Majestät des jüdischen Königs durch Ungehorsam und dgl. vergehen, und ■|"D "laiin, todesschuldigen Verbrechern, die sich gegen die Maje- stät des jüdischen Religionsgesetzes vergehen, zu unterscheiden. Der Unterschied ist ein zweifacher : in Bezug auf die nach der Hinrichtung einzuhaltenden Trauervorschriften, die wohl bei "'iTin r\}JbD, nicht aber (ausser mj^:^) bei l"2 "»ilin angehen (vgl. Ram- bam bnx 'n 1, 9), dann hinsichtlich des Besitzrechtes am Vermögen des Hingerichteten. Bezüglich dieses zweiten Unterschiedes dif- ferieren in unserer Talmudstelle die pDI und rmn"' '"l. Nach den ]:D"1 verfällt die Hinterlassenschaft der niD^D "'Jlin dem König, die der l"2 ^Jinn deren Erben. Nach min^ h geht auch die Hinter- lassenschaft der mD'?D ""Jinn in den Besitz ihrer Erben über. Wir werden nun das Vorgehen des Königs Achab viel besser verstehen und zwar je nachdem wir uns auf den Standpunkt der p^n oder den des nnn^ 'l versetzen. Ist Nabot als einer von den "»Jinn niD^D getödtet worden, dann war es durchaus nicht auffallend, dass nach seiner Hinrichtnng sein Weinberg in den Besitz des Königs überging, denn König Achab hatte ein Anrecht auf die Hinterlassenschalt aller niD^D ^:nn. Allerdings nur nach der re- zipierten Ansicht der pD"i. Nach min^ '") trat König Achab als erbberechtigter Vetter Naboths in den Besitz des Weinbergs, da ja nach ni^ri'^ '~l auch Naboths Söhne getödtet wurden und Achab daher einziger Erbe war.

Auf Grund unserer Talmudstelle wird uns auch klar, warum Isebels falsche Zeugen Naboth sowohl der Gottes- als auch der Königslästerung beschuldigten. Nach der Auffassung der ]2D1 hätte eine blosse Anklage auf Königslästerung, nach der Auffassung des niMV '"1 eine solche auf Gotteslästerung genügt, wenn eben Achab

366 Zur Methodik des biblischen GeschichtsunlerrichtB.

iiiclit durch pine ausj^esuclit krasse und raffinierte Anschuldigung den wahren Zweck, den er mit seiner Anklage verfolgte, hätte versclileiern wolle. i.

Im Zusanimenhang mit unsern Darlegungen möchten wir noch folgendes bemerken. Isabels Befehl lautet : „Rufet einen Fasttag aus und setzet Naboth an die Spitze des Volkes. Dann stellet ihm zwei ruchlose Männer gegenüber, die sollen wider ihn zeugen" usw. Dieser Satz kann in der Religionsschule moralisch nicht besser ausgebeutet werden, als dies Sanhedrin 2'Ja sgeschieht :

.-'?D'i D'^pba DDin lüüw imi^i?^! m:: ^y^^D ^:d

„(Wenn man bei einer Gerichtsverhandlung die Zeugen zur Wahrhaftigkeit ermahnte) sagte man ihnen, dass lügenhafte Zeugen auch von denen, in deren Sohl sie stehen, verachtet werden, denn es heisst (bei Isebel) : Dann stellet ihm zwei ruchlose Alänner gegenüber'* usw. Die von Isebel aufgestellten Lügenzeugen werden von Isebel selbst „ruchlose Männer" genannt. Unsere alten Tal- mudweisen waren auch in der biblischen Geschichte zu Haus, und sie verstanden es gar meist rhaft, auch in scheinbar nebensächlichen Dingen den innigen Zusammenhang zwischen Bibel und Talmud, zwischen l)iblischer Geschichte und halachischem Strafrecht zu erweisen.

II.

„Wäiirend der Regierujig des Königs Joas erkrankte der Prophet Elisa. Joas besuchte ih.i, weinte vor seinem Angesichte und sprach: „Mein Vater! Mein Vater! Wagen Israels und seine Reiter". Sterbend weissagte ihm Elisa Sieg über die Syrer. Als später wieder syrische Streifscharen ins Land fielen, wollten Leute gerade einen Mann begral)en; da erblickten sie eine Streif- schar und warfen die Leielie in das Grab Elisas Als sie die Gebeine Elisas berührte, wurde der Mann wieder lebendig."

So ist bei Baruch Stern zu lesen. Die Streifscharen, die übrigens nicht syrische, sondern moabitische waren (s. Ron. II 13, 20) interessieren uns hier nicht, wohl aber erregt die mysteriöse Leiche, die da in Elisas Grab geworfen wurde, unsere Phantasie.

Zur Methodik des biblischen Geschichtsunterrichts. 367

Weiss einer der Herren Lehrer, wer dieser Mann gewesen ist, der da in so wunderbarer Weise zu neuem Leben erwaclite ? Wäre es nicht ganz interessant, es beim biblischen Geschichts- unterriclit den authorchenden Schülern zu verraten? Man braucht blos dm TaJraud (Sanhedrin 47 a) zu kennen, um di(! ganze Ge- schichte dieser Leicheiibelebung in einem neuen, ungeahnten Licht zu schauen. rr.rn 'Z'W' on^ip cn t,^! iD^rz^ ^''ly S\v v^"\ ]^i-ip i'xr p:c

.v'?:n bv cp^i ^n^i „Wo ist die Quelle der Vorschrift, dass man einen Frevler nicht neben einen Gerechten begraben darf? Es heisst : „Sie waren gerade mit der Beerdigung eines Mannes beschäftigt, da sahen sie die Streitschar, da warfen sie den Mann in das Grab Elisas, und als der Mann die Gebeine Elisas berührte, wurde er lebendig und erhob sich auf seine Füsse." Hierzu bemerkt nun Raschi z. St. :

^iDx'r ii^y nx :r^ri TiT« «^D:n j<in n^n "ip^rn n^d: iDp:n in^x

„Die betr. Leiche war die eines Lügenpropheten : es war das derselbe Prophet, der Iddo zurückführte zum Essen und Trinken in Beth-El. Seine Schuld war's, dass Iddo bestraft und vom Löwen zerrissen wurde. Als er nun nach Jahr und Tag starb, begrub man ihn neben Elisa. Gott aber billigte es nicht, dass er neben ihm begraben wurde und so wurde er wieder lebendig."

Wir wissen nun, was das für eine Leiche war und warum sie wieder lebendig wurde. Das Wunder hat einen tiefen ethischen Sinn. Der Gegensatz zwischen Gut und Böse, zwischen Wahrheit und Lüge macht au<'h vor dem Grabe nicht halt. Was lässt sich hier alles ankiiüp'en ! Welch grelle Streiflicher fallen von dieser Geschichte auf die religionspolitist hen Kämpfe der Gegenwart! Was ist das aber für eine Gesehichte, die hier Raschi erzählt? Was war das für ein I>ügp.! prophet, wer war Iddo ? Nun, Iddo kommt auch in der Sternschen Bilicl vor, wenn er auch nicht mit

368 Zur M«thodik des biblischen Geschichtsunterrichts.

Namen genannt wird, Iddo hiess „der Gottesmann aus dem Lande Juda", (vgl. Raschi zu Kön. I 13, 1: n^*; n\n n: s'pha tJ»\s njm) der, als Jerobeam einst auf dem Götzenaltare zu Bethel opferte, auf Gottes Befehl vor ilin trat und rief: „Altar, Altar! Es wird aus dem Hause Davids ein Sohn geboren werden, Josija wird er heissen, der soll auf dir die Priester der Höhen schlachten und Menschengebeine verbrennen". (Vgl. bei Stern: ,, Jerobeam und der Gottesmann"). Schade nur, dass Stern die Erzählung abbricht und uns das Interessanteste verschweigt. Die Geschichte geht nämlich weiter, und wer sie im biblischen Urtext weiter liest (Kön. I 13, 7 ff.), wird Raschis Bemerkung za Sanhedrin a. a. 0. verstehen. Jerobeam hatte Iddo zum Essen eingeladen, dieser aber weigerte sich die Einladung anzunehmen: ,,Wenn du mir auch die Hälfte deines Hauses gäbest, so gehe ich nicht mit dir hinein und esse kein Brot und trinke kein Wasser an diesem Ort" .... „Aber ein alter Prophet wohnte in Beth-El" .... der Lügen- prophet, von dem Raschi spricht. Der ging dem Gottesmanne nach und sprach zu ihm: ,,Auch ich bin ein Prophet wie du; ein Engel hat mir eben im Namen Gottes befohlen: Bringe ihn zurück in dein Haus, dass er Brot esse und Wasser trinke. Er log ihm vor". Der Gottesmann Hess sich überreden und kehrte zurück und als er Bethel wieder verlassen hatte, wurde er auf Gottes Geheiss für seinen leichlgläuuigen Ungehorsam bestraft: „Er ging fort, da traf ihn ein Löwe auf dem Wege und tötete ihn. . . ."

Damit ist aber die Geschichte immer noch nicht ganz geklärt. Aus dem weiteren Verlauf der Erzählung in Kön. a. a. 0. erhellt, dass der Lügenprophet neben Iddo begral)en wurde. Als der Lügenprophet gehört hatte, dass Iddo von einem Löwen zerrissen ward, ging er hin, „hob den Leichnam des Gottesmannes auf, lud ihn auf den Esel und führte ihn zurück: er kam in die Stadt des alten Propheten; um ihn zu betrauern und zu begraben. Er legte seinen Leichnam in sein Grab und stimmte die Klage an: 0, mein Bruder! Nachdem er ihn dort begraben hatte, l)efahl er seinen Söhnen : Wenn ich gestorben bin, so begrabet mich in dem Grabe, worin der Gottesmann begraben ist, neben seine Gebeine leget meine Gebeine, denn gewiss wird das eintreifen, was er im Na-

Zur Methodik des biblischen Geschichtsunterrichts. 369

men des Herrn verkündet hat gegen den Altar von Betli-El und gegen alle Häuser der Höhen, die in den Städten Saniarias". Der Wunsch des Lügenpropheten, neben Iddo begraben zu werden, wurde von seinen Söhnen erfüllt, wie aus Kön. II; 23, 17f. hervor- geht. Daselbst wird von Jesias Frömmigkeit erzählt und wie er den Götzendienst abschaffte. Auch hier bricht die Stern'sche Bibel mittendrin ab. Stern erzählt blos die Hälfte: „Da sich Josijas Herrschaft auch über das Land der zehn Stämme erstreckte, zer- störte er auch den Altar des goldenen Kalbes zu Beth-El, den Jerobeam erbaut hatte und verbrannte Menschengebeiue darauf, um ihn zu verunreinigen, wie einst der Gottesmann verkündet hatte," Die Geschichte geht aber weiter. Josija fragte : „Was für ein Mal ist jenes, das ich sehe? Die Stadtleute antworteten ihm: Das ist das Grab des Gottesmannes, der gekommen war aus Juda und diese Dinge verkündigt hatte, die du getan, über den Altar in Beth-El. Da befahl (der König): Lasset ihn liegen, keiner rühre seine Gebeine an! Und so retteten seine Gebeine auch die Gebeine des Propheten, der vonSamaria gekommen war." Der Prophet aus Saraaria aber war niemand anders als der Lü- genprophet, wie Raschi zu Kön. I 13, 11 bemerkt. Seine Leiche lag in demselben Grabe, in welchem die Iddos lag, und so kam es, dass, als Josija das Grab Iddos verschonte, auch die Gebeine des Lügenpropheten vor dem Verbranntwerden auf dem Altar des gol- denen Kalbes zu Beth-El gerettet wurden.

Wenn aber der Lügenprophet neben Iddo begraben wurde, wie vereinigt sich damit die offenbar auf einem Midrasch fussende An- gabe Raschis zu Sanbedrin a. a. 0., dass er neben Elisa begraben wurde? Der Widerspruch löst sich, wenn wir bedenken, dass der Lügenprophet, der zweimal gestorben ist, auch zweimal begraben werden musste. Das erste Mal wurde er neben Elisa begraben. Da wnrde er wieder lebendig. Und zwar nur für kurze Zeit. Denn wie in Sanbedrin weiter auf Grund einer Boraitha festgestellt wird, ']Sn ah in'^nSl lüV vbil Sy. er erhob sich wohl wieder auf seine Füsse, doch kam er nicht wieder nach Haus. Nach seinem end- gültigen Tod wurde er dann, seinem Wunsche gemäss, in Iddos Grab beigesetzt.

370 Zur Methodik des biblischen Geschichtsunterrichts.

Wer bil)lis( lie Gcschiehte im der Hund des Talmuds trt'iltt, lernt zweierlei. Erstens gründliches Üurchdeiiken und umfassendes Zusammenschauen der scheinbar kleinen und nebensächlichen Partien der Bibel Zweitens Respekt vor den biblischen Wunder- erzähluno-en, die mit gleichem Ernste und gleich logischer Schärfe erfasst sein wollen, wie irgend ein anderes Stück des heiligen Buches, mit welchem sich unsere „Vernunft" rascher abzufinden pflegt, als mit Wundergeschichten, die uns auch die Welt des Mystischen un<l Irrationalen als Wirklichkeit vor Augen führen.

R. B.

Der Aufstieg zur Keduschah.

Von Rabbinei" S. Lciwy. Hamburg.

Mosche Chajim Luzatto '^'jf? beginnt sein bekanntes Werk : □"'Iw'"' nVDr'2 mit folgenden Worten : ..Dieses Werk habe icli niclit geschrieben, um etwas Neues zu lehren, sondern um etwas allge- mein Bekanntes in Erinnerung zu bringen". Diese Worte seien auch der folganden Abhandlung vorausgeschickt. Uns allen ist ia bekannt, welche Aufgabe die Thora uns stellt, von nNavo uns zur mnt: und von dieser uns zur n'C'i'lp durchzuringen.

"JN IJmp ^3 V,in D^U*np ,. Heilig sollt ihr sein, denn heilig l»in Ich", so lautet der kategorische Imperativ, den die mm uns mit auf den LebensAveg gibt. Das höchste Ideal, welches der Jude er. riuiien kann und welches zu erreichen er bestrebt sein soll, ist die Keduschah. Und wenn er vor den Schöpfer hintritt, um Ihn zu preisen, spricht er die Worte, in welche die himmlischen Heer- scharen einstimmen niNlif 'T "^'ilp '2^^tp '^'iip\

Doch was ist ,T^np? Die Antwort darauf kann uns nur an- nährend gegeben werden, wie überhaupt die Frage eigentlich richtiger

Der Aufstieg zur Keduschah. 371

SO lauten kann : Welche Anforderung an unsere Lebensführung stellt das Streben zur Keduschah? Schön und zu Herzen ge- hend beantwortet uns diese Frage der Siporno (13""' xip^l) :

„Nachdem der Heilige, gelobt sei Er, seine Gottesherrlichkeit am Sinai Israel offenbart hatte, als Er zu ihnen sprach : ,,Seid ein Volk von Priestern und eine heilige Nation" und .,Ich habe euch emporgeführt ans Mizrajim, um euch zum Gott zu sein und so seid heilig", da entfernte er sie von der Unreinheit gewisser Speisen und von der Unreinheit der Nidda und der Negaim, die daraus erstehen, von der Unreinheit des Flusses, wie 'überhaupt von jeder Sünde, wie es heisst : „Von allen Sünden werdet rein vor Gott". „Und nun", spricht die Thora, „das Ziel aller dieser Einschränkungen ist gegeben in den Worten : ,,Seid heilig", d. h. strebet, so weit als möglich, Eurem Gott zu gleichen, denn dies ist ja das Ziel der Menschenschöpfung, bei welcher es heisst : „Nach seinem Ebenbilde schuf Er den Menschen."

In diesen Worten hat der Siporno gleichzeitig das hohe Ideal der Sittlichkeitserziehung des Menschen durch die Ausübung der m^ö angedeutet. Jede m^iü, jede von Gott befohlene Guttat soll, wenn wir sie ausüben, nicht mit ihrer Ausführung für uns abgeschlossen sein, sondern sie wirke weiter in uns fort, heilige Geist und Tat und befähige ihn dadurch, Gott nahe zu kommen, Unreinheit zu überwinden, nin'c zu erlangen und nach ntimp zu streben.

Denn nur durch restloses Aufgehen im Thoraideal ist es dem Juden möglich, wirklich Jude zu sein. Nichts anderes scheint ja nar^rc zu sein, als Unfreiheit des Menschen und die aus dieser physischen Gebundenheit sich ergebenden Körpereigenschaften. (Siehe Hirsch zu V'ITn Tött')-

Vorausgeschickt sei jedoch, dass wir uns immer vor Augen halten müssen, dass folgende und andere Erklärungen nur Versuche bleiben und mit der Verbindlichkeit der Thoragesetze nichts zu tun haben. Diese Gesetze sind und bleiben für uns im- mer bindend, ob wir eine Erklärung zu finden meinen oder nicht.

372 Der Aufstieg zur Keduschah.

Unstreitifi: ist wissenschaftlich schon nachgewiesen, dass die Nahrung, welche Jedes Lebewesen, insbesondere der Mensch, auf- uimmt, Eiufluss auf seinen seelischen Zustand hat. Da>< klarste Beispiel hiefür bildet wohl der Alkoholgenuss '). Eine gewisse Richtung der Heilkunde verbietet z. B. den Genuss von Schweine- flleisch bei Epilepsie, also bei einer spezifischen Nervenkrankheit. Bei vollständigem Fjhlen der Schilddrüse wird der beginnende Kretinismus durch das Essen also durch die körperliche Auf- nahme — von Schilddrüsenstoff beseitigt. Interessant sind die Zusammenhänge zwischen Nahrung und Nervensystem im jetzigen Kriege nachgewiesen worden. Bei Granatverletzungen findet man im Blute Abbauprodukte der Nebenniere, woraus auf eine Schädi- gung derselben geschlossen werden kann. Dieser Nachweis kann aber erst nach zwölfstündiger Nahrungsenthaltung geführt werden, da von der Nahrung typische nicht ganz zerlegte Substanzen ins Blut übergehen. Die Nebenniere hängt mit dem Nervensystem auf engste zusammen *). Stoffe, welche aus der Nebenniere stam- men, finden sich auch im Blute bei durch Granatschock hervorge- rufenen Störungen des seelischen Gleichgewichts, bei Denk-, Ge- dächtnis- und Sprachstörungen. Starker Fleisch- und Wassergenuss ruft oft Verkalkung der Arterien und Gicht hervor; erstere Krank- heit ist oft Ursache seelischer Störungen.

Aus all diesem ist zu ersehen, welch wichtigen Eiufluss die Nahrung auf das Seelenleben hat. Nicht um körperlichliygienische Massregeln willen verbietet die Thora n'?^2: und ncnü, sondern um den jüdischen Geist und die jüdische Seele freizuhalten von allem was hindernd wirkt, die höchste seelische und sittliche Stufe der n'^''Mp zu erreichen, nnvin Sd iS^xn ah „Esset nicht, wasverabscheu- ungswürdig ist" erklärt dei Talmud (Chulin 114) "jS ^layntt* Sd „Alles, was Ich der Schöpfer des Alls als ungeeignet zu deiner Thoraaufgabe bezeichnet habe. Vielleicht könnte man auch die

') Die folgendeo medizinischen und naturwlsseDBcbaftlichen Feststellungen rerdankc ich meinem Freunde Herrn Dr. Jul. Möller-Altona.

'^) Dieser Zusammenhang iwischen Niere und dem Nervensystem, also dem Sitze seelischer Betätigung, erklärt vielleicht den jüdischen BegrilT von

Der Aufstieg zur Keduschah. 373

vielziticrte Erklärung Bar-Kajjporas n:i nv^n = nn>'in so auffassen : "n2 nyin,, Irrtum in deinem Streben zur KeduschaJi entsteht dadurch. Aehnlich wird ja versucht n^: HNöia zu erklären. Der Ein- druck, welchen der seelenolse Menschenkörper auf uns macht, ist so niederdrückend, dass unser freudiges Streben zur Keduschah Abbruch erleiden könnte^). Der tote Körper, also das rein Körperliehe, ohne seelischen Antrieb zum Guten und Edlen, ist Köt;, denn wo Seele, mithin Streben ist, dort ist mnt:. Vielleicht könnte man die Einteilung der Tumohzustände, welche die Thora uns lehrt, folgendermassen erklären , allerdings wären dazu tiefer- gehende Studien, welche nicht im Rahmen dieser kurzen Abhand- lung versucht werden können, notwendig.

1. na nat2rc entsteht durch den seelenlosen Körper des dahingeschiedenen Menschen. Der Mensch, der kdd wird, ist es nicht dnrch' eigene Schuld geworden, daher hat er nicht nötig, ein •^^'^p, ein Opfer, welches (nach |"n!2n Einleitung zu Knp^l) die neue Weihe des Menschen zum werktätigen Leben lehrt, zu bringen .

2. ym^fö n2T ,aT nxölis. ymvö entsteht nach Erklärung unserer Weisen hauptsächlich infolge der Bösrede (j?in \T^h ^)

") Siehe Hirsch's Erklärung su npin UDfl ''2''D?i'-

^) Anschliessend will ich eine schöne Erklärung meines hochverehrten Lehrer« ^*"i:3"'b::' tDD~l"'C ''''};'^^ 'JH 217] ''2~\^ niD, I^aw der SchiflFschul in Wien, anführoi : Die Sprache ist das vorzüglichste Unterscheidung-smerkraal des Meiischcn vom Tiere, wie Y]n vom Menschen als -i^-jd „Sprachbegabten" par excellence sprechen. Solange nun der Mensch diesen Vorzug zum Guten und Edlen anwendet, ist er dessen würdig, verw^isndet er ab r die Sprache z«r Bösrede und zu sonstigen Nichtigkeiten, so sinkter zum Tier.*, da er den Vorzug, welchen er vor diesem hat, missbraucht, i-»}^ nDüDn ]i2 DINH "IDIOI „Der Vorzug des Meiischen vor dem Tiere die Sprache hört aut S^n ^Dm 'ij, wea:i dieser zum Nichtig^^n angewendet wird". So hat sich der y1l^iD durch Bösrede versündigt. Diese entsteht durch Selbstüberhebung. Bescheidene Menschen, welche sich selbst strenge prüfen, «prechen nicht y-)n ])'^b- Nur Selbstüberhebung und Verachtung des Menschen bri' gen zur Bösrede. Soll de- Mezora rein werden, so muss es ihm zum Bewusstsein gebracht werden, da«8 gerade er des Nebenmenschen benötigt, ja von ihm, wenn dieser ein \-)3 ist, abhängig ist, um vollwerliges Mitglied der Gesellschafi zu werden. Daher irnn'i3 D^S J^IIÜOn min n^nn HNI nl>>e« die Lehre des Aussätzig-en : Da

374 Der Aufstieg zur Keduschah.

durch die Vorherrschaft unedler Triebe. Der Mensch ist ge- sunken, es ergeben sich Veränderungen an seinem Körperzii- stande. Zur Wiedererlangung der Reinheit ist tätige Selbstver- besserung, also ein 12'^^>, nötig.

3. m'^v nxmto. Da die Menschwerdung rein körperlich war, lehrt auch hier die Thora, das rein Körperliche ist xi^ü. Die Eltern und hauptsächlich die Mutter als vorzüglichste Erzieherin des jungen Menschen, müssen tätig sein, um das junge Kind zu einem sitt- lichen Menschen zu erziehen, daher ist ein ''^:i'^p nötig.

4. mi nK0Vu3 ist ein passiver körperlicher Zustand, daher ist kein "^^^p nötig.

5. Y'l'^ nxölü erfolgt (ähnlich wie beim n^) durch Berührung der kleinsten und beweglichen Tiere im toten Zustande. (Hirsch z. St.). Diese nXf^VO ist passiv, daher ist kein |mp nötig.

6. ''1p riKOTL: kann, wie schon der Name sagt, durch Zufall oder durch Ueberanstrengung eintreten (Schabos 127 b), daher ist kein pip nötig.

Die nh'^'^, das völlige Untertauchen des Körpers im Wasser lehrt uns vielleicht, dass wir unsere seelische Reinheit wieder er- langen können, wenn der Mensch sich ganz der Thora, diesem ü^Ti a''ö npo, diesem Quell lebendigen Wassers hingiebt (siehe Dr. Hoffmann-Leviticus). Und wie das Wasser der mpö nicht durch Menschenhand geschöpft sein darf, so soll auch des Menschen seelische Neugeburt aus der Thora selbst, nicht aus durch Men- schenwitz und Menschendünkel verfälschten Lehren erfolgen.

Und deshalb ist es auch unrichtig, von ."nnt: schlechterdings als von Hygiene zu sprechen. Nicht Hygiene ist rr^rrc wenn jene auch eine selbstverständliche Folge dieser ist und mit Nichten ersetzt die Badestube, wäre sie auch die komfortabelste und eleganteste, die Mikwah ! Das Heil der zukünftigen Genera- tionen, die Sittenreinheit der jüdischen Familie ist abhängig von mpo und ,n*int2 !

Klar, nüchtern, unablässig verfolge der Jude seinen Weg, welcher ihn zur Höhe führt. Nicht Angst, nicht Verzückung

er rein werden will, fühle er, dass er allein nichts ist, dass er vom pn ab- hängig ist : pDn ba H2'\D^ er werde zum "pj gebracht".

Der Aufstieg zur Kedu8chah. 375

und nicht Schwärmerei leite ihn auf diesen Weg. Vielleicht könnte man auch folgende dunkle Stelle im Kusari II. 62, von diesem Gesichtspunkte aus erklären.

Dort heisst es nämlich beim Gespräche über Unreinheit: „An Frauen und Kindern sieht man oft, wenn sie nachts ausgehen, in- folge ihrer geistigen Schwäche am Körper schwarze und gelbe Stellen. Sie schreiben dies jedoch den Dämonen zu. Es ist nun mög- glich, dass daraus, und auch durch den Anblick von Toten und Erschlagenen schwere Krankheiten des Körpers und der Seele entstehen."

Diese nNöits-Zeichen der Flecken am Körper lassen sich viel- leicht durch Selbstsuggestion hysterischer Personen erklären. Durch die Angst vor Dämonen und Geistern wird die klare üeberlegung getrübt, im Schrecken und in der Furcht wähnen sich nervenschwache, abergläubische Frauen und Kinder nachts von jenen verfolgt und meinen auch die Berührung der verfolgenden, ihnen nachjagenden Geister am Körper zu verspüren (Erlkönig). Der fortwährend bohrende Gedanke daran erzeugt dann durch Suggestion die er- wähnten Flecke.

So sind ja auch die Heiligenstigmate, welche die katholische Kirche kennt, und welche an einigen weiblicheu Personen nachge- wiesen sein sollen erklärt worden. Während jedoch die Kirche diese Stigmate als Zeichen besonderer Heiligkeit auffasste, ist dieser Zustand nach jüdischer Ansicht ein nxültJ-Zustand, da nur klarer, ruhiger Verstand, unbeeinflusstes, logisches Denken, welches sich von jeder Schwärmerei und von jeder Betäubung fernhält, zur Scelenreinheit und zum Seelenadel führen kann. Deshalb ist ja jedem x^sta das Betreten des Heiligtums untersagt. Denn nicht durch Einwirkung äusserer Sinneseinflüsse, Verzückungen und Phan- tasien, erziele der Jude seine mnJ3 und seine .TkJ*np. Selbsttätig arbeite er an sich, klar zum Thoraziele strebe er, dann erst ist er mna, dann erst darf er das Heiligtum betreten.

Ebenso ist die Sittenreinheit und die Vermeidung von Ver- bindungen gewisser Verwandschaftsgrade Vorbedingung für Kedu- schah, ja eine der wichtigsten und hauptsächlichsten Stufen zu ihr,

376 Der Aufstieg zur Koduschah.

wie hin wiederholt betnncD : nnx nvivn p mJ N'iT'iü nnn'^ Dip>2 Sd nti^np X'!:if2 „Wo Sittenreinheit erstrebt wird, dort ist Heiligkeit zu finden."

Aron Marcus hl schreibt in seinem Barsilai I. p. 135: ,,Es ist das Geheimnis der Arojaus, der verbotenen Verbindungen zwischen Bhils.verwandte:i, deren naturgesetzliche Berechtigung in Uebereinstimmung mit der Thora von allen höheren Rassen in- stinktiv getühlt und angenommen wurde, bevor die neueste Wissen- schaft nachgewiesen hat, dass ganze Völkerstämme durch Nicht- beachtung derselben der vollständigen Degeneration und dem Cretinismus verfallen sind.

Unerlässlich für nnnü ist rivp: d. i. körperliche und seelische Reinheit und Makellosigkeit ') ; dann erst gelangt man zur mnü . Jedoch nach ninü folgt erst mtJ'ns, dass heisst Verzicht auf erlaubte Genüsse, wenn dadurch etwa eine Ablenkung von der grossen Aufgabe der Gotteserkenntnis zu befürchten wäre. Dies erst führt dann zur ,-ili>np, d. h. zur Unterlassung jeder Handlung und jeder Betätigung, welche niclit direkt zum Jisroelsziele führt. Nicht nur dann unterlässt der tmp eine Tat, wenn die Möglichkeit eines Irrtums auch nur ferneliegt, dies wäre bloss mtJ»'''"iQ, sondern er entsagt allem, das nicht veredelnd, jüdisch, fhoragemäss einwirkt auf des Menschen Psyche, auch ohne die angedeuteten möglichen schädlichen Einflüsse. Also ist nü'Hp das immerwährende, in jedem Juden lebendig sein sollende Hinstreben zur sittlichen Höhe.

So ergibt sich die Erklärung von nxöTO als seelische Un- freiheit als Folge physischer Gebundenheit. mn'O ist Gleichgewicht zwischen höheren seelischen und niedrigen körperlichen Energien, wobei der Mensch an sich arbeitet, dass das Hojie überwiegt; und endlich ntJ^np ist das kampflose stetige Ueberwiegen des see- lischen Strebens nach Reinheit, nach den unverlierbaren Ewiirkeits- werten der reinen Seele.

Die Möglichkeit, diese höchste Stufe zu erreichen, verbürgt uns die Thora, indem sie spricht : ,,Seid heilig, denn heilig bin Ich, Euer Gott".

») V'^H zu '3 T"y bemerkt ^^f] pt<3 p^ = r\Vp:,

Eine rätselhafte Ohrfeige. 377

Eine rätselhafte Ohrfeige.

^\i;D^ ioni ^d':'« n"^« P ^ni xtt'o^c' noi «n^: «D^y ^'^iDti N^tr?2^ V'« ^y {«"in "]nD Nir^npi nh^dit nd^); ^^d{< j^n^i «in 1^3 N^mp ^-^pi

„Ein Gottesleugner sprach zu R. Gamliel: Nach eurer Lehre ist, wenn zehn beisammen sind, die Herrlichkeit Gottes anwesend. Da muss es aber viel Gottesherrlichkeiten geben? R. Gamliel liess den Diener des Gottesleugners kommen, gab ihm eine Ohr- feige und sprach zu ihm: Warum geht die Sonne über dem Hause des Gottesleugners auf? Er antwortete: Die Sonne bestrahlt die ganze Welt. Wenn nun die Sonne, die doch nur einer unter den tausend und abertausend Dienern des Allmächtigen ist, die ganze Welt bestrahlt, um wievielmehr der Allmächtige selbst!"

Zu welchem Zweck liess R. Gamliel den Diener des Gottes- leugners kommen und was soll insbesondere die rätselhafte Ohr- feige, die er ihm applizierte ? U. A. .w. g. Y.

[Wir empfehlen unserem verehrten Mitarbeiter, im Dpy pv nachzulesen: dort wird sich ihm das Rätsel klären. Red.]

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378 Literarisches.

Literarisches.

DeatNch, Polnisch oder Jiddisch? Betrachtungen und Urkunden zur Ost- judenfrage von „Germano-J dnis". Preis 1 Mark. Vf^rlag 0. A. Schwetsctike nud Sohn. Berlin W. 57.

„Wir hatten keine Ahnung, dass es dicht vor unserer Tür so etwas gibt", üiese Worte des Ostjudenheftes der Süddeutschen Monatshefte (Februar 1916) gelten auch für die Schulfrage der üstjuden. Wer etwas n.^heres darüber erfahren wil', der greife zu der Broschüre von Germano-Judaeus, die in ver- ständlicher und in nicht allzu einseitiger Weise Aufklärung über diese Frage gibt. Auf die Auszüge und auf die Uebersetzungen aus der jiddischen Presse sei besonders hingewiesen. Am Ende finden sich auch einige Proben aus dem Jiddischen im möglichsten Anschluss an das Original.

Im ganzen kann man die Broschüre fast als ein kleines Vademecum fttr die Ostjudenfrage bezeichnen.

Oded, das Buch des Friedens von Dr. M. Ascher, Neucbatel. 1916. Im Selbstverlag.

Den kurzen biblischen Bericht in) 2. Buch der Chronik, Kap. 28, wie der Prophet Oded es fertig brachte, das kriegerische und siegreiche Israel dem Geigt des Friedens zu unterwerfen, zu einem g-nzen Buch des Friedens auszubauen, war eine gute und glückliche Idee, die der Verfasser auch trefflich auszuführen wusste. „Eine Grosstat war geschehen : man verziclitet freiwillig auf das, was jedem Sieger zusteht. Das siegreiclie Heer gibt nicht nur die Gefangenen zurück, sondern auch die gemachte Beute. Nocli von dem F^i^enen nimmt man wohl und kleidet die Nackten und speist die Hungrigen und salbt die Schmachtenden und lässt die Schwachen auf Eseln reiten. Schon vor den Toren Schomrons angekommen, leitet man die Gefangenen zu ihren Brüdern nach Jericho zurück und das siegreiche Heer zieht mit leeren Händen in seine Haupstadt Schomron ein. Aus dem Hintergrund trauriger Zeiten leuchtet dieses Ereignis wie ein gewaltiges Licht. Nicht mehr um leere W'orte handelt es sich, sondern um Opfer, um eine Tat, die an moralischem Wert weit höher zu bemessen ist als gar manche modernen Schiedsverträge. Man hatte erkannt, dass alle Menschen Kinder de -selben Vaters, also Brüder sind und sich auf ewig Treue geschworen. In diesem Siegeszuge war der König der Geführte und das lifanze Volk der Führer. Der Ruf „Frieden" erschallte über die Menge, die Massen, die Städte, und es war, als ob er auch über die Grenzen der Länder und der Meere erschalle und die Welt erfülle. Es war ein Durchbruch des Gefühls der Zusammengehörigkeit aller Menschen. Israel und Juda hatten weiter nicht«i gemeinsam, als dass ein Gott ihr »Her Gutt war. Dieses einzige Gemeinsame w^ar genügend, iie zu Freunden zu machen. Keine Gotteshuldigung lässt sich herrlicher ausdrücken, als das Erwachen der menschlichen Seele in beiden bisher feindüchen Stämmen. Sollte der Gedanke, der die daraa's alle einte, der Gedanke an den gemeinsamen Vater der Welt, nicht noch heuta genügen, alle Menschen in Ost und West, in Süd und Nord zu Brüdern zu machen? Wie schön wird das Leben bei dem Gedanken „Frieden auf Erden". Salem, Salem, Brüderstimmen eines mächtigen Klangs im Einvernehmen, vertiefte, unhemmbare, brausende, jauchzende Brüderstimmen, erklingt auch heute weiter und erlöset eine tief traurig« Welt !"

Inhaltsverzeichnis

zDin 4. Jahrgang (1917) der jüdischen Monatshefte

I. Heft: Seite

1. Das schlafende Gewissen - 1

2. Shylok ,..:.... 12

3. Zur Proselytenfrage 21

4. Zum jüdischen Eherocht 27

6. Notiz 36

IL Heft;

1. Haarverhüllung 37

2. Halachisches zu Purira . . . , 46

3. Naseustern , ,52

4. Lodz, das gelobte Land 59

III. Heft:

1- nübü: rin^l2D 71

-^- z'-n-i N^jicD ]2;)Tr\ 7i

3. Unsere Bitte um Tau , . . 73

4. Der kuriose Mah'rscha 82

5. Der gute Ton 84

6. Die niCID ^DIN 88

7. Chronik 95

8. Notizen 98

IV. Heft:

1. Zwanzig Jahre Zionismus 97

2. Einmal ist keinmal 116

3. Luzarettgedanken 119

4. Literarisches 124

5. Talmudisches 126

6. Notizen 128

V. Heft:

Die Neuorientierung des deutschen Judentums 129

VI. Heft:

1. Von der Frankfurter Jeschiwah , . . 165

2. D«r kuriose Mah'rscha und der gute Ton 171

3. Das jüdische Kriegsrecht und die Yran 185

VlI. Heft: Seite

1. Schilos Untergang 197

2. Von unserer Jugend 207

3. Eine , Entgleisung" des Gerrer Rebbe V : 214

4. „Einmal ist keinmal" 216

5. Chronik 219

«. Talmudisches 222

7. Literarisches 224

8. Notiz 224

VIII Heft :

1- übij? mn Dvn 225

2. Taschlich 228

3. Sosiale Ethik 236

4. Das jüdische Kriegerecht und die Frau (Forts.) .... 251

IX. Heft:

1. Heldentum 257

2. Das Bachweidenblättchen 2tjl

3. Zum 11. Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft 295

X. Heft:

1. Zwei Feinde 287

2. Eine Trauiingsrede 290

3. Die heilige Zahl 293

4. Der schöne Arthur . 297

5. Soziale Ethik (Forts.) 300

6. Das jüdische Kriegsrecht und die Frau (Forts.) .... 309

7. Retter des Judentums 315

8. Literarisches 317

9. Kuriosa , 31^

XL Heft:

1. Die Sehnsucht nach dem Ende 319

2. Vom Christentum 323

3. Über die Grundideen des Buches Hieb 336

4. Literarisches 3o0

XII. Heft:

1. Ohne Mehl keine Thora 351

2. Zur Palästinafrage 358

3. Die mährische Landrabbinerwahl vor 70 Jahren . . . 360

4. Zu Joma 86 a 368

== IDJ/'b 31ü Cri"! ===

JUEDISCHE

mONflTSHeFTE

herausgegeben vou Rabbiner Dr. P. Kolin, Ansbach, unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Saioraon Breuer, Frankfurt a. M.

Jalir^ang: 4. Heft 1

Das schlafende Gewissen.

Von Bertha Pappenheim in Frankfurt a. M. geht uns folgender Aufsatz zu :

„Weh' dem, dessen Gewissen schläft. Die lebenserhalterde Wirlsung der heiligen, sozialen, jüdischen Religionsgesetze ist so i.i Hirn und Blut der gesamten Judenschaft übergegangen, dass der soziale Sinn der Juden als der erweiterte »Familiensinn der Juden", sowie dieser als eine Stammeseigentüm- lichkeit bezeichnet werden kann.

Die Enge des altjüdischen Gemeinschaftslebens in Deutschland (vor der Emanzipation und Freizügigkeit) gestattete jedem einzelnen Manne mit vie grösserer Leichtigkeit als heute die Erfüllung aller Gebote, nicht nur, soweit sie sich auf die Ritualvorschriften beziehen, sondern auch, soweit es auf das Zusammenleben bezügliche Gebote sind. Das wirkte natürlich bestimmend auf die Form des Gemeindelebens nnd das, was man heute in entwickelten Ver- hältnissen dessen sozial« Aufgabe nennt. |Für die jüdische Fran war die Teilnahme an diesen Aufgaben religiös, also auch praktisch karg bemessen, ein Verhältnis, das sich innerhalb des Gemeindelebens durch die den Frau- n anerzogene Teilnahmlosigkeit für jüdische Interensen heute noch in ihrer Interessenlosigkeit an der jü'Hschen Gesamtheit bitter rächt.

Um aber in jenen Ghettozeiten den Erfordernissen der Gemeinde zu genügen, bedurfte es nicht wie heute spezieller Erfahrungen und Kenntnisse. Die (rrundlage für die Beherrschung der Erfordernisse dt« Khillelebens und

Das schlafende Gewissen

Wegweiser für alle Vorkommnisse bildete die Kenntnis der religiösen Vor- schriften. — Als Tradition war sie Gemeingut alier und durch das weitver- breitete und sehr geachtete Studium des jüdischen Schrifttums blieb sie in allen Teilen Ifrisch und lebendig.

Ihrem Geiste nach bildet die jüdische Gesetzgebuno: eine wertvolle breite Basis für jede» Gemeinschaftsleben. Die Anforderungen, die an die moderne soziale i&esetzgebung gestellt werden und dort oft als geistiges Neu- land gelten, sind in den wichtigsten Teilen mit altjüdischen Gesetzen identisch; dort wo sie religiös betrachtet als christlich angeBprocben werden, sir.d sie nachweislich jüdisch (Sonntagsruhe, Mutterschutz, Familienpflege, Fleischbe- schau u. s. w.). In dem alten jüdischen Gemeindeleben mit der unumstöss- lichen religiösen Auffassung, nach der Gebot und Guttat eins sind, konnte sich eine soziale Betätigung nur nach den Normen der religiösen Vorschriften entwickeln.

Die Wechselwirkung zwischen religiösen und sozialen Motiven des Handelns, in dem Objekt und Subjekt des Wohltuns ihre Stellung auch vertauschen können, lässt es unter Umständen \'om jüdiscehen Standpunkte weniger wichtig sein, welchen praktischen sozialen Erfolg eine trebutene Wohltat Mizwah hat, wenn sie nur die Erfüllung des Gebotes ist. Damit wird ein grosses Stück Verantwortlichkeit für die oft in den Zeitläuften sich verändernden Folgen einer Handlung natürlich zum Nachteil dfer Gesamt- heit — abgeschnitten oder ausgeschaltet. In der Enge des Khillelebens gab €8 aber in sozialer Beziehung jahrhundertelang keine sich verändernden Zeit- oder Tagesforderungen. In dem Khillerahmen genügten der religiös angespornte gute Wille, gntes Herz und gutes Geld für die Erfüllung der sozialen Pflichten.

Mit diesen drei Energien konnte unendlich viel geschehen und ist auch unendlich viel getan worden.

Kälte und Hunger, Geburt und Tod, Krankheit und Verarmung stellten in der Ghettozeit der Hilfsbereitschaft durch die einfachen durchsichtigen Ver- hältnisse, in denen sich das Leben abspielte, einfache Aufgaben. Die Lage der Bedürftigen, der schmerzlich Betroffenen selbst gab gleich di« Richtung, nach der die Hilfe gebracht werden konnte. Alles lag menschlich zugäng- licher; es gab keine „Fälle".

Tm historischen Fortgang bedeutete aber auch neben den persönlichen und Einzelleistungen das Entstehen von Stiftungen und die Gründung von Vereinen keine Erneuerung dT Y ürsorgetechnik oder gar eine ^Einordnung derselben in notwendij^werdende neue allgemeine Normen.

Die erste und einzige sachgemässe Abspaltung, die sich in der jüdischen Arbeit entwickelte, war, dass die Geldanf eleg«nheit<!n der Vereine und Stiftun- gen meist Männern übertragen wurden, denen sie durch ihren Beruf oder durch persönliche Uebung technisch geläufig waren, und die auch das nötige Ver- traven für dieses Amt genossen. Anderes Verständnis wurde selten verlangt.

Das schlafende Gewissen.

Das erklärt den dominirenden Einfluas von Bankleuteu and Advokaten in Stiftungen und Vereinen neben den sonst nur in erster Linie religiös be- strebten wohlmeinenden Stiftern, Gönnern und Pflegern auf dem Gebiete der Wohltätigkeit.

Dass eine religiöse Wohltat eine soziale Missetat werden kann, wenn man gewisse Versteinerungen ond Willkürlichkeiten, die sich gebildet haben, und die das Licht des Geistes, der die Guttat verlangt, verdunkeln, wenn man sie nicht aus dem Wege räumt, ist vielen Wohlmeinenden bis heute noch nicht ausreichend zum Bewusstsein gekommen.

Das erklärt innerhalb des jüdischen Gemeinschaftslebens an manchen Steilen das Vorhandensein grosser Opfer, d. h. Geldgebebereitschaft und zu- gleich die gutherzige, kurzsichtige Regellosigkeit und Undisziplinirtheit, an denen der grösste Teil der modernen jüdisch-sozialen Arbeit leidet.

Hier ist das deutsche jftdische Gemeindeleben an einem deutlich erkenn- baren Punkte stehen geblieben : dort, wo für die Majorität der deutschen Juden der religiöse Gedanke nicht mehr stark genug ist, Bekenntniswille und Lebenswille zugleich zu sein.

Die Uebertragung der Guttat (als Zwillingsgedanke des religiösen Ge- botes der Mizwah) auf das Geleise der disziplinirten sozialen Handlung, dieser Weg, der in eine grosse, schönerbelebte jüdische Welt hinausführen könnte, ist von den deutschen Juden nicht rechtzeitig erkannt und verfolgt worden.

Der grosse, fortreissende Zug sozial-politischer Entwicklung, der eich in den deutschen, politischen Kommunen aufbauend bemerkbar macht, hat das jüdische Gemeinde- und Vereinsleben nicht erfasst. Zwar sind Juden und be- sonders Jüdinnen an allen Aeusserungen dieser Zeitbestrebungen lebhaft be- teiligt ; aber diese Beteiligung bedeutet für das jüdische Gemeinschaftsleben mehr einen Abfloss und Verlust an Kräften. An verhältnismässig nur wenigen Stellen jüdischen Gemeinde- und Vereinsl'ibens zeigt sich der Wunsch und das Verständnis, die Erkenntnisse und Methoden der sogenannten unkonfessionellen oder interkonfessionellen sozialen Arbeit auch zur Erhaltung und zur Stärkung des jüdischen Gemeinschaftsgedankens anzuwenden.

Hier liogt der Keim der Schwäche, des Rückganges, vielleicht auch einer bevorstehenden Autlösung des Judentums, wobei natürlich nicht mit Jahrzehnten, aber doch, wenn keine Besinnung eintritt, mit wenigen Menschen- altern zu rechnen sein wird.

Das Versickern der jüdischen Volkskraft wird aber noch durch einen anderen Umstand im höchsten Grade gefördert und beschleunigt. Die furcht- bare Zerrissenheit in der Judenschaft selbst, der Elbogenkampf, der vom Agudah-Mitglied bis zum Reform -Jud«>n im Sonntagstempel in Gemeinden, Vereinen und Verbänden, um Wert, Bedeutung, Herrschaft und Vorherrschaft geführt wird, macht die ;Judenschaft innerlich verbluten. Das Fehlen von Solidarität und edelem Selbsbewusstsein in Momenten, wo nur die höchste Anspannung von Gemeiaschaftsgefühl Lebenswillen und Abwohrkraft den

Das schlafende Gewissen.

Feinden gegrenüber gibt, schwächt die Jiulenheit nach aussen und iässt einen weisen Nathan herbeisehnen, der uns über unsern Wert und unsere Würde als Träger unserer ethischen Miision unter den Völkern neu belehrte und vor allem auch einen King wünschen, der vor Gott und den Menschen ange- nehm machte.

Wenn wir nicht auf „einen interegsanten Rest e'ner einst ethisch, intel- lectuel und wirtichaftlich ibndeutsaiuen Religionsgemeinschaft" zusammen- schmelzen wollen, dann müssen wir uns aufraffen, uns prinzipiell und organi- satorisch einen neuen festea Zusammenschluss ru sichern. Dieser wäre auf die tragkräftige, soziale Seite der jüdischen Gesetzgebung aufzubauen. In- dividuelles, Trennendes ist bewusst zu übergehen, das Gemeinsame umso besser herauszuarbeiten, ein Programm autzustelleu, in dem jeder Jude und jede Jüdin, auch wenn sie von ihrer Volkszugehörigkeit wenig mehr als ihre Abstammung kennen, ein interessantes, wichtiges, sympathisches Arbeitsfeld finden kann.

Als eines der wichtigsten, geistigen Kettenglieder für den Zusammen- schluss der Judenschaft ist die Mitarbeit der Frau an allen verant- wortlichen Stellen des jüdischen Gemeinschattsieben zu nennen. Von ihrem Verständnis, von ihrem Willen und ihrer Treue hängt der Geist a'), der im Hause und in der Gemeinde herrscht ; sie kann dem sozialen Leben Har- monie und gute Gesinnung geben, ebenso wie sie auch Misston und Charakter- losigkeit verbreiten kann, wenn sie planlos ihre nächsten Interessen entzogen dahingeht.

Der praktischen Arbeit bietet ein solcher Zusammenschluss als ein Verband für jüdisch-soziale Arbeit ein unendlich umfassen- des Pi'Ogramm, von dem hier nur die hervorragendsten Punkte anzudeuten sind. Da gilt es vor allem, sich in der jüdischen Wohlfihrtspflege ant die wirksamste Handhabung der Armenpflege nach bestimmten allgemeinen Normen zu vereinen in einer Zentralisation des Armenwesens unter prak- tischer und finanzieller Mitwirkung und Mitverantwortung der Gemeinden.

Um deren Wirksamkeit zu erhöhen, ist die Einbeziehung der Vereine, Anstalten und Stiftungen als ein Fürsorgerat des Armenwesens, besonders für die grossen und mittleren Gemeinden nötig. Um idie Anstalten, Krankenhäuser u. s. w. untereinander zu verbinden, ebenso aus Gründen der Ersparnis und der Sichersteliung für den Verbrauch (für Webwaren, Lebensmittel, Milch, Fett, Fisch, Kartoffelu, Kohlen, Seife u. 8. w.) .empfiehlt sich die Gründung einer grossen Konsum- und Einkaufggenossenschaft der jüdischen gemeinnützi- gen Anstalten; wo es irgend angeht, wäre landwirtschafrlicher Petrieb (Lehr- und Arbeitsgelegenheit) einzuführen.

Bekämpfung der fahrlässigen Wohltätigkeit und Ge- währung von Unterstützungen nach volkserzieherischen Grund- »^ z e n .

Das schlafe!) de Gewissen.

Bekämpfung d^^s Wanderbettels und des Hauaier- h a n d e 1 s unter den Juden, besonders bei Frauen und Jugendlichen.

Förderung v o n B e r u f s b e r a t u n g en u n d A r b e i t s n a c h" weisen für männliche und weibliche Lehrlinge, höhere Berufe, männliche und weibliche Arbeitsuchend?.

Wohnungsfürsorge und Wohnungsnaehweis.

Einrichtung von jüdicsher Sammel Vormundschaft für alle jü- dischen Gemeinden Deutschlands.

Bereitstellung von Mitteln für Erziehungsbeiträge für jedes schutzlose und von der Famihe getrennt erziehungsbedürftige jüdische Kind, ehelich oder unehelich.'

Förderung aller Unternehmungen der jüdischen Jugendpflege.

Bekämpfung der Tuberkulose unter den Juden .

Einberufung von Konferenzen über Fragen aus den Gebieten der Armenpflege, der Erziehung, der Sittllichkeitsfrage» Berufs- und Bildungsfragen, Bevölkerungsproblem u. 6. w., Preisausschreiben für besondere Arbeiten oder für praktische Studien auf diesen Gebieten.

Förderung der Frühehe und aller darauf hin zielenden Unter- nehmungen, U. 8. W., U. S. W., U. S. W., U 8. W.

Dies natürlich nur in grossen Umrissen der we>entliche Inhalt des Ver- baudsgedankens. Organisatorisch hätte er imter Führung einer Kommission des Deutsch -Israelitischen Gemeindebundes und engster Mitarbeit der grossen bestehenden Organisationen alle Gemeinden dem Programme nach zusammen- zufassen und vor allem dafür zu sorgen, dass an Stellen, wo zur Zeit gut- herziger Dilettantismus waltet, Sachkunde und Disziplin eintritt.

Tüchtige Berufsbeamte müssen dorthin berufen werden, wo es die Stetigkeit der Arbeit verlangt. Dabei kann und darf niemals und nirgends auf den Einfluss und das Mitschalfen der freiwilligen Hilfskräfte verzichtet 'irerden, um nicht der papierenen Seele des Bureaukratismus zum Selbstzwecke zu verhelfen. Aber die freiwilligen Arbeiter müsseo solche Männer und Frauen sein, die noch in engster Fühlung mit dem Leben stehen, die sich Zeit nehmen müssen und wollen, in klugem treuen W^alten eine wichtige Stelle auszufüllen, nicht Veteranen des Lebens, die noch Zeit haben.

Und für Nachwuchs in den Aemtern muss freimütig gesorgt werden denn von der Qualität dieser Arbeit hängt die Kraft und das Gedeihen und damit die Zukunft des deutsf'hen Judentums ab.

Wehe dem, dessen Gewissen schläft."

Wir bringen diesen Aufsatz zur Kenntnis unserer Leser, weil er uns typisch erscheint für die gegenwärtige Gemütsverfassung weiter Kreise der deutschen Judenheit. Alle möchten helfen, die

I

Das schlafende Gewissen.

neuen sozial- ethischen Impulse, die das furehtl)are ;Erlebnis des Weltkrieges in edlen Herzen ausgelöst hat,, auch 'dem Judentum nutzbar zu machen, doch nur die wenigsten sind sich klar darüber, dass nirgendwo vielleicht Neuorientierungsversuche auf eine solche Fülle von Widerständen stossen, wie gerade im deutschen Judentum. Frl, Pappenheim spricht eine Sprache, die wir nicht verstehen. Sie möchte wie Tausend Andere eine neue jüdische Welt autbauen, in der alle deutschen Juden vom orthodoxen Agudisten bis zum reformjüdischen Sonntagsgottesdienstbesucher sich heimisch fühlen, und dass eine solche Traumwelt" nicht einmal in ihren Grundrissen realisierbar scheint, diese schwere Schuld schiebt sie unserem schlafenden Gewissen zu. Wir werden uns nie verstehen, und es wäre darum auch völlig zwecklos, liier weitläufig über den Inhalt des vorstehenden Aufsatzes zu debattieren, wenn es nicht doch von Zeit zu Zeit recht wertvoll wäre, unsern Lesern zu zeigen, welche tiefe Kluft im Denken und Fühlen die deutsche Judenheit auch dort durchzieht, wo scheinbar die Möglichkeit eines gegen- seitigen Sichverstehens gegeben ist. Was sollen wir dazu sagen, dass unseren Grossmüttern imd Urgrossmüttern unter dem unge- brochenen Gbettoregime des jüdischen Religionsgesetzes eine „Teil- nahmslosigkait für jüdische Interessen" „anerzogen" wurde, die sich heute noch in der „Interesselosigkeit" ihrer Enkelinnen „an der jüdischen Gesamtheit bitter rächt" ! Wir meinen, die jüdischen Frauen der alten Zeit haben für jüdische Dinge ein Interesse an den Tag gelegt, um welches die jüdischen Frauen der neuen Zeit sie auch dann noch beneiden dürften, selbst wenn jemals ihr Ge- wissen aus seinem Winterschlaf zu einem neuen, starken Lebens- frühling erwachen sollte. Was kann eine jüdische Frau für die jüdische Gesamtheit Grösseres leisten, als ein reines jüdisches Haus zu führen und ihre Kinder „auf den Knien der Thora und Gottes- furcht" zu erziehen ! Wenn unsere heutigen jüdischen Frauen für die jüdische Gesamtheit vielfach ein solch geringes Interesse haben, dass sie den Spott ihrer Freundinnen fürchten, wenn sie einem dritten Kinde das Leben schenken : Du, lieber Himmel, was können unsere Grossmütter und Urgrossmütter dazu ! Die hatten freilich niemals den [Ehrgeiz, „an allen verantwortlichen

Das schlafende Gewissen.

Stellen des jüdischen Gemeinschaftslebens" sich hervorzutun, weil ihnen das na^JQ "[So na mUD Sd ein Lebensprinzip nnd nicht blos eine romantische Redefloskel war, deshalb war's aber doch, im letzten Grunde ihr „Verständnis" und ihr „Wille" und ihre „Treue", die den Geist bestimmten, „der im Hause . und in der Gemeinde herrschte" und sie würden sich auch heute noch schönstens für die Ehre bedanken, statt im Haus und in der Familie ihrer Be- stimmung zu leben, auf öffentlichen Tribünen des jüdischen Ge- meinschaftslebens als die „wichtigsten geistigen Kettenglieder für den Zusammenschluss der Judenschaft" zu paradieren. Zu einer solchen Parade bedarf es eines Wagemutes, der dem Tempera- mente unserer Grossmütter und ürgrossmütter abging. Ihnen war jenes stille weibliche Lesensideal, das sich hinter dem unübersetz- baren Wort myj!: verbirgt, ein Juwel, dessen Glanz alle „Ketten- glieder" überstrahlt.

Wer die jüdischen Frauen der alten Zeit und die altmodischen der neuen Zeit für rückständig hält, wird naturgemäss auch die alma mater des jüdischen Lebens, die Thora, für eine zwar ehr- würdige, an weisen Gedanken (wie Mutterschutz, Fleischbeschau etc.) nicht arme, in manchen Beziehungen aber doch recht rück- ständige Matrone halten. Er wird auf der einen Seite zugeben, welch ein ethisch wertvoller Begriff die „Mizwah" ist, wird aber doch auf der andern Seite, unter dem Einfluss des „grossen, fort- reissenden Zuges sozial-politischer Entwicklung" stehend, feststellen müssen, dass die auf das Konto des Begriffs der Mizwah als einer auf Grund eines Gotteswortes und im Vertrauen auf Gott zu übenden Handlung zu setzende Ausschaltung „eines grossen Stückes Verantwortlichkeit für die oft in den Zeitläuften sich ver- ändernden Folgen einer Handlung" der Gesamtheit „natürlich zum Nachteil gereicht". Welch ein Spiel mit dem Begriff der „Mizwah"! Giebt Jemand zu, dass wir im jüdischen Religionsgesetz ein System von Lebensregeln vor uns haben, welches heute noch so gut wie vor Jahrtausenden uns massgebend sein kann und muss, welcher Überhebung macht er sich dann schuldig, wenn er sich selbst oder dem sozial-politischen Geiste, dem er gleicht und den er begreift, eine bessere Überschau über die Folgen seiner Handlung zutraut,

Das schlafende Gewissen.

als jenem Religionsgesetz, das er wohl nicht beseitigen, aber ge- rade dort in seinen Ansprüchen beschneiden möchte, wo sein reli- giöses, überirdisches Wesen sich herausstellt. Wären wir berech- tigt, das jüdische Religionsgesetz beiseite zu schieben, wann immer es sich erkühnen sollte, dem „grossen, fortreissenden Zuge der sozial-politischen Entwicklung" sich hindernd in den Weg zu stellen, warum sollten wir nicht immer unsere eigene Vorsehung spielen dürfen: wozu bedürfte es, bei einer blos relativen Geltung der Thora, einer alle Zeiten überdauernden Pflicht, sie zu heiligen! Das Judentum wird ein Ujiglück, ein überflüssiger Ballast, wenn es aufhört, die absolute Le|ensregel für jüdische Menschen zu sein. Uns müssen Thora und Mizwoth absolut massgebend sein, auch dort, wo ihre strikte Befolgung uns die Pflicht auferlegt, den „fortreissenden Zug der sozial-politischen Entwicklung" ein klein wenig zu bremsen. Aber wie, wenn ganz unverkennbar eine „re- ligiöse Wohltat" sich als eine „soziale Missetat" erwies? Nun, wir bestreiten ganz entschieden, dass ein fall möglich ist, wo eine Wohltat, die wirklich von Religionswegen geschehen musste, sozi- alen Unsegen verbreitet. Wir haben in den npl'^ maSn des Schul- chan Aruch ein Beispiel vor uns, dass das jüdische Religionsgesetz nicht blos in Sachen Fleischbeschau und Mutterschutz, sondern auch auf dem Gebiete der Philantropie mustergültiges schon zu einer Zeit gedacht und gefordert hat, wo die „sozial-politische Entwick- lung" noch sehr wenig „fortreissendes" an sich hatte. Im Sinne dieser nT:>'\':i n^:ihr^ ist eine Wohltat, die sozialen Fluch verbreitet, auch von Religionswegen als Unsegen zu betrachten. Allerdings erlaubt sich das Religionsgesetz über den Begriff der „sozialen Missetat" Anschauungen zu haben, die vielleicht nicht „fortreissend" sind, dafür aber dem ethischen Gesaratgeiste des Judentums sich harmonischer einfügen, als etwa die moderne sozial-politische Rigoro- j sität, die „diszipliniert" genug ist, einem „Wanderarmen'' dieThür vor der Nase zuzuschlagen, falls er nicht schwarz auf weiss nachweisen kann, dass er nicht aus angeborener Lust am Wandern zum Wander- armen wurde. Die nplif m^Sn wir werden sie demnächst an dieser Stelle ausführlich darzustellen versuchen enthalten eine Fülle von Richtlinien, die dem gesetzestreuen Juden zeigen, wo und wann das jüdische Herz seine Menschenliebe frei ausströmen lassen darf

Das schlafende Gewissen.

und wann diese Liebe mit der Bremse der Vernunft zu disziplinieren und zu regulieren ist. Wäre es nicht ein' Wunder, wenn gerade auf sozialem Gebiete dasselbe Religiousgesetz in „Willkürlicbkeiten" schwelgen würde, welches auf anderen Gebieten, z. B. in gesell- schaftlichen Fragen (Traueretikette etc.), wo der moderne Mensch sich rein gefühlsmässig zu geben pflegt, das frei schweifende Ge- fühl in eiserne Fesseln schlägt?

Die geehrte Verfasserin obigen Aufsatzes sieht den „Keim der Schwäche, des Rückganges, vielleicht auch einer bevorstehen- den Auflösung des Judentums" in der von ihr mit beweglichen Worten beklagten Tatsache, dass an verhältnismässig nur wenigen Stellen jüdischen Gemeinde- und Vereinslebens sich der Wunsch offenbart „die Erkenntnisse und Methoden der sogenannten unkon- tessionellen oder interkonfessionellen sozialen Arbeit auch zur Er- haltung und Stärkung des jüdischen Gemeinschaftsgedankens anzu- wenden". Nun, es mag schon sein, dass das jüdische Gemein- schaftsleben bisher nicht fähig oder gewillt gewesen ist, die sozialen Errungenschaften der Neuzeit sich zu nutze zu machen. Das wäre umso erstaunlicher, als in der spezifisch religiösen Sphäre das jüdische Gemeindeleben gerade in der Neuzeit als ein durchaus fortbildungsfähiger Organismus mit allezeit offenen und für alles Nicht- und Uujüdische ungemein empfänglichen Poren sich erwies. Vielleicht drückt sich aber in dieser auöälligen Reservierheit ge- genüber dem sozialen Modernismus die instinktive Angst aus, die es, solange es nur irgendwie geht, vermeiden möchte nachdem nTin und ,"!"•;>• dem Moloch der Neuzeit längst zum Opfer fielen nun auch CID" mS'öJ, diese dritte und letzte Domäne des alten Judentums, jenem Götzen preiszugeben. Denn so einfach wie sich die Verfasserin die Hinüberleitung des jüdischen Zdokohwesens aus seiner überlieferten Form in die modernen Formen sozialer Betätigung senkt, wird sie sich schon deshalb nicht bewerkstelligen lassen, weil hierbei eine ganze Reihe von religiösen Vorfragen erledigt werden müssen, soll der mögliche Schaden nicht grösser als der wirkliche Nutzen sein. Wir müssen uns nämlich sehr da- vor hüten, die „furchtbare Zerrissenheit in der Judenschaft" in ihrer Wirkung auf das soziale Leben zu unterschätzen. Schon ein kurzer

10 Das schlafende Gewissen.

Blick auf das Programm des „Verbandes für jüdisch-soziale Arbeit" lehrt, wie ein solcher Verband jene ,, furchtbare Zerrissenheit" nicht heilen, sondern gerade im Gegenteil die jüdische Kulturfrage oder sagen wir doch einfach, die;^Frage der religiösen Zusammen- gehörigkeit der deutschen Juden selbst auf solchen Gebieten auf- rollen würde, wo man ihr bisher mehr ängstlich als konse(|uent aus dem Wege ging. Der Verband soll „nach volkserzieherischen Grundsätzen" Unterstützungen gewähren. Er soll landwirtschaft- lichen Betriebe mit Lehr- und Arbeitsgelegenheit einführen. Wird ein gewissenhaftes „Agudah-Mitglied," welches ja nach Bertha Pappenheims Projekt in diesem Verband sich so heimisch fühlen soll wie der „Reformjude im Sonntagstempel", umhin können, sich nach dem Geiste dieser „volkserzieherischen Grundsätze" und nach der Stellung des Sabbaths in den zu schaffenden Lehr- und Ar- beitsgelegenheiten eingehend zu erkundigen? Und wird er nicht im Sinne seiner religiösen Anschauung verpflichtet sein, sich, bevor er seine Mitarbeit im Verbände zusagt, genau zu orientieren, ob auch die geplante „Bekämpfung des Wanderbettels und Hausier- handels" mit den religionsgesetzlichen Bestimmungen über nmyn ''JJ? DlpöS Dipöü harmoniert? Würde nicht gerade ein solcher Verband, statt die furchtbare Zerrissenheit innerhalb dnr Judenheit zu heilen, sie umgekehrt in ihrer ganzen Tiefe und Breite erst rech" deutlich offenbaren ? Und die Sittlichkeitsfrage, die Biidungsfrage, die Jugendpflege ! „Weh dem, dessen Gewissen schläft \" Gewiss tut der Anblick des schlafenden sozialen Gewissens der deutschen Judenschaft bitter weh. Es giebt aber auch ein religiöses Gewissen, Frl. Pappenheim, und es hiesse das Kind mit dem Bade aus- schütten, wollte man das soziale Gewissen wecken, indem man das religiöse zu ewigem Schlafe betäubt.

Die Zerrissenheit der deutschen Judenschaft ist keine mut- willige oder in Kurzsichtigkeit und Unverstand begründete, sondern eine historische Erscheinung, die aus der jüdischen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts nur zu sehr verständlich ist. Kein „weiser Nathan" wird hier mitsamt seinem Ringe jemals etwas ausrichten können, solange seine ganze Weisheit darin besteht, die Juden= schaff über ihre „ethische Mission unter den Völkern'' zu belehren

Das schlafende Gewissen. H

und sie „vor Gott und den Menschen angenehm" zu machen. Ueber ethisches Salonjudentum ist denn doch auch die deutsche Judenschaft in ihrer überwiegenden Mehrheit allmählich hinausge- wachsen. Auch in den Reiben der liberalen Judenschaft dämmert langsam die Ueberzeugung, dass es sich um des bischen Ethik willen, die aus christlichem Pokal sich ebenso behaglich schlürfen Hesse wie aus jüdischem, nicht verlohnt, das Martyrium des jüdi- schen Namens auf Kind und Kindeskinder zu vererben. Nur für ein religiöses oder nationales Ideal, das Wärme und Kraft ver- breitet, verlohnt es sich zu leben und zu sterben, und dass ein Zusammenscharen der Judenschaft um einen „weisen Nathan" und seinen Ring sie vor den Menschen, zu denen ja auch die Anti- semiten gehören, „angenehm* machen wird, dürfte auch Frl. Pappenheim nicht unbedingt behaupten wollen, wenn sie das anti- semitische Dogma von der Solidarität der Juden bedenkt Aach möchten wir stark bezweifeln, ob ein wirklich weiser Nathan zu allen Programmpunkten des „Verbandes für jüdisch-soziale Arbeit" sich so ohne weiteres bekennen würde. So dürfte er wohl über das, was man heute „disziplinierte Wohltätigkeit" nennt, seine eigenen Ge- danken haben. Denn wie heisst es doch so schön in Leasings Nathan :

„. . . Er gab so unhold, wenn er gab; Erkundigte so ungestüm sich erst Nach dem Empfänger; nie zufrieden, dass Er nur den Mangel kenne, wollt' er auch Des Mangels Ursach wissen, um die Gabe Nach dieser ürsach filzig abzuwägen."

R. B.

12 Shylock.

Shylock.

Von Prof. Dr. Josef Caro (Frankfurt a. M.).

lu jüngster Zeit sind von zwei anerkannten Gelehrten, Pro- fessor Creizenach und Professor Schröer, Aufsätze über Shylock erschienen, die wieder einmal die Aufmerksamkeit auf diese „gro- teske Figur" lenken. Creizenach wendet sich in seinen Beob- achtungen über den Kaufmann von Venedig (Shakespeare Jahrbuch, Bd. 51, 169fiP.) dagegen, dass „manche Kommentatoren und manche Schauspieler den unzweifelhaften Sinn des Dramas durch Hineintragen modern-liberaler Tendenzen fälschten und dem hart- herzigen Wucherer menschlich rührende Züge andichteten". Schröer sucht in seiner Abhandlung Zur Beurteilung des Shylock (Englische Studien, Bd. 50, 51ff.), Creizenach zu widerlegen.

Wie Schröer nach den statistischen Angaben des Shakespeare Jahrbuches mitteilt, ist der Kaufmann von Venedig dasjenige Stück Shakespeares, das am häufigsten auf unseren Bühnen er- scheint, 1583 mal in den 10 Jahren 1905 1914, die anderen folgen erst in einem weiten Abstand. Für diese merkwürdige Tatsache muss es doch einen Grund geben. Wer einmal einer Theateraufführung des Stückes beigewohnt hat, hat entweder ein Gefühl der Erschütterung oder des Missbehagens empfunden, nur sehr wenige niedrig denkende, sagen wir geradezu, antisemitisch gesinnte Menschen werden frohlockend das Theater verlassen und Shakespeare für ihre „volkischen" Zwecke ausbeuten. Ein ästheti- sches Gefühl erweckt das Stück nicht, von einer Katharsis im Sinne des Aristoteles kann keine Rede sein. Man wende nicht ein, dass es sich hier nicht um eine Tragödie handle. Freilich, nicht dem ganzen Inhalte nach ; aber Shylock, die Hauptperson, ist eine tragische Gestalt ; Antonio, nach dem das Stück heisst, ist nur ^der Mittelpunkt, um den die anderen Charaktere gruppiert sind", wie der treffliche Shakespeareforscher Dawden sich ausdrückt. Ich finde jenen Grund darin, dass das Stück, eins der merkwürdigsten des grossen Briten, schon wegen seiner zwiespältigen Handlung der Zusammenhang der Kästchengeschichte, der Werbung Eassanios um

Shylock. 13

Porzia, mit Shylock- Antonio ist sehr locker ein starkes Interesse, Neugierde erregt ; man will erfahren, ob der Jude wirklich bis zam Aussorsten gehen, sein Ziel erreichen wird. Und für das Vergnügen, die Befriedigung des Auges und des Ohres ist durch das Beiwerk, die lyrischen Einlagen, das Duett Loreuzo-Jessica genügend Sorge getragen.

Fast alle einschlägigen Fragen sind bereits vor längerer Zeit von Honigmann: Über den Charakter des Shylock (Shake- speare Jahrbuch, Bd. 17, 201 ff.) erörtert worden. Honigmann will aber zuviel beweisen, und sieht alles zu schön, das ist ein Fehler. Mir kommt es nur darauf an, zu beweisen, dass Creize- nach irrt, dass er, wie wir sehen werden, befangen ist. Wir wollen rein objektiv, wissenschaftlich vorgehen. Wir brauchen garnicht das Ziel zu verfolgen, Shylock weiss zu waschen, als ob wir in ihm unseren Vertreter sehen, als ob wir uns verteidigen müssen. Uns Juden braucht Porzia nicht zu sagen, dass man Gnade üben soll.

„Die Art der Gnade weiss von keinem Zwang,

Sie träufelt, wie des Himmels milder Regen,

Zur Erde unter ihr; zwiefach gesegnet:

Sie segnet den, der giebt, und den, der nimmt;

Am mächtigsten in Mächtigen, zieret sie

Den Fürsten auf dem Thron mehr als die Krone.

Das Zepter zeigt die weltliche Gewalt,

Das Attribut der Würd' und Majestät,

Worin die Furcbt und Scheu der Könige sitzt.

Doch Gnad' ist über dieser Zeptermacht-,

Sie thronet in den Herzen der Monarchen,

Sie ist ein Attribut der Gottheit selbst,

Und ird'sche Macht kommt göttlicher am nächsten,

Wenn Gnade bei dem Recht steht; darum, Jude,

Suchst du um Recht an, erwäge dies,

Dass nach dem Lauf des Rechtes unser keiner

Zum Heile kam,'; wir beten all' um Gnade,

Und dies Gebet muss uns der Gnade Taten

Auch üben lehren." (IV, 1).

14 Shylock.

Ein grosser Teil unserer Gebete ist von dieser Anschauung erfüllt. Wir können sogar ganz ruhig Shylock preisgeben. Es fragt sich aber, ob dies im Sinne des Dichters ist ; das, nur das» ist das Entscheidende.

Bei der Beurteilung eines Shakespeareschen Dramas darf man nicht, was so oft geschieht, ausser acht lassen, dass der Dichter in der Fabel nie originell ist, dass sie nie von ihm er- funden ist, unü es ist so ziemlich sicher, dass er fast immer ältere Stücke bearbeitete, und so kann, muss man schliessen, dass auch für unser Stück eine Vorlage vorhanden war, dass Shakespeare den Stoff nicht einer italienischen Novellen Sammlung direkt oder einer englischen Ballade entnahm. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gab es ein Stück „Der Jude", das 1579 erwähnt wird. Hier dürften die beiden Handlungen bereits zusammengeschweisst gewesen sein, und Shakespeares Verdienst besteht eben in der genialen Überarbeitung seiner Vorlage ; nicht der Stoff an und für sich, sondern wie er ihn darbietet, durchdringt, ist seine Leistung. Eine ähnliche Beobachtung hat man bei Leasings Dramen gemacht, und dessen dramatische Entwürfe sind ein weiterer Beleg dafür. Mit Recht sagt Honigmann (a. a. 0. S. 202) : , Jeglichen Stoff aber, den Shakespeare behandelte, sei er aus der Geschichte oder dem phantastischen Märchenreiche geschöpft, wusste er sittlich und psychologisch zu vertiefen".

Ob nun Shakespeare durch 'den Juden von Malta, diese blutdürstige Schöpfung seines älteren Zeitgenossen Marlowe, oder durch das eben angeführte Drama Der Jude oder durch einen anderen äusserlichen Grund zu seinem Drama veranlasst wurde, ist unsicher, auch nicht von Belang. Wir dürfen nur voraussetzen, dass der Pakt mit dem Stück Fleisch bereits gegeben war. Es ist auch ganz gleichgültig, ob Shakespeare Juden persönlich kannte, eine sehr strittige Frage, die Creizenach und Schröer in bejahen- dem Sinne beantworten möchten, um daraus gewisse Schlüsse zu ziehen. Diese und noch viele andere wichtige Probleme sind, trotzdem die Shakespearekritik bereits so alt ist, noch immer ins Dunkel gehüllt und dürften nie aufgeklärt werden. Selbst die neuesten, dokumentarisch belegten, Forschungen des Amerikaners

Shylock. 15

Wallace haben im Grunde für den äusseren Lebenslauf des Dichters nur dürftige Ergebnisse gezeitigt. So interessant es sein mag, über den Dichter selbst und die Entstehung seiner Werke etwas oder viel zu wissen, so hat dieses Wissen mit dem Verständnis seiner Dichtungen eigentlich nichts zu tun, am wenigsten bei einem Drama, der objektivsten Dichtungsart; hier haben wir uns an das zu halten, was seine Personen sagen und was sich vor uns abspielt. Und wer möchte es wagen, die Person zu bestimmen, der der Dichter seine Absicht in den Mund legt?

Der Leser kennt das Stück. Shylock ist gar kein Wucherer und hält sich auch mit Recht nicht für einen solchen.

„Er schilt selbst da, wo alle Kaufmannschaft zusammenkommt,

Mich, mein Geschäft und rechtlichen Gewinn,

Den er nur Wucher nennt" (I, 3). Und Shylock empfindet zugleich tief die Schmach, die man seinem Stamme antut: ,,Er hasst mein heilig Volk" (ebda); „Er hat mein Volk geschmäht" (III, 1). Wir erinnern wieder und immer wieder an jene ins Mark dringenden Worte, in denen sich die Qual und Pein, aber auch der Zorn und die Entrüstung eines Jahrhunderte lang gedrückten und gescholtenen und verachteten Volkes aus- sprechen: .,Und welchen Grund hat er? Ich bin ein Jude. Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmassen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krank- heiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt, ge- kältet von eben demselben Sommer und Winter wie ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht?" (ebda) Natürlich will Shakespeare keine Verherrlichung der Juden; „aus einer bekannten Geschichte macht er nicht eine ganz andere" (Schröer), und da die Vorlage die Bestrafung des Juden aufwies, übernahm sie Shakespeare. Aber die angeführten Stellen genügen, um jedem klar zu machen, dass der Dichter dem Juden zum mindesten Mildernngsgründe zubilligt, denn welch' anderen Zweck hätten sie? Dass gegen Ende der Gerichtsszene das Recht gebeugt wird, dass Shylock Unrecht geschieht, wie der grosse Jurist Ru-

16 Shylock.

dolph von Iheriüg hervorhebt, sieht auch Creizenach, ihm gefällt ja der letzte Teil der Verhandlung auch nicht. Selbstverständlich wird das auch, wie er annimmt, in dem älteren Drama so vor sich gegangen sein. Aber wenn ein Shakespeare es nicht änderte, nicht ändern durfte, um den Mob sich austoben zu lassen, um eisen Effekt zu erzielen, er war ja Schauspieler und Theaterdi- rektor, so ist damit noch nicht bewiesen, dass er den Rechtsbruch nicht empfand. Über die obigen Worte kommt man nicht hinweg, es kann sie keiner wegdeuteln. Der Dichter will eben Shylock eine gewisse Sympathie sichern. Hierhin gehört auch das Ver- hältnis Jessicas zu ihrem Vater. Shylock geht nicht nur als armer Mann aus dem Gerichtssaale dass der grossmütige Antonio ihm die Zinsen seines halben Kapitals lassen will, muss seinen Stolz kränken , sondern er kehrt in ein ödes Haus zurück, sein einziges Kind hat ihn verraten und verlassen. Mag man es dem Juden gönnen, dass sein Geld in christliche Hände kommt, mag man höhnisch triumphieren, dass seine Tochter von einem Christen entführt wird: wer wird für diese Tochter selbst etwas übrig haben, die ihren Vater beraubt und sich dem Christen an den Hals wirft? So bar alles Gefühls dürfte selten ein Kind gefunden werden. Dass Jessica nicht der Typus einer jüdischen Tochter ist, bedarf eigentlich nicht der Erwähnung. Das erkennen auch gebildete Christen, ,,Sie kann nicht als Muster einer jüdischen Tochter an- gesehen werden, denn 'unter keinem Volke werden die Familien- bande so heilig gehalten wie unter den Hebräern", sagt Thomas Campbell (Remarks 1838); und Schröer a. a. 0. in einem anderen Znsammenhange: „Schon durch seine Familientradition oder seinen traditionellen Familiensinn ist der Jude zu fein organisiert". All- zuschlimm wird es Jessica bei ihrem Vater nicht ergangen sein. Und hat denn dieser nicht guten Grund, der Tochter die Hut des Hauses dringend zu empfehlen, wie die Folge zeigt? „Was? giebt es Masken? Jessica hör' an: Verschliesse die Tür, und wenn du trommeln hörst. Und das Gequäk der quergebalsten Pfeife, So klettre mir nicht an den Fenstern auf, Steck nicht den Kopf hinaus in offene Strasse,

Shylock. 17

Nach Christennarren mit bemaltem Antlitz

Zu gaffen; stopfe meines Hauses Ohren,

Die Fenster mein' ich, zu, und lass den Schall

Der alten Geckerei nicht dringen in

Mein ehrbar Haus." (II, 5). Shakespeare will hier durchaus nicht, wie Creizenach falsch auslegt, ,,die Abneigung des verkümmerten und freudlosen Juden vor dem ..Goj" und seinem ,,Stuss" zu charakteristischem Aus- druck bringen". Vermöge seiner Intuition sah der Dichter, der wenige oder gar keine Juden kannte, richtiger als der moderne Literarhistoriker, der gerade die östlichen Juden aus der Nähe sah. Wenn Shylock seine Tochter warnte, so war der Grund mehr als Stuss, um dieses liebliche Wort zu wiederholen.

Darin stimmen wir mit Creizenach völlig überein, ,,dass Gra- liano gewiss den Beifall der Zuschauer fand, wenn er dem abge- henden Shylock nachruft, er habe eigentlich den Galgen verdient" Woher weiss Creizenach aber, dass Burbage, der erste Shyiock- darsteller, ,,ohne Zweifel" die letzten Worte Shylocks : ..Ich bitt', erlaubt mir, weg von hier zu gehn. Ich bin nicht wohl" mit lächerlich grotesker Gestikulation begleitet hat? Wir erfahren aus einer Elegie auf den Tod dieses Schauspielers nur, dass er eine rote Perrücke trug, über seine Auffuhrung der Rolle rein nichts. Ebensowenig dürfte Creizenach beweisen können, dass die Worte Shylocks :

,,Wär' jedes Stück von den sechstausend Dukaten

Sechsfach geteilt, und jedes Teil 'n Dukat,

Ich nahm sie nicht, ich wollte meinen Schein" (IV, 1) durchaus in dem charakteristischen Ton eines Handels- juden gehalten sind, dass sich in seiner Sprachweise jüdische Anklänge finden. Ich fürchte sehr, dass Schlegels Übersetzung diese Auffassung, die ja nicht neu ist, und wonach manche Schauspieler die Rolle geben, teilweise verschuldet hat. Geben wir meinetwegen zu, was M. J. WolflF (Shakespeare, der Dichter und sein Werk, I, 349) behauptet : ..Die vielen biblischen Wendungen, die häufige Gebrauch der rhetorischen Frage, die

IS Shylock.

Vorliebe für allgemeine Sentenzen, die Wiederholuog des schon Gesagten zeugen für seinen echt jüdischen Ursprung". Aber der englische Zuschauer hat das schwerlich herausgefühlt, und Shake- speare konnte und wollte Shylock durch den Tonfall 'und die Aussprache nicht lächerlich machen. In Deutschland ist das leider eher möglich, wenn man die Schlegelsche Übersetzung (später ist der Satzbau richtig gestellt) vernimmt: Versteht mich, dass er ist vermögend (1,3): Gut, du wirst sehn mit deinen eignen Augen des alten Shylocks Abstand von Bassanio (II, 5); Ein Bettler, der immer so schmuck ist gekommen auf den Markt (III, 1); Und was hat er gehabt für Grund? (ebda.) Hast du gefunden meine Tochter? (ebde.). Diese Worte sind es, die auf unseren Bühnen höhnisches Gelächter hervorrufen, und sie haben mit dem von Wolff Berührten nichts zu tun; der Eng- länder hört hier nichts spezifisch Jüdisches heraus. Ich wüsste auch nicht, weshalb Shakespeare seinen Shylock mauschele oder im Jargon sprechen lassen sollte. Creizenach will heutige ost- europäische Zustände auf das England des 16. Jahrhunderts über- tragen. Die Juden, die Shakespeare möglicherweise gekannt hat, waren doch Portugiesen oder Spaniolen, und nehmen wir den Fall an, dass er, wie manche Forscher glauben, in Italien gewesen ist und sogar in Venedig aiTf dem Rialto Juden gesehen hat, so sprechen sie auch spaniolisch oder reines Spanisch oder italienisch. Und wenn er Juden in England hörte, so war es die reine Sprache, ein Jiddisch oder Jargon gab es damals nicht, und go hat der Übersetzer, so hat der Schauspieler, so hat der Interpret kein Recht, dem Dichter etwas unterzuschieben, was er nicht beabsich- tigt hat.

Es ist also unzweifelhaft, dass zu Gunsten Shylocks, der auf seinem Schein besteht und den Pakt auszuführen entschlossen ist, manches spricht, dass er von dem Dichter nicht als der hartge- sottene, natürliche Bösewicht schlechthin gezeichnet ist. Ist dem aber so, dann hat der Schauspieler geradezu die Pflicht, hier dem Dichter zu folgen. Ganz unerfindlich ist es mir, weshalb Creize- nach es raissbilligt, dass ,,die modernen Shylockdarsteller weniger durch die Worte des Dichters als durch die Betonung und das

Shylock. 19

begleitende Gebärdenspiel den Charakter Shylocks als einen tragi- schen, unser tiefstes Mitgefühl erregenden darstellen".

Die modernen Schauspieler können sich auf keinen Gerin- geren als den genialen Irving berufen, der fest davon überzeugt war, dass Shakespeares Sympathien auf Seiten des Juden waren, und den Shylock demgemäss spielte, im Gegnnsatz zu einer seit dem Schauspieler Macklin üblichen Auffassung.

Wenn man auch nicht so weit wie Honigmann gehen darf, denn es entspräche nicht dem Geiste des 16. Jahrhunderts und Shakespeares, so sind doch nicht wegzuleugnende Momente in dem Charakter vorhanden, die gegen die abstossende Art sprechen, wie Creizenach ihn dargestellt sehen möchte. Das haben bedeutende englische Kritiker längst empfunden, und einige dieser massge- benden Äusserungen mögen hier kurz erwähnt werden.

Nach Swinburne, dem starken lyrischen Dichter der Viktoria- nischen Zeit, flösst Shakespeares Jude im Gegensatz zu dem Mar- towes „Schrecken und Mitleid" (terror and pity) ein.

üazlitt (in seiner Charakteren 1817): „Shylock wird fast ein Liebling (a half-favourite) bei dem philosophischen Teil der Zuschauer, der der Ansicht huldigt, dass jüdische Rache mindestens so gut wie christliches Unrecht ist". Und der wegen seines blen- denden Stils berühmte Schriftsteller fügt hinzu : A man no less sinned against than sinning (etwa : Man sündigt gegen ihn nicht weniger, als er selbst sich vergeht).

J. W. Haies verschliesst sich nicht der allgemeinen Auffassung, die in Shylock ein Ungeheuer sieht und ihn hasst und auszischt. Aber ein schärferes Auge beobachte, dass das Ungeheuer erklärt werde, und der grosse Dichter anatomiere Shylock. Der Christ, der auf sein Werk blicke, habe zum Lachen und Frohlocken keinen Grund, wohl aber zur Scham und zur Traurigkeit.

Der bereits erwähnte Campbell : ,,Wir scheiden von dem Juden mit mehr Liebe als Shakespeare einzuflössen gewagt hat" (than Shakespeare has ventured to insinuate).

Ward (Geschichte der englischen dramatischen Lite- ratur 1875) glaubt auch nicht, dass der Dichter Sympathie für den Juden erregen wollte, meint aber, wenn trotzdem Sympathie

20 Shylock.

erregt werde, so sei sie das zufällige Ergebnis des unbewussten Taktes, mit dem der Dichter den Charakter vermenschlichte (the adventitious resnlt of the imconscious taet with which the poct humanized the character).

Auf diesen unbewussten Takt, auf dieses wagen möchte ich noch eingehen und darauf hinweisen, dass man sich, wenn man nur dem Text keinen Zwang antut, liebevoll in den Dichter versenken, so viel wie möglich aus ihm herausschöpfen muss, ans dem genialen, gottbegnadeten Künstler, wie es Shakespeare war! Wie Creizenach Shylock möchte, wäre er ein Ungeheuer gleich Barabas, ohne menschliche Züge, also unnatürlich, unwahr. Wenn Martowes Jude von Malta heute nur literarisch interessant, der grossen Menge aber unbekannt ist, Shakespeares Kaufmann von Venedig aber noch heute wie vor 800 Jahren lebt, so hat eben Shakespeare der Hauptgestalt seinen Geist aufgedrückt, sie so ge- formt, dass sie natürlich ist, und dazu gehört, dass sie kein Zerr- bild ist, sondern auch sympathische Züge aufweist. „Shakespeare war ein Kind seiner Zeit, betont Schröer, aber doch auch seiner Zeit voraus, was in seinen Werken unwillkürlich und unbeabsich- tigt, notwendigerweise von selbst zum Ausdruck kam".

Zur Proselytenlrage. 21

Zur Proselytenfrage.

Von Rabbiner Dr. Daniel Fink in Berlin,

Zum Verständnisse der nachfolgenden Ausführungen sei das Folgende bemerkt; In der hier erscheinenden Zeitschrift „Jeschurun" war eine iVrbeit des Herrn Rabb. Dr. Wreschner-Samter zum Ab- druck gebracht worden, in welcher u. a. die Ansicht verfochten wurde, dass auch das orthodoxe Judentum seinen bisher vertretenen ablehnenden Standpunkt gegenüber der Mischehe aufgeben und in allen Fällen, in welchen es dem in Mischehe lebenden Mann darum zu tun ist. die religiöse Harmonie in seinem Familienleben wieder herzustellen, der Frau den Eintritt in das Judentum gewähren müsse. Ich war über diese Stellungnahme nicht wenig überrascht, hielt dem entgegen, dass ich von dem Ernst der in Betracht ge- zogenen Motive schon um deswillen nicht glauben könne, weil im- mer nur von dem in Mischehe lebenden jüd. Manne die Rede ist, an dessen Kindern das Judentum gar nicht interessiert ist, weil sie nach dessen unbestrittener Lehre NichtJuden sind. Der ent- gegengesetzte Fall jüdische Frau und nichtjüdischer Mann wird wohl deswegen gar nicht in Betracht gezogen, weil er in Wirklichkeit so gut wie gar nicht vorkommt, weil hier eben der Eintritt Opter heischt, die man eben nicht auf sich nehmen mag. Diese Tatsache allein zeigt, wie ernst die ins Treffen geführten Motive zu nehmen sind. Gerade in diesem letzteren Falle ist das Judentum an der Ehe interessiert, weil die Kinder nach jüdischer Auffassung Juden sind. Davon abgesehen, zeigt die tägliche Erfah- rung deutlich genug, welchen Verlauf derartige hinterher legalisierte Ehen für das Judentum nehmen. Wir hätten gar keine Ursache, auf diesem Gebiete den Wettbewerb mit neologen Rabbinern aufzuneh- men, welche nach der Richtung hin eine sehr rege Tätigkeit zur Entfaltung bringen. Ich verweise auf die höchst lehrreichen Aus- führungen des '!"^^ i"^ 'bn Di^'^n ^i^ü^ii 'n'pnD y^ pnc d"do"i die ich, weil sie so gar grell unsere Situation beleuchten, hier wörtlich

folgen lasse: "^bü "D^^ IN biilV:;^ na y^lTIDH Iltt'D^'^ "n^i bv nby'' bn

b^:D nt2^ viüü ppnD ' i^^:nnb mv:n in ijn nd ^d n:iD:n m^iontt' Ni~ ^^N CN") n-^ ci'DTib ND '1D1 rb rov^ mn^ ^"»z'^d in "^Vls^^ ]}üd n''ry ND'^ IpiiD N^n hb'n dni nmn^ -^i^n in: vry Ncr v-ihn i^piiD N!r:"i i^^j y,]^^]:; \d} ]a^:^ d^^: r,üib'^ n^^jtt' ^c^i 'idi bii'\^^ mnzz n:ni diddh i3^n Dn^^: -"d ^c bv ab^ id- ^^Dt:>D nS< nin n^i:' yn^ -\2ln^ miDiy intt» in^nn bv is'ic n^D^^\]l; l^v^ i^idij? ]-nD^NDi D"iDy p i^^nd

22 Zur Proselytenfrage.

'iDi -DD -Dbir n:D\

Maimonides und ebenso -liy jH^ltt' entscheiden ausdrücklich, dass bei jeder Bewerbung um die Aufnahme in das Judentum, im vorhinein der Fall auf etwaige Nebenmotive zu untersuchen ist, selbst dann noch, wenn keinerlei direkte Anhaltspunkte hiertür gegeben sind. Wie der hier in Betracht gezogene Fall zu be- handeln sei, kann schon um desAvillen keinem Zweifel unterliegen, da hier die ausserhalb der Sache liegenden, treibenden Motive ohne weiteres klar sind. Dr. Wreschner verfocht unter Hinweis auf den bekannten Satz HDiI^^nn ^iDD ICiy^ IDI "]b ]^J< und unter Hinweis auf die Haltung eines bekannten Rabbiners in dieser Frage nach wie vor seinen Standpunkt.

Die Frage betreffend die aus Mischehen hervorgegangenen Proselyten hat in unseren Tagen einen so brennenden Charakter angenommen, dass sie meines Erachtens nicht so leicht von der Tagesordnung verschwinden sollte. Aus diesem Grunde erachte ich es für angezeigt, die Erörterung- über die von Herrn Dr. Wreschner angeschnittene Frage weiter fortzuspinnen. Trotz der gegen mich aufs neue von dessen Seite aufgestellten Argumente vermag ich mich dessen Standpunkt nicht anzuschliessen. Wenn Herr Dr. W. die in Mischehe lebenden jüdischen Ehemänner unter gewissen Voraussetzungen für die Kategorie der n2Wn "'Syi reklamiert, so möchte ich zunächst an klar umschriebenen Merkmalen in Erfahrung bringen, wo diese Kategorie anfängt, wo sie aufhört. Denn es geht doch nicht an, dass ein Rabbiner oder eigentlich Rabbinerkollegium in solchen Dingen einfach nach Gutdünken und Willkür verfahre, dem einen gewähr, was es dem andern versagt. Darauf läuft doch schliesslich die von Dr. W. in Vorschlag gebrachte Massregel hinaus. Ich kann bei dieser Gelegenheit nicht umhin, an eine Anekdote zu erinnern, die man sich von Rabbi Hirschel Berliner S"^iI erzählt. Als er s. Zt. den Entschluss fasste, seine Rabbinerstelle in London aufzugeben, um diejenige der Gemeinde Halberstadt zu übernehmen, hielten ihm seine Anhänger vor, sie könnten einen solchen Ent- schluss nicht begreifen. In London, das schon damals im Mittel- punkte des Weltverkehres stand, hätte er doch schon an durchrei- senden Gästen n^ntt>1 anaij? mehr als in Halberstadt an Q'r\2 'hv2 ? Worauf er trocken zur Antwort gab: Was die a^isiy betrifft, so mag es damit seine Richtigkeit haben, was die D'2f^ anlangt, so wären ihm solche überhaupt noch nicht zu Gesichte gekommen. Doch Scherz beiseite! Bevor wir den in Mischehe lebenden jüdischen Ehe-

Zur Proselytenfrage. 23

mann als n2Wr\ Sj?2 reklamieren, müssen wir zunächst einmal darüber zur Klarheit zu gelangen suchen, wie denn dessen bisheriges Ver- halten vom Standpunkte des Judentums aus qualifiziert wird. Da eine förmliche Eheschliessung unter Beobachtung der vom Staate anerkannten Formen vorliegt, so kann es keinem Zweifel unter- liegen, dass hier das Merkmal x^Dniö vorhanden ist. Es ist daher der Satz: m |''v:iQ ynip n^ölN ^J?un h^ anzuwenden. Vgl. ausserdem N"V TS l^nnJD. Wie das Judentum solche Exzesse beurteilt, das braucht überhaupt nicht des Näheren erörtert zu werden. Es ge- nügt der blosse Hinweis auf □•'JSIJ* nt>yö und auf die in der nmn ganz einzig dastehende, mit einem Ueberschwang geradezu gefeierte Tat des onra, der angesichts solcher Ausschreitungen rücksichtslos in die Bresche trat. Ausserdem kommt noch die Verordnung des D\s:"iöt>rT h'^ |''1 n"'! in Betracht die hier die Vergehen Tr^J^j resp. NWJ stipulieren (yy vh ry). Die blosse Tatsache, dass das |n n'2 D''NJ1ötJ>n S^ gegen diese Ausschreitungen mit der ganzen Schärfe des Gesetzes vorzugehen sich veranlasst sahen, beweist, dass man in denselben die letzte Ursache des damals in die Erscheinung getretenen Zersetzungsprozesses im Judentume erblickt hat. Den gleichen Standpunkt hat das n"y y nntJ>) im "lU^y n:iOtt> SlT |n n^a i'^D^ vertreten und dementsprechend Gegenmassregeln ergriffen.

Nun mutet uns der von Herrn Dr. W. ausgehende Vorschlag einfach zu, über all diese gravierenden Tatsachen hinwegzusehen und Nachsicht walten zu lassen auf Grund des Lehrsatzes "[S |"'K nntJ>n ^Syn ^JCn löiyn nm. Sehen wir uns den Tatbestand, wie er nun einmal vorliegt, daraufhin etwas näher an! Als nyili-^n hv2 kann der Mann doch hier nur allein in Frage kommen! Nach dem Vorschlage des Herrn Dr. W. aber sollen wir den Schwerpunkt der Frage auf einmal nach einer ganz anderen Seite hin verlegen und zu der völlig unmotivierten Konsequenz gelangen, die Frau in Anbetracht dessen oder mit Rücksicht darauf ins Judentum auf- zunehmen. Das könnte doch nur als eine Art Prämie erscheinen. So weit ich sehe, hat das Judentum hierzu nicht die mindeste Neigung. Seit wann hat ein nmu'n Syn auf Prämien Anspruch ? Das Judentum verordnet in solchen Fällen harte und strenge Bussübungen. (Vgl. hierzu die Stelle im nsö ^i2St»n\ auf welche noch später zurückzukommen sein wird). Ist es einem solchen Ehemann wirklich darum zu tun, einen Weg zur nmti'n ausfindig zu machen, so muss der ihm zu erteilende Rat genau in die ent- gegengesetzte Richtung weisen mit Rücksicht auf den Grundsatz: njitiw Dyc nr2v nm n^S nuTC' p:D ni^n' 'n nax nmii^n S*;n 'üi 'yn ' mpo iniKn pno imsa ntt>x imxn ni)n' n nn« n^Q^n SjfJi n^:u>i (vq nov und '"^"1 z. St.). Es scheint daher kaum angezeigt, hier mit einem

24 Zur Proselytenfrage.

Begriffe zu operieren, der in seiner ganzen Bedeutung und Trag- weite unserer Generation abhanden gekommen scheint.^)

Das Ergebnis, zu welchem Dr. W. kommt, wird sich aber noch viel mehr als unhaltbar erweisen, wenn wir den von ihm verfoclitenen Grundsatz ,-i21t»n 'hv^ OSn lü^V^ 131 ']h px an der Quelle im 'n plö nxö "'öSti^TT' befragen. Dort werden nämlich die Sünden mit Rücksicht auf die Wirksamkeit der Busse in solche eingeteilt, denen gegenüber eine Busse Platz greifen kann und solche, denen gegenüber eine solche überhaupt nicht mehr in Betracht kommt. Was nv"ij? ''ihi anlangt, so ist es fraglich, ob dieselbe unter gewissen Voraussetzungen nicht in den Bereich der letzteren Kategorie fallen. Zu demselben Ergebnis führt die an die Stelle der miVö nvü lölN n^DJö p ^"1 trv '^ nr:n nJtJ>ö n7Öö n:öö vh^n^ nnyn ^V X^l IprinS h^y lyaii^ anknüpfende Verhand- lung der babylonischen Gemara. Ich verweise insbesondere noch auf NmrL^ia 3"^ z. St., -n njtJ'a 'n pno misn- t3"v 'Din und hüid 'mn ruilitn X\T m y'V "l- Es erübrigt nunmehr noch auf die von Dr. W. angezogene Stelle im n"D"i "»D PjDV n'D einzugehen. Zunächst sei hier darauf hingewiesen, dass sie den Wortlaut hat: h^nf^ nö'^S tt>"' |NDö Tin 'y; niXI 'zh und nicht n^lfin T*;. Daraus ist zu entnehmen, dass diese Angelegenheiten schon an sich der Entscheidung des einzelnen Rabbiners entzogen sind. Doch dies nur nebenbei. Unter allen Umständen bedarf es, um eine solche Frage im bejahenden Sinn zu entscheiden, durchschlagender Gründe. Es ist mir aber an- gesichts des obwaltenden, Eingangs gekennzeichneten Tatbestandes höchst zweifelhaft, ob man dieselben für die hier in Frage kom- menden Fälle als gegeben ansehen darf. In dieser Auffassung finde ich mich noch bestärkt, wenn ich auf die Quellen zurückgehe, auf welche •'"n verweist. Es handelt sich um die Stelle n^fiT 'Din Ty T'3 und n"J? !3"p, in welchen auf die a"h n^ü und rti mruö erwähn- ten Ereignisse verwiesen wird.^) 'Din selbst zieht aus diesen Stellen keineswegs die vom ^"i gezogenen Konsequenzen, behauptet viel- mehr, dass in beiden Beispielen exceptionelle Fälle ganz eigener Art vorlagen und als solche auch zu behandeln waren. Was den Fall in mnJD betrifft, so ist derselbe von '"tt>n z. St. als solchen bereits hinreichend charakterisiert. Was den in nnti^ angeführter Fall betrifft, so war der von dem die Aufnahme in das Judentum

i) Zu einem noch viel einschneidenderen Ergebnisse gelangt ^"3^") n""l ^bü riDlIiTl in einem analogen Falle.

^) Merkwürdig ist es, dass der j^"n j^^iniO zu ersterer Stelle dieselbe Frage behandelt, ohne das 'qiD ^'J niDD"* '^^ erwähnen und zu einem Ergeb- nisse gelangt, das mit den Konsequenzen, die V'3 und 'o^f) gezogen, völlig un- vereinbar ist.

Zur Proßelytenfrage 25

nacbsuchenden Heiden geltend gemachte Vorbehalt einfach Aus- flugs seiner Unwissenheit. Vergeblich aber werden wir in beiden Fällen nach Bedenken so schwerwiegender Natur suchen, wie sie iher entschieden vorliegen. Mein Hinweis auf das entgegengesetzte Verhalten, welches unsere massgebenden Autoritäten in analogen Fällen den Karärern gegenüber beobachtet haben, halte ich daher nach wie vor als gerechtfertigt. Herr Dr. W. meint, die Karäer hätten ihre Ehen nicht Sn"iU^''1 ntJ^ö niD geschlossen, dem gegenüber möchte ich die Frage aufwerfen, ob dies etwa diejenigen tun, welche in Mischehe leben? Wer indessen das ausführliche Gut- achten in 'n p"'D n33tJ\S* hah)i2 ^\'2^'^\i>n über diese Frage durchgeht, der wird finden, dass die Argumente, welche dort gegen Ehen mit Karäern geltend gemacht werden, in noch weit verstärkterem Masse die Mischehen treffen. Wenn Dr. W. sich auf den Satz des T'in 'ry mN^ 'zh h^n '"^ bezieht, so können wir bei dem heutigen Stande der Dinge die Frage unmöglich zur Entscheidung bringen, ohne ihre Rückwirkung auf die Lage des gesamten deutschen Judentums in Betracht zu ziehen und ohne auf ihren geschichtlichen Verlauf einzugehen. Weit davon entfernt, verein- zelte Beispiele zu bilden, haben Mischehen den Charakter einer Massenerscheinung angenommen. So haben sich im Jahre 1913 in Berlin allein

evangelische Männer mit Jüdinnen 335 katholische ,, 96

evangelische Frauen mit Juden 488 katholische .. 104 verheiratet.

Summa 1023 Mischehen in einem Jahre für Berlin. Es wäre eine sehr dankens- werte Aufgabe, die in Betracht kommenden Daten für ganz Deutsch- land zusammenzustellen. Inzwischen kam mir eine statistische Zu- sammenstellung der ,,Frankf. Ztg." vom Nov. 1916 zu Gesichte. Dieselbe zeigt, dass die Verhältnisse im übrigen Deutschland nicht anders liegen. Selbst die Frkf. Ztg., gewiss ein unverdächtiger Zeuge, rechnet in Anbetracht dessen, mit einem Untergange des deutschen Judentums in absehbarer Zeit. Wie allgemein be- kannt, lauten die Daten für 1914 und 15 keineswegs günstiger. Nun will es mir doch als sehr gewagt erscheinen, dieser Sachlage gegenüber sich auf den Ausspruch des r;cv n'2 zu berufen. Müsste nicht angesichts dessen die alle Dämme einreissende Tendenz zur Mischehe aus einem Verhalten, wie es Dr. W. empfiehlt, neue Nahrung ziehen und auch bei denjenigen schwankenden Elementen alle Bedenken aus dem Wege räumen, die bisher mit Rücksicht auf die unausweichlichen Folgen vor einem solchen Schritte zu-

26 Zur Proselytenfrage.

rückschrecken? Mehr vielleicht noch als alle formulierten Gesetzes- bestlmmung'en leitete unsere grossen Autoritäten ihr sicherer jüdi- scher Instinkt, als sie sich in allen solchen Fällen entschieden ab- lehnend verhielten. Ihnen schwebte bei ihrer Stellungnahme vor allem das "131 'B 'CKp XITJ? gekennzeichnete Verhalten Esras vor. Der Prozentsatz der Mischehen, der dort in Betracht kam, muss als verschwindend geringfügig erscheinen gegenüber demjenigen unserer Tage. Welchen Ausbrüchen der Verzweiflung hat sich aber Esra trotzdem angesichts dessen hingegeben! Wäre die Ueberführ- ung solcher Ehen und ihrer Nachkommenschaft in das Judentum eine so einfache Sache, als welche Dr. W. sie ausgiebt, so wären weder diese noch die getroffenen durchgreifend strengen Mass- nahmen begreiflich. Wir gesetzestreuen Rabbiner, die ihren Spuren folgen, können angesichts der beklagensAverten Zustände, welche das heutige Judentum in eine Krisis hineingerissen haben, die seinen Bestand an der Wurzel zernagt, erhobenen Hauptes dastehen und vor Gott, der Welt und Geschichte sagen: wir haben diesen Jammer nicht verschuldet! Mögen die ihn verantworten, die es an- geht. Wie konnte es aber dahin kommen, wohin es leider gekom- men ist? Bis gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts waren in Deutschland wenigstens jüdische Mischehen ganz vereinzelte Erschein- ungen. Dies schon aus dem Grunde, weil solche Ehen durch die staatliche Gesetzgebung ausgeschlossen waren. Da trat nun die Synode von Braunschweig im Jahre 1844 auf und legte Bresche auch an dieses Fundament des Judentums, indem sie die Mischehe unter gewissen Voraussetzungen für statthaft erklärte. Für die Gemeinde Braunschweig selbst ist dieser Beschlusa geradezu zu einem Verhängnis geworden. Mischehe bildet ihren hervorstechend- sten Charakterzug seit der Zeit bei der überwiegenden Mehrheit ihrer Mitglieder. Das sollte uns zum warnenden Beispiele gereichen, um von solch verhängnisvollem Beginnen die Hände zu lassen! Von da aus datiert diese immer weiter um sich greifende Tendenz zur Mischehe lür ganz Deutschland, die in unseren Tagen zu einer solch bedrohlichen Gestalt sich ausgewachsen hat. In richtiger Erkenntnis der Tragweite der Braunschweiger Beschlüsse haben unsere Autoritäten es für angezeigt erachtet, mit einem flammenden Proteste gegen dieselben aufzutreten, wie aus dem Inhalt der Gut- achtensammlug mxjp r\n'jf2 sich ergiebt. Was will es demgegenüber besagen, wenn Herr Dr. W. auf die Haltung einiger Rabbiner in dieser Frage hinweist? Gutachtliche Äusserungen liegen von deren Seite nicht vor, als dass ich in der Lage wäre, zu deren Stand- punkte Stellung zu nehmen. Ich muss es demgegenüber bei der Bemerkung bewenden lassen: 'jn ny;! pr:: ''^'l^p pmS inS K:nn ah

.(N"j? 'h n^D^2)

Zum jüdischen Eherecht. 27

Zum jüdischen Eherecht.

Von Dr. A. N e u w i r t h (Mainz). (Fortsetzung.)

]"-2Zl zu Ex. 22, 16 meint: nnnD p "lUJ ji^Vn ^^■^^tt' pn^i D^ipDT -ihDd jnnn ^d r?<ii:^jn in^:- ji^ri^nn iD^n ^i^^tt' ^Db n'vr^in N^nn nn;Dn vis'? m^z^^ von n^D^. Das Wort ist wohl mit "in^,, sich beeilen in Zusammenbang zu bringen. Der Bräutigam beeilt sieh nämlich Geschenke an die Braut zu senden. Ahnlich erklärt der C"D^-l : NH^'^ j^DTl^« ^D^D HPi? n'? D^pOtS' pCQ {<in imDl .V'^l ""imOr, np^D ^Dnbl 1^ '«^rn^z'D nn^^nDD DHID (ßaba Bathra S. 145 Schlg. "mn "»-iniD,,. Er fasst demnach das "imo ebenfalls mit „sich beeilen", nur dass der D"3tt'"i darunter die raiHD und nicht Geschenke versteht. Wie der ]"2ül hat neuerdings Saalschütz. Mosaische Recht, zweite Aufl. S. 736 erklärt. Gleich dem D"Dtt'~i deutet S. R. Hirsch das Wort iniD mit HDiDD. Er meint nämlich: „als Wurzel von iri'P, eilen, zugleich verwandt mit "iHD, wovon "i^no: das Erwerbmittel, das Tauschmittel, scheint "iHD im Kai, ein Ziel eifrig anzustreben bedeuten, und zwar die engste Aneignung einer Person, die eheliche Verbindung erstreben. Daher ino, das, was nach dem jüdischen Eherrechte der Mann seiner zukünftigen Frau aussetzte: die "DinD, das Ehegut" (Ex. z. St.). Eine Stütze für diese Auffassung des "imo erblicken wir in dem Ausspruch der y'TDn, dass rQ>r\J iN^5>} imo pN Unter nniD begreift man nur die rülHD (jer. Keth. 5, 5).

Gegen diese Auslegung des ""iniD,, die Etymologie der Wurzel ""1mD„ als solche glauben wir ist richtig ist folgendes einzuwenden. Ob die nDiDD von der niTi oder nur |;iii~ ist, ist im Talmud eine Meinungsverschiedenheit (vgl. Keth. 10 a ; 110« jer. Jnbam. VII, 8). Die überwiegende Mehrheit der cpoiD ent- scheidet sich für ];3"n JnDinD. Nach R. Isak b. Schescheth (^"Ti) R. G. A. Nr. 153 hat die grosse Synode die n^lHD eingeführt. Andere bringen sie mit Esra in Verbiddung '(vgl. D''N1'lCt<1 n''i<:n IIL § 8 und mn^lDn hDD Kap. D':'iy mo^ 1, 19 ed. Sibermann). Wenn

28 Zum jüdischen EherecLt.

aber riDIDD nur jiDil ist so kann ""ITTIlD,, eo ipsa n^iPD nicht be- deuten. Ist sie doch eine spätere Einrichtung.

Die obige talmudische Erklärung "DZiriD n"?« "in^C ]\s\, wäre demnach nur, wie das oft im Talmud vorkommt, eine xnD'^rN, eine Anlehnung an einen biblischen Schriftwort. Wir müsstcn demnach eine neue Erklärung für das Wort ""IH":,, suchen, Aber die Diskussion ob die mDIDD eine biblische oder eine rabbinische Intsitution sei. dreht sich nicht darum, wanu die Kethiibo überhaupt entstanden, sondern wann sie im Judentum eine Gesetzeskraft er- langt hat. Die Kethubo als solche mag schon Jahrhunderte vor der sinaitischen Gesetzgebuog bekannt und im Brauch gewesen sein ; schon aus der Zeit des Hammurabi sind uns viele Ehekontrakte überliefert. Es fragt sich aber von welcher Zeit an sie im Juden- tum als eine unerlässliche Pflicht des Mannes betrachtet wurde : von der sinaitischen Gesetzgebungen an oder erst später. Wir dürfen demnach ""imD,, des Pentateuchs, der talmudischen Er- klärunggemäss, als HDiriD fassen. Dies umso mehr als die bib- lische Hauptstelle von "-iniD- m':'%nDn imOD bvv;^ ^ü^ nach allen Auffassungen die Kethubo nicht etwa vorschreibt, sondern nur an- deutet (vgl. Tosaphoth in Sota 27a, Schlgw. "'Z^^N,, : :"2^"l':? iSzN

.i<n^m{<-ic -DD n^^ n^N ahi^ 'iMii tt'CD M^b j^n^m^i n^r^a n^iriD idni In diesem Sinne meint auch Hirsch (z. St.) : „Selbst nach der überwiegend rezipierten Ansicht, dass jiDll üDiriD, scheint das, was später allgemeine Rechtsordnung, i"2 ''J<2n, geworden, ur- sprünglich Sitte gewesen zu sein, die nur später zur allgemein bindenden Rechtschuld erhoben wurde. In beiden Fällen, hier und Deut. 22, 18, wird die nach dem "lüD zu bemessene Pön an die Stelle einer eigentlichen einzugehenden Eheverbindung auf- erlegt, und besteht die Pön nur darin, dass, was sonst, sei es nach Brauch oder Recht, bei Auflösung einer Ehe durch Tod oder Schei- dung der Frau zu leisten wäre, hier Staat Eingehung der Ehe zu leisten ist.

Sehr schwierig an dieser Erklärung ist nur, dass nicht nur im Weigerungsfall des Vaters "imQ erwähnt wird, vielmehr erwähnt die niin das imD auch in dem Fall, wenn der Vater die Ver- führte dem Verführer geben will. Lesen wir doch "^''ü nnc "'DI

Zum jüdischen Eherecqt. 29

ni^'N^ )b ninno^ -nno -oy dd^i d^dü i6 i^i^ \nb)n2. Dieses d'd nliriD'^ bedeutet dasselbe als "-in")D„. Mit Recht bemerkt der ]"dD"1 zu der Annahme iniC wäre HDIDD : n:«iy'' GN nnCDHiy HD« "irN,, "d;p ]m2 I^N. Die n~nn verlangt aber immer ein imc. Gegen die Annahme des |"2Di, dass "ini^D 'nur Geschenke bedeutet,' ist zunächst zu bemerken, dass demnach "imo ein zu vager Begriff wäre; es wird ja auch nicht angedeutet, wie gross die Geschenke wären wie kann demnach gesagt sein: "iniDD ^Ipli'"' ^ÜD». Auch der d"2^D (miiDni minn) bemerkt gegen den ]"D0~i, dass VlJl)

niJi'pDDn on ]nD^ p^i nmo i«d % mn •^'''dd "]dd„ pi "imc-

Trotz der erwähnten Schwierigkeit gegen die letzte Erklärung des imo glauben wir doch, diese Auslegung des Wortes "imo beizubehalten. Wir müssen uns nämlich vor Augen halten, dass es sich hierbei um eine Verführte und Entehrte handelt. Die miD empfiehlt nun dem Verführer sein Opfer zu heiraten. Sie zwingt den Verführer nicht, wie bei nD)lü dies der Fall ist, aber sie legt es dem Verführer nahe, aus freien Stücken die nniDD zu ehelichen (vgl. Kethuboth "in"iD ^;?D üh} inyiD»). Man könnte nämlich meinen, wenn der Verführer sein Opfer aus eignem Willen heiratet, so sei er nicht gehalten der , Sitte" und den ^Brauch" Folge zu leisten, der Verführten die HDiflD oder nach ]"2D1 die üblichen Geschenke zu geben, daher weist die min besonders darauf hin, dass in je- dem Fall n^iib )b ni-iHD^ mnc, soll der Verlührer die "DIDD oder Geschenke seiner Verführten geben.

Auffallend ist nur, dass nach 1 Sam. 18 23 ff., II Sam. 3, 14 sowie Gen. 29 15 29 den Mohär der Vater empfängt. In den Papyri F und G von Assuan werden sogar die Snmmen ganz genau angeführt, die der Vater als Mohär für seine Tochter empfangen hat. Dieser Umstand hat in der Tat vornehmlich den Anlass dazu

n2i<^^ Dj< d: -imon in^^ n^^^n*: ni^n- ^j \"2Din nDi pir, i"^S ^d .niücm n-nnn m:i^n rnü nci p^iirin nj;^D

30 Zum jüdisohen Eherecht.

gegeben, den Mohär mit dem babylonischen Kaufpreis zu identifi- zieren. Dem ist aber nicht so. Das Empfangen des Moharp seitens des Vaters ist vielmehr auf den früheren Brauch zurückzuführen , dass der Vater die Kethubo für seine Tochter emi)fing. Eine alte Bereitha berichtet uns noch "die ganze diesbezügliche geschichtliche Entwickelung. rm HiD niD^^bi DMND n^iHD^ r^niD Vh n:r^NnD ]^^iV"i n^DN n^D3 nn^« ]^n^JD rn^^ irpnn d^z^j ]\v?'^12 v- j^^i ]^^^piD nniN pn^iD vn^^ irpnn "i\n::inD '^üiS "»Db nb iüm< n^bv cj?n Nin::'^ mtt'iv i'H m^:y Dm ^i^'i f^cD '^tt' mnbp nn\s niir^iy niTry n^cn n^2D ^f^üi T'"'-^^^ ^^^ ^^ '^^^'^ ^^^i' DpiDt^'D ]^ny D^bj-i ^c\'i ^1:^ ta^DV nm^s nriDinDb ]^^<1^N ^dd: bj n? ddid xn^ir ]p^m ntDtt' p ])Vd^ nd^ ly (Keth. 82 b). „Zuerst pflegte man einer Jungfrau zweihundert, einer Witwe nur hundert Sus zu verschreiben (ohne eine Bürgsohaft für diese Summe Geldes zu stelleii). Da wollten die Mädchen lieber alt werden als ohne Bürgschaft für ihr Wittum zu heitaten. Man traf daher die Einrichtung, man solle ihr Wittum ihrem Vater aus- händigen. Auch dies zeigte sich erfolglos. Bis endlich Simeon ben Schetacli die Verordnung getrofHen, dass jeder Mann sein ganzes Hab und Gut für das Wittum der Frau als Bürgschaft stelle".

Diesem Bericht vermögen wir zwei sehr wichtige Tatsachen zu entnehmen. Zunächst ersieht man daraus die Selbständigkeit der jüdischen Mädchen in alter Zeit, was doch an und für sich schon gegen jedweden Kauf des Mädchens spricht. Findet man doch hier zuerst in der ganzen Geschichte des menschlichen Ge. schlechts einen Streik der Frauen gegen die Heirat. Dann aber besagt uns dieser Bericht, dass zu einer bestimmten Zeit der Vater das Wittum seiner Tochter gleich bei der Verlobung von dem Bräutigam empfangen hatte.

Mit dieser ehemals bestandenen Einrichtung, dass der Vater das Wittum seiner Tochter in Empfang genommen, darf eine andere Einrichtung der Weisen, die da bestimmt "IHD ''tt'npD "'NDT 2{<n„ der Vater erhält das Geld der Ehelichung seiner Tochter (Keth. 46b^ nicht identifiziert werden. J. N. Epstein (Jahrbuch der Jüdisch. Literarischen Gesellschaft VI S. 365) will nämlich gerade aus dieser Stelle schliessen, dass in früherer Zeit die Kethubo dem

Zum jüdischen Eherecht. 31

Vater zufiel. Eptsein übersieht mm, dass die eben angeführte Ein- richtung niemals eine Aenderung erfuhr. An dieser Stelle wird überhaupt nicht von der Kethubo gesprochen, sondern nur von dem Gelde, womit das Mädchen dem. Manne angeheiligt wird. Ein Be- weis, dass im Laufe der Zeit der Besitzer der Kethubo gewechselt hat, ist vielmehr aus der oben angeführten Breitha zu ersehen.

Nachdem wir die gesetzlichen Teile und all diejenigen Stellen der Bibel betrachtet haben, aus denen man vornehmlich bisher den Fraenkauf beweisen wollte, gehen wir zur Untersuchung zweier Episoden über, die uns die diesbezügliche Anschauung des Judentums näher beleuchten. Es handelt sich um das Verhalten Eleasars des Knechtes von Abraham bei der Heimführung der Rebekka und das Vorgehen Jakobs bei der Heirat seiner zwei Hauptfrauen. Zunächst möchten wir bemerken, dass von den Vorgängen, die sich vor der sinaitischen Gesetzgebung abgespielt haben, ein Schluss auf die allgemeine Auffassung des Judentums fzu ziehen nicht an- gängig ist. So konnte sich Jakob nur vor der Gesetzgebung zwei Schwestern nehmen ; später verbietet es die Tbora. Aber da die Thora eine Gesetzesänderung bezüglich der Aneignung der Frau nicht getroffen hat, so darf auch dies Verhalten der Patriarchen als vorbildlich angesehen werden.

Nach Gen. 24, 10 nimmt Elieser, der Knecht Abrahams, alle Kostbarkeiten seines Herrn und lädt sie auf Kamele, um mit ihnen auf die Brautwerbung für Isaak zu gehen (D^^QJ mrj? "I2j?n nP^I..

.("iinj TV Sh nnn: din -[b^i Dp^i )Tn v:ii^ dio ^n mj« '^bD'jD

Man pflegt diesen Vorgang als einen Brautkauf zu fassen. Dies ist aber aus folgenden Gründen unhaltbar. Zunächst galt das Mit- führen der vielen Kostbarkeiten nicht der Brautwerbung als solcher, denn in diesem Fall wäre die ungeheure Aufmachung (vgl, nn^y D"''?d;i), mit der der Diener seine Mission unternommen hat, uner- klärlich, sondern nur, um dem Mädchen zu zeigen, wie reich der Mann ist, den sie bekommt. Dann erhält nur Rebekka nicht aber ihre Eltern von Elieser Geschenke. Gleich nachdem Elieser am Brunnen draussen Wasser von dem fremden Mädchen bekommen,

heisst es : nn^ bv Dn^Dü ^:^i ^bp^D vp2 DHT Dii ^'nn np^i "übp^ffD DnT nn^y. „Und der Mann nahm einen goldenen Nasen-

32 Zum jüdischen Eherecht.

ring, ein Bek;i war sein Gewicht, und zwei Armbänder und legte sie auf ihre Hand, zehn Goldstücke war ihr Gewicht". Hier hat nur Rebekka allein Geschenke erhalten. Auch nachdem die Eltern ihre Einwilligung zu der Heirat mit Isaak gegeben, wo man doch, wenn ein Kaufpreis in jüdischem Kreise bekannt gewesen wäre, die Übergabe eines solchen erwartet hätte, wird nur die Rebekka nicht aber die Eltern beschenkt. Dii DHIDN l^V J7DB' "itt'ND ^n^1„ ]n^i Dn.iDi ■27)] ''bj) f]üD ^bj i2vr\. t^^ri .'nb hühn inn^'^T onnDi "not^^l n^nt^b |nj mJlJDI npnib. „Als der Diener Abraham ihre Worte hörte, bücktg er sich vor Gott zur Erde. Der Diener nahm silberne und goldene Geräte und gab sie der Rebekka, und Lecker- bissen gab er ihrem Bruder und ihrer Mutter" (ibid. 24, 53)

Die Vormünder der Ribka erhalten nur Leckerbissen, nicht aber Gold und Silber. Diese Speisen werden ausschliesslich, wie die Thora es ja ausdrücklich berichtet (vgl. V, 54 «in "inr"'1 i^DN"'! D''^iNni) zum Abschiedsfest verwendet. Diese Zurückhaltung des Kaufpreises ist umso auffallender als die Thora die Geldgier Labans, ihres Bruders, besonders betont (vgl. ]Db IDli'l DN npD"i':'\-

"imnx n^ bv ibid. 27 f.). „Und die Rebekka hatte einen Bruder, dessen Name Laban war, und Laban lief zu dem Manne hinaus, zur Quelle als nämlich er den Nasenring und die Armbänder bei seiner Schwester gesehen hatte"

Jeder Kaufgedanke ist aber hier auch daher ausgeschlossen, weil die Eltern sich genötigt gesehen hatten, vor ihrem Versprechen die Einwilligung der Rebekka einzuholen. n'Pi^tr:'! niy;^ f<1p2 "IIDN"'!»

„Sie sprachen : wir wollen das Mädchen rufen und ihren Mund fragen. Sie riefen die Rebekka und sprachen zu ihr : willst du mit diesnm xManne gehen ? sie sprach : ja" (ibid. 24, 57 f.). Und dann berichtet ja die Thauro selbst, dass erst nachdem Ribka in das Haus Abrahams gekommen, sie da von Isaak zur Fran ge- nommen wurde. }b ^nm r\p2-) PN np^i i:2N htx' n^nxn pnü' "np^i,, "nDnN"'^ ri'i'NS. Und Isaak brachte sie in das Zelt der Sarah seiner Mutter ; er nahm sie und sie wurde ihm zur Frau und er iebte sie (ibid. 24, 67). Diese Worte besagen, nach dem Sprach-

Zum jüdischen Eherecht. 33

gebrauch der Bibel, dass Isaak sie erst jetzt zur Frau genommen, was aber unverständlich wäre, wenn Eleasar die Ribka bereits gekauft hätte.

Viel schwieriger als das Verhalten Isaaks ist das Jakobs den beiden Töchtern Labans gegenüber, zu erklären. Wiederholt wird nämlich uns berichtet, dass Jakob um seine zwei Frauen vierzehn Jahre gedient hatte. ^HD bmn D'Jtr V2^ "l^yx lüü^),, "ni'^^pn. „Und er sprach : ich will dir sieben Jahre um deine jüngste Tochter Rahel dienen" (Gen. 29, 18). ^niD 2~T l'2V^^" "0"':^' V3^. „Uud Jakob diente um Rahel sieben Jahre" (ibid. V. 20). i\-i:d ^nij?D n:^ niB'v vdik ym'nv ■in''3D nitt' □n'^rj; ^b r\h, ""liN^D G^yj ^^^^. „Zwanzig Jahre bin ich in deinem Hause; vierzehn Jahre diente ich um deine zwei Töchter, sechs Jahre um dein Kleinvieh" (ibid, V. 41). Ebenso meint der Prophet Hosea : (Hosea 12, 13): "iD^ H'i'XZ^ ni^N^ ^Ni^^ 12^} um HT^' 2pT niD^I- „Jakob floh nach dem Gefilde Aram, um eine Frau dienta Israel, um eine Frau hütete er". Hier verrät der ganze Vorgang einen Frauenkauf.

Aber hierbei muss festgestellt werden, ob dieses Verhalten Jakobs die diesbezüglichen Praktiken in der abrahamitischen Familie wiederspiegelt, oder aber sich ein Glied dieses Hauses dem baby- lonischem Brauche, dem Gesetze Hammurabis, notgedrungen unter- worfen hat. Bereits oben erwähnten wir, dass Laban den Freier seiner Schwester Eleasar, um Geld angegangen ist. Dies ist ihm aber nicht geglückt. Er erhielt ausser Leckerbissen nichts. Was ihm aber bei der Schwester nicht gelungen, dies konnte er mit Leichtigkeit bei dem Flüchtling Jakaub, der ohnedies nur auf ihn angewiesen war, und bei seinen Töchter erreichen. Dies scheint auch aus folgendem Grunde wahrscheinlich. Zunächst besagt die Tatsache als solche, dass Charan die Stadt Labans, in einem Ge- biete lag, wo das hammurabische Gesetz in voller Gültigkeit stand, dass wohl auch Laban danach gehandelt hat. Die Geldgier Labans lässt dies als sicher annehmen. Hat doch Laban den Jakob um den heilig versprochenen Lohn und um die Ehe seiner Tochter wiederholt betrogen, und dieser sollte auf den vom Landesgesetz vorgesehenen Kaufpreis der Braut verzichtet haben ! Demnach

34 Zum jüdischen Eherecht.

dürfen wir behaupten, dass wenn auch die Bibel von diesem Kaufpreis nicht berichtet hätte das Vorhandensein eines solchen ohne weiteres angenommen worden wäre.,

Jm Folgenden wollen wir noch ein besonderes Moment, das den ganzen Vorgang in ein andres Licht rückt, feststellen zu suchen. Hieran anschliessend, wollen wir dann auch die Stellung Jakobs zu dieser Sache anführen. Denn für uns ist nicht der Vorgang als solcher, sondern das Urteil Jakobs massgebend. Die nlin berichtet uns, dass Jakob aus dem Hause Labans geflohen, und seine Frauen und seine Kinder geheim, ohne Einwilligung seines Schwiegervaters, mitgenommen hatte. Als ihn Laban des- wegen Vorhaltungen gemacht, da meint er n{< ':'T:in ]D \'l~i/t2N T-. ""iDVO "ITilDD. „Ich dachte: vielleicht könnst du deine Töchter von mir rauben" (Gen. 31, 31). Ferner meint Laban: ''n'i:^ PN :in:m» "D"in nVDtl'n „Du führst meine Töchter wie Gefangene des Krieges" (ibid. V. 26) und dann: -i^{< bD^ ^JNIi ]ü)in) ^JD D^iDrn \-n:D ni:Dn„

„die Töchter sind meine Töchter, die Söhne sind meine Söhne, das Kleinvieh ist mein Kleinvieh; alles, was du siehst gehört mir: was soll ich diesen meinen Töchtern denn heute machen, oder ihren Kindern, die sie geboren?" (ibid. V. 43), und schliesslich beschwört Laban den Jakob: (ibid. V. 50): D^^i npn DN1 \mJD HN nlVn DN,. "l^DI "»i^iD iy 'i< nül IJCy ^^K PN \"iiJD '7V „dass du meine Töchter nicht quälen, dass du keine andren Frauen zu meinen Töchtern nehmen : keiner ist mit nns : sieh Gott ist Zeuge zwischen mir und dir". All diese Aussprüche und Vorgänge beweisen klar und deutlich, dass Laban seine Töchter nicht als die Frauen Jakobs sondern als noch immer seine Töchter betrachtet hatte. Dieser Umstand wurde bisher nicht genügend beachtet. Laban hat näm- lich in dem Jakob nicht seinen Schwiegersohn ei blickt, sondern seinen Sklaven, dem er seine Töchter gegeben hatte. Daher die Aufregung wegen des geheimen Weggehens. Laban betrachtet das geheime Wegnehmen seiner Töchter als Diebstahl ; sie waren eben noch immer seine Töchter und nicht die Frauen Jakobs.

Nun erscheint auch die Dienstleistung Jakobs in einem an- dern Lichte. Jakos diente als Sklave.- Ebenso gab Laban dem

Zum jüdischen Eherecht. 35

Jakob seine Töchter nur in der Hinsicht, wie dies früher in Baby- lonien war: der Herr gehenkt seine Töchter seinem Sklaven, damit Kinder erzeugt werden. Alles aber bleibt Eigentum des Herrn. Bereits Hammurabi sieht den Fall vor, dass der Herr seinem Sklaven freie Mädchen zu Frauen gibt: Frauen und Kinder bleiben als ewiges Eigentum dem Herrn. Nur bei den Palast und Armen- stiftssklaven, die die Töchter eines freien Mannes ^heiraten, kennt Hammurabi eine Ausnahme. So lautet § 175: ,Wenn, nachdem ein Palastsklave oder ein Armenstittssklave die Tochter eines (freien) Mannes geheiratet hat, sie ihm Kinder geboren, so darf der Be- sitzer des Sklaven gegen die Kinder des Freien den Anspruch auf Sklavenschait nicht erheben". Ein ähnliches, Gesetz kennt auch die Thora. Wir lesen nämlich: ^b mb"'! n^i< ^b ]n^ rjlN DN» "ic3:d «ii^ Nini n^jiN^ n^nn nnb^i n]:;ün m:2 in d^;d „Wenn der Herr ihm eine Frau gibt, diese gebiert ihm Söhne oder Töchter, so gehören Frau und Kinder dem Herrn und er geht allein hin- aus". Jakob, der um seine Frauen gedient, wollte sie. auch als Sklave, mitnehmen und daher der Aerger Labans. Dieser wollte nämlich den Jakob trotz seines vierzehnjährigen Dienstes um seine Töchter, wie einen einfachen Sklaven ansehen.

In diesem Sinne müssen wir auch die Worte der Rahel und der Lea nehmen, ^:2^n: r\v'\D: Ni'^n i^Dx n^DD nbn^T pbn ^:b nj?n» "i:dcd DN biDK d: ^DN^I IJHDD ^D ib „Haben wir denn noch einen Anteil und ein Erbe im väterlichen Hause, sind wir doch wie Fremde geachtet, denn er hat uns verkauft, und dann auch noch unser Geld verzehrt". Dies soll heissen : unser Vater hat keinen Anteil an uns, wie dies sonst in dem Verhältnis zwischen einem Sklaven und einem freien Mädchen der Fall zu sein pflegt. Hat doch unser Vater uns verkauft und dazu noch unser Vermögen, das doch der Vater gewiss aufbewahren sollte, einfach verzehrt. Der Anteil des Vaterhauses an den Töchtern ist damit erloschen. Wir sind wie ganz Fremde, die von dem Besitzer verkauft wurden, und nicht etwa wie Mädchen, die einem Sklaven zur Erzeugung von Kindern übergeben werden, zu betrachten. Diese Worte be- sagen klar und deutlich, dass der Kauf einer Frau in der Jakobs- tamilie verpönt war und -nur bei Sklavinnen vorzukommen pflegte.

(Fortsetzung folgt.)

36 Notiz.

Notiz.

Aus dem „Schützengraben" wird uns geschrieben :

Im Anschluss an die Ausführungen dcB Aufsatzes „Darf ein Deuterojesaja gelehrt werden" verweise ich auch auf folgende Talmudstelle :

|Tös?m n^y^' nin (Kap. 33) 'idi mpni: iSin rnrn i^'Su^ hv p'oym

.(Kap. 5 6!) npi2: wv'^ i:c^e Tiöü^ 'n iön n^ nowü' D'ntJ> Sy

Wir besitzen in dieser Formulierung! ein weiteres unumstöss-

liches Argument dafür, dass unsere Weisen h"1 nichts von einem

Deuterojesaja ahnten.

8. Ehrmann.

)Ü)}b 31Q Uli =—

JUEDISCtIE

mONATSHePTE

herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kohn, Ansbach, unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Salomon Breuer, Frankfurt a. M.

-J.

Jahrgang 4. Heft 2.

Häarverhüllung.

Sie haben Ihr Wort gegeben, Ihre Hand einem wackeren Manne zu reichen, um mit ihm gemeinsam ein jüdisches Haus zu errichten. Der Entschluss war nicht plötzlich in Ihnen gereift. Ihre zurückliegenden Jugendjahre waren Jahre der Ertüchtigung und geistigen Erstarkung für Ihren künftigen Lebensberuf. In der Ehe winkt Ihnen Lebenser- füllung und die Befriedigung, die aus der Hingabe an gött- liches Wollen fliesst. Sie sind gewillt, Ihre ganze Kraft in den Dienst des heiligsten Gedankens zu stellen und den Posten nach Möglichkeit auszufüllen, auf den die göttliche Vorsehung Sie gewiesen.

Sie treten nicht unvorbereitet in die Ehe. Denn Sie wollen nicht imit Ihrem Leben spielen. Der Erfüllung göttlichen Willens gilt Ihr Leben. Diesen Willen zu vernehmen, war von früh an Ihr heiligstes Sehnen. Sie wollen den Weg im- mer klarer schauen, auf den Gottes Willen Sie führt. Sie kennen Sein Lebensgesetz und geloben sich, unverbrüchlichen Gehorsam ihm zu leisten. Wäre es denn noch göttliches

38 Haarverhüllung.

Lebensgesetz, wenn Sie nach Laune es befolgten, nach Willkür es beschnitten ? Dann gehorchten Sie nicht Gott, dann hätten Sie kein Gottesgeselz mehr, dann vernähmen Sie nicht mehr sein Wort, dann stünden Sie ratlos in Seiner grossen Welt und wüssten nicht, wozu Sie lebten. Sie aber wollen leben, wollen wissen^ wozu Sie leben, deshalb brau- chen Sie Sein Gesetz und schwören ihm treueste Treue- Seinem Gesetz errichten Sie im Verein mit Ihrem Gatten einst das Haus, Seinem Gesetz bleibt es geweiht, Seinem Gesetz erziehen Sie Kinder und wandeln Ihr Heim in ein Heiligtum, in dem Gottes segnende, liebende Nähe weilt.

Werden Sie als verheiratete Frau Ihr Haar verhüllen? Erstaunt bl'cken Sie a if. Ich wei'^s nicht, ob ihre Verwun- derung der in dieser Frage liegenden Forderung oder der Frage an sich gilt. Doch die Forderung kann Ihnen keine unbekannte sein. Sie brauchen nur um sich zu schauen und sehen jüdische Frauen, die mit Eintritt in die Ehe ihr Haar sich verhüllen. Galt aber Ihre Verwunderung der Frage, dann habe ich mich in Ihnen nicht geirrt, und Sie ver- zeihen die Frage.

Wie aber, wenn die Haarhülle Sie entstellt, sie Ihren Kopf bedrückt? Sie lächeln, und auch daran erkenne ich Sie wieder. Sollen wirklich solche Argumente massgebend sein, wo es sich vielleicht um die Befolgung einer heiligen jüdischen Sitte oder gar eines göttlichen Gesetzes han- delt? Danach werde ich fragen, und ist es der Fall, dann werde ich wissen, was meine Pflicht. Ich müsste mich ja vor mir selber schämen. Das Leben fordert so grosse Opfer, fordert von dem gewissenhaften Menschen oft Preisgabe liebgewonnener Anrechte, teuerer Güter, und er bedenkt sich keinen Augenblick, sobald er weiss, dass Gottes Wille es ihm gebietet, und ich sollte anstehen, das Opfer der Eitel- keit oder Bequemlichkeit zu bringen, wo es gilt, idealen For- derungen zu entsprechen ? Das jüdische Leben erwartet von der Frau, dass sie dem Gatten liebevolle, Verständnis-

Haarverhüllung. 39

innige Genossin, den Kindern weise Lebensführerin werde wahrlich, ein schlechtes Zeugnis stellte sich die künftige Frau aus, die aus solchen Motiven der Haarverhüllung widerstrebte. Was will sie ihren Kindern einst erwidern, wenn sie zum Rasiermesser greifen, um ihrer Eitelkeit zu genügen, den Sabbath als Last empfinden, weil er ihrer Be- quemlichkeit sich widersetzt?

Kennen Sie das Kapitel im Gottesbuch (Num. 5), das von den Massnahmen handelt, die das göttliche Gesetz ge- gen eine Frau vorgesehen, die die Wege reiner Sittlichkeit und ehrbarer, einwandfreier Züchtigkeit verlassen, von deren Haupt das Diadem gesunken, das Prophetenwort (Mi. 6, 8) mit mr:3f bezeichnet, und das den „still bescheidenen Wandel mit Gott" als der jüdischen Frauen höchste Zier betrachtet? Vor Gottes prüfendes Auge hat sie sich zu stellen, vor den Priester des Heiligtums hinzutreten, und dieser nimmt ihr die Krone vom Haupte : „er entblösst das Haupt der Frau" „Das will dich lehren", erläutern die Weisen (Kethu- both 72), „jüdische Frauen entblössen nimmer ihr Haar" ! Oder, wie Sifri (das.) die Forderung formuliert, die aus dieser Handlung sich ergibt: „das will dich lehren, jüdische Frauen verhüllen ihr Haupt". Gott erwartet, dass jüdische Frauen das Haupt nicht entblössen, und indem die Haarhülle der Pflichtvergessenen genommen wird, wird ihr das Recht entzogen, dieses Zeichen ferner zu tragen. Jüdische Frauen werden mit Stolz es tragen, es ist ein Orden, mit dem Gott sie geschmückt. Er ziert sie, auch wenn er sie nicht kleidet. Oder wird jemand den Orden des Hosenbandes, mit dem des Königs Gnade ihn schmückt, ablehnen, weil er seinem Geschmack nicht entspricht? Ist es nicht stets die Idee, die auch dem Unscheinbarsten Würde und Schöne verleiht? und Prophetenwort hat doch gesprochen: nicht die Gewänder schmücken die Braut, die Braut ist's, die ihren Gewändern Anmut verleiht" (Jes. 61, 10).

i

^ Haarverhüllung.

Die jüdische Frau, die ihr Haar verhüllt, und dieses von Gott erwartete Abzeichen sich anlegt, erklärt sich bereit, den Forderungen zu entsprechen, die das göttliche Gesetz an eine jüdische Frau stellt. Dieses Zeichen ist uralt, so alt wie das Gottesgesetz. Die Mütter unseres Volkes haben es getragen, die hehren Frauen, die unser Stolz sind, die ihren Lebensberuf begriffen, und auf deren aufopferungsvolle Hingabe und heilige Pflichterfüllung die Zukunft unserer göttlichen Volksbestimmung vertrauensvoll rechnen konnte welche jüdische Frau, die ihren Lebensberuf erkannt, fühlte ihr Herz nicht höher schlagen bei dem Gedanken, einst zu denen gezählt zu werden, die ein^chtsvoU und gewissen- haft die Hinterlassen-^chaft aufgenommen haben, die sie ihren Töchtern vermacht? Die jüdische Frau, die ihr Haar verhüllt, trägt sichtbar das Zeichen, das ihre Stammesmütter durch die Weihe sittlicher Hoheit und heiliger Berufstreue geadelt sie wird des Zeichens nicht unwürdig sein.

Ist freihch nur ein äusseres Zeichen, und es kann ge- tragen werden, ohne dass die Trägerin wahr macht, wozu es sie ruft. Und Sie kennen Frauen, deren Leben ein Hohn ist auf dieses Zeichen, und kennen Frauen, die ihr Haar nicht verhüllen und doch in ihrer sonstigen Lebensführung keiner gewissenhaften Frau an Würdigkeit nachstehen. Das mag alles sein. Haben aber nicht auch andere heilige Gottes- gebote das gleiche Schicksal? Ist nicht auch die Mila nui ein äusserliches Zeichen, das den jüdischen Knaben aufruft als Mann einst ganzer, sittlich vollkommener Mensch zi werden, und ist nicht auch die Mila am Leib des sittlict Entarteten grässlicher Hohn ? Welcher Vater wollte abe deshalb die Mila unterlassen ?

Aber Haarverhüllung ist ja gar keine spezifisch jüdisch. Sitte, scheint ja orientalisches Gemeingut zu sein und er innert somit unwillkürlich an die Stellung der orientalische) Frau oder gar an Entwürdigungen, die der Harem verbirgi

Haarverhüllung. ^j

- Ich weiss es. das Wort kommt Ihnen nimmer über die Lippen. Dazu lebt viel zu gewaliit; das Bewu>stsein der der judischen Frau innewohnenden Würde, der ihr zukommenden Stellung, die Erkenntnis der Heiligkeit und Hoheit des jüdi- schen Ehegedankens in Ihrem Herzen, dazu haben Sie viel zu tief hinemgeschaut in Ihre göttlichen Urkunden, dazu hat viel zu gewaltig das Wort der Propheten an Ihr Ohr getönt und nimmer würden Sie zur Ehe schreiten, wenn Sie so kläglich auf Ihren künftigen Lebensberuf sich vorbereitet hätten' Und wenn auch - Können nicht zwei dasselbe tun, ohne dass es das gleiche ist ? Betet nicht auch der Orientale opfert er nicht auch, kennt er nicht Heiligtum, Priester und Propheten, und Sie wären so oberflächlich und scheuten vor dem Verbrechen nicht zurück, in frivolem Leichtsinn Erscheinungen und Begriffe zu identifizieren, die durch den Geist, der ihnen innewohnt himmelweit von einander ge- schieden sind ?

Das verhüllte Haar sei das äusserlich sichtbare Zeichen ob eine jüdische Frau gewillt ist, wahr zu machen, wozu' judische Lebensideale sie rufen. So will es jüdisches Ge- setz. Die Frau, die ihr Haar entblösst „setzt sich über jü- disches Gesetz hinweg" (nnin> m hv ni^r; nxipj Kethuboih 72 bch-A. r.-iN Kap. U5). Sie mag in ihrer Lebensführung und Lebensauffassung noch so makellos sein, dieser Vorwurf bleibt ihr nicht erspart. Und es mag einem wehe tun, eine Frau, der man verehrende Wertschätzung nicht versagen kann, und der man, in dankbarer Würdigung all der hohen Verdienste, auf die ihre Lebensarbeit hinzuweisen imstande st, gerne rückhaltlos die Palme zuerkennen möchte, nach- jagen zu müssen, dass sie in diesem Punkte die Konse- luenzen nicht gezogen hat, zu der die klare Erkenntnis und uhige Ueberlegung sie hätte führen müssen. Und hat sie as Glück, Kinder heranwachsen zu sehen, die den gleichen dealen ihr Leben weihen, denen auch ihr Herz zuschlägt, ann mag sie Gott auf den Knieen danken, dass an dieser

42 Haarverhüllung.

Inkonsequenz nicht ihr ganzes Erziehungsgeschäft gescheitert ist. Denn was hätte sie ihren Kindern erwidern wollen, wenn sie fragend aufschauend den Finger auf die Gesetzes- stelle gelegt hätten, die der jüdischen Frau zur Pflicht macht, ihr Haar zu verhülkn?

Doch halt die Jüdin, die Mutter, wie sie mir vor- schwebt, mit ihrem reinen Herzen, mit ihrem ernsten Sinn und tief begreifenden Verständnis, hätte sie diese Gesetzes- stelle gesehen, keinen Augenblick hätte sie gezögert und hätte willig und stolz ihr Haupt dem jüdischen Gesetze gebeugt! Denn Unkenntnis und Beispiel hat gerade dieser heiligen Forderung leider so manches Haus entfremdet, und die Geschichte müsste noch geschrieben werden, die den Nachweis zu führen hätte, wie oft vielleicht ein Bei- spiel einer jüdischen Frau von Namen die Veranlassung ge- geben hat, dass die Haarverhüllung im Laufe der Zeit aus ganzen Gemeinden schwinden konnte! Das aber wird jüdische Frauen mit starkem jüdischen Bewusslsein erst recht anfeuern, Beispiel gebend voranzugehen und das heilige Zeichen wieder aufzugreifen, mit dem das jüdische Gesetz sie geadelt. Sie wollen den Müttern über die Jahrhunderte und Jahrtausende zurück die Hand reichen, die ihnen das Vorbild Gott dienender Lebensführung sind, dass sie sie als die ihren grüssen.

Und haben auch ihre eigenen Mütter ihr Haar nicht verhüllt, sie wissen, sie sind ihrer segnenden Zustimmung sicher. Gibt es denn für Eltern ein seligeres Glücksgefühl, als sich sagen zu können, unsere Kinder sind über uns noch hinausgegangen, haben wahr gemacht, was wir unterliessen, sind weiter fortgeschritten, v/o wir stehen geblieben und haben uns in rüstiger Selbsterziehung wenn möglich noch überflügelt! Wir waren nicht fehlerlos, so sprächen sie aus der Ewigkeit zu ihnen : werdet besser, tüchtiger als wir, ergreift das Gute, das ihr aus unserem Streben entnehmen könnt, und lasst euch nicht irre machen, wo euch unsere Mängel begegnen wir waren nicht vollkommen. Aber

Haarverhüllung. 43

Pietät? Wer möchte so gedankenlos sein, in diesem Zu- sammenhang dieses so misshandelte, der Bequemlichkeit und Selbsttäuschung oft dienende Wort zu gebrauchen I Bleibt ihr auch im materiellen Streben dort stehen, wo eure Eltern euch verlassen, sucht ihr nicht auch da über sie wenn möglich hinaus zu kommen, und auf sittlichem Ge- biete sollte missverstandene Pietätserwägung euer Leben und die Zukunft eurer Kinder in Frage stellen dürfen?

Sie sind entschlossen, Ihr Haar zu verhüllen, denn Sie wissen, Sie gehorchen damit jüdischem Gesetz und möchten, dass alles, was jüdische Lebensforderung gebietet, in Ihrem Heim einst Stätte finde. Da soll man auch dieses Zeichen an Ihnen nicht missen. Je mehr Sie aber gewillt sind, in der Haarverhüllung das Symbol zu ehren, das Sie auch äusserlich in die Zahl jüdischer Frauen reiht, auf deren Kraft Gott die Zukunft seines Volkes gegründet, desto mehr drängt es Sie, auch in die Motive einzudringen, die wohl den göttlichen Gesetzgeber veranlasst haben mochten, von seinen Frauen gerade Haarverhüllung zu erwarten.

Der Weisen Wort knmmt Ihnen zur Hilfe, es weist Ihnen den Weg zum Verständnis. Es begreift das Haar der Frau als Erwoh (Brochauth 24 mny niJ>N iyü>), als „Blosse", deren Verhüllung das Gesetz gebietet. Damit aber führt Sie der Gedanke zu den Anfängen der Menschengeschichte zurück, wo Gott dem Menschenpaare das Kleid reichte, da- mit es seine Blosse sich decke. Sinnliche Reize hatten den Menschen um sein Köstlichstes gebracht, göttliches Lebenswort hatte den Einflüsterungen sinnlicher Erwägungen weichen müssen, der Körper triumphierte über die göttliche Seele, und die Seele schämte sich des Körpers- Traurig die Rolle, die da die erste Frau gespielt! Vergessen ihr Be- ruf, der sie als eser kenegdo dem Manne einst zugeführt, dass sie in gleichwertiger Gemeinschaft mit ihm göttlichen Lebenszielen zustrebe, um durch gemeinsame Hingabe an einen grossen göttlichen Lebensgedanken zu verwirklichen,

44 Haarverhüllung.

was Einzelkraft für immer übersteigt, für immer versagt bleibt; zerrissen das Eheband, das nur so lange ihr Leben geadelt und ihnen Würde verliehen, so lange ihre Gemein- schaft der Verwirklichung göttlicher Lebensforderungen diente; getrübt das Lebenslicht, dessen Pflege ihr heilig- stes Anliegen hätte sollen sein, zum Tier erniedrigt Reize des Körpers, die, solange sie dienendes Werkzeug der göttlichen Seele waren, Schmuck und Stolz ihr gewesen. Und sie schämten sich ihres Körpers. Und Gott reichte ihnen in erziehender Milde das Gewand. Es sollte fortan sie mahnen, das Körperliche zurücktreten zu lassen, dass es dem Göttlichen die Herrschaft nicht raube. W^o daher fortan das göttliche Wort das Leben nicht bestimmt, wo Menschen unter der Lockung der Sinne erliegen, da ruft das Gottes- wort ,,erwoh" aus es sieht Menschen in ihrer ,, Blosse", die von sich geworfen haben das Kleid, das zur Höhe Menschen adelnder Lebenserfüllung sie ruft. Wehe, wo die Ehe zwischen Mann und Frau dem Auge Gottes als erwoh erscheint (Lev. 18) ! Trauernd stehet ihr vor dem Grabe verscherzter Menschenwürde.

Und die Frau begriff die Mahnung. Ihre Ehe soll fortan eme göttliche sein. Hatte sie einst ihrem Manne das Licht der Seele getrübt, so ist sie fortan entschlossen, als eser kenegdo das Licht ihm zu mehren und vereint mit ihm dem gemeinsamen von Gott gesteckten Ziele das Leben der Ehe zu leben. Und sie lässt sich's nicht nehmen: die Sab- bathlichter entzündet sie ihm er soll es wissen, dass sie gewillt ist, dem Sabbath, dem Leben, dem Gott gewollten Leben das Haus zu erbauen. Ihr Haar aber trägt die Hülle trauert sie, dass einst Körperreize die Herrschaft über sie davongetragen und ihr den göttlichen Ehegedanken zu rau- ben imstande waren? (Pirke d. R. E. 14). Zurücktritt an ihr, was Körperreize dem Auge, den Sinnen empfiehlt, nicht da- rin erblickt sie ihren Stolz, das verhüllt sie bescheiden. Ein sp'-echendes Symbol. Will man sie achten, will man sie werten, so möge man die Gattin in ihr grüssen, die ihrem

Haarverhüllung. 45

Manne den Lebensweg erhellt, die Mutter ehren, die ihren Kindern Führerin ist. Haben Weisen nicht recht, wenn sie erwoh vermuten, wo eine jüdische Frau es verschmäht, zu dem Zeichen zugreifen, das unter solchen Voraussetzungen ihr sich empfiehlt ?

Jüdische Frauen, wollt ihr euch ehren, wollt ihr haben, dass man auf den ersten Blick es wisse, als was allein ihr geehrt wollt werden, ihr werdet dies jüdische Symbol nicht von euch weisen! Unsere Geschichte ist stolz auf ihre Frauen. Ihr Volk haben sie einst erlöst, die Erlösung der Zukunft ruht in ihren Händen. Ein heilig stilles Gfelöbnis stammeln die Lippen der jüdischen Frau, die mit dem Eintritt in die Ehe bewusst und stolz ihr Haar sich verhüllt und mit tiefem Begreifen den Weg vor sich sieht, auf den göttliche Pflicht sie ruft.

Sie haben mich verstanden. Ein heiliges Zeichen ist Ihnen diese Hülle. Sie werden wahr machen, was sie von Ihnen verlangt. Sie werden verstehen, wie die glückliche, stolze Mutter, die ihre Söhne hohepriesterliche Würden be- kleiden sah, auf die Frage, welche Verdienste sie namhaft machen könne, denen solche Erfolge der Erziehung zuzu- schreiben seien, schlicht und doch gross die Antwort gab : , nicht sahen die Wände meines Hauses die Haare meines Hauptes" (Joma 47). Sie werden aber auch begreiten, wie recht die Weisen hatten, als sie wehmütig und siinig sich sagen mussten: „viele taten das gleiche, ohne dass solches ihnen gelungen wäre" (das.) Denn nicht alle Frauen ver- standen zu allen Zeiten die Sprache der Hülle und ihre For- derungen, nicht alle, die sie verstanden, hatten die Kraft, sie in ihrer Ehe zu verwirklichen. Möge Gott Ihnen dazu seinen segnenden Beistand gewähren.

J. Br.

46 Halachisches zu Pnrim.

Halachisches zu Purim.

Von Bezirksrabbiner J. Freund, Szäszregen.

^n-iDD HDN iri^nb y'\)i n^^nb hohd ididh n:^2 d^pid nvDijtD 21J; r^n b^ ]Mr\ii7) dii3 dv d-iv : in i'^j^i .tain::''? ^mDD nnD ,^^r\^b .(n:tt^^2 .y'c -]^^in) n;^n ^ni 2iyi miiv 2^y .ncc b^ i^i^N^n D^t: cv Viermal im Jahre muss der Verkäufer eines Viehes, wenn er die Mutter oder das Junge des betr. Tieres an demselben Tage *) schon verkauft hatte, dies dem Käufer bekannt machen. Und dies sind : der Vorabend des letzten Festtages von niDiC i^l''ü'2^ n"i!iy). der Vorabend des ersten Festtages von nCD. der Vorabend von niVITI' und der Vorabend von nr^n Wü'^. Zweck dieser Bestimmung ist, der Übertretung des 123 HNI inii<- Verbotes, die sonät mit grösster Wahrscheinlichkeit erfolgen 'würde, vorzubeugen. Es werden nämlich an diesen vier Zeitpunkten führt *"^1 z. St. aus mehrere und bessere Festessen bereitet; in dem Masse, dass anzunehmen ist, dass wer zu dieser Zeit ein Vieh kauft, es auch gleich schlachten lässt. Damit nun „es und sein Junges" nicht amselben Tage geschlachtet werden, muss der zweite Käufer aufmerksam gemacht werden, dass die Mutter, oder das Junge des von ihm jetzt erstandenen Viehes heute verkauft wurde. Der auffallende Umstand, dass diese Bestimmung der nwü blos auf diese vier Festtage sich erstreckt und b^ ^^'^üin D^tD DV Diy :in, wie auch nCD bf:; ''}}'^2^ Diy in ihren Geltungsbereich nicht mit einbezieht, wird bereits von Clf^ccn "'bllJ zum Gegenstande eingeheuder Erörterung gemacht. Denn ä-a» die ny^D diese vier mit der Tendenz, andere auszuschliessen, hervorhebt und von liD T"'^"! hier keine Rede sein kann, beweist die sonst völlig über- flüssige — ^b HD"? «:^"'iQ Zahlenangabe : D'^piD nyDiXD ^). Das Fehlen genannter zweier D'''?:)l lässt zunächst feststellen, das ist der Ausgangspunkt und der Grundgedanke der D"''Z'"iDOn ""bilJ dass das Motiv der besseren und reicheren Verköstigung an diesen vier Festtagen, mit welcher ja die in Frage stehende An-

') S. t^'S p"d T"i2 I^^D i"v n"-iD.

^) V'D DM< nitt'D^ i<"pv'\ mDDin.

Halachlsches zu Purina. 47

Ordnung der n^I^D ursächlich zusammenhängen soll, keineswegs die am ^"V zu betätigende rnoZ'-Pflicht allein sei. Denn diese, wie die damit in Beziehung stehende Sentenz : Tvi'Dn K^^t^ nriDIi' ^N sind doch angängig und haben Verptiichtungskraft auch in Bezug auf den ersten der mniD- und den siebenten der riDD-Tage. Es müsse daher den vier, in der "i^D aufgezählten Festtagen eine besondere, erhöhte Bedeutung innewohnen, die sie von jenen zweien formel, oder wesentlich, jedenfalls charakteristisch unter- scheidet. — Was nun ncQ b'^i^ "'yT^T betrifft, so unterscheiden sich die vier Festtage von ihm zu ihrem Vorteile nach der Auffassung aller D"'^"iDD dadurch, dass sie miiy ^i^OlT mit inbegriffen im Gegensatze zu ihm p'üV ""JCD D^t'J"i, selbständige, zu keinem ihnen vorangehenden Feste im Abhängigkeitsverhältnisse stehende sind. Es wird daher angenommen, dass HDD bfi^ "^yD^ als nicht- selbstständiges Fest einer solchen Beliebtheit wie jene vier sich nicht erfreue, dass an ihm der nriD'^^'-Pflicht nicht in dem Masse und in dem Umfange Genüge geleistet werde, wie es bei jenen der Fall ist. Es liegt demnach kein zwingender Grund vor, der Befürchtung Raum zu geben, dass wer am Rüsttage des b^ "'VD^ ncc ein Vieh kauft, es gleich schlachten Hesse und eventuell das 3"lt^ -Verbot verletzt würde. Complizierter sind die Meinungen über das Fehlen des :n b^ ]1i:'N"in 2^^ DV aus der n::rQ, da er ja ebenfalls "iDüV ^JDD blil und den vier, daselbst besprochenen ^"V ebenbürtig ist.

1) mcD^n z. St., '^J^ ^"i ^didi n"i3, wie auch zu 'n ^i i"v Diy n""I3 3"y sind der Ansicht, der nach '} ^"p l)i n"n b^J'^ii ^n: auch ^"tt'l zu t"V beipflichtet, dass man am Rüs^ttage des ersten niDIC-Tages mit der Fertigstellung der Laubhütte und des Fest- strausses zu sehr in Anspruch genommen sei, als dass man auch Zeit hätte, für die Fest-Mahlzeiten umfangreichere Vorbereitungen zu treffen. mDinb ^i^lD DH^ pi<1 2b'h) ÜDIDD ^iniO üDb}} ^blDl DItt'D .mnVDD m^inb ^j<;d nnb r«i :b"i i"V2) rp bj r\^^r\'^2 Man schlachtet darum meistens Geflügel, 'dessen Zubereitung, weil weniger umständlich, weniger Zeit erheischt. Vgl. y'D .JO"iJp <D"in »y"DD. [Die Erklärung des 'ni^ 2b z. St., dass auch am mDiD 3iy das gekaufte Vieh unbedingt für D"V geschlachtet und nur , angenoia-

48 Halacbisches zu Purim.

men wird, dass ein Käufer es heute, der andere es morgen tun werde, ist mir unbegreiflich i";vb ; denn dann müsste der zweite p in der n:'^ü: D"yD nDton nj< ptD^ntt'D, der im iO"yp D"in codi- ficiert wird, auch für noiD 3"1V gelten, y'ysi].

2) niDDin zu t"j; namens der D""" und, nach ^"1D^^< bni, auch "'"iri zu ]^b^^\ meinen, dass die vier Feste nicht nur ncD b"!^ "'V^t:', sondern auch DDID Vtt' l'itt'i^nn D"iD GV gegenüber besonders aus- gezeichnet seien und füglich auch grössere Wertschätzung ge- nössen, also, dass das, was hinsichtlich des ersteren gesagt wurde, auch auf das letztere angewandt werde. OlliV "'^''D^, da an ihm, im Gegensatze zu den ihm vorangegangeneo noiC-Tagen, nicht □"iDV^, sondern lediglich ^NIK'"'!? die Opfer gebracht wurden*); nCD b"^ ]V^'^<1^ Dit3 DV, da er der Tag der Erlösung aus der Knechtschaft ist ; myiD^, weil an ihm nicht wie an den anderen Festen Meinungsverschiedenheiten zu konstatieren sind, sondern alle übereinsimmen, dass auch der leibliche Genuss geboten wurde

DD^ ^D3 jrVDl oniD ^Dn*^) und schliesslich ny^^n ^N"i, weil an ihm DD"' ]D''D^ für das neue Jahr üppigere Speisen aufgetragen werden^). [Grosse Schwierigkeit bietet biD^HPl IDD zur angezogenen Stelle, da es für nj^n ^N"i mit der unter 2) angegebenen Be- gründung sich abfindet, für die anderen drei D"'DitO D^D"* hingegen die von "^"^V^ zu T"y gebrachte Erklärung annimmt und in Bezug auf mD'D 2~\V demnach übt-rflüssiger Wt-ise die unter 1) vermerkte Antwort gibt. blD^X ^nJ meint, es recipiere "»"Wi's Ansicht zu T"y gänzlich, aber ''"tfi bemerkt daselbst hinsichtlich n""i blos: 1^3 l^'^DW Nin D1t2 ÜV und muss darum DIDID D"iy deshalb ausgeschaltet werden: pnio Dr\^ ''ob; nicht so blD^ND 'D, das für n""l den Grund des d"'' D^D niDDin angibt. J"vy IT DJT

"IDID ann zu l^Vin wirft nun eine ebenso treffende, wie originelle Frage auf. Er fragt: warum fehlt in der n^tt'D

- Und diese Frage ist m. E. stichhaltig [nicht nur nach dem unter 1) gesagten, denn dass D"'"nc in diesem Belange gleichfalls

*) n": HDiD. ') n": ü^noD. *) d"*» nimn.

Halachisches zu Purim. 49

"IDüj; "^iDD !?J"l ist, bedarf keiner Betonung, sondern auch mit Hin- blick auf die Auseinandersetzung unter 2). Denn gleich nniij; gilt auch lür Dmo der Satz : DD*? ^ü: ]2''V21 DniD bJT] (n"D D"'nDC). Übrigens dürfte Dmo auch riDD gleich gestellt werden, ja es sogar übertreffen, da auch hier der n"lp angewendat werden dürfte : ^'''d i<b D^^nb nn^DD n'?!«:^ l^2VVD t^n'^r, ^) . D"nn gibt eine Antwort, die würdig ist des flii^pD eines D"nn, deren Quelle aber er selbst für rätselhaft bezeichnet. Er beruft sich auf eine i^nCDin zu j<"d n^^JQ, die zu 2"V n"V ni 0"3D zitiert wird und also lautet: ^Df< 1212 YpipiD p«l '1D1 DniD^ Dmo riDJO

Was ausgehoben wird, um es den Armen am cmD auszuteilen, muss verabreicht werden am Dmo ; man nimmt es nicht genau, man kauft Kälber in Menge für das ganz Geld, schlachtet und verzehrt sie, und was am Purim nicht aufgezehrt werden konnte, wird nach Purim verkauft und der Erlös fällt der Almosen-Casse zu (vgl, """tt'") z. St.) Aus dieser NflCDin ist nun ersichtlich, dass man für ü'^ilD meistens Kälber zu bereiten pflegte, dem- nach ist die Anordnung der nj^O für D''"nD gegenstands- los, da der ^::'n von 123 flNI ^r)M< hinfällig erscheint. Warum aber für oniD vornehmlich Kälber geschlachtet wurden, ist unbekannt. D"nn schliesst: N;yT üb NDyt3"l.

[V'T C"nn """IDI Nbl"? dürfte vielleicht folgende Hypothese am Platze sein : \~i::^"i hat die Aufforderung des Königs, beim Fest- gelage zu erscheinen, mit der Bemerkung abgelehnt, selbst der Stallknecht ihres Ahns Nebukadnezar habe im Trinken grössere Festigkeit an den Tag gelegt als er. Das empörte den König und gab zur späteren glücklichen Entwickelung der Purimgeschichte die erste Veranlassung^); und im nil ^ilü zu V'tD ,r\"0 'D "I^ ~b wird "iii:"iD'i2: als nbjiy bezeichnet. Wahrscheinlicher, weil unge- zwungener, dünkt mich folgender Lösungsversuch. Der Brauch : 2"n^ D''':':iyn l'^iipi dürfte hinweisen auf die grosse und entscheidende Rolle, die in der Megillah in hervorragendem Masse den Frauen zugefallen ist, da diese im Schrifttum auch mit nb^V bezeichnet werden. Vgl. -i"d n"c nD'2' ^D^^^iT : nyiüiD HN^iV v"Di<"i b]ff ^^\1D

') "I""« nb^^D ; vgl. pv.i n"i2 j"d hd^*? D"n. *) d""» i-i^^:q.

50 Halachisches zu Purim.

p^jDi .n^^H in^« nnt^im ^t« n"« :ppiD \'-i^^ nid:^ n^:^p p^tt'

Auf die Frage des D"nn zurückgreifend, muss zunächst be- dacht werden, dass die Anordnung der Di^D aus einer Deutung eines Schriftverses erfiiesst und füglich D^ilD als rabbinische Institution aus der n:i:'D mit Recht ausgeschaltet wurde. Zu p'pin 2"V J"D lehrt nämlich ^31 : |NDD T^D ]1J?tO im^DH GV IHN DV

lymn'? 71^ itdh^ honD ididh n;^D d^pid ny^iND d.^ddh mdh D^ ^"]i;i2 l^^Vi.

Jedoch bemerkt r^cv tt't^l schon, dass dies sicherlich nur «PDDD« sei. Nicht so scheint es hervorzugehen aus dem tt'lTD l"3N"in zu 'n i)Di< 'd NICO (Ed. Wien, 1862), der hier zwischen 1DI und D'^DDH eine «njlbc konstruiert, wonach "»DI blos den ersten Teil des «IDD gesprochen hätte, dass niD ]lVt31 "inVDn Di"' "iriN DV

und nach ihm die Anordnung für r\2]L^ DiV gelten, während die D''DDn behaupten, dass sie sich nur auf n:^2 D'^pID nVDIN bezöge. Aber zugegeben, was unwahrscheinlich sein dürfte und auch aus 'l"DNin ^ITD nicht mit Evidenz gefolgert werden kann, dass hier keine NnDDDJ^ vorliegt, dürfte und müsste die Anordnung der DilTD auch auf DniD, und zwar niinn JD. sich erstrecken, da ihre Grundlage und Ursache, die Vermehrung der Mahlzeiten, wenn auch ]j:i"i-iD, aber immerhin auch an ihm Pflichtgebot ist ').

Die Frage ist demnach jedenfalls berechtigt und zu ihrer Beatwortung könnte darum noch Folgendes zu erwägen sein.

An den vier Festtagen muss gemäss der nno'yi'- Pflicht und dem damit zusammenhängenden Lehrsatze: 1^33 nbü riDü'Z^ pN

Fleisch bereitet werden sowohl zum Festessen am Abend ihres Rüsttages, wie zu den Tagesmahlzeiten. Es besteht eine Contro- verse, ob dies minn |D ; aber pDllD sicherlich ^). Auch soll und pflegt man an den vier Festtagen bei Tag überhaupt keine "DriD

iD^n i2D"i .nmnn p d^d^ ny^a'^ '^ini nr««' hdid npo rpniiD ^"V2 ') n"D p^D 'n« r\:i<^ n"w.

Halachisches zu Purim. 51

zu schlachten^). Es ist daher zweifellos, dass wer an ihren Vorabenden ein Vieh kauft, es sicherlich an demselben Tage schlachtet. Zu Purim hingegen gibt es viele, die am Abend seines Rüsttages absichtlich kein Fleisch gemessen, damit man nicht annehme, dass die Haupt-Festmahlzeit Nachts abgehalten werden müsse ^), auch darf man Purim auch am Tage das Vieh schlachten. Es ist darum sehr fraglich, ob derjenige, der am IDüii rT'Ji^n ein Vieh kauft, es sogleich für den Abendgebrauch, oder erst des Morgens zu Purim zum Zwecke der Tagesmahlzeit schlachtet. Es besteht somit diesbezüglich zwischen D'^IID und den üp"iD nj?D"iJ< ein wesentlicher Unterschied Nn^, der das Fehlen des ersteren aus der n:tt'D rechtfertigt. Vgl. 'nN 2b »tD"T> niCDin und D"'''n mm z. St., aus deren Ausführungen hervorgeht, dass in einem solchen Falle, wie er nach dem Gesagten in Bezug auf D^D festzustellen ist, der tt'^n von 3"lN wegfällt.

') l"£3 P"D ,r\")iD ]D^D n"jd.

') '^DDi '"IDT r\b''b2 -1^3 r^Dit^ j^NB' w^^ : ,3 p"d ,n"yin '^d «"jd - n' tt'^iy^ - V'i3 p"D ,V'ynn.

Nachschrift.

Nach Einsendung dieses Artikels fand ich zu i^"\} 'j rp Q^hp^, dass am füutzehnten Adar, wenn es im Laufe des zur Neige geheuden] Jahres verabsäumt wurde u. A. aucn n'pjiyn nD"'"li'> «das Genickbref;hen des Kalbes" zu besorgen war. (S. '^ri-iiCDI N"D i<"€ D'^bp^ >i^"D 'p D^'l^DW 'D G'*:' D"DD~inb nv:tron)- Nun heisst es zu ^"j; n"D ^"I ntOID ausdnickhch : ry "•nii ^^^2^2 N^K r\a2 riD1"iy n'pjy 1"'X- Q*ss „das G.'iiickhre< hon des Kalbes' nur ii]lolife einsichtsloser Engherzigkeit vorgenomm^ n wurde. So mussten denn au h bei Vollziehung des Aktes die Bei Orden bezeugen: sie hätten niemanden, der dessen bedurfte, ohne Lebensmittel fortgehen lassen, dass er dadurch sich genötigt gesehen haben könnte, Strassenraub zu üben nud dadurch, somit durch ihre inderekte Schuld, umgekommen sein könnte etc." (Hirsch, das.). Es liegt daher auf der Hand, dass der Brauch, am vierzehnten und fünfzehnten Adar durch die durch die Behörden zu vollziehende Verteilung von Kälbern an Arme die uneingeschränkteste Freigebigkeit zu bekunden, mit grösster Wahrscheinlichkeit auf }"^2 n^jyn HD'^iy zurückzu- führen sei. (Eine Analogie zu diesem Ideengang bietet "i"^i zu ppp ^^^ niinn)- V^rl. ^"y-i, to"vn '»nd '^i^iu;^ mUDD, <'ie unter D"iD"in plli 'ra Gegensatz zu "t^'^^n"' n^jyn nD"^"iy nicht aufzählen. S. auch r'üb^ flDN^Ü zu den neuen pVJti'D - p"yiJ1. Bedenkt man demnach, dass n^Jiyn nD"'~iy heute auch ^{<"|';i''' Y1H2 nicht stattfindet, ist es auch bergciflich, dass von jenem Brauch heute keine Hede mehr ist. (S. n~l"'Dtt'1 flÜI") mD^H D"DD"1

52 Nasenstern.

Nasenstern. I.

Wer kennt nicht Nasenstern? Wer, der einmal Heines Rabbi von Bacharach gelesen, erinnert sich nicht an diese gelungene Figur, an eine der gelungensten, die Heines spottlustiger Muse gelangen? Nasenstern ist ein Kind des alten Frankfurter Ghettos, der gemeinsam mit Jäkel, dem Narren, das Tor des Judenquar- tiers von innen bewachen muss, während es von aussen von Stadt- soldaten bewacht wird. Das Frankfurter Judenquartier hatte näm- lich „zwei Tore, die an katholischen Feiertagen von aussen, an jüdischen Feiertagen von innen geschlossen wurden, und vor jedem Tor befand sich ein Wachthaus mit Stadtsoldaten". Diese jüdi- schen und christlichen Ghettowächter stellten in der Art und Weise, wie sie ihre Aufgabe erfüllten, einen vollendeten Gegensatz dar. Der Trommelschläger Hans war ein lustiger, mutiger Geselle, „eine schwere, dicke Gestalt", der sich vor Niemandem fürchtete, am allerwenigsten aber vor den Juden. Ja, er liebte es, die jüdischen Wächter zu ärgern, indem er die Melodie des Liedes trommelte, „das einst die Geissler bei der Judenschlacht gesungen, und mit seinem rauhen Biertone gurgelte er die Worte: Unsre liebe Fraue, die ging im Morgenthaue, kyrie eleison !" Ganz aufgeregt wurde der Nasenstern, wenn er diese Melodie hörte. „Hans, das ist eine schlechte Melodie" rief eine Stimme hinter dem verschlossenen Tore des Jndenquartiers „Hans, auch ein schlecht Lied, passt nicht für die Trommel, passt gär nicht und bei Leibe nicht in der Messe und am Ostermorgen, schlecht Lied, gefährlich Lied, Hans, flanschen, klein Trommelhänschen, ich bin ein einzelner Mensch, und wenn du mich lieb hast, wenn du den Stern lieb hast, den langen Stern, den langen Nasenstern, so hör auf !

Man sieht ihn leibhaftig vor sich, diesen Nasenstern, der wegen seiner langen jüdischen Nase diesen seltsamen Namen trug. Man sieht ihn sich entfärben, im Augenblick, wo die Töne dieses schaurigen Liedes an sein Ohr klingen und auch seine flehentlichen Angstrufe sind so echt und wahr empfunden, sind selber so schaurig

Nasenstern. 53

wie die Töne, über die sie sich entsetzen, „teils angstvoll hastig, teils aufseufzend langsam hervorgestossen, in einem Tone, worin das ziehend Weiche und das heiser Harte schroff abwechselte, wie man ihn bei Schwindsüchtigen findet". Aber Hans, „der Trommel- schläger blieb unbewegt, und in der vorigen Melodie forttrommelnd, sang er weiter: „Da kam ein kleiner Junge, sein Bart war ihm entsprungen, Halleluja" ! „Hans" rief wieder die Stimme des obenerwähnten Sprechers „Hans, ich bin ein einzelner Mensch, und es ist ein gefährlich Lied, und ich hör' es nicht gern, und ich hab' meine Gründe, und wenn du mich lieb hast, singst du was anders . . . ."

So war Nasenstern. Schon bei einer gefährlichen Melodie zuckte er ängstlich zusammen, geschweige, wenn Jemand am Tor des Judenqiiartiers Einlass begehrte. Und so masste denn auch der Rabbi von Bacharacb, der mit seiner Gattin Sara in einer Pessachnacht vor einer zu seiner Zeit nicht ganz ungewöhnlichen Pessachjudenverfolgung nach Frankfurt geflohen war, gar lange warten, bis sich Nasenstern entschloss, ihm das Tor zu öffnen.

„Das Tor auf?" schrie der Nasenstern, und die Stimme versagte ihm fast. „Das geht nicht so schnell, lieber Hans, man kann nicht wissen, man kann gar nicht wissen, und ich bin ein einzelner Mensch".

Jäkel Narr spricht ihm Mut zu und fordert ihn auf, die Leute vor dem Tore nicht so lange warten zu lassen.

„Die Leute ?" schrie ängstlich die Stimme des Mannes, den man den Nasenstern nannte „ich glaubte, es wäre nur einer, und ich bitte dich, Narr, lieber Jäkel Narr, guck mal her- aus, wer da ist".

Jäkel Narr schaut mit seinem »drollig verschnörkelten Lustig- machergesicht" und seiner „gelben, zweihörnigen Mütze" durch das „kleine, wohlvergitterte Fensterlein" im Tor, und kaum hatte sie sich geöffnet, schloss sich wieder die Fensterluke, „und ärgerlich schnarrte es : „Mach auf, mach auf, draussen ist nur ein Mann und ein Weib'*.

„Ein Mann und ein Weib !" ächzte der Nasenstern. „Und wenn das Tor aufgemacht wird, wirft das Weib den Rock

54 Nasenstern.

ab, und es ist auch ein Mann, und es sind dann zwei Männer, und wir sind nur unser drei!"

,,Sei kein Hase" erwiderte Jäkel der Narr „und sei herzhaft und zeige Kourage !"

,,Küurage!" rief der Nasenstern und lachte mit verdriess- liclies Bitterkeit „Hase! Hase ist ein schlechter Vergleich, Hase ist ein unreines Tier. Kourage! Man hat mich nicht der Kourage wegen hierhergestellt, sondern der Vorsicht halber. Wenn zu viele kommen, soll ich schreien. Aber ich selbst kann sie nicht zurück- halten. Mein Arm ist schwach, ich trage eine Fontanelle, und ich bin ein einzelner Mensch. Wenn man auf mich schiesst, bin ich todt. Dann sitzt der reiche Mendel Reiss am Sabbath bei Tische, und wischt sich vom Maul die Rosinensauce, und streichelt sich den Bauch, und sagt vielleicht : Das lange Nasensternchen war doch ein braves Kerlchen, wäre es nicht gewesen, so hätten sie das Tor gesprengt, es hat sich doch für uns totschiessen lassen, es war ein braves Kerlchen, schade dass es tot ist."

„Die Stimme wurde hier allmählich weich und weinerlich, aber plötzlich schlug sie über in einen hastigen, fast erbitterten Ton : „Kourage! Und damit der reiche Mendel Reiss sich die Rosinen- sauce vom Maul abwischen und sich den Bauch streicheln und mich braves Kerlchen nennen möge, soll ich mich totschiessen lassen ? Kourage! Herzhaft! Der kleine Strauss war herzhaftig, und hat gestern auf dem Römer dem Stechen zugesehen, und hat geglaubt, man kenne ihn nicht, weil er einen violetten Rock trug von Sam- met, drei Gulden die Elle, mit Fnchsschwänzchen, ganz goldge- stickt, ganz prächtig und sie haben ihm den violetten Rock so lange gekloppt, bis er abfärbte und auch sein Rücken violett ge- worden ist und nicht mehr menschenähnlich sieht. Kourage! Der krumme Leser war herzhaftig, nannte unseren lumpigen Schultheiss einen Lump, und sie haben ihn an den Füssen aufgehängt zwischen zwei Hunden, und der Troramelhans trommelte. Kourage! Sei kein Hase ! Unter den vielen Hunden ist der Hase verloren, ich bin ein einzelner Mensch, und habe wirklich Furcht !" „Schwör mal !" rief Jäkel der Narr.

I

Nasenstern. 55

„Ich habe wirklich Furcht !" wiederholte seufzend der Nasenstern ,,ich weiss die Furcht liegt im Geblüt, und ich habe es von naeiner seligen Mutter. "

,,Ja, ja !" unterbrach ihn Jäkel der Xarr ,, und deine Mutter hatte es von ihrem Vater, und der hatte e8 wieder von dem seinigen, und so hatten es deine Voreltern einer vom andern, bis auf deinen Stammvater, welcher unter König Saul gegen die Phihster zu Felde zog und der erste war, welcher Reissaus nahm. "

„Sieh, schöne Sara", sagte der Rabbi von Ba- charach seufzend zu seiner Frau, als sie endlich doch in die Juden- gasse hereingelassen worden waren, „wie schlecht geschützt ist Israel ! Falsche Freunde hüten seine Tore von aussen, und drinnen sind seine Hüter Narrheit und Furcht !"

II.

Als der Krieg vor zweiundeinhalb Jahren ausbrach, da eilten auch viele Tausende von deutschen Juden zu den Fahnen. Sie alle fühlten, dass es um die Existenz des deutschen Reiches ging. Sie fühlten sich mit ihrer Heimat so innig verwachsen, dass ihnen eine Niederlage Deutschlands ein entsetzlicher, unmöglicher Ge- danke schien. Und viel kostbares jüdisches Blut ist seit dem August 1914 vergossen worden. Und viel eiserne Kreuze sind in dieser Zeit au jüdische Krieger verteilt worden. Und viel gegen- seitiges besseres Verstehen und Dulden ist seitdem aus dem ge- meinsamen Leiden und Durchhalten erblüht. Da platzte vor kur- zem der Gedanke der Judenzählung wie eine feindliche Bombe in die Judenschaft hinein. Die Juden drücken sich, hiess es auf einmal, und die Gerechtigkeit verlangt, statistisch zu erkunden, wie viel tapfere Davids und wie viel furchtsame Nasensterns die deutsche Armee umschliesse. Da wurden jüdische Briefe von der Front geschrieben, die zu Thränen rühren konnten, wie der Ab- geordnete Haas im deutschen Reichstag sagte. Und ein anderer Parlamentarier meinte, man solle sich doch nicht wundern, wenn nicht alle Juden körperlich pommerschen Grenadieren glichen, tausend Jahre Ghetto könnten nicht spurlos an Menschen vorüber-

56 Nasenstern.

gehen, Hierbei hat dieser Herr sicherlich an Nasenstern gedacht, an dieses typische V^oibild jener furchtsamen, zu Tod verängstigten Menschenwesen, die Jahrhunderte hindurch die Judengasse füllten. Wer will es dem Nasenstern verargen, wenn er beim besten Willen nicht so mutig sein kann, wie der Trommelschläger Hans !

In so nebelhafte Ferne ist uns deutschen Juden des 20. Jahr- hunderts die seelische Verfassung der Gliettobewohner zu denen ja noch unsere Grossväter vielfach zählten gerückt, dass wir uns heute gar nicht mehr recht in die Stimmungen der Judengasse hineinversetzen können, dass uns Figuren wie Nasenstern schon halb verschollen vorkommen. Und doch brauchen wir uns nur selbst mit unserer Phantasie hundert Jahre zurückzuschrauben, und dieser Nasenstern wird uns nicht blos zum Lachen, sondern auch zum Weinen bringen. Er war ein Kind seiner Zeit, er war das, wozu ihn das Ghetto gemacht hat. Er wusste es ia selbst, er hat sich ja selbst am besten gekannt. Nicht lächerlich, nein, grauen- haft ist's, was er vom kleinen Strauss und vom krummen Leser erzählt. Wenn damals ein Frankfurter Jude zur Förderung seines militärischen Sinns, wie ein Christ gekleidet, um nicht erkannt zu werden, auf dem Römer dem Stechen zuschauen wollte, dann wurde ihm von seinen christlichen Mitmenschen der „violette Rock so lange geklopft, bis er abfärbte und auch sein Rücken violett ge- worden ist und nicht mehr menschenähnlich sieht". Denn was gingen den Juden die Ritterspiele auf dem Römer an ?

Er ist sicherlich ein lächerlicher Mensch, dieser Nasenstern, mit seiner krankhaften Furchtsamkeit, und Avie Jäkel der Narr sich über ihn lustig machte, so gab es auch damals schon beherzte Naturen in der geknechteten Judenschaft in Fülle, die nicht gleich bei der geringsten Gefahr ängstlich zusammenfuhren. Auch die jüdische Ghettogeschichte erzählt von jüdischen Heldentaten, die beweisen, dass die Tapferkeit aus Judas Heldenzeit auch in den Judengassen noch anzutreffen war. Immerhin gab es auch Figuren wie Nasenstern, die, je mehr sie uns heute zum Lachen reizen, als eine umso schaurigere Anklage des tausendfältigen Unrechtes wirken sollten, unter welchem unsere Vorfahren, wahrlich nicht durch eigene Schuld, Generationen hindurch zu leiden hatten.

Nasen Stern. 57

Mit der wunderbaren Genialität eines begnadeten Dichters hat Heine es verstanden, uns die ganze Atmosphäre vor das Gemüt zu zaubern, in der Nasensterus Glaubens- und Zeitgenossen geatmet haben. Vielleicht das Wertvollste an seinen Zeitschilderungen im Rabbi von Bacharach ist die unvergleichliche Kunst, mit welcher uns die Scheu und die Fremdheit vor Augen geführt wird, die das Verhalten der Juden zu ihrer niehtjüdischen Umgebung damals kennzeichnete. Wie da der Rabbi mit seiner Frau Sara die Herr- lichkeiten der Frankfurter Messe besieht, wie sie all diese fremd- artigen Eindrücke auf sich wirken lassen, wie sie bei allem neu- gierigen Interesse sich doch recht unbehaglich fühlen, das alles ist so echt gesehen und empfunden, wie nur ein Dichter es ver- mochte, in dessen Adern wohl auch noch dann und wann das Blut so ängstlich gepocht haben mag als Nachschwingung überwun- dener Angstempfindungen der Ahnen wie in dem Herzen der schönen Sara, als sie beim Anblick der Frankfurter Messherrlich- keiten überlegte, „was sie nach Bacharach mitbringen wolle, wel- chem von ihren beiden Bäschen, dem kleinen Blümchen oder dem kleinen Vögelchen, der blauseidene Gürtel am besten gefallen würde, ob auch die grünen Höschen dem kleinen Gottschalk passen mögen doch plötzlich sagte sie zu sich selber: Ach Gott! Die sind ja unterdessen grosggewachsen und gestern umgebracht wor- den! Sie schrak heftig zusammen, und die Bilder der Nacht wollten schon mit all ihrem Entsetzen wieder in ihr aufsteigen".

Diese Scheu, diese Fremdheit, diese Angst, wäre es zu ver- wundern, wenn es einer ebenso langen Zeit bedürfte, um sie zu tilgen, wie es einst bedurfte, um sie zu erzeugen ? Stellen wir uns das Eintreten der deutschen Juden in die bürgerliehe Gleich- heit nicht 80 einfach und selbstverständlich vor. Im Rausch der Emanzipation wurde man sich der Schwierigkeiten des Übergangs nur sehr unklar bewusst. Die politische Gleichheit war vor der gesellschaftlichen da. Wäre sie als Krönung der gesellschaftlichen Emanzipation gekommen, dann brauchten wir heute nicht die man- nigfachen Überreste an feindseligen Stimmungen und Strebungen aus der Zeit vor der Emanzipation so beweglich zu beklagen. Aber 80 wurde die Gleichberechtigung der Juden durch einen Staats-

58 Nasen Stern.

rechtlichen Akt proklamiert, der zunächst nur eine Anweisung war, um auch gesellschaftlich das zu vollenden, was von rechtswegen begonnen war. Das gesellschaftliche Leben trägt aber die Gesetze seiner Entwicklung in sich selbst und spottet jedem V^ersuche, es gewaltsam auf einen parallelen Weg mit dem politischen zu zwingen. Es wäre demnach wahrlich kein Wunder, wenn die wenigen Jahr- zehnte, die seit der Proklamierung der Judenemanzipation ver- strichen sind, nicht ausgereicht hätten, um die Juden ihren christ- lichen Mitbürgern auch innerlich näherzubringen, sie ihnen nicht blos politisch gleichzustellen, sondern auch gesellschaftlich und psychisch anzuähneln. Tatsächlich ist aber doch die Lage so, dass diese Jahrzehnte in Deutschland mit der alten Ghettozeit, soweit sie das Innenleben der deutschen Juden beherrschte, so gut wie völlig aufgeräumt haben. Die Mehrzahl der deutschen Juden hat mit dem alten Judentum seit Jahr und Tag so gut wie gebrochen. Und nicht blos äusserlich, sondern auch innerlich. In den meisten jüdischen Gemeinden herrscht eine Unkenntnis des jüdischen Lebens, der besonderen Art der jüdischen Frömmigkeit und der jüdischen Religion, gegen die auch der beste Religionsunterricht vergebens ankämpft, weil eben eine völlige Verschiebung des gesaraten jü- dischen Innenlebens stattgefunden hat. Nur die wenigsten werden sich an den lächerlichen jüdischen Schnitzern stossen, die selbst Heine, der doch noch während der Emanzipationskämpfe starb, in seinem Rabbi von Bacharach unterliefen. Wenn er da z. B. bei der Schilderung des Gottesdienstes in der Frankfurter Synagoge u. a. erzählt : . . . . und aus der geöffneten Pergamentrolle, in jenem singenden Tone, der am Paschafeste noch gar besonders moduliert wird, las der Vorsänger die erbauliche Geschichte von der Versuchung Abrahams" so werden nur die orthodoxen Juden in Deutschland wissen, dass hier Heine eine zwiefache Unkenntnis der jüdischen Paschaliturgie verrät, während die Mehrheit der deutschen Juden nichts darin finden wird, dass Heine statt am Neujahrsfeste am Paschafeste 1) den Ton bei der Thoravorlesung gar besonders moduliert sein und 2) die Geschichte von der Ver- suchung Abrahams vorlesen lässt. Dem NichtJuden wird es selt- sam vorkommen, wenn wir aus einer Unkenntnis liturgischer Ein-

Nasenstern. 59

zelheiten auf eine tiefgreifende innere Entfremdung scbliessen. Wem aber die Imponderabilien des jüdischen Lebens vertraut sind, der wird diesen Schluss nicht als einen voreiligen betrachten.

Und nun erleben es all die vielen, vielen Tausende von deutschen Juden mit einem Male, dass sie, die seit Jahr und Tag sich dem deutschen Geiste unzertrennbar verbunden fühlten, die kein anderes Streben kannten, als gute Deutsche zu sein, und die in ihrer Liebe zum Deutschtum so weit gegangen waren, dass sie alle Brücken zur alten Ghettozeit hinter sich abgebrochen hatten, ja, dass sie um des Deutschtums willen das alte Judentum so lange zurechtschnitten und zurechtstutzten, bis man seinen Gedankengehalt and seine religiösen Forderungen kaum von denen des Protestan- tismus unterscheiden konnte und nun erleben sie's mit einem Male, dass sie, die an vaterländischer Pflichttreue, an militärischem Eifer, an soldatischer Tapferkeit ihr bestes gaben und geben, auf ihre Ähnlichkeit mit Nasenstern untersucht werden sollen. Sicherlich war die Absicht des Kriegsministers eine gute. Es galt antisemitischen Wühlereien rechtzeitig die Spitze abzubrechen. Allein die Notwendigkeit einer solchen Vorarbeit ist zum Weinen traurig. Hans, das ist eine schiechte Melodie, würde Nasen- stern sagen. R. B.

„Lodz, das gelobte Land."

In polnischer Sprache hat W. St. Reymont einen Roman erscheinen lassen, den er zu einer Darstellung der zeitgenössischen Verhältnisse dieser grössten Industriestadt Osteuropas auszubauen strebte ; in deutscher Sprache ist dieser dann nunmehr schon in vierter Auflage erschienen und zwar übersetzt durch den Dar- steller und Verteidiger des Polentums A. von Guttry *).

Schon die Person des Übersetzers zeigt, dass dieser Roman eine Tendenz besitzt, die für das Polentum wichtig ist ; dieses

•) München 1916, verlegt bei Georg Müller.

60 «Lofiz, das gelobte Land'

kommt auch in den Ankündigungen dieses Romans zur Geltung : „Aber nicht nur um Geld allein geht dort (in diesem Roman) der Kampf, zwei Rassen stehen sich gegenüber: Arier und Semiten, drei Völker: Polen, Juden, Deutsche". Bedenkt man noch, dass es sich hier um eine Stadt des Ostens Europas handelt; dass hier quasi ein Berufener, ein Pole, das Wort ergreift ; dass die nicht- jüdische, speziell aber die jüdische Welt jetzt, wenn nicht bei der Lösung, so doch zumindest bei dem Studium des sog. Ostjuden- problems sich befindet, so begreift man d|8 Interesse, das Juden und Judentum an diesem Romane haben, und das ihm schon vier Auflage gebracht hat. Sie greifen eben nach diesem Buche, weil sie dort Erfahrungen auf diesem jetzt modern gewordenen Gebiete suchen, weil ihnen sonst nur wenige Quellen darüber zur Verfügung stehen. Der literarische Gehalt dieses Buches reicht übrigens nicht viel über das Mittelmass hinaus; nur in kurzen, kleinen Bildern, in Momentaufnahmen, entwickelt Reymont sein dichterisches Können.

Allein diese Quelle zum Verständnis der sozialen Verhältnisse der Ostjuden ist leider wie so viele andere nicht ganz rein; si licet comparare, wenn Paralelien mit anderen Arbeiten gezogen werden sollen, dann müsste man hier die Rassenwissenschaft des Chamber- lain, die Wirtschaftlehre Sombarts, zum Vergleiche mit der sozialen Darstellung Reymonts heranziehen, weil bei allen, wenn schon nicht direkt eine böse Absicht, so doch zumindest indirekt derselbe Effekt zur Wirkung gelangt: diese Herren sind in einem Milieu er- zogen und aufgewachsen, welches ihnen die Meinung suggerirt, dass Alles was jüdisch ist, schlecht und niedrig sein muss. Und diese Quellen sind es leider, die nicht nur die NichtJuden, sondern was noch bedauerlicher ist, auch die meisten Juden, speziell die Westjuden, zum Stillen ihres Durstes nach einem Wissen über Juden und Juden- tum benützen; sie bedenken nicht, dass es für den Trinkenden gleich- giltig ist, ob er ein Gift absichtlich oder unabsichtlich in seinen Organismus einführt: die Folgen sind doch immer dieselben, Seele und Körper erkranken gleichmässig, wenn falsche schädliche Be- standteile ihren Organismen zugeführt werden.

Bei Reymont ist subjektiv noch ein Entschuldigungsmoment anzuführen, er will sein Volk, die Polen verteidigen, verschönern, verherrlichen, er glaubt sie vorteilhafter zu zeichnen, wenn er deren Widerpart, die Juden jener Gegend, umso schwärzer und dunkler darstellt; in der Malerei wird solches als Kunsttechnik gefeiert, im sozialen Leben aber bleibt dem dunkel gefärbten Volke immer aus einer solchen Zeichnung etwas hängen, auch wenn solches nur subjektiv „zur Verschönerung des allgemeinen Bildes" vom Meister angewendet war.

Drei Studiengenossen einer russischen Hochschule treffen in Lodz zusammen, t)eziehen eine gemeinsame Wohnung, und beab- sichtigen eine gemeinsame Fabrik zu gründen, damit beginnt der

„Ludz, das gelobte Land". 61

Roman ; am Anfange des zweiten Buches funktioniert schon ein Teil dieser Fabrik und die Vollendung derselben scheint nahe zu sein ; am Ende des Romanes ist die nur teiweise in Betrieb gewesene Fabrik abgebrannt, wobei der Pole bei der Firma und dem Reste der Ruinen verblieben ist. Es wird angedeutet, dass dieser, der „Edelmann" Borowiecki, die Fabrik in Betrieb setzen wollte, mit Geld, nicht durch Tüchtigkeit und Fleiss er- worben, sondern durch Verkauf des Adels und des Junggesellen- lebens an eine „beschränkte" Deutsche, die mit ihren Millionen den Helden und die Geschichte des Romanes rettet.

Wäre nicht der eine des Gründer-Kleeblattes der Ver- fasser zeigt überhaupt ein grosses Vorliebe für die Konstruktion der dreifachen Parallelen ein Jude , so müsste man sagen; die ganze Beschreibung der Juden sei hier an den Haaren herbeigezogen ; allein Moritz Welt ist Jude, und nun muss das gesamte jüdische Milieu heran und dargestellt werden und auch dieses, und nur dieses allein, soll die Aufgabe der folgenden Ausführungen sein : damit man es sehe und wisse, wie die soge- nannten tüchtigsten und besten Kenner, wenn sie aus nichtjüdi- schen Kreisen stammen, über Juden und Judentum fabulieren.

Moritz verkehrt in der gemeinsamen Wohnung direkt freund- schaftlich mit Borowiecki, mehr als kollegial ; was aber den letz- teren nicht hindert, selbst bei harmlosen Auseinandersetzungen zu sagen :

„Ich bin Arier, und du Semit. Das ist die Erklärung" (Seite 69) ; wobei nach Reymonts Auffassung das edlere Denken und bessere Tun voraussetzungsloses Vorrecht des Polen gegen- über dem Juden ist.

Borowiecki meint (S. 70) : ,,Ich will Geld machen, aber für mich hört die Welt nicht mal bei den Millionen auf, und du siehst im Geld machen dein Lebensziel. Du liebst das Geld des Geldes wegen und kommst zu ihm durch Rücksichtslosigkeit, ohne dich um die Mittel zu scheren".

,,Weil jedes gut ist, das dazu verhilft" (meint Moritz im Sinne der berüchtigten Lodzer Grundsätze und seines Freundes Borowiecki, der zu seiner reichen Frau über seine frühere polni- sche Braut gelangt, nachdem er der letzteren, die noch obendrein eine Cousine von ihm war, die Mitgift genommen und in seine Fabrik hineingesteckt hatte).

,,Das ist eben semitische Philosophie" repliziert Borowiecki, wahrscheinlich im Sinne der Auffassung des Autors und des grössten Teiles der Leser, für die dieses Buch bestimmt ist. Dabei fällt es aber weder dem Autor und noch weniger dem Leser ein, dass dieselbe Bemerkung zehn, zwanzig, ja hundertmal zu den ver- schiedensten in diesem Buche selbst angeführten Handlungen von Polen und Deutschen in jeder Beziehuns: passt, wiewohl diese Handlungsweise als eine jüdische qualifiziert wird.

62 „Lodz, das gelobte Land".

Moritz merkt gar nicht den Stachel in all diesen Bemerkungen und Worten ; woher soll auch ein Jude ein Empfinden für solche . . . Kleinigkeiten, nach der nichtjüdiselien Auffassung, hernehmen! Wohlgemerkt, JMoritz ist Absolvent einer Hochschule, selbständiger Kaufmann, den reichsten Kreisen in Lodz verwandt aber für diese nichtjüdische Auffassung kommt das Alles nicht inbe- tracht ; wohl die beste Abfuhr, die die Xichtjuden den jüdischen Assimilanten geben können, dass sie ihnen trotz intimsten Ver- kehres und Aufgehens im nichtjüdischen Leben dennoch kein Ehrgefühl zugestehen wollen.

Die Fabriksgründung wird abgeschlossen; npbenbei wird aber noch ein Geschäft durchgeführt, und zwar ein Verdienst infolge Preissteigerung, deren Kenntniss sich Borowiecki durch Missbrauch einer Nachlässigkeit des Mannes seiner jüdischen Geliebten sich verschaff hatte.

Der Pole bietet diese Kenntnis dem Juden zum Ausnützen an ; wohl deshalb, weil er sich ausser Stande fühlt, es selbst duchzutühren (S. 74); was aber den Autor nicht hindert, dieses als Heldentat seines Borowiecki hinzustellen.

Moritz, dem aus dem Geschäft der gleiche Verdienst wie dem Borowiecki gesichert ist. kommt aber nach diesem ganz un- verhofften und unverdienten Glücke dem Borowiecki mit der Frage: ,,Was bewilligt Ihr mir für die Durchführung des Geschäftes?" ,, Zunächst die gewöhnliche Provision für den Einkauf. Später können wir uns ja einigen".

,. Zahlt mir gleich was an. Ich werd' Euch eine genaue Rechnung des Verlustes vorlegen, den ich infolge meines Aufent- haltes in Hamburg erleide, des Verlustes in meiner Agentur, die ich eben während dieser Zeit nicht führen kann."'

,, Schwein" sagte Max (der Deutsche und Mitglied des Klee- blattes) zum drittenmal

,,Komm Moritz, ich geh' Dir einen Kuss zum Abschied. Xa also, leb' wohl, Kerl, und beschmuggle uns nicht.''

„Als ob dich jemand bescmuggelu könnte" brummte Moritz mit einer gewissen Trauer.

„Bist ein guter Kerl, Moritz, aber auf eine Meile sieht man dir den Schacherer an,"

Selbstverständlich, nach der Tendenz dieses Buches, geht Moritz sofort daran, die ihm von Borowiecki zuteil gewordene Sache, allein, oder zumindest anderweitig und ohne Borowiecki auszunützen; aber nach genauer Umsicht in seinem jüdischen Be- kanntenkreise konstatiert er, dass er niemandem seine Kenntnis der Preissteigerung mitteilen kann : sie würden alle, ebenso wie* er, und gegen ihn. d. h. ohne ihn, dann die Sache ausnützen. Eine eigenartige Charakteristik jüdischen Geschäftsgebahrens wie sie sich in nichtjüdischem Spiegel ausnimmt.

,Lodz, dt8 gelobte Land". 63

Einen Bekannten sucht Moritz dennoch zu diesem Zwecke auf; er gerät in eine grosse Familienversammlung. .,Was ist denn das für ein Fest hier" fragt er, ,, Gross-Familien-Pleiten-Fest" wird ihm geantwortet (S. 107).

Moritz fährt nach Hamburg, verdient viel Geld und wird noch, dank der Indiskretion Borowieckis, in der allgemeinen Meinung zum Fachmanne in diesen Sachen : der Jude Grossglück gibt ihm ohne Sicherung 3U,000 Rubel, um Halbpart bei einem nochmaligen Ankaufe zu sein, selbstverständlich unter Ausschluss einer Beteiligung Borowieckis. Ohne weiteres geht Moritz auf die Verdächtigunji:en Grossglücks gegen Borowiecki und deren ge- meinsame Fabrik, ein ; sofort, bei den ersten Worten der Ein- flüsterung : „Das ist kein Geschäft für mich. Die fressen ihn ja auf", und beginnt sofort Mittel und Wege auszuhecken, wie er vom Geschäfte zurücktreten könnte. Das soll wohl einen jüdi- schen Dank illustrieren.

Er suchte nach einem anständigen Vorwand, weil er mit Borowiecki nicht definitiv brechen wollte (8. 389). Der Jude ist eben zu feig, um öffentlich und ehrlich aufzutreten.

Der Bau der Fabrik stösst auf Schwierigkeiten ; es fehlt Geld. Moritz bietet solches un, er hat es ja, nämlich Gross- glücks 30,000 Rubel.

„Leihst du es mir ?"

,,Nein, ich werde meine Beteiligung erhöhen. Es lohnt sich nicht für mich, dir zu leihen ; und auch für dich wird's so be- quemer sein. Die Zahlungstermine werden dich nicht drücken. Da- gegen kann ihr im Verhältnis zur Höhe meiner Beteiligung teilweise auch die Leitung der Fabrik übernehmen. Wozu sollst du dich überarbeiten" (S. 425). Das soll wohl darstellen, wie der Jude den Polen von dessen Geschäften hinterlistig überall hinausdrängt).

Zu gut kannte er (Borowiecki) Moritz, als dass er ihm hätte Vertrauen schenken können (S. 426) (allein küssen mochte er ihn doch).

Er (Borowiecki natürlich) war einfach organisch unfähig. Taten zu begehen, die Moritz mit kaltem Blute und der grössten Ruhe ausgeführt hätte (S. 427), meint der Autor in einer allgemein hingeworfeneu Bemerkung:, ohne trotz der ganzen Richtung dieses Buches diese möglichen Taten des Juden im Einzelnen auch an- zuführen; versagte hier die Feder oder bewirkte dies das mensch- liche Gewissen ?

„Ich seh' doch wie ein anständiger Mensch aus ; nicht wahr Karl?"' (Vorname des Borowiecki) fragte Moritz.

Er besah sich sorgfältig im Spiegel und versuchte, seinen scharfen, lauernden Zügen einen gutmütigen Ausdruck zu geben (S. 429). Denn er ginü: hin. um zwei G»'8chäfte, feine Geschäfte, durchzuführen, und wollte eine entsprechende Miene aufsetzen.

64 ,Lodz, das gelobte Land'

Dem Grossglück erklärte er einfach, die 30,000 Rubel hnhe er, Moritz, sich unbefristet geliehen war jener doch so dumm gewesen, einem Juden Geld ohne Sicherste llung beraus'/ugelien. Grossglück bricht in eine Berserkerwut aus ; droht mit Kriminal ; fleht im Namen der Freundschait ; jammert und gleicht sich eben mit dem Juden als Jude aus, sobald er hört, dass sie beide zusammen den Polen Borowiecki verderben und ausnützen können.

Moritz sprach ruhig (immer ist der Jude ruhig !) und be- kräftigte seine Ausführungen durch eine Reihe von Ziffern, und verschiedene tückische Pläne, Schurkereien und Betrügereien, mit denen er Borowiecki vernichten wollte (S. 437).

Und ein solches Gespräch endet nach der Tendenz dieses Buches :

,,Du gefällst mir sehr Moritz, du gefällst mir so, dass dir meine Marry geben würde, wenn sie erwachsen wäre, und sie hat zweihunderttausend."

,,Zu wenig."

„Zweihundertvierzig würd' ich geben, warten Sie ein Jahr."

,,Kann nicht, in einem Jahre dreihundert, billiger kann ich nicht warten. '

,,Is' schon gut ; kommen Sie Sonntags zu mir, zum Mittag- eesen" (S. 439).

Moritz spricht das Alles und geht schnurstracks von dort zur Werbung um eine andere Braut. Und nun hören wir, wie der Jude eine Braut bekommt.

Von der Heiratsvermittlerin, die im Stillen seine Sache bei der Familie Grünspan vertrat, hatte er den Bruch mit Wvsocki (dem polnischen Geliebten seiner zukünftigen Braut; erfahren (43"J).

„Warten Sie, bis die Sache mit Grossmann (Schwiegersohn von Grünspan und wegen Brandlegung in Untersuchung) erledigt ist."

,, Jetzt werden wir gerade schneller einig", sagte Moritz (438).

Auf dem Wege zur Brautwerbung geht er noch mit Kessler, um zu einer Orgie den Missbrauch von Fabrikarbeiterinnen vorzu- bereiten.

Aber Moritz scheint ein Stümper auf diesem Gebiete zu sein, denn solches ist kein jüdischer Sport, und er fragt ganz erstaunt:

,,Sind die denn sogleich zum Appell bereit . . .?•' (441).

Schliesslich kommt er ins Haus seiner Zukünftigen.

,,lch möchte noch mehr zu Euch gehören", sagt er.

,, Warum nicht, das Geschäft kann man machen", sprach der Alte kühl.

„Zu diesem Zwecke bin ich hergekommen."

,, Kannst zu Mela gehen und dich mit ihr aussprechen."

,,Ich muss erst mit Ihnen sprechen."

„Was geben Sie Mela ?" fragt Moritz.

„Was haben Sie ?"

„Lodz, das gelobte Land". 65

„. . . . Meine Erziehung, mein freundschaftliches Verhältnis zu allen Lodzer Millionären, meine Ehrlichkeit keinmal hab' ich Pleite gemacht das ist sehr wichtig . . . ."

„Weil es sich für Sie wohL nicht verlohnt hätte**, wirft ein zukünftig:er Schwager ein.

„Also Alles in Alleiri, plus-minus. bin ich mindestens zwei- hunderttausend Rubel wert. Ich bin ein bescheidener Mensch, ich überhebe mich nicht. Was geben Sie Mela ?"

,,Sie hat ganze zehn Jahre auf einer sehr teuren Pension gelernt. Sie war im Ausland, sie hatte spezielle Privat-Lehrer für verschiedene Sprachen. Sie hat mich viel Bargeld gekostet.*'

,,Da8 ist persönliches unbewegliches Vermögen, von dem ich keine Prozente kriegen werde.''

,,Mein Kind ist der reinste Brillant !"

,,In welcher Summe lassen Sie ihn fassen ?"

„Wenig*', meint Moritz, ,, Fräulein Mela ist ein Brillant, ist eine schöne Frau ist klug wie ein Engel, wie ein ganzer Engel aber fünfzigtausend ist zu wenig.''

Moritz beginnt zu renommieren : .... in einem Jahre gehört die Fabrik (Borowiecki's) mir . . . ."

,,So wollen wir dann weiter warten."

,.Dann können Sie mit wem anders reden. Grossglück wollte mir heute zweihunderttausend geben und seine Marry dazu .... •und .... sie hat keinen Vater und keinen Schwager, die in Brandgeschichten verwickelt sind."

,,ln Lodz weiss man, was ich wert bin", erwidert Grün- span ruliig.

,,Wer weiss es ? die Polizei ?" sprach Moritz (als Brautbe- werber!!) bissig. ,, . . . Es verlohnt sich nicht für mich, mich für fünfzigtausend zu verkaufen .... Sie legen Ihre Tochter mit hundert Prozent an ... . geben Sie also fünfzigtausend in Bar und noch einmal soviel nach zwei Jahren?" sagt Moritz in Extase.

„Im Prinzip gehe ich darauf ein, aber nach Abzug der Trau- ungskosten, der Ausstattung und der Erziehungskosten.''

„Das ist eine Schweinerei", schrie Moritz (und umso mehr noch ist es dies, diese ganze Szene, die in jedem Worte unmög- lich und ausgeschlossen ist und nur im Gehirne eines nichtjüdi- schen Autors entstehen konnte . . .)

Nun kommt die Reihe an die Braut selbst.

Er spricht nicht von Liebe, nicht von Lebensglück, nicht von den Aufwallungen des nach Liebe verlangenden Herzens.

Moritz spricht ruhig (wieder ruhig . . .); es werde ihnen gut gehen, er werde eine Fabrik gründen; er spricht von Kapitalien, von Mitgift, von Geschäften, die er plant ; er sagt, dass sie nie wird etwas entbehren müssen, dass sie Pferde und Equipagen haben wird. Ja das ist Moritz. Moritz.

66 „Lodz, das gelobte Land".

,, Liebst du mich Mietsch (das ist der polnische Greliebte !) .... Moritz ?''

,,Das kann ich dir nicht sagen, Mela ! . . . . Du bist so schön und unseren Frauen so unähnlich (sie !), dass ich schon immer au dich gedacht habe. Also sag' Mela, willst du meine Frau werden ?"

Sie schaute ihn an und schwieg. Endlich besann sie sich, stand auf und sagte rasch, ohne Ueberlegung :

,,Gut, ich werde dich heiraten. Besprich alles mit Vater..,."

Er wollte ihr die Hand küssen, sie zog sie aber sanft zu- rück (452). Und so etwas wird nicht nnr dem Juden Moritz zugeschrieben, sondern auch jenem jüdischen Mädchen, das sein ganzes Leben in polnischen Kreisen uud Pensionaten zugebracht hat und von welchem selbst die eingefleischte Polin Frau Wy- socka sagt :

. . . sie (Mela) verabschiedet sich von ihm (dem Geliebten) so zärtlich, dass ich herzlich geweint hätte, hätte ich nicht gewnsst, dass eine Jüdin den Brief schrieb . . . ." (4L5). Mit diesen Worten hat freilich der Autor, als Pole, wohl auch sein Urteil abgegeben und über die Juden den Stab gebrochen ... ob die Juden (lieses jüngste Unglück werden verschmerzen können ? ! . . .

Noch einmal erscheint Moritz, und zwar am Ende des Ro- mans, als Borowiecki aus Berlin, von seiner jüdischen Geliebten, nach Hause, zur Brandstätte der Fabrik herangeeilt kommt.

Mit weinerlicher Stimme klagte er (Moritz) weiter, simulierte Verzweiflung und grossen Schmerz und beobachtete unmerklich mit seinen scharfen Augen Karl.

I^orowiecki hörte lange zu, bis er schliesslich, durch die lange Erzählung gelangweilt, sich sich zu Moritz beugte und ihm leise ins Ohr flüsterte :

„Flunker' nicht! Ist ja dein Werk!" (510—511),

Moritz kommt dennoch wieder zu ihm, verlangte seinen An- teil aus der Fabrik heraus ; ,, . . . du tust mir so leid'' sagt Moritz zu Borowiecki, ,,das8 ich dir irgendwie helfen möchte, dass ich dir sogar, obwohl ich nichts davon hätte, den Platz, wo die Fabrik gestanden, abkaufen möchte. Du weisst ja, was mein Herz Freunden gegenüber fühlt. Bar würd' ich's dir zahlen, was leihen würd' ich dir, du hättest womit anzufangen".

Entrüstet (!) über diesen Vorschlag öffnete Karl die Tür vor ihm.

„Scher' dich raus, oder ich lass dich herausschmeissen", rief Karl heftig und klingelte nach Matthias (dem Diener) (512).

Das ist eine Schlussscene, wie sie seit jeher in Polen zwischen Polen und Juden auf der Tagesordnung zu sein pflegte, und die der Verfasser auch für die Zukunft des Zusammenlebens der beiden Völker weiter liebevoll aufbewahrt wissen möchte, zu-

„Lodz, das gelobte Land'*. 67

mindest in dem polnischen Lodz. Denn in Moritz wird der Typus, nicht des gewesenen polnischen Juden, sondern der Jude der Zu- kunft dem Leser vorgeführt, der gebildete und voll und ganz assi- milierte Jude, der sogar 100 OOO Rubel in Bar, und 50 000 Rubel in Schulden statt in Bar, opfert, um nur eine Frau zu bekommen, die in polnischen Kreisen erzogen ist und „unseren Frauen so un- ähnlich ist". Nichts kann nach nichtjüdisclier, speciell nach pol- nischer Auffassung dem Juden helfen; er muss und wird immer der Zyd bleiben. ...

Wie wenig, wie aber eigentlich gar nicht, die Aussenwelt den polnischen Juden kennt, wie sogar der Pole, der hier als Fach- mann und Sachverständiger auftritt, ein jedes Wort, eine jede Scene, eine jede Linie falsch und ganz unrichtig gezeichnet hat, das kann nur der ermessen und verstehen, der dieses Milieu aus eigener jüdischer Erfahrung kennt. Wem aber dieses nicht gege- ben ist, der möge die jüdischen Milieukenntnisse des Herrn Autors aus den folgenden Darlegungen ersehen: In der Mitte des Zimmers sass Schaaja Mendelsohn (der jüdische Fabrikskönig), in rituelle Gewänder gehüllt, den linken Arm entblösst und mit Riemen um- wickelt. Er betete halblaut und verneigte sich ernst.

In zwei Fenstern standen zwei alte, weissbärtige Synagogen- sänger . . , und verneigten sich fortwährend, in dem letzten rosigen Schein der Abenddämmerung vertieft, und sangen eine wundersam leidenschaftliche und wundersam traurige Psalmodie.

Die Stimmen schwollen an in Klagen und Schmerz und tönten wie die Stimmen kupferner Posaunen in schielender Wehmut, dann heulten sie in dumpfer Verzweiflung und brachen in hoffnungsloses Stöhnen aus, und ... es ergoss sich eine lange süsse Melodie. Es k[ang wie der Sang von Flöten in der grossen Stille blühender Gärten; in einem von ekstatischen Liebesträumen erfüllten Halb- schlaf, und Seufzer und Sehnsucht ertönten nach den Palmengärten Jerusalems, nach den traurigen, unendlichen Wüsten, nach den sengenden Sonnengluten, nach dem verlorenen und so geliebten Vaterland. (126).

Der Gesang hielt an, bis es völlig Nacht wurde.

. . . du hattest keine rechte Lust heute, du simuliertest das Singen. Wolltest du mich und Gott betrügen ? (127) sprach Schaja zu einem der Sänger.

Wie grossartig schön ist diese Darstellung, aber wie noch grossartiger falsch ! Der Katholicismus ist hier dem Autor durch- gegangen, und er wollte mit diesem das Wesen des Judentums zeichnen, dem diessr doch so fremd und fern ist! Wer hat denn dem Autor den Bären aufgebunden, dass „drei" Juden zu einem richtigen jüdischen Gebete nötig seien; und das Singen, das schöne melodische Singen, ein Bestandteil des jüdischen Beteus ist; wo hat er gesehen, dass Juden in der Abenddämmerung Riemen, d. i.

68 „Lodz, das gelobte Land''.

Tephillin anlegen ; wo hat er Juden getroffen, die bis in die Nacht hinein „schwarz weiss gestreitte Umhüllungen" d. i. Talethim tra- gen . . . ? Und Leute, die nicht das ABC des jüdischen Milieus kennen, wollen die berufenen Darsteller desselben sein, sich sogar zu Richtern desselben auf werfen!

Oder etwa Folgendes :

,.I('h mag ihn (den Protestantismus) nicht, und würde nie zu dieser Konfession übertreten. Ich bin ein Mensch, der schöne Sachen braucht und liebt. Wenn ich mich die ganze Woche lang abschinde, dann brauch' ich Ruhe am Schabbes oder am Sonntag, dann buauch' ich einen schönen Saal mit schönen Bildern, schönen Sculpturen und schöner Architektur, dann brauch' ich schöne Ce- remonien und ein schönes Konzert. . . . Aber was hab ich in der protestantischen Kirche . . . Vier nackte Wände und eine solche Leere, als ob das ganze Geschäft ein bischen in Liquidation treten sollte. . . . Und ausserdem liebe ich, es zu wissen, mit wem ich es zu tun habe . . . was ist das für eine Firma, der Protestantismus? . . . der Papst, das ist eine Firma". (392). Ist wirklich dem jüdi- schen Geiste Schönheit, Sculpturen und Architektonik unbedingte Erfordernis einer religiösen Stimmuns: ; verlangt der Jude in seiner Religion wirklich immer nur nach einer positiv greifbaren Firma? Nur in einem nichtjüdischen Geiste konnte eine solche Auffassung entstehen.

Und gar noch dieses :

., . . . die Plötze frisst ein Gründling auf, den Gründling ein Barsch, den Basreh ein Hecht, und den Hecht? Den Hecht ver- schlingt der Mensch. Und den Menschen verschlingen andere Menschen, Bankerotte verschlingen ihn, Krankheiten. Sorgen, bis ihn endlich der Tod verschlingt. Das ist alles sehr in der Ord- nung und auch sehr schön, das macht den Betrieb in der Welt."

,.Das ist Talmud-Philosophie, Herr Halpern, meint Boro- wiecki. (257).

Nur wer den Talmud nicht kennt, auf eine Weise nicht kennt, dass er niemals in seinem Leben auch nur ordentlich über ihn schwatzen hörte, kann solche Thesen als Talmudphilosophie be- zeichnen; die nichtjüdischen Leser werden freilich auch diese dem Autor auf sein Wort und seine Erfahrung (?) hin glauben.

Selbst die jüdischen Frauen, von welchen die Herren Polen so oft schwärmen und deren Schönheit und Anmut bewundern, kommen in diesem Romane schlecht weg. Mela, das polonisiorte jüdische Mädchen, wurde hier bereits hervorgehoben; eine andere jüdische Frau, Lucie mit Namen, die frühere vornehme und lei- denschaftliche Geliebte Borowieckis, wird unmittelbar darauf als einfache, ordinäre, kleinstädtische (!) Jüdin bezeichnet, wörtlich be- zeichnet. (499) Die zukünftige Mutterschaft hatte sie so verwandelt . . . mit Ekel küsste er das aufgedunsene, mit gelben Flecken be- deckte Gesicht.

„Lodz, das gelobte Land". 69

Dass die Mutterschaft gerade die Jüdin nicht verschönert, da88 sie bei den Jüdinnen gar gelbe Flecken im G^vsichte erzeugt, d$,s sind doch rassentechnisch aufsehenerrfgende Entdeckungen; scfcauje, dass Chamberlein diese nicht früher von HeiTn Reymond gehört bat und in seiner Wissenschaft (?) zu verwerten Unterlides!

Eines freilich entringt sich dem Verfasser, wenn auch nur unwillkürlich:

Er wusste, Frau Zucker hatte keinen Geliebten. Denn sie war eine Jüdin . . . (62) Die weiteren Ausführungen sind ganz un- logisch mit diesen Vordersätzen verbunden; das einzige Lob, das für Juden in diesem Buche vorkommt. Und auch diese Frau wird dann zu der bereits erwähnten Lucie . . degradiert.

Nicht einmal das jüdische Familienleben, nicht einmal die jüdische Kindesliebe findet er, auf den 525 enggedruckten Seiten, Platz zu loben; zum letzteren nimmt er einen kleinen Anlauf, aber in einer Scene, die sicher dazu nicht augezeigt ist, nämlich in der Situation des betrogenen jüdischen Ehegatten, der den polnischen Edelmann,, den Geliebten seiner Frau, auf's Cruzifix schwören lässt, dass das zu erwartende Kind sein eigen ist. (475)

Wie hatte es doch Zola verstanden, dieselben Momente künst- lerisch auszunützen und zu verwerten, und zwar im L'Argent. wo er die Kindesliebe der Juden und die Allmacht des jüdischen Rörsenkönigs schildert, ebenso die Wohlthätigkeit; aber dort ist es eben eine voraussetzungslose Kunst und hier sind die Juden nur als Mittel geschildert, als dunkler Hintergrund zum glänzend sein sollenden Hauptbilde des Polentums.

Der Verfasser scheint übrigeng auch sonst schon scharfe, fast brutale, Aeusserungen über seine geliebten Polen gehört zu haben.

,, Weder eine noch zehn euerer (polnischen) Fabriken werden euch eine Industrie schaffen. Erst müsst ihr (Polen) euch zivilisie- ren, ihr müsst euch eine gewisse industrielle Kultur schaffen, dann erst werden euere Bemühungen nicht lächerlich wirken. Ich kenne euch ja so gut ! . . , Ihr seid begabt, grosse, vornehme Herren ; warum fahret ihr nicht nach Monaco? Da würdet ihr Staunen erwecken, und ihr liebt doch so, dass man euch bewundert ? Euere Arbeit, euer Edelmut, die Kunst, die Literatur, das Leben --- ist blos Phrase . . für euch selbst. Ihr wart schon bankrott, bevor ihr etwas gehabt habt. Ihr flirtet eben mit Allem. Kinder seid ihr, die Erwachsene spielen möchten" (486).

Er bringt diese Aeusserungen, voll von Empörung, und fügt sein Möglichstes bei, um den polnischen Leser dadurch noch mehr aufzuhetzen und aufzustacheln ; ganz ebenso, wie er es mit der angeführten Aburteilung des Protestantismus tut, inbezug auf die Deutschen, die den deutschen Leser zur Empörung hinreissen soll.

Es ist wohl Rache, die gerade den Beleidiger der Polen, Kessler, zum Missbraucher der Arbeiterinnen stempelt •, eine so-

70 „Lodz, das gelobte Land".

ziale Erscheinung, die durch hunderte von Werken und tausende von Gerichtsverhandlungen gerade in arischen Fabrikszentren, in einer Schauder erregendenWeise, nachgewiesen wurde.

Es wurde schon bemerkt, dass selbst der Verfasser solches in jüdischen Kreisen als nicht ganz gebräuchlich kennzeichnet-, und dies heisst viel in einem Buche, dessen Verfasser als Streiter des Himmels gegen das verschiedenartige Raubgesindel in Lodz auf- treten möchte ; wo jede Seite Facta enthält, die nach dem Unter- suchungsrichter schreien, wo aber eben dadurch, durch die grosse gewaltige Schuld Aller, die persönliche Schuld des Einzelnen ge- ringer und kleiner wird, spezieil aber jene der ärmeren Juden nicht so gross und gewaltig erscheinen kann: man kann doch vom Bettler nicht erwarten, dass er den Millionär Edelmut lehien soll.

Der Verfasser unterlässt es übrigens zu sagen, was er eigent- lich als Ideal ansieht, und was Mensch und Volk als Ziel erstreben sollen: über Relijiion und Religiosität, ist er. als moderner Mensch, erhaben; Redlichkeit und Ehrlichkeit müssen doch so lange ausge- schlossen bleiben, als nicht alle Anderen, nicht nur in Lodz, son- dern auch in der Kbnkurrenzwelt Lodz's, ebenfalls diese accep- tieren werden und dieses wird noch lange auf sich warten bissen ; angeblich ist das Verführen von Frauen und sich zu amü- sieren auch nicht das Ziel <les Verfassers, wiewohl das ganze Buch und dessen Hauptperson Horowiecki nur davon träumt und spricht-, die Arbeit und das Arbeiten endlich versteht der Verfasser nicht, er vermag es nicht zu würdigen.

,, . . . werdet nicht zum Zugvieh, werdet nicht zu Maschinen, werdet nicht gemein durch übermässige Arbeit'" (489).

Deshalb begreift er auch die Deutschen nicht, und versteht nicht ein Bild von ihnen zu entwerfen; angreifen aber und sie mit den Juden in einen Topf werfen, mag er auch nicht, haben sie doch im Weltkriege gezeigt, was e^^u Arbeit und Tüchtigkeit zu leisten vei-niag. Selbst Max Baum, der Dritte im Kleeblatt, ist als Fratze herausgekommen; nur Moritz Welt als Jude ist als rieht ges Scheusal geschildert selbstverständlich vom Standpunkte der überhitzen Phantasie eines NichtJuden, dem jedwede Kenntnis der wahren Zustände, abgeht. Selbst Karl Horowiecki, der Pole, ist verzeichnet; in Lodz musste er ein Haupthalunke sein und werden, und dies konnte der Verfasser nicht zugeben, nicht über sich Itringen, um es voll und ganz im Bilde zu zeichnen, denn ,,de Polonis nil nisi bene". Dagegen sind der alte Borowiecki, Frau Twardinska und Frau Wysocka prächtige Gestalten; diese mussten dem polnischen Edelmanne als Romanschriftsteller gelingen, weil sein Milieu eben das Landleben im Herrenhause und nicht Handel und Industrie in einem Centrum wie L>)(lz ist.

m. w. r. t.

iQV'y 3iro ü-]i JUEDISCHE

TT?0NflT5HeFTE

herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kohn, Ansbach, unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Salomon Breuer, Prankfurt a. M.

Jahrgjaiig 4. Heft 3

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Unsere Bitte um Tau. 73

Unsere Bitte um Tau.

Am ersten Tag Pessach heisst uns der Brauch unserer Väter die Bitte um Tau im Mussaphgebet sprechen. Der gewaltigste Paiton hat dieser Forderung seine gedanken- schweren Betrachtungen geweiht. Zum Schluss reicht er uns das Gebet um Tau, sein Gebet, wie er es gesprochen hab-n möchte. Da gilt's die Begriffe zu sammeln, aus denen allein, unserem Dafürhalten nach, diese schlichten Weisen sich uns erschliessen.

Mit dem ersten Pessachtag lehrt uns die Halacha aufzuhören, die Regenbitte in unsere Schemone Essre ein- zuschalten. Den Winter hindurch bildete sie einen Bestand- teil unserer täglichen Gebete: ^to ]m Dirjn TiiDi nnn n'^wü riDiib itaoi. Denn wenn der Winter unsere Gegenden in Schnee und Eis hüllt, erwartet unser heiliges Land seine Regenzeit. Und sind wir auch in alle Enden der Welt zer- streut, unsere heissesten Gefühle wallen unserer Heimat zu und sammeln die zersprengten Glieder unseres Volkes um ihren geistigen Einigungspunkt.

Gib Regen Deiner Erde, gib Regen Deinem Lande ! D^non n^nnn D^ctt':i nnn: p^dtd „Wo der Auferstehung der Toten gedacht wird, hat auch die Erwähnung der Allmacht göttlicher Regenspende ihre Stelle" (Berach. 33). Lasst sie nur ruhig in der Regenbildung natürliche atmosphärische Vorgänge in der Natur erblicken, uns hat Prophetenwort (Sech. 10) für immer zugerufen: itoD 'iD i'p^tt' 'i spendet Regen nach Erziehungsbedürfnis seiner Menschen und hat sich den „Regenschlüssel" für immer vorbehalten (vgl-^Hirsch G. Sehr. I, 17j. Und wie bei Schöpfungsbeginn der Regen auf den Menschen wartete, so fällt nach wie vor dem Men- schen von 'l der Regen (vgl. Com. Gen. L) !

Das Wunder aller Wunder ist dem jüdischen Sinn der zur Erde fallende Regentropfen. Wonnige Gewissheit künf- tiger Auferstehung erfüllt sein Gemüt: seht ihr nicht erstor- bene Flur zum Leben erstehen unter dem Wunderhauch des

74 Unsere Bitte um Tau.

fallenden Regentropfens ? D^nDn n^^nnD nb^p^ Euch ist Aufer- stehung des Menschen kein fernes Wunder mehr !

Gedankenvoll schau dem fallenden Regen nach, den Spuren göttlicher, täglich sich erneuernder Schöpfungsall- macht folgest du: „gross ist der Regentag, dem Tag, da Himmel und Erde ins Dasein traten, kommt er gleich i Tanith 7 1 !

Regen fällt der Erde nur, weil Menschen noch auf ihr leben, die Gott hingebende Treue entgegenbringen (b'^T^D n:iD« "'^VD das. 8), die Gott die Forterhaltung seiner Schöpfung wert erscheinen lassen, denn dauernd hängt die Schöp- fungswelt an den Lippen göttlichen Schöpfungswortes!

Und wie der Sinaitag einst schwankender, trostloser Erdentwicklung aus drohender Verödung erneute Festigung verlieh (s. Sabbat 88), so strömt jeder Regenlag der jüdischen Hoffnung fröhliche Sicherheit zu : ewige Huldigung findet der Sinaischwur, denn nimmer tränkte sonst Gott seine lech- zende Erde „jeder Regentag ist so gross wie der Tag, an dem die Thora gegeben ward" (das. 7).

Und versagt sich der Regen der Erde, dann klage der jüdische Sinn über Vernachlässigung der Thora, dass Man- schen demütige Bescheidenheit abgelegt und ihre sozialen Pflichten nicht kennen idas.) er juble, wenn dann wieder der ersehnte Regen fällt : Gott verzeiht den Sünden seines Volkes Israel (das.), lautet die selige Himmelsbotschaft, die die rieselnden Tropfen ihm bringen! Sie befruchten die Heileshoffnungen, in denen seine Sehnsucht sich verzehrt (das.), und den Tag, da Gott seine Zerstreuten sammelt idas. 8s an dem das Sonnenlicht tausendfältig seine Strahlen bricht, zaubert jeder regnerische Morgen ihm vor die Seele

Von trostlosem Regenwetter spricht die alltägliche Oberflächlichkeit, sie mag von der Poesie jüdischer Gedan- , kentiefe Bereicherung sich holen.

Und Israel sollte nicht heiss und innig seinen Regen erflehen? *"

Geschärft ist das Auge des jüdischen Volkes für die : Vorgänge der Natur. Und Go tt ist's der den Regen spen

i

Unsere Bitte um Tau. 75

det und ihn versagt. Die Fülle seiner ganzen Lebensan- schauung birgt dieser eine Satz. Die flache Gedankenlosig- keit mag allmählich zu ihrer Wahrheit sich bekennen.

Sein Auge aber schaut tiefer.

In stillen Sommernächten lagert der Tau sich auf die Flur. Und selbst wo Regen nicht fällt, Tau bleibt nicht aus. Sollen wir auch Tau von Gott erllehen?

Nicht haben es die Weisen zur Pflicht gemacht lir 1J''M ^J3 nnD niDn auch unverdient fällt der Tau und spendet Leben, selbst wo Regen sich versagt. Wohl geht in der winterlichen Regenbitte die Bitte um Tau dem Gebete voraus "itooi b^ ]n"i nDiD*?, doch wenn zur Somrtierzeit der Tau fällt, braucht die Bitte um den Tau nicht gesprochen zu werden. Der fällt auch ohne unsere Bitte. Blieb doch selbst in Elijahus Tagen der Tau nicht aus. Hatte er aber nicht auch Tau seiner entarteten Zeit verschworen? Sprach er nicht n^n"" CN ntDOi b^D rbi^n D^i^n? (Kön. I. 17) und hatte später doch nur erneute Regenspende in Gottes Namen dem Menschenbo- den zu verheissen (das. 18) HDiNH ^:d bv i*iOD n;nNi? Wohl fiel Jau, aber nicht DDiD b^ b^ (Tanith 3), nicht der Tau des Segens, und an ihn dachte Elijahu, als er im Eide seiner erwähnte den aber vermisste nicht seine Zeit, und da hätte er seine Wiederkehr ankündigen sollen ? War denn nicht die ganze Zeit Tau gefallen, hätten die Toren gesagt! Der Tau fällt, und er sollte nicht riDlD^ sein? So dachten die Toren jener Zeit, so denken sie bis in unsere Tage

Israel aber weiss es besser, sein Auge sieht schärfer. Der Tau bleibt nicht aus (das. ''tDD pjiVi pN) sein Tau bleibt nicht aus, der Tau, den Awrohoms Kinder brauchen, den Gott dem Ahn zugeschworen in"c ^\^D12 "'D^vm''), dass er für immer Leben seinen Kindern spenden soll. ''

-|nn^v^to "l^ (Ps. 110) Dein ist der Tau der fugend, die aus Deinen Händen ewige Lebensspende erhält, hat Gott Awrohom zugeschworen

inn'?'' bis 1^ (,s. Com. das.j davidische Tauspende fächelt

7f) Unsere Bitte um Tau.

für immer Morgenfrische einer Jugend zu, die von seinem Geiste sich nährt

Und hatte Jizchok mit ü^Dtt'n b^ü '{b in^l abrahamitischen Segen Jakauws Kindern vermacht, so sprach die Zuversicht aus seinen Worten D^DT^n b^D ]V)i M ,niin IT dass Israel für immer wissen wird, dass der Tau ihm nur dann riDiD^ zum Segen fallen wird , wenn es sich den Himmelstau für ewig zu sichern versteht, der von Zion allein für eine ganze Welt sich ergiesst HDi^n 'n d^ (Ps. 133) dort hat Gott den „Tau des Segens" verwahrt; wer nach Segen verlangt, mag ihn von dort sich holen.

Und noch der sterbende Führer hat es für alle Zeiten ausgesprochen, bi: iDiy^ Vü^ ^^ (Com. Deut. 33,28) dass seine Himmel Israel den Tau träufeln müssen, wenn er ihm zum Segen werden soll. Israel .braucht seinen Tau, den nur seine Himmel ihm zu spenden vermögen. Und erfleht es um die Regenzeit den Regen, dann geht der Regenbitte die Bitte um Tau voraus HDinb "itODl ':'t: |m, um den Tau, der allein den Regen verdient! Soll der Regen der Erde werden, dann muss auch riDiD b^ b^ erfleht werden, und bleibt der Tau auch nimmer aus, der Tau des Segens, ohne den die Erde trotz Tau und Regen zur Öde erstarrte, muss von Men- schen ersehnt werden. Und auch er wird nie von der Erde schwinden, Gott hat es den Vätern zugeschworen : ab- rahamitischer Geist, davidische Weisen werden für immer lechzenden Menschenboden mit göttlichem Tau erquicken.

Dieser Tau verleiht Israel unverwüstliche Lebenskraft Nach ihm sehnt sich seine Seele während der Nacht, ihm gilt sein Jubel, wenn der Morgen aus Grabesnacht ihm däm- mert. Seine Feinde sieht es kraftlos dahinsinken vn'^b2D^r\:2 (Jes. 26,14), weil sie den Tau nichL kennen, der Leben ge- währt. — Seine Abgestorbenen aber werden auferstehen, seine Toten erwachen, sobald der Thora Weckruf in ihre Gräber dringt. „Wachet auf und jauchzet ihr Staubesschläfer! "ib^ milN b:2 ^l denn Lichttau ist dein Tau, und die Erde gibt ihre Dahingeschiedenen wieder" vdas. 19)

Unsere Bitte um Tau. 77

Gottes Wort verscheucht den Tod und giesst neues Leben in morsches Gebein: „wer sich des Taus der Thora bedient, den belebt der Tau der Thora", sprechen die Weisen

Und zieht der Frühling bei uns ein und weckt eine Natur im Tauglanz zum Leben, dann lä-^st Pessach auch unseren Frühling uns feiern. Um den Tau draussen braucht Israel nicht zu' flehen, der bleibt nicht aus. Aber wen die Sehnsucht nach Leben erfüllt, wer nach dem Tau verlangt, den wir brauchen, den unser armes Land braucht, der ihm nicht fällt, ohne dass wir es wollen, der folge der Väter Mahnung und vernehme aus göttlichem Dichtermund innige und doch schlichte Weisen : gib uns Tau, unseren Tau, lass uns, unser Land mit uns, durch uns zum Leben erstehen I in ^:o Gib Tau "Iiiij^ r]}'üib und schenk' wieder Wohlwollen Deinem Lande "i!f"'"!D riDiD iliT^ lass uns zum Segen werden in Deiner Freude "lünoriD ^n\-ii pi Dl lass überströmen des Getreides und des Mostes Menge "|üDn HD .1''^ GDip und richte auf die Stadt, nach der Dein Streben geht b^"! durch Tau ! Dein armes Land dürstet nach Tau wir allein ver- mögen ihn ihm zu spenden! Lass uns zu Enkeln Awrohoms werden (dessen riDiD n^n) nziiD lin"'^ habe wieder Freude an uns, und Zion ersteht, und unser Land blüht wieder auf in alter Schöne. Gib uns unseren Tau! miJ b^ Deinen Tau befiehl, mi3VDi ~^2^^ n:^ dass das Jahr ein gesegnetes, gekröntes werde, m^onbi ]iKjb p^n nc der Erde Frucht zur Hoheit] und Würde uns gereiche mm: nDDD i^y und die Stadt, die einst als Hütte ver- lassen war,

78 Unsere Bitte um Tau

m^V "1T2 '^'^^^ l^ss sie wieder zur Krone werden in Deiner Hand b^2 durch (solchen) Tau!

Nach Deinem Tau sehnen wir uns, in Deiner Nähe finden wir ihn, lass uns eingehen in Deine heiüge Stätte, glücklich T'^yn jiDtt'^Dipm nn^n n^N iPs. 65,5), wer Deine Nähe geniesst: „Sättigung finden wir nur an dem Guten Deines Hauses" "jn^D 3"it3D ny3^:i (das/), gib uns solch ein gutes Jahr, „das gekrönt ist durch Deine Güte" "ircv^D ny^; hTlOV (das.), gib uns Dein Gut, Deinen Tau gib uns, dass der Erde Fülle uns „zur Hoheit und Würde gereiche", uns nicht mehr ent- nervt und Deinem Gute entfremdet*) hilf uns Zion erbauen, das wir in Verblendung einst verlassen, aus unserer Hand nimm es als Krone Dir hin. Gib uns Deinen Tau ! "PD Deinen Tau, riDliD ^bv ^Di: wende dem Lande ihn zu, dem Segen be- schieden, — nDiDi:V3^D^Dtt'i:iDD von der Himmelsfrucht lass uns des Se- gens satt werden riDttTl "jiriQ i^i^rh und leucht' aus Finsternis heraus (Deinem

Volkes TiDWü J'~\r]i< rn:iD das Du zum Grundbau Dir bestimmt, und das Dir nachfolgt bion durch Tau ! Lass unser Land wieder zum gesegneten werden (PDii^o ")K"ii< 'l)\ Wir scheuchen den Fluch von ihm, den wir über es gebracht: Sättigung vermag uns nur die „Himmelsfrucht'' fortan zu geben, D"'D^- b^ ist uns Thora! Gib uns „den Tau des Segens" (HDID b^ b^ s- o.), dass er zum „Lichttau" uns werde und die Finsternis uns banne Wir fühlen uns wieder n^D, als „den Grundbau, den Deine Rechte gelegt" (Ps. 80,16i, auf den Du Deine Hoffnung gesetzt, dass er eine verirrte, betörte Menschheit lehre, den Tau, der der Erde sich nimmer

*) In diesem Sinne hörte ich meinen Vater i"j D"'2^n DDID der y"^ interpretieren : -j d T 13 D ^:}}2^^ H D "1 13 ^ HNTH nrZTl PN )ybv 1^3

Unsere Bitte um Tau 79

versagt, als Tau des Segens von Gott erflehen. Dein Volk sind wir: Gib uns Deinen Tau! b^ Dein Tau □nn niy D^DV lasse Berge in Fruchtsaft überströmen DnnDiD iniN^DD Di?t3 lass die von Dir Erwählten von Deinem Gut geniessen, □njDDD ^'^n ^^2iin befreie die durch Dich Begnadeten aus

finsterem Kerker nnj b^p^ d^vj: hidt in lieblichen Liedern wollen jubelnd wir die Stimme Dir erheben btDD für (solchen^ Tau ! Den Tag lass uns erleben, den Prophetenauge (Joel 4, 18) geschaut „an dem die Berge von Fruchtsaft strömen und die Hügel fliessen von Milch ", an dem aber auch N*y^ 'n n^DD pyoi „ein Quell vom Hause Gottes ausgeht" (das.) Nicht nach dem Fruchtsaft der Berge sehnt sich Dein Volk, aus Deinem Quell wollen Deine Erwählten trinken, dass die Kerkerfesseln ihnen fallen, jubelnd wollen sie für den Tau Dir danken : Gib uns Deinen Tau ! b^ Deinen Tau gib, irDDN i^brz y^^l und füll' mit Sättigung unsere Kammern irD^ irnnn n^DH willst Du wie diese Frühlingszeit nicht auch unsere Tage erneuern? •ii"'0!:^lDVn-jD"iyD,-n-! Geliebter! Dir gleich stell' unseren Na- men hin, "liD^tt' ~M p zum reichgetränkten Garten mach uns b^2 durch Deinen Tau! Dein Gut gib uns. dass Sättigung finde unsere Seele (Jer. 31, 13! IVD^^ ^mtD PN ^ovi) Sollen wir, wo eine Natur, von Deinem Tau zum Leben geweckt, ihre Auferstehung feiert, nicht auch unsere Auferstehung, unser D\"icn kTTin unseren Frühling erleben? 0 Gott! Durch Deinen Pro- pheten (Jes. 66) hast Du es uns zugeschworen: D^cvn iv^iO ""i^ 'i DIN: ^:üb D^iDj? nviy ^j« n^x nvinn p^m D^'rinn wie die Verjüngung und paradiesische Erneuung der Natur Werk Deiner ewigen Fürsorge ist, QJD^) ddvit itdv"' ]d werde auch

80 Unsere Bitte um Tau

unser Namen, auch unsere Volksbestimmung ewig vor Dir bestehen ! ir.'oa' "iDVn IDIVD Mit Deinem Xamen ist für immer unser Name verknüpft {"^r^'rz nm'2'c iro^O, Träger Deines Namens, Verkünder Deiner Wahrheit wollen wir sein! Lass uns den Tod überdauern Dir gleich! „Mach uns zum reichgetränkten Garten" Jes. 58, 11 nn pr rr^Tivi idtd"» ab iz'tt VD\0 (das.) „dessen Wasser nie versiegen'* Lass uns vom Tod erstehen, aus innerer Verödung: Gib uns Deinen Tau! b^ Mit solchem Tau |"ITD "ji2n 1D segne uns die Speise ]in ^n^ bn 12^:d^dd dass unter unseren Feisten nicht Entkräf- tung sei, riD^« Deinem Volk, das gefürchtet dann dasteht, ]i^)iD nvcn i»'« das Du als Deine Herde dann ziehen lassest, 115^1 n^ pon ,HJN 0, lass überreich ihm Wohlwollen fliessen b^2 durch Deinen Tau! Deinen Tau gib, der uns unsere Speise segnet, dass unsere Feisten, unsere Gesättigten nicht inmitten der Fülle kraftlos erliegen 0, es gibt eine Speise : Fettigkeit, Sättigung, Leben und Rettung birgt sie für uns! In Chiski- jahus Tagen war's. Entkräftet waren die Feisten durch Gott entfremdeten Boden. Schwer lastete Aschurs Joch auf dem Volke, das r]DVü gefürchtet sollte sein. Da ward Chiskijahu der Retter. Mit Himmelstau düngte er von neuem den Bo- den und reichte seinem Volke die Speise, und die Entkräf- teten erhoben sich und schüttelten die Fesseln vom Leibe: Aschurs Last wich von seiner Schulter, sein Joch von seiner Schulter (Jes. 10, 27) "jiNiJi bvf2 i'-iyi IDDIV bVü ^b^2^D iic^ jDtt' "'JDD b)V ^2m (das.) „gesprengt ward das Joch durch die innere Gesundung'": ,, durch das Öl, das Chiskijahu in den Lehrhäusern wieder zu entflammen verstand" {):i^^ "':d!3 (nw"nD ^n^Di nvD:D ^hdd pbM "■'ntt' 'pin bw sprechen die Weisen

Deine Herde wollen jauch wir sein, Sättigung, Kraft

und Leben von Dir empfangen, spend' uns überreich die Gabe deines Wohlwollens: Gib uns Deinen Tau!

Unsere Bite um Tau. 81

):^pbii Nin nnj^'v^ Du bist unser Gott Gib uns den Tau, nbbpb t^bi hdid'? der uns zum Segen und nicht zum Fluche wird: er war zur ~bbp uns geworden, als der Tau uns floss, aber der Tau nicht, den wir brauchen ])]ib ti'^'i y2tt''? den Tau gib, der allein uns zu sättigen vermag und vor Entkrättung uns bewahrt mob nb^ D''"'n'? dem Tod hat uns der Tau einst nahe ge- bracht, als wir den Tau entbehren zu können vermeinten, der allein uns das Leben gewährt D^HD nvnn'? nriN jDNil wir sehnen uns nach Leben, gib uns Leben ! Auferstehung atmet die Natur, Auferstehung unsere Seele, Tau fällt in unsere Nacht "i^l^ r\rMi b^ ^D der Auf- erstehung gehen die Toten entgegen jlDp'' "'n'^21 "itid rn\ selbst die Abgeschiedenen, in denen kein Leben mehr pulst, Pessach weckt Sehnsucht nach Leben ihnen, Sehnsucht nach göttlichem Lebenstau erfüllt sie und lässt sie gierig ihn schlürfen

IDV ^::3^^ ^iJil lüV^ Auf! ihr Slaubesschläfer, b^DnD^NDipN nicht umsonst erliege eine Welt in Jammer und Tod! Aw- rohoms Taulehre weck' euch zum Leben, Davids Morgen- lieder locken euch zum Leben! Gottes Tau ist euch gewiss, er fällt euch zum Segen !

D"'i<"iij D^D"'- Weihe heisst sinniger jüdischer Brauch über das btD-Gebet breiten. Sollten nicht auch unsere Herzen für solche Stimmungstiefe empfänglich sein?

J- Br.

82 iDer kuriose „Mah'rscha".

Der kuriose „Mah'rscha".

„und der erzwungene Abschluss von den Quellen der Bildung hat in der Periode des spezifischen Pilpuls oft den Sinn für die philosophische Erfassung des Glaubens geschwächt oder gar ge- tödtet. Da kommt es denn zu solchen Kuriosa, wie dass Mah'rscha, dies Muster eines klaren und nüchternen Kopfes die Meinung ver- ficht, das Essen des Leviathan in der künftigen Mahlzeit der Frommen wäre durchaus buchstäblich zu nehmen, und eine Ver- leugnung wichtiger religiöser Prinzipien in der rationalistischen Auffassung sieht ..."

So schreibt Dr. Wohlgemuth im Berliner Jeschurun, 4. Jahr- gang, 1. Heft. Herr Dr. Wohlgemuth ist auch Dozent am Berliner Rabbinerseminar. Zwar wissen wir nicht, welche Stellung im Lehr- plan des Rabbinerseniinars der kuriose „Mah'rscha" einnimmt, wir glauben jedoch ganz im Sinne des unvergesslichen Begründers dieser Anstalt, R. Esriel Hildesheimer S"3:t, zu denken, wenn wir der Meinung sind, dass die Art und Weise, wie Herr Dr. Wohl- gemuth hier eine Ansicht des N"ti>"iriG mit der grossartigen Gebärde eines Besserwissenden ablehnt, durchaus unangebracht ist. Dem orthodoxen Judentum ist der K"\t>nntt denn doch etwas mehr als das „Muster eines klaren und nüchternen Kopfes". Dem ortho- doxen Judentum ist der H"ti^inf2 so innig mit der ,"nin verwachsen, dass es eine wenn auch noch so milde Ironisierung des S'ti'inö als Blasphemie, als Verletzung der Thoraheiligkeit empfin- det. Wenn der N'X'inö, der seit Jahrhunderten mit allen Merkmalen höchster und hehrster rt)^)":^ in der Seele von hül'^' SSs lebt, über das Essen des Leviathan eine Meinung vertritt, die rationalisti- schem Denken widerstrebt, so ist Niemand, und am allerwenigsten der Dozent einer orthodoxen Rabbinerbildungsanstalt, befugt, diese Meinung als ein zu belächelndes Kuriosum zu bezeichnen. Zur Bildung orthodoxer Rabbiner gehört in erster Linie ehrfürchtige Scheu vor allem, was die unsterblichen Grossen der jüdischen Vergangenheit gedacht und geschrieben haben. Wenn künftige D"'J2T den N'U'inö zu ly xnnn xnn lernen und dort beim Leviathan

\

Der kuriose „Mah'rscha". 83

die Bemerkung finden: itsifD^ lb«n ünDin ^DD pcxn^ ):b ^"^ ^D yn

jVö^DO ]''Nyi\ dann müssen die jungen Herren darauf hingewiesen werden, wie diese Stelle zeigt, dass dem N"tJ>inü die rationalisie- renden Deutungen des Leviathan-Mahles sehr wohl bekannt waren und wenn er trotzdem die wörtliche Auffassung fordert, darin keine Folge seines „Abschlusses von den Quellen der Bildung", sondern der Niederschlag seiner überragenden und tür uns alle uuereich- baren Kenntnis des Geistes der talnmdi^chen Lehre zu erblicken ist. Vermöchte Herr Dr. Woblgemulh diese Stelle im «"iJ^nniD mit mehr andächtigem als „wissenschaftlichem" Sinn zu lesen, dann erschiene sie ihm nicht als kuriose Schrulle eines sonst „klaren und nüchternen Kopfes", vielmehr würde ihn sicherlich die Mühe nicht verdriessen, sich einmal des Näheren im Talmud umzuschauen, ob denn nicht gerade vom Standpunkte wissenschaftlicher Klarheit und Nüchternheit die wörtliche Auffassung; der Leviathau-Agada sich empfehle. Ist denn Herrn Dr. Wohlgemuth die Erzählung im Jeruschalmi Megilla 1, 11 von Rabbi und Antoninus nicht be- kannt, wo das Leviathan-Mahl in eine höchst nüchterne Parallele gesetzt wird mit dem höchst eindeutigen Pessach-Mahle ?

Auch das Wort von der „Periode des spezifischen Pilpuls" wäre besser unterblieben. Zwar wissen wir nicht, welche Rolle im Lehrplan des Berliner Rabbinerseminars der „spezifische Pil- pul" spielt, wir möchten uns aber doch ganz ergebenst erlauben jjerrn Dr. Wohlgemuth zu raten, derartige Redewendungen künftig- hin seinen Kollegen von der andern Fakultät zu überlassen, welche die Milch ihrer jüdischen Denkungsart an den Brüsten der Grätz'- schen Historie zu saugen pflegen. Das Wort Pilpul hat, zumal wenn es in „spezifischem" Sinne gemeint ist, seit Grätz eii en höhnischen Beigeschmack, und je weiter wir davon entfernt sind, die Stätte der Wirksamkeit eins R. Esriel Hildesheimer h"Tt mit derjenigen eines Zacharias Frankel in Analogie zu setzen, desto seltsamer will uns das Kuriosum dünken, wenn auch orthodoxe Rabbinerbildner in die Sprechweise ihrer liberalen oder mittel- parteilichen Stiefbrüder verfallen.

X.

84 Der gute Ton.

Der gute Ton.

Leo Jeiteles, Professor der Realschule in Arad (Ungarn), sehrieb im Jahre 1868 eine Broschüre: „Die Emanzipation des] jüdischen Cultus, ein dringender Mahnruf an die israelitischen Kultusge- meinden Ungarns". Im gleichen Jahre erschien eine Beleuchtung dieser Broschüre von Dr. J. Hildesheimer, Rabbiner zu Eisenstadt. Jene Broschüre ist längst den Weg aller Broschüren gegangen, sie ist verschollen und dürlte auch ron genauen Kennern der jüdischen Literatur kaum dem Namen nach gekannt sein. Sie zählt, wie schon ihr Name verrät, zu jener literarischen Sturmflut, die zur Zeit, da die Emanzipation der Juden ein frisches Erlebnis war, über die jüdischen Gemeinden Mitteleuropas sich ergoss. Und auch was sie inhaltlich den jüdischen Gemeinden zu sagen hatte, das erhob sich in keiner Hinsicht über das Niveau der gewöhnlichen revolutionären Literatur, die damals in reformjüdisch gesinnten Kreisen der mitteleuropäischen Judenheit gang und gäbe war. Auch sie sah in den überlieferten Formen des jüdischen Kultus einen schädlichen Anachronismus, mit welchem die emanzipierte Judenheit aufräumen müsse, wenn sie ihrer politischen Befreiung sich würdig erweisen wolle, und in krättigen Tönen, durchsetzt mit gelehrten Zitaten aus Bibel und Talmud, Hess sie ihren drin- genden Mahnruf an die israelitischen Kultusgemeinden Ungarns ergehen, die bürgerliche Emanzipation durch die Emanzipation des jüdischen Kultus zu krönen.

Wir würden diese Broschüre des Professors Leo Jeiteles aus ihrer Grabesruhe nicht aufscheuchen, hätte sie nicht eine „Beleuch- tung" aus der Feder eines Mannes erfahren, der heute noch so lebendig in unserer Mitte weilt, wie damals, als er zu den feurig- sten Vorkämpfern des orthodoxen Judentums zählt, zu dem wir alle in Nord und Süd in Verehrung aufschauen, mag auch noch immer in „taktischen" Fragen, wie man spricht, ein Gegensatz unsere Reihen klüften aus der Feder Israel Hildesheimers V'XT.

Hildesheimer ist jetzt bald 20 Jahre todt, und der Kreis: derer, die ihn persönlich kannten, wird immer kleiner. Eine Rah-

Der gute Ton. 85

binergeneration wächst auf. die ihre Ausbildung einer Anstalt rer- dankt, die wohl noch der Name Israel Hildesheimer bestrahlt, die aber doch schon seit Jahr und Tag der unmittelbaren Nähe und Wärme seiner Persönlichkeit entbehrt. Die Befürchtung liegt nahe, dass dieser Mangel der persönlichen Fühlung im Laufe der Jahre zu einer Trübung des Bildes führen wird, in welchem allein Hil- desheimer würdig ist, gleich den d^Shj der Vergangenheit, für alle Zeiten unsterblich zu sein, dass nachgeborene Geschlechter von Hildesheimer eine Vorstellung haben werden, die wesentlich anders ist, als die heute noch in uns lebendige, die aus unmittelbarer Kenntnis seines Wesens und Wirkens erstand.

Ich hatte neulich eine Unterredung mit einem Herrn, dessen Religiosität im Erdreich der norddeutschen Orthodoxie wurzelt. Unser Gespräch entwickelte sich ungefähr so :

Er fing an : Ich bin überzeugt, dass die scharfmacherische Orthodoxie abgewirtschaftet hat. Unter den Einwirkungen des Krieges geht auch das orthodoxe Judentum einer Zeit der Toleranz und des besseren Verständnisses auch für das, was nicht orthodox und separatistisch ist, entgegen.

Sie hoffen also auf eine Art Neuorientierung der Orthodoxie.

Jawohl. Auch wir müssen uns neuorientieren, wenn wir mit unseren Idealen nicht unfruchtbar in einem engen Winkel ver- harren wollen. Die alten Streitigkeiten müssen aufhören, es muss fruchtbare Arbeit geleistet werden. Ich verspreche mir viel von der Agudas Jisroel.

Wenn ich Sie recht verstehe, wünschen Sie, dass in der kommenden Friedenszeit in der Orthodoxie sich vor allem ein neuer Ton einbürgere. Sie erhoffen eine Abrüstung des Tempe- raments.

Ganz richtig. Und wenn ich ganz offen sein darf, so möchte ich wünschen, dass künftighin Frankfurt mehr von Berlin als Berlin von Frankfurt lernen soll.

Sie wollen (»flfen sein. Warum sind Sie's nicht wirklieh ? Sie sprechen in Rätseln.

Nun meinetwegen. Ich will Ihnen ganz offen sagen, was ich meine. Der gute Ton ist in Frankfurt nicht so heimisch wie in

86 Der gute Ton.

Berlin. Das ruhige, bedächtige, rein sachliche Eintreten für das orthodoxe Judentum scheint mir ein Vorzug der norddeutschen vor der süddeutschen Orthodoxie zu sein. Die Zukunft der deutschen Thora liegt im Norden.

Sollte die bedächtige Ruhe, die Sie dem Norden nachrühmen, nicht, ein Zeichen religiöser Erkaltung und Verkalkung sein ?

Diese Verdächtigung weise ich unter Hinweis auf Israel Hildesheimer mit Entrüstung zurück.

Wie aber, wenn ich Ihnen nachweise, dass der ,,gute Ton'", den Sie im Süden vermissen, auch Hildesheimer so fremd gewesen .st, wie Samson Raphael Hirsch? Ja, Hildesheimer hat in seinem Kampfe gegen die Neologie ein religiöses Temperament geoffen- bart, dessen Flammen selbst den Eifer eines S. K. Hirsch in Schatten stellen.

Hier machte mein Gesinnungsgenosse aus dem Norden ein verdutztes Gesicht, das in ein verlegenes Kopfschütteln überging, als ich ihm die Broschüre Hildesheimers gfgen den Professor Leo Jeiteles gegeben und er darin ein paar Seiten gelesen hatte.

„Hohles Gefasel", „brudermörderisches Geistesprodukt", „hoch- mütiger Phrasendrescher", „verräterischer Verhöhner", frecher An- greifer", „hohles Getiunkel", ,, lammfrommer Sirenengesang", „Nach- äffung fremder Sitten", ,, schnöder Verrat", „diese Schlingpflanzen unserer [Konfession", „die Frechheiten unserer inneren Gegner", „Oder seht sie euch an die Generation der jüdischen Dandys, die jüdischen an Venerie dahinsiechenden Selbstmörder, die jüdischen Stammgäste'der Freudenhäuser, und wagt es noch, von dem Ein- flüsse ,, geläuterter Religionsanschauung" zu sprechen. Da greift man gierig verkommene Kreaturen wie die Radomski, ihre eben- bürtige Landsmännin und ähnliche Taugenichtse auf, um auf den sittlichen Zustand von Hunderttausenden zu schmähen, die ,,der religiösen Entwickelung" ,,den Hemmschuh anlegen" und allerdings von der Fagon ,, geläuterter Religionsverehrung", wie sie die markt- schreierische Professorenweishet an die Stelle des alten kernigen Judentums substituiren und dadurch letzteres prostituiren will, nichts wissen mag."

Der gute Ton. 87

Der gute Ton. Er ist nicht immer ein gutes Zeichen, dieser gute Ton. Seitdem er sieh eingebürgert hat in unseren Kreisen, ist uns die Toleranz in religiösen Dingen zur zweiten Natur ge- worden. Seitdem ist auch die Orthodoxie zu einer Geschmacks- frage geworden. Dieser gute Ton hat gar manches verschuldet. Wer hat Schuld an der scharfen Gegnerschaft, die gleich bei seinem Entstehen der Austrittggedanke fand ? Der gute Ton. Wer bat die Entstehung des Misrachi, die universellen Aspirationen der Gemeindebundskreise erst möglich gemacht? Der gute Ton.

Mein obiger Gesi)rächspartner ist sonst ein ganz braver, ge- wissenhafter, frommer Mann. Er heiligt den Sabbath, legt sich auf Reisen die schwersten Entbehrungen auf und kann überhaupt |in seiner praktischen Mizwabetätigung als ein durchaus einwandfreier Jehudi angesehen werden. Nur hat er sich einmal in den Kopf gesetzt, dass kühle Vornehmheit als die wichtigste Staffel der ethischen Stufenleiter des Pinchas ben Jair angefügt werden müsse. Weil sonst das Judentum zugrunde gehe. Nur keinen unbelehr- baren Zelotismus. Er möchte alles verstehen und alles verzeihen. Er nimmt das Gute, woher immer es kommt. Er möchte politisch ernst genommen sein. Er laboriert am guten Ton.

Y.

88 Die niDID V^lii-

Die niDiD v^in-

Von Bezirksrabbiner J. Freund, Szasz regen, Ungarn.

Die Anordnung, beim Seder vier Becher Wein zu leeren, finden wir im Talmud an vier Stellen, 1. In der "ilfD zu D"y ,t:"ü G'incD beisst es: ]^^ b^ niDiD V3"i«o ib innc> n*S Der Almosenverwalter darf den Armen von den vier Bechern Wein nichts verringern. 2. Die Nn''"'-12 daselbst D"y ,n"p er- öffnet neue Gesichtspunkte, indem sie lehrt: VD"i«2 ]''D''^n ^DD n"ipi:^n lni^^ ü^ir: im^i ü^^^:a in« - ib^n moiD. Alle sind verpflichtet, vier Becher zu trinken : Männer, Frauen und Kinder. 3. "'"i'? p VW^in"' '1, daselbst 'f< lIDV, der «n^^D also vom IICD D"l£'n vorangestellt, scheint im wesentlichen nichts Neues zu lehren; er bemerkt nur: DiD im«3 Vn ]7) r\ii^ n^ciD y2"i«2 niD^^n D^^:. Frauen sind verpflichtet, vier Becher zu trinken, weil das Wunder der Erlösung aus egyptischer Sklaverei vornehmlich ihren Ver- diensten zu verdanken, oder, nach der Deutuns: des "»oblflT, weil es auch ihnen in einer zweivelhaften und gefahrvollen Lage zur Rettang geworden ist. (Vgl. ^"'^l und mCDin z. St.). ^'D^n hatte demnach von der Mn"'^"iD keine Notiz genommen. Befriedi- gender, weil wahrscheinlicher, ist es jedoch anzunehmen, dass er ihren Ausspruch recapitulierend, begründend erläutert und hier- durch sachlich ergänzt. Der Ausdrucksweise und der Wort- stellung der i<n''"''iD entsprechend könnte man nämlich mit Recht behaupten, dass die Frau an sich, unverheiratet und auch ohne männliche Fürsorge, von der niDiD y3~iN- Pflicht gleich allen anderen yTHtt^yo befreit und in dieser Beziehung den mpiiTi, den Kindern, gleichgestellt sei, dass es also bloss ihrem Gatten, oder ihrem männlichen Versorger obliege, jene, wie diese, an der DlüD Anteil nehmen zu lassen. Eine hinreichende Analogie zu dieser Annahme böte die nnOtt'-Pflicht am DVi5 DV, bei welcher ja be- kanntlich der Lehrsatz lautet: nriDWD 7]b}!2 Htt'N, dass die Frau sie nur auf Veranlassung des Mannes, ihres Gatten, oder ihres männlichen Beistandes, zu betätigen habe '). Um nun dieser

') Dtt' niDDim ^"^i'2 ,2"v i"S pvnp.

Die niCO VD1N- 89

irrigen Auslegung der Nn''''")D einen Riegel vorzuschieben, betont y^''"! mit Nachdruck den Grund ihres Ausspruches : vn jn ^iW ~:n in^KD, dass die Frau nicht den Kindero, sondern den Männern ebenbürtig, nach ''"^i gar über sie zu stellen ist.

So tt'"^i'"i z. Stelle; und er dürfte diese geistreiche Darlegung ni. E. erhärtet gefunden haben durch N^i'' ]^"i "'"i"' n""ID PIDDir, die, allerdings in ihrem Thema hypothetisch, aber zu unserem Problem entscheidend genug, die Ansicht vertreten, dass die nnDlJ'-Pflicht am riDD b^ 3Vi3 DV mit der der mciD yD"i« in engster Beziehung stehe, dass jener nur durch die einwandfreie Erfüllung dieser entsprochen werden könne. n'']if^'^V. Nichsdestoweniger glaube ich, dass es unnötig ist, in die Ferne zu schweifen; der Nachweis der Berechtigung des Ausspruches von V'D"''! dürfte anch ohne Geltendmachung der genannten Analogie aus l'^^np erbracht wer- den können. Es genügt hierzu ein einfacher Hinweis auf n^DDiP \~inD^ xb n""! d"V *j":i ZJ^HDC, woraus hervorgeht dass die {<n"'''"iD auch die Deutung zulässt, dass blos der Mann niDID yDl{< trinken muss, Frauen und Kinder hingegen aussliesslich nur zur Anhörung der von ihm über sie zu sprechenden nDl3 verpflichten seien. Es kann daher ohne weiteres angenommen werdan, dass b"2''~\ dit'ser wie auch n^DCiD letzen Endes zugeben falschen Inter[)re- tierung der Nn""iD entgegentreten wollte.

Der Gründe, warum für den ilC-Abend vier Becher vorge- schrieben sind, sind ein merkwürdiger „Zufall" gleich- falls vier.

a) Die vier sprachlich und begreiflich verschiedenen Wort- erscheinungen, die „die vier Seiten, in welchen sich das Erlösungs- werk darstellt", veranschaulichen. Es heisst nämlich: TlN'^iim

VTiTD DDriN \-i^n:i ,Dmi3VD DDHN ^H^jim ,D^^üo ^\^b2u nnnD cddn DVb ""b DDHiS ^Dnpb) ,D"''?nj D"^t2D^Di n^lto;. Jch werde euch von dem Erliegen unter Mirrajims Lastens hinausführen, werde euch von ihrer Knechtschaft retten, werde euch mit gestrecktem Arme und mit grossen Strafgerichten erlösen und werde euch mir zum Volke nehmen" (']—') : 'i moi:'). Welche nun die vier Seiten des Erlösungswerkes sind und wie sie durch diese

90 Die niDID V2-\a-

vier verschiedenen Ausdrucksarten gekennzeichnet werden, darül)er l)ep:egnen wir in den einschlägigen Werken mannigfachen Ausein- andersetzungen '), die, als nicht streng zu dieser Abhandlung ge- hörend, zumal (leren Wiedergabe zu weit tühren würde, über- gangen werden sollen.

Unverkürzt muss jedoch der ^liü zitiert werden, der für jene Auseinandersetzungen ausser dem N"n ^''d DTICD OD^Ii'')")"' die einzige Basis abgibt und auch über diese letztere Frage, welche die vier Erlösungsmomente seien, unzweideutig Aufschluss erteilt. Der tt'nD, zu 'i 'l 'D N1N1, lautet wie folgt: m^lNJ 'l '\n^ nn^j 'i i:i3d \-inp^i .^n^wi onbüm onNüin^ ]nd ^'^ ü^pb - noD ^^^D mciD 'i D^DDn lipn p::D"i - nyic |n"'^y

i<"ipN 'n Dt^'D"! Ntt'N mi?1^"' D1D -idn:ii:' nc. „Hier sind vier Er- lösungsarten verzeichnet: Ich führe euch hinaus, ich rette, erlöse und nehme zum Volke euch. Dies mit Hinblick auf die vier unheilvollen Edikte, die nyiD gegen sie das jüdische Volk erlassen jhatte. Und dementsprechend bestimmten die Weisen für riDD-Nacht vier Becher, auf dass verwirklicht werde, was geschrieben steht : Ich erhebe den Kelch des Heils und rufe im Namen Gottes" (T"tDp D^'pnn). Diese vier Edikte ver- fügten und veranlassten : die Verbitterung des Lebens durch harte Arbeit, das Töten der männlichen Kinder durch die Hebammen, späterhin das Hineinwerfen der Kinder in's Wasser und das Ent- ziehen des Strohmaterials -). Die Frage des nCDn min, auf die noch zurückgegriffen werden soll, man hätte mit Rücksicht da- rauf, dass an der angezogenen Schriftstelle fünf Ausdrücke ge- braucht werden ^), fünf Becher bestimmen müssen, ist daher von vorneherein unberechtigt, da ja bei der Bestimmung der Zahl der Becher die vier nniTJ ausschlaggebend waren. Es muss daher fest- gestellt werden, dass der in Rede stehende fünfte Ausdruck eben kein Ausdruck für diese rhMi:i ist, da man die vier niTT:3 losge- worden war, noch ehe man in's Land einzog. Nicht so verhält

') Vgl. nnnn bv ]"3n-i 'd hin ,n"2 ü^noDi ^"d .^n-i^'^ mNcn

r\ü''r2r\ niin np^ "^bD .I^IIDD .I2"nj;3 »y':n 'cb und besonders : Hirsch das., 3-i<in, S. 108 u. Ges. Sehr. B. 4., S. 87 u .a. «) '{< V'D 'D n'?'^^ "l"0-

*) yian ba ddh« ^nxDm, 'n : 'd /i nini.

Die niDID V31N-

91

es sich aber mit dem Ausdrucke : „ich nehme euch zum Volke", der eben bescageu wollte, dass die Absicht Pharaos, durch das Töten der männlichen Nachkommenschaft die Volkskraft zu ruinieren, zu Schanden werden würde ^). Dass n"n auf den "»ob^lT Bezug nimmt, wo der Pasus : mi''TJ 'l IJJD nicht vorkommt, ist noch immer nicht hinreichend, seine Frage zu rechfertigen. Denn ein Vergleich der trilD-Stellen, daselbst und zu 'n ,n"D 'd D^T"»! "C, zeigt, dass die D\S"nDN des '^^b^M'^ und die des ll^llD diesel- ben sind -).

Auch ein anderes Moment in der Fragestellung des n"n er- scheint mir problematisch. Die Behauptung nämlich, dass der vierte Ausdruck : „Ich nehme euch Mir zum Volke", mit der eigentlichen Erlösung ebensowenig in Zusammenhang stehe wie der fünfte : „und ich bringe euch in das Land". Dem dürfte aber entgegengehalten werden, dass der vierte Ausdruck eben nach n"n die rr^irrn nb^.M, die geistige Erlösung verkündete und diese, wie sattsam bekannt, das Alpha und das Omega, Ziel und Zweck des ganzen Befreiungswerkes war. So sprach ja Gott zu n^D : „Wenn Du dieses Volk aus D'>i)iD herausgeführt haben wirst, werdet ihr an diesem Berge Gott dienen" (,'j H'^DW' 2""! :'o). Sehr beachtenswert sind in diesem Zusammenhang die Gedankengänge des Verf des ''"Dli, der in seinem Werke r\"h)i "^^^Mi n"^ ,n"^ ^^''ni diese in homiletischen Abhandlungen so oft ange- wandte These von „körperlicher und geistiger Erlösung", n'?1N:i ^D;m f]"!:in, in der ihm eigenen Art mit zwingender Logik aus der N-iDJ begründet. Zu 'n o"^ Hitt'n ITi^l sagt die i^iT^D das ist der Kern seiner Feststellungen dass die nilDV, die körperliche Knechtung bereits am n^irTl tt^^i aufgehört hatte. Es ist demnach klar, dass die Hast und Eile, mit welcher die Erlösung im iCi vollzogen ward, nur die möglichst rasche Befreiung aus geistiger und sittlicher Verworfenheit, also ITD^n D^In:, bezwekte^). Es ist füglich m. E. nicht verwunderlich, dass wohl für ^D^n nblNJ, nicht aber auch für yinn nN''D ein D1D bestimmt wurde.

0 1 N 1 n n D ^ D 1 T"-inD vn^D ,n:inD ni^no : d^ n^ni 'd i"j2.

') Vgl. n"p m D^nCD D"tt' bv jHD HNID mnjn. •) Vgl. meinen Aufsatz »Talmudisches", Jahrg. 3, Heft 6 dieser Zeitschrift.

92 Die niDID V21i<-

b) [)er Umstand, dass bei der Erzählun": des Traumes des Fürsten der Schenke und bei dessen Deutung durci» ^DV das Wort: D1D, Becher, viermal vorkommt. (:"^-j<"^ :'d— '!2 D'i'"'')) Die innere Bewandtnis dieses Traumes und seiner Deutung mit der Erlösungsgeschichte und hierdurch mittelbar mit den vier Bechern am "nc-Abende wird u. A. vom "ip"' "^bj z. St. überzeugend nach- gewiesen.') n"n und ]2""in':! ^^itd zum "^iid an angezogener Stelle werfen die Frage auf, warum nicht auch der fünfte Becher, der daselbst im N"r p^CC genannt wird, in Betracht gezogen wurde ? Ihre Antwort ist, dass nur der Traum mit seiner Auslegung, nicht aber die in Wirklichkeit geschehene Tatsache: „und er gal) den Becher in Pharaos Hand" hier zu berücksichtigen sei. Merk- würdig ist es, dass im "^bjl zu N"y 'to DDID und «"V 3"y ]"'bin in einer anderen Beziehung nur die drei im Traume enthaltenen niDlD, der in deren Deutung vorkommende vierte DO aber nicht beachtet wird.

c) ""l"? '"1 meint, die vier Becher seien bestimmt worden 1}^D DVjbD "I, entsprechend den vier Weltreichen -), und schliesslich d) ^^""'"i. oder nach ■'Db^'i"i\ pDI meinen, sie seien festgelegt wor- den mit Hinblick auf die Giftbecher, die am Ende der Zeiten den Gottesleugnern und die Heilesbecher, die ^i^ltt'^ werden gereicht werden T"tDp -V'ü ,«""' D^^nn ,n"3 n"D '^Dl\ Daher rührt nach |"-| der Brauch, zu "iDDn '])D^ den Becher zu leeren^;. Grosse, zwie- fache Schwierigkeit bietet nun ''"^~\. Während er nämlich ad. 1) den Grund unter a) unverkürzt angiebt, zitiert er ad) 3 den unter b); und auch diesen nicht vollinhaltlich, in seiner originellen Form, sondern folgendermassen: mciD y2~l« Stw.: moiD ': ni::D D'^b^^ pTon nD"i3 '^v'^2l^ id"i:i nyic didi hd p^üd^ mdü:^. „Vier Becher. Drei mit Beziehung auf die drei Becher, die in dem Verse: „Und der Becher Pharaos" verzeichnet sind; der vierte zum Tischgebet." Die erlesensten Geister der ^'t D'^j'nnN D''^'ii:i gaben sich die Mühe u. z wie wir sehen werden, überaus erfolg- und lehrreich zum Verständnisse dieser scheinbar sich widerspre- chenden Erklärungen Raschis beizutragen. '^in IIN zu n"p üTlCC

') s. auch •) ,v'j3 ,D"in riDivo iDH nniT. ') 'n '2 bi^-^n. ') ^tid

Die mCID VDIK- ^3

vertritt die Ansicht, dass die zwei von "'"K'1 angeführten Motive sich fregenseitig ergänzen müssen, da das eine ohne das andere lückenhaft und in Ansehung des behandelten Problems unzureichend sei. Nach b) ist es wohl fraglos, dass vier Becher Weines anzuordnen waren, aber daraus ist nicht zu folj:ern, dass man sie für den l"iD- Abend bestimmen müsse Dies zeigt uns a) der Hinweis auf die vier Ausdrucksformen der Erlösungsbotschaft an. Nach aj hingegen könnten auch z, B. vier Brode zur Erinnerung genommen »werden, daher auch der Grund unter b).^) Unbehol)en bleibt jedoch die Frage, warum ''"^l zu 1) gerade a) und zu 3i ausgesucht b) und auch b) nicht unverkürzt wiedergibt. R. J. S. Nathanson b"] in seinem Werke D"vn ,r\"M<b ^DV2 miy, meint, dass durch das Motiv a) speziell Frauen nicht verpflichtet werden konnten, da die „vier Ausdrucksformen" immerhin auf die fünfte hinweisen, d. h., dass sie die Besitznahme des Landes in Aussicht stellen, und Frauen aber an dem Lande keinen Anteil hatten. So sagt ja eben i"tt'1 zu D"y 'J niDID, dass Frauen mit Rücksicht auf diesen Umstand, das Tischgebet niinn jOnicht sprechen müssen, da dess(Mi zweite nD"i3 die Danksagung für das Land bildet. Da- her konnte und durfte """ifl zu 3) nur b) anführen, während zu 1), wo von Männern die Rede ist, (S. mDDin das.) der Hauptgrund, der unter a), zitiert werden musste.

Tiefschürlend und auch t^nb, vom Gesichtspunkt der prak- tischen Halacha, von Bedeutung sind die Ausführungen des R. Chaim Berlin b"], der a) in Bezug auf Frauen darum nicht gelten lässt, weil die vier Ausdrucksarten der Erlösungsbotschaft die vier von nyiD erlassenen Edikte im Aug|e hatten, und von zweien der- selben, die die Tötung der männlichen Kinder durch Hebammen und dann deren Hineinwerfen ins Wasser anbelahlen, Frauen nicht getrolTen wurden. Es bliebe demnach hinsichtlich der Frauen nur b} in Geltungskrafr. Nach '''?DD zu ntoiD und p'pin aber werden bloss drei im Traume enthaltenen mCD des betreffenden Schrift- verses berücksichtigt; darum bemerkt "'"tJ'l zu 3^ mit Recht, „drei Becher mit Beziehung auf die drei Becher, die im V. „Und der Becher Pharaos etc." verzeichnet sind; der vierte zum Tischgebet."

') Vgl. ^Z)-\-n2 zu D^nCD ^2iy.

94 Die niDO y3"1«-

Von der Alraosencasse wird aber der Becher zum Tischgebet nie- mals verabreicht. Es ist daher feststehender pi, dass Frauen für nCD blos drei, Männer hingegen, da bei ihnen a) angängig ist, vier Becher trinken müssen. [Die von mnc nb n"l D"y t3"li niDDin vielbesprochene Frage, warum in der D^lfD nur vom Manne die Rede ist, dürfte hierdurch beantwortet sein, da Frauen vier Becher nicht beanspruchen können, jedes männlichen Kindes aber mit dem Aus- drucke 1 b innD"* N^ sehr wohl gedacht wird]. Indessen dürfte es ausser Zweilei stehen, dass diese Auseinandersetzung ijnd vornehm" lieh die daraus abgeleitete Folgerung R. Ch. Berliner selbst nur nach "'"tt'1 gelten lassen will, da nach 2"n ,2"d ^D"in 'n ,d"D0~i und so auch nach l""»— 3""»D ,2"vn n""lJ< V"W festgestellt werden kann, dass Frauen den Männern diesbezüglich ausnahmslos in jeder Be- ziehung ebenbürtig sind. {'^ mx DTIDDI ''"d "»"n). Demnach ist es einleucbtend, dass die vier angegebeneu Gründe für die Anordnung von vier Bechern bloss mfiDDCN, Anhaltspunkte sind, und sie in Wirklichkeit auch ohne Anlehnung an einen der genannten Gründe bestehen bleibt').

n"n beantwortet seine ad. A) besprochene Frage in Betretf des „fünften Ausdruckes" damit, dass dieser darum nicht in Betracht gezogen wurde, weil dessen Zusage; „Und ich bringe euch in das Land" noch nicht endgültig in Erfüllung gegangen ist. Bis dahin habe man daher 'n'hii b^ D1D bestimmt, den fünften Becher den Manen des Propheten geweiht, der die Verwirklichung jener Zusage, die endgültige Besitznahme des Landes, wie wir hoffen, als unmittelbar bevorstehend anzeigen wird -).

Wie feinsinnig auch diese Bemerkung sein mag, den Anfor- derungen einer halachischen Denkungsart dürfte sie kaum genügen. Denn nach dieser Auffassung über '"'^i* b"^ D1D müsste, wie dies beim nOD-Opfer der Fall ist ^i, in irgend einem pDiD unzweideutig codifiziert sein, dass, wenn die Besitznahme des Landes erfolgen wird, also D"'p D^OD'^'l^ ]ü'!2, zu den vier Bechern ein tünfter hinzu- kommt, und zwar an Vollwertigkeit jenen gleichgestellt, also, dass auch über ihn, eine besondere nD"l3 werde gesprochen werden.

') D^ iDn n-i;r. *> s. 'i to"v ^i^i^tr ":iyD 'i »D"n '""d ^pr pn. ') i"n ,n"D ,D""in ''pn d"2di.

Die niDlD V'2'\H- 95

Treffender dünkt mich darum die Auslegung, die ich in meiner Kindheit gehört oder irgendwo gelesen habe. Zu «"y n'^P DTIDD so besagt eine Auslegung wird in der i^rr^nD gelehrt: "»yDl ^^nn riN vbV "lOU über den vierten Becher spricht man das b'pn- Gebet. So nach einer Lesart. Andere hingegen haben die Les- art: — ^bn nt< r^V 1D1J ''^^"'Dn „Ueber den fünften Becher wird das '^^n -Gebet gesprochen. (Vgl. ,'id1 IDIN ^V^21 n"-ID D"y D"p 'DIH

Da nun eine Meinungsverschiedenheit obwaltet, ob vier oder fünf Becher zu bestimmen seien, musste entschieden werden, dass der fünfte wohl genommen werden kann, aber ohne eine beson. dere HDID dafür, da 'pHTl^ HDID pDD. Die volle, endgiltige Ent- scheidung auch in dieser Frage, wie auf vielen anderen zweifel- haften Gebieten, wird sr. Zt. x-^^n 'r\^bi< treffen, dem pH"' ^y^D V'p . Darum nun wurde der fünfte Becher nach seinem Namen benannt, da es ihm vorbehalten geblieben ist, über dessen Sein oder Nichtsein das letzte Wort zu sprechen. Selbstredend konnte demnach vom fünften Becher für die Zeit 'rribN's, bei den Codi- ficatoren keine Rede sein, da dessen Entscheidung ev. im vernei- nenden Sinne ausfallen kann. Wer der Autor dieser Auslegung ist, habe ich vergessen. Vielleicht kennt und nennt ihn einer der Leser. öb'^vb H^INJ iS"'!^ naiK D^2 "IDI "IDINH ^D1 und wir wüss- ten dann d"d auch über den fünften Becher Bescheid.

Chronik.

Die Freie Vereinigung, aber auch andere gesinnungs ver- wandte Verbände, z. B. der orthodoxe Rabbinerverband, haben sich bemüht, im Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst eine Be- rücksichtigung des Sabbaths für die dem Sabbath treuen Juden zu erwirken. Diesem Ersuchen wird möglichst stattgegeben werden, wie aus Nummer 2 der „Amtlichen Mitteilungen und Nachrichten des Kriegsamtes vom 29. Dezember 1916 hervorgeht. Auch prinzi- pielle Gegner der Freien Vereinigung werden zugeben müssen, dass sie in der Kriegszeit grossartiges geleistet hat. Ist nicht auch

96 Chronik

die Zpntrale für Mazzosversorgung, die Möglichkeit ritueller Ver- köstigung unserer Feldsoldaten und was sonst noch alh's zum Aus- gleich unserer religiösen Interessen mit unseren vaterländischen Pflichten erwirkt und geschaffen wurde, das Werk der Freien Ver- einigung '? Ehre wem Ehre gebührt.

Auch während des Krieges ruhen die Bestrebungen zur Schaffung einer Organisation der deutschen Juden nicht, wie Herr Stadt- rat Eichelbaum beweist, der ein jüdisches Organisationsgesetz auf der Basis des staatlichen Zwanges für Ostpreussen als Grundlage eines jüdischen Organisationsgesetzes für die ganze Monarchie zustande bringen möchte. Wahrscheinlich wird uns auch die Organisation der polnischen Juden noch viel zu schaffen machen. Man wird uns entgegenhalten: Was für Polen recht ist, das ist für Deutsch- land billig. Dass es sich in Polen um ganz inkommensurable Zu- stände handelt, werden unsere liberalen Religionspolitiker um so energischer bestreiten, je weiter sie in sonstigen Beziehungen von ihren polnischen Stammesgenossen abzurücken pflegen.

Die unerhörte Lebensmittelteuerune: erschwert auch den Kultusbeamten, wie allen Festbesoldeten, das Durchhalten unge- mein. Manche, doch nicht alle jüdischen Gemeinden haben ihren Beamten Gehaltserhöhungen gewährt. Der Vorstand des Verbandes der jüdischen Lehrervereine im deutschen Reiche wendet sich mit einem Aufruf an die gesamte Judenheit Deutschlands, um sie zu Spenden für die jüdische Lehrer-Kriegsfürsorge anzuregen. Es soll uns freuen, wenn dieser Aufruf erfolgreich ist. Damit würde die vielfach gehegte Meinung entkräftet werden, dass man, um heute Mitleid zu finden, in Palästina oder doch mindestens in Polen wohnen muss.

Am 6. Januar 1917 erlebte der Geheime Justizrat Dr. Bert- hold Geiger in Frankfurt a. M. seinen siebzigsten Geburtstag. Aus diesem Anlass erschien in der Allgemeinen Zeitung des Judentums ein Festartikel, in welchem uns folgende zwei Bemerkungen inter- essieren : „Mochten auch die eigenartigen Verhältnisse in der Frankfurter Gemeinde es leider nicht ermöglichen, einer in grund- sätzlichen Fragen jedes Kompromisses ablehnenden, scharf ausge- prägten Persönlichkeit wie Berthold Geiger einen Platz innerhalb

Chronik 97

der Gemeindeverwaltung: zu verseil aflPeii, so bat er sicli doch her- vorragende Verdienste um die Entwicklung der Gemeinde, um die liberale Sache in ganz Deutschland und um die gemeinsamen An- gelegenheiten des deutschen Judentums erworben.- „... wenn jetzt in dem wundervollen Gotteshause an der Königsteinerstrasse ein Gottesdienst gehalten wird, der einen erheblichen Fortschritt übel* Reformen Abraham Geigers hinaus bedeutet und der als der liberalste Gottesdienst in einer Gemeindesynagoge Deutschlands gelten kann, so darf Bertbold Geiger sich ein hervorragendes Ver- dienst an dieser neuen Schöpfung zuschreiben." Wer diesen Lob- Spruch richtig verstehen will, muss wissen, dass die Eigenart der Frankfurter Gemeindeverhältnisse in der Existenz der sogenannten Gemeinde Orthodoxie besteht, die seit 40 Jahren für die Er- haltung oder Neubelebung des orthodoxen Geistes in der Gemeinde Abraham Geigers wirkt. Diese 40)ährige Wirksamkeit hat als ihr wichtigstes Resultat eine Gegenströmung hervorgerufen , die nc iKn riDÖ pn HD von Abraham zu Berthold Geiger führte.

Heir Dr. Jacobowitz in Randegg ist der Schöpfer einer prin- zipienfesten Gemeindeorthodoxie. Denn er hat, wie das Ham- burger Familienblatt am 25. Januar berichtete, die Wahl zum Rabbiner der orthodoxen Gemeinde in Königsberg nur unter der Bedingung angenommen, dass die orthodoxe Separatgemeinde mit der Hauptgemeinde in allen Verwaltungsangelegenheiten sich ver- einige. „Ein erfreulicher Erfolg der Einigungsbestrebungen im deutschen Judentum ", fügt das Familienblatt etwas vorlaut hinzu.

Vor einiger Zeit fand in Berlin eine Sitzung des Zentral- Ausschusses des allgemeinen Rabbinerverbandes statt. Nach langem Hin und Her wurde folgender Antrag angenommen: „Der Rabbiner verband hält nach wie vor daran fest, dass der Rabbiner der gegebene Vertreter der religiösen Angelegenheiten der Juden auch den Behörden gegenüber ist. Unter diesem prinzipiellen Vorbehalt, auf den er nicht Verzicht leisten kann, erklärt sich der Ausschuss bereit, mit dein Verband der deutscheu Juden zusammenzuarbeiten. Er ist damit einverstanden, dass zur Grundlage dazu die Arbeit der zu bildenden gemischten Kommission genommen werde". Man wird wohl nicht fehl gehen, wenn man annimmt, dass überall, wo

98 Notizen.

der Schulchan Aruch von n"n spricht, er in erster Linie an die Rabbiner denkt, an:ölN amintJ^, deren Lebensaufgabe im Lernen und Lehren der Thora besteht. „Es ist aber eine Sünde, Thoragelehrte zu verachten oder sie zu hassen, und jeder, der die Weisen ver- achtet, hat keinen Anteil an der künftigen Welt, und auf ihn ist anzuwenden der Satz : Das Wort Gottes hat er verachtet". Es steht aber noch ein anderer Satz im Schulchan Aruch : „Ein Thora- gelehrter, der es leicht nimmt mit den Mizwoth und keine Gottes- furcht hat, ist wie ein gewöhnlicher Laie zu betrachten". Welcher von beiden Sätzen auf den allgemeinen Rabbinerverband anwendbar ist, geben wir „der zu bildenden gemischten Kommission" i unter die u. a. auch Nobel-Frankfurt gemischt ist) zur Erwägung auheim.

Notizen.

Der „konservative Gemeinderabbiner", richtiger: der konservative Rabbiner der Reformgemeinde in Frankfurt a. M., hat den Genuss der Hülsenfrüchte an den Feiertagen erlaubt. Es ist dies derselbe Rabbiner, der Frankfurt über den Kopf der Religionsgesellschalt mit einem Eruw beglückt hat.

Hierzu ist folgendes zu sagen :

Das Verhalten des konservativen Gemeinderabbiners wächst sich mehr und mehr zu einer religiösen Gefahr aus. Statt seine Kralt daran zu setzen, den Reformen innerhalb seiner Gemeinde entgegenzutreten und die Liberalen für seine Anschauung zu gewinnen, wendet er sich mehr und mehr denen zu, die ihn nicht nötig haben, und sucht ihnen die Be- rechtigung seines Daseins durch religiöse Erleichterungen darzutun, die von dem Führer der orthodoxen Gemeinde nicht zu haben sind.

Die Religionsgeseilschaft, als berufene Trägerin der religiösen Wahrheit, ist demgegenüber natürlich vollkommen konkurrenzunfähig. So schmerzlich es ihr sein muss, wenn sie die allenthalben vorhandene Lau- heit, Unwissenheit, Bequemlichkeit, Magenfreude durch den konservativen Gemeinderabbiner gestützt sieht, und so unangenehm sie von dem Mangel an Takt berührt wird, dem sich ihr Haupt seitens des als taimudische Autorität in der Diaspora bis zur Stunde noch unentdeckten konservativen Gemeinderabbiners ausgesetzt weiss : so darf sie sich dennoch der zu- versichtlichen Hoffnung hingeben, dass ihre^Mitglieder mehr und mehr die völlige Unhaltbarkeit einer gleichzeitigen Zugehörigkeit zur Reformge- meinde einsehen werden, deren konservativer Rabbiner sei, solange er noch der Ihre ist, unausgesetzt vor die übelsten religiösen IConflikte stellt. Nachdem der konservative Gemeinderabbiner sich offenbar als Orts- rabbiner" blutig ernst nimmt, bleibt eben nichts übrig als auszuwandern. Ist diese Auswanderung erst einmal ganz vollzogen, werden seine reli- giösen Entscheidungen ihre wahre Adressaten ereilen : nämlich all die, so auch ohne Eruw trugen, und all die, so auch ohne Erlaubnis Hülsen- früchte essen.

JUEDISaiE

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herau8geis:eben von Rabbiner Dr. P. Kohn, Ansbach, unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Salomon Breuer, Frankfurt a. M.

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Jahrgang; 4. fleft 4

Zwanzig Jahre Zionismus.

Es sind jetzt zwanzig Jahre her, dass Herzl seinen „Juden- staat" erscheinen Hess. Uns allen, die wir damals die zionistische Bewegung mit der ganzen frischen Schwungkraft ihres ersten Elans auf uns wirken Hessen, steht noch deutlich die faszinierende Ge- walt vor Augen, mit welcher der Zionismus auch weite Kreise der Orthodoxie in seinen Bann zu zwingen wusste. Es lag damals viel Messianisches, Sabbathai Zwi-Mässiges in der Luft. Insbesondere die Jugend mit ihrem dem Lockruf alles Neuen, Umstürzlerischen stets offenen, anfnahmebereiten Sinn, sie war's vor allem, die mit leuchtenden Augen und glühenden Wangen das Mysterium der neuen Bewegung wie ein süsses, berauschendes Gift in sich hin- einschlürfte. Aber auch reifere Menschen konnten dem Zauber des jungen Zionismus nicht widerstehen. Wir erinnern blos an den begeisterten Artikel, den zur Zeit des ersten Zionisteukon- gresses Herr Rabbiner Dr. Cohn in Basel über den Zionismus im „Israelit" veröffentlichte. Es hat damals nicht viel gefehlt, und es wären in das zionistische Lager, von dem verführerischen Glänze der zionistischen Idee, wie die Mücken von Lichte, angezogen.

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Tausende hinübergetreten auch aus den Kreise der orthodoxen Judenheit, wenn diese nicht doch in ihrer überwiegenden Mehrheit der Gewisseusstirame der Überlegung schliesslich den Vorrang ein geräumt hätte vor den Reizen eines zwar berauschend schönen,! aber innerlich doch sehr widerspruchsvollen und darum letzten Endes haltlosen unjüdischeu Programms.

In zwanzig Jahren kann sehr viel passieren. Da kann eine Schwungkraft lahm, können leuchtende Augen stumpf, glühende Wangen kalt werden und begeisterte Israelit-Artikel auf das Niveau ihi-eg zar Zeit allerdings nicht ganz unbeträchtlichen Papier^ wertes sinken. In zwanzig Jahren können sich Alterserscheinungen anmelden, die auch dem ehemals frischesten Organismus das lang- same, aber sichere Nahen seines allmählichen Welkens und Ster- bens signalisieren.

Leidet auch der Zionismus schon an Herzverkalkung ? Bei nahe könnte man's glauben, wenn man im „Jüdischen National kalender auf das Jahr 5677 (1916—1917) 2. Jahrgang, herausge geben von Otto Abeles und Ludwig Batö, Wien 1916, Verlag „Jüdische Zeitung" blättert. Es ist immer wieder dasselbe. Eii Bild „Heimatlos" mit unsäglich traurigen Judengesichtern, be: deren Anblick man unverzüglich das Baseler Programm aeeeptierer muss, ein Bild, das man in diesen zwanzig Jahren so häufig unc in so zahlreichen Variationen zu sehen bekam, dass man den herz losen Ausspruch riskieren möchte, der Zionismus kokettiere förmlicl mit dem ewigen, unausschöpfbaren Judenleid. Dann der Herzl- kultus, dieses schwärmerische Sichversenken in die Herzlpsyche in seine Verwandlung aus einem Wiener Feuilletonisten in einer Volksführer und Volksbefreier, ist das nicht alles schon ein weni^ altbacken und abgeschmackt, zumal in einer Zeit, die ganze Welt reiche durcheinanderwirbelt und den Blick des Zeitbetrachters ai ungeahnte Dimensionen gewöhnt! Das Kleine ist heute viel kleinei und kleinlicher geworden als ehedem, wo ein Zionistenkongresf sich so wichtig vorkommen konnte, dass er faktisch die Pyramidei!' auf sich herunterschauen sah. Haben die Herren ihren Traun noch immer nicht ausgeträumt ? Vor dem August 1914 sah aucl die jüdische Masse die Weltpolitik anders als heute an. Da

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mals konnte man sich noch in die Lebensfähigkeit eines nach europäischem Muster geschaffenen Judenstaates hineinträumen. Was ist von diesen Phantasien heute übrig geblieben? Was wäre das für eine armselige, lächerliche Rolle, die einem Judenstaat innerhalb der heutigen Weltpolitik zu spielen vorbehalten wäre ? Ist das Vorbild Serbiens, Montenegros, Rumäniens und Griechen- lands so verlockend, um ihnen ein neues staatliches Zwerggebilde anzAueihen? Trotz nller phantastischen Ausmalungen einer Verwirk- lichung der zionistischen Idee die bei allem Abbau, der an ihr in diesen zwanzig Jahren progressiv vollzogen wurde, doch nach wie vor unter der Suggestion des Judenstaatsgedankens steht wäreder Judenstaat, so wie ihn Herzl sah, selbst im glücklichsten Falle nichts anders als eine Übersetzung der Balkangeschichte ins Hebräische. Denn sieht man Israel, so wie es heute ist und so wie es einmal war, aus modernem Auge, d. h. losgelöst von allem religiösen, prophetischen und messianischen Zubehör, so muss es auch gestattet sein, das kommende Israel in gleichem Lichte zu schauen und zu werten. Lehnt man die besondere, providentielle, in Gott ruhende und aus Gott zu verstehende Rolle ab, die nach den heiligen Urkunden das gewesene Israel spielte, dann geht es auch nicht an, das kommende Israel in die Gefühlsglut pro- phetischer Verzückungen zu tauchen und von einer besonderen Mission des jüdischen Zwölfmillionenvolkes jinnerhalb des grossen, u.iübersehbaren Völkermeeres der Welt zu schwärmen. Sicherlich wohnt dem jüdischen Stamme eine ungeheure Lebenskraft inne. Sein Beitrag zur Weltkultur springt zu deutlich in die Augen, als dass er geleugnet werden könnte. Ist aber damit schon gesagt, dass vom Standpunkte der profanen Historie gesehen ein selbständiges Israel das gleiche sein und leisten würde ? Ein tüchtiger Kommis, der im Gefühl seiner Tüchtigkeit nach Selbst- ständigkeit strebt, erweist sich später nicht immer auch als ein tüchtiger Prinzipal.

Ein Blick in den erwähnten Nationalkalender belehrt uns, dass namhafte Vertreter des zionistischen Gedankens auch im Zeitalter des Weltkrieges frohgemut die alten ausgefahrenen Ge- leise weiterschreiten. Der Weltkrieg ist ziemlich spurlos an die-

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sen Herren vorbeigegangen. Ja, eine ganz beträchtliche Zahl unter ihnen scheint sogar mit der Entwicklung des Zionismus aus der Zeit seiner utopischen Anfänge bis in die Gegenwart, wo er sich viel kühler und rechnerischer giebt als in den Tagen Herzeis, so wenig zufrieden zu sein, dass sie einer energischen Zurückentwick lung zum Herzischen Hochfluge das Wort reden. So erhebt im Nationalkalender Nachum Goldmann geradezu den Ruf „Zurück zuHerzl!", und dieser Ruf ist so ungemein charakteristisch für den gegenwärtigen Stand des Zionismus nach Abschluss einer zwanzig jährigen Entwicklung, dass wir es uns nicht versagen können, aui diesen Ruf einmal etwas genauer hinzuhorchen.

Am Schluss des Goldmannschen Aufsatzes werden seine Ge- danken kurz resümiert :

„Das Wesen des Zionismus, wie ihn Herzl geschaffen hat. wird durch drei Gedanken bestimmt: sein Ziel ist die Lösung der Judenfras^e, sein Mitte) dazu die Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina, sein Organ : die politische zionistische Organisation. Jeder dieser drei Gedanken enth.ält prin- zipielle Grenzsetzungen : aus dem ersten ergibt sich die Ablehnung des Achad-, Haamismus als des Versuchs zur Lösung der kulturellen, geistigen Judentuma- frage gegenüber der zionistischen Lösung der konkreten Judenfrage, sowi^ eine Ablehnung der Versuche zur Lösung der individufllen Judeufrage im Galuth vor derjenigen der kollektiven in P;)lästina. Aus dem zweiten Grund- gedanken folgt die Verneinung aller Forderungen einer geistigen, kulturellen und religiösen Wiedergeburt des jüdischen Volkes im Galuth vor seiner poli- tisch-konkreten Erneuerung in Palästina, folgt weiterhin die prinzipielle Ab- lehnung alles spezifisch Gaiuth-Jüdischen, das nur die Bedeutung und der Wert eines Surrogats haben kann. Der dritte Grundgedanke endUch bestimmi den politischen Charakter unserer Bewegung und fordert die Abwehr alle: Bestrebungen, sie zu einer geistigen, Weltanschauung und Lebensführung ihrei Anhänger regulierenden Sekte zu machen. Alle Abgrenzungen, die diese dn- konstitutiven Gedanken des Zionicmus enthalten, haben wir in den letzt« r Jahren überschritten und damit die Reinheit und Wesensart der Bewegun- gefährdet. All diesen Wesenstrübunajen des wahren zionistischen Gedankens gegenüber gilt heute der Ruf: „Zurück zu Herzl!", als der dauernden leben digen Verkörperung des wahren, reinen und allein möglichen Zionismus."

Wie alle politischen Bewegungen musste auch der Zionisniii!- von Anbeginn seines Daseins auf eine handliche, zugkräftige Fm-. mel seines Willens imd Strebeng bedacht sein. Diese Formel fand er in der Lösung der Judenfrage. Unter Judenfrage haben wii

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aber nach Goldmann nur die konkrete, materielle Not des jüdi- sche Schicksals, nur die Not des Judenvolkes, nicht jedoch die Not des Judentums, der jüdischen Kultur zu verstehen. Diese geistige Not kommt erst in zweiter Linie. Zu allererst muss für bessere materielle Daseinsbedingungen gesorgt werden, muss die „Anormalität und Tragik" des jüdischen Schicksals beseitigt werden, denn solange das Volk nicht frei leben und sich entfalten kann, „kann es auch nicht seine Kultur frei und ungehemmt schaffen". Näher betrachtet und frei gemacht von allem stilistischen Drum und Dran ist das eigentlich nichts zionistisches, sondern ein ur- alter jüdischer Gedanke, den unsere alten jüdischen Weisen in die volkstümliche Form gebracht haben : nmn |'N Hüp |'K DN, ohne Mehl kein Thora. Das Neujüdische daran ist blos die Ausweitung des „Mehr'-Begriffs und die Aushöhlung des Thora-Begriffe. Mit blossem „Mehr begnügt sich der Zionismus nicht. Durch Be- schaffung von Mehl für das jüdische Volk wäre doch nicht die AnormaUtät und Tragik seines Schicksals beseitigt. Denn auch dann, wenn Jeder in Israel seine ausreichende noJia hatte, wären ja noch die „Daseinsbedingungeu" nicht getilgt, „die unsere freie Entwicklung als Volk unmöglich machen". Wir müssen uns un- bedingt als „Volk" konstituieren, und solange das nicht gelingt, dürfen wir uns nicht glücklich fühlen. Es steckt viel Materialis- mus in dieser zionistischen Denkweise, indem sie die nationale Hochspannung, die seit hundert Jahren über Europa liegt, dazu benützt, um auch in jüdischen Kreisen die nationale Begehrlichkeit zu reizen. Dabei merkt er nicht einmal, wie er mit dieser Natio- nalisierung des jüdischen Denkens die ursprüngliche Wesensart des- selben zerstört. Denn es müsste doch wohl erst einmal nachge- wiesen werden, ob denn diese ganze Unterstellung auch des per- sönlichen Lebens unter den alles beherrschenden Gedanken des Nationalismus sich mit der jüdischen Gedankenwelt vertiägt. Unter- scheiden wir uns in der ganzen Struktur unseres Denkens und Fühlens von der Umwelt und gerade der Zionismus wird doch zu allererst nicht umhin können, im jüdischen Volkscharakter die unterscheidenden Merkmale besonders scharf herauszustellen warum sollte das^ Judentum nicht, wie so vieles andere, auch die

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centrale Stellung des Nationalismus als unvereinbar mit den Grund- lagen der jüdischen Kultur" ablehnen dürfen ? Hier hilft sich nun der Zionismus kurzerhand damit, dass er sich einen neuen, zionistischen Begriff der jüdischen Kultur konstruiert. Mit seiner jüdischen Kultur freilich harmoniert gar trefflich der von ihm ge- schaffene Begriff des jüdischen Nationalismus. Beides hat er ja der Umwelt abgelauscht, von der er sich gleichwohl als ein selb- ständiges Gebilde loslösen möchte. Und wie es in der grossen Weit keine eigentümliche Volkskultur giebt ohne das konkrete Fundament einer nationalen Existenz, so kann auch im jüdischen Volke eine „geistige jüdische Kulturfrage" nur eine Folge der „konkreten Judenfrage" sein. Zwanzig Jahre Zionismus haben nicht genügt, um den Zionismus von der erdrückenden Fälle assi- milatorischer Elemente, die ihm nicht weniger als dem jüdischen Liberalismus anhaften, zu befreien. Noch heute sind seine grund- legenden Gedanken Assimilation in schönster Reinkultur.

Gibt man zu, dass vor allem die materielle Judenfrage gelöst sein muss, bevor man sich an die geistige heranwagen kann, so folgt daraus die Ablehnung des Achad-Haamismus. „Denn als praktischer Versuch zum Aufbau der jüdischen Zukunft neben und gegen den Zionismus gesetzt, bedeutet der Achad-Haamismus nichts anderes als die Behauptung, ausser der konkreten Judenfrage gebe es eine gesonderte geistige Judenfrage; diese sei die weitaus wichtigere, ihre Lösung die dringlichere (und allein mögliche) ; darum nicht konkrete, national-politische Heimstätte, sondern geist- iges Zentrum in Palästina."

Wir gestehen, dieser abgelehnte Achad-Haamismus seht der geistigen Art des alten Judentums viel näher als der oflicielle Zio- nismus. Dieses energische Betonen des geistigen Moments selbst auf Kosten der materiellen Interessen, ist relativ viel jüdischer, als die einseitige Herausstreichung der politischen Tendenzen der zionistischen Bewegung. Achad-Haam will vor allen Dingen eine innere Erneuerung des jüdischen Volkes. Sieht man davon ab, was er sich unter dieser Renaissance vorstellt, so kann man dieser Forderung auch vom Staudpunkte des überlieferten Judentums durchaus beipflichten. Die Methode, die er vorschlägt, ist jüdisch

Zwanzig Jahre Zionismus.

„.d richtig, auch wenn der Inhalt seiner Forderung von den Grund- lagen der^Thora sich ebensoweit wie der officielle Zionismus ent- fernt Acbad-Haam ist mit den Verstiegenheiten der zionistischen Politik und den Unwahrheiten der zionistischen Gedankenwel in seinen Schnften gar scharf ins Gericht gegangen, und zwar schon zu einer Zeit, als die zionistische Sirenenmusik noch neu und aut weite Kreise voll berauschender Wirkung war. Schon die ersten Zionistenkongresse mussten eine scharfe Kritik Achad-Haams über sich ergehen lassen, und vielleicht von keiner Seite is jemals die unhaltbare, weil innerlich widerspruchsvolle Stellung des Misrachi innerhalb der zionistischen Organisation so treffend beleuchtet worden, wie von Achad-Haam. üeber die seltsamen Ambitionen orthodoxer Zionisten, innerhalb der zionistischen Organisation das alte überlieferte Judentum, Thora und Mizwoth zum alles beherr- schenden Mittelpunkt zu machen, hat sich Achad-Haam schon im Jahre 1902 mit solch zwingender Schärfe und prachtvoller Offen- heit ausgesprochen, dass wir den wichtigsten Teil seines damahgen Votums im Wortlaut hierhersetzen möchten. In einem Vortrage, den er damals in einer Versammlung der russischen Zionisten über die sogenannte Kulturfrage hielt und üer im 2. Bande der Sam- melscb-ift „Am Scheidewege" auf S. 105ff. abgedruckt ist, sprach er sich über die orthodoxen Zionisten mit folgenden Worten aus. Man kann nicht zweien Herren dienen. Stehen ihnen die Inler«Bsen der orthodoxen Partei näher, als das allgemeine nationale Ziel, dann wäre es für sie ratsamer, sich völlig von den freidenkenden Ziomsten abzuschl es en, wie dies die anderen Orthodoxen tun. Diese letzteren haben das eme für sich, Zs sie in allen ihren Taten von Anfang bis zn Ende emeja festen Grund- satze olgen ohne Konzessionen und innere Widersprüche. Sie sehen m allen lTdersde'nk;nden Abtrünnige und sind darum unter keinen U.n.tänden zn e wegen mit diesen Verrätern gemeinsame Sache zu machen Jhr habt nicht las R cht mit uns .m Bau des Heiligtums mitzuarbeiten'.-. Immer wieder In sL uns das zu, wa« unsere Väter den .Feinden Judas« zur Antwort ^^ ben; mit dem Unterschiede aber, dass unsere Ahnen, die ^hre Feinde von sich stiesen, selbst Hand ans Werk legten, sie aber müss.g d-/-f« -/«" Schoss legen und wünschen, dass lieber gar nicht gebaut werde, als dass die Ketzer den Bau errichten. Aus dieser ihrer Anschaunng heraus ist es be- greiflich und erforderlich, dass sie mit aller Kraft auch gegen die Mitarbei der Freidenkenden am nationalen Erziehungswerk kämpfen, auch wenn sie nicht

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ihre Kreise stören und mit ihrer Arbeit nur das eine Ziel verfolgen, jüdischen Geist in die modernen Schulen zu tragen, denen dieser jetzt völlig fehlt. Ist 68 jenen Fanatikern ja lieber, duss die^e vom Körper „halb gelösten Glied'.r" verdorren und jeden Zusiimmenhang mit dem Volke selbst verlieren, um ihm auf seiner „heiligen Bahn" nicht hinderlich zu sein, als dass ein neuer Geist, ein „halbes Judentum" sie neu belebe, wieder fest mit dem Körper verbinde und dadurch ihnen die Möglichkeit gebe, den Körper mit itirem Geiste zu ver- seuchen All dies ist wohl verständlich und geht notwendig aus ihrer

Grundanschauung hervor. Die Orthodoxen aber iui zionistischen Lager, die keinen Anstoss daran nehmen, brüderlich mit Leuten zusammenzuarbeiten, die in ihren religiösen Anschauungen anderer Ansicht sind geben ja damit gleichsam offen zu, dass auch solche Männer zu unserem Volke gehören und ihre Arbeit diesem erwünscht und von Nu'zen sei. Und räumen jene Ortho- doxen die Berechtigung einer solchen nationalen Partei in der Gegenwart ein, w"ie wollen sie diese Berechtigung für die Zukunft negieren, mit anderen Worten, wie können sie den Nutzen und die Notwendigkeit der modernen nationalen Erziehung bestreiten, deren Ziel es ist, ein .neues Geschlecht im nationalen und modernen Geiste dieser Partei grosszuziehen an Stelle der fremden Bildung, die bisher die Erziehung in den Schalen beherrschte und die Herzen der Söhne unserem Volke abwendig machte ? Solche orthodoxe Zio- nisten so können wir nun im Stile des genannten Rabbiners sagen sind gleichfalls Zionisten, aber nicht „logische" Zionisten. Und diese Logik muss man ihnen beibringen, nicht durch allgemeine diplomatische Phrasen, sondern mit klaren, deutlichen Worten, bis sie sich ihrer zwingenden Beweiskraft unter- werfen und wohl oder übel die volle Gleichberechtigung beider Parteien im Werke der nationalen Erziehung anerkennen, jede^^iu dem Kreise, der ihr geistig nahesteht und für ihren Einfluss empfänglich ist. Nur ein solches offenes nnd unzweideutiges Übereinkommen könnte der Begriffsverwirrung in der Kultur- frage ein Ende bereiten, das Arbeitsgebiet jeder Partei abgrenzen dnd dadurch vielleicht auch die Führer zu der Erkenntnis bringen, dass es ihre Pflicht ist, selbst diese Arbeit überall mit Rücksichtnahme auf die jeweiligen lokalen Bedingungen zu beaufsichtigen, anstatt diesem „gefährlichen" Thema ängstlich aus dem Wege zu gehen und es verschiedenen zur Ohnmacht verurteilten Kommissionen aufzubürden."

Sieht man von den unvermeidlichen Seitenhieben ab, die hier Achad-Haara den „logischen" Orthodoxen appliziert, so wird man wohl kaum treffendere Worte für die innere ünwahrhaftigkeit finden können, an welcher nicht blos der Misrachi, sondern alle mit ihm verwandten Organisationen leiden, und nicht zuletzt für- walir die soi^enannte „Genieindeorthodoxie" in so manchen jüdi- schen Gemeinden Deutschlands. Wir wissen wohl, dass wir uns

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nicht sehr beliebt machen, wenn wir in der gegenwärtigen Zeit, wo Zentneilasten von Sorge und Kümmernis auf allen jüdischen Familien ruhen, auf die bekannten Ladenhüter der jüdischen Reli- gionspolitik immer wieder zurückkommen. Sicherlich haben wir heute andere Sorgen als anno 1876. Und etwas muss doch auch im dritten Kriegsjahre vom Burgfrieden übrig bleiben. Gleichwohl glauben wir im Rahmen der Sachlichkeit zu verbleiben, wenn wir bei einem Rückblick auf die zwanzigjährige Geschichte des Zionis- mus nicht umhin können, einen Seitenblick auch auf die unter dem Namen Gemeindeorthodoxie bekannte orthodoxe Geistesrichtung zu werfen. Das eine hängt mit dem andern zusammen. Wie sich der Misrachi zum Zionismus verhält, so verhält sich die Gemeinde- orthodoxie zum liberalen Judentum. Wie der Misrachi durch sein Verbleiben in der zionistischen Organisation bekundet, dass auch die Arbeit von Männern, „die in ihren religiösen Anschauungen anderer Ansicht sind", „erwünscht und von Nutzen sei" und daher wie Achad-Haam so treffend darlegt „wohl oder übel die volle Gleichberechtigung beider Parteien" anerkennen muss, wie der Misrachi sich nicht vergewaltigt fühlen darf, wenn ihm der Zionismus „nicht durch allgemeine diplomatische Phrasen, sondern mit klaren, deutlichen Worten" die „Logik" „beibringt" und zwar so energisch, bis er sich ihrer zwingenden Beweiskraft unterwirft und es anfgiebt, seine Anschauung zu der alleinherrschenden machen zu wollen, so ist auch die Situation der Gemeindeortho- doxie innerhalb einer liberalen Gemeindeorganisation eine ganz ähnliche, so darf auch sie sich nicht beschweren, wenn das libe- rale Judentum aus ihrem Verhalten zu ihm und ihrem Verbleiben in ihm die logischen Folgerungen zieht. Noch sind unseres Er- achtens diese Konsequenzen in ihrer ganzen Schärfe und logisch zwingenden Folgerichtigkeit nicht gezogen werden. Wenn aber nicht alle Zeichen trügen, so wird man nach dem Kriege auch auf dem Gebiete der jüdischen Religionspolitik gar manche Neuorien- tierungen erleben, die auch denjenigen unter uns sehr wenig er- wünscht sein werden, die sie durch ihre mangelhafte Logik vor- bereitet und ermöglicht haben. Mehr als einmal ist auch im „Is- raelit" von dem nach dem Kriege zu erwartenden Kampf um und

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gegen die seit Jahr und Tag geplante Organisation der jüdischen Gemeinden die Rede gewesen. Bei diesen Kassandrarufen wird aber in höciist unlogischer Weise gewöhnlich die Schuld derjenigen unter uns übersehen, die durch ihr religionspolitiscbes Verhalten die Gefahr jener Gesamtorganisation erst zu einer wahrhaft be- drohlichen gestalten. Denn was könnten wir denn der Gegen- seite erwidern, wenn sie etwa folgendes zu uns spräche : Wir verstehen euch nicht. Ihr werdet doch wohl selber nicht gut be- streiten können, dass im Zeitalter der Organisation, dass in einer Zeit, wo das isolirte Deutschland nur dank seiner Organisation sich des Ansturms seiner Feinde erwehren konnte, kein Gebilde des öffentlichen Rechts lebensfähig sein kann, wenn es seine Orga- nisirbarkeit nicht erweist. Nur im Zustande der Organisirtheit, nur dann, wenn das deutsche Judentum gleich den andern Kon- fessionen eine verhandlungsfähige Einheit ist, wird es die ihm ge- bührende Beachtung und Berücksichtigung; im Staate finden. Über eine innerlich entzweite, zersplitterte Judenschaft wird Deutschland immer zur Tagesordnung übergehen. Nur dann, wenn sich die deutschen Juden zu einer geschlossenen, abgerundeten, organisirten Gemeinschaft konstituiren werden, können sie hoffen, dass die nach dem Kriege zu erwartende Neuorientierung auch für sie zu einem Quell des Segens werde. Aus religiösen Gründen seid ihr Gegner der Organisation? Das glaubt ihr doch selbst nicht. Was in den jüdischen Gemeinden recht und billig ist, das kann doch auch in einer Organisation von Gemeinden nicht zu verdammen sein. Wie nehmet ihr euch in Acht, die religiöse Integrität der sogenann- ten Gemeindeorthodoxie nicht anzutasten! Älit dieser Anerkennung der Gemeindeorthodoxie als religiöse Volljuden gebt ihr doch selber zu, dass vom Standpukte der jüdischen Religion es vollkommen gleichgültig ist, wie sich Jemand reiigionspolitisch verhält und betätigt. Duldet ihr den Standpunkt der Geraeindeorthodoxie, dann müsset ihr auch das Streben nach einer Gesamtorganisation tolerieren.

Wir könnten auf eine derartige Interpellation wohl kaum etwas stichhaltiges antworten, wir müssten vielmehr aufrichtig zu- geben, dass in der Tat nicht einzusehen ist, wo im Bereich des

Zwanzig Jahre Zionismus. 107

religiösen Denkens die Grenzen zwischen Toleranz und Selbst- enthauptiing liegen. Wir kehren nach dieser kurzen Abschweifimg zu unserem Thema zurück.

Neben der Ablehnung des Achad-Haamismus (zionistische Wortbildungen sind mehr gewagt als geschmackvoll) ergiebt sich aus dem Grundgedanken des Zionismus nach Goldmann noch eine andere Konsequenz : „Ebenso wie wir soeben diese Frage gegen die geistige Judentumsfrage abgrenzten, so müssen wir nun die Grenze gegen die individuelle seelische Judenfrage ziehen. Der Zionismus will die kollektive nationale Judenfrage lösen, nicht das persönliche jüdische Individualitätsproblem". Man kann diese grossen, schwerfälligen Wortmünzen auch in handliches Kleingeld zerlegen. Man braucht weder von individuell und kollektiv noch von l'roblem und Individualität zu reden. (Vor Jahren annoncirte ein- mal ein Rabbiner : Für die rituelle Brauchbarkeit dieses Artikels verbürge ich mich mit meiner Individualität. Was sollen die grossen Worte?) Man kann auch einfach so sagen: die Juden fühlen sich im Golus nicht sehr behaglich. Auch dort, wo es ihnen äusserlich gut geht, sind sie innerlich nicht so glücklich, wie es wohl scheinen mag. Das kommt daher, lehrt der Zionismus, weil z. B. die deut- schen Juden sich zugleich als Juden und als Deutsche fühlen und fühlen müssen. Sie müssen in sich nationale Verschiedenheiten ausgleichen, und dieser mehr oder weniger gewaltsame Ausgleich verursacht seelische Verdauungsbeschwerden. Was wir hier etwas robust aber doch, wie wir glauben, hinlänglich klar seelische Verdauungsbeschwerden nennen, dafür hat Goldmann eine ganze Schaar der hochtrabendsten Worte auf Lager. Neben Individuali- tätsproblem spricht er auch von der „Dualität des Golusdaseins", von der „Lebenszweiheit" u. dgl. Es läuft aber alles wirklich auf dasselbe hinaus. Eine Erlösung von dieser leidigen Lebens- zweiheit und dieser unerträglichen Golusdualität ist für den Ein- zelnen im Golus nicht denkbar. Der Zionismus will und kann den Einzelnen nicht von diesem inneren Zwiespalt erlösen. Im Gegenteil. „Zionistwerden heisst das jüdische Individualitätspro- blem in seiner ganzen Schärfe und Tiefe erkennen, heisst sich seines jüdischen Wesenselementes ganz bewusst zu werden, ohne

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sich doch des anderen europäischen entäussern zu können, und bedeutet so eine Verschärfung und Vertiefung des Problems". Wer sich also einbildet, dass ihn der Zionismus, wenn er Zionist wird, von seinen Beschwerden befreien werde, der kann was schönes erleben, die Beschwerden wenden noch grösser. Erst dann, wenn der Zionismus die nationale, oder, wie man /Air Abwechslung auch sagen kann, die kollektive Judenfrage gelöst haben wird, erst dann, wenn er das gesamte jüdische Volk „aus dem Galuth durch radikale Wandlung seiner Daseinsbedingungen" erlöst haben wird, erst dann wird er sich damit auch zugleich als das ersehnte geistige Glaubersalz erweisen, welches den Einzelnen in Israel von seinen seelischen Verdauungsbeschwerden befreit.

Auch der Zionismus hat, wie wir sehen, im Weltkrieg nichts gelernt und nichts vergessen. Hartnäckig hält er nach wie vor an dem Gedanken fest, dass nur die radikale Umwälzung der Da- seinsbedingungen des jüdischen Volkes den Einzelnen von seinem Galuth-Leid befreien kann. Der Zionismus operiert hier wiederum mit uralten Vorstellungen, die er mit einem neuen Inhalt erfüllt hat. Beides ist wahr: das Vorhandensein eines Galuthleides sowohl al;^ auch die Unmöglichkeit einer anderen Lösung der Jndenfrage als auf dem radikalen Wege einer völligen Umgestaltung des jüdi- schen Volkslebens. Es fragt sich nur auch hier, was unter beidem gedacht wird. Wir bestreiten entschieden, dass das jüdische In- dividualitätsprohlem des modernen Zionismus identisch ist mit dem historischen Galuth-Leid des jüdischen Volkes. Dieses historische Leid war niemals wehleidig. Es hatte mit dem Gefühl eines per- sönlichen Unbefriedigtseins nichts zu tun. Es war ein kollektives Leid. Wie anders wären die Vorschriften des jüdischen Religions- gesetzes über die Trauer um Zions Fall zu verstehen, Sich per- sönlich unbehaglich und unglücklich zu tühlen, das braucht nicht erst ausdrücklich anbefohlen zu werden. Wohl aber muss der Ein- zelne gewarnt werden, niemals an den fragmentarischen Zustand des Lebens der Gesamtheit zu vergessen. Die religiösen Vor- schriften über das Verhalten an den Gedenktagen der nationalen Katastrophe des jüdischen Volkes und über das Verpflanzen der jüdischen Nationaltrauer in die Stimmungen des ganzen Jahres und

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insbesondere das Wachhalten der Erinnerung an die „Trauernden Zions und Jerusalems" bei heiteren und traurigen Anlässen des jüdischen Familienlebens : das alles wäre ja vollkommen sinnlos, wenn das jüdische Religionsgesetz nicht voraussetzen würde, dass einmal Zeiten und Menschen kommen werden, die unter Daseins- bedingungen leben werden, die den persönlichen Schmerz über das Aufhören der jüdischen Nationalität zu tilgen vermöchten, und die daher, um sie vor dem Untergehen im Gegenwartsleben zu bewahren, im Zusammenhang mit der Vergangenheit und Zukunft ihres Volkes erhalten werden müssen. Wäre im Galuth die Assi- milation nicht ein durchaus natürlicher und begreiflicher Vorgang, dann bedürfte es keiner Gedenkfeier am 9. Ab, um das noch im- merwährende Fortbestehen des Galuth zu verkünden. Wir sind darum überzeugt, dass die Grössen der jüdischen Geschichte für diese ganze moderne zionistische Gefühlsweise nicht das mindeste Verständnis hätten, d. h, niemals begreifen würden, mit welchem Rechte das zionistische Individualitätsproblem als das geschichtliche Galuth-Leid des jüdischen Volkes sich ausgeben kann. Will man uns wirklich einreden, dass zwischen der Art, wie Maimonides, Alfasi, Jehuda Halevy das Galuth empfanden und derjenigen, wie Herzl das jüdische Individualitätsproblem in sich entdeckte, auch nur die mindeste Ähnlichkeit vorhanden ist ? Die geschichtlichen Galuthjuden fanden sich mit dem Galuth in ihrem persönlichen Empfindungsleben viel gründlicher ab, als uns der Zionismus weis- machen will. Im Ghetto war und ist mehr Glück, als die Ghetto- geschichten ahnen lassen. Und man kann, ja im Sinne der jüdi- schen Religion soll man sich sogar ausserhalb des Ghettos ein künstliches Ghetto schaffen, in welches der moderne Galuthjude all sein Jüdisches hineintragen kann, um es gegen Einbruch und Zerstörung zu behüten.

Und wie das Galuth-Leid in der zionistischen Färbung anders ausschaut, als in seiner geschichtlichen Farbe, so stellt sich uns auch die zionistische Methode zur Heilung dieses Leides inhaltlich anders dar, als die durch religiöse Ttadition verheissene. Ganz gewiss wird nur eine radikale Umwälzung aller Daseinsbedintjungen des jüdischen Volkes die Judenfrage aus der Welt schaffen können.

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Es kommt nur ganz darauf an, was man sich unter dieser Um- wälzung vorstellt. Wir können den Gegenzatz, in welchen sich der Zionismus hier zur überlieferten Anschauung stellt, nicht hesser wiedergeben als mit den Worten, die wir in anderem Zu- sammenhang, in unserem Aufsatz „Der Moschiach und seine Zeit", (2. Jahrgang S. 296 f.) ausgesprochen haben: „. . . . Ebensowenig sind wir berechtigt, die Organisation der jüdischen Gesamtheit, wie sie einst bestand und zur Zeit mit besonderer Wärme ersehnt wird, etwa auf Grund unserer heutigen politischen Einsicht und unseres heutigen politischen Könnens uns auszumalen. Auch die von uns ersehnte Organisation des hü'l'^'' SSd wird nur als eine lediglich durch Moschiachs Kraft gewirkte Reorganisation des Alten und nur Hand in Hand mit der Verwirklichung der übrigen Punkte seines Programms möglich und auf die Dauer lebensfähig sein. Nationalismus, Organisation, religiöse Renaissance: solange wir sie als Schlagworte des jüdischen Modernismus empfinden, solange sind wir nicht reif genug, um das Wunder des Moschiach zu er- leben .... Die Wiedereinsetzung der ganzen Thora und die nationale Organisation der jüdischen Diaspora ist der schwierigste Teil seiner Aufgabe, deren restlose Lösung erst seine Beglaubigung als der wahrhafte Moschiach bedingt. Daran lässt sich nun leicht ermessen, in welch verkehrten Vorstellungen über das unter den heutigen Zeitläuften für das Judentum Erlangbare zahlreiche Zeit- genossen, die sich als gute Realpolitiker dünken, befangen sind. Au die Bekehrung der gesamten Judenheit zur schriftlichen und mündlichen Lehre würde sich kein noch so unternehmungslustiger Zionist heranwagen, obwohl die alleinige Lösung dieser Aufgabe noch nicht einmal zum vermutlichen Moschiach legitimiert. Die Nationalisierung Israels dagegen, eine Aufgabe, an der sich der wahrhafte Moschiach bemüht, hat den zionistischen Wagemut schon zu den überheblichsten Projekten entfiaramt".

So gross auf der einen Seite der zionistische Wagemut ist, so gross ist auf der aneern Seite die zionistische Feigheit. Denn was ist es anders als Feigheit, jede Möglichkeit einer „geistig- kulturellen Erneuerung des Volkes im Galuth" zu verneinenV „Der Palästinagedanke des Zionismus, konsequent zu Ende gedacht,

Zwanzig Jahre Zionismus. 111

spricht die restlose und bedingungslose Galuthverneinung aus : er besagt, dass wir Juden im Galuth niemals als Volk werden frei und natürlich leben, niemals unsere Kultur frei und ungehemmt werden fortentwickeln können. Er betrachtet somit die Errichtung der konkreten, politischen Heimstätte in Palästina als die uner- lässliche Voraussetzung aller kulturellen, geistigen und religiösen Wiedergeburt des Volkes." Wir sollen also das Galuth verneinen. Feig und kleinmütig sollen wir jede Hoffnung aufgeben, dass wir im Galuth irgend etwas Gescheidtes ausrichten können. Unsere Flügel sind im Galuth lahm. Merkt der Zionismus nicht, wie er mit einer solchen Negation des Galuth zugleich die ganze bisherige Galuthgeschichte mit all den unvergänglichen Grosstaten unserer Galiith-Grössen negiert? Ist nicht der^Talmud selbst im gewissen Sinne eine Blüte des Galuth-Judentums? Sind nicht gerade aus der Not des Galuth die wunderbaren Kräfte des jüdischen Geistes hervorgebrochen? Freilich werden wir mit Goldmann eine „Wie- dergeburt des schöpferischen religiösen Genius unseres Volkes" im Galuth nicht erwarten, aber nur deshalb nicht, weil wir diese Phrase als eine „Negation" der wichtigsten Grundlage des Juden- tums, der Göttlichkeit der Thora, empfinden, wohl aber werden wir das Galuth insofern stets bejahen dürfen, als uns unsere heilige Thora mit ihrem unverwelklichen riK: n: f]KT auch für die Zeit des Galuth den göttlichen Beistand verbürgt und der Beistand Gottes im Galuth vollkommen sinnlos wäre, wenn das Leben im Galuth nichts anderes als ein Prozess unaufhaltsamer Selbstver- nichtung wäre. Doch was ist dem Zionismus Gott? „Die andere Konsequenz aus dem zionistischen Palästinage-

danken und seiner gedanklichen Grundlage, der Galuthnegation, ist die prinzipielle Ablehnung aller gegenwärtigen Galuthkultur, soweit sie in ihrem Wesen den Stempel des Galuth trägt, also in erster Reihe der jiddischen Sprache und Literatur." Praktisch tritt der Zionismus in den Kämpfen des Ostjudentums allerdings für das Jiddische ein, weil in der Wirklichkeit des Alltags ein Surro- gat besser ist als nichts, weil besonders im nationalen Leben des Galuthjudentums die meisten seiner volkserhaltenden Faktoren solche Surrogate sind, weil kurz gesagt, Jiddisch jüdischer ist

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112 Zwanzig Jahre Zionismus.

als Russisch oder Polnisch. Aber aus diesem rein praktischen Ge- sichtspunkte die Konsequenz ziehen wie es von zionistischer Seite jüngst gesehen ist das Jiddische sei dem Hebräischen gleichzusetzen zwei Zweige desselben nationalen Organismus heisst praktischen Kompromissen zuliebe die Reinheit unserer The- orie trüben, heisst autizionistische Gedankengänge in den Zionismus hineintragen." Wir haben bereits an anderer^Stelle, in unserem Aufsatz über „das Hebräische" nachgewiesen, dass die zionistische Intoleranz gegen das Nichthebräische durchaus nicht dem Geiste des jüdischen Religionsgesetzes entspricht. Man kann im Sinne der Thora ein Volljude sein, auch wenn man nicht den ganzen Tag hebräisch spricht und man verliert das Recht der Zugehörigkeit zur jüdischen ßekenntnisgemeinschaft, auch wenn man seine nvz>2 und sein momp'QN in noch so klassischem Hebräisch zum Ausdruck bringt. Dieser zionistische Fanatismus fürs Hebräische gehört mit zu den Symptomen der zionistischen Asvsimilation. Auf der ganzen Linie soll die Nationalisierung Israels nach europäischem Vorbilde durch- geführt werden. Zum jüdischen Land, zur jüdischen Kultur gehört naturgemäss die jüdische Sprache, und da das Jiddisch nun einmal im Galuth erwachsen ist, darf es nicht in das Land der zionisti- schen Zukunftsträume verpflanzt werden. Haben aber die Ziouisten einmal ernstlich bedacht, wie gerade dieses Jiddisch ihr Dogma von der Galuthnegation eigentlich über den Haufen wirft? Dieses Jiddisch wäre doch fürwahr mit dem ganzen Zauber seiner mittel- hochdeutsch-jüdischen Romantik nicht möglich geworden, wenn das jüdische Volk nicht auf eine ganz natürliche Weise mit seiner deutscheu Umwelt zusammengewaclisen wäre. Wer gibt dem Zio- nismus das Recht, heute dieses Zusammenwachsen als einen un- natürlichen Vorgang zu kennzeichnen? Wäre es Unnatur, daun müssten wir's doch vor allen Dingen selber als Unnatur empfinden, was aber doch wirklich keineswegs der Fall ist. Wir fühlen uns im Deutschen nun einmal viel heimischer als im Hebräischen. Das liegt nicht darau, weil wir das Deutsche besser beherrschen als das Hebräische. Nein, auch wer ein klassisches Hebräisch schreibt und spricht, wird, wenn er auch deutsch reden und schreiben kann, als gläubiger Jude sich im Deutschen viel ungezwungener fühlen

Zwanzig Jahre Zionismus. 113

als im Hebräischen. Der Grund ist, weil uns das Hebräische immer noch u^npn piJ^S, die heilige Sprache ist. Man muss schon selber heilig sein, um eine durchgängige Hebraisierung des Gedankens und Wortes nicht als eine Profanisierung zu empfinden. Es wäre wirklich besser, die Zionisten bedienten sich für ihre Gedanken- gänge eines diesen auch innerlich entsprechenden Idioms, denn es ist wahrhaftig eine Vorspiegelung falscher Tatsachen, eine un- heilige Gedankenwelt in das Gewand einer heiligen Sprache zu kleiden.

Dieser zionistische Hebraismus ist aber nicht blos aus for- melen Gründen für das Judentum ein Verhängnis. Wir haben in unserer heiligen Schrift ein begrenztes Sprachgut vor uns. Dieser überlieferte Schatz von hebräischen Wörtern und Begriffen ist für uns der Niederschlag des göttlichen Geistes, der in den heiligen Schriften weht. Wir können ohne weiteres annehmen, dass Ge- danken und Anschauungen, die sich diesem Sprachgut nicht zwang- los anpassen lassen, nicht jüdisch, nicht göttlich sind. Nun kommt der Zionismus und annektiert die ganze europäische Gedanken- und Gefühlswelt im Namen der jüdischen Nation für das Hebräische. Muss sich da nicht der verhängnisvolle Wahn erzeugen, dass nach dem Vorbilde der Expansion der hebräischen Sprache auch der hebräische Geist befugt ist, die europäische Kultur wahllos in sich einzusaugen ? Man muss schon sehr kurzsichtig sein, um die in- folge einer durchgängigen Hebraisierung des jüdischen Volkes dem Judentum drohende Infiltrationsgefahr zu unterschätzen. Nicht blos aus praktischen, sondern mehr noch aus prinzipiellen Gründen möge dem jüdischen Volke sein Jiddisch erhalten bleiben.

„Der dritte Grundgedanke endlich bestimmt den poHtischen Charakter unserer Bewegung und fordert die Abwehr aller Be- strebungen, sie zu einer geistigen, Weltanschauung und Lebens- führung ihrer Anhänger regulierenden Sekte zu machen". Es ist nicht überflüssig, den rein politischen, ungeistigen Charakter der zionistischen Bewegung nach zwanzig Jahren energisch zu betonen. Denn weh über die Entartung ! in den letzten Jahren kam ein Kadikalismus auf, „der dem einzelnen Zionisten seine gesamte Weltanschauung und Lebensgestaltung verschreiben will". Dagegen

114 Zwanzig Jahre Zionismus.

soll nun Front gemacht werden. Ein Zionist kann persönlich Meinungen und Anschauungen haben, ganz wie sie ihm passen und gefallen. Die Hauptsache ist Anerkennung des Baseler Pro- gramms. Alles andere ist Privatsache. Noch gefifiu so wie vor zwanzig Jahren. Ist es wirklich nötig, heute noch einmal auf die tiefe Kluft hinzuweisen, die das überlieferte Judentum vom zio- nistischen trennt? Muss wirklich immer wieder von neuem erwiesen werden, dass eine Organisation von Juden für jüdische Zwecke, die ihr Programm mit der^Ausschaltung der jüdischen Religion auf- stellt und zu verwirklichen sucht, sich damit ausserhalb des Juden- tums stellt ? Wir fürchten, wir fürchten, was immer wir heute nach zwanzig Jahren zionistischer Geschichte auch sagen würden, wir würden damit ebensowenig wie damals den Kernpunkt der zionistischen Entartung treffen und vernichten können. Denn wie, aus welchen Motiven wird ein thoratreuer Jude Zionist ? Etwa deshalb, weil er das Wesen des Zionismus geprüft und ihn als eine segensreiche Bewegung erkannt hat ? Wirklich nicht. Mit Prüfungen und Erkenntnissen giebt er sich nicht viel ab. Er wird Zionist, weil er den zionistischen Schlagwörtern zum Opfer fiel, weil der Zionismus aus der Judennot erwachsen ist und von der Heiligkeit und Weihe des jüdischen Mitleidens ein Schimmer auch auf ihn gefallen ist. Er wird Zionist, weil er sich in irgend einer Form nach Vereinigung mit der grossen Schar der Entfremdeten sehnt, die er nicht abgestossen haben will, solange er sich noch durch letzte, leise Gemeinschaftsfäden mit ihnen verbunden fühlt. Er wird Zionist aus Gedankenlosigkeit, Gutmütigkeit, Sentimentalität, Dagegen lässt sich nur schwer an- kämpfen. Heute noch wie vor zwanzig Jahren.

Wird sich der Zionismus nach dem Weltkrieg neuorientieren? Wird er sich vor allem zu den Forderungen seiner orthodoxen Glieder und werden diese sich zu ihm in ein neues Verhältnis setzen? Das wird ganz von der Entwicklungsgeschichte der Agudas Jisroel nach dem Kriege abhängen. Die Agudas Jisroel hat sich vor dem Kriege in ihren politischen Methoden als eine sehr ge- lehrige Schülerin des Zionismus erwiesen. Auch sie war bemüht, ihre Anhänger „auf dem Boden eines Minimalprogramms" und

Zwanzig Jahre Zionismus. ' 115

„nicht wie geistig-kulturelle Strömungen aut dem eines Maximal- programms" zu einigen. Gelingt es ihr nach dem Kreige, durch Aufstellung eines vollkommen eindeutigen Programms sich als die berufene Organisation des Skiij*"' hhD zu legitimieren, dann muss und wird sie durch die zwingende Gewalt der Wahrheit ihres geistigen Prinzips den konkurrierenden Anspruch der zionistischen Organisation aus dem Felde schlagen. Wird aber auch nach dem Kriege die Agudah-Taktik Spuren zionistischer Herkunft verraten, dann muss und wird aus der Angreifbarkeit der Agudas Jisroel nur der Zionismus profitieren.

R. B.

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116 Einmal ist keinmal.

Einmal ist keinmal.

Dieses Sprüchwort ist jjar nicht so dumm wie manche andere, die eine halbe Lüge für eine ganze Wahrheit aus- geben. Einmal ist in der Tat keinmal. Zwar genügt, wenn z. B. ein Mensch den andern mit einem einzigen Revolver- schuss niederstreckt oder ein sonstiges Verbrechen begeht, das nicht erst wiederholt zu werden braucht, um eine grau- sige Untat zu sein, zwar genügt, meinen wir, in solchen Fällen die einmalige Tat und ist hierbei einmal durchaus nicht keinmal, sondern genug und mehr als genug. Gleich- wohl dürfen wir dieses Sprüchwort unserem jüdischen Ge- dankenschatze einverleiben, weil wir darin nichts anderes wiederzuerkennen glauben, als was schon in den Überleg- ungen unserer Talmudweisen eine Rolle spielt, wenn sie mit der Frage sich belassen, ob npin ^:ön nn oder npm ^:a^: nSn, ob die Gewissheit, dass ein Vorgang ein regelmässig wieder- kehrender ist, durch ein zweimaliges oder erst dreimaliges Sichereignen begründet werde, wobei jedenfalls darüber kein Zweifel herrscht, dass ein einmaliges Ereignis zu einer Berechnung seiner wahrscheinlichen Wiederkehr keinen triftigen Anlass bietet, da ein Vorkommnis, das sich nur einmal ereignet, in Bezug auf die Wahrscheinlichkeitsbe- rechnung eiaer künftigen Wiederholung so betrachtet wird, als ob es sich überhaupt nicht ereignet hätte da einmal keinmal ist.

Wir wollen aus der Fülle von Beispielen, die wir der Reihe nach behandeln müssten, um auch nur eine einiger- massen erschöpfende Darstellung unseres Problems zu bieten lj?iön ^w, mnoi, nvpSü, yaw: usw. eines herausgreifen, womit sich der Talmud im Traktat Sanhedrin 81 b befasst.

•^iD 10- ':hQ'f2 Kp Nn3 NDm y^^i^ii inS n^x nahv 'hi^' kS oSa^op nyi^^ nvpSö nno idi mpnno mi^nj?.

Einmal ist keinmal, 117

Wer in die Tiefen dieser Talmudstelle vollends ein- dringen kann, weiss, wie der Talmud über den Begriff des Gewohnheitsverbrechers denkt. Wann wird ein Verbrecher zum Gewohnheitsverbrecher? Wie oft muss er die stratbare Handlung begangen haben, um vor dem Forum der Thora als unverbesserlich zu gelten ?

Einmal ist keinmal. Entweder durch Zwei- oder durch Dreimaligkeit wird ein Vorgang zu einem regelmässigen und mit Gewissheit zu erwartenden. So ist es auf anderen Ge- bieten des Lebens. Gilt diese Berechnung auch für das Gebiet des Strafrechtes ?

Dort, wo wir einem natürlichen Vorgang, einer Natur- tatsache gegenüberstehen, wird man ohne weiteres die Be- rechtigung einer Wahrscheinlichkeitsberechnung einer stetigen Wiederkehr zugeben müssen. Man wird es ohne weiteres verstehen, wenn einer Frau, der in zwei- bezw. dreimaliger Ehe zwei bezw. drei Männer starben, von '3n bezw. rsti>n verboten wird, zum dritten bezw. vierten Male zu heiraten, denn hier wird aus der mangelhaften Kenntnis, |die uns Menschen in biologischen Dingen möglich ist, nur eine Kon- sequenz gezogen, die auch die npTn-Regel ebenso wie die regelmässige Aufeinanderfolge von Blitz und Donner als ein vom Naturschöpfer gesetztes Naturgesetz begreift. Jedoch bei Vorgängen, die sich auf dem Gebiete des freien Men- schenwillens, der freien Menschenhandlung abspielen: sollte hier die Proklamierung der nprn-Regel nicht die Abdankung der menschlichen Willensfreiheit bedeuten? Wie verträgt sich überhaupt die Verhängung einer Todesstrafe mit dem Gedanken, dass kein Mensch so tief sinken kann, dass er jede Möglichkeit einer sittlichen Renaissance verlöre ?

Wir möchten uns nicht in der Fülle der hier auftau- chenden Probleme verlieren, sondern auf eine Unklarheit hinweisen, über die wir beim Studium obiger Talmudstelle nicht hinauskamen. Raschi z. St. bemerkt: prmn ah "12D "lOi

n^S |rrn ah 'yi nnan nc^sS n^S p'S^^yo ah.

118 Einmal ist keinmal.

Während der p'n den Verbrecher narh dreimaliger Aus- ü!)un,^ des Verl)rechens für unverbesser!i("h ei klärt (mi'3V mp^THO), kann nach h^ili^ N2N erst nach dreimaligem Erleiden d<;r mpSö-Strafe Unverbesserlichkeit angenommen werden. (mpnnD nvpSü). Ist dem Verbrecher zum dritten Male die mpSö Strafe verabreicht worden, dann t:itt sofort die riptn ein, die uns berechtigt, ihn für unverbesserlich zu halten. Demge- mäss wäre das Gericht befugt, einen solchen Verbrecher sofort in die hq^d einzusperren und damit nicht erst bis zur vierten Wiederholung des Verbrechen'^ zu warten, wenn die Verhängung der Doppelstrafe von mp'70 und nQ'3 gesetzlich zulässig wäre. Soweit Raschi. Dem hält nun mcDin folgendes entgegen ; Q"va "iD^^nö |^nü> ir\n mp'ino nvpSai p it^iöS pn^ djh Syi

Selbst wenn die Verhängung der Doppelstrafe von mpSö und n£>"'D gesetzlich zulässig wäre, wäre das Gericht keines- wegs befugt, den Verbrecher sofort einzusperren, ohne eine etwaige vierte Wiederholung des Verbrechens abzuwarten. Denn der Grundsatz mpnnö nvphf^ besagt doch im Gegensatz zu dem Grundsatz mp^mö mi'2j? folgendes: Erst nach drei- maliger Verabreichung der mp'ja-Strafe und nicht schon nach dreimaligem Begehen der Sünde tritt die npin ein, wonach das Gericht die Unverbesserlichkeit des Verbrechers annehmen darf, falls auch die dritte mpSü-Strafe nichts nützen sollte. Ob dieser Fall eintreten wird oder nicht, mit anderen Worten : ob der Verbrecher sein Verbrechen zum vierten Male ausüben wird, muss abgewartet werden. Die sofort nach der dritten mpSö-Strafe eintretende npm besteht lediglich darin, dass schon jetzt das Gericht die Gewissheit hat, dass, wenn der Verbrecher zum vierten Male sündigen sollte, eine vierte mpSö-Strafe nicht mehr verhängt werden wird, sondern hb^dS iniN |^djid n'V^i^.

Dieser von 'Din gegen Raschis Bemerkung erhobene Einwand scheint uns so richtig und unwiderleglich und dabei so grundlegend für das Verständnis des Grundsatzes fivpSö mpnnö zu sein, dass wir nicht verstehen, einmal, warum 'Din

Einmal ist keinmal. 119

diesen Einwand in so milder Form '1D1 pm ü:n Svi erhebt und dann, was sich denn Raschi unter dem Grundsatz mpnnö nvpSö eigentlich gedacht hat. Was bedeuten Raschis Worte: ryx Vti>n Nnti>n pTnn^Kl ? Was führt diese npm herbei ? Die Drei- maligkeit des Verbrechens? Dann wäre doch der Grundsatz nipnno nvpSö identisch mit dem Grundsatz mpnnis mn^iy! Die Dreimaligkeit der mpSö-Strafe ? Die dritte mpSö-Strafe an und für sich (d. h. wenn dabei von der Erklärung von 'Din, wo- nach erst die erzieherische Wirkung der dritten Strafe ab- gewartet werden muss, abgesehen wird) kann doch unmög- lich die Unverbesserlichkeit des Verbrechers begründen ! Denn es ergäbe sich doch dann hierbei das paradoxe Re- sultat, dass der Verbrecher nicht durch das dritte Verbrechen sondern durch die dritte Strafe unverbesserlich wird! Dieses kann unmöglich Raschis Meinung gewesen sein. Was aber kann Raschi wohl gemeint haben ?

R. B.

Laz^rettgedanken.

Die Einrichtung der israelitischen Lazarett-Seelsorge ist geeignet, die D''b"in "iip^3 nobn in Vergessenheit zu bringen. Krankenbesuch gehört nicht zu den Reservatrechten israeli- tischer Seelsorger, sondern ist eine der Allgemeinheit ob- liegende Pflicht, der sich jeder Einzelne in Israel zu unter- ziehen hat. Zur nt^nn muss man mnn haben. Zum Besuch von Kranken bedarf es keiner rabbinischen Autorisation. Die spezifisch rabbinische Lazarett-Seelsorge besteht ledig- hch darin, auf Grund der D''^in '\}p'^2 D)Dbr\ die Normen aufzu-

120 Lazarettgedanken.

stellen, die von jüdischen Besuchern jüdischer Lazerettin- sassen zu beobachten sind. Denn auch in dieser Sache nimmt das jüdische Religionsgesetz einen besonderen Stand- punkt ein.

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«

Bei leichteren Erkrankungen liegt es im Interesse der Heilung, dass fremde Personen erst nach dn i Tagen ihrer Besuchspflicht genügen, damii nicht ein vorzeitiger Ueberfall des Kranken eine Verschlimmerung seines Zustandes her- beiführe. Wir dürfen diese Vorschrift nicht durch medizi- nisch-psychologische P>wägungen rationalisieren, der wahre Grund ist vielmehr nbin d::' vbv b'^^rö -'h]ü y^iT^ «H o^n ^J, es könnte für den Heilungsprozess dadurch eine ungünstige Konstellation eintreten, dass der Erkrankte nunmehr in weiteren Kreisen als Kranker gilt. Es liegt hier offenbar etwas ähnliches wie bei dem mystischen V^n p -Glauben vor, in dessen Geheimnis ebenfalls nur ein ine Jenseitssphä- ren heimische Intelligenz einzudringen vermöchte.

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Das Wort Zeitgenosse könnte man hebräisch mit "i'?''J ]2 wiedergeben, wenn das deutsche Wort im alltäglichen Ge- brauch nicht gar zu banal geworden und das hebräische nicht eines der tiefsten und trautesten wäre, die je in irdi- scher Sprache erklangen. Ein Patient verliert ein Sechzigste! von seiner Krankheit, wenn ein Mensch in seine Nähe komml, der in gleicher Stunde wie er das Licht der Welt erblickte. Der "ib^:i p- Glaube setzt eine doppelte Umwälzung des pro- fanen Denkens voraus. Einmal die Ueberzeugung, dass Krankheit und Wohlbefinden zu den seltsamsten Naturwun- dern gehören, zweitens, dass in die Beziehungen zwischen Mensch und Mensch von dem Schöpfer des Himmels und der Erde Heilfaktoren verwelu wurden, von deren Dasein und

Art unsere Stabsärzte keine Ahnung haben.

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Kranke sind viel empfindlicher für alles, was geeignet ist, seelisch weh zu tun, als Gesunde. In gesundem Zustand

Lazarettgedanken. 121

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kann und soll man sich beherrschen. Auf dem Krankenbett ist Selbstbeherrschung eine schwere Kunst. Der Kranke liest in den Mienen seiner Besucher. An der Art und Weise wie sie ihn anschauen und zu ihm reden, erkennt er oder glaubt er die Meinung zu erkennen, die sie über seine Krank- keit haben. Zwei Menschen, die sich verfeindet haben, sollen sich als Kranke nicht besuchen, damit der eine nicht meint, dass der andere über sein Missgeschick sich freue. Dem Kranken sind Anlässe zu innerem Missbehagen in jeder Form zu ersparen.

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Ein rührender Gedanke ist's, dass am Kopfende des Krankenbettes die Schechina, die göttliche Herrlichkeit ruht, und am Fussende der Malach Mamowes, der Todesengel sitzt. Wie weit ist's denn auch von der Krankheit in die Ewigkeil? Vergiss nie, wenn du Kranke besuchst, dass du auf heiligen

Boden, in die Nähe der Schechina, trittst.

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. Beim Weggehen vom Kranken pflegen wir ihm eine „gute Besserung" zu wünschen. Wäre es nicht schöner, wenn wir uns wieder den alten jüdischen Wunsch angewöhnen möchten: ba.-^^-^ -h^n -jiriD T^y oni^ n^'^n? Dieser Wunsch klingt ähnlich wie die Trostforme! bei Trauernden. Wie dort dt'Y Trauernde mit dem Gedaüken der Gesamtheitstrauer, so wird hier der Leidende mit dem Gedanken des Gesamtheits- leidens beruhigt und getröstet- In wahrhaft jüdischen Kreisen sollten sich auch die gesellschaftlichen Formen an den Mass- stäben der Thora orientieren.

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Auch über das, was man unter taktvollem Benehmen in der Krankenstube versteht, erlaubt sich der Gesetzgeber des jüdischen Lebens eine eigeye Meinung au haben. Er gibt den Besuchern das Recht, den Kranken an rechtzeitige Ordnung seiner irdischen Angelegenheiten zu mahnen. Nicht alles, was uns als Privatsache gilt, wird uns vom Religions- gesetz zu „beschnüffeln" untersagt. Im Sinne der Thora gibt

1 22 Lazarettgedanken.

es nur sehr wenige Privatsachen. Der Eine ist tür den An- dern verantwortlich. Mit dem Gedanken der Gemeinbürg- schaft macht die Thora blutigen Ernst. Allerdings wirr! sich dieser Gedanke nur in einer von Thorageist erfüllten gesell- schaftlichen Atmosphäre verwirklichen lassen, ohne dass aus einer konsequenten Betätigung der gegenseitigen Veranl- wortungspflicht die schwersten Friktionen entstehen, die jede

Gemeinbürgschaft illus()risch machen.

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Kranken, denen das Sprechen schwer fällt, sind Besuche zu ersparen. Man beschränke sich da, ausserhalb des Kran- kenzimmers sich nach dem Befinden des Patienten zu er- kundigen und für seine Genesung zu belen. Die Erfüllung der D^bin mp^D-Pflicht ist nämlich keineswegs durch die geist- reichen Gespräche bedingt, die an Krankenbetten gang und

gäbe sind.

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In den unvergesslichen Augusttagen des Jahres 1914, als ein förmlicher Sturm der Begeisterung alle Zeitg' nossen ergriff, drängten sich auch zahlreiche Damen zur Betätigung mannigfacher patriotischer Pflicht. Auch an den Betten ver- wundeter Soldaten erschien die holde Weiblichkeit in grosser Zahl. So gewiss dieses patriotische Pflichtgefühl alle Aner- kennung verdient, so muss doch jene leichtfertige Art, mit welcher die weibliche Jugend vielfach das sehr ernste Ge- schäft der Krankenpflege zu einem amüsanten Sport und Flirt erniedert, ernstlich verurteilt und zurückgewiesen werden. Insbesondere sollten jüdische junge Mädchen nicht vergessen, dass im jüdischen Religionsgesetz feste Normen und Schran- ken auch für Pflegerinnen männlicher Kranken aufgestellt sind, die im Krankenzimmer wohl zu beachten haben, was

jüdischer Anstand und jüdische Sitte befiehlt.

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Wir haben bereits betont, dass Krankenbesuch und Krankenpflege keineswegs zu den speziellen Aufgaben der rabbinischen Seelsorgetätigkeit gehört. Kranke zu besuchen

Lazarettgedanken. 1 23

und zu pflegen, dazu ist Jedermann in Israel verpflichtet. Es gibt aber doch auf dem Gebiete der Krankenpflege eine Betätigungsform, die als speziell rabbinisch betrachtet werden kann: wenn sich nämlich ein Kranker in Gefahr beiludet, dann werden die Angehörigen gut daran tun, den ~\"y2'\t; ddh („Stadtrabbiner") zu bitten, sich mit seinem sicherlich viel wirksameren Gebete um Genesung an Gott zu wenden. Der Glaube nämlich an die besondere Kraft eines Gebetes, das von einem Menschen verrichtet wird, der berufsmässig in göttlichen Dingen lebt und webt, ist durchaus keine Erfin- dung des Chassidismus, sondern zählt, wie so vieles andere ganz unberechtigt abgeblasste, zu den Erbanschauungen und Urvorstellungen der jüdischen Gedankenwelt.

* rbiz py^, zu deutsch: in der heiligen Gemeinde Berlm bestand von altersher der folgende rührend schöne Brauch. Erkrankte Jemand, dann kam, auch wenn die Krankheit noch so leicht war, am dritten Tage nach seiner Erkrankung die Chewra zu ihm und sprach: „Du weisst, dass wir nach alter Gepflogenheit zu allen Kranken kommen. Du brauchst da- rum nicht zu erschrecken. Mache dein Testament und ordne deine irdischen Angelegenheiten. Bekenne Gott deine Sün- den, denn nur dann, wenn der Mensch seine Verfehlungen eingesteht, kann er auf Verzeihung hoffen." Es würde uns interessieren zu erfahren, ob dieser Brauch noch heute besteht in der heiligen Gemeinde Berhn.

R. B.

124 Literarisches.

Literarisches.

Jüdisches Jahrbuch für die Schweiz 1916 17, herausgegeben von der Kommission zur Verbreitung jüdischer Volksbildung in der Schweiz II. Aufl. Verlag des jüdischen Jahrbuchs, Luzern.

Eine lesenswerte Sammlung von Aufsätzen, Nachrichten etc., die über das jüdische Leben ia der Schweiz orientieren. Die S&mmlung enthält auch Abhandlungen über allgemeine jüdische Fragen.

Wisse, was du dem Gottesleugner antworten sollst. Ein Büchlein zur Be- kämpfung des Materialismus von Hermann Cohn, Nürnberg. Frankfurt a. M. Verlag von Sänger und Friedberg.

Wir empfehlen dieses Büchlein als treffliches Mittel zur Erreichung des im Titel ausgesprochenen Zweckes.

Strack, Hermann L., D. Dr. Prof. der Theologie, Geh. Konsistorialrat, Jüdisches Wörterbuch. Mit besonderer Berücksichtigung der gegenwärtig in Polen üblichen Ausdrücke. Leipzig, J. C. Hinrich'sche Buchhandlung 1916. Preis 5 Mark.

Ein Jüdisches Wörterbuch ist eine Notwendigkeit, denn der Verfasser hat wohl Recht, dass eine Sprache von sechs Millionen Menschen unbedingt nach einem solchen Hilfsbuche ruft. Nur dass gerade diese Sprache Ihre Schwierigkeiten in dieser Beziehung bietet; vor allem die vielen Dialekte der jüdischen Sprache, wie man die verschiedenartigen lautlichen Difterencierungen nennen muss, dann die Geistesanlage der Juden und die Unmasse des Wort- schatzes, der immer wieder und überall Worte aufnimmt und verarbeitet, wie fast keine andere Sprache der Welt.

All diesen Anforderungen konnte d^e erstmalige wissenschaftliche Arbeit auf diesem Gebiete nicht gerecht Averden, und Prof. Strack masste zu Hilfsmit- teln greifen, um sich seine Arbeit zu erleichtern. Dass er trotfedem ausser langjährigen Vorarbeiten noch ein volles Jahr ganz dieser Arbeit widmen musste und zwar nur im Interesse der Wissenschaft und des bedrängten Ju- denvolkes, dafür wird ihm die Wissenschalt und werden ihm auch die Juden Dank wissan.

Die Hilfsmittel bestehen darin, fJass er alle dem Deutschen gleichen Ausdrücke wegliess ; dass er der hebräischen Vokalisation sich bediente, und so e^ der einzelnen Gegend überliess, die dort gebräuchliche Vokalisation ein- zusetzen, und dass er die sinngemässe Uebertragung als effektiven Wortwert hinnahm.

Das erstere macht das Wörterbuch für den des Deutschen nicht gsnz Kundigen schwer benutzbar, denn diesem fehlen noch immer Wörter, die er nicht findet; und das letztere ist nicht ganz durchführbar, denn die sinnge- mässen Uebertragungen sind Legion und steigern sich in der Zahl mit der in- tellektuellen Bildung der betreffenden Kreise.

Literarisches. 1 25

Aber das Buch ist eben für den Deutschen bestimmt; nur müsste diesem gesagt werden, dass das Jüdische an der hebräischen Vokahsation nicht über- all festhält: so z. B. bemerkt der Vertasser selbst: n:iJ^l Dagah (gesprochen

' T T :

dage) unterlägst aVer, ausdrücklich zu bemerken, dass fasst überall das ,n t a" am Schlüsse wie ein e auskiingt und ausnahmslos bei zwei gleichlautenden t a in einem Worte immer in e ausläuft; und dies auch in der Schriftsprache zum Ausdrucke gelangt. Das b, be n Il> das eigentlich an Stelle von „mit" oder „in* kommt, wird als Bestandteil des Wortes betrachtet und die Wörter dem- gemäss dem Wörterbuche einverleibt, dasselbe gilt bei m, me f^i Q ^^^ 3 3 und den anderen Suffixen. Die Umschreibungen des Slawischen in den Kon- sonanten erlaubt sich der geehrte Verfasser, wiewohl doch diese ebenso wie die Vokalisation m dem Jüdischen der verschiedenen Gegenden stark variiert: allein auch hier müsste nach diesem Systeme die Originaltorm hingesetzt wer- den mit der Absicht, dem Leser das weitere zu überlassen, denn was im Ver- hältnisse zum Hebräischen die Vokalisation, ist im Verhältnisse lum Slawischen, zum Polnischen und Ru-sischen das komplizierte Konsonantensystem.

Wenn der Verfasser sich eine Eigenmächtigkeit in letzterer Beziehung erlaubt, so sollte er sich dieses auch in bezug auf die Vokalisation leisten, denn das Buch soll doch in erster Reihe Polen berücksichtigen, den dortigen Verhältnissen Rechnung tragen, und dieses sullte dann auch ganz geschehen auch inbezug auf die Aussprache der hebräischen Worte. Werden diese Vokale doch allzuoft in der Schriftsprache durch die reinjüdische Umschreibung ersetzt, ausnahmslos aber schriftlich nicht angeführt, wie soll dann der des Hebräischen nicht Kundige diese Worte lesen können, wie soll ihm dieses Wörterbuch in dieser Beziehung Hilfe leisten?

Eine Anzahl Ausstellungen an den Details des Wörterbuches wurden vom Rezensenten dem Verfasser direkt übermittelt; es wäre sehr erwünscht, wenn dem Buche bald ein Heft mit Ergänzungen folgen möchte.

Strack L. Hermann D. Dr. Geh. Konsistorlalrat, Jüdische Texte, Lasebuch zur Einführung in Denken, Leben und Sprache der osteuropäischen Juden;

Leipzig, J. C. Heinrichs'sche Buchhandlung, 1917.

Nach dem „Jüdischen Wörterbuche" hat der in der jüdischen Welt sehr geschätzte Verfasser auch Jüdische Texte veröffentlicht, und damit sich bestrebt ein geschlossenes Ganzes der Welt zu bieten. Was im Wörterbuch nur in lapidarer Kürze geboten werden konnte, nämlich ein Einbhck in das Denken und in das Leben der Juden, das vermochte er nun durch längere zusammen- hängende grössere Ausschnitte aus Zeitungen und bedeutenderen, jüdisch ge- dachten und jüdisch geschriebenen, Büchern ganz klar und deutlich dem Leser vorzuführen. .Und der geehrte Verfasser zeigte in diesen Texten sein ganzes grosses Mitgefühl mit den so bejam:nernswerten und dennoch trotz ihres Jam- mers noch immer unendlich edlen und feinfühligen Juden; speziell zeigen, von den 15 gebotenen Auszügen, daa 6. und das 7. Stück die Ostjuden auf der

126 Literarisches.

Höhe ihrer Schreibknnst »nd gl-ichzeltig auf der Höhe ihrer bt-sten 8eeli«chen Eigenschiften. Sprachlich hat der Verfassnr seine Aufgabe auf die Weise zu lösen versucht, dass er eine Traiiscription nnternahni, die eine direkt vollstän- dige Zurückiibertragung i . den mit hebräischen Buchstaben geschriebene Ur- text (Tinöglichon sollte; diese Aufgabe ist ihm such v( rziiglich gelungen. Nur scheint der sehr geelirte Herr Verfasser diese seine letzte Aufgabe viel zu ernst genommen zu haben; wir verstehen eine so genau durchgeführte Traus- cription bei den Keilschriften, weil dort auc^ eine nur geringe .Abweichung unübersehbare Fehlschlüsse zeitigen könnte, wie z. B. die grosse Entdecku ig des biblischen Gdttesnamens in den Keilschriften, die sich zuletzt als ein fehlei- hattes Losen entpuppte, oder die Visitonkarte, dir- der König Arjoch von Ela&- öir uns über die kleine Zeitspanne von einigen Jahrtausenden hinüberreichte, und dem die assyriologischen Bibelkritiker lange Zeit die volle fdentitätsaner- kenuung versagten, weil sie es eben mit der Orthographie ucd der Lesart noch nicht ganz richtig genommen hatten. Was aber dort in einer seit Jahrtausenden toten Spracht) vollauf berechtigt und In gründet ist, das mag bei einer leben- den und von siebeu Millionen Menschen gesprochenen Sprache nicht am Platze, und teilweise sogar nachteilig sein. Nicht immer ist das wissenschaftlich Richtige auch das für den allgemeinen, vulgären Gebrauch entsprechend ; es wäre zu wünschen, dass der hochgeschätzte Verfasser, der uns schon so viele Beweise seiner fast unendhchen Liebe für die armen Ostjuden geliefert hat, auah noch in dieser Beriehung seine Leistungen auf dem jiddischen Ge- biete dahin vervollständige, dass er das VerstäTidnis und don Gebrauch der yiddischen Sprache auch handlicher und leichter mache. Wie lautet doch jenes von ihm selbst am En )e seines Textbuches gebrachte jüdische Sprich- wort: men wert nit friher genit, bis men bot sich obgebriht; auch die Forscher auf diesen so verwickelten und so komplizierten Gebieten der jüdischen Dia- lekte müssen zuert an vielem Arbeiten sich abmühen und „abbrühen'', bis sie vollständig alle Eigenheiten erfassen und „genit" m erden, um das wisseuschaft- licn richtig Gebotene auch volkstümlich leicht verständlich und leicht fasslich darstellen zu können. Der geehrte Verfasser, der sich als Erster so unendliche Mühe mit die»er Sache gibt, ist auch der berufenste Gelehrte, der die Lösung dieses neuesten gordischen Knotens unternehmen kann und hofFentiich in seinen nächsten Arbeiten auch durchführen wird. m. w. r. t.

Talmudisches.

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Talmudisches. 127

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DyüD n^TN 'cinr. n^ij^ipi tD"v im^ib n^^::' hd^^d by dd^d G^ncDi k^:idi ,b"] D"n 'pyz pn nv"b i:ivd in« ii;.iDD D\vDjnon d^n^dj ^2^ -n:Dn N^ D^ y'Dina n^tt'ipM :D"Dpn p^o n"iN y"v2'b vmnjriD V't n^N

D^'^D nrn mcDinb n^pin T"yi '^o''^:: a^^y: n^iy ^ny ^:tt'oi t2"VD -iDi HDt^'D biDxb imD "i^^n D"Dy n-iid^j* üM ^"vi njnb^ 110^« Ni-i:> ^^tt'n m^D li^^D^ -iB'k li^Dm d^hd nn^ bin nro ]Din j^ba' nbiyDDi ]vin n? p^^yb n:Dn npo t^b bitt'Di iyn\"i D"yi - Npin bin ir\)D - ta""!^:: D^^y: nTvi» ^Di)i nn^ nDi^b.'D di^o iid^n bi^^^n p^Di n:DnD D"pb b^^m -i"Db djdn^i ND^b h^dh dv^di hd^d biD«b nDii'D -iniQi i^Dn iD:iyb to"v ]:nc« n^mi« ^t by iD^iy to"vb ^li^ii by D"nn n^^ip ^njDn 'ab ^^^y^ ^:i^i .ji^b^n by d::' D"nn b"Dy "hniddd D^^y: riD^ ^DDii Djm dv^^!^ T^ n^snb t:^-' T"^Dbi - pbDib D""inDn HTi n:Dn npo ah bvz'^Di b"iii - rjDn ovvi^'D iich-b tt'^ d"d :3"vd n3"iD b"^v'i 1^'-^ ''D"ny3b n':rpni inziy ib« pidd nicnban dizüd xbi nji-i j<b pbDib D"nno"i b"^ d"ni - tD"i^3 o^w: ya r\2W ^diü D"y n:Dr\2 .yi^nw 1DD VTn D"yi moDin pDi monbon ]^n nwin «nJibo nitt'yb

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128 Notizen.

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Notizen.

Von Herrn S. Hausdorff in Rotterdam gehen uns folgende Notizen zu :

h^ 113 : "V^ .'131 ?]n:: pD iddid nti^iyn : n:t5>ö : 'n ö"^ hdid

Friedricli Delitzsch erzählt in seinem Vortrage: „Im Lande des ein- stigen Paradieses' Stuttgart 1903, S. 42 :

„Von li.ibylon aus machten wir e nen Abstecher nach Fara, drei starke Tagereisen südlich von Babylon, eine Ruinenstätte ältester babyloniech»'r Zeit. Wir hatten zuerst Zelte aufgeschlagen no dwest von dem auszugrabenden Hügel, während unsere Arbeiter sich sogenannte Zreten erbauten (Abb. 34), d. h. Hütten, bestehend aus mehreren paarweise gegeneinander gebogenen und fest verbundenen Schiifrohrbündeln, über welche Schilfmatten gebreitet werden, während die eine oftene Seite mit Erde oder Wüsteusträuchern aus- gefüllt wird."

Der „Nederlandsche Staats-Courant" von Sonnabend, 20. August 1853, berichtete :

„Die französischen Blätter theilen einen Brief mit von Herrn Place, dem Consul von Frankreich in Mossul, betreffend die alterthumskundigen Nach- forschun{i';en, mit denen er von der französischen Regierung in diesem für die biblische Geschichte belangreichen Orte beauftragt ist. Aus dem Briefe geht hervor, dass er an einem belungreichen Punkte durch eine biblisch-' Ueber- lieferung von hohem Alter gehemmt wird. (} genüber Mossul liegt nämlich ein von Menschenhänden aufgeworfener Hügel, der scheinbar sehr wichtige Ueberreste des assyrischen Alterthums enthalten mnss. Herr Place durfte je- doch nicht daran rühren, weil diese Stelle als die Grabstätte des Propheten Jonas gilt und aus diesem Grunde von der ganzen Bevölkerung als ein ge- weihter Ort verehrt wird. Er vernahm bei dieser Gelegenheit, dass das .An- denken an dies 'U Propheten noch anf eine andere Weise lebendig erhalten wird. „In voriger Woche schreibt er hat die Stadt Mossul drei Tage gefastet und dam einen Freudentag gefeiert zur Erinnerung an die ikisse- Uebung, welche von dem Propheten den Bewohnern von Niniveh autgelegt wurde. Dieser Gebrauch wird hier seit undenklihher Zeit geübt ; und als Augenzeuge kann ich versichern, dass eine ganze Studt jährlich eine der ältesten Tatsachen der biblischen Geschicl'te feierlich begeht. Auch die mu- hamedanischen Einwohner feiern dieses Fest an demselben Tage wie die Christen".

== )Q^b -3112 5r-n JUEDISCHE

mONflTSHePTE

herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kolm, Ansbach, unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Salonion Breuer, Prankfurt a. M.

4^ ^

Jahr^aiiff 4. Heft 5

Die Neuorientierung des deutschen Judentums.

Von Dr. Isaac Breuer.

Gott hat gesprochen ! Wer würde nicht Prophet?

Arnos 3, 8.

Wir stehen im letzten, im entscheidenden Abschnitt des Welt- kriegs. Nach Monaten unerhörten Mordens und unermesslicher Gütervernichtung, Monaten der tiefsten Verborgenheit des göttlichen Lenkers unserer Geschicke, beginnt das Chaos langsam Formen anzunehmen, und die Ahnung eines neuen, eines glücklicheren Europa knüpft sich mit schnell erwachter Hoffnung an den Anblick der Eilande, die hie und da aus den Meeren teuren Blutes em- portauchen.

Der Krieg ist werteerzeugend geworden. Diesen Werten aber scheint eine solche Bedeutung innezuwohnen, dass wir vor dem 'ungeheuren Gedanken nicht zurückschrecken, als könnten vielleicht" Einsatz und Erfolg, auf göttlicher Wage gewogen, einander nicht ungleich sein.

Noch umwogt uns ja die brandende Flut der Ereignisse. Jede Woche, jeder Tag beinahe, ändert das Gesamtbild und straft das fertige Urteil mit harter Tatsachenwiderlegung.

130 Die Neuorientierung des deutschen Judentums.

Xoch schmerzen ja auch die Wunden Leibes und der Seele, und neuer Wunden ist immer noch kein Ende.

Aber es ist das Göttliche in uns, das fieberhaft nach dem Göttlichen in all dem Graus späht und nicht eher ruhen kann, als bis es seine Spuren gefunden.

Nicht im Verderben ist Gott. Die freie Selbstbeschränkung Gottes hat das Verderben nur zugelassen, aber Seiner Hände Werk ist das Verderben nimmer. Licht und Frieden gestalten Seine Hände, Nacht aber und Bruch wuchern aus dem Nichts em- por, wo Gottes Freiheit nicht mehr weilen wollte. Licht und Frieden sind Seinsformungen Gottes; in ihnen selber ist Gott. Aber Nacht und Bruch sind unbegreifliche Schöpfungswunder göttlicher Selbstbeschränkung.

Das Böse in der Welt ist Denkmal göttlicher Freiheit. Gott ist nichts wie Güte, aber diese Güte stellt sich das Böse in Frei- heit gegenüber und meistert das Böse zu vorbedachten Zwecken.

Ist es denn mit uns Menschen, mit unserer göttlichen Seele anders? Diese Seele, so göttlich sie ist, erzeugt sich das Böse und wird sich im Bösen ihrer göttlichen Freiheit überhaupt erst bewnsst.

Wie entsetzlich frei sind doch wir Menschen, die diesen Krieg haben bringen könien! Wie unfassbar frei die Güte Gottes, die ihn hat zulassen können 1

Gott hat dem Bösen Raum gewährt in seiner Welt. Wir aber haben das Böse zur furchtbaren Macht ^verden lassen, und also kam der Krieg.

Aber das Böse zum Guten zu wenden, geht über unsere Kraft. Es ist uns wesensfremd, und wollten wir uns seiner bewusst be- dienen, verstrickten wir uns nur umso tiefer in seine verderblichen Netze. '

Drum als das Böse zur Allherrschaft gediehen war, als das grosse Sterben anhub und Hass und Gewalt die Völkerbande zer- schnitt, da erbebte unsere Seele, und in starrer Verzweiflung' sah sie keinen Weg aus dem Unglück.

Den Krieg heraufbringen, das können wir Menschen. So frei sind wir. Aber den Krieg dem Guten zu knechten, das kann nur Gott.

Auf ihn warteten wir drum mit zitternder Inbrunst, warteten Mond auf Mond und warteten vergebens.

Die Neuorientierung des deutschen Judentums. 131

Nur immer böser ward das Böse und immer mächtiger.

Wo blieb Gott, der Schöpfer des Bösen?

Da endlich, da kam's, das Wunderbare, das unvergleichlich Herrliche!

Noch standen die Heere an den Fronten und spieen den Tod einander zu, noch griff der Jammer auf einen neuen Erdteil über und wachs ins Grenzenlose : „Da löste ein Stein sich los nicht von Menschenhand und schlug dem Bild auf die Füsse von Eisen und Ton und zertrümmerte sie da stürzte das Ganze zusammen Eisen, Ton, Kupfer, Silber, Gold der Wind ent- führt sie wie Spreu und sind verschwunden "

Gott hat endlich! zu sprechen begonnen im Krieg!

Der Zar ist verschwunden! Russland frei!

Ein hörbares Seufzen geht durch die verödete Welt: Also doch nicht nur Vernichtung, nur Leid und nur Elend : der Krieg wird produktiv! Gott ist in der Menschheit Geschichte wieder eingezogen. Der Triumph des Guten beginnt.

Frühlingsluft weht vom Osten, Völkerfrühling. Mitten im atembeklemmenden Ansturm gegen die Westfront, im Angesicht der drohenden Welthungersnot, hält Volk für Volk Einkehr bei sich selbst; und sucht sich über das Böse, das zum Krieg geführt, ernste ßecbenschaft zu geben, damit es dem Guten nicht Hemmnis bereite, das Gott dem Bösen entkeimen lässt. Aus der überschweren Ge- genwart hebt sich unsere Seele sieghaft empor und wiegt sich in jugendlichem Hoffen, in tatenfrohen Zukunftsplänen. Neuorien- tierung heisst die Losung. Dem kommenden Guten Stätte berei- ten: das ist ihr tiefster Sinn.

So wie bisher, geht's nicht weiter. Denn das, was war, hat zum Krieg geführt. Das historisch Gewordene muss sich er- neut rechtfertigen und die Vermutung spricht dagegen.

Dass nur der kommende Friede uns nicht als die Alten Avie- derfinde! Dass wir ihn anders besser als ehedem betreuen!

Blutmeere trennen uns von der Vergangenheit, und vor uns winkt Neuland.

II.

Politiker mehmen ihr Programm zur Hand und lesen es sorg- fältig durch, Seite um Seite, Punkt für Punkt, auf dass nicht aus Unachtsamkeit darin stehen bleibe, was die Probe des Krieges nicht ausgehalten hat.

132 Die Neuoricniierung des deutschen Judentums.

Der König von Preussen richtet an sein Volk die frohe Bot- schaft, die aus dem Kriege heute bereits die Folgerung zieht und den Staat auf neue, auf volkstümliche Grundlagen stellt.

Die Partei strengster Abgeschlossenheit verläset den Boden des Grolls und der Verneinung und steht an der Spitze derer, die das Neue, das noch nicht Dagewesene herbeiführen helfen.

Die" Zeit des Säens ist da.

Nicht auch für uns?

Nicht auch für Deutschlands jüdische Orthodoxie?

Hatten wir nichts zu lernen im Krieg? War bei uns vor dem dem Kriege alles so köstlich bestellt, dass wir nur da wieder fort- zufahren brauchten, wo uns der Weltensturm gestört?

Oder hatten nicht vielmehr auch wir ein gerütteltes Mass von Schuld auf uns geladen, dass die Macht des Bösen in der Welt so anschwellen konnte, bis kein Widerstand mehr gegen sie aufkam?

Wie steht es mit unserer Neuorientierung?

Nicht freilich unser Programm hätten wir zu ändern. Unser Programm ist das göttliche Gesetz, das den Wechsel der Zeiten überdauert. Wir aber, wir Juden von heute, waren und sind der Zeit unterworfen, und unser Verhältnis zum Gottesgesetz ist's, das der Neuorientierung bedarf.

Wollen wir uns von den Politikern beschämen lassen? Oder wollen wir uns voll Hochmut darauf beschränken, uns in die Seele unserer russischen Brüder hineinzuversetzen, die ihrer Befreiung entgegengehen, um nns für sie zu orientieren? Gibt's nur ein Ost- judenproblem und kein Problem des deutschen Judentums ?

Oder sollten wir am Ende päpstlicher als der Papst davor zurückscheuen, den Burgfrieden zu verletzen ? Sollten fürchten müssen, dass ein Zurückgreifen auf unseren Stand bei Kriegsbeginn Empfindlichkeiten reizen und alter Wunden schmerz- liche Gefühle wecken könnte?

Krank, bis ins innerste Mark sterbenskrank wäre die deutsche Gesetzestreue, hätten solche Bedenken auch nur den leisesten Schein der Berechtigung. Zur Mumie müsste sie vertrocknet sein, im Starrkrampf den Krieg überdauert haben, gehörten selbst heute für sie die Dinge bei Kriegsbeginn nicht ferner Vergangenheit an. Noch kann, noch darf man's nicht glauben. Betrübliche Ein- zelerscheinungen, die wie verklungene Reminiscensen an längst

Die Neuorientierung des deutschen Judentums. 133

entschwundene Zeiten gemahnen, lassen noch lauge den Schluss nicht zu, dass das Ungeheuerliche Ereignis werden könnte: dass nämlich alles im Weltkrieg sich geändert, und nur die jüdisch- deutsche Orthodoxie dieselbe geblieben.

Aber freilich, dem Zufall, dem blinden Ungefähr dart's nicht überlassen werden. So, wie wir in diesem Krieg geworden sind, üb wir ihn draussen oder drinnen, im Waffenrock oder Bürgerkleid erlebt, so müssen' wir, mit den Augen von heute, an die Zustände unseres Judentums bei Kriegsbeginn herantreten, das Judentum, wie wir es in diesem Krieg von neuem erworben und in Besitz ge- wandelt, müssen wir an diese Zustände als Massstab legen und danach bestimmen, was wert ist, erhalten, was überreif ist, fortge- räumt, was unbedingte Pflicht ist, geschaffen zu werden.

Ein solcher Versuch soll hier unternommen werden.

Es ist der Versuch eines Einzelnen, der nicht weiss, ob er Gleichgesinnten in beträchtlicher Zahl aus der Seele sprechen wird. Der aber seinen Zweck erreicht hat, wenn sein Versuch die Er- örterung unserer Neuorientierung endlich in Gang bringt.

Nicht um Polemik ist es ihm hier zu tun. Ueberhaupt nicht um Personen. Aber die Zustände bei Kriegsbeginn wird er schil- dern, wie er sie heute empflndet, und die Zustände nach Kriegs- ende wird er schildern, wie er sie heute herbeisehnt.

Um seine Legitimation hierzu macht er sich keine Gedanken. Sie stützt sich auf das Wort, das am Eingang dieser Zeilen steht:

„Gott hat gesprochen! Wer würde nicht Prophet!"

III.

Es fällt uns heute fast schwer, uns in die Zeiten zurückzu- versetzen, in denen kein Krieg war. Wie etwas unsagbar Schönes und Herrliches schweben sie uns vor, die Zeiten, in denen es all- gemeines Eiitsetzen hervorrief, wenn ein Mensch eines unnatürlichen Todes *8tarb, die Zeiten, in denen es eine Seltenheit war, dass ein blühendes Dasein jilötzlich abbiach. Denken wir daran, so will es uns scheinen, als habe damals die göttliche Gnadensonne in un- erhörter Pracht die Menschenerde bestrahlt, als müsse es damals eine unerhörte F'reude und Wonne gewesen sein, zu leben und zu wirken. Kaum behelligt vom staatlichen Zwang, in Neigung und Beruf nur wenig gehemmt: wie glücklich sind wir doch allzumal einst gewesen.

134 Die Neuorientierung des deutschen Judentums.

Schon aber bcschleicht uns ein Gefühl tiefster Beschämung. Wir wussten ja gar nicht, wie glücklich wir waren, und verstanden darum mit unserem Glück nichts anzufangen.

Herrlich dünken uns die einstigen Zeiten nur nach ihrer gren- zenlosen Betätigiingsmöglichkeit. Aber was wir in ihnen wirklich getätigt, ist uns klein und gering.

Klein und gering unser Einzeltun. Klein und gering aber auch die öffenthche Leistung der jüdisch-deutschen Orthodoxie.

Wie ein Alpdruck legt es sich uns um die Brust, denken wir an deu wahren Angelpunkt dieser ganzen öffentlichen Leistung in den Jahrzehnten vor Kriegsbeginn: an die unglückselige Austrittsfrage.

Die Völker der Erde sehen wir heute in Jammer und Elend gestürzt. Die Erlösungsbedürftigkeit des Menschentums, das im Staate seine höchste Vollendung erstrebt, ist uns niemals oflfenbarer geworden, als in der Katastrophe dieses Krieges.

Wir aber, denen das Heil zur Pflege anvertraut ist, dem die Völker der Erde einst zustreben werden, die das kostbare Gut ihr eigen nennen, an dem die Völker der Erde die Nichtigkeit ihrer Güter erkennen sollen, wir haben vom Krieg uns überraschen lassen, als -wir gerade im Begriffe waren, an der Aiistrittsfrage uns end- gültig zu ruinieren.

„Im^Stich^gelassen hast du dein Menschheitsvolk, Haus Jaakob!"

Denn die Austrittsfrage ist keine Frage, die in den Mittel- punkt der jüdischen Ideenwelt führt. Sie ist nicht Kernfrage, sondern Vorfrage. Sie betnfft nicht den köstlichen Inhalt des Judenturas, sondern nur 'des Gefäss, das es umschliessen soll. Sie ist die preussische Wahlrechtsfrage der deutsch-jüdischen Orthodoxie.

Die Umgestaltung des preussischen Wahlrechts bedeutet nicht selbst schon Demokratisierung Preussens. Sie ist nur die Voraus- setzung dazu, Bedingung ihrer Möglichkeit.

W^ie drum heute durch ganz Deutschland die Losung geht: Befreiung von der preussischen Wahlrechtslrage Befreiung, also Raumschaffung zu positiver Leistung! , also erfüllt auch uns die tiefe Sehnsucht nach Befreiung von der Ausfrittsfrage, damit wir uns endlich mit voller Kraft und ungeteilter Aufmerksamkeit vom Gefäss zum Inhalt, von der Vorfrage zur Kernfrage wenden können.

Fast vier Jahrzehnte waren bei Kriegsausbruch vergangen, dass wir unablässig am Austritt laborierten. Er beherrschte das

Die Neuorientierung dts deulschen Judentums. 135

öffentliche Interesse. An ihm schieden sich Freund und Feind. Er z.er.splittcrte uns in lauter kleine 'Gruppen: die entschiedenen An- hänger, die entschiedenen Gegner, die theoretischen Anhänger, aber praktisch Tolerierenden, die theoretischen Gegner, aber praktisch Ventilierenden, die Gegner in der Gemeinde, aber Anhänger in der freien Organisation, die Anhänger in der Gemeinde aber Gegner in der freien Organisation, dann noch die Skeptizisten. denen die Frage unlösbar, und endlich die Indifferentisten, denen sie gleich- gültig. Die letzte Gruppe war die kleinste.

Wie konnte solch unermessliche Kräftevergeudung Ereignis werden ?

Woher der furchtbare Mangel au Gesundheit bei uns, dass nicht schon längst von Innen heraus, mit einer Art Naturnotwen- digkeit, Klärung und Erledigung erfolgt ist ?

Wie war die Künstelei der sogenannten Reorganisation des Jahres 1906 möglich, die in den Gemeinden alles beim Alten Hess, in der Gesamtheit aber eine Art von Blockpolitik erstrebte, die alle Gegensätze verkleistern, aber nicht aufheben konnte?

Wie durfte schliesslich, über Gemeinden und deutsche Ge- samtheit hinweg, auf solch schwankenden Grundlagen, zur Welt- diaspora übergegriffen und damit einer Katastrophe entgegengeeilt werden, von der uns nur der Weltkrieg bewahrt hat ?

Vorfrage, nicht Kernfrage ist der Austritt. Solauge wir ihn nicht geklärt haben, mit ihm auf irgend eine Weise fertig gewor- den sind, stecken wir noch in den allerersten Anfängen.

Vier Friedensjahrzehnte haben nicht ausgereicht, uns wesent- lich weiter zu bringen.

Wie lässt sich all das heute, rückblickend, begreifen?

IV. Grossen Zeiten gehen wir entgegen. Der Krieg hat die Grund- lagen der Menschheit augetastet und zwingt die Völker, den Auf- bau der Weltkultur von vorn zu beginnen.

Da wird das Judentum nicht müssig zur Seite stehen dürfen. Vor allem das deutsch-jüdische Element nirht, das mitten im Welt- zusammenhang weilt und der Ueberlieferung die Treue gewahrt hat. Es gab schon einmal solche Zeiten.

Das war, als die Völker Europas den Riesen abgeschütielt hatten, der in seinem Weltreich die Mannigfaltigkeit der Kulturen bedrohte.

136 Die Neuorientierung des deutschen Judentums.

Damals galt es, was die grosse Revolution katastrophal fort- gescliwemnit hatte, nun auch innerlich 7M überwinden, was sie mit hastiger Hand an die Stelle -des Alten gesetzt, evolutionistiscb in Eigenart zu erwerben.

Zeiten voll geistiger Unruhe, aber auch Zeiten voll frucht- barer Ideen.

Im deutschen Judentum begann, nachdem praktisch bereits allenthalben die Gesetzestreue geschwunden war. oder sich wesent- lich verflüchtigt hatte, begann damals erst die geistige Auseinan- dersetzung zwischen Orthodoxie und Reform.

Noch lohnte sich eine solche Auseinandersetzung, Gesetzes- kunde fehlte auf beiden Seiten nicht, und damit war immerhin ein geraeinsamer Boden vorhanden, durch den die Erörterung Sinn und Bedeutung gewann. (

Das waren die Zeiten, in denen sich Orthodoxie und Reform Aug' in Auge gegenüberstanden uiid um den heiligsten Kern des Judentums, sein wahres und echtes Wesen, kämptten. Um Ideen handelte es sich damals, um nichts als Ideen. Wenn man von dem traurigen Versuch gewisser Kreise der Neologie, das Zünglein der Wage mit Hilfe der Staatsgewalt zu ihren Gunsten zu beeinflussen, absieht, war es ein Kampf, nicht unwürdig der grossen Vergan- genheit des deutschen Judentums, weder nach Form noch nach Gegenstand.

Liest man die neunzehn Briefe, so spürt man deutlich den Hauch jener Tage.

Bei allem Kummer über den Überhand nehmenden Abfall doch auch eine unverhohlene Freude über das freie Spiel der sich messenden Kräfte, eine tiefe und klare Erkenntnis der historischen Notwendigkeit der im Fluss befindlichen Auseinandersetzung und ihres Ewigkeitwerts, ein zuversichtlicher Optimismus, dass der Aus- gang des Kampfes die Wahrheit der verfoclitenen Sache erweisen werde.

Eine Stimmung, wie etwa aus der Lessingschen Ringfabel, ist nicht zu verkennen : mathematische Beweise sind hüben wie drüben nicht möglich. Also entwickle jeder Teil in Klarheit seine Lehre und stütze sich auf ihre Werbekraft. Au ihren Früchten sollt ihr die rechte Lehre erkennen.

Wäre es nach diesen Männern gegangen, so hätten Ortho-

Die Neuorientierung des deutschen Judentums. 137

doxe wie Neologe sich in völliger Freiheit, jeder für sich, zusam- mengetan und hätten, mit einander wetteifernd, gelehrt und ge- wirkt, .erzogen und . vererbt : die Geschichte hätte gezeigt, auf welcher Seite Israels Gott.

Es sollte anders kommen.

Als die deutschen Staaten die Juden emanzipierten, glaubten sie sich auch um die jüdische Religion kümmern zu sollen. In übel geleitetem Wohlwollen verliehen sie den vorhandenen jüdischen Gemeinden lokale Zwangsbefugnisse.

Der staatliche Gemeindezwang hat den reinen Kampf der Ideen im deutschen Judentum vergiftet.

Der Gemeindezwang gestattete der jeweiligen Majorität der Gemeindemitglieder, ja selbst dem jeweiligen Gemeindevorstand, die eigene Anschauung vom Judentum der Minorität aufzuzwingen und 4hr jedwede eigene Betätigungsmöglichkeit mit Hilfe des Staates zu rauben.

Nun war es kein Kampf der Geister mehr. Die Neologie. verzichtete mehr und mehr auf die Mittel [der freien Überzeugung und griff zu dem politischen Machtmittel des Zwangs. Die Ortho- doxie sah sich genötigt, zu ihrer Selbsterhaltung den politischen Kampf aufzunehmen.

Das'^Ergebnis dieses Kampfes, der mit dem Wesen des Juden- tums nichts mehr zu tun hatte, sondern ein politischer Kampf ge- gen Gewissensvergewaltigung war, ist bekannt. Die Orthodoxie errang sich in Preussen und Hessen das Austrittsgesetz. Kein ungetrübter Sieg der Gewissensfreiheit. Der Gemeindezwang blieb. Aber die lebenraubende Wirkung ward ihm genommen. Der Orthodoxie eine Tür zur Rettung aufgetan.

Immerhin, es war ein Sieg. Und der Grosse, der ihn er- fochten, mag sich sehr wohl in der Hoffnung gewiegt haben, die Träume seiner Jugend würden sich nun, am Ende seiner Tage, endlich verwirklichen, dass Orthodoxie und Neologie jetzt, da jede künstlich^ Reibungsfläche verschwunden, in Freiheit nebeneinander den edlen Kampf um die Palme des Gottes Israels wieder auf- nehmen und bis zur geschichtlichen Klärung durchführen würden.

Die niederschlagende Würzburger Entscheidung hat diese Hoffnung aufs grausamste enttäuscht.

Als die Neologie" den bedingungslosen Zwang ihren Händen

138 Die Neuorientierung des deutschen Judentums.

entgleiten sah, voll/.oj: sie einen Schritt, der deutlich bekundete, dass sie selber nicht mehr die Ueherzengung von der eindeutigen Wahrheit ihrer jüdischen Lehre hegte: Sie neutralisierte gewisser- massen die Gemeinde und stellte neben die neologen eine Reihe orthodoxer Institutionen hin.

Die Orthodoxie aber spaltete sich. Teile von ihr verblieben mit der Neologie freiwillig im alten Gemeiudeverband, während der Rest auf Grund des Austrittgesetzes die Trennung vollzog.

Damit war zunächst die grosse geistige Auseinandersetzung zwischen Orthodoxie und Neologie auf uid^estimmte Zeit vertagt. Im neutralisierten Gemeindeverband herrschte Ruhe. Spürte man hie und da einen Hauch, so war es der unendlich sanfte Wind, der zum Kompromiss leitete. Die Getrennten aber hatten sich der ihnen durch den neutralisierten Gemeindeverband erwachsenen scharfen Konkurrenz mit Mühe zu erwehren und sahen sich'zudem als Fanatiker verschrien. Zwischen ihnen uud der Neologie stan- den die „Konservativen" als wahre Puffer und fingen die Stösse auf, die einst der Neologie zukamen.

Das freiwillige Verbleiben der Konservativen in der allen Richtungen gerechten Gemeinde gab aber weiterhin der Neobtgie erst den Mut, sich jener Betätigung zuzuwenden, der sie, nach völligen Abflauen des religiösen Interesse, allein noch Neigung entgegenbrachte: der organisatorischen Scheinarbeit.

Die neologen Organisationen, die durchweg das Xeutralitäts- stigma der neologen Gemeinde trugen, riefen Gegenorganisationeii hervor ; diese wieder Organisationen gemässigter Linie.

Das Ergebnis war eine völlige Verflachung des öffentlichen Lebens im deutschen Judentum.

Die „Freie Vereinigung" .leistete Unschätzbares in der Abwehr.

Sie wehrte vor allem die immer wieder auftauchende Orga- nisationsgefahr in Preussen ab, imd opferte dieser Leistung den besten Teil ihrer Kraft.

Sie wehrte den Allgemeinen Rabbinerverband ab.

Sie wehrte den Deutsch-Israelitischem Gemeindebund ab.

Sie wehrte den Verband der Deutschen Jnden ab. |

Sie wehrte den Zionismus ab.

Sie wehrte das Volksschul-Unterhaltuiigsgesetz ab.

Die Neuorientierung des deutschen Judentums. 139

- Sie wehrte noch Hunderterlei ab, wovon hier nicht zu reden ist.

Aber es war doch eben nur Abwehr. Nur Kanopt um Kaum. Nur eine stete Bemühung, die Vorbedingungen zu schaffen, dass sich gesundes jüdisches Leben entwickeln könne. Kampl um die Einzigartigkeit der jüdischen Wahrheit im Ganzen, Kampf um die Sicherstellung ihrer unverfälschten Forttragung. Den Raum, aus dessen Umkreis der Feind verscheucht war, wohnlicher auszuge- stalten, dazu ist sie nur wenig gekommen.

Alles in allem hatte das Antlitz der „Freien Vereinigung" die Züge eines älteren, vielgeplagten Mannes, der sich das Leben recht sauer hat werden lassen und froh ist, wenn er sein sterb- lich Teil in Sicherheit hat bringen können.

Die jüdisch-deutsche Orthodoxie, von ihrem genialen Gründer schier aus dem Boden gestampft, schien iu der Tat schnell ge- altert. Der Austrittkampf. hatte ihre Flügel gebrochen. Aus der Welt der Ideen, in die sie in kühnem Flug sich geschwungen und mit frischer Begeisterung sich eingelebt, war sie plötzlich zur Erde gestürzt und musste nun mühsam sich auf dem mit einem wahren Netz von Organisatonen bedeckten Boden fortbewegen. Sie konnte sich nicht mehr erholen.

Es war ein schweres Wort, das der Würzburger Entscheidung zu Grunde lag : Die Neologie, die für orthodoxe Institutionen Mittel in Bereitschaft stelle, zeige hierdurch, wiewohl sie ihre neologen Institutionen völlig unverändert fortbestehen lasse, zeige durch die nackte pekuniäre Leistung einen erheblich geminderten Grad von Abfall, sodass die religiöse Gemeinschaft mit ihr unter gewissen Kautelen fürder nicht zu meiden sei.

Die religöis- ethische Bereinigung einer neologischen Gemein- schaft durch die nackte Geldleistung, wobei nicht einmal nach der Gesinnung zu forschen ist,, aus der die Leistung geflossen: welch schweres, welch dunkles, welch rätselhaftes Wort ! Wie kommt das Geld auf einmal in den hohen Kampf der Ideen ? Was hat das Geld da zu suchen, wo typische Weltanschauungen mit einan- der ringen und in Gemeinschaften sich auszuwirken streben?

Wie konnte solch ein Wort Wurzel fassen und um sich greifen ?

Der es gesprochen, war ein Sohn alter Zeit. Sein Gegner war weit „moderner".

140 Die Neuorientierung des deutschen Judentums.

Steigert dies das Rätsel oder löst es das Rätsel ?

Es löst das Rätsel.

Die alte Zeit sab in der Reformbewegung: des 19. Jahrhun- derts nichts uls den sündhaften Abfall vom göttlichen Gesetz. Mit dem Abfall als solchem aber giebt es keine Auseinandersetzung. Die europäische Geistesbewegung, deren vereinzelter Ausfiuss die deutsch-jüdisehe Reform ja nur war, kannte die alte Zeit nicht oder wollte sie niclit kennen. Ein System, ein Prinzip des Abfalls war somit für sie nicht vorhanden. Es gab nur Abgefallene, nur „Poschim", wie der Ausdruck so unendlich bezeichnend lautet«, mit dem die alte Zeit die Anhänger der Reformbewegung belegte. Von ihr zu diesen „Poschim" gab es schlechterdings keine geistige Brücke.

Wenn aber für die alte Zeit ein System, eine Weltanschau- ung, eine nachdenkbare Theorie des Abfalls nicht vorhanden war und sie immer nur Einzelne leider Gottes Abgefallene sah, die von ihr geistig gänzlich beziehungslos getrennt waren, so konnte sie diesen einzelnen Abgefallenen gegenüber im Grunde nur eine einzige Forderung erheben : die Forderung nämlich, von ihnen in Ruhe gelassen, in ihrem eigenen gottgefälligen Wandel und Tun nicht gestört zu werden.

Das war's. So paradox es klingt, so wahr ist es: Die gänz- liche geistige, kulturelle Beziehungslosigkeit der alten Z^it gegen- über der Reform, die innere Trennung, die sie von der ersten Stunde vollzogen hatte, bildet die psychologische Erklärung des Würzburger Rätsels.

Nur so, nur psychologisch, nicht logisch, geschweige denn religionsgesetzlich, ist dieses Rätsel zu lösen.

Dröhnend zerschlugen die Frankfurter Axthiebe das religions- gesetzliche Gerüst, das die Würzburger Entscheidung tragen sollte

Aber dem schmerzbebenden, aus wundem Herzen kommenden Hilfruf aus Frankfurt : Du anerkennst mit Deinem Spruch die Gleichberechtigung des Abfalls, Du stützest den Abfall mit Deinem Spruch , diesem Ruf konnte Würzburg nur ein trübes Lächeln entgegenhalten : „Ich soll den Abfall als gleichberechtigt aner- kennen? Ich soll ihn stützen? Aber das sind ja Poschim . . ."

Hierbei ist's geblieben. _

Die Neuorientierung des deutschen Judentums. 141

Gerade bei den „Altjüdischen", den Unmodernen, die dem Kampf der Ideen fern standen, da für sie die Reformbewegung in ihrer in der Moderne wurzelnden Eigenart nicht einmal nachdenk- bar war, hat der 'Austritt den meisten Widerspruch gefunden.

Aber über diese Wenigen, die leicht erklärbar! nicht nur zu der Reform, sondern auch zu ihrem grossen Bekämpfer kein rechtes Verhältnis hatten, wären die letzten vierzig Jahren längst hinweggeschritten, wenn nicht noch andere, weit bedenklichere Umstände hinzugetreten wären, den vorhandenen Gegensatz zu vertiefen und zu verewigen.

Die Zeit nach dem deutsch-französischen Krieg war Ideen nicht günstig. Bismarckscher Wirklichkeitssinn griff über die Politik hinaus auf das ganze geistige Leben über. Eioe Ideen- müdigkeit wuchs empor, ein starkes Misstrauen gegen die Autarkie der Ideen, verbunden mit dem Verlangen, in der Welt der Tat- sachen schnell, möglichst schnell Erfolge zu sehen und zu Macht und Einfluss zu gelangen. Durch Klugheit hoffte man mehr zu erreichen, als durch den fruchtlosen Kampf der Ideen, durch schonende Verhüllung vorhandener Disharmonien weiter zu kom- men, als durch ihre schonungslose Erörterung. Fin de siecle.

Das Würzburger Wort von der Bereinigung durch praktische Leistung schlug in diese Atmosphäre dem Urheber ganz unbe- wusst wie ein befreiender Blitz ein. Da fand man ja, was man wollte. Hier war der Weg geebnet, der aus Tausend un- fruchtbaren ideologischen Bedenken zur befreienden Tat führen konnte. Hier war die Möglichkeit gegeben, statt ängstlicher Flucht in den Winkel mit der Neologie zu paktieren und sie zu praktisch nützlicher Tätigkeit unter konservativer Führung zu bewegen.

Zu den Unmodernen traten so die Übermodernen, Die Männer von gestern erhielten Verstärkung durch die Männer von morgen.

Die Ideenmüdigkeit führte aber nicht nur zur bedenkenlosen, in mehr oder weniger neutralen Organisationen sich ausleben- den Tat,

In dem steten Streben, das Gemeinsame, das Verbindende vorzukehren, und das Trennende, das Tatenstörende vorsichtig zu verschleiern, in der zur steten Gewohnheit werdenden Duldung des religiös Gebrandmarkten gelangte man langsam und unmerk-

142 Die Neuorientierung des deutschen Judentums.

lieh, getragen von der ideenmüden Zeitstimmung, zu einem gewissen religiösen Subjektivismu^^, der hie und da selbst in religiösen Skeptizismus ausartete. Nicht als ob man an der eigenen religi- ösen (jberzeugung irre geworden wäre. Beileibe nicht! Aber das flammende, hinreissende Bewusstsein, Träger göttlicher Wahrheit zu sein, die keinen Übergang kennt zur Unwarheit, das Pathos religiös-sittlicher Verwerfung des Abfalls, dem selbst reines Men- schentum, in seiner Vollendung, nur am Baume des Gottesgesetzes erblüht, diese kostbaren Güter der „alten Zeit" gingen vielfach verloren und machten einer philosophiscli abgeklärten Denkungs- weise Platz, die, bei aller Wahrung des eigenen „Standpunktes", doch auch dem gegnerischen „Standpunkt" vollauf gerecht wurde und von vornherein daraut verzichtete, ihn als Gegensatz zu gött- licher Wahrheit, also als Lüge, zu bekämpfen und ihn als Gegen- satz zum göttlichen Ideal menschlicher Sittlichkeit, also als sittlich unvollkommen, zu verwerfen. Fin de siecle.

Nicht zwar an den Unmodernen, an die es gerichtet war, wohl aber an den Uebermodernen, die hernach erst kamen, ist solchermassen des Ruf aus Frankfurt von der aus der Austrittgeg- nerschaft drohenden Anerkennung der Neologie als gleichberech- tigter Richtung innerhalb des Judentums buchstäblich in Erfüllung

gegangen.

V.

Ein Tei|^ der Orthodoxie des jüdischen Deutschland im Banne religiös-neutraler Organisationen örtlicher und umfassenderer Natur die Gefiihren dieser Organisationen von der sogenannten Ge- samtvertretung der Orthodoxie unter Opferung ihrer besten Kräfte bekämpft und abgewehrt die Idee des Judenturas unter einem Dickicht organisatorischer Geschäftigkeit verborgen nervös und abgespannt durch die aufreibenden Gegensätze unter begrifflich Zusammengehörigen : das war das wahrhaft erschreckende Bild der jüdisch-deutschen Orthodoxie am Vorabend des Weltkrieges. -

Denken wir heute, durch das ungeheure Erlebnis des Weltkriegs zu steter Selbsteinkehr angeregt und wie um Jahrzehnte von ihr getrennt, an diese Zeit zurück, so glauben wir doch manches besser zu verstehen, den tieferen Zusammenhang deutlicher zu begreifen.

Es war ja im Grunde gar nicht der Austritt, der während der vier Jahrzehnte die Wurzel des Uebels bildete.

Die Neuorientierung des deutschen Judentums. 143

Ist es nicht ungemein bezeichnend, von geradezu in die Augen springender Beweiskraft, dass niemals von den Gegnern des Aus- tritts, am wenigsten von ihrem ersten Führer, dem Klügsten und Klarsten, auch nur ein Versuch öffentlich unternommen worden ist, die religionsgesetzlicben Argumente für den Austritt, wie sie in der zweiten Frankfurter Schrift, die von Würzburg unbeantwortet blieb einer der gewaltigsten Streitschriften der deutschen Lite- ratur"— dargelegt sind, einef religionsgesetzlichen Widerlegung zu unterziehen ?

Es war wirklich nicht an dem, dass die deutsch-jüdische Orthodoxie vier Jahrzehnte daran gegrübelt hätte, ob man aus- treten müsse oder nicht.

Ihre Stellung zum Austritt war vielmehr nur ein Symptom, in dem die Strömungen der Zeit sichtbar wurden.

Sonderbar, wie sehr doch die geistige Struktur der Juden in der Diaspora von der geistigen Struktur ihrer Wirtsvölker, selbst bis in die geheimsten seelischen Regungen hinein, bedingt und beeinflusst wird.

Wie entstehen überhaupt solche Strömungen ? Wie verbreiten, wie übertragen sie sich ? Welches ist ihre Gesetzmässigkeit ? Rätsel der Soziologie.

Ja, es war eine dekadente Zeit, die Zeit vor dem Krieg. Gewiss, sie war ideenmüd. Aber sie war auch wiederum ideen- hungrig. Beides zugleich Aber die ursprüngliche, unreflektierte Kraft der restlosen Hingabe, die Einseitigkeit der Persönlichkeit war ihr abhanden gekommen.

Bei uns deutschen Juden trat noch die besondere Schwierig- keit hinzu, von frühester Jugend an sich mit zwei Kulturen zu- rechtzufinden und dennoch ganz zu bleiben.

Dann noch die unendliche Steigerung des Wirtschaftslebens, die den Beruf, den Nahrungszweig, zu einer früher M^e geahnten Bedeutung erhob und schon die einfache Ökonomie der Zeit zu einem ernsten Prol)lem gestaltete.

Gewiss, wir waren orthodox. Aber war uns das Judentum wirklich das, was es zu gelten beansprucht ? War es die Lehre, in der wir sannen Tag und Nacht, war es das unbedingt herr- schende Prinzip unseres Lebens ?

Wir waren nicht anders als unsere deutscheu Staatsgenoss3n.

144 Die Neuorientierung der deutschen Judentums.

Die verwirrende Fälle des Lebens kam über uns, und wir wussten sie nicht zu meistern. Von Leben sahen wir uns ständig angeregt. Aber das Grosse in das Leben hineinzulegen, das ging über un- sere Kraft.

So wurde unser Leben eine tortlaufende Kette von Kompro- missen. Die heterogensten Elemente liessen wir in uns lagern und kamen leidlich dabei aus.

Wo aber so vieles in uns sich %it einander vertragen niusste, warum sollte da schliesslich nicht auch für den seltsamen Wider- streit Platz sein, der in der freiwilligen Zugehörigkeit zur neologen Gemeinschaft nun einmal beschlossen liegt ?

Als ein Bekenntnis war der Austritt aus der neologen Ge- meinschaft von seinem Urheber gedacht. Als ein Vorsatz restloser Hingabe ans Gottesgesetz, Hingabe unserer ganzen Persönlichkeit und alles dessen, was ihr geworden, bis zum letzten Groschen ihrer Habe, bis zum verschwindenden Schatten, den sie wirft. Dem Urheber des Austritts war das Gottesgesetz das verzehrende Feuer, und unsere Persönlichkeit das nährende Brot dieses 'Feuers. Mit welchem Teil seiner in der weissen Glut des Gottesfeuers lodernden Persönlichkeit hätte er freiwillig Mitglied einer neutral-jüdischen Gemeinschaft sein können ?

Ihm war der Austritt die selbstverständliche Konsequenz seiner granitnen Persönlichkeit.

Uns wurde der Austritt Gegenstand unendlich kleinen Zanks.

In diesem Abstand liegt die Entwicklung der letzten vierzig Jahre beschlossen.

Fin de siecle.

Ob für oder gegen den Austritt: Im Grunde hielten wir uns meist die Wage. Geburtsort, Familie, Heirat, Amt: das waren in der Regel die imponierenden Umstände, die unsere Stellung zum Austritt entschieden. Da lässt sich eben nur zanken.

Und Zank gab's genug. Er rieb nnsere Nerven so auf, dass sie überempfindlich wurden. Wir nahmen jede Kritik persönlich und fühlten uns verletzt. Die öffentliche Besprechung unserer Schäden empfanden wir als Ruhestörung. Und wir verschwiegen sie zumeist.

Doch wäre das Bild unvollkommen, gedächten wir nicht des Einen unserer Führer, der den Austritt Avirklich lebte. Unab-

Die Neuorientierung des deutschen Judentums. 145

lässig, imentwegt hat er ihn gelehrt, nachdem er die Fahne er- griffen, die der Hand des Urhebers des Anstritts entsunken war. Er hat ihn so gelehrt, wie er ihn gelebt hat : Als Postulat einer Persönlichkeit, der nicht nur dieses, der jedes Komproniiss auch das mit der Wi'^senschaft ! fremd ist, als lebendiger Mahner einer verkhingenen Zeit, der die Idee alles und die Erdenschwere nichts bedeutete - ; wundert's uns, dass dieser Eine unserer Führer ein Einsamer blieb?

Begonnen l^tte die Erschlaffung der religiösen Energie bei der Neologie. Das Würzburger Kompromiss schuf ihr behagliche Tage. Aber die Erschlaffung hatte sich auch über uns verbreitet. Ein- deutig bestimmte und doch aut der Höhe der Zeit stehende religi- öse Persönlichkeiten zählten auch bei uns mehr und mehr zu den Seltenheiten. Religion ist keine Wissenschaft. Mit der kühlen Ruhe stillen Forschertums ist es. bei ihr nicht getan. Denn wenn auch des Priesters Lippen F^rkenntnis hüten, so fordert man sie nicht als solche von ihm. Als Strom mächtig fortreissender Lehre entquille sie seinem Munde. Denn ein flammender Engel* Gottes sei er.

Das Flammen wort des Austritts: „Wer Gottes ist, her zu mir!" traf ein müdes Geschlecht, Es konnte mit diesem Wort nicht mehr zu recht kommen.

Ein Symptom nur war der vierzigjährige Austrittsstreit.

VL

Denkt ihr noch an die „Richtlinien"?

Der Weltkrieg hat sie fast in Vergessenheit gebracht. Der Fluch der Lächerlichkeit deckt sie und ihre Urheber. Wie Hei- ratsurkunden am Standesamt hängen ihre Thesen an der Schloss- kirche der Neologie: Niemand liest sie.

Und dennoch lohnte es sich vielleicht, ihre Manen nochmals zu beschwören.

Was ging denn damals vor ?

Neologe Geistliche litten unter dem Tiefstand des religiösen Lebens. Es aufzupeitschen, den Kampf der Ideen neu zu beleben, griffen sie zu dem Mittel der Verzweiflung und legten Hand an die Grundvesten des historischen Judentums.

Luther Thesen waren dagegen ein leeres Kinderspiel.

Aber der Luther des 20. Jahrhunderts wurde zum Don Quixote.—

146 Uie Neuorientierung des deutschen Judentums.

Was ertolgte ?

Dies :

Es lehnten die Neologen getreu den Grundsätzen des politi- schen Liberalismus die Bindung selbst nur an die „Richtlinien" als illiberal ab.

Es benutzten die Führer der konservativen Nichtausgetretenen die , Richtlinien" zur Erlangung von in ihren Augen wertvollen Konzessionen des neologen Gemeindevorstands.

Es ergingen Erklärungen der beiden orthodoxen Rabbiner- verbände, bei deren Zustandekommen höchst l)eachtliche Unter- schiede zu Tage traten: selbst gegenüber den „Richtlinien" also keine unbedingte Einhelligkeit.

Dann noch etliche Zeitungsartikel, darunter treffliche wissen- schaftliche Widerlegungen des Systems der „Richtlinien".

Dann noch, namentlich im Rheinland, etliche Volksversamm- lungen. Im Rheinland auch kleine Ansätze zu Neul)il(lungen.

Und dann Ward's still.-

Doch halt! Irgendwo, an einer Stelle, schienen die „Richtli- nien" wirklich eingeschlagen zu haben: Aut der Kanzel des Pracht- baus in der Friedberger Anlage zu Frankfurt lösten sie wirklich man staune ! so etwas wie eine Gibea-Stimmung aus. Unab- lässig knüptte sich dort an sie, auch in den Weltkrieg hinein, die Mahnung zum Kampf für die Gotteswahrheit, zur Scheuchung jedes Kompromisses. . . .

War der Austritt nicht wirklich nur ein Symptom?

VII.

Ruhelos durchschweift unsere Erinnerung die durch den Weltkrieg zum Abschluss gekonimene Epoche der vierzig Friedens- jahre, aber was ihr auch immer begegnet, bestätigt nur unser Urteil.

Ein zuverlässiger Gradmesser für die Energie des jüdisch- religiösen Lebens ist die Stellung, das Ansehen des Rabbiners.

Dieser Punkt braucht hier, heikel wie er nun einmal ist, nur gestreift zu werden. Wir wissen ja alle, was es damit für ein Bewenden hatte.

Unsere Rabbiner waren in ihrem Verhältnis zu den Gemeinde- gliedern mehr und mehr den protestantischen Geistlichen nahe ge- rückt : In den gehobenen Momenten des Lebens versah man sich von ihnen, dass sich das Wort zur rechten Zeit wohl einstelle.

r Die Neuorientierung des deutschen Judentums. 147

1^ Zentralsonnen, die unser geistiges und seelisches Leben beherr- schen sollten, waren sie uns nicht.

Irgend ein Vorwurf kann ihnen hieraus wohl kaum erwachsen. ^ üie Zeit war ihnen nicht günstig.

Wir Hessen sie zumeist ihre Ausbildung an einer »Stelle emp- fangen, in der schon seit Lessings Tagen scharfe Verstandesluft weht. Sie wurden dort im besten Falle 'r.u. ehrlichen Wissenschaft- l lern. Für flammende Eugel war das Klima zu kalt.

Mit deutsch jüdischer Ehrlichkeit haben sie sich dann vielfach

mit zuweilen doch wohl von uns ein wenig unterschätzten! Erfolg

1 bemüht, Talmudisten älteren Schlages zu werden. Aber wir

' waren ja in diesem Betracht gar anspruchslos. Und so hatten

wir schliesslich die Rabbiner, die wir verdienten.

Wir hatten fromme Rabbiner. Wir hatten ehrhche. gebildete, i wir hatten wohl auch kundige Rabbiner.

t Aber hatte nicht die Hand aufs Herz Gerhard Haupt- mann uns mehr zu sagen ?

Zuweilen sind uns unsere Rabbiner auch hierin gefolgt und suchten uns bei Gerhard Hauptmann zu fassen. Aber der Umweg

war wohl zu gross.

Uns wirkliche Führer zu sein, haben viele nicht einmal mehr den Anspruch erhoben.

Aber hätten sie sich auch vorn hingestellt : wären wir ihnen

f" denn gefolgt ?

VIII. Es hat an Versuchen nicht gefehlt, Wandel zu schaffen. Die „Reorganisation" der freien Vereinigung im Jahre 1906 stellt solch einen Versuch dar.

Dieses Unternehmen hatte es in erster Reihe mit dem Ge- gensatz zwischen Frankfurt und Berlin, daneben freilich auch, weniger laut ausgesprochen, mit dem Gegensatz zwischen Frankfurt und Frankfurt zu tun.

Was war denn das für ein Gegensatz zwischen Frankfurt und Berlin ?

Das ist nicht ganz leicht zu sagen.

Der Austritt als solcher Avar es nicht. (Wieder ein Beweis, ^dass er nur Symptom!) Man war ja hüben und drüben „dafür". y Der sachliche Kern des Gegensatzes, wie er sich im Laufe

148 Die Neuorientierung der deutschen Judentums.

der Jahre entwickelt hatte, lag wohl zunächst in der Frage der Ral)biii('rausl)ildung. Man war in Berlin „wissenschaftlich". In Frankfurt war naan es - nicht. Man dozierte in Berlin den Talmud und lernte ihn in Frankfurt. In Berlin war man Exeget und trieb in Frankfurt Tnach.

Die Berliner Wissenschaftlichkeit erstreckte sich aber dann weiter so ziemlich auf alle akuten Fragen des deutschen Judentums.

Waren den Alten die Neologen einfach „Poschim", so wogte in der ersten Blütezeit der zu neuem Leben erwachten Orthodoxie zwischen ihr und der Neologie der heisse Weltanschauungskampf, der Kampf um die Seele, der nur mit vollem Einsatz der Persön- lichkeit geführt werden kann und sich am zermalmendsten gerade gegen solche kehrt, die als Vermittler dazwischen treten wollen oder durch ihr Verhalten den Anschein er- wecken, als gäbe es einen üebergang zwischen Gottes lauterer Wahrheit und dem kläglichen Machwerk der Menschen. Am zermalmendsten! Und zugleich am erbittertsten! Die steigende Erkenntnis der unsäglichen Gegensätzlichkeit der gesaraten Weltanschauung gegenüber der Neologie schafft ein Pa- thos der Distanz, das die Personen völlig hinter der von ihnen vertretenen, mit höchster Leidenschaftlichkeit bekämpften Lehre verschwinden macht. Dieses Pathos der Distanz fehlt aber durchaus gegenüber den Dazwischentretenden. Die Da- zwischentretenden versäumen nicht, laut und feierlich zu l)ekunden, dass ihnen Gottes Wahrheit nicht minder teuer sei als jenen ; sie zeigen dies auch, mehr oder weniger, in ihrer individuellen Le- bensführung. Je mehr sie aber ihrer ganzen Herkunft nach ein- deutig und geschlossen auf Seiten derer stehen müssten, die sich, getragen vom Feuer der religiösen Idee, zusammengeschlossen ha- ben, um ihr mit ihrem ganzen Sein Erdreich und Wachstum zu erstreiten, nur umso brennender müssen diese ihren organisatori- schen Übertritt ins Lager der Feinde als Hemmung und Beein- trächtigung der ideellen Auseinandersetzung, als förmlichen Verrat an der gemeinsamen Gottessache empfinden.

Hier liegt die Wurzel für das so viel verlästerte, so viel be- klagte Verhalten des Urhebers des Austritts und seines Nachfolgers zu den Führern der „Konservativen".

Es war wahrlich keine eigensinnige und beschränkte Recht-

Die Neuorientierung des deulschen Judentums. 149

liaberein hinsichtlich einer nun einmal strittig gewordenen religions- gesetzlichen Eutscheidunp.

Aber sie hatten sie fast allein die Entwicklung der letzten vierzig Jahre nicht mitgemacht. Sie waren da stehn ge- blieben, wo wir einst, in unserer ersten Blütezeit, alle gehalten hatten. Sie fühlten sich, solange es noch eine Neologie gab im deutschen Judentum, in ihrem teuersten Besitztum gefährdet, fühlten sich als Gottesstreiter auf heiligem Boden, befugt und vor ihrem Gewissen verpflichtet, einem jeden von uns die unbedingte Klarheit beisehende Frage vorzulegen, die einst Josua selbst an den Boten Gottes richtete : „gehörst du zu uns oder gehörst du zu unseren Feinden ?"

Wir aber waren über sie, langsam und unmerklich, einfach hinweggeschritten. Man kann es ruhig heute aussprechen : wir hatten uns mit der Existenz der Neologie innerlich einfach abge- funden, unter Anerkennung des Besitzstandes hatten wir still- schweigend Frieden geschlossen.

So wurde der Frankfurter Gottesstreiter mehr und mehr zum Anachronismus.

Berlin aber hatte sich von der müden Zeif nicht überholen lassen. Wenn die Energie religiöser Tatkraft erschlafft, wird Re- ligion zur Wissenschaft.

Der schreiende Gegensatz der Persönlichkeiten ward zum wissenschaftlichen Gegensatz der Methode abgetönt. In emsiger, der Bewunderung nicht unwerter Forscherarbeit handhabte man die eigene Methode und unterzog die wissenschaftlichen Ergebnisse der gegnerischen Methode einer auch bei Christen, die man mit klarer Konsequenz aber höchst bezeichnend! in die Gegner- schaft einbezog, viel beachteten Kritik.

Auch den Austritt handhabte man wissenschaftlich. Den re- ligionsgesetzlichen Gründen des Austritts hat man sich in Berlin niemals entzogen. Aber freilich : mit dem ruhigen Auge des wis senschaftlichen Forschers betrachtet, musste die individuelle ge- setzestreue Lebensführung der in neologischer Gemeinschaft ver- harrenden konservativen Wortführer eitel Wohlgefallen erregen und zu dem wissenschaftlich jederzeit nachweisbaren Ergebnis führen, dass, bei aller bedauernswerten Unstimmigkeit in der einen rcli gionsgesetzlichen Frage, im übrigen Methode, Forschungsergebnis

150 Die Neuorientierung' des deutschen Judentums.

und danach eingerichtetes Sichverlialten einen irgendwie tiefer ge- henden Gegensatz uiclit erkennen lasse, die Unstimmigkeit daher der grundsätzlichen Gesinnungsgenossensehaft keinen Eintrag tun könne. In der Wissenschaft S(dl man nicht rechthaberisch sein.

In der Beurteilung des Vehältnisses zwischen Frankfurt und Frankfurt kam solchermassen das Verhältnis zwischen Frankfurt und Berlii\ zu klarstem Ausdruck.

Es war das Verhältnis zwei grundverschiedener Zeiten.

Nur nicht urteilen ! Nur nicht verurteilen !

Nicht beklagen und nicht belächeln.

Verstehen ist alles.

Kann es uns wundern, dass die „Reorganisation" des Jahres 1906 nicht das ersehnte Ergebnis zeitigen konnte ?

Man kam zusammen. Man sprach mit einander. Aber die bewusste] Zeugen dieses ersten Zusammenkommens sein durften, werden die tiefe Ergriffenheit niemals vergessen, die sie damals durchschüttelte. Wie da der eine Mann, auf den letzlieh alles ankam, in furchtbarstem seelischem Kampf bis an die äusserste Grenze seiner Persönlichkeit schritt und -wie da der Tag, der ihm der schwerste seines Lebens wurde, uns, die wir eine neue Epoche erträumten, mit eitel Freude und Begeisterung er- füllte — mit Freude darüber, dass die Fernen sich getroffen

begeistert im Wahn, dass nur ein Phantom sie getrennt wie

wir, an der. Spitze der hingebende Organisator, von Ortschaft zu Ortschaft zogen, die Kunde, die frohe Botschaft von der neuen Einheit, dem neuen Leben der Orthodxie bis in die entlegensten Weiler zu tragen bis dann, nicht durch besonderes Er- eignis, sondern einfach durch mechanischen Zeitablauf, die lähmende Erkenntnis sich Bahn brach, dass bei allem organisatorischen Erfolg, bei aller Mehrung politischer Stosskraft, bei aller Stärkung mate- rieller Zufuhr nur unendliches diplomatisches Geschick . den Reifen um die auseinanderstrebenden Glieder halten könne, dass aber im neuen Haus im Grunde weder Frankfurt noch Berlin jemals recht heimisch werde : wie ist uns doch heute all das so klar, so verständlich, so einleucht nd in seiner Notwendigkeit so herzzerreissend in seinem Jammer.

Es war unmöglich. Durch Organisation, und war sie noch so genial erdacht und genial gehandhabt, Hess sich das Grundge-

Die Neuorientierung des deutschen Judentums. 151

bresten der Friedens) abre nicht heilen. Ja, es lag in dieser Or- ganisation eher die Gefahr, dass sie das Grruiidgebresten hinter äusseren Erfolgen verschleierte und die Heilung vollends unmög- lich machte.

Wir arbeiteten für die Organisation und arbeiteten nicht an uns.

Den Bruch unserer Seele, die nicht im Feuer des Gottesge- setzes zu unbedingter Einheit zusammenschmolz, verheimlichten wir uns durch Teilnahme an unzähligen Sitzungen, Versammlungen, Festlichkeiteil, Schaustücken und blieben die Alten.

Die immer wieder zu Tage tretenden Gegensätzen suchten wir uns echt fin de siecle durch psychologische Zersetzung von Personen erklärlich zu machen, hatten keinen Sinn für die schwere und dunkle Tragödie der Zeit und setzten an ihre Stelle

die seltsamen Launen des Zufalls und blieben die Alten.

IX.

Aber vielleicht lag es nur daran, dass unser Sinn im engen Raum sich verengert hatte ? Vielleicht hatten wir, unabgelenkt durch wahrbaft grosse Aufgaben, uns zu viel mit uns selber, mit unseren kleinen Wünschen und Fehlern beschäftigt und schliesslich den richtigen Massstab für ihre sachliche Bedeutung verloren ?

Waren nicht im Grunde die Gegensätze innerhalb des Zio- nismus weit wesentlicher, und war es nicht gleichwohl gelungen eine grosse, weltumspannende Organisation zu schaffen, die eine Tribüne besass, auf der alle Gegensätze zu rückhaltlosem, offen- s'em Austrag kamen, die aber auch ein Aktionskomite besass, das über alle Gegensätze hinweg die geschlossene Einheit verkörperte und über alle Theorien hinaus die sieghafte Tat yerwirklicbte?

Waren nicht zudem längst schon alle internationalen Ideen in in- ternationalen Organisationen zum Ausdruck gelangt, und war nicht das Judentum seinen Volksgliedern nach die älteste aller Internati- onalen, seiner Idee nach die verbriefteste aller üniversalismen?

Wäre unser jüdisches Leben wenigstens in seinem Kern ge- sund gewesen, hätte die jüdischeldee die Einheit unseresWesens ausge- macht, und uns nicht dieVielgestaltigkeit urserer Interessen tausend- fach zersplittert, wären wir wirklich gewohnt gewesen , unser jüdisches Tun und Lassen stets und immer unmittelbar von der unserem geistigen Auge vollkommen gegenwärtigen göttlichen Wahrheit bestimmen zu lassen : an der Grösse und Erhabenheit des

152 Die Neuorientierung des deutschen Judentums.

Gedankens der dischen Weltgemeinsehaft wären all unsere zufälligen Fehler wie Schlacken ahgefallen, hätten wir die ganze Fülle der in uns verborgenen religiösen Kraft wieder gewinnen und im eigentlichen Sinne des Worts über uns selber hinauswach- sen müssen !

Es ist anders, ganz anders gekommen.

Nie ist die Dekadenz unseres jüdischgn Wesens grauenhafter zu Tage getreten, als in dem mörderischen Kampf, der um Agudas Jisroel schon vor ihrer Geburt in unseren Reihen ausbrach.

So träumt ein Sterbenskranker von Lel)en, Glück und Ge- sundheit: zur Vermehrung seines Leidens, zur Erhöhung seiner Qual.

Vor unserem Auge stand Gottes heilige Nation, die sein Ruf aus Knechtschaft befreit, sein Wille zur Einheit gestaltet hatte.

Ihre Goluseinbeit wiederherzustellen: so träumte uns.

Ergriff uns nicht ein Schauer bei solch göttlichem Tun ? Läuterten wir uns nicht siebenfach, ehe wir uns anschickten in göttlichen Bahnen zu wandeln ?

Gottes Klall steht in Frage: wer wagt's heranzutreten? - -

Jeder wagte es !

Wir waren von „Mystik" gar frei vor dem Krieg !

Als gälte es, eine Aktiengesellschaft zu gründen, so drängte sich alles heran. Wohlverstanden: nicht, um nicht ausgeschlossen zu sein aus Gottes heiliger Gemeinschaft, sondern unr vornan zu stehen, um Macht und Einfluss zu gewinnen, Sitz und Stimme zu haben !

Niemand besann sich, niemand hielt Einkehr. Keiner legte sich die Frage vor, ob denn all das, was bei uns in den schweren Jahren der Reform geworden, wert sei, in Gottes Gemeinschaft übernommen, in Gottes Gemeinschaft verewigt zu werden.

Selbst bei der Idee aller Ideen, bei dem irdischen Abbild göttlicher Herrlichkeit, selbst bei Klall Jissroel sah unser Auge nur die Organisation.

So tief waren wir gesunken.

Hass, Neid, Intiigue, Verläumdung, Empfindlichkeit, Verletzt- heit, Verbitterung: der ganze Schlamm unserer Seele quoll vor Klall Jissroel empor und schuf eine Luft zum Ersticken.

Vor deti Toren von Klall Jissroel zerstob die Scheineinheit des Jahres 1906 in tausend Trümmer;

Die Neuorientierung des deutschen Judentums. 153

Gebieterisch heischten die konservativen Führer der ueutral- jüdischen Gemeinden Einlass und Anerkennung:

Mit rückhaltlosem Einsatz der bis ins Innerste getroffenen Persönlichkeit deckte Frankfurt die Tore.

Berlin wahrte wissenschaftliche Ruhe.

Die Sünden der vierzig Friedensjahre kamen über unser Haupt.

Das Mass war voll.

Da brach der Weltkrieg aus.

X.

Am Nachmittag des neunten Ab, um die Stunde etwa, da einst unser Tempel in Flammen stand, rief der deutsehe Kaiser das Volk zu den Waffen. Wieder sank ein Tempel, der Tempel des Völkerfriedens, in Trümmer.

Aber heute, im «dritten Kriegsjahre, -wissen wir's: Wie einst der Tempel, den Babylon uns entriss, wie einst der Tempel, den Titus zerstörte, nur Hemmschuh unseres Fortschritts, nur Zeuge unseres Niedergangs gewesen, so hat auch im Tempel unseres Friedens längst schon Gott nicht mehr geweilt, stickiger Rauch ihn erfüllt, lang ehe seine Quadern sanken.

Nicht den Fall unserer Tempel betrauern wir. Totenklage wär's, unschicklich, die Zeiten zu überdauern.

Aber dass unsere Tempel fallen mussten, dass nur ihr Fall uns Rettung bringen konnte, dem allein gilt unsere Trauer.

Männlich ist solche Trauer. Nicht weichliche Wehmut will sie uns bringen. Zu Taten ruft sie uns auf, zu männlichen Taten, die uns wieder bringen sollen, was wir zu besitzen nicht verdient hatten.

Jochanans Geist, der Geist des grossen ben Sakkai, winkt über Jahrhunderte uns zu und bittet und beschwört uns, in der Katastrophe, die uns ereilt und die an Schwere der seinen kaum nachsteht, mit unseren Kräften, mit unseren Mitteln und Gaben zu ihm hin zu streben, Rettung zu suchen, wo er sie gesucht, Mut und Stärke zu holen, wo er sie gefunden.

' Jochanan sei unser Führer ! Denn seine Zeit ist unsere Zeit!

Fand uns der Brand des Tempels nicht hundertfach zerklüftet?

Hat uns der Feind nicht überrascht, wie wir nach dem schwan- ken Rohr der Fremde abgelauschter Organisationen griffen, uns Rettung zu holen, wo nur Eines retten konnte ?

154 Die Neuorientierung des deutschen Judentums.

Schlug nicht das Tera])elfeuer in die schwülste Luft des Bruderhasses, ('er Kränkung der Thoraträger ?

Und vor allem! hatten wir nicht verlernt, vornan die Thora zu segnen ?

Und und decken nicht heute wie damals die

Leichen Tausender unserer Brüder die Felder des Entsetzens ? Sind nicht im Ost, heute wie damals, viele Tausende unserer Teueren in Not und Elend verschleppt? Liegt nicht die Hand des Krieges in doppelter Schwere auf dem heiligen Boden der Heimat ? Die Stätten der Lehre, sind sie nicht verödet ? Die Zentren unserer Kraft nicht tötlich getroffen ?

Drum auf, Brüder! Lasset uns nicht zaudern!

Jochanan sei unser Führer !

Keine Wehleidigkeit ! Keine träge Verzagtheit I

Kennt ihr die Stimmung der Nachmittagsstunde des neunten Aw?

Schon geht der Tag zur Neige, der Tag des Seufzens und Weinens, der Tag erschütterndster Klage : doch wenn die Stunde naht, in der der Tempel sank, da richten wir uns empor, da entflort sich unser Auge und schaut in dem Feuer des flam- menden Tempels das nämliche Feuer, das ihn einst wieder erbaut, und unsere bebende Lippe segnet Israels Gott, der in freier Güte das Böse erschaift, um das Gute damit zu bilden.

Der Nachmittag des neunten Aw ist gekommen I

Lasset uns das Ende des Entsetzens nicht abwarten 1

Lasset uns zusammentreten und lasset uns gleich Jochanan mitten im Entsetzen den Mut der befreienden Tat finden.

XL

Als Trauernde des neunten Aw treten wir denn zusammen !

Was uns einst alles war, ist in weite Ferne gerückt !

Speise und Trank sind unserer Willkür entzogen. Der Staat verwaltet sie und misst sie uns nach eigenem Zweck in seinen Massen zu. Genuss, in dem wir sonst schwelgten, ist uns ver- gällt und deucht uns schal und abgestanden. Das Spiel der Aes- thetik, das uns nur zu oft die Leere des Seins verhüllte, ist vor dem Schicksalsdrama verstummt. Die Grundbedingungen unserer nackten Existenz, ehedem nie angezweifelte Voraussetzung, der Boden, auf dem wir sorglos bauten, in höchsem Sinne in Frage gestellt, wankend unter unseren Füssen. Beruf, dem wir den

Die Neuorientierung d^s deutschen Judentums. 155

besten Teil unseres Selbst, dem wir unsere Seele opferten, klein, gering, bis zur Bedeutungslosigkeit gering, ein lächerlicher Egoismus.

Alles hat der Staat von uns genommen. Alles das durfte er nehmen. Denn auf der Stufenleiter der Zwecke steht er höher, als was er uns nahm. Wir hatten es nur durch ihn. Er hat uns nichts genommen, was er uns nicht zuvor tausendmal schon ge- geben hätte. Er hatte es uns gegeben und hatte es uns geschützt. Nun geben wir es ihm wieder und schützen ihn.

Als Trauernde des neunten Aw weggelegt die Güter der Erde treten wir also zusammen.

Was wir für Selbstzweck gehalten, wichtigen, belangvollen Kern unseres Lebens, ist in seiner Nichtigkeit entlarvt. Dieses Leben selber jeden Eigenwertes beraubt, millionenfach vernichtet. Wahrlich, auch das menschliche Leben bedeutet nichts mehr.

Nun gilt's zu suchen, was wir wirklich sind|, da wir nicht mehr das sind, was wir einstmals hatten.

Brüder, habt ihr gesucht, was ihr seid, und habt ihr euch gefunden ?

Habt ihr nach Sklavenart nur widerwillig hingegeben, was ihr einst hattet, und heult nun nach Sklavenart dem Ver- lorenen nach, dass es euch endlich wiederkomme?

Dann wäret ihr nicht die Männer des neunten Aw ! Dann hättet ihr euch jetzt erst für immer endgültig verloren !

Nein ! Nicht also seid ihr dem Tage entgegengereift !

Von dem, was ihr verloren, habt ihr euch abgeschieden, eben weil ihr's verlieren konntet, und habt euch in dem gefunden, was euch niemand zu rauben vermochte !

Was wir hatten, das ging uns verloren. Und was uns blieb, das sind wir !

Zum neunten Aw ward uns der Weltkrieg !

Verödet sind wir! Aber in uns unser Erbe!

Gefallen ist der Flitter von der Lade. Der organisatorische Prunk, mit dem wir sie sonst behängt, ist zerrissen und tortgefegt. Dem Gottesgesetz stehen wir Aug in Auge gegenüber !

Und siehe— auch dort ein Trauernder. Hilfe suchend streckt uns das Gottesgesetz die nackten Arme entgegen. Heimatlos ist es auch es heimatlos auf Erden ! Heimatlos heute wie vor zweita-asend Jahren ! Unter den Fusstritten der Gewalt erdröhnt

156 Die Neuorientierung des deutschen Judentums.

die Erde, und die Idee findet keine Stätte auf ihr. Nur in der Seele weilt die Idee ^- sie selber eiji Fremdling wie sie.

Männer flcr Idee sind wir, wir Trauernde des neunten Aw. Die Idee unser Beruf, die Idee unser Besitz, die Idee unser eins und alles !

Wir haben dich lange verkannt, du armes Gottesgesetz. Du trauerst schon länger als wir. Als wir noch glanbten Dem zu sein, waren wir längst nicht mehr Dein !

Gewiss, wir haben dich geliebt, als unser ehelich Weib ge- liebt. Aber die Jahre schwanden dahin und das Feuer der Liebe entfloh. Du weiltest in unserem Heim und hattest dein trautes Zimmer. Aber wir hatten daneben auch unsere Zimmer für uns. Du begleitetest uns bei unseren Gängen. Aber deinen Anspruch, stets mit dabei zu sein, empfanden wir schon als lästig. Wir hatten gar wenig Zeit für Dich und zahllose andere Interessen.

Du grämtest dich, denn du warst es anders gewöhnt. Schau- test voll Sehnsucht zum Grab unserer Väter, deren einziges Gut du gewesen.

Xun stehen. wir da, wo unsere Väter gestanden.

Nun haben wir dich endlich, nun hast du uns endlieh wieder.

Dein sind wir geworden, ganz dein.

Du und wir - wir gehören zusammen.

Haben ja nichts auf Erden als Dich hast ja nichts auf Erden als uns.

Nichts als Dich ?

Wie reich, wie überreich sind wir doch mit Dir ! 0 Wonne des Besitzes, o namenloses Glück der Berufung !

Die Völkerherzen sind umgepflügt und harren durstig der Saat.

Eine neue Zeit, eine hohe Zeit bricht an !

Lasst, Brüder, uns die Hände zusammenknoten und feierlich uns geloben

Wie wir in diesem Weltkrieg uns erkannt, so wollen wir für immer bleiben! Fort die Halbheit, fort der Bruch! Ganze Men- schen! Ganze Juden! Ganz Männer der Idee! Ganz Träger göttlicher Wahrheit ! Kommt bald die Zeit, da der Staat uns wie- dergibt, was er uns heute genommen, so wollen wir nie vergessen, dass, was der Staat nur in der Stunde der Gefahr verlangt, die Idee tagtäglich beansprucht : Solange das Gottesgesetz keine Heimat hat auf Erden, ist seine Existenz immerfort bedroht, ist restlose Hingabe Pflicht.

Die Neuorientierung des deutschen Judentums. 157

Der Staatenkrieg geht zu Ende. Der Krieg der Ideen beginnt.

Am Feuer, das den Tempel des Friedens zerstört, entzündet sich das Feuer der Ideen.

Ungeheures steht vor uns zu leisten : Am Wiederaufbau zer- trümmerter Menschheit als Träger göttlicher Wahrheit Hand anzu- legen, göttlichen Ideen Herzen und Geister zu öffnen.

Siehe, der Funke des göttlichen Feuers, der im Zionismus unter Schutt und Geröll glimmt, setzt jetzt die Gemüter dort aufs Neue in Flammen.

Und wir, in deren Brust das ganze Feuer lodert, wollen von ihnen uns beschämen lassen ?

Eine neue Zeit bricht an. Glücklich wer sie als Neuer erlebt

XII.

Dies aber ist die heiligste Aufgabe der Stunde: Der neuen Zeit die Stätte bereiten ! In Flammen ging die Vergangenhei auf. Lasst uns, still und entschlossen, ihre rauchenden Trümmer bei Seite schaffen.

Wo fangen wir an?

Da, wo der Niedergang anfing I

Wir haben die Vergangenheit durchmessen und haben, als die Wurzel ihres Uebels, das Schwinden der religiösen Energie, das Erlahmen der rastlosen Kampfbereitschaft für die religiöse Idee, die Abschwächung des Feuers der Idee zum sanften Licht der Wissenschaft, die Herabsetzung der Allmacht der Idee zu einem blossen religiös-politischen Parteiprogramm erfasst und erkannt.

Die ideenfeindliche, am missverstandenen Bismarck anknüp- fende Zeit, tin de siede, hatte auch uns ergriffen.

Wir hatten die Fähigkeit verloren, galiz der Idee zu leben und, sie tragend, von ihr allein getragen zu werden.

So ist der Austrittsjammer über uns gekommen.

Eine Entscheidung, dunkel und schwer, wie dunkleres und schwereres gar nicht erdacht werden kann, eine Entscheidung, die nur psychologisch notdürftig nachfühlbar ist, eine solche Entschei- dung hat Macht über uns gewonnen und uns aus ihrem Baunkreis nicht mehr entlassen.

Politische Parteien gehen auseinander, weil die Kornzollfrage sie entzweit.

Wir aber, obgleich uns Gottes Wahrheit abgrundtief schied, wir blieben zusammen.

158 Die Neuorientierung des deutschen Judentums.

Nicht die Autorität des Urhebers der Entscheidung hat ihr zu Einfluss verhelfen .

Aber dass sie der Schwäche der Zeit so wundersam entge- genkam, das allein hat sie verewigt.

Der Kampf der Ideen verstummte. Das Prunkkleid der Or- ganisation übe'zog und verhüllte die Idee. In unserem öffentlichen Leben hörte mau nicht mehr viel von der Idee, Man war organi siert und wirkte für seine Organisation. Was dabei für die Idee herauskäme, überliess man der Organisation.

Hier ist der. -Punkt, wo wir einsetzen müssen. Hier trennen sich die Zeiten.

Fort mit dem Schutt der neutral-jüdischen Gemeinde, dieses Denkmals unserer Halbheit! Fort mit dem Schutt jeder neutral- jüdischen Organisation, dieses Feindes des Geistes! Hoch entfalten wir wieder das Panier der Gotteswahrheit und lassen von neuem den alten Ruf erschallen: Wer Gottes ist, hierher! Die Gottes- wahrheit hat unser Wesen entfiamnit, uns endlich zur Einheit ge- läutert : sie wollen wir heimisch machen auf Erden, für sie, un- mittelbar und ausschliesslich für sie, den Gotteskampf zu Ende führen. Au die besten Zeiten der zu jungem Leben erwachten Orthodoxie knüpfen wir wieder an! Neologie und Zionismus, und wie sie alle heissen mögen, die Gottes Wahrheit verfälscht und Gottes Nationalgesetz entthront: wieder, wie einst, fordern wir sie heraus, die Wahlstatt der Ideen zu betreten, den herrlichen, frucht- baren Kampf der Ideen zu führen wir geeint sie geeint

wir hier sie dort und Israels Gott über uns mit uns ! Wunderbare Zeiten nahen ! Nicht mehr der lähmende Kartoffelkrieg um Licht und Luft in der Organisation nicht mehr der ner- venzerrüttende Streit der Personen : der brustweitende, der befreiende Kampf der Ideen steht uns bevor, der uns in die Höhe hebt, der auch der Neologie, auch dem Zionismus Impulse leiht. Freunde wie Feinde zu Männern der Idee wandelt und Gott die Entscheidung anheimstellt. -

Wir wissen es : nicht heute und nicht morgen schwindet der Schutt von vierzig langen Jahren.

Aber wir wissen, wir fühlen es auch: in dem kommenden Kampf der Ideen, der die Völker der Erde, nach diesem Kampf der Materie, mit jugendlicher Kraft durchbrausen wird, muss die

Die Neuorientierung des deutschen Judentums. 159

deutsch-jüdische Orthodoxie, muss das ganze deutsche Judentum wie elende Spreu zerstieben, wenn sie nicht jauchzend in den Chor der Kämpfer sich mischen und Idee mit Idee erwiedern kann.

Unsere Schicksalsstunde ist da. Zum letzten Male wird uns der Becher gemischt. Hat uns nicht einmal der Weltkrieg emporgerüttelt, blieb alles bei uns beim Alten und brächte

uns etwa das Ende des Ringens nichts als den Beginn des

widerlich geist- und ideelosen Streites und Zanks um die preussi- sche Zwangsorganisation mit übersattsam bekannter Frontstellung (die grossen Verbände dafür, Freie Vereinigung dagegen, die neu- tralen Gemeinden dafür, ihre konservativen Führer dafür und dagegen zugleich): am Ekel unserer Besten gingen wir /m Grunde und hohnlachend würfe uns die neue Generation das fade und blutarme Surrogat, das wir an die Stelle der flammenden Gottes- idee gesetzt, endgültig zu unseren Füssen.

Drum wenn auch die Erbschaft der vierzig Jahre nicht im Handumdrehen zn liquidieren ist, so müssen wir dennoch heute schon, unverzüglich,' Sorge tragen, dass ihre Last uns nicht in der neuen Zeit erstickt und die neue Entwicklung verhindert.

Die neutral-jüdische Gemeinde mag erst allmählich, mag erst im kommenden Kampf der Ideen zusammenstürzen und verschwinden.

Heute aber schon müssen wir, für immer, ihre lähmende Wirkung tilgen.

Was wir in vierzig Jahren nicht vermocht, das zu vollbringen finden wir heute die Kraft. In uns die neue Zeit!

Wir treten vor die konservativen Führer der neutral -jüdischen Gemeinden und sprechen also zu ihnen :

„Vierzig Jahre sind es her, dass Ihr unser Lager verliesset und Eure Gesetzestreue ins Lager der Gesetzlosigkeit trugt. Seitdem ist das deutsche Judentum ein Feld geworden, auf dem nur ein Stratege sich auskertnt. Ihr durftet Euch auf eine Ent- scheidung stützen. Aber selbst Avenn Ihr diese Entscheidung, selbst wenn Ihr die Entscheidung dieses Mannes nicht gehabt hättet, Ihr hättet gleichwol nicht anders gehandelt, als wie Ihr handeln musstet. Denn in Euch wirkte die Zeit, die AUesbezwingerin. Euch war das deutsche Judentum nicht mehr in zwei Heere geteilt, die um den dreimal heiligen Gott Israels stritten. Nie wäre es Euch sonst beigekommen, das Lager zu verlassen, das heilig ist, weil Gott

160 Die Neuorientierung des deutschen Judentums.

selbst in ihm \yeilt. Euch schien die Zeit des Ideenkampts vorbei, und die Zeit friedlichen Wirkens im Inneren, geschlossenen, ein- heitlichen Auftretens nach Aussen gekommen Nicht Eure Schuld, sondern die Schuld der Zeit war's, dass Ihr also dachtet. "

,^Aber seht, nun naht eine neue Zeit, die nicht Ihr, die nicht wir, die keiner voraussehn konnte. Der Weltkrie^i; bringt sie her- auf und niemand hindert ihren Gang. Ihre Impulse gilt's der göttlichen Wahrheit, die ja auch die Eure ist, dienstbar zn machen. Sonst schreitet sie über uns hinweg, und das deutsche Judentum, das Euch teuer, ist gewesen."

„Verzeiht, wenn wir es Euch offen sagen, so hart es klingen mag ; wir wollen Euch nicht verletzen, aber das Herz treibt uns dazu : So wie Ihr in den vergangenen vierzig Jahren Euch ver- halten habt, mag es zwar politisch klug und menschlich verständ- lich gewesen sein. Aber von nun an und weiter wird's zur furcht- barsten Gefahr! Ihr habt Euch zu viel um uns gekümmert. Ihr habt um uns geworben, habt uns zu Euch hinüber zu ziehen Euch bemüht. Ihr habt Euch nicht dabei beruhigt, vor Eurem eigenen Gewissen Euren übertritt ins Lager der Neologie rechtfertigen zu können, Ihr habt vielmehr immer wieder und immer wieder auch von uns, von unseren Führern verlangt, dass auch deren Gewissen Euch rechtfertige, auch deren Überzeugung die Unanfechtbarkeit Eures Schrittes bestätige. Nicht als einfache Soldaten wolltet Ihr mittun, wo Gesetzestreue in Selbständigkeit sich zusammenfanden: in Füh- rerstellen wolltet Ihr kommen, um Euer gleiches Recht zu erstreiten".

„Seht, das geht zu weit, das könnt Ihr nicht verlangen. Heute weniger als je. Der Kampf der Ideen bricht aus. Ihm allein gilt fürderhin unser Bund. Da brauchen wir Männer zu Führern, deren letztes Wesensteilchen in göttlichem Feuer glüht, deren Antlitz Schwingen decken, dass sie keine Rücksicht kennen, deren Füsse Schwingen decken, dass keine Kette -an ihnen klirrt, und die uns frei zur Höhe führen."

„Ihr aber, Ihr seid verzeiht es nicht frei. Das neu- tral-jüdische Band, das Euch umschliesst, verpflichtet Euch dienst- lich zu einem Verhalten, bei dem das Band nicht zerreisst. Das Band hindert Euch, ganz so zu sein, wie Ihr es vielleicht gerne sein möchtet. Ihr wisset selbst am besten, warum Ihr dies Band Euch auferlegt. Vielleicht erschien es Euch eines solchen Opfers

Die Neuorientierung des deutschen Judentums. 161

wert, die unmittelbare Fühlung mit derNeologie nicht zu verlieren. Nun, so wendet Euch denn an diese. Versuchet, so weit es geht, selbst im neutral-jüdischen Bund, in der kommenden Zeit die Geo- logie für Gottes lautere Wahrheit zu begeistern. Freut Euch mit jedem, der Euch, entzündet von Euerem Feuer, schliesslich verlässt und zu uns herüberkommt. Wir werden es Euch zu Dank wissen, auch wenn uns Euer Opter zu gross erscheint. Aber von uns, die wir ja nicht erst gewonnen zu werden brauchen, aber von uns lasst ab."

„Wir wissen,, wir muten Euch da nichts leichtes zu. Aber kann Euch dies Opfer so schwer'sein, da Ihr das ungleich schwerere habt bringen können, freiwillig dem neutral-jüdischen Bunde Zeit Eures Lebens dienstbar zu bleiben ?"

„Und es muss sein. Nicht leichtsinnig verlangen wir's von Euch. Im Namen Gottes verlangen wir es, der von uns den Auf- bau seiner verödeten Welt erwartet. Es muss sein. Nicht anders verschwindet der lähmende Zank, der nervenzersetzende Hader."

„Und ist es denn wirklich zu schwer? Die Euch die Führer- schaft weigern, tun es ja nicht aus Hass gegen Euch, nicht aus Geringschätzung, nicht aus Verachtung. Ihre sturmerprobte, auf Gott sich berufende Ueberzeugung ist's, dass nicht sein darf, was Ihr auf Euch nehmt. Ihnen wär's Gewissenszwang, Euch als Führer an ihre Seite zu nehmen. Euch wär's nur Selbstüber- windung, auf die Führerschaft zu verzichten."

„Uns, und ganz gewiss auch Euch, hat der Krieg das Auge geöffnet über das Wesen des Judentums. Zitternd sahen wir Is- raels Gott in Ruhe thronend, indess sintflutlicher Jammer die Menschenerde füllte. Furchtbar ist Israels Gott. Furchtbar drum auch die Verantwortung, die auf Israels Führern lastet. Es giebt kein Recht auf Führerschaft in Israel. Schwere Pflicht ist's, die in Angst und Zagheit übernommen wird, wenn keiner sonst sie erfüllt. Keine Partei sind wir mehr, in der es, nach Art der po- litischen Parteien, um Macht und Einfluss geht. In Eurem Ge- meindeverband, da mögt Ihr ängstlich bedacht sein, dass Euren Rechten keine Eintrag geschehe. Eure Stellung sicher bleibe. Aber sündhaft wär's, unter denen, die sich mit frischer Begeisterung um die Gottesfahne scharen, einen Kampf um die Führerschaft von neuem zu entfachen und nichts als Zank zu erregen. Ihr habf

162 Die Neuorientierung des deutschen Judentumh.

wahrlich an Verantwortimg schon genug zu tragen. Hrum im Namen der Gotteswahrheit, für die wir arbeiten wollen: Verzichtet!"

Also wollen wir zu ihnen sprecheu. und wenn wir nur selber fest sind, werden sie sich unserm Wort nicht entziehen.

Den Rest vertrauen wir der Zeit.

Dann noch der Schutt der preussischen Organisationsbe- strebungen.

Sie, die uns ehedem den besten Teil unserer Kraft geraubt, sie hören auf Gefahr zu sein, wenn uns der Krieg wirklich zu Volljuden hat werden lassen. Das kommende Preusseu wird uns nur organisieren, wenn wir die Organisation verdienen. Versäumt es die Neologie zudem, im kommenden Frieden sich der Idee zuzuwenden, verbleibt ihr auch nach dem Krieg das Judentum nichts als die hohe Schule der Verwaltungskunst, so geht sie rettungslos zu Grunde und wird, wenn wir nur sind, was wir sein sollen, nicht einmal die Kraft mehr finden, für die Or- ganisation zu kämpfon. Lebt aber auch in ihr die Idee wieder auf und entbrennt dann der Kampf der Ideen, so gedeiht selbst der Gedanke an Organisation zu hellem Wahnsinn.

Wenn wir so durch restlose Hingabe unseres ganzen Wesens an die göttliche Wahrheit das bedeutet ja das Austrittsbekennt- nis — den uns zermürbenden Gegensatz der vierzig Jahre innerlich überwinden und damit das Krankheitssymptom : Austritt endgültig Terscheuche^, wenn wir der Organisationsgefahr das neu erwachte Bewusstsein unseres Kämpfertums für die göttlicbe Wahrheit in Gelassenheit entgegenhalten, dann endlich gewinnen wir Zeit und Kraft, uns dem einzigen Gegenstand zuzuwenden, der allein würdig ist, unser öffentliches Leben ganz zu ertüUen :^ der Hebung des Thorastudiums.

Ist der Gedanke nicht furchtbar, dass die Gesammtvertretung der deutsch-jüdischen Orthodoxie dieser Frage aller Fragen sich kaum je widmen konnte ?

Spricht diese eine Tatsache nicht mehr, als alles, was früher über die vierzig Jahre gesagt worden ist ?

Ueber den Austritt debattieren, das verstanden wir alle. „Ein Blatt Gemore leinen" die wenigsten.

Ist es nicht unendlich bezeichnend, dass gerade die Stätte

Die Neuorientierung des deutschen Judentums. 163

des Austrittbekenntuisses die einzige Stätte wurde und blieb, die eine Jeschiwah besass ?

Während wir über Frankfurt uns ärgerten, in Frankfurt den Hemmschuh unserer am Äussern des Judentums haften gebliebenen Pläne und Wünsche erblickten, während wir so gerne über die ganze nichts wie „negierende" Frankfurter Wirksamkeit der letzten 25 Jahre zeterten, hat Frankfurt das Eine vollbracht, das von fast allen unseren Taten allein verdient, den Weltkrieg zu überdauern: Zum ersten Male seit langen Jahren hat Frankfurt auf deutschem Boden deutsche „Bale Battim" ausgestellt, die lernen können.

Hätte Frankfurt sonst nichts getan es könnte zufrieden sein.—

Aber gerade in diesem Punkt mehren sich die Anzeichen unserer glückverheissenden Wiedergeburt,

Ist es ein Zufall, dass mitten im Krieg neue Thoraschulen entstehen ? Ein Zufall dass mitten im Krieg das wissenschaftliche Berlin sich auf Angliederung einer Jeschiwah besinnt ?

Wir werden nach dem Krieg ans ganz diesem unseren schwer- sten, im tiefsten Grunde einzigen Problem zuwenden. Was besagt denn die Idee des Judentums ohne die Stütze des Lernens? Wer ohne gelernt zu haben und ohne ständig zu lernen in die Höhen- luft der Idee sich emporzuheben wagt, der gleicht dem unglück- lichen Flieger, der im luftleeren Raum zu fliegen versucht : ret- tungslos stürzt er ab.

Die sytemati&che Hebung des Lernens in Deutschland sei die erste Friedensaufgabe der Freien Vereinigung. Wenn wir erst einmal die Zeit erleben, dass dieser Punkt einzigen Gegenstand der Beratungen ihres Ausschusses bildet, von Session zu Session immer wieder auf die Tagesordnung gesetzt : dann wird sich uns die Brust voll Freude heben und wir werden wissen: Gott sei

Dank, wir sind genesen.

XHL

Sind's Träume, die hier verzeichnet sind? Wird's Wirklichkeit?

Ich weiss es nicht.

Doch Eines weiss ich : nur wenn der Weltkrieg Epoche macht im Leben der deutsch-jüdischen Orthodoxie, nur wenn er so Epoche macht, wie es hier schwach anzudeuten unternommen worden ist, wird sie am Leben bleiben.

164 Die Neuorientierung des deutschen Judentums.

um das Judentum ist mir nicht bang. Es ist göttlich, also

ewig.

Wir aber sind nicht ewig, und um uns ist mir bang. Drum schrieb ich nieder, was ich auf dem Herzen hatte. Es ist Programm oder Testament. Gott segne Sein Volk mit dem Frieden.

== iDy"? 3itD sr-n JUEDISCHE

mONflTSHeFTE

herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kobn, Ansbach, unter 3Iitwirkung von Rabbiner Dr. Salomon Breuer, Prankfurt a. M.

L^

Jahrgang 4t. Heft 6.

Von der Frankfurter Jeschiwah.

Wir wollen heute einiges über die Frankfurter Jeschiwah sagen. Zwar steht unsere Zeitschrift dem Leiter dei* Frank- furter Jeschiwah näher, als manchem lieb ist hat sich doch vor nicht langer Zeit einmal in öffentlicher Sitzung ein bekannter, aufgeregter Herr aus Süddeutschland gar furchtbar darüber echauffiert, dass der Vorsitzende der Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums es mit seiner Stellung vereinbar findet, an unserer Zeitschrift mitzuwirken nichtsdestoweniger glauben wir so viel Ob- jektivität noch aufbringen zu können, um über die Frank- furter Jeschiwah ein sachliches Urteil abzugeben. Was uns zu unserer Aussprache veranlasst? Nun, ein Artikel im Berliner Jeschurun (IV. Jhrg. Heft 3/4), „Erziehungsfragen in Ost und West", worin der Verfasser, Herr Dr. Wohlgemuth, auf S. 147 ,,einige Vorschläge zur Wiederbelebung des Tho- rastudiums in Deutschland" macht und hierbei die Gründung von Jeschiboth nach dem Muster der Frankfurter Anstalt als den wichtigsten Punkt des nach Friedensschluss neu aufzustellenden Erziehungsprogramms des gesetzestreuen Judentums in Deutschland bezeichnet.

166 Von der Frankfurter Jeschiwah.

Wir wollen zunächst feststellen 1) dass es den Leiter der Frankfurter Jeschiwah mit Genugtuung erfüllen darf, ^^ wenn jetzt auch weitere Kreise die Überzeugung erlangt f haben, dass die Gründung von Jeschiwoth für die deutsche Orthodoxie eine unabweisbare Lebensnotwendigkeit ist; 2) wie schmerzlich die Erfahrung ist, dass erst die Erschütterungen des Weltkrieges hereinbrechen mussten, um das langsame Keimen dieser Überzeugung zu bewirken.

Soll nun für die beabsichtigte Gründung von Jeschiboth in Deutschland Frankfurt a. M. nicht blos honoris causa, sondern faktisch, nicht blos dem Namen nach, sondern in Wirklichkeit das Muster sein, dann ist es nötig, dass man vor allen Dingen in den Geist der Frankfurter Jeschiwoh hineinleuchtet, dass man sich die prinzipiellen Gesichtspunkte klar macht, die von Anbeginn für die Jeschiwoh massgebend waren. Ferner wird es nötig sein, die gegenwärtige Lage des Thorastudiums in Deutschland mit aller Offenheit zu charakterisieren, die Gründe anzugeben, die zu den beste- henden Verhältnissen geführt haben und schliesslich die Frage zu beantworten, was zu tun ist, um das von allen er- sehnte Programm der Neuorientierung theoretisch aufzu- stellen und praktisch auszuführen-

L

Über die zentrale Stellung des sogenannten „Lernens" im jüdischen Lebensprogramm brauchte man nicht viel Worte zu verHeren, wenn hier in allen Kreisen die Praxis der Theorie entspräche. So aber ist es nicht überflüssig, wenn wir betonen, dass jüdisches Denken, jüdisches Fühlen, jüdi- sches Wollen nur als Resultat einer intensiven Beschäftig- ung mit Bibel und Talmud möglich ist. Wir sind unter der Suggestion des national-zionistischen Gedankens sehr leicht geneigt anzunehmen, dass jüdisches Wesen etwas Gegebenes, Überkommenes, Naturnotwendiges sei: Das Gegenteil ist die Wahrheit: Jüdisches Wiesen muss von jeder Generation neu erworben werden. Unser Denken kann nur dann jüdisch

Von der Frankfurter Jeschiwah. 167

werden, wenn wir von Kindheit an gewöhnt werden, bib- Hsch-talmudisch zu denken, wenn wir so früh wie möglich mit dem Geiste unseres religiösen Schrifttums vertraut wer- den. Was heisst aber biblisch-talmudisches Denken? Wählen wir ein beliebiges Beispiel. Das Wesen Gottes und die Göttlichkeit der Thora. Der Schreiber dieses Aufsatzes war jahrelang Hörer der Frankfurter Jeschiwoh, war jahrelang bei den „Haupt"- und „Neben"-Schiurim anwesend, er kann sich aber nicht erinnern, jemals eine Vorlesung über das Wesen Gottes oder die Göttlichkeit der Thora gehört zu haben. Liegt das an einem Mangel des Lehrplans der Frank- furter Anstalt oder kommt in dieser stiefmütterlichen Behand- lung rehgionsphilosophischer Probleme ein Prinzip der Je- schiwoh zum Ausdruck? Wir haben es bei dieser entschie- denen Bevorzugung der spezifisch talmudischen Disziplin mit einer grundsätzlichen Einseitigkeit zu tun, die vor allem darin begründet ist, dass schon aus Mangel an Zeit eine Zersplitterung der wissenschaftlichen Interessen möglichst zu vermeiden ist. Die jüdische Wissenschaft ist so gross und so tief, dass ein allseitigf^s Heimischwerden auf allen ihren Gebieten über die Kraft einzelner sterblicher Menschen geht. Denn nicht blos darin liegt ein wahrhaft tragisches Erzieh- ungsproblem, ob es angängig ist, jüdische Wissenschaft mit nichtjüdischer zu vereinen, sondern auch das ist eine Frage, ob nicht die Interessen der Thora unter einer auf umfassen- de Kenntnis der gesammten jüdischen Wissenschaft hin- drängenden Neigung notwendig leiden müssen. Freilich kommt es hier darauf an, was man unter „Lernen" versteht. Lernen und'Lernen ist nicht dasselbe. Zum Lernen im über- lieferten Sinne es muss ja nicht gerade zur Kategorie des , spezifischen Pilpuls" gehören muss man sich vor allen Dingen Zeit nehmen. In der Gemara, in den Tossa- foth, im „Ma'harscha" gibt es Stellen, die, um mit Wohlge- muth zu sprechen, so „kurios" sind, dass man Stunden, zu- weilen auch tagelang darüber sitzen kann, um sie wirklich und richtig zu verstehen. Sitzen kann, nicht sitzen muss.

168 Von der Frankfurter Jeschiwah.

Denn nicht jeder nimmt sich die Zeit, nicht jeder hat die Ausdauer und vor allem die nötige Liebe zum Lernen, um aus dem ohnehin so kurzen Menschenleben eine Reihe von kostbaren Tagen für die Ergründung eines ' .kuriosen Ma'- harscha" zu opfern.

Verfügte aber selbst ein Jeschiwajünger über die nötige Zeit, um sich mit gleicher Hingebung in ein religionsphilo- sophisches Problem wie in einen schweren Ma'harscha zu vertiefen, so liefe er doch bei diesen philosophischen Neigun- gen leicht Gefahr, sich allmählich dem Geiste des biblisch- talmudischen Denkens zu entfremden. Denn nicht laut und oft genug kann es betont werden, dass im Sinne von Bibel und Talmud die Beschäftigung mit den höchsten und letzten Dingen der Welt ein Vorrecht auserlesener Geister ist, während zum Gemeingut aller als Juden Geborenen die xnm "IKT nvnn, eben jene Partieen unseres heiligen Schrift- tums werden sollen, zu' deren Beherrschung der Schöpfer des Menschen auch Durchschnittsintelligenzen mit dem nötigen geistigen Rüstzeug versah. Wenn sich Max und Moritz über das Wesen Gottes und die Göttlichkeit der Thora allerhand unmassgebliche Gedanken machen, so ist das eine Anmass- ung, die sich ein rechter nyt^'' "^üi, der nicht „doziert", sondern „lernt", der keine „Vorlesungen", sondern „Schiurim" hält, als einen überheblichen Eingriff in das Recht der geistigen Aristokratie Israels ernstlich verbitten wird. Wie kommt so ein naseweiser junger Mann, der nicht einmal alle Abkür- zungen im l"tt> und r"s> richtig entziffern kann, dazu, Gott und die göttliche Lehre vor den wackligen Richterstuhl der Kri- tik seiner unreinen Vernunft zu zerren ?

Und erst die Bibelkritik! In seinem bereits erwähnten Aufsatz schreibt Herr Dr. Wohlgemuth am Schluss, dass die Kuratoren des Berliner Rabbinerseminars die Absicht haben, das Talmudstudium dort auf eine viel weitere Basis zu stel- len, es zu einer Jeschiwah auszubauen, die mit einer Er- weiterung des Lehrkörpers verbunden sein soll. Man hofft aus dem Zuströmen der Schüler, die durch den Eintritt in

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das Seminar nicht den Anspruch auf eine Rabbinatsprüfung erwerben, eben den Gewinn für die künftige Entwicklung, der oben geschildert wurde. Und glaubt doch, dass der leitende Gedanke des verewigten Gründers der Anstalt, der thoratreuen jüdischen Wissenschaft eine Stätte zu schaffen, wo die Auseinandersetzung mit destruktiven Theorien der profanen erfolgen soll, auch bei der Umgestaltung bewahrt werden könne.

So begrüssenswert und originell der Gedanke einer Jeschiwahgründung in Berlin man denke: eine Jeschiwa in Berlin ! auch sein mag, so mögen sich doch die für eine solche Gründung Verantwortlichen nicht verhehlen, dass der Name einer Jeschiwa noch nicht genügt, um das- jenige Gebilde ins'Leben zu rufen, das man sich seit je unter diesem Worte gedacht hat: dass eine Jeschiwa im überlie- ferten Sinne des Wortes vor allem bei der „Auseinandersetz- ung mit destruktiven Theorien" eine ganz andere Methode verfolgt, als sie auf dem':Rabbinerseminar üblich ist. Im selben Heft, worin Herr Dr. Wohlgemuth eine Jeschiwa in Berlin ankündigt, veröffentlicht der Rektor des Rabbinerse- minars, Herr Dr. Hoffmann, einen Aufsatz „Probleme der Pen- tateuchexegese". Die Arbeiten Hoffmanns auf dem Gebiete der Pentateuchexegese werden in weiten Kreisen der deut- schen Orthodoxie als sehr wertvolle Waffen im Kampfe gegen die Bibelkritik im Sinne des DmiTD«"? D^rn'^' n^ Vi geschätzt. Wir haben durchaus nicht die Absicht, Gesinnungsgenossen, die sich erst weitläufig überzeugen lassen müssen, auf welch unwissenschfatlichen Irrgängen die bibelkritische Zerreissung von n^iipn irniin sich bewegt, jene innere Befriedigung zu vergällen, die eine geschickte Apologetik in empfänglichen Herzen zu erzeugen vermag. Nur muss es uns verstattet sein, auch den Empfindungen Ausdruck zu verleihen, die zu Hoffmanns Arbeiten in einem anderen inneren Verhält- nis stehen, als "jener Glaube an die Göttlichkeit unserer heiligen Lehre, der zum sinaitischen Ursprung der Thora auf Umwegen über die Quellen E, J und P gelangt.

170 Von der Frankfurter Jeschiwah.

Wer je einer Jeschiwo es muss ja nicht gerade die Frankfurter sein innerlich nahe war, den wird und muss es. wie ein eiskalter Hauch aus den fernen und fremden Re- gionen unjüdischen Denkens berühren, wenn er in apologe- tischen Schriften, die in wohlmeinendster Absicht dem jüdi- schen Denken einen Dienst zu erweisen glauben, Raschi und Ramban in einem Atemzug mit Kittel und Wel^hausen genannt werden sieht. Es ist das keine Aeusserlichkeit, die sich mit unbedingtem Respekt vor den Grossen unserer jüdischen Vergangenheit vertrüge, in dieser Zusammenstel- lung von Jüdischem und Unjüdischem, unserer alten ü^'Z'iCD mit modernen christlichen Theologen, tritt uns ein Charak- terzug des jüdischen Modernismus entgegen, der so bedenk- lich, so hässlich, so gefährlich ist, dass orthodoxe Literaten ihn peinlichst vermeiden müssen, schon des blossen An- scheines wegen, als wanderten sie auf der Heerstrasse, die in den Abgrund der liberalen Bibel- und Talmudexegese führt. Was ist denn das Kriterium des liberal-jüdischen Denkens ? Die Zerstörung des Heiligenscheines, der das Haupt der Ramban, Raschi usw. bestrahlt. (Fortsetzung folgt).

Der kuriose Mah'rscha und der gute Ton. 171

Der kuriose Mah'rscha und der gute Ton.

I.

„Der kuriose Mah'rscha."

In den „Jüdischen Monatsheften" Jahrgang 4 Heft 3 wird ein Satz aus dem Artikel Erzieh angsfragen in Ost und West" in Wohlgemuth's Jeschurun Jahrgang 4 Heft 1 citiert und aus ihm eine Ironisierung des Mah'rscha her- ausgelesen.

Der Satz wird nur zur Hälfte citiert. Das Citat lautet : ,Da kommt es denn zu solchen Kuriosa, wie dass Mah'rscha, dies Muster eines klaren und nüchternen Kopfes, die Meinung verficht, das Essen des Leviathan in der künftigen Mahlzeit der Frommen wäre durchaus buchstäblich zu nehmen und eine Verleugung wichtiger religiöser Prinzipien in der rationalistischen Auf- fassung sieht . . . ."

Hier bricht das Citat ab, die Schlussworte lauten aber : „während der Sohar, dieser Inbegriff aller Mystik, auf's entschiedenste die gegenteilige An- sicht vertritt".

Der Sinn des Citats,wird so durchaus entstellt. Als Kuriosum wird ja nicht die Anschauung des Mah'rscha hingestellt, sondern der Umstand, dass der Sohar hier die rationalistische, der Mah'rscha die mystische Anschauung vertritt.

Um so unbegreiflicher erscheint es, dass dieser Satz zum Gegenstand eines Angriffes gemacht werden konnte und von dem Autor behauptet wird, er habe von einem kuriosen Mah'rscha gesprochen, als bald darauf (a. a. 0. Seite 10) bemerkt wird; „Wir wollen nicht missverstanden werden. Wir wollen keinem das Recht absprechen, diese und ahnliche Agadas wörtlich zu nehmen. Kein geringerer als R. Salomo ben Adereth hat in einer ganz ausgezeichneten philosophischen Erörterung auszuführen versucht, inwiefern die wörtliche Auf- fassung nicht in Widerspruch steht zu einer hohen Anschauung von der' Art des Lohnes im Jenseits".

Damit entfallen alle in dem erwähnten Artikel gemachten Angriffe.

Was die beanstandete Wendung von der „Periode des spezifischen Pil- pul" betrifft, so verweisen wir auf die Aufsätze des Rabbiners Weinberg „die Jeschiwoth in Russland" (Jeschurun IV Seite 52—59, 107 126) in denen von einem russischen Raw alten Stiles über die verschiedenen Arten des Pilpul eingehend gehandelt wird.

II. Der gute Ton. ^ Von Dr. Emanuel Carlejbach, z. Zt. Warschau.

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„Jeder, der die Weisen verachtet, hat keinen Anteil an der künftigen

172 Der kuriose Mah'rscha und der gute Ton.

Welt, und auf ihn ist anzuwenden der Satz : das Wort Gottes hat er ver- achtet". Zu diesem Ausspruche der Ueberlieferung, der auf Seite 98 der letzten Nummer der „Jüdischen Monatshefte" tfiedergegeben ist, füge ich noch das Wort derselben Weisen hinzu : „Wer seinen Menschenbruder öffentlich beschämt, gilt dem Mörder gleich".

Unter dieser Losung war ich im Begriff, mit einigen zionistischen und nationalistischen Federhelden die Klingen zu kreuzen, die einen der bedeu- ' tendsten Führer des polnischen Judentums in schamloser und verlogener Weise verächtlich zu machen suchten. Ehe ich mich aber an die Adresse meiner ostjüdischen, dem alten Judentum völlig entfremdeten Brüder zu wenden ver. mochte, kam mir Heft 3 der „Jüdischen Monatshefte" zu Gesicht, und ich mnsste mich schweren Herzens entschliessen, unter dem gleichen Motto vor aller Oeflfentlichkeit zunächst mit denjenigen ein kräftiges W^ort zu reden, mit denen ich mich sonst in Lehre und Leben eins weiss und für die unserer Weisen Worte nicht nur geistvolle Gedankensplitter sind, sondern richtung- gebend für ihr Tun und Lassen.

In einigen formschönen und inhaltlich ausserordentlich bedeutungsvollen Artikeln, bedeutungsvoll durch die ihnen innewohnende Kraft der Wahrheit und den Geist grosser Thoraliebe, der aus jeder Zeile spricht, behandelt Herr Dr. Wohlgemuth, Dozent am Rabbinerseminar in Berlin, in seiner vorzüglichen Monatsschrift „Jeschurun" da» Thema „Erziehungaf ragen in Ost und West". Nicht die hohe Wertschätzung und die wohlverdiente Verehrung, die dem ge- lehrten Verfasser alle Kreise der Orthodoxie entgegenbringen, haben allein für diese Artikelserie das Interesse der weitesten jüdischen Oeffentlichkeit in Ost und West erregt, vielmehr der überzeugende Gedankengang, die i-eife, klare Beurteilung aller einschlägigen Verhältnisse und das glühende Streben, am Aufbau und an der Gesundung einer von jedem jüdisch fühlenden Herzen mit Inbrunst ersehnten Unterrichts- und Erziehungsstätte drüben Avie 1 üben mit- zuarbeiten, mitzuarbeiten n2tt'1''b mioy "l"*Tnnb der Krone der Thora die alte Schönheit wiederzugeben, kurz die geschichtlich und wissenschaftlich begrün- dete, in wahrhaft jüdischen Geist gehaltene Darstellung haben diesen Artikeln die gespannteste Aufmerksamkeit gesichert, allseitige Zustimmung und oft be- geisterte Anerkennung eingetragen. Dass dabei ein einzelner Gedanke, oder irgend eine in den Aufsätzen ausgesprochene Ansicht Widerspruch hervorrufen, oder Anlass zu einer Entgegnung, selbst in einer gleichgesinnten Zeitschrift, geben könnte, ist trotzdem nicht ausgeschlossen. Aber der Ton, in dem ein Herr X in den erwähnten „Jüdischen Monatsheften" sich aus Anlass einer solchen, von ihm angefochtenen Bemerkung an Herrn Dr. Wohlgemuth heran- wagt, um ihn selber und die Anstalt, an der er wirkt, in den Augen der Welt verächtlich zu machen, und herabzusetzen, muss jeden anständig und jüdisch denkenden Mann tief verletzen und energischen Protest gegen solch' groben Verstoss gegen den y~\h -i-ii herausfordern, der, w'« aus obigem Ausspruch der Weisen hervorgeht, sehr empfindli h in Sachen des guten Tones ist.

Der kuriose Mah'rscha und der gute Ton. 173

Schon in der Ueberschrift, die er seiner Entgegnung gibt, zeigt sich die Absicht des anonymen Verfassers, auch auf Kosten der unbedingten Wahr- haftigkeit, indem er aut gewiss nicht harmlose Weise Herrn Dr. Wohlgemuth das Wort im Mund herumdreht, den Geist, in dem dieser seine „Erziehungs- fragen" behandelt, zu verfälschen und zu verdächtigen. Oder hat nicht der Ausdruck „Kuriosum" eine viel harmlosere und von einem geringschätzigen Sinn freiere Bedeutung als das . Epltheten „Kurios", das Herr X in seiner Ueberschrift ,,Der kuriose Mah'rscha" dem Herrn Dr. Wohlgemuth als dessen Kritik an dem berühmten ti^iOD unterschiebt ?

Soviel sich auch gegen die äussere Form des Angriffs noch sagen Hesse, ich will zunächst darüber schweigen, um mich erst einmal sachlich mit dem Herrn Anonymus auseinanderzusetzen. Was hat denn Wohlgemuth Himmelstürmendes und -stürzendes geschrieben, dass es auch nur eine kleine Entschuldigung sein könnte für die bissige Erregung, die aus dem Angriff gegen ihn spricht? Auch ich pflichte der Wohlgemuthschen Kritik nicht bei und meine, dass nicht infolge des Abschlusses von den Quellen der Bildung solche Auffassung nur möglich war; vielmehr hätte {<"^"inD Vollbesitz der Bildung seiner Zeit sein und alle D"^n m"Ij{< philosophisch, gedanklich erfassen und doch die Ansicht vertreten können, dass das Essen des Leviathan in der künftigen Mahlzeit der Frommen durchaus buchstäblich zu nehmen sei. Aber besteht das Verbrechen des so leidenschaftlich Angegriffenen darin, dass er überhaupt am i^"^~inö ^i^ß Kritik sich erlaubt, dann frage ich : Ist etwa Samson Raphael Hirsch y'ji], unser unsterbliches Vorbild, davor zurückge- schreckt, in noch schärferer Weise gegen die Auflassung eines d"3Q'i autzu- treten und dessen Ansicht über die Begründung der Opfer mit Recht und all- gemeiner Zustimmung einen Wahnstandpunkt zu nennen? Oder macht man's ihm zum Vorwurf, dass er die wörtliche Auffassung der betreffenden Agadah nicht gelten lassen will hat nicht wiederum Samson Raphael Hirsch y'xjj die gleiche Talmudstelle eine „midraschische Sphinx" genannt und sogar bei Erörterung des Leviathan- Satzes in rT'Vli'"' dargetan, „dass hier unmöglich von dem Töten eines Tieres im konkreten Sinne die Rede sein kann"? oder nimmt Herr X etwa an, dass Hirsch den „kuriosen Mah'rscha" nicht gekannt haben sollte? !

Ganz unf asslich ist mir aber die zwar vielleicht reichlich „andächtige'', dafür aber um so weniger „wissenschaftliche" Art, wie Herr X die Erzählung von Rabbi und Antoninus im Jeruschalmi, Megilla I, 11 auffast. Wo in aller Welt kann jemand hier einen sicheren Beweis dafür erblicken, dass der Talmud selbst die |n''lb fni^C wörtlich aufgefasst haben will ! Der rUVT) ]21p zur Stelle meint jedenfalls : ^i^on DU HDI^D NDH D^1J?b IH^l'PD ■':^^D^<n DNH NDH abW pbn □n'? ^^ D'piyn HIDIN*. Und wenn Herr Dr. Wohlgemuth nach dem in so gönnerhaftem Ton ihm erteilten Rat sich ausnahmsweise ein- mal unter den Talmuderklärern nmschauen wollte, dann würde er violleicht auch auf i^y ']"'\r\^D pNüH DIH^ T"^D l^Db^]n N1DD IDDO nniND N1DD

174 Der kuriose Mah'rscha und der gute Ton.

b"^] DVn ^l'^Tl stossen und liier und in den zur Stelle angeführten Qi^llJ^Nn und D''21~in{< ß'"6 kräftige Bestätigung der Hirscheschen Auffassung von der symbolischen Bedeutung gerade dieser Ueberlieferung finden.

Wenn ich nun den Boden der sachlichen Erwiderung verlasse, die mir bei erneutem Durchlesen der giftigen und beleidigenden Schlusssätze des Ar- tikelchens fast als zu viel Ehre für den so wenig sachlichen anonymen Ver- fasser erscheint, so will ich nur noch konstatieren, dass ich's wohl verstehe wenn man solche Ergüsse nicht mit sejnera eigenen Namen zu decken wagt Mir will's scheinen, als ob der „kuriose Mah'rscha" des Herrn X ein Schul- beispiel dafür sein sollt«, wie sich Herr Y, der nach ihm das Wort ergreift, die Ausschaltung des guten Tones aus dem jüdischen Geistesleben denkt.

Auch mit diesem Anonymus uiuss ich mich noch kurz auseinandei'setzen. Er ruft Esriel Hildesheimer y^^ als Kronzeugen für sich und sein Bedürfnis, den guten Ton aussei'acht zu lassen, auf. Er bedenkt aber nicht, dass ein im gerechten Zorn, im Kampf gegen Verführung und Neologie, wie sie damals die ganze orthodoxe Judenheit herausfordernd auftrat, geschehener heftiger Aus- fall nichts dafür beweist, dass man mit ruhigen massvollen Worten, wie sie Hildesheimer wohl zumeist zu gebrauchen pflegte, nichts erreichen könnte. Von Samson Raphael Hirsch aber behaupten zu wollen, ihm sei der gute Ton fremd gewesen, beweist eme Fremdheit gegenüber seiner Person und seinen Schriften, die Herrn Y das Recht nimmt, sich auf ihn zu berufen. Will Herr Y auch nur eine einzige Stelle in den gesamten von vornehmem Geist getragenen, polemischen Schriften Hirsch's nachweisen, die seinem Ideal vom schlechten Ton, das offenbar auch das des Herrn X ist, auch nur annähernd entspräche?

Nein, lieber Herr Y, im Norden und im Süden giebt es Orthodoxe, die vom Hirscheschen Geist erfüllt sind und damit auch den Wert des Taktes und des guten Tones zu schätzen wissen und deren echt jüdisches Empfinden es ihnen unmöglich macht, unter Ausserachtlassung des guten Tones ihre Neben- mensohen zu beschämen.

Ich j hätte nicht so viel Worte über Selbstverständlichkeiten verloren und es dabei bewenden lassen, die unvornehmen Angriffe auf einen Mann zu- rückzuweisen, den ich als einen pi-iji und Q^n "I\wbn) ^^s eine der wenigen führenden Persönlichkeiten verehre, die wir besitzen. Aber die Gefahr, die ich darin erblicke, daes in einem gesinnungsverwandten Blatte als jüdische For- derung und als Lebenselixier der Orthodoxie die Notwendigkeit dargetan wird, den guten Ton fallen zu lassen und den schlechten auf den Schild zu erheben, zwingt mich zur Abwehr. Den Herren Anonymi aber rufe ich zu : Deckt künftig Eure Geistesprodukte mit Eurem Namen, und Ihr werdet vorsichtiger, taktvoller, vornehmer sein in dem, was Ihr schreibt.

Der kuriose Mah'rscha und der gute Ton. 175

Nachbemerkung der Redaktion. Die Entrüstung des Herrn Dr. Carlebach über die Ar- tikel unserer Mitarbeiter X und Y beruht auf Missverständ- nissen, die wir richtigstellen müssen. Wir lassen es dahin- gestellt, ob der wahre Kern, den diese Artikel unzweifelhaft enthalten, nicht überzeugender hervorgetreten wäre, wenn unsere Mitarbeiter in den Ausstellungen am Aufsatze des Herrn Dr. Wohlgemuth und im Nachweis der mannigfachen Schädlichkeiten des sogenannten „guten Tones" eine verbind- lichere und liebenswürdigere Form gewählt hätten. Unter allen Umständen hätten wür aber die Aufnahme dieser Ar- tikel verweigert, wenn sie, was durchaus nicht der Fall ist, etwas enthielten, was nur entfernt als persönliche Belei- digung irgend einer Persönlichkeit mit Recht aufgefasst werden könnte. Zwischen Schärfe in der Form und straf- barer Injurie ist doch wohl^ ein Unterschied. Wenn X. seinen Artikel mit den M^orten „Der kuriose Mah'rscha" überschrieb, so wollte er damit keineswegs Herrn Dr. Wohlgemuth „das Wort im Munde herumdrehen", um den „Geist, in dem die- ser seine Erziehungsfragen behandelt, zu verfälschen und zu verdächtigen", diese Wortumstellung hatte vielmehr ledig- lich den Zweck, der Indignationsempfmdung, die eine Stelle im Aufsatze Wohlgemutss bei Herrn X. ausgelöst hatte, einen möglichst präzisen Ausdruck zu verleihen. Dass diese eine Stelle in der Tat geeignet ist, Unwillen hervorzu- rufen, wird Niemand bestreiten können, der die Tendenz des liberalen Judentums kennt, die Gedankenwelt eines Mah'r- scha und der anderen Grossen der jüdischen Vergangenheit als rückständig, weil mit der sog. „Bildung" unvereinbar, zu diskreditieren. Ausdrücklich wird ja das Kuriosum, dass bezüglich des Leviathans der Sohar die rationalistische, der Mah'rscha die mystische Anschauung vertritt, von Wohl- gemuth auf den Abschluss des Mah'rscha von den „Quellen der Bildung" zurückgeführt, und wenn nun HerrX. in berechtigtem Unwillen darüber, dass hier eine Per- sönlichkeit vom Range des Mah'rscha- der seit Jahrhunderten,

176 Der kuriose Mah'rscha und der gute Ton.

wie X. SO treffend sagt, „mit allen Merkmalen höchster und hehrster n^'iip in der Seele von ha^"^' S^D lebt" Mangel an Bildung nachgesagt wird, so war, meinen wir, unser Mitar- beiter mindestens so berechtigt, sich an Herrn Dr. Wohlge- muth „heranzuwagen", wie Herr Dr. Wohlgemuth an den Mah'rscha sich „heranzuwagen" sich getraute. Denn Mah'r- scha wird ja schliesslich nicht blos von Herrn Dr. Carle- bach, sondern von hai)if' SSd als „pnit und ddh n^oSn" verehrt.

Wenn auch sicherlich Herr Dr. Wohlgemuth bei seinem Urteil über den ,, ungebildeten", „unphilosopltischen" oder, um mit X. zu reden, ,, kuriosen" Mah'rscha subjektiv einer Ueberhebung sich nicht bewusst gewesen ist konstatiert er., doch in einer Anmerkung zu seinem Aufsatze, dass er keineswegs dem Mah'rscha ,,das Recht absprechen" will, die Leviathan-Agada wörtlich zu nehmen, denn kein geringerer als R. Salomo ben Adereth habe auszuführen versucht, „in- wiefern die wörtliche Auffassung nicht in Widerspruch steht zu einer hohen Anschauung von der Art des Lohnes im Jenseits" (wobei uns allerdings Herr Dr. Wohlgemuth noch eine Erklärung des Kuriosums schuldig bleibt, dass man, von den Quellen der Bildung abgeschlossen, wohl zu einer hohen, nicht aber zu einer philosophischen Anschauung von der Art des Lohnes im Jenseits zn kommen vermag) so muss doch, objektiv betrachtet, die Tendenz, aus welcher die Wohlgemuthsche Charakteristik des Mah'rscha erfloss, gleichwohl als eine überhebliche bezeichnet werden. Und zwar aus folgendem Grunde. Am Schluss der ge- nannten Anmerkung heisst es : „Was festgestellt werden muss, ist nur das : Hat der Mah'rscha für den Gesamtgeist des gesetzestreuen Judentums die dogmatische Forderung auszusprechen : „Wisse, dass wir alle diese Dinge nach dem einfachen Wortsinn zu glauben haben." Was unter „Gesamtgeist des geselzestreuen Judentums" zu verstehen ist es ist das eine Lieblingswendung des Herrn Dr. Wohl- gemuth — macht man sich wohl an besten klar, wenn man

Der kuriose Mah'rscha und der gute Ton. 177

an den Satz der Mechanik vom Parallelogramm der Kräfte denkt Es wäre in der Tat sehr wünschenswert, dass es möglich wäre, aus dem Widerstreit der dogmatischen An- schauungen die für den Gesamtgeist des gesetzestreuen Ju- dentums bezeichnende Resultante zu gewinnen. Die Sehn- sucht nach dieser Resultante darf aber niemals zu einem voreiligen Urteil über eine Anschauung des Mah'rscha ver- leiten, solange nicht einmal die grundlegende Vorfrage er- ledigt ist, ob nicht schon am Ende darin ein arger Verstoss gegen den Gesamtgeist des gesetzestreuen Judentums liegt, in Zeiten allgemeiner religiöser Verirrung und Verwirrung den Ruf nach dieser Resultante zu erheben. Solange 'der Prophet Elijahu, dem ja die Lösung aller talmudischen Kuriosa vorbehalten ist, mit seinem Kommen noch zögert, scheint es uns dem Gesamtgeist des gesetzestreuen Juden- tums entsprechender zu sein, dass orthodoxe Rabbinerbildner im Urteil über eine Anschauung des Mah'rscha sich zumin- dest einer ehrfürchtigen Reserve befleissen, statt sie mit der so modernistisch anmutenden Hypothese eines Mangels an Bildung zu begründen.

Nicht die Tatsache, dass Herr Dr. Wohlgemuth an einer Ansicht des Mah'rscha sich eine Kritik erlaubte, nein, die so modernistisch anmutende Begründung dieser Kritik : sie war's, durch die Herr X. sich indigniert fühlte und zu einer entsprechend scharfen Abwehr sich veranlasst sah- Deshalb fällt auch der Hinweis Dr. Carlebachs auf das Urteil Samson Raphael Hirschs h"T> über den More Nebuchim des Rambam in sich selbst zusammen. Der schwere Miss- brauch, der noch heute in den Kreisen des liberalen Juden- tums mit dem More Nebuchim getrieben wird, ist eine un- widerlegliche Bestätigung dafür, wie berechtigt die schweren Bedenken waren, denen dieses Werk schon zur Zeit seiner Entstehung begegnete. Und wenn S. R. Hirsch gelegentlich eines historischen Rückblicks in den 19 Briefen auf den Ent- wicklungsgang der durch den More Nebuchim ausgelösten Impulse auch ^darauf zu reden kam, wie die moderne Un-

178 Der kuriose Mah'rscha und der gute Ton.

treue gegen das überlieferte Gesetz historisch in diesem Missbrauch des More Nebuchim verankert ist und dabei in gerechter Entrüstung über diesen Missbrauch den „guten Ton" so schroff" beiseite Hess, dass er kein Bedenken trug, von „Wahnstandpunkt" zu sprechen, so ist dieses tempera- mentvolle Sichbekennen zu der grossen und stolzen Schar der Gegner der maimunischen Philosophie nur der Tendenz der energischen Abwehr jeder liberalen Verunglimpfung un- seres geheiligten Erbgutes entsprungen, der gleichen Ten- denz, die es Herrn Dr. Wohlgemulh hätte verbieten müssen, bei seiner Kritik des Mah'rscha in den Jargon des liberalen Bildungsdünkels zu verfallen.

Vollends unbegreiflich ist uns aber, was Herr Dr. Car- lebach zur Rechtfertigung Wohlgemuths getan zu haben glaubt, indem er auf die „midraschische Sphinx" hinweist, als welche S. R. Hirsch die Talmudstelle über den Leviathan erschiem und auf die Darlegung S. R. Hirschs, dass im Levi- athan-Satze des Jesaia „unmöglich von dem Töten eines Tieres im konkreten Sinne die Rede sein kann". Nicht die Auffassung des Leviathan-Midraschs steht in Frage. Hätte Wohlgemuth nach dem Vorbilde S. R. Hirschs irgend eine .symbolische Ausdeutung dieses Midraschs vorgetragen, und hätte er selbst dabei was Hirsch nicht getan aus- drücklich konstatiert, dass die Ansicht des Mah'rscha aus inneren, sachlichen Gründen im höchsten Grade anfechtbar ist, so wäre er damit durchaus im Rahmen der traditionellen Freiheit der Meinungsäusserung geblieben, die in jüdischen Kreisen niemals verkümmert war, solange sie sich innerhalb des jüdischen Denkbereiches bewegte und nicht an fremden Massstäben sich orientierte. Für s o rauflustig wird auch Herr Dr. Carlebach unsern Mitarbeiter X. nicht halten, um ihm zuzutrauen, dass er's Herrn Dr. Wohlgemulh verübelt hätte, wenn dieser sich auf die Feststellung beschränkt hätte, die Anschauung des Sohar über den Leviathan sei einleuch- tender als die des Mah'rscha. Was den Herrn X. zum An- griff reizte, war ja blos die ungehörige Art, wie Herr Dr.

Der kuriose Mah'rscha und der gute Ton. 179

Wohlgemuth dem Mah'rscha wohl nicht „das Recht ab- sprach", über den Leviathan eine eigene Meinung zu haben, sich aber dafür selber das Recht vindizierte, dem Mah'rscha in „Bildung" und „Philosophie" eine schlechte Zensur zu er- teilen. Dafür wird Herr Dr. Carlebach in den Schriften S. R. Hirschs vergebens nach einem analogen Beispiel suchen !

Ebenso unbegreiflich ist ufls der Ausruf Dr, Carlebachs, wo in aller Welt Jemand im Jeruschalmi Megilla 1, 11 einen sicheren Beweis dafür erblicken könne, dass der Talmud selbst das Leviathan-Mahl wörtlich aufgefasst haben will.' Wo in aller Welt hat denn X. behauptet, dass für die wört- liche Auffassung an dieser Stellt^ ein „sicherer" Beweis vorliegt! Nur zur Erwägung stellte X. anheim, 'ob denn diese Stelle, wo das Leviathan-Mahl in eine höchst nüchterne Parallele gesetzt wird mit dem höchst eindeutigen Pessach- rnahle, nicht den Gedanken nahelege, ob denn nicht gerade vom Standpunkte wissenschaftlicher Klarheit und Nüchtern- heit die wörtliche Auffassung der Leviathan-Agada sich emp- fehle. Selbst zugegeben, der mv.t pnp zur Stelle wolle mit dem Satze '13T IöiS:: einer bildlichen Auffassung des Leviathan- Mahles das Wort reden was übrigens sehr zweifelhaft ist, da die Annahme, viel näher liegt, dass mit diesem iöiSd blos die Voraussetzung angedeutet werden sollte, unter welcher die möiN 'Tun zum Leviathan-Mahle zugelassen werden : nur dann werden sie am Mahle teilnehmen, wenn sie zur künftigen Welt zugelassen werden so hat doch X. nie bestritten, dass zahlreiche Talmuderklärer diese Agada bildlich ver- stehen. Heisst es doch im Mah'rscha selbst : D^tJ>lQönii> f]K"i |j;ot>of3 ya)iv onann ya Dn:nD ^dS hth ^1^12 isnxn, und bedarf es wahrlich nicht erst des gelehrten Hinweises auf nnixn Kino "121, um darzutun, dass die vom Mah'rscha selbst erwähnte Tatsache auf Wahrheit beruht. Herr X. wollte doch lediglich Herrn Dr. Wohlgemuth nahelegen, ob man denn wirklich so gar „unphilosophisch", so gar „ungebildet" sein muss, um die Leviathan-Agada wörtHch aufzufassen, ob denn die

180 Der kuriose Mah'rscha nnd der ffute Ton.

Zusammenstellung des Leviathan-Mahles mit dem Pessach- Mahle, klar nud nüchtern angeschaut, gerade vom Stand- punkte einer wissenschaftlichen Textkritik, die doch sonst immer für den möglichst einfachen Wortsinn sich entscheidet, sich nicht als eine Rechtfertigung der Anschauung des Mah'rscha darbiete. Der Mah'rscha ist doch nicht an den mvn pip- Kommentar gebunden, selbst wenn (was wir, wie gesagt, noch als sehr zweifelhaft dahingestellt sein lassen) dieser Kommentar die bildliche Auffassung verträte, der Mah'rscha kann doch aus rein sachlichen Gründen wissen- schaftlicher Talmudinterpretation zu seiner Anschauung ge- kommen sein, während der Sohar, der ja fast jedes Wort der schriftlichen Lehre in übertragenem Sinn nimmt, ohne deshalb den wörtlichen Sinn zu bestreiten, nur seiner Methode treu bleibt, wenn er auch die Leviathan-Agada bildlich ver- steht. Nicht, wie Herr Dr. Carlebach meint, unter den Talmud- erklärern empfahl Herr X. sich umzuschauen, sondern im Talmud selbst, wo durch Vergleichung der Talmudstellen, die vom Leviathan reden, ein Standpunkt zu gewinnen ist, von dem aus die wörtliche Auffassung des Mah'rscha nicht als eine intellektuell minderwertige, sondern als eine mit der bildlichen zumindest gleichberechtigte Methode der Tal- mudexegese erscheint. Ob der „Ton", in welchem X. seiinen Rat erteilte, ehrfürchtig oder, wie Herr Dr. Carlebach meint, „gönnerhaft" gewesen ist, das ist hierbei ganz nebensäch- lich, das ist eine musikalische Geschmackssache, über die wir nicht streiten wollen.

So wenig wie Herr Dr. Carlebach den Artikel des Herrn X., so wenig hat er den des Herrn Y. verstanden. Herr Dr. Carlebach stellt den Grundgedanken dieses zweiten Artikels so dar, als ob Y „als jüdische Forderung und als Lebenselixier der Orthodoxie die Notwendigkeit dargetan" hätte, „den guten Ton fallen zu lassen und den schlechten auf den Schild zu erheben". Das ist, mit Verlaub, eine un- gebührliche Verdrehung der Tatsachen. Nicht auf eine Schilderhebung des schlechten Tones, sondern auf eine

Der kuriose Mah'rscha und der gute Ton. 181

Warnung vor dem grossen Missbrauch, der mit dem soge- nannten guten Ton getrieben wird, läuft der Artikel des Herrn Y. hinaus. Vielleicht erscheint es Herrn Dr. Carlebach nicht „als zu viel Ehre" für Herrn Y., sich noch einmal in dessen Ausführungen zu vertiefen, dann möchten wir ihm empfehlen, mit besonderer Andacht die Schlusssätze dieses „Artikelchens" zu studieren. „Wer hat Schuld an der scharfen Gegnerschaft, die gleich bei seinem Entstehen der Austritts- gedanke fand ? Der gute Ton. Wer hat die Entstehung des Misrachi, 'die universellen Aspirationen der Gemeinde- bundskreise erst mögHch gemacht ? Der gute Ton." Wer diese Sätze richtig verstehen will, der wird sie auch ver- stehen. So gut wie es Auswüchse des schlechten Tones giebt, so gut giebt es auch Auswüchse des guten Tones. Wer aus ängstlicher Scheu, den Geger irgendwie persönlich zu verletzen, die Sache preisgiebt, wer lieber suaviter in re als fortiter in modo ist, der ist ein Fanatiker des guten Tones» weil er um den Preis sachlicher Konzessionen die Vornehm" heit in der Form zum Leitmotiv seines Denkens und Han- delns erhebt. Man kann darüber streiten, ob nur der soge- nannte gute Ton die Gegnerschaft gegen den Austritt, die Entstehung des Misrachi usw., wie Y. meint, verschuldet hat- Dass aber die Scheu, die Kreise des liberalen Judentums dadurch persönlich zu verletzen, dass man dem liberalen Judentum die religiöse Gemeinschaft und Gleichberechtigung aufsagt, dass die Angst, durch Bekämpfung des Misrachismus die Misrachisten zu verletzen usw., sehr viel zur Zersplitterung der Orthodoxie beigetragen hat und noch heute zur Lahm- legung aller Versuche, eine orthodoxe Einheitsfront zu schaffen, beiträgt, das wird von jedem Kenner der einschlä- gigen Verhältnisse ohne weiteres zugestanden werden. Giebt man aber die Notwendigkeit einer entschiedenen Vertretung des orthodoxen Standpunktes im Interesse der Reinerhaltuhg des jüdischen Denkens und Fühlens zu, wird es im ortho- doxen Judentum ein Polemik geben müssen, solange wir auf allen Seiten eine gefährliche Übermacht abzuweisen haben,

182 Der kuriose Mah'rscha und der gute Ton.

dann wird es naturgemäss bei diesen Kämpfen nicht immer so zart und lieblich hergehen können, wie es die Fanatiker des guten Tones wünschen, die jedes \'on heisser Gottesliebe erfülte temoeramentvolle Wort aufgreifen, um auf dem be- quemen Wege persönlicher Boykottierung „mit einem solchen Gegner kämpfen wir nicht" sich die etwas un- bequemere Notwendigkeit sachlicher Auseinandersetzung zu "rsparen.

Gewiss kann man „mit ruhigen und massvollen Worten, wie sie Hildesheimer wohl zumeist („wohl zumeist" ist gut) zu gebrauchen pllegte", etwas „erreichen". Das hat aber doch Y. niemals in Abrede gestellt. Sein „Artikelchen" pole- misiert ja blos gegen jene nervöse Angst, die es auf reli- giösem Gebiet um alles in der Welt vermeiden möchte, Empfindungen der Entrüstung über ein gegen die Heiligkeit der Thora verübtes Attentat einen adäquaten Ausdruck zu verleihen, die lieber den Gegner schont, um nur ja nicht in den Ruf eines gelehrigen Schülers des Jesaia zu gelanj^en, der die Regeln des „guten Tones" so schlecht beherrschte, dass er seine eigenen Glaubensgenossen mit den , giftigen und beleidigenden" Worten haranguierte : „Von der Fuss- sohle bis zum Haupte ist nichts Heiles an euch, sondern

nur Wunden und Beulen und eiterndes Geschwür "

Will uns Herr Dr. Carlebach wirklich einreden, dass Hildes- heimers „heftiger Ausfall" nur „damals" und nicht auch heute noch am Platze wäre, wo das, was damals noch vereinzelte Erscheinung war das nichtorthodoxe Judentum sich immer systematischer und imperialistischer gebärdet und im Zeichen der kommenden „Neuorientierung" wer weiss zu welch ungeahnter Gefahr für min und nxi' sich noch aus- wachsen kann ? Glaubt Herr Dr. Carlebach wirklich, dass das gefährliche religionspolitische Dogma von der Gleichbe- rechtigung aller Richtungen im Judentum in unsern eigenen Reihen so viel Verdunkelung der religiösen Klarheit und Wahrheit hätte anstiften können, wenn nicht ^in unsern eigenen Reihen die Fanatiker des guten Tones aufgestanden

Der kuriose Mah'rscha und der gute Ton. 183

wären und allenthalben verkündet hätten, Hildesheimers Wort von den „Schlingpflanzen unserer Konfession" sei wohl „damals" begreiflich und entschuldbar gewesen, doch heute nicht mehr wörtlich zu nehmen? Niemals würden weite Kreise der deutschen Orthodoxie die Gleichberech- tigung des liberalen Judentums wie etwas selbstverständ- liches konzedieren, wenn es der „gute Ton" nicht erfor- derte, statt von D-n^Dö und D^nna von „unsern andersdenken- den Brüdern" zu reden. Gegen den guten Ton, der die Toleranz in religiösen Dingen, der die Anerkennung der HT-QD als einer heimatberechtigten Zweigabteilung der min bei uns eingebürgert hat, wendet sich der Artikel unseres Mitarbeiters, den man nur richtig verstehen zu wollen braucht, um ihn nicht gröblichst misszuverstehen.

Dem Mangel an Verständnis entspricht der Mangel an Sachkunde, den Herr Dr. Carl ebaclr offenbart, wenn er aus- ruft: „Will Herr Y. auch nur eine einzige Stelle in den ge- samten von vornehmem Geist getragenen, polemischen Schriften Hirsch's nachweisen, die seinem Ideal vom schlech- ten Ton, das offenbar auch das des Herrn X. ist, auch nur annähernd entspräche?" Der Geist, von welchem die pole- mischen Schriften Hirsch's getragen sind, ist gewiss ein vornehmer, doch nicht „vornehm" im Sinne des Herrn Dr. Carlebach, sondern „vornehm" im Sinne unserer Mitarbei- ter X. und Y. Denn wenn Samson Raphael Hirsch die An- sicht eines seiner zahlreichen Gegner als „eine gedanken- lose Betise" (Ges. Sehr. IV 347) charakterisiert und einen andern seiner zahlreichen Gegner „für ein wahnwitziges altes Weib" .(Ges. Sehr. VI 401) erklärt, so wird auch Herr Dr. Carlebach zugeben, dass diese Stellen dem „Ideal" der Herren X. und Y- vom „schlechten Ton" nicht nur an- nähernd entsprechen, sondern dasselbe sogar noch bei wei- tem übertreffen. Wenn es galt, einen Angriff auf nmn und nay abzuwähren, dann konnte auch S. R. Hirsch eine über- aus scharfe Klinge führen, dann war ihm kein Wort zu scharf, selbst wenn es gegen die Regeln des sogenannten

184 Der kuriose Mah'rscha und der gute Ton.

guten Tones verstiess. Deshalb wäre es aber doch eine böswillige Beleidigung Hirsch's, von ihm behaupten zu wol- len, er habe „den Wert des Taktes und des guten Tones" nicht zu schätzen gewusst und es habe ihm das „echt jüdi- sche Empfinden" gefehlt, das es den „vom Hirscheschen Geist" erfüllten Orthodoxen im Norden und Süden „unmög- lich macht, unter Ausserachtlassung des guten Tones ihre Nebenmenschen zu beschämen". Es giebt eben zwei Arten des guten Tones : einen solchen, der selbst auf Kosten der Sache die Form, und einen andern, der selbst auf Kosten der Form die Sache schützt.

Ob unsere Mitarbeiter X. und Y. die Aufforderung des Herrn Dr. Carlebach, künftighin ihre „Geistesprodukte" mit ihrem Namen zu decken, befolgen werden, das müssen wir ihnen überlassen. Wir zweifeln aber sehr, ob die Erwartung, die Herr Dr. Carlebach an diese Demaskierung knüpft, ein- treffen wird. Denn wenn Herr Dr. CaVlebach am Schlüsse seines mit seinem vollen Namen gedeckten Artikels, wie er selber zugesteht, „den Boden der sachlichen Erwiderung verlässt", so beweist ja dieses Zugeständn-s, dass eine Namensdeckung von „Geibtesprodukten" eine sachliche Polemik keineswegs verbürgt.

Das jüdische Kriegsrecht und die Frau. 185

Das jüdische Kriegsrecht und die Frau.

Von Dr. A. Neuwirth, Naioz.

Ein talmudischer Ausspruch lehrt uns: ""iDyD3 '\J^ DIN» „Der Charakter und das Wesen des Menschen ist an seinem Verhalten in der Aufregung und im Zorn erkennbar" (Erub. 65 b). Dieser Satz wird von der tagtäglichen Erfahrung bestätigt. Wir bemerken oft im Leben, dass Menschen, von deren hohem Bildungsgrad und tiefem Wissen ein jeder urteilsfähige überzeugt ist, im Zorn die niedrigsten Instinkte nicht beherrschen können und den augen- blicklichen und zufälligen Eingebungen sowie Aufwallungen ausge- setzt sind. Ein derartiges Verhalten verratet, dass in einem ver- borgen Winkel das Herzens noch wenn auch völlig unbewusst viele rohe Triebe vegetieren, die das Wissen und die Bildung der Betreffenden noch nicht kultiviert und verfeinert haben.

Wie bei dem Individuum kann man die Wahrheit dieser Weisenworte auch im Völkerleben bestätigt finden. Ein Volk oder eine Nation kommt durch freudige völkische oder nationalejEreig- nisse, noch mehr aber durch schicksalsschwere Prüfunden, die die ganze Existenz in Frage stellen und die Zukunft verdüstern, in Aufregung und Aufwallung. Kein Ereignis vermag aber den Zorn eines Volkes so zu hellen Flammen anzufachen, wie ein kriege- risches Vorgehen. Die verborgensten Instinkte und die bis nun schlummernden Leidenschaften kommen jetzt zum Vorschein. Das Vernichten, Verderben und das Massenmorden ist gänzlich unver- meidlich, denn darauf beruht und dies bezweckt ja ein Krieg; die merkliche Kraft und Macht des Gegners möglichst zu schwächen und zu vermindern. Aber dem Niederreissen und dem Verderben preisgeben der teuersten Kulturwerte des Friedens haben die Zi- vilisation und die Kultur gewisse Grenzen gesetzt, Schranken, die nicht überschritten werden dürfen. Die unverletzlichen Dinge sind vornehmlich Personen, die mit dem Krieg nicht unmittelbar in Be- rührung kommen, wie : Frauen, Kinder und waffenunfähige Mäoner. Wie weitreichend nun der Schutz für die am Kriege Unbeteiligten ist und in welchem Masse dieser Schutz tatsächlich auch zur An-

18h Das jüdische Kriegsrecht und die Frau.

Wendung konlmt, sind zwei Momente, die uns klar und deutlich zeigen, wie weit ein Volk sich die Kultur und Menschlichkeit zu eigen gemacht hat, wie weit bei ihm die tierischen Instinkte kul- tiviert worden sind.

Gerade der grosse. Krieg zeigte uns, wie richtig unsere Weisen geurteilt haben, indem sie das Verhalten im Zorn als Mass- stab für den Kulturstand des Individuums sowie eines Volkes und einer Nation gesetzt haben. Wie haben wir unsere Auffassung und unser Urteil gewissen Völkern gegenüber im Laufe des grossen Krieges geändert! England und Frankreich haben sich bis zum Kriege, wegen ihrer hohen Kultur und Zivilisation der Achtung und der Verehrung der ganzen Welt erfreut. Aber ihr unmenschliches Vorgehen auch gegen Schutz- und Wehrlose Hess uns erkennen, dass die Kultur und die Bildung das Herz und das Innere dieser Völker noch nicht ganz ergriffen, noch nicht ganz durchtränkt haben.

Die göttliche Gesetzgebung der Thauro hat auch den Kriegs- fall in ihren Rahmen gezogen. Sie hat verschiedene Gesetze für ein kriegerisches Unternehmen, für Eroberungen und Unterwerf- ungen feindlicher Völker vorgesehen. Eine Feststellung, welchen Schutz und welche Rücksicht die Thauro auf Wehrlose, auf Frauen und Kinder nimmt, ist für die ethische Auffassung der Thauro sehr wichtig.

' Die ethisch-humane Höhe der biblischen Gesetze mit dem Massstab der biblischen Kriegsgesetze feststellen zu wollen, scheint vorerst sehr gewagt. Denn die hauptsächlichsten Kriege, die der göttliche Gesetzgeber bei der Verordnung des Kriegsgesetzes vor Augen hatte, waren gegen Heiden geführt, die auf der denkbar niedrigsten Stufe der Sittlichkeit standen. Gegen derartige Völker können keine humane Gesetze erlassen werden, ebensowenig, wie irgendwo gegen die Franktireurs rücksichtsvoll vorgegangen wird. Leute, die jegliches Menschenrecht mit Füssen treten, dürfen auf menschliche Behandlung keinen Anspruch erheben. Eben daher muss jede inhuman scheinende Massnahme 'des biblischen Kriegsgesetzes mit Rücksicht auf die Völker, gegen die sie sich wendet, beurteilt werden. Bei jedwedem Anlass weist die Thauro auf die sittliche und moralische Verkommenheit der kauanäischen Stämme hin.

Das jüdische Kriegsrecht und die Frau. 187

Aber jedes Volk rekrutiert sich aus Kombattanten und Nicht- kombattanten : die letzteren verdienen eine mildere Behandlung. Im folgenden wollen wir gerade die Gesetze der Thauro, die sich auf die heidnischen wehrlosen Xicl\tkämpfer beziehen, näher be- trachten. Dem Charakter des Tbanrnges^tzes entsprechenrl, kom- men liierbei rein rel'giö?^. ethische und humane Motive in Be- raclr:. Sie aiie biiöer d?.3 Fundaiaerit.. worauf der Schutz —li die Rücksicht auf Wehrlose aufgebaut ist.

Wir meinen, dass die Nichtkombattanten des heidnischen Volkes von der Thauro nur dann und nur so weit geschützt und berücksichtigt werden, alss sie selbst die Sittlichkeit der jüdischen Kriegpr nicht gefährden. Dagegen verfallen auch die Frauen und Kinder schonungslos demselben Kriegsgesetz wie die Heiden, wenn Israels Sittlichkeit in Fraire kommt.

Neben der Feststellung, wie sich das biblische Gesetz zu den Wehrlosen der heidnischen und feindlichen Vöfker stellt, wollen wir auch sehen, wie es die Waff^^nunfähijfen des eigenen Volkes in Kri< gszeiten zu behandeln befiehlt. Jedoch bevor Avir die ein- zelnen Bestimmungen betrachten, müssen wir auf einen wichtigen Punkt hinweisen, der von besonderer Wichtigkeit ist.

Es ist nämlich die Frage : welche Gewähr bietet die Bibel dafür, dass die Schutzmassnahmen, zugunsten der Frau praktisch auch durchgeführt werden. Gerade der grosse Krieg hat uns einerseits durch die unzähligen Vergewaltigungen der russi- schen Soldaten in Galizien, der Bukowina und in Ostpreussen, anderseits durch die vielen vorkommenden Fällen von Geschlechts- krankheiten gezeigt, dass auf sexuellen Gebiete sowohl nationale wie auch internationale Bestimmungen leichten Herzens unberück- sichtigt gelassen werden. Denn sowohl gegen die Schändung von Frauen seitens feindlicher Mannschaften, wie auch gegen die Geschlechtskrankheiten im eignen Heere sind strenge Massregeln getroffen worden; ihre Wirkung war aber sehr beschränkt, ünsre Weisen haben den psychologisch sehr tiefen Satz gesprochen : Chulin Hb): nV"iy^ DV3'ni3"'CN „Gegen sittliche Gefahren gibt es keinen Vormund". Dies soll bedeuten : wenn der ethisch-reli- giöse Ruf im Innern den Menschen vor sittlichen Verirrungen

188 Das jüdische Kriegsrecht und die Frau.

nicht zu bewahren vermag, dann kann dies fremde Ueberwachung noch weniger tun. Wie wurden denn die diesbezüglichen biblischen Vorschriften eingehalten? Haben wir irgendwelche Anhaltspunkte dass diese Bestimmungen besser als dies in dem grossen Kriege der Fall war, berücksichtigt worden ?

Wir glauben bestimmte Beweise dafür anführen zu können, dass diese Gesesze nicht auf dem Papier geblieben, wie dies gegenwärtig bei unseren Feinden bemerkt werden kann, dass sie die vielen internationalen Vereinbarungen robust ausser acht lassen. Im Judentum und in jüdischen Kriegen kamen die biblischen Vorschriften wirklich zur Anwendung. Dafür bürgte die Tatsache, dass in jedem Kriege die göttliche Bundeslade mit hin- ausgenommen, dass ferner der König, der Führer und Befehlshaber eine Sefer-Thora mit sich auf das Feld nehmen rausste. Wie aus den biblischen Berichten zu ersehen ist, hat diese Handlung eine ungeheure Wirkung bei den Kriegern ausgelöst. So wird uns z. B. berichtet, dass in einem Kampfe gegen die Philister Israel geschlagen wurde. Hierbei fanden die zwei Söhne des Hohen- priesters Eli den Tod, ebenso wurde die Bundeslade den Israeliten weggenommen. Die Traulerbotschaft verbreitete sich bald in der Stadt. Bei der Nachricht von der Niederlage und dem Tode der beiden Söhne Elis verhielt sich noch alles ruhig. Als man aber hörte auch die Bundeslade sei von den Philistern genommen wor- den, da entstand ein ungeheures jLärmen und Schreien; der Hohe- priester ist vor Schreck gestorben. Die Bundeslade bildete für Israel ein Nationalheiligtum, über dem Gott selbst ruhte, und vor der der Einzelne sowohl wie auch das ganze Volk eine tiefe reli- giöse Scheu empfunden hat. Die Kämpfer erwarteten von deren Anwesenheit oder Abwesenheit Sieg beziehungsweise Niederlage.

(I. Sam 4, 17 ff., vgl. ibid. V. 3: ^:pT noN^T n:nDn Dyn nd^i n^D |nj< HN i:*«^« nnp: n^n^'^ ^:d^ dvh 'i i^d:: id«^ bm^^

Noch mehr kam hierfür der Umstand, dass vor jedem Kampf der direkt für dieses Unternehmen gesalbte Hohepriester,

der "n^^ü IHDm zweimal (vgl- Sota 42a iddd nnx DDV lllü D^DVD nDnbD3 nriNl), vor allen Versammelten ausrufen musste : VJ^n ""D

Das jüdische Kriegsrecht und die Frau. 189

i^lTI zur Geltung. Wer ist der Mann, der fürchtet und verzagten Herzens ist, er soll nach Hause gehen (Deut. 20, 8). Nach der mündlichen Lehre war dies eine generelle Aufforderung an die Mannschaft, jeder, der sich einer Sünde bewusst ist, von der Schlachtordnung zurückzutreten (Sota 44 a). Wo man soviel auf Sündenreinheit gesehen hatte, da war es auch wahrscheinlich, dass auch die Bestimmungen für den Krieg beobachtet wurden.

Man scheint den Kämpfern eingeschärft zu haben, dass das üebertreten von Gesetzen nicht nur den eignen Tod verursacht, sondern auch eine Niederlage des ganzen Volkes bewirken kann. Charakteristisch für diese Auffassung in Israel ist folgender bibli- scher Bericht. Vor Ai wurde Israel schwer geschlagen. Als Grund für diesen Misserfolg sah man allgemein die Verletzung eines reli- giösen Kriegsgesetzes an. Nach der Bestrafung des Schuldigen ging man noch ainmal zum Kampf und man siegte. Da nun diese Auffassung das ganze Volk beherrschte, so ist wohl anzunehmen, dass alle Schutzmassnahmen für die Frauen und gegen die Ge- schlechtskrankheiten auch beobachtet wurden (vgl. Josua 7, 5 und 11 : Dm« "•n'^iii .-itTN ^n^iD DN ^2iv ü:"i 'pni'Z'^ «jorij.

In der Tat drang die Kunde von der humanen Behandlung, die die jüdisch-israelitischen Könige selbst gegen die niedrigsten Heiden im Kriege anwandten, bis in die fernsten Länder. So sagen die Diener von Ben Hadad zu ihrem geschlagenen und völlig besiegten Herrn : Siehe doch ! wir hörten, dass die Könige des Hauses Israel liebevolle Könige sind ; wir wollen daher den Achab um Schonung anflehen. Als dies geschah, rief Achab zu Ben Hadad : „Mein Bruder bist du !" (I. Kön. 20, 31).

Nach dieser Einleitung wollen wir nun im Folgenden den biblischen Standpunkt in drei Punkten, die in letzter Zeit auch mehrfach besprochen wurden, näher kennzeichnen. Sie betreffen den Kriegsdienst der Frau, die Schutzmassnahmen gegen Ge- schlechtskrankheiten und die Schutzgesetze für die Frauen in Kriegszeiten.

Die allgemeine Wehrpflicht hat gegenwärtig einen grossen Teil der männlichen Kraft an die Front gerufen, um das Vaterland gegen räuberische Überfälle zu verteidigen. Die dadurch leer gewordenen

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Stellen wurden durch Frauen und Mädclien ausgetüllt. Jetzt erst erschien' die ungeheure Leistungsfähigkeit der Frau auf allen Ge- bieten, die das neunzehnte und zwanzigste Jahrhundert besonders charakterisieren: der Industrie, des Handels, der Technik und des Weltverkehrs in günstigsten Lichte. Diese unbestreitbare Tatsache gab verschiedentlich zu der Frage Veranlassung : ob es nicht zweckmässig und dienlich wäre, auch die Arbeitskraft der Frau in den Dienst des Staates und des Heeres zu stellen. Zwar ent- behrt auch gegenwärtig schon die Wehrmacht der Arbeitsleistungen der Frau nicht. Denn fast unberechenbar gross ist die Zahl der Gegenständen, die durch Frauenhände für die Soldaten angefertigt werden. Aber man wollte, dass die Arbeit und die Dienstleistung der Frau der Wehrpflicht der männlichen Staatsbürger gleich, eine von Gesetzeswegen geforderte, auf&rlegte und gleichmässig ge- regelte Pflicht sein solle.

Die Erörterung dieses Problems konnte und musste auch den biblischen Gesetzgeber beschäftigen. Denn die allgemeine Wehr- pflicht, die die Voraussetzung für eine derartige Frage ist, kennt auch das biblische Israel. Nach biblischem Gesetz war ein jeder Manu von 20 50 Jahr militärpflichtig. Zwar war die Zusammen- setzung des Heeres] in Friedenszeit eine andere als die jetzt bei uns übliche; die Mannschaft des stehenden Heeres rekrutierte sich nicht aus alle Teilen des Landes, vielmehr wechselten die einzelnen Stämme in der Aufstellung des nötigen Menschenmaterial monatlich. Dies ersehen wir von der Hofhaltung des Königs Salomos, von der es heisst: -[bon nti I^D^DI bNltt'^ ^J b)} D^2!»i "liTV ü^r^^ nc^t:^bi ^D^D^ mar] bv n^n^ n2^2 icnn in^D nxi (I. Kön. 4, 7 vgl. 5, 28). Nur im Kriege wurde strengstes darauf gesehen, dass die ganze männliche Wehrkraft zugegen sei. Eine Befreiung vom Militär- dienst hat nur in besonderen Ausnahmefällen, von denen wir noch sprechen werden, stattgefunden. Anderseits waren aber die Frauen in jenem grauen Altertum vor den Greueln des Krieges viel weniger als dies jetzt der Fall ist, geschützt. Dieser Tatbestand musste folgerichtig zu der Frage führen : in welchem Masse könnten die Frauen zur Verteidigung des Vaterlandes herangezogen werden.

Bei Lösung dieser Frage musste ehemals wie heute und

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damit kommen wir zu dem zweiten oben erwähnten Punkte ein Punkt besonders berücksichtigt werden. Eine allgemeine Ein- stellung der Frauen in den Kriegsdienst könnte neben sehr vor- teilhaften auch missliche Folgen zeitigen, Wir bemerken bereits heute, wo die Frauen von den eigentlichen Mannschaften des Heeres fern gehalten werden, eine unerfreuliche Erscheinung. Die unerlässlichen Pausen und kampflosen Tage, die die Soldaten zur Erhaltung ihrer Gesundheit notwendig hatten, haben durch den dadurch möglichen Geschlechtsverkehr mit Frauen bei einem an- sehnlichen Teil der Mannschaft Geschlechtskrankheiten verursacht. Noch viel viel schlimmer stünde die Sache, wenn Frauen und Männer gemeinsam an der Front zu kämpfen hätten. Der Kriegs- dienst der Frauen musste daher im biblischen Altertum, sowie in aller Zukunft bei genauer Erwägung dieses Moments geregelt werden.

Diese beiden Punkte : die Heranziehung der Frau zum Kriegs- dienst, sowie die Furcht vor Geschlechtskrankheiten hatten für Is- rael noch eine besondere Seite. Wir kommen damit zur Betrachtung des dritten von uns oben angeführten Punktes. Die um Palästina wohnenden Völker hatten den Brauch, die Frauen mit in den Kampf zuführen. Der Zweck dieses Vorgehens war aber nicht die Verteidigung des Vaterlandes durch Waöengewalt, sondern, wie aus mehreren Stellen der Bibel klar hervorgeht, um die Gegner zur Unzucht zu verleitenund auf diese Weise die Opfer entweder gefangen zu nehmen oder ihren Wünschen gefügig zu machen. Blättermeldungen nach soll in Mailand ein ähnliches Schauspiel vor Ausbruch des österreichisch-italienischen Krieges eine gewisse Rolle gespielt haben. Ein ganzes Dirnenheer wurde von der Entente hierher losgelassen, damit es sein Unwesen treibe. Bei der Anordnung der Schutzmassnahmen für die Frauen [und gegen die Geschlechtskrankheiten musste der biblische Gesetzgeber auf das erwähnte heidnische Vorgehen besonders sein Augenmerk richten. Denn mehr noch als dies heute schon der Fall ist, hieng von der weisen Regelung dieser Sache das Wohl und Wehe des Volkes und des Landes ab.

Wie wir weiter nachweisen werden, schreibt die biblische

192 Das jüdische Kriegsrecht und die Frau.

Gesetzgebung einerseits ein unbeugsames hartes Vorgehen gegen ein derartiges Preisgeben der Frauenehre vor, anderseits eine rücksichtsvolle Behandlung gegen alle wehrlosen Frauen und Mäd- chen, soweit diese die sittlichen Schranken nicht eingerissen haben. Sowohl draussen wie daheim konnten sich auch die Heidinnen, die in israelitische Gewalt oder Gefangenschaft geraten, des besten Schutzes erfreuen.

Nach dieser Auseinandersetzung wollen wir den biblischen Standpiinkt zu den erwähnten drei Fragen des Näheren festzu- stellen suchen. Betrachten wir zuerst die biblische Auffassung über den Kriegsdienst der Frau. Sehr Vielen wird der Satz ganz fremd klingen, dass die Bibel und der Talmud die Frau zu einem bestimmten Militärdienst verpflichtet. Das alte Is'-ael unterschied nämlich zweierlei Kriege : einen Pflicht- und einen freiwilligen Krieg. Um uns modern auszudrücken, wollen wir den ersteren mit Existenz- den zweiten dagegen mit Präventivkrieg bezeichnen. Zur Klasse der gebotenen Kriege gehören die Kämpfe, die Israel um die Eroberung des Landes führen musste ; als Präventivkriege werden in der Bibel solche genannt, die um die Macht und das Prestige des Staates unternommen wurden (vgl. Sota 41a).

Entsprechend der ungleichen Wichtigkeit der beiden Kriegs- arten, war auch die militärische Dienstpflicht eine verschiedentliche. In dem Existenkampf wurde ein jeder Mann ohne Ausnahme herangezogen. Hier musste auch die Frau helfend eingreifen. „Bei einem Existenzkampf muss der Bräutigam sein Ehegemach und die Braut ihr Trautzelt verlassen, um mitzuhelfen bis die Gefahr abgewandt ist" (vgl. Sota 44 b: i^^cj^ ]^t<iiV bDn müD ^\^ünbDb nncno nl^D^ nino ]nn.

Was die Frau hierbei leisten musste wird nirgends näher angegeben. Es wird uns zwar berichtet, dass durch die Tapfer- keit einer Frau gelegentlich einer Belagerung der Festung Tebez Stadt und Land gerettet wurden vgl. Rieh. 9, 35: ebenso zog die Prophetin Debora mit Barak in den Kampf ibid. 49. Aber es lässt sich mit Bestimmtheit aus verschiedenen Nachrichten schliessen, dass einerseits der Dienst der Frau auch im Existenzkampfe nur

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ohne Waffen geleistet wurde ^), dann dass die Frau nicht an die Front geschickt wurde "). Es liegt daher die sehr begründete Wahrscheinlichkeit nahe, dass die Frau bloss Samariterdienste etwa nach Art der modernen Vereine vom Roten Kreuz oder Halbmond zu leisten hatte oder es oblag ihr vielleicht für die Verproviantierung und Equipierung dels Heeres Sorge zu tragen. In diesem Sinne fassen auch die Kommentare zu Sota 44 b die Stelle auf: (^ D^Diin ]?r\b) ndüh ^mi6 pTD pDüb r\i<'AY nv«.

Die Fernhaltung der Frau von der Schlachtordnung der Männer sowie das Verbot von Waffentragen seitens der Frauen hat viel dazu beigetragen, dass Israels Sittlichkeit rein erhalten blieb. Neben diesen vorbeugenden Mitteln gegen, die Unsittlichkeit finden wir auch direkte Bestimmungen zu ihrer Bekämpfung.

Die Fürsorge der Tbauro für die strenge Sittsamkeit im Kriegslager, wo die Banden des Alltags gelockert, viele Begriffe

') Das Wafifentragen ist für die Frauen nach Ansicht mancher Kodifica- toren verboten. Nach Rabbi Elieser ben Jakob soll die Vorschrift: nTT* nb„ itn^l^a bv "133 ""^3 „Nicht sei Mannesgerät an einem Weibe" (Deut. 22, 5)> dem Weibe verbieten, dass es : "ncn'PDb ]"'"'T "bj^ ntt'N Klin HbV^" "icht ■waffengerüstet in den Krirg ziehe (Nasir 59a), vgl. Ihn. Esra z. St.; j^j^n DU

ni:? ^Tb iiiD ü2r\ nünbDb o^tt'iNn dv r\^ar\.

*) Eine belagerte Festung dürfen wir gewiss nicht mit einer Schlacht- ordnung verwechseln. Denn in einer Festung war und ist alles eingeschlossen. In der Tat sehen wir, dass selbst die Prophetin Deborah, die auf Gottes Be- fehl den Barak zum Kriege gegen Sisera anspornt, von dem Kripge fernblei- ben will. Erst das Verhalten Baraks zwang sie dazu, mit in die Schlacht zu zieben. Es war dies eine Ausnahme, wie sie in der bibhschen Zeit und auch später, solange das jüdische Reich bestand, Regentinnen hat das jüdische Reich zwei aufzuweisen , nicht wieder vorkam, denn selbst die Regentinnen hielten sich von der Führung des Kriegsheeres, wie dies bei den männlichen Herrschern der Brauch war, zurück.

*) Es wäre vielleicht nicht hyperkritisch anzunehmen, dass die Worte nnD^HD ^ibD^ überhaupt nicht ursprünglich seien. Sie scheinen aus Joel 2, 16 wo die Wendung nflDiriD n'?D1 TliriD inPI l<!i^ vorkommt, in die Mischnah hineingekommen zu sein. Tatsächlich haben manche Manuskripte die Worte nicht (vgl. niNriDli ''"'"13^ ^^ der neuen Wilnaer Mischnahausgabe). Dies scheint umso eher der Fall zu sein, als weder in der Mischnah vorher noch im Talmud von diesen Worten gesprochen wird. Auch die ersten Mischnah- kommentare erwähnen sie nicht : ein Beweis, dass sie sie nicht hatten.

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verwirrt, ersieht man am besten aus einer anderen Bestimmung. Demnach ist nicht nur jedwede Unzucht im Lager verboten, son- dern ein jedweder Verkehr mit Frauen, wodurch nach der Vor- schrift der Thauro eine Unreinheit entstehen konnte, strengstens untersagt. Die. Verordnung laute t: mD'ii'ii "I^D^f^ hv n:nD N2in ^J„ "y"i "1D"I ^DD „So du auszieht ins Lager wider deine Feinde, so hüte dich vor jedem schlechten Ding". i6 l^H Z'^ii ID n^n^ "n:nD- i^n "?« «2^ ab) r^riüb y^nr^ 'pk i<-i^ nb^b mpo "iinto n^n^ „Ist bei dir ein Mann, der nicht rein ist gehe er ausser- halb des Lagers, komme nicht in das Innere des Lagers" (Deut. 23, 10 f.). Bereits Maimonides bemerkt, dass dies Gresetz der in einem Kriegslager gewöhnlich einreissenden Unkeuschheit und Unreinlichkeit vorbeugen wolle, um so den Kriegerp den Gedanken einzuflössen, dass das Kriegslager nicht dem der Heiden, nur zum Unheil und Verderben bestimmt, sondern ein mt^DiJ 'n nin?2 einem Tempel Gottes der Herrscharen gleiche (More Neb,, 3, 43). Auch Nachmanides (]"ddi zur Stelle) fasst diesen Vers in diesem Sinne auf. Er bemerkt nämlich : „Mir scheint das Motiv dieser Be- stimmung folgendes zu sein: In den Kriegslagern pflegt ott Grau- samkeit, Unkeuschheit und Sittenlosigkeit an der Tagesordnung zu sein. Selbst beim Rechtsschaffensten pflegen die Zügel sich zu lockern, daher warnt die Thauro vor allen Dingen, die den Men- sehen entwürdigen könnten". Damit ist eine strenge und starke Schranke auch gegen jedwede Ausschreitung gegen Wehrlose auf- gerichtet.

Aus dem Angeführten geht klar hervor, dass jedwede Ver- greifung an der Frauenehre in jüd. Kriege strengstens untersagt war. Dies Verbot erstreckte sich sowohl auf Jüdinnen, wie auch auf Heidinnen. Die Thauro schreibt vornehmlich daher verschie- dene Gesetze gegen die Unzucht und Unsitlichkeit vor, die im Lager der Heiden gegen die Israel Krieg führen muSste, getrieben und gewuchert hat. So hat Israel, auf indirektem Wege, auf die Sittlichkeit der umwohnenden Völker eingewirkt ^).

') Erst vor kurzem hat in einem viel gelesenen Blatt eine hochgestellte Persönlichkeit die Militärbehörde aufgefordert, der ganzen Mannschaft jedweden

Das jüdische Kriegsreeht und die Frau. 195

Aus diesen Bestimmungen ergibt sich zunächst nur ein Verbot gegen den Geschlechtsverkehr innerhalb des Kriegslagers. Aus dem Verhalten des Obersten Uria ersieht man aber, dass die Krieger auch ausserhalb des Lagers während der Dauer des Krieges sich strengstens des Geschlechtsverkehrs enthalten haben. David lässt ja den Uria vom Felde nachhause holen, und fordert ihn auf zu- huse zu schlafen, um auf diese Weise die Folgen seines Ehebruchs zu beseitigen. „Aber Uria legte sich in der Tür des Königshauses zu den Dienern des Königs und ging nicht nachhause. Der König tadelte dies Verhalten. „Du kommst doch vom Wege: warum suchst du dein Haus nicht auf?" Aber Uria sprach: „Die Lade, Israel und Juda lagern beiSukoth; mein Herr Joab und die Diener meines Herrn liegen auf dem Felde : und ich soll nachhause ge- hen, um essen und zu trinken, und neben der Frau schlafen ; bei deinem Leben und dem Leben deiner Seele, ob ich dies tue ! Und selbst als David ihn berauscht, vergisst Uria seine Pflicht nicht; er ging nicht nachhause (vgl, IL Sam. 11, 4—13).

Durch diese Massnahmen wurde Israel vor venerische Krank- heiten bewahrt. Es ist interessant, dass die Historiker der Medizin in den alten Schriften die Syphilis mehrfach festgestellt haben ; in der Bibel und in dem Talmud werden verschiedenste Krank- heiten erwähnt, eine Geschlechtskrankheit ist aber nirgends zwei- felsfrei nachgewisen. Man wollte zwar in der bekannten Episode, wo berichtet wird, dass das Volk nach dem Verkehr mit den moabitischen Frauen und Mädchen von einer Epidemie befallen worden, mit Syphilis deuten ; diese Erklärung ist aber aus ver- schiedenen Gründen unzulässig.

Nachdem wir derart die Schutzmassnahmen gegen die Ge- schlechtskrankheiten im Kriege betrachtet haben, wollen wir die- Verordnungen feststellen, die zum Wohle und Frommen der Frauen in Kriegszeiten von der Bibel erlassen worden sind. Es liegt hier in dem Wesen der Sache, dass ein Unterschied zwischen

Verkehr mit Frauen unter Strafe zu verbieten, um dadurch sehr nachteilige Erscheinungen zu beseitigen. Unbowusst wollte man dadurch ein Gebot der Thauro zur Anwendung bringen.

196 Das jüdische Kriegsrecht und die Frau.

jüdischen und feindlichen heidnischen! Frauen gemacht wird. Betrachten wir zunächst die Gesetze, die die jüdischen Frauen betreffen.

Die Schutzgesetze für die Frau lassen sich in zwei Klassen teilea : ungeschriebene nichtdestoweniger aber allgemein gültige und geschriebene Bestimmungen, die in der Bibel fest formuliert sind. Die ertere Klasse sind uns in Berichten erhalten, die uns die Motive für gewisse Kriege angeben. Wenn nun auch diese Beweggründe nirgends als feststehende Normen aufgestellt sind, so dürfen wir sie doch, dem gesetzgeberischen Charahter des Juden- tmus entsprechend, als gültige Gesetze ansehen. Denn zu jedem kriegerischen Vorgehen musste die Zustimmung des Synhedriums, der obersten Behörde, eingeholt werden (Sanhedrin 1, 1), Nun werden in der Bibel zwei Berichte angeführt, die uns von zwei Vernichtungskriegen, die Israel wegen Verletzung der Frauenehre unternommen hat, erzählt. Dabei handelt es sich nur um die Schändung zwei einzelner Frauen ; ein Beweis wie heilig dem ganzen Volke die Ehre einer jeden einzelnen Frau war ; sie wurde allgemein als eine Existenzfrage der Nation aufgefasst.

(Fortsetzung folgt.)

JUEDISCME

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herausi^egebeii von Rabbiner Dr. P. Kohn, Ansbacb, unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Salomon Breuer, Frankfurt a. M.

Jahrgang 4. Heft 7.

Schilos Untergang.

Schmerzliche Klage tönt aus Assafs Leier. Dem Jam- mer der Menschengeschichte gilt sie. Und deshalb hat sie kein Ende. Denn auch des Jammers ist kein Ende. Nur Gottes Nähe kann ihn von der Erde scheuchen. Die Men- schen aber wollen nicht Gottes Nähe. Deshalb wohnt in ihrem Leben der Jammer und pflanzt sich fort von Geschlecht zu Geschlecht. Schüchtern pocht von Zeit zu Zeit Gottes Schechina an die Pforte der Menschheit, ob sie des Jammers genug erlebt und sich sehne nach göttlicher Paradieses- nähe. Das sind dann Augenblicke, in denen der Genius der Menschheit stille aufhorcht und trauernd sein Haupt verhüllt, wenn eine törichte Menschheit den anwehenden Hauch beseligender Gottesnähe nicht empfindet und unter dem erstickenden Qualm des Höllenpfuhls ihr Leben weiter ohnmächtig verdämmert.

Die Wüste schenkte der Menschheit das erste Heilig- tum. Nicht unfruchtbar ist uns fortan die Wüste. Das köst- lichste Gut vermochte sie allein zu gebären. Denn nur wenn Menschen ihr Leben zur Wüste verödet sehen, spenden sie willig und gern ihr Letztes, damit das Heiligtum erstehe.

198 Schilos Untergang.

das Lebensmöglichkeit ihnen gebe. Wo es einst dauernde Stätte gewinnt, wandelt die Natur sich in Paradiesesherr- lichkeit und trägt glückliche, unter Gottes Schutz sicher ge- borgene Menschen. Und es geleitete als Wanderzelt sie durch Wüsten und harrte sehnlich der Ruhe.

Die Ruhe kam. Da schickte sich auch Israels Gemeinde an, dem Wanderzelt Ruhe zu bereiten. In Schilo war es. 1V1D bm« HN üifi' li-'Dtt'il (Jos. 18, 1). Dort erhielt das Zelt der Wüste bleibende Stätte. Damals empfing Schilo seine Weihe. An seinen Namen knüpft sich die Geschichte des ersten ruhenden Heiligtums. Der Augenblick war heilig und gross, als Israels Gemeinde einen steinernen Grundbau auf- richtete, damit auf ihm das Wüstenzelt sich erhebe (Seba- chim 112), das nicht mehr wandern, sondern der Zeit und entgegenharren sollte, da der Grundbau sich zum ewigen Mikdasch fortentwickelte.

Damals ward Schilo heiliger Mittelpunkt. Aus seiner heiligen Nähe empfing jeder Stamm sein Erbe, jeder Volks- genosse seinen Anteil am Lande (das. 18), und das Land wandelte sich in heiligen Boden, denn Schilos Heiligtum hatte ihn geweiht. Weithin ragte Schilos Heiligtum.

Von Schilo trennten sich die Stämme, die im Osten des Jardens ihre Heimat gefunden. In Schilo (das. 22) ver- nahmen sie die Abschiedsworte des geliebten Führers und empfingen seinen heissen Segen. Er hatte zur Treue gegen Schilo sie verpflichtet, dass sie auch in der Ferne Schilo nicht vergässen. Und waren weggezogen. Doch ehe sie den Jarden überschritten, errichteten sie in wuchtiger Grösse den Altar, der die Augen auf sich zog. Die Kunde drang zu Israels Söhnen. Lag schon Treubruch gegen Schilo vor ? Geschlossen, als eine Gemeinde scharten sie alle um Schilo sich. Kampf für Schilo war die Losung. Die Welt sollte nicht um ihr Heiligtum trauern, nachdem es kaum sich er- hoben. Pinchas war ihr Führer. Sein heiliger Eifer erfüllte ein ganzes Volk. Heilig ein Volk, in dessen Seele Pinchas- eifer glüht. Schilo erlebte seinen stolzen Morgen.

Schilos Untergang. 199

Ihr Eifer war zum Glück umsonst. Sie hatten ihre Brüder verkannt. Schweren Herzens waren sie von Schilo- geschieden. Die Sorge nagte in ihrer Brust, es könnt« einst der Jarden in späten Jahren ihnen den Weg nach Schilo erschweren. Nimmer, auch in alle Zeitenferne nicht, sollte je ihre Zugehörigkeit zu Schilo in Zweifel gezogen werden. Schilo errichteten sie daher das Denkmal, laut sollte es zeugen, dass auch ihr Lebensblut für immer dem Altare zuwalle, der in Schilo „vor Gottes Mischkan" sich erhob. Mächtig loderte damals Schilos Altarfeuer in die Ferne. Konnte ein solches Feuer je erlöschen ?

Noch einmal vor seinem Tode sammelte der sterbende Führer die Gottesgemeinde, dass sie aus seinem Munde sein Vermächtnis vernehme, zu dessen treuer Erfüllung er sie verpflichtete. Mit der Bundeslade aus Schilo war er aufge- brochen und hatte sein Volk nach Schechem fjos. 24) gela- den, damit es im Geiste den Weg sich vergegenwärtige, den die Stätte suchende Gottesnähe zurückgelegt, seit sie in Schechem (Gen. 12, 6) zum erstenmal dem ältesten Ahn sichtbar geworden und ihn inmitten einer der Entartung und dem Jammer verfallenen Welt zum Träger der göttlichen Schechina und zum Erlöser einer Menschheit geweiht. In Schechem war einst der Grundstein zum Heiligtumsbau der Menschheit gelegt worden. In Schechem jubelte nunmehr ein ganzes Volk ergriffen dem Führer zu, fortan „Gott, unserem Gott, zu dienen und auf seine Stimme zu hören". Unter diesem jubelnden Treuschwur aber wuchs das auf steinerner Grundlage errichtete Wüstenzelt in Schilo mehr und mehr zum ^ipD (V. 26) empor.

Eine fast vierhundertjährige Geschichte hat Schilo, sie ist die Geschichte seines traurigen Untergangs: in seinem! Zeichen stehen die Blätter des Richterbuches. Der versteht sie nicht zu lesen, der nicht aus der Trostlosigkeit und dem Jammer, von denen jede Zeile uns berichtet, die erschüt- ternde, todestraurige Frage heraushört: wo ist Schilo, ist Schilo verschwunden ? Mit blutigerem Griffel konnte die '

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Geschichte von Schilos Untergang nicht geschrieben werden. Schilo lud das Gottesvolk zur Rückkehr ins Paradies. Is- rael aber zog das Leben der Wüste vor, wies Paradieses- seligkeit von sich, nachdem eine verirrte Menschheit mit verschlossenen Augen an den Pforten des Paradieses vor- beitaumelte. . Ihr folgte Israel. Seine Augen waren geöffnet, doch nur für kurze Zeit. Dann schlössen auch sie sich und tauchten in Nacht und Elend. Das warnende Testament, mit dem der Erbauer des Schiloheiligtums sein Werk seinem Volke sterbend anvertraut, ging nur zu bald in Erfüllung. Deshalb gehört Josuas Tod ins Buch der Richter (K. 2).

Nur in reiner Umgebung konnte Schilo gedeihen. Es konnte sich nicht auf einem Boden erheben, der durch Ent- artung seiner Bewohner der Tumoh verfallen war. Deshalb forderte Schilo ihre Entfernung. Wehe, dass dafür der un- beugsame Wille, die feste Entschlossenheit mangelte ! Der Gottesbote hatte für Schilo geeifert. Da waren die Tränen des Volkes geflossen (K. 2). Was aber fruchteten Tränen ? Sie konnten höchstens Schilos Untergang beweinen. An solchen Tränen mochte es auch in der Folge nicht gefehlt haben. Denn unnatürlich wäre es, wenn Schilo nicht einmal Tränen mehr gefunden hätte. Solange es Menschen gibt, die nach dem Paradies sich sehnen, sterben die Anhänger Schilos nicht. Wer prägte sich nicht die Züge tief in die Seele, die noch während der letzten Jahre Schilos der An- blick Elkanas und seiner Familie gewähren ? Dem Auge der Weisen entgehen sie nimmer. Alljährlich zieht er von seiner Stadt hinauf, um in Schilo sich niederzuwerfen und Gott der Heerscharen zu opfern. Bricht mit Frauen, Kindern und Verwandten auf und nachtet unterwegs auf dem Markt- platz der Stadt. Die Bewohner befragen ihn nach dem "Ziel seiner Wanderung. Wohin geht ihr? Nach Schilo, unserem Gotteshaus, von wo die Thora und Mizwoth uns werden, und Ihr, warum kommt ihr nicht mit, dass wir gemeinsam ziehen? Da fliessen ihre Augen in Tränen, und sie schliessen ihm sich an. Das nächste Jahr sind's schon fünf Häuser,

Schilos Untergang. 201

das Jahr danach schon zehn, und von Jahr zu Jahr wächst die Zahl. Elkana aber zieht immer neue Wege und lädt immer neue Brüder zum Aufbruch. Diesem Verdienst ver- dankt Elkana seinen Sohn Schemuel (Midrasch). Schilo kann Elkana nicht mehr retten, aber das Kind der Welt schenken, das seinem Volke von neuem den Weg zum Heiligtum wies. Tränen hal Schilo wohl während der ganzen Richterzeit gefunden, und nie waren völlig verödet die Wege, die nach Schilo führten, auch während der wildesten Richterzeit nicht. Dass sie aber Israel in seiner Gesamtheit den völkerge- schichtlichen Jammer nicht erspart, hat den Untergang Schilos verschuldet. Und so musste Assaf, da er die Blätter des Richterbuches las, bitterlich klagen über sein Volk „das Gott die Treue brach wie die Väter, ihn mit ihren Opfer- höhen erzürnten, mit ihren Götterbildern in seine Rechte ein- griffen und damit den Zorn und den Widerwillen Gottes erregten, so dass er die Wohnung zu Schilo verliess, das Zelt, das er zur Stätte seiner Gegenwart in der Menschheit gestiftet " (Ps. 78, 57—60).

Daher schweigt das Richterbuch von Schilo, auch in Augenblicken, wo Schilo sicherlich die Gott huldigenden Dan- keslieder eines aus Gefahr und Not erretteten Volkes ver- nommen, oder wo für die kurze Zeit stets wiederkehrender Erhebung und Rückkehr zu Gott und seinem Gesetz auch seine Wege sich belebten und Schilo die Herzen des Gottes- volkes zuwallten. Oder drang Deboras Siegeslied, das Lied der „Mutter Israels", das Lied des zu dem Tore hinauszie- henden „Gottesvolkes" vielleicht nicht in die Räume Schilos? Aber wozu Schilos Erhebung verzeichnen, wo der von Schmerz bebende Griffel des göttlichen Chronisten, nach- dem das Gotteslied kaum verklungen war, die beschämenden Worte niederschreiben musste, dass „das Land nur vierzig Jahre Ruhe hatte und dann Israels Söhne von neuem das Böse in Gottes Auge taten" (Ri. 6)? Indem er das Richter- buch schreibt, schreibt er die Geschichte von Schilos Un- tergang.

202 Schilos Untergang.

Was war der Kampf Gideons gegen den Baalsaltar anders als der verzweifelte Versuch, den Untergang Schilos aufzuhalten ! Den Baalsaltar zertrümmert er und errichtet ■Gott den Altar; indem er aber Gott dort mit heihgem, reinem , Opfer huldigt (Ri. 6), während es doch nach Gottes Willen ursprüngUch beschlossen war, Schilo den Charakter eines festen, dauernden Heiligtums zu verleihen, wonach aber, wie, später in Zion, Opfer ausserhalb Schilos für immer ver- boten : gewesen ' wären (Meg. Kap. 1, vgl. Jeruschalmi das.), sehen wir den festen Grundbau, auf dem in Josuas Tagen Schilo sich erhob, allmählich sich abbröckeln: Schilo wird immer mehr wieder Wanderzelt, um schHesshch in wildem Kriegsgetümmel zu verschwinden.

Auch bchimschons Riesenkraft hat Schilos Grundbau nicht zu festigen vermocht. Stadttore aus den Angeln heben, ist oft leichter, als einer betörten Menschheit die Tore zum ,Gan Eden zu erschliessen.

Flüchtig nur, hin und wieder gedenkt das Richterbuch Schilos. Wem die Motive noch nicht genügen, der lese die letzten Kapitel, mit denen das Richterbuch schliesst. Da hat am Ende des ;Buches das Kapitel von Fessel Micha (17—18) und von Pilegesch Begibea (19—20) seine Stelle gefunden. Nicht als ob diese Vorgänge zeitlich dorthin ge- hörten. Aber wer das Richterbuch verstehen will, muss mit dem Eindruck von ihm scheiden, den die Lektüre dieser Kapitel bei jedem Nachdenklichen hinterlassen.

Man wundere sich nicht, dass Fessel Micha möglich war. Wäre nicht zu allen Zeiten Boden für die Errichtung eines Heiligtums neben dem von Gott gewollten vorhanden gewesen, die Menschheit hätte nie das von Gott gewollte Faradies sich verscherzt, der weltgeschichtliche Jammer wäre ihr, wäre Israel erspart gebHeben. So aber hat Israel Fessel Micha schon aus Mizraim mit hioaufgnommen, Fessel Micha zog selbst durchs Meer (Sanh. 103). Fessel Micha hat unser Heiligtum zerstört, Fessel Micha verlängert unser Golus und so bestand Fessel Micha und sein Heiligtum

Schilos Untergang. 203

„alle Tage, da Gottes Haus in Schilo sich befand" (K. 18). Man unterstreiche diesen Satz, diesen Satz, der für das ganze Richterbuch gilt, und frage! nicht mehr, warum Schilos Heihgtum nur flüchtige Erwähnung im Richterbuch ^findet. Das Richterbuch erzählt den Jammer, den Pessel Micha heraufbeschworen. Es wäre ungeschrieben geblieben, hätte Schilo Pessel Micha zu überwinden vermocht.

Doch unmittelbar danach verewigt das Richterbuch das Drama von Pilegesch Begibea auch es ist zeitlich nicht genau fixiert, auch es gehört in die Blätter des Richterbuches, in die Geschichte von Schilos Untergang. Wer von Pessel Micha spricht, erwähne niemals Israels Schmach, ohne Is- raels Stolz zu gedenken. Sind es nicht Augenbhcke, die an Josuas Glanzzeit, an Josuas Abschiedsstunde gemahnen!? Israel „als Gemeinde versammelt, wie ein Mann" (20, 1), „wie ein Mann, innig verbunden" (11), „als Gemeinde des Volkes Gottes" (2) |— in seiner Brust lodert Gottesfeuer, heiliges Väterwort lebt auf seinen Lippen, das nicht gewillt ist „Schandtat in Israel" (6) zu dulden, das Schwert vertei- digt geschändetes Heiligtum, das Palladium jüdischer Sitten- reinheit für alle Zukunft vor jedem Versuch frevelnder Trübung, der jüdischen Sittlichkeit fliesst das Blut feines ganzen Stammes. ~

Das Heihgtum der Ehe ist gerettet da sucht unser Auge das andere Heiligtum : Schilo. Ist's ein Zufall, dass die Bundeslade Gottes nicht in Schilo weilt (20, 27) ? Aus den verwaisten Räumen Schilos aber dringt Gottes zürnende Klage : die Kraft, die so heldenhaft sich für Israels Sitten- reinheit einzusetzen vermochte, warum bewährt sie sich nicht im Kampf gegen] Pessel Micha (P. R. E.) ? Schnürt es einem nicht das Herz zusammen : warum beginnt mit dem Triumphtag von Pilegesch Begibea nicht gleichzeitig der Aufbau Schilos zum ewigen Heihgtum ?

Suchet Schilo auf in den Tagen des jüdischen Triumphes das Kapitel von Pilegesch Begibea weist euch den Weg: Schilo Hegt „nördhch von Bethel, östHch der Strasse, die

204 Schilos Untergang.

von Bethel nach Schechem führt, im Süden des Libanon" (21, 19)! Hört ihr nicht den jammervollen Vorwurf heraus: in den Tagen von Pilegesch Begibea ist Schilo vergessen, muss seine Lage geographisch entdeckt werden I Unüber- trefflich, aber auch erschütternd vermag der Gottesgriffel des Chronisten zu zeichnen.

Eidlich hatte es sich ein jeder jüdische Vater versagt, nach der Pilegeschtat dem binjamitischen Stamm, der es ge- wagt, jüdische Sitthchkeit zu schänden, aus freien Stücken seine Tochter zur Frau zu geben. Die Heiligkeit des Eides durfte nicht verletzt werden. Einem Teil des Stammes konnte geholfen werden, doch nicht allen. Da bot sich ein Ausweg.

Unser Herz hebt sich in Freude. Wir haben Schilo gefunden. Stimmt^ngewoge dringt an unser Ohr. Schilo ist nicht verlassen. Schilos Töchter begehen „das Gottesfest in Schilo von Jahr zu Jahr", ihr „Reigentanz führt sie zu den Weinbergen hinaus" (V. 19—21). Ist der Gedanke zu kühn, in diesem Bericht den Vorgang wiederzufinden, den die Mischna (Tanith K. 4) so unvergleichlich schön uns schildert, da am Jom Kippurim' Jeruschalaims Töchter im Reigentanz in die Weinberge zogen, an dem Tage, da sie Gott von neuem gefunden, von dem einen Gedanken er- glüht, Gott ihr Leben zu weihen, Gott Häuser zu bauen und deshalb das Sehnsuchtslied sangen nach dem Jüngling, der nicht nach Schönheit verlangt, sondern nach dem gottes- fürchtigen Weib, mit dem vereint das gottgewollte Haus zu erstehen vermöchte? Dann hätten Schilos Töchter in Schilo wie später in Jeruschalaim in dem „Fest Gottes" Jom Kippurim, der von keinem anderen Festtag übertroffen wurde (Tanith das.) begangen, und |der Augenblick, da sie in den Weinbergen Schilos ihr Lied nach dem jüdischen Jüngling sangen, war der geeignetste Augenblick, wo binjamitische Männer, ohne erst die Eltern, denen durch Eid der Wille gebunden war, zu fragen, in den Besitz von wackeren jü- dischen Frauen gelangen konnten.

Schilos Untergang. 205

Von diesen jüdischen Frauen, die in Schilo das Heilig- tum ihres Lebens sahen, und von dem Gedanken erglühten, Häuser im Geiste Schilos zu erbauen, hätte das Richterbuch wenn es gewollt hätte noch mehr uns zu singen ver- mocht. Assaf aber hat sie nicht vergessen. Und da seine Leier den Untergaag Schilos beweint, zittert die Klage : i^^in üb vni^inzi ib^'X' \d^ü ^c'^js^i „Schilo sank in Trünimer und seine Jungfrauen wurden nicht mehr gefreit".

Jüdische Frauen scheinen Schilos Heiligtum begriffen zu haben. Nicht vereinzelt blieb, dass ein Deborageist an seiner Menorah sich entflammte. Ghana wurde in seinen Räumen zur Mutter des Gebetes und hat ewige Worte des Dankes und prophetischen Fernblick in seiner Nähe gefun- den. — Und als das unabwendbar Traurige Ereignis gewor- den, Schilo in Trümmer sank, da blieb es einer jüdischen Mutter vorbehalten, von Schilos Heiligtum ergreifenden Lebensabschied zu nehmen.

In das Kriegslager hatten Elis Söhne die Bundeslade getragen, um des Sieges sicher zu sein. Als ob nicht, wenn Schilo das Heiligtum Gottes, das Lebensheiligtum des jüdi- schen Volkes geblieben wäre, nimmer Philisterschwert sich feindlich gegen Israels Land erhoben hätte ! Wäre Schilo das geworden, wozu es bestimmt war, so hätte Israel, nach- dem es das heilige Land der Entartung der Völker entrissen, für immer das Schwert in der Scheide ruhen lassen können. Schilos Heiligtum aber war dem Untergang geweiht, und da sollte Gottes Bundeslade den Sieg sichern ?

In ängstlicher Sorge hatte der greise Priester dem Schicksal der Bundeslade entgegengebangt (S. I. 4).B Da triftt ihn die Kunde. Dass die Söhne gefallen, erschüttert ihn nicht, sie waren ihm längst schon entfremdet, dass aber die heilige Lade Gottes verloren, bricht ihm das Herz.

Ihrer Jammervollen'' Niederkunft (V. 19 rhb mn) geht eine arme Mutter entgegen. Hat Gatten und Schwiegervater auf einmal verloren. Die Kunde „dass die Gotteslade ge- nommen, ihr Schwiegervater tot, tot ihr Mann" dringt auf

206 Schilos Untergang.

sie ein übermächtig packt sie das Weh, sie bricht zu- sammen und schenkt sterbend ihrem Kind das Leben. Der Tod umflort schon ihren BHck, tröstend versucht ihre Um- gebung auf die Unglückliche einzusprechen, sie aber ant- wortet nicht und wendet den Worten ihren Sinn nicht zu (20) hat aber noch Kraft, ihrem Kind den Namen zu ge- ben: „die Ehre dahin", „geschwunden ist Israels Ehre" und denkt dabei „der geschwundenen Bundeslade, ihres Schwie- gervaters, ihres Mannes" (21). Doch nein. Sterbend stam- melt sie: „Geschwunden ist Israels Ehre, denn genommen ist die Lade Gottes" (22). Ihre letzte Klage, ihr letzter Seufzer galt nicht dem Vater, nicht dem Mann, galt dem zusammen- gebrochenen Heiligtum in Schilo.

So starb eine grosse, starke jüdische Mutter, die Schilos Heiligtum begriffen. Assaf aber greift zur Leier und hat in seinem Klagelied diese Szene verewigt: „Sein Unüberwind- liches gab Gott der Gefangenschaft preis und seine Herr- lichkeit der Gewalt der Feinde seine Priester fielen durchs Schwert, und seine Witwen weinen nicht" (Ps. das.), denn die Träne jder Witwe galt nicht dem Mannn "iD □p'?« piK np^i der'LTntergang ihres Lebensheiligtums war ihr letzter, grösster Schmerz.

Doch nicht nnpbi D^^i^ pxi (V. 17- weiblich!), wie die Kunde zu Elis Ohr gedrungen, sondern D^p^N piN npb: ""D (V. 22 männlich !) : um das Schicksal der Gotteslade war ihr nicht bange, iny ^'D^b jn^l (Ps. das., 61) auch in Feindes- hand erwies sie sich in ihrer Unüberwindlichkeit, aber dass sie den Aufenthalt beim Feinde Schilo vorgezogen, war ihr letzter Seufzer : auch in Israels Mitte war die Gotteslade in Feindesmitte. Israel hatte Schilo nicht verstanden. Die Bundcslade trat wieder ihre Wanderschaft an und harrte des Augenblicks, da Israel von neuem Sehnsucht nach seinem verlorenen Paradies empfand.

Wer aber begreift nicht den Schmerz, der Jirmejahus Brust zerwühlen musste, als er Jeruschalaims Heihgtum, das dem Heiligtum Schilos als das ewige hätte folgen sollen,

Schilos Untergang. 207

unter den gleichen Erscheinungen in Trümmer sinken sah! Er hat während seines ganzen Lebens das Bild des unter- gegangenen Schilo-Heiligtums in seinem Herzen getragen rjer. 7, 12). Sein Volk aber hatte Schilos vergessen. Des- halb musste es auf den Trümmern Zions klagen.

J. Br.

Von unserer Jugend.

Im diesjährigen Maiheft unserer Zeitschrift veiöffentlichte unser geschätzter Mitarbeiter Herr Dr. Isaac Breuer einen Artikel: „Die Neuorientierung des deutschen Judentums". Der die ganze Nummer ausfüllende Aufsatz ging mit erfreulicher Offenheit und einer dem Verständnis für die treibenden Kräfte des öffentlichen jüdischen Lebens nur förderlichen Ausführlichkeit mit der gegen- vfärtigen Lage des orthodoxen Judentums in Deutschland zu Gericht und lief mit seinem Grundgedanken auf die Forderung hinaus : So wie es ist, darf es nicht bleiben, auch wir müssen uns neu- orientieren, soll die Flut der noch bevorstehenden, alles Abge- standene, Ueberholte und Verkalkte fortschwemmenden Ereignisse in der deutsch-jüdischen Orthodoxie ein der jSchonung und der Hinüberpflanzung in das kommende neue Deutschland würdiges Gebilde vorfinden.

Wenn wir heute auf diesen Aufsatz zurückkommen, so möch- ten wir, an ihn anknüpfend, seinen Grundgedanken weiterdenken und seine Forderung noch einmal für ein spezielles Gebiet nach- drücklichst erheben, damit uns wenigstens später einmal der Vor- wurf erspart bleiben möge, wir hätten in einer Zeit, die auf allen

208 Von unserer Jugend.

Gebieten mit Neuordnungsplänen trächtig geht, nicht oft und ener- gisch genug den Kreis unserer Gesinnungsgenossen zur Neuorien- tierung oder, wie unsere Alten riel schöner sagten, zu jenem D''tt'yDD l^'lDli'D, zu jener Durchleuchtung und Absuchung ihres Tuns und Lassens angeregt, die im Sinne der jüdischen Lebensweisheit geboten ist, "i"''?y ]''ND piD'^tt' DIN riNil D«, wann immer der Mensch das Nahen einer leidrollen Epoche gewahrt.

Mit Recht führt Herr Dr. Isaac Breuer die unerquicklichen Verhältnisse des orthodoxen Judentums in Deutschland auf eine Ideenmüdigkeit zurück, die im Gegensatz zu der heute als ideo- logisch verschrienen Orthodoxie vor 40 Jahren das gegenwärtige Geschlecht erfasst habe. Neben dieser auf rasche, praktische Er- folge hindrängenden Tendenz der Gegenwart kommt aber unseres Erachtens auch die schwer wiegende Tatsache in Betracht, dass in weiten Kreisen unserer Gesinnungsgenossen in den letzten Jahr- zehnten der unbedingte Glaube an die Werbekraft und Zukunft des überlieferten Judentums gar bedenklich ins Wanken geriet. Wir wissen, dass wir mit dieser Behauptung eine schwere Be- schuldigung erheben, glauben aber auch imstand zu sein, den Nachweis für ihre Richtigkeit zu erbringen.

Könnten wir zahlenmässig nachweisen, in wie viel Fällen Kinder religionstreuer Eltern in den letzten Jahrzehnten dem alten Judentum den Rücken gekehrt haben, so würde Jedermann auf Grund dieser Zahl die Überzeugung gewinnen, dass es wunderbar zugehen müsste, wenn wir angesichts der ungeheuren Schwierig- keit, die Jugend bei der Fahne zu halten, nicht doch allmählich zu einem sehr trüben urteil über die Möglichkeit einer dauernden Vererbung der Thora von Vater auf Kind gelangt wären. Eine genaue statistische Feststellung dürfte sich aber deshalb erübrigen, weil es wohl in der gesamten deutschen Orthodoxie kaum eine Familie geben mag, die von sich behaupten könnte : uns haben die tausend Lockrufe des Abfalls nicht geschadet, wir haben kein einziges Kind an den Moloch der Neuzeit verloren weil mit einem Worte die unserem Kreise Entlaufenen eine so grosse Schar bilden, dass man sie gar nicht übersehen kann, dass man sie gar nicht erst zu zählen braucht, um den sich jedem aufdrängenden

Von unserer Jugend. 209

Pessimismus über die Aussichten der Orthodoxie in der Zukunft statistisch zu begründen.

Was war der Grund oder besser : was waren die Gründe dieses reissenden Niederganges, dieses nach vielen Tausenden zählenden Abfalls unserer jüdischen Jugend ? Wir pflegten jahr- aus jahrein die Tatsache diesgr Entfremdung zu beklagen, gaben uns aber selten die Mühe, auch einmal die seelischen Grundlagen dieser betrüblichen Erscheinung mit aller Schärfe und Rücksichts- losigkeit zu entschleiern.

Bei der Mehrheit unserer Jugend war vor allem ein er- schreckender Mangel an einer wahrhaft lebendigen inneren Beziehung zu Thora und Mizwoth zu gewahren. Dieser Mangel ging auf eine beschämende Unkenntnis der Thora, diese Unkenntnis wie- derum wurzelte keineswegs in bösem Willen oder angeborener Faulheit, sondern in einer Vielseitigkeit der geistigen Interessen, die in einseitigem Bibel- und Talmudstudium kein Genüge fanden. Welch einen wichtigen Platz im geistigen Leben unserer Jugend nahm allein schon die Zeitung ein ! Gewiss, nicht alles was in der Zeitung stand, wurde mit Andacht gelesen und zu einem un- verlierbaren geistigen Besitztum erhoben. Man las die Zeitung rasch, mit halber Aufmerksamkeit ihre Spalten überfliegend und nur hier und da, wenn von besonderen Dingen, hochpolitischen oder hochpikanten, die Rede war, verweilte der Sinn des Leser» zu beschaulicher Aufnahme des Gelesenen in Geist und Phantasie. War aber diese fast nie unterbrochene Regelmässigkeit der Bear- beitung, der Beeinflussung von Herz und Verstand durch die zu täglicher Lebensgewohnheit gleich dem Essen und Trinken ge- wordene Zeitungslektüre nicht eine erzieherische Grossmacht, gegen welche das Thoralernen mit den erzieherischen Einflüssen, die man sich von ihm erwartete, nur sehr schwer ankämpfen konnte? Wie kam es denn, dass in den Unterhaltungen, die zumeist in den Salons auch orthodoxer Kreise an Sabbathen und Festtagen ge- pflogen wurden, von allem möglichen geredet und geschwatzt ward, von der politischen Lage, vom neuesten Mordprozess oder Theater- stück, doch niemals fast über ein Thema aus der biblisch-talmu- dischen Literatur ? Das hatte keineswegs blos seinen Grund in

210 Von unserer Jugend.

einem Mangel an Kenntnis dieser Literatur, denn unter den Glau- bensgenossen, die sich da im gesellschaftlichen Kreise zu versam- meln pflegten, war Mancher, der in dieser Literatur wohl bewandert war, nur scheute er sich, in einem Salon über Dinge zu reden, die ihm zu hoch, zu schwer, zu ernst erschienen im Vergleich zu den auf niedrigstem Niveau sich bew«genden geistigen Interessen des Alltags seiner jüdischen Umgebung. Die Forderung, dass wir ganze Juden sein sollen, war eben eine Forderung geblieben, der die Wenigsten auch nur halbwegs entsprachen. Die Meisten flüch- teten sich mit ihrem Judentum in die stillen Winkel des Lebens, ihr Hauptinteresse wurde durch die allgemeinen geistigen Einwir- kungen ihrer Umwelt völlig absorbiert.

Hierzu kamen dann die Tausend Schwierigkeiten und Dis- harmonien, die sich als Folge der wirtschaftlichen Verhältnisse einstellten. Der Kampf ums Brot, die schweren Hindernisse, die sich der frühen Gründung eines selbständigen Hausstandes ent- gegenstellten, das spätere Heiraten mit seinen im höchsten Grade nachteiligen Folgen für den sittlichen Zustand unserer Jugend : das alles sollten wir uns noch eiomal genau vergegenwärtigen, um zu wissen, wie unsere Jugend vor dem Kriege war. und daran zu ermessen, welch gründlicher Umgestaltung aller Verhältnisse es bedarf, sollen die äusseren Lebensbedingungen nicht auch nach dem Kriege zu einem so verhängnisvollen Fallstrick für unsere Jugend werden, wie sie es vor dem Kriege waren.

Wenn im Sinne des jüdischen Religionsgesetzes das 18. Lebensjahr der natürliche Zeitpunkt für die Gründung eines eigenen Hausstandes ist, so hat es doch in den Kreisen unserer orthodoxen Jugend sehr wenige gegeben, die dieser altjüdischen Anschauung den nötigen verständnisvollen Ernst entgegenbrachten. Schon zu 18 Jahren heiraten? Unsere jungen Herren lachten darüber. Statt die Unmöglichkeit rechtzeitiger Eheschliessung als eine schwere Kalamität, als einen dem modernen Wirtschaftsleben darge- brachten traurigen Tribut zu beklagen, fühlten sich unsere jungen Herren in ihrer Junggesellenfreiheit recht wohl, ja, sie empfanden, wenn sie über Jahr und Tag zum Heiraten sich entschlossen, diesen ernsten Schritt als einen mit weltschmerzlicher Wehmut beseufzten

Von unserer Jugend. 211

Abschied von der Jugend, die für ihr Gefühl mit all ihren Farben und Reizen am Hochzeitstag in die graue Einöde einer unsäglich langweiligen Philisterhaftigkeit versank. Hier zeigte sich eine klaffende Lücke in der jüdischen Anschauung unserer Jugend von Welt und Leben. Ihr war der Junggeselle kein minderwertiges Geschöpf, dem es nach dem alten Frankfurter Minhag sogar ver- wehrt ist, sich im Gotteshause mit dem Tallis zu bekleiden, sondern der normale Typ aller zwischen dem 18. und 40. Lebensjahr sich tummelnden und amüsierenden Menschheit. Ihr war die Ehe nicht Anfang, sondern Ende, nicht Erfüllung, sondern Verzicht. Ist es ein Wunder, wenn junge Leute, die oft jahrzehntenlang in den modernen, sattsam bekannten Junggesellenanschauungen und -ge- wohnheiten leben und weben, untauglich für eine wahrhaft jüdi- sche Ehe wurden, die in reichem Kindersegen den Zweck ihrer Gründung sieht? Zu den Kassandrarufen des Herrn Dr. Theilhaber, der den Untergang des deutschen Judentums nur als eine Frage der Zeit betrachtet, lieferten auch orthodoxe junge Herren aller- hand statistisches Material.

Was taten nun aber unsere massgebenden Kreise, um die Jugend, die ihnen unter der Hand zu entgleiten drohte, an das orthodoxe Judentum zu fesseln ? Sie gingen bei den Zionisten in die Schule und machten aus der alten, der Jugend langweilig ge- wordenen Thora ein politisches Programm. Sie kamen dem „Be- tätigungsdrang", wie man Grossmannssucht euphemistisch zu um- schreiben pflegte, der Jugend durch Schaffung religionspolitischer Arbeitsgelegenheiten entgegen, damit unsere jungen Herren, die sich nunmehr im Dienste der Gesamtheit betätigen konnten, auf keine schlechten Gedanken keuimen. Alles was da zwischen dem 18. und 40. Lebensjahrej kreuchte und fleuchte und eine schwarze Aktenmappe besass, konnte und durfte für die Agudas Jisroel ar- beiten. Nicht die Besten und Reifsten, nicht die Harmonischen, nicht die längst mit sich und der Thora ins Reine Gekommenen, sondern;gerade diejenigen Elemente, die erst an der Agudas Jisroel zu einem harmonischen Judentum genesen sollten oder wollten, drängten sich heran. Sie galt als das grosse Lebenselixir für Schwankende und Kranke, als das Bindemittel, womit die halb

212 Von unserer Jugend.

oder ganz entfremdete Jugend an die Orthodoxie gefesselt wer- den sollte.

Kann aber nun die Politisierung der Jugend als ein taug- liches Mittel für die Erreichung des ersehnten Zweckes bezeichnet werden? Nein. Denn es muss der Gegensatz zwischen der alten patriarchalischen und der neuen demokratischen Erziehungsmethode auch in unsern Kreisen Reibungen erzeugen, die man wohl ver- decken, aber nicht aus der Welt schaffen kann. Die altjüdische Erziehungsmethode war patriarchalisch. Sie gewöhnte die Jugend, mit heiligem Respekt zur Thora und ihren Trägern aufzuschauen. Was man heute unter Individualismus versteht, das bezeichnete die Pädagogik unserer Alten mit dem sehr klaren, das Wesen der Sache durchaus treffenden Worte : n^2ü miy. Nicht Jedermann hat das Recht, eine eigene Meinung zu haben. Du Grünschnabel willst bi^"!^'' ^"PD vor dem Untergang retten? Du willst die Ost- judenfrage lösen? Hast du schon einmal bedacht, welch ein schweres, verantwortungsvolles Tun das Arbeiten für bülV^ b'?D ist? Dass man doch eigentlich hierfür vor allen Dingen erst von und vor V«l^"' bbj selber legitimiert sein müsste ? Dass nur der grösste DDP, der grösste ]lüb, der grösste □>Ctt' Nl'' als Führer der jüdischen Gesamtheit in Frage käme und falls ein solcher Mann heute vorhanden wäre, er höchstwahrscheinlich wie einst li'^D") niS'D zu bescheiden, zu wenig selbstbewusst wäre, um ohne ausdrücklichen Gottesbefehl an Israels Spitze zu treten ?

War die altjüdische Erziehungsmethode patriarchalisch, so ist die neujüdische demokratisch. Denn sie ist beim Zionismus in die Lehre gegangen. Gestalten wie Herzl haben weite Kreise der jüdischen Gesamtheit an die Tatsache gewöhnt, dass man ein erfolgreicher jüdischer Volksführer sein kann, ohne in der Thora eine Zeile mit Verständnis lesen zu können, dass der grösste DV pfc^n, wenn er Märchenaugen und einen langen Bart hat und Feuilleton-Redakteur der Neuenj Freien Presse ist, sich zum Erlöser Israels aufschwingen kann, dem eine Abordnung der Wilnaer Ju- denschaft mit der min IDD im Arm huldigt und auch sonst aller- hand Ehrbezeugungen von solcher üeberschwänglichkeit erwiesen werden, wie sie Männer vom Schlage des Maimonides niemals

Von unserer Jugend. 213

genossen haben. Diese Herzigestalten haben auch in der Ortho- doxie Schule gemacht, ohne dass es ihr bis jetzt deutlich zum Bewusstsein gekommen wäre,' wie unaufhaltsam die Demokrati- sierung der orthodoxen Religionspolitik auf eine Verfälschung der orthodoxen Gedankenwelt, ja auf eine ßevoliitionierung alles dessen hinausläuft, was seit je im Gemeinschaftsleben der Orthodoxie mit Fug und Recht gang und gäbe war. Demokratische Orthodoxie ist Hegemonie des yii^n Dy.

Wir werden uns nach dem Kriege schon nach andern taug- licheren Mitteln umsehen müssen, um unsere Jugend an die Thora zu fesseln. So gar schwer kann es uns nicht fallen, den richtigen Weg zu finden. Der „Betätigungsdrang" unserer Jugend hat, seitdem sie unter den Waffen steht, eine radikale Ablenkung er- fahren. Ruhebedürftiger und nachdenklicher, als sie ging, wird sie heimkehren.

214 Eine „Entgleisung" des Gerrer Rebbe?

Eine „Entgleisung" des Gerrer Rebbe?

In dem bekannten Brief des Gerrer Rebbe, worin er sich über das Warschauer „Jüdische Wort" ausspricht, heisst es u. a. : „Da nun jetzt unter dem Namen „Jüdisches Wort" eine Zeitung erscheint, deren Herausgeber den Gott und seiner Thora treuen Kreisen angehört, so bitte ich Euch, diese Zeitung, soweit wie nur irgend möglich, zu unterstützen, sie sowohl selbst zu abonnieren, als auch in Bekanntenkreisen dazu anzuregen, ihr authentische Nachrichten zukommen zu lassen und Anzeigen zu übergeben, da- mit sie nicht etwa gezwungen sei, Konzessionen zu machen und Anzeigen von Theatern aufzunehmen, von denen man (mit dem Spruchdichter) sagen kann: „Mit Untreuen gib' dich nicht ab".

„Der Israelit, ein Zentralorgan für das orthodoxe Judentum" bemerkt hierzu in No. 19 : „Zu beanstanden scheint uns an die- sem Schriftstück lediglich die hypothetische Wendung, die eine Rückenstärkung des empfohlenen Blattes gegen die Versuchung zur Aufnahme anstössiger Anzeigen als .'notwendig voraussetzt. Der Rabbi musste eigentlich wissen, dass das ,,Jüdische Wort" kein Erwerbsunternehmen, sondern ein unter grossen Geldopfern uneigennütziger Gesinnungsgenossen gegründetes Wohlfahrts-Unter- nehmen ist, das seine Prinzipien nicht verkauft, sondern entweder unter Wahrung dieser Prinzipien gedeihen oder überhaupt nicht existieren wird. Allein abgesehen von dieser Entgleisung usw."

Wir sind nicht der Ansicht, dass der Gerrer Rebbe , ent- gleist" ist, glauben vielmehr, dass die Befürchtung des Gerrer Rebbe, das „Jüdische Wort" werde Anzeigen von Theatern auf- nehmen, von denen man mit dem Spruchdichter sagen kann: „Mit Untreuen gib' dich nicht ab", auf eine Kenntnis des Rabbi vom Inhalte des Inseratenteils des „Israelit" zurückzuführen ist. Denn wenn die Leser des „Israelit" fast allwöchentlich mit An- kündigungen von Attraktionen Avie: „Die Czardasfürstin" „Jung muss man sein" „Der Soldat der Marie" - - „Prima Ballerina" „Das süsse Mädel" ~ „Ein Walzertraum" und dgl. erfreut werden, dann liegt der Analogieschluss sehr nahe, dass auch das

Eine „Entgleisung" des Gerrer Rebbe? 215

orthodoxe „Jüdische Wort" nach dem Vorbilde des nicht minder orthodoxen „Israelit" das Spruchdichterwort „Mit Untreuen gib' dich nicht ab" etwas weitherziger interpretieren werde, als der Rabbi von Ger. Der „Israelit" „musste eigentlich wissen", dass Männer vom Schlage des Gerrer Rebbe iür deutsch-orthodoxe Weitherzigkeiten im Kunstgenüsse nicht das mindeste Verständnis haben und daher auch das Auftauchen von Figuren vom Schlage des süssen Mädels und des Soldaten der Marie im Anzeigenteil eines orthodoxen Blattes als „Entgleisung", vielleicht sogar als doppelte Redaktionsmoral empfinden müssen. Wir sind darum überzeugt, dass in Polen selbst den citierten Passus in dem Schreiben des Gerrer Rebbe Niemand als „Entgleisung", sondern im Gegenteil Jeder lediglich als Ausdruck einer nur allzu berech- tigten Vorsorge aufgefasst haben wird. Jedoch selbst wenn die Befürchtung des Rabbi gänzlich unbegründet wäre, würde ihr in den Kreisen seiner Getreuen die schuldige Achtung nicht versagt werden. Dort, wo die n"ni DI 113D nD'?n nicht blos auf dem Papiere stehen, lehnt man „Rückenstärkungen", zumal wenn sie von einem Rabbi ausgehen, nicht so empfindlich ab wie bei uns.

216 .Einmal ist keinmal."

„Einmal ist keinmal." I.

Die Ausführungen unter diesem Titel im Ijar-Heft der „Jü- dischen Monatshefte" erinnerten mich an einen vor langen Jahren über das nämliche Sprichwort gelesenen Aufsatz von J. Hebel in seinem trefflichen „Rheinischen Schatzkästlein ". Hebel wendet mit Recht gegen dieses Sprichtwort ein, dass es wörtlich ge- nommen — überhaupt jede Tat negirt, da sich auch mehrere Hand- lungen dann nicht addiren lassen wenn die einzelnen „keinmal" stattgefunden haben. Auch die talmudische Divergenz, ob "liD""! ""in oder npTn '^ID^l rhr) setzt voraus, dass die erste Handlung nicht ignorirt werde, dass sie vielmehr als erste von zwei oder drei Handlungen gewertet wird. Es erscheint daher mindestens zwei- felhaft, ob das im Titel genannte Sprichwort mit Recht dem „jü- dischen Gedankenschatz einverleibt" werden kann.

Unabhängig von dieser Frage bleibt die Schwierigkeit der vom Verf. erwähnten i"iiy"i in 2"}} n"d imn^D bestehen, und das ermunternde Fragezeichen am Schlüsse des Artikels veranlasst mich, trotz dem Mangel an DnCD in hiesiger Gegend: (nordwestlich von Verdun) da ich erfreulicherweise eine l^TinjO DJüD zur Hand habe, den verehrten Lesern folgenden Lösungsversuch zu unter- breiten.

Zum Verständnis 'der vom Verf. angeführten ''"B'l dürfte der Wortlaut einer früheren "»"^1 daselbst mp"'TnD miDV n"lD beitragen. Hier sagt '^"^i:

nnav ^bv2 n^b p^innt^ «ni hd^d^ ^m^< vd^)d ^tt'^^^a.

Das Charakteristische der Ansicht mp'^TnD nilDj; ist demnach die Annahme, dass durch die dreimalige ^^<1n^, welche ja zum Bewusstsein des Täters gekommen sein muss, um als nKinn zu gelten, bereits die npin der ünverbesserl^chkeit des Verbrechers gegeben ist. Natürlich kann die Annahme der DNinn nicht be- straft werden, sie ist nur Voraussetzung der Strafe nach began- gener Sünde, aber die Verbrechernatur des Täters hat sich bereits in dem Moment erwiesen, da er nxinn b2pD war. Die n«"inn hat

„Einmal ist keinmal." 217

ja ganz eigentlich den Zweck, den Zufalls-Sünder vom Verbrecher mit Absicht zu scheiden: Tlüb ::^^ ^3 pnDn'? ^D. Wie aus der talraudischen Diskussion, die sich dieser Stelle sofort anschliesst, hervorgeht, ist ein weiterer Differenzpunkt zwischen p"n und N2i< bw^ auch die Frage, ob nD''D eine riKnnn für sich nötig hat oder ob sie schon in der n«"inn für nip^D mit eingeschlossen ist. Der i^üp NJn, welcher den Grundsatz n'lp''TnD nilDV aufstellt, meint auch folgerichtig, dass die dreimalige nutzlose nj^in" für jr\)pbü schon die ünverbesserlichkeit des Verbrechers derart beweist, dass es einer eigenen riNinn für nCD nicht|bedarf. Anders bMi^ «Di<, welcher den Grundsatz mp^iriD DVpbü aufstellt. Nicht die nb'np riNinn ist für ihn das Entscheidende, sondern die Ausübung der Tat selbst, da aber die n^inn für diese Tat noch für mp'po war, so muss zunächst die nip^D-Strafe vollzogen werden, obwohl durch die Tat sich schon die Verbesserlichkeit des Verbrechers erwiesen und er faktisch schon die nCD-Strafe verdient hätte. Diese kann aber nicht eintreten, da dann ein Doppelstrafe verhängt würde und DD^D ohne D'p^ö-Strafe ist nicht angängig, weil die "Kinn auf mp^O lautete und nach bM^^ N3« ja in der Tat nD''D eine eigene ilNinn bedürfte, die aber erst dem Gewohnheitsverbrecher gegen- über ausgesprochen werden konnte, also erst nach der dritten Tat. In diesem Sinne lässt sich die ''"tt'"i z. St, in dem ausge- führten Sinne verstehen : yiß>"i xn^n p^inn^i^l y'Vi^ d. h. obgleich die Dreimaligkeit des Verbrechens offenkundig den Verbrecher schon beim Begehen der dritten Tat als Gewohnheitsverbrecher darstellte HD^D^ inii< l''DiD pN weil n^b |''i''n nb ^i^l nnD, und für DD'^D allein vor dem Begehen der dritten Tat keine HNinn erfol- gen konnte. Der Grundsatz n'lp"'TnD rrnsy aber besagtl, dass schon durch ni<"inn b}'yp, welche ja den Beginn der juridisch zu erfassenden niDV darstellt, die dreimalige Wiederholung gegeben ist.

Wir sind uns wohl des Anfechtbaren dieser Erklärung be- wusst, nämlich der Vorwegnahme der späteren Diskussion ob DD^D eine nN"inn bedarf, aber jegliche Beantwortung dieser i"tt'"i muss ja noch dem „milden" Einwand von pm Din b)}^ :'DinRaum lassen.

Zahnarzt Ehrmann (z. Zt. im Felde).

218 „Einmal ist keinmal."

II.

^"iy"i erkennt anscheinend die Besserungstheorie oder Unver- besserlichkeit, die Sie ja auch anfechten, nicht an. (Vielleicht die Abschreckung 1^^"l''1 IVDt:^^ ]VD^). Die npm bedeutet nun nach "'"tyi hier nicht „Voraussetzung" (dass er es noch öfter tun wird), wie bei niDDIr ]iJ<"i^i u. a., sondern „Festigung". Durch dreimaliges Wiederholen hat er sich das Prädikat Vtt'"! fest und unlöslich er- worben (wie VP'\p^ üTl^n npm). Wer }iwi pTmn ist, für den gilt die Strafe l^D^D^ iniK ]"^D31D. Nach dem einen i"D genügt es nun, wenn der Tatbestand der m''DV durch dreimalige Wieder- holung festgestellt ist, so dass nach der dritten Feststellung schon die Verurteilung no'^zh erfolgen kann. Nach dem anderen i"d ge- nügt die Feststellung des Tatbestandes noch nicht, da ja das l"2 nach dieser noch die ganze Sachlage prüfen muss, ob er mp^D-schuldig ist. Dieses muss nach dem zweiten l"D auch hier geschehen, da er ja erst zweimal verurteilt wurde. Er hat die npin erst erlangt, wenn die m^'^V dreimal zu einer Verurteilung zu ri)pbü geführt hat. Dem l"2 liegt also die Frage vor : Ist er mp^D-schuldig? Das Urteil muss der Fragestellung gemäss auf nip^D lauten. Nun ist er wohl J?^i pTnin, aber selbstverständ- lich muss zunächst das ausgesprochene Urteil vollzogen werden und die zweite Strafe riD^D^ ]^Di1D kann wegen ')J^ ^m nnD nicht eintreten. V'n ■:innrÖ ^^),

III.

Das engere Gerichtsverfahren besteht aus Beweisverfahren und Urteil. Sachlich ist in dem geklärten Schulderweise das Urteil bereits enthalten. Der Angeklagte ist nach diesem r\D2 bereits verurteilt, wenn auch nicht ^J?1D3. Rechtlich aber gilt er so lange als nichtschuldig, bis nicht das Urteil vom Gericht verkündet wird. Für den einen i"ü ^niD^riD T)M^2V ist nun der sachliche Standpunkt hinsichtlich der npin massgebend, nach dem anderen, der rechtliche, mp''inD niip^'2 soll nach meinen Ausführungen daher nicht erst die erfolgte Strafe* bedeuten, sondern schon die Verurteilung zu derselben. Den Wortlaut in "^^"l a^DVD ':i np^^ty IV mmn i<b ü"ü'\ habe ich hierbei keineswegs übersehen und ihn mir so erklärt. Da die Verurteilung unbedingt

Chronik. 219

die Strafe nach sich zieht, ist der Gedankensprung von Verurteilung zur Strafe in diesem Zusammenhang nur unwesentlich und "»"tt'l macht ihn unbedenklich, um daran das ]r3"'''l i^b ''i"'! ^IHD leichter und zwangloser anzuknüpfen.

Dr. Nathan Friedmann (Gelsenkirchen).

Chronik.

Für den „Israelit" Artikel zu schreiben, ist heutzutage nicht ganz un- bedenklich, wie das Beispiel des Herrn Rabbiner Dr. Liebermann beweist. Derselbe hat im Jahre 1909 in einem „Israelif-Ärtikel das liberale Judentum ange,a;riffen. Warum auch nicht ? Damals konnte noch kein Mensch wissen, dass acht Jahre später Herr Dr. Liebermrinn Gelegenheit haben würde, um den Posten eines konservativen Rabbiners in der Berliner jüdischen Gemeinde sich zu bewerben. Hätte Herr Dr. Liebermanu im Jahre 1909 in die Zukunft schauen können, dann hätte er höchstwahrscheinlich es unterlassen, sich der Berliner jüdischen Gemeinde gegenüber durch orthodoxe „Israelif'-Artikel zu kompro- mittieren und es 'w-Sre ihm heute erspart geblieben, das Folgende nette Liebes- briefchen an die RepräsentanlenversammluDg der Berliner jüdischen Gemeinde zu schreiben :

,,Wie ich vernommen habe, steht auf der Tagesordnung der morgigen RepräsentantenversammluDg unter anderem die Wahl der vom Gemeinde- vorstand empfohlenen Rabbiner. Mit Rücksicht hierauf gestatte ich mit, Eu«r Hochwohlgeboren mitzuteilen, dass ich vor einiger Zeit dem Gemeindevorstand eine Erklärung bezügUch meines viel besprochenen Artiksls im „Israelit" Jahr- gang 1909 abgegeb.-n habe. Für den Fall, dass jener Artikel in der morgigen Sitzung zur Sprache gebracht M'erden sollte, wäre es mir erwünscht, wenn auch zugleich die bezügliche Erklärung zur Kenntnis des Repräsentantenkol- leginnis gelangte. Ich bitie Euer Hochwohlgeboren ergebenst, von dießem meinem Wunsehe freundlichst Notiz nehmen zu wollen. In hochachtungsvoller Ergebenheit Dr. Liebermann."

Nachdem dieses ungfmein charakteristische Schreiben in der Repräsen- tantenversammlung verlesen wurde, gab dazu Professor Dr. B 1 a s e h k e fol- gende Erklärung ab : ,,Ich bin durch den Brief des Herrn Rabbiner Dr. Liebermann ausserordentlich erfreut und zwar hauptsächlich aus Bwei Gründen. Einmal zeigt uns dieser Brief Herrn Dr. Liebermann als einen ebenso aufrechten, wie offenen und ehrlicben Munn ; zweitens aber, meme Herren, bin ich erfreut, weil der letzte Stein, an dem man etwa Anstoss nehmen könnte, durch diesen Brief aus dem Weg« geräumt ist. Da» Schreibeg

220 Chronik.

des Herrn Dr. Lieberraann an den Gemeindevorstand zerfällt nämlich in zwei Teile : in dem einen wahrt er seinen theologischen und religiösen Standpunkt, wie man es von einem überzeugungstreuen Mann nur erwarten kann ; er steht anf einem streng konservativ-urthodoxen Standpunkt; diesen Standpunkt wahrt der Herr mit aller Energie, die uns Achtung einflössen muss. Aber aut der anderen Seite hat Herr Dr. Liebermann durch diesen »einen Standpunkt vor längerer Zeit sich hinreissen lassen , gegen den Liberalismus im Judentum heftige Angriffe im „Israelit" zu richten. Diese Angriffe sind damals das bekennt Herr Dr. Liebermann in dem Schreiben an den Gemeindevorstand in seiner Aufregung heftiger geworden, als er »ie bei ruhiger Ueberlegung hätte machen wollen und wie er sie heute nicht billigt. Meine Herren, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass diese beiden Erklärungen des Herrn Dr. Liebermann unsere Achtung in unbeschränktem Masse hervor- rufen müssen. Das, meine Herren, wollte ich in dieser öffentlichen Sitzung konstatieren"*

Angesichts dieses interessanten Vorkommnisses möchten wir nicht unter- lassen, Rabbinatskandidaten, die auf „streng konservativ-orthodoxem" Stand- punkt stehen, dringend zu ermahnen, bei der Abfassung von ,, streng konser- vativ-orthodoxen" Israelit-Artikeln eine gewisse Vorsicht walten zu lassen, denn man kann nie wissen

Seit 1. Februar erscheint in Warschau ein orthodoxes Tagesblatt im Jargon. Lebensfähigkeit und Wirkungskraft dieses Organs werden nicht zu- letzt davon abhängen, ob es gelingt, aus den polnischen Judenmassen journa- listische Talente herauszuholen, die befähigt und gewillt sind, ihre Federn in den Dienst unserer alten Thora zu stellen.

Der vor kurzem stattgehabte Delegiertentag der zionistischen Vereini- gung hat nicht viel Bemerkenswertes zutage gefördert, ausgenommen vielleicht eine Rede Bubers, der es trefflich versteht, das unjüdische Wesen des zio- nistischen Denkens mit dem Schleier einer wirklich glänzenden Diktion zu ver- hüllen. Vom Misrachi hat man schon lange nichts mehr gehört. Lebt er noch oder schlätt er nur ?

Von einer zionistischen Legion, die am Gallipolifeldzug auf englischer Seite teilgenommen haben, wussten neulich die Zeitungen zu erzählen. Man muss es dem Zionismus lassen: auf die Nachahmung fremder Bräuche versteht er eich meisterhaft.

„Wie wir erfahren, wird mit Beginn des neuen Schuljahres durch die Verwaltung der israehtischen Gemeinde am Philantropin ein bedeutend ver- stärkter und vertiefter Parallelunterricht in Religion und allen hebräischen Disciplinen für Söhne konservativer Eltern eingerichtet. Diese Zweigabteilung wird der Beaufsichtigung des konservativen Gemeinderabbiners unterstehen

Mit der Einführung dieses Unterrichts wird ein seit langeu Jahren

gehegtes Verlangen der konservativen Kreise unserer Gemeinde erfüllt. Möge der Gesamtgemeinde daraus Segen erwachsen und der Unterricht zur Kräiti- gung des Einheitsgedankens in ihr führen." (Frankfurter Familienbiatt No. 5). Der Ausdruck „Zweigabteilung" ist gut gewählt. Ist ja im Sinne der „kon- servativen Kreise" der Frankfurter Gemeinde unsere alte, heilige Thora nur eine „Zweigabteilung" des Gesamtjudeutums. Sehr unklar dagegen ist d»s Wort „Einheitsgedanke". Dieses Wort besticht durch den Hauch der Ver- söhnlichkeit, der von ihm ausströmt (denn wer möchte nicht versöhnlich peinV), und es täuseht doch in Wirklichkeit nur darüber hinweg, dass kein

Chronik. 221

Einheitsgedanke der Welt faktisch bestehende Zweiheiten jemals aufzulöse« oder auch nur zu verdecken vermag. Und doch : mundus vult decipi, zu deutsch : die Welt will getäuscht sein.

Innerhalb der sogenannten jüdischen Gemeinde in Frankfurt a. M. giebt es seit Jahr und Tag zwei Vereine, von denen der eine Zentralverein israeli- tischer Gemeindeglieder und der andere Freisinniger Verein tär jüdisches Ge- meindeleben heisst. Es ist sehr belehrend, zu beboachten, wie sich diese beiden Vereine, von denen der erstere das orthodoxe Judentum und der zweite das liberale Judentum vertritt, miteinander vertragen. Darüber giebt der in No. 1/2 der von Cäsar Seligraann herausgegebenen Zeitschrift „Liberales Judentum" erschienene Bericht über die am 13. Januar d. J. abgehaltene Generalversamm- lung des Freisinnigen Vereins interessanten Aufschlus». Danach können sich die beiden Vereine nicht darüber einigen, welche Stellung das geplante neue Gemeindestatut dem orthodoxen Gemeinderabbiner zuweisen solle und wie bei der Einführung des hebräischen Unterrichts in den Frankfurter Schulen die Frage der Kopfbedeckung der Lehrer und Schüler zu regeln sei. Der Zentral- verein verlangt, „dass alle religiösen oder rituellen Fragen, die sich auf ortho- doxe oder gemeinsame Institutionen beziehen, vom Gemeindevorstand dem mit Beaufsichtigung der rituellen Anstalten betrauten orthodoxen Gemeinderabbiner zur Begutachtung vorgelegt und gemäss dessen schriftlichen Gutachtens ent- schieden werden müssten". Diese Forderung betrachtet der Freisinnige Verein als „eine vollkommene Knebelung der liberalen Richtung". Und mit Recht. Denn' wie darf sich die Gemeindeorthodoxie für befugt halten, bei den gemein- schaftlichen Institutionen der Gemeinde die liberalen Rabbiner einfach auszu- schalten ? Entweder oder : Stellt die Gemeindeorthodoxie die Gleichberechti- gung aller Kichtungen in der Gemeinde in Abrede, dann ist ihres Bleibens innerhalb der Gemeinde nicht. Bleibt sie innerhalb der Gemeinde, dann muss sie auch der liberalen Richtung Existenzraum und Wirkungsmöglichkeit ge- währen. Ebenso ist der Freisinnige Verein völlig im Recht, wenn er von der Gemeindeorthodoxie verlangt, dass sie zugebe, dass die Kinder des liberalen Teiles der Gemeinde dem hebräischen Unterricht ohne Kopfbedeckung an- wohnen. Auch dies ist eine Forderung, die nur als logische Consequenz aus dem auch von der Gemeindeorthodoxie anerkannten Grundprinzip des gegen- seitigen Gebens und Nehmens fliesst, mit dessen Anerkennung die Existenz- berechtigung der Gemeindeorthodoxie steht und fällt. Ob freilich alle diese Kämpfe in verhältnismässig glimpflichen Formen verliefen, wenn es in Frank- furt keine Religionsgesellschaft gäbe, ist eine andere Frage.

222 Talmudisches.

Talmudisches.

I.

ij''i iTDD -in üV t<3ito ntov bp^i l^5D n"^jin p-^y,, - 'idi i^b^D^Di n"iD n"N^D K^m ht':' 'DinD iDiifin nobn V't d"j dpv^ n"iD ^njn 2"in ^n:n

^D^v .i"D3 ni^D i^jH nn:DDi i"*! "?n Tnonn ''bnD d"dd o"^d i^"»!?-) iniD' •itt'i^D jKDi nib Dl D^D^NHD niDDinn nDii y'^ |«D n"'?:iD nbyn«' nc

- ^:iy btt' 1JIQDD Din ynoi -noNi yv:}pi ^jv -iii^yo i^"?") -iwyD nDnnv niJT DN «iNH i^yoirj^i - ^i^D b^ HNinD moNi dv^dd ViCI^d p^n^ysi N"py-i 'DDinD D"t:;D^Dyy'^ nyi - "nD^i «n^ iDB^.nDTin ^di. ihd"? D^tt'i? bn}£i2"]n'Dbv; ij"ido3 inin ynob -not«! t<ni i"d niN'N"DD ^ndii y'sD nyib f<n^: id - "noNi iff"D ^rbo n"^DNi ni:;-! y'Dpi -ncNi i"d ^n*didi in"«'? ^«D-i3 b"m njpm Ondii n"d {<"d iD"^inD indih) Dpoicn nyi^

- jHD^ niDD^ \^tt'-n Dn^ion'p i^hi ib mjüb id) ]r\Db nDiinn "i:)iDDD iDinyiiDi t^"b ^«013 «n «"»jodk p^dno p^i ^'''d^ V'd "indh y'D pn^yD moDinni V'^ ]d d{<i ]nDD d^oi ^iis^b ^«tt'-n i^d ihd ^if ."i^S^D bir n«jn -iid^n ayioD lyn^n D"yi ihd"? mnDy^Ni&'-n d^pdid i^hd Dtt'n^DD p^n^yD «pin iihd hd^i y"ii pnyi p^bjn ^y ^r\2DD p :b"] K^iDD« n"-i3 D"y n"^ d^hod^i - inKn dic^itod hididd «pmi Die Ti^N-i Dibni .Di^D 11:^1^0 n"?"! n-'D Nb im - d^dj ^Dbii^i-i-i^ «'IDD

- Di:? ""NDiD N"-i:in^ in^^i^ ni:irb D-^w'-inn nriiroD nco^n itinh «'ii^dd

•'•HD-iD mn yno^ -iid^^i yy^i ]J■'yDtt'^«'? i^nx d^d^d n-i^n nn üh ']Db Dibi:' ^dii ^jdd pi ^d:*? ijn^b D^^n li^Hic "i"»» ^dj"? ^dn .y'Dv ii;"v inn^y 'oDin .niin"? iiDit-i ^Ktt'"i ij''j< ^Niin b2i^

.i"iy^ yyiii i^^D ^NinD nii .n"niTy - hdd b«' n"«

.«"y ni'?''bjni |yjy-iD«D p"pi di

Talmudisches. 223

II.

•IHD ^i:^ liiDDn mn yms «in^ "»jod ^D^iyn^n ^did Dwr2 DVton ^^i'in nobi ndd^h nwpD 2"d ni niD"i2D n"^2in n:n

i^b^D nj<:n -no^N^ d^^'d avisn noi^ {<b hd^i noiinn ^üi \njrh d^itd i^D^'i ^"pDD !?^Di ^i^^<^ -"^y -itt^yo^ bn^n ^3d dii^d p n^NB^ dw' }>-i^ni «in viDic Niivn "»jv "1^02 a: i''^^^ °Vi3n iwin -jd^d^ ^i^^:d ^ly nwin btt' n«:nD V'-i nt«:nD -not^ ^Dtott' ^jdd DVJ^n niDDinn i:in: ato^ntt'

D^tonD jabmo nm*' «in nrn oytom minn |d iidn b2^'2 ^i^^d nN:n n"^iin b^ ^:^^b "^d« .|nD iddh dwd j^^« ir«^ mDi2D niDDinn "i:nitt' 3in yiiD^y Ditt'D niDoinn i in n pbi mm niOD aw' anDiy niDn «in nDiD im« i«^:iin nbn mn Dyi:n iiyin ah mcömn x^n pD ^^ic ])ddo

«i^^iiD N"i ]i«jn^ D^j?iT HD bv ini^N ni^ii' iddd ^n'^i^i n:m

yno^ "iiDkSi y'v}^-i ji^VDtt'i^b nd*^ nDiD n^-'D j^^^dd«! '•D^tt'n^D j^n-ii^i "•Dil Ditt'D i^"?« i-id:^ i:)n^^ a^-in ^:^nw "»di "i^dit nD^b ^3« ^j^did dih ^"^ pan^v mcDin niinb -iidj^i ^«tt'-i ii^i< ^t^iiiD ^dn nn n"? -jd^ di^iv pD ^a' 121DDD i2in yiiDW aytsn "riitt' n"? nD:3i vidiö n«-ii .V'dv iDiS ^Dii n? "«dSi Di^i:' ^Dm Gitt'D «b« Din ""in t^b nDib n:"'nim dwq niDDinn d:i ii<''2nifi' ^D^tt^nM b^ yM'^r\2 rniTya nicoinn i^n^d ni licDi

«^ ]D 1DD iKDlD 3in y"l1Dl DV^H "»"ID^a ^'»^ i^l 1DD1 DItt'D nDlSD

i:^\"n in^D3 i"'''«'! Dj?isn iidn p byi ^DtaD am moi d^mh id -j-iv^ i?p:N-)D HDD 'pn

224 Literarisches. Notii.

Literarisches.

Hebräische Amnlette mit magisohen Zablenquadraten. Von Dr. W. Ähren« in Rostock. Berlin, Louis Lamm, 191ß.

Die kurze lesbare, aber doch recht gründliche Abhandlung kann Inter- essenten nur empfohlen -vrerden. Wenn auch einige Brmerkungen, die Verf. über die Eabbalah einfliessen läsat, nur mit Vorsieht xu geniessen sind, so verdient andererseits der wiederholte eindringliche Hinweis auf die nicht überall genügend bekannte Tatsache besondere Beachtung, das» nicht alles jüdischen Ursprungs ist, was sich mit hebräischen Federn schmückt.

s.

Der Born Jadas, Legenden, Märehen und Erzählungen, gesammelt von M. J. bin G o r i 0 n. Sechs Bände. Erster Band : Von Liebe und Treu«^ Leipzig, im Insel- Verlag.

Dem ausserhalb des Judentums Stehenden eröffnet (dies« Sammlung einen ungeahnten Einblick in eine literarische Welt, die an innerer lebendiger Kraft und an künstlerischem Wert den Vergleich mit keiner andern zu scheuen braucht. Juden dagegen, die gewohnt sind, die Ueberlieferangen ihrer Väter •benso wie die Urkunden ihres heiligen Schrifttums mit der Wahrheit eines persönlichen Erlebnisses zu empfinden, werden gut daran tun, neben den Ein- drücken der Ueberraschung, die auch sie angesichts der erstaunlichen Fülle der von bin Gorion gesammelten Poesie überkommen wird, ihren kritischen Sinn wachzuhalten, der sie befähigen wird, jüdische Literaturerzeugniise, die den Begriff des Märchens und der Legende in unser Schrifttum einführen, mit der dogmatisch gebotenen Vorsicht zu geniessen.

Notiz.

„Zum jüdischen Eherecht."

Zu den Ausfuhrungen Neowirths über jüdisches Eherecht (diese Zeit- schrift ni S. 297 ff.) muss ich unbeschadet meiner grundsätzlichen Stellung- nahme und anderer Einwände bemerken, dass dessen Bezugnahme (S. 309 A. 1) auf 3"n {<"d DW^H riD^n D"2D"1 dafür, das» r^DD ^]t/)VD erst von dengRabbinen geschaffen seien, jeglicher Grundlage entbehrt. Denn gemäss der nahezu von allen Erklärern rezipierten Ansicht (vgl. u. a. Kessef Mischne, sowie die klassische Kontroverse zwischen Maimonides und Nachmanide» ")qd '2 ^"lllf n"13iDn> weiterer Belege bedarf es wohl nicht) bedeutet bekanntlieh D^HDID "^ISID nach dem Sprachgebrauche des Rambam nicht schon etwa, dass die betreffende Bestimmung erst kraft rabbinischer Satzung verbindlich sei (]j3Ti). Vielmehr bezeichnet Rambam jede Norm, die nicht ohne weitere» aus dem einfachen Wortlaut der Schrift hervorgeht, sondern mittels einer der 13 Interpretationsregeln des R. Ismael abgeleitet wird y'i^ iD^^n 121 bj) (nnD »Is '0"lD} "^eil die Handhabung dieser Regeln den Sofrim, Schriftge- lehrten, überlassen ist, obwohl das dabei gewonnese inhaltliche Ergebnis sonst in aller Hinsicht als {<n"'"''ni<1D S^^- Damit entfallen auch die an das Gegenteil geknüpften Folgerungen S. 3l7ff.

Jakob Neubauer.

===== )Q^b 31C0 Uli =—

JUEDISCHE

mONflTSHeFTE

herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kohn, Ansbach, unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Salomon Breuer, Frankfurt a. M.

Jahrgang 4. Heft 8.

Heute geht eine Welt ihrer Geburt entgegen! Heute stellt Er vor seinen Richterspruch alle Geschöpfe seiner Welten, ob als Söhne, ob als Diener sie vor Ihm bestehen Wenn als Söhne o, so erbarmst Du dich unser, wie der Vater sich der Kinder erbarmt, Wenn als Diener, so harren unsere Augen Dir entgegen, bis Gewährung Du uns spendest und dem Lichte gleich emporführst unser Recht, Du Furchtbarer, Heiliger I Einfe Welt geht heute vor Gottes Auge ihrer Geburt entgegen {7Mn\ Denn die Welt der Schöpfung, ins Dasein gerufen n^irxi «*ip:^ mm b^DiCD ,Dp^N kid n^^NiD - dass sie der Verwirklichung götthcher Ziele durch freie Menschen- tat diene, erscheint in ihrem Bestehen und Vergehen be- dingt durch die freie, sittliche Entschliessung der Menschen. Der Menschen Würde erhält die Welt, der Menschen Leicht- sinn droht in Trümmer sie zu stürzen. Muss nicht mit je- dem Tag die Welt für ihren Bestand zittern ?

D^Dtt'a 2)i: -j-iDl 'i übiv^ singt aber der Psalm (119 Com.),

226 .üb)v riiT) Dvn

Gottes unendliche, ewige Liebe giebt auch seinem Schöpf- ungswort im Himmel die Dauer. "iDiiDi^ "im in'? Weil für alle Geschlechter seine Treue den Menschen umfängt, niiiD TiDVm darum steht auch die Erde fest, die er gegründet, steht fest, nrn nDy ^tODtt'o^ auch wenn sie mit jedem Tag Seinem Richterspruch entgegenharrt, yi:2V ^DD ""D das ganze All, in dem Alles Gottes Diener ist.

Und nun gar am Rosch Haschana ! Muss sie nicht mit bangem Zittern dem Tag entgegengehn, der über ihr eigenes Geschick entscheiden mag ist es nicht der Tag, an dem ein ganzes All seiner Geburt aufs neue ent- gegenharrt?

Toy^ D1TI sie alle, die Geschöpfe seiner Welten, harren seines Richterspruchs ob als Kinder, ob als Diener :

Ein All harrt Seines Richterspruchs als d^dv: bjn ''D I^Dy sind sie doch alle „Seine Diener, Vollstrecker Seines Wortes" und dienen in huldigender Hingebung Ihm !

Menschen allein stehen auch als D^22 vor Gott. Sie sind *n bn ^j2. nipo^ d^^d mtw:^ l^^^^n, darin liegt ihr Vor- zug : freie Söhne Gottes, in denen der Funke, losgeschla- gen von göttlicher Freiheit, lebt! Sind nicht als 'n nDV ge- boren, heil, wenn sie in Freiheit zu Gottes Dienern sich erheben, ^illDV^l "^iD DK nbtt' wenn sie als ü^püb d^JD Seine Diener werden !

Und schaut Gott auf seine Welt als auf seine n^DV, so schaut er auf uns als seine D'':3D und zugleich als seine D^Dy : als D''iD und als DnDV lädt der Thekiaruf uns heute vor Gottes Thron.

liDni D^iDD DN fällt Sein Auge auf uns als seine Söhne, o, dann strömt Erbarmen uns zu, denn es quillt aus dem Vaterherzen, das in uns wesensverwandte Kinder schaut - Dn^yD Di^l aber selbst wenn Gott prüfend erwägt, wie wir als 'n n3V Ihm gedient, wie yi2V b^n o Dvn nov "['»'lOD^D'r wir im Chor seiner Dienerschar unsere Aufgabe gelöst, auch dann 'D d'^ij;'? erfüllt uns selige Gewissheit, dass Gott auch dann nicht vergisst, dass wir D)pDb D^:2: und U^nntt' iv immer

.D^ij; mn Di^n 227

neue Spende beglückender Kraft geistiger und sittlicher Be- gabung (nr^n) ist seinen mit Freiheit und Sündenfähigkeit begabten Menschen sicher.

UND «^iiim Nicht in Nacht und Untergang lässt Er uns enden, Gott führt uns dem Licht entgegen, auch als DVH mip auch wenn in furchtbarer Heiligkeit er uns erscheint. n^iik Ist doch das sehnende Streben unserer Lippen angenehm vor Dir, Gott, auch wenn hoch und erhaben Du bist ! Du merkst auf und neigst Dein Ohr, schaust hin und horchest hin auf die Stimme unserer Therua und nimmst in Erbar- men und mit Wohlgefallen entgegen, was wir in nVD^D vor Dir geordnet. Denn so hoch und erhaben Er auch sein mag, aus der Ferne merkt Er auf, neigt sein Ohr, schaut hin, horcht hin : immer näher und näher I Nili ]vbv 'n ^D (Com. Ps. 47) Denn auch als ]Vbv bleibt Er 'n und b}p2 'n nynnn dp'tk röv "iDW : begreifen wir seine Therua, so lädt uns der Vaterruf Seiner Thekia in seine Nähe I So furchtbar und heilig Er auch sein mag, er harrt auf das „sehnende Streben" un- seres Lippenworts, und wenn aus ihm Sehnsucht nach Seiner Nähe, Gelöbnis erneuten huldigenden Gehorsams ("iJ'Tiynn b^p) spricht, dann eilt Er in willigem Erbarmen seinen Kindern entgegen, und was nvD^D ihnen verheissen, bleibt sicher kein Traum.

J. Br.

228 Taschlich.

Taschlich.

Das Verständnis für jüdische Bräuche geht Hand in Hand mit dem Verständnis, das die Gesamtinstitution des Judentums bei seinen Trägern findet. Sie teilen ihr Schick- sal. Je inniger die Aufnahme der göttlichen Wahrheiten sich vollzogen hat, die das Leben derer zu gestalten berufen sind, die Sehnsucht nach Erkenntnis und Lebensgewissheit in die Nähe Gottes führt, desto empfänglicher wird der Boden auch für die Erfassung aller Erscheinungen jüdischer Gepflogen- heiten sich erweisen. Sie sind ja letzten Endes der reife Niederschlag einer von jüdischen Anschauungen gesättigter Atmosphäre. Es ist daher vergebliche Mühe, bei Fernste- henden für solche „Übungen" mehr als achtungsvolles Kopf- schütteln zu erreichen. Sie rechnen auch nicht mit ihrer Zustimmung. Traurig, wenn sie gegen mangelndes Ver- ständnis der eigenen Kreise anzukämpfen haben. Dann aber genügt es nicht, sie losgelöst von dem Boden, auf dem sie gedeihen, und der Umgebung, der sie ihre Kraft ver- danken, der pietätvollen Berücksichtigung zu empfehlen.

Erst muss uns die Sehnsucht nach dem göttlichen Führerarm erfüllen, die uns das Offenbarungswort aus der Hand unseres Gottes hinnehmen heisst : wir brauchen es, wenn wir nicht an unserem Leben verzweifeln sollen, es soll uns durch die Schattengänge unseres Daseins geleiten, die Sonne sein, die die Nacht unlösbarer Rätsel uns durch- bricht. Es ist uns Lebensnotwendigkeit, kein.en Augenblick könnten wir ohne seine Weisung bestehen. Bei jedem Schritt, den wir in das Leben setzen, schauen wir uns um, ob es ihn billigt, denn wir wollen Gewissheit, dass wir vorwärts, dem Gott allein bekannten Ziele uns nähern und nicht in trostloser Öde uns verirren. Wir werden nicht seufzen, dass der Gottesboten zu zahlreiche seien, die uns auf dem Le- bensweg freundlich winkend grüssen, wir vermissten sie, gäbe es eine, wenn auch kurze Wegstrecke, die wir führerlos

Taschlich. 229

zurückzulegen genötigt wären. Wir blieben ängstlich stehen und schauten uns um, wo sie denn bleiben. „Er aber be- fiehlt Dir seine^ Boten, Dich auf allen Deinen Wegen zu beschützen, dass sie auf Händen dich tragen, damit nicht dein Fuss an den Steinen sich stosse". Denn uns soll nichts Böses begegnen, die Angst der Nacht uns nicht schrecken, im Dunkel schleichender Tod uns nicht hinweg- raffen Weil wir schauen die Tausende der Fallenden links und die Zehntausende rechts, ist uns Gott Träger unseres Seins, lassen wir uns von seinem Fittig decken und suchen unter seinen allmächtigen Flügeln Schutz (Ps. 91). Vor unseren Augen muss sich erst eine lichtdurchflutete Weite dehnen, stolz sich unsere geadelte Brust heben, rüstig unser Fuss durch die „Länge der TagC dahinschreiten, und unserer Kehle das jubelnde Lied eines Gott dienenden Lebens sich entringen.

Nur wem Judentum so zu immer erneutem Erlebnis sich gestaltet, der allein trägt die Voraussetzung zu seinem Verständnis in sich. Nur wer den jüdischen Lebensbaum mit seinen Wurzeln in sein Inneres gepflanzt und mit seinem W^achstum selber gewachsen, mit seinen Blüten selber an Blüten gewonnen und in seinen Früchten die einzigen wah- ren Früchte erblickt, auf die sein eigenes Leben hinzuschauen vermag, braucht nur auf die Atemzüge seiner eigenen Brust zu lauschen und muss nur die Pulsschläge seines eigenen Herzens zählen, um die Vertrautheit mit allen seinen Er- scheinungen zu gewinnen. Wir müssen jüdisch atmen, jü- disch denken, jüdisch fühlen, wenn wir Judentum begreifen wollen. Nur das jüdische Ohr triff't der Schofar am Rosch Haschana, nur das jüdische Herz empfindet die Seligkeit des Jom Kippur, und nur die jüdische Freude findet in der Sukko ihren dauernden Nährboden.

Es gehört keine grosse Überwindung dazu, den jüdi. sehen Brauch, am Nachmittag des Rosch Haschana gegen Sonnenuntergang am Flusse stehend Prophetenworte des Mi- cha zu sprechen, mitzumachen. W^ir tun aber gut daran und

230 Taschlich.

sind es unserer Selbstachtung schuldig, wenn wir nicht erst aus nichtjüdischem Munde den „Gesang der Geister über den Wassern" vernehmen. Es gehört unseres Erachtens viel weniger einfühlendes Naturverständnis dazu, dem Donner des majestätischen Wasserfalls das Ohr zu neigen, die Spra- che des schäumenden Bergquells zu vernehmen, den unauf- haltsam sich wälzenden Stromwellen träumerisch nachzu- sinnen, oder sein Auge in den ruhig spiegelnden See seelen- voll zu tauchen, als bei jedem Schluck Wasser zu dem ge- dankenvoll aufzuschauen „durch dessen Wort alles ward". Uns aber hat der sterbende Führer zugerufen: „Höre Israel, heute durchziehst du den Jarden", und die Weisen verstan- den mit einemmal D^ü nmiy«' bm^'D din hd^h ,'^D^ b^itt'^ vo^ nDiD n^ni bjn^ 11"Q idi« iNDJfb weshalb es in Israel gesetz- liche Vorschrift sei, bei jedem Schluck Wasser der wunder tätigen, mit ihrem Schöpferwort die Welt beherrschenden Allmacht Gottes zu gedenken. „Sieh, alle Wunder, die Gott Israel erwiesen, vollzogen sich durchs Wasser". Trink keinen Tropfen Wasser, ohne den Jarden zu durchschreiten. Mit jedem Tag durchziehst du den Jarden. Und das Alltägliche, Natürlichste wird dir zum unfassbaren Wunder. Dir hat die fürsorgende Gotleswaltung, die jedem menschlichen Bedürf- nis nahe ist, als ein grösseres Wunder dazustehen, als der Augenblick, da die Wogen des Meeres sich teilten. Die Stimme Gottes schwebt über den Wassern.

Wir zogen durchs Meer, zogen durch den Jordan, und die Wogen des Meeres teilten sich uns, und die hochgehen- den Fluten des Jordans traten vor uns zurück. Das haben die anderen nicht erlebt. Deshalb sind uns Meere und Flüsse viel inniger vertraut, und wir fürchten ihre Tiefen nicht. Und hätten uns auch „die Wasser bis ans Leben umfangen**, hätte „die Erde ihre Riegel für immer uns vorgeschoben", „schattige Meerestiefen" schleudern uns empor und geben uns dem Leben wieder Jon. 2).

Das Meer hörte unsere Lieder. Diese Lieder leben fortan auf unserem Munde So wollte es Mosche. Deshalb

Taschlich. 231

sang er der Zukunft (Ttt'"' m) sein Lied. Und Propheten ziehen uns singend voran. Seitdem schrecken Meereswogen uns nicht. „Denn ziehst du durchs Wasser, mit dir bin ich. und Ströme, sie schwemmen dich nicht weg" (Jes. 43), und wo Völkerwillkür die pharaonische Geissei über uns schwingt, weisen sie uns den Gottesstab, der in alle Zu- kunft „über die Meere gestreckt ist" (das. 10). Den von Ihm Erlösten bahnt er durch Meere den Weg (51) , und deshalb d^d i'nV) zieht unser historischer Jammer durchs Meer (Sech. 10). Das verleiht uns die Kraft, Gott täglich das Lied vom Meere zu singen.

Dieses Meereslied schwebte auch dem Propheten, wie mit Recht bemerkt wird (M. Hirsch, zwölf Pr.), vor Augen, als er Gott sein Meereslied sang, dessen Worte von uns am Rosch Haschana Nachmittag am Flusse stehend nach- empfunden werden sollen. lt^^D bi< ''D „Wer ist, Allmäch- tiger, wie Du! der Schuld hinweghebt, über Verbrechen hinwegschreitet dem Überrest seines Erbes I Nicht für immer hält er seinen Zorn, denn an Liebe hat er seine Freude. So wendet er sich erbarmungsvoll uns zu und zwingt nie- der unsere Sünden D^ m^iiOD "|"''?:i'm in Meerestiefen wirfst Du alle ihre Verirrungen". Die „Erlösung*, die das Gottesvolk am Meere erlebte, „als seine Verfolger in Meeres- tiefen wie Stein versanken", findet ihre ewige Wiederholung in dem Gottesbeistand, der jedem zugesichert ist, der im Kampf mit seinem inneren Feind nach Erlösung sich sehnt. Unser freilich ist der entschiedene Schritt vorwärts, der Mut und die feste Entschlossenheit, die den Kampf nicht scheut, und die widerstrebenden Wogen im eigenen Inneren mit gewaltiger Kraft zu bändigen weiss und sie zurückzu- treten heisst vor dem allmächtigen, sieghaft sich durch- setzenden Gottesvvort. Dann schlagen Gottes Wogen gnädig über unserem „Verfolger" zusammen, Gottes DiCD versenkt ihn in Meerestiefen, und im jungen Morgen liegt vor uns der Weg reinen, Gott dienenden VoUbringens.

Das ist das Werk der „Akeda", zu deren Höhe der

232 Taschlich.

Schofar des Rosch Haschana uns ruft. Er fordert von uns Fesselung und Überwindung alles dessen, was sich hem- mend unserem Emporstreben entgegenstellt, damit Gott uns würdig erachte, sein Meereswunder zu erleben. Denn auch Awrohom, so spricht das sinnige Weisheitswort, hatte sich auf dem Weg zur Akeda der „mächtige Strom" in den Weg gelegt Er aber spaltete seine Fluten, denn er „spaltete* das Holz zur Akeda. Das war die Stunde, in der Gott seine Enkel zum Volke des Meeresliedes weihte.

Deshalb (s. Barke Mosche Seh. A. 0. Ch. 583) verweilt der jüdische Sinn nachdenklich am Wasser, wenn am Nach- mittag des Rosch Haschana die Klangwellen des Schofar ihn noch umschweben. Das Wasser hat auch für ihn geheimnis- volle Macht. Seine Fluten locken. Hier winkt Dir Reinheit, hier ewige Jugend (d^dd ninü). Das Meereshed der Geula lebt auf seinen Lippen. Es verheisst auch ihm Gottes Er- lösung. In die Tiefen des Meeres versinkt sein Feind, wenn er zur Akeda bereit sich findet. Ob er den Mut be- sitzt, sich dem Wasser anzuvertrauen ?

In den Tiefen tummeln sich die Fische (Darke Mosche das.). Das Wasser ist ihr Element. Das Wasser wird auch uns zur „Mauer" (M. R.). Der ewige Quell lebendigen Wassers will auch uns umspülen. Dort allein können wir leben, dort allein gesunden, dort allein sind wir geborgen.

Der Gang zum Wasser ist gar Vielen eine gedanken- lose Übung geworden. Danach fragt nicht der jüdische Brauch. Für wie Viele ist denn das tägliche Meereslied, ist die Wunderberacha beim Trunk Wasser mehr als ein leeres Wort? Das jüdische Leben tut das seine. Es wartet auf die Erwachenden.

Für nicht Wenige verzerrt sich der Gang zum Wasser in abergläubisches Gebahren. Hier freilich müssle der jü" dische Brauch bedenklich innehalten. Denn Heiliges, Gott- gebotenes steht auf dem Spiel. Gottes Volk soll frei bleiben vom Wahne (tt^^rr^J), sich rein erhalten in seiner ungeteilten Zugehörigkeit (Dion) zu Gott und seinem Gesetz. Gibt es

Taschlich. 233

aber auch nur eine Pflichtübung, die, sobald Erkenntnis und Zusammenhang mit der Wissenschaft geschwunden, sich nicht schliesslich in das hässliche Gewand abergläubischer Gesinnung kleidet ? Deshalb braucht auch das uns nicht zu schrecken. J<^n unb^D t^iS^D Ci mn^D). Wir dürfen ruhig unser Leben mit Symbolen schmücken, die uns mit starken, aufweckenden Gedanken erfüllen, ohne Sorge zu tragen, dass sie in versumpften Gefühlen zu Giftpflanzen emporwuchern (s. Meharscha 3"^ mmn).

So will daher auch jüdische Pflicht, dass Israels Könige an einer Quelle die Weihe durchs Salböl erhalten ('n mnnD).

Und der Weise ruft seinen Jüngern zu: wenn ihr lernt, lernet am Ufer des Wassers (das.).

Denn das Wasser murmelt eine geheimnisvolle Sprache. Gottes Wort, der Propheten Lehre hat sie uns gedeutet.

J. Br.

Nachbemerkung der Redaktion.

Von S. R. Hirsch y'yj wird erzählt, daas er am Rausch Haschonoh mit nicht i^^eringer Geaugtuung vom Fonster seiner am Main gelegenen Wohnung in der ^Schönen Aussicht" zuÄUscbauen pflegte, wie da am Ufer des Mains die gesetzestreue Judenschaft Fiankfurts in von Jahr zu Jahr wachsender Zahl sich versammelte, um „Taschlich zu iiachen". In diesen alljährlichen Taschlich- Ansamnilungen am Main mochte der grosse Erwecker des jüdischen Geistes in Frankfurt ein Symptom für das allmähliche Wiederheimischwerden jener alten, ungebrochenen, unentwegten Thorat.reue erkannt haben, die auch in solchen religiösen Übungen, die weder im Talmud noch in den Schriften der früheren Dt'zisoren verankert sind, sondern auf Minhag-Überlieftrang beruhen, kein Ab- weichen von den einmal als heilig und unantastbar überkommenen und über- nommenon Regeln des jüdischen Lebens kennt. Letzten Endes hatte der „Taschiich-Philosoph", wie er einmal in der gegnerischen Presse genannt wurde, mit seiner Taschlich-Philosophie doch Schule gemacht, imd wir können es ihm noch heute nachfühlen, wenn er darüber eine sachliche und zugleich persön- liche Genugtuung empfauil.

Ob freilich die Pietät, mit welcher in Frankfurt (selbstredend auch ausserhalb Frankfurts) der Minhag des Taschlichmachens jahraus jahrein geübt wird, immer und in jedem Falle a;if klarer Erkenntnis der dem Taschlich za- j;rundeliegenden Philosophie aufgebaut ist, ob nicht am Ende das \i irküche Motiv jener Rausch Haschonoh Ansammlungen an) Main und am Rhein, an der

234 Taschlich.

Donau und der Weichsel religionspsychologisch ganz, anderswo zu suchen ist, als in den Forschungsergehnissen S. K. Hirschs, die ja niemals rehgiöses Leben schaffen wollen, sondern dieses Leben voraussetzen nnd seine Elemente als Bausteine zu einem gedanklichen System zusammenfügen, ob mit einem Worte der populäre Gemütswert des Taschlichmachens nicht in der Praxis seinen ge- danklichen Inhalt überwiegt, das will uns bei allem Respekt vor tiefgründigen religionsphilosophischenRaisonnements doch noch sehr erwägenswert erscheinen-

Bücher und Minhagim haben ihre Schicksale. Wie es Bücher giebt, die, von tüchtigen Autoren vertasst, unbeachtet und nur wenig oder gar nicht ge- kauft, beim Buchhändler lagern und modern, während andere, minderwertige, doch unter einem glücklicheren Stern geboren, sich alle Herzen erobern, so giebt es auch Minhagim, z. B. das Abschlagen der Weiden am Hoschano Rabbo, die, mit ihrem Ursprung in die Zeit der Propheten zurückreichend, gleichwohl in manchen Gemeinden eine ganze Leidensgeschichte durchmachen musstan, um sich als fester Brauch durchzusetzen, während andere, z. B. das Taschlichmachen, die erst vom ySlpiD? "^o™ n"^tt'> vom ^i^S erwähnt Averden, die Gemüter jm Fluge gewannen. Wie bei Büchern hängt das Schicksal eines Minhag auch von seiner ganzen Aufmachung ab. Nicht auf sein Alter, nicht auf die Art und Weise seines Ursprungs, vielmehr daraut kommt es an, ob die oft sehr flachen Neigungen der jüdischen Volksseele, so wie sie wirklich ist, mit ihm sympathisieren oder nicht. Wer möchte leugnen, dass eine Reihe von glück- lichen äusseren Umständen, die mit dem Wesen dieses Minhag gar nichts zu tun haben, zusammenwirken, um das Taschlichmachen an einem von strahlen- der Herbstsonne beschienenen Rausch, Haschonoh-Nachmittag aus einer ernsten religiösen Handlung beinahe in ein harmloses Vergnügen zu verwandeln Nach dem langen Vormittagsgottesdiecst im weissen Sterbekleid ein Nach- mittagsspaziergang zu den Ufern des Mains wir wären keine Menseben mit irdischen Olam Hase-Trieben, wenn wir den Stimmungswechsel, der sich hierbei unwillkürlich vollzieht, nicht als eine höchst willkommene Bereicherung unseres gottesdienstUchen Neujahrsfestprogramms empfänden. Viel trägt zur Popularität des Taschlichmachens auch die Kürze der hierbei zu verrichtenden Andacht bei. Es gehört mit zu den Eigentümhchkeiten der jüdischen Orthodoxie, dass sie bei aller Strenge, mit welcher sie an Form und Inhalt der überlieferten Gebete festhält, mit inniger Freude es begrüsst, wenn das Religionsgesetz eine Abkürzung der Gebetsandacht erlaubt. Wer hätte je einem ifin gezürnt, wenn er durch seine Anwesenheit im Gotteshause das Ausfallen von p^nn u"*^' lang Dirn N*im ermögHchte !

Unsere christlichen Mitbürger tragen an einem ihrer hohen Feiertage ihre Andacht auf die Strasse hinaus. Unter Glockengeläut und lautschallenden Gesängen bewegt sich die Prozession durch die Strassen. Wir haben im Golus nichts, was sich damit vergleichen Hesse. Das Ta8chlichn?achen wird als Privatandacht geübt. Unter den heutigen Verhältnissen, die uns eine ständige Rücksichtnahme auf die Meinungen und Gefühle der Umwelt form-

Taschlich. 235

lieh anerziehen, verlöre das Taschlichmachen sicherlich viel von seiner Beliebt- heit, wenn der Gebrauch es geböte, in Reihe und Glied geschlossen öffentlich aufzutreten und weithin vernehmlich in lautem Gemeindechor die Taschlich- verse zu sprechen. Da würde doch mancher seinen Bekennermut verlieren, der sich schon bei n^D^ 'vi'1"l''p ängstlich umschaut, ob nicht ein allzu laut geratener DD'''?J? Dlb^'-Zuruf die Schar der Neugierigen, die sich da anzusam- meln pflegt, zu spöttischen Bemerkungen reizt. Als Privatandacht, die es je- dem Einzelnen erlaubt, sich am Flussufer eine lauschige Stelle auszusuchen, um dort, nur von ihm und Gott gehört, sein "j^Q^ ^t^ iQ zu sprechen, hat sich das Taschlichmachen auch ängstliche Golusgemüter erobert, die es nicht gern in alle Welt hinausrufen möchten, wieviel Registertonnen niT^DV sie zu versenken haben ....

236 Soziale Ethik.

Soziale Ethik.

Alle Versuche, die Besitzeaden an die Wohltätigkeit al8 eine sittliche, patriotische Pflicht zu gewöhnen, da8 moralische Gefühl zur Quelle werktätiger Selbstlosigkeit zu erheben, laufen auf das Bestreben hinaus, den jüdischen Begriff Zdokoh Inder europäischen Kulturgemeiuschaft heirair^ch zu machen. Falls nach dem Kriege dieser Begriff den Völkern so fremd bleiben wird, wie er ihnen vor dem Kriege war, dann werden die Wunden, die dieser Krieg schlug, niemals gaheilt werden können. In die Tieff'n dieses Be- griffes wollen wir uns hier versenken.

I. Von der Pflicht dfg Gebens.

§ 1-

Zdokoh zu geben ist eine ni^'V niJiC, eine göttliche Anfor- derung, die unsere sittliche Energie zur Verwandlung des altruisti- schen Gefühls in altruistische Tat anreizen möchte. Mit Gefühlen allein giebt sich die Thora nicht zufrieden. Was heisst das an Gott glauben, wenn dieser Glaube eine tatlose iSeelenstimmung, eine unfruchtbare Nervenschwingung bleibt I Was heisst das Mit- leid haben beim Anblick von Krüppeln, Blinden, Lahmen, wenn dieses Mitleid nur zu seufzen aber nicht zu handeln versteht! Es giebt wenig Schimpfwörter in der Bibel, jedoch für Leute, die ii;r Auge und Herz vor der Pflicht des Zdokohgebens veischliessen, hat das Religionsgesetz das Schmähwort b^bl geprägt. Man wird dieses Wort am besten mit Taugenichts oder Drückeherger über- setzen, Nichtswürdiger ist zu zart. Der ^j;"'^3 ist so nichtswürdig wie ein Götzendiener. Er kann auch leicht zum Mörder werden, wie die Geschichte von Nachum Isch Gamsu in Thaanith 21a be- weist, der einst durch säumige Erfüllung der Bitte eines Armen dessen Tod verschuldete und darüber so in Aufregung geriet, dass er sich selbst alles Böse wünschte und auch die Verwirk- lichung seines Wunsches erleben sollte.

§ 2.

Vom Guten kommt nichts Schlechtes. Durch Zdok(;h ist noch

Soziale Ethik. 237

nie Jemand arm geworden. Durch Zdokoh ist noch nie etwas Schlimmes angerichtet worden in der Welt. Wir Heutigen sind zwar geneigt, von einer Zerfahrenheit des seit je üblichen Zdokoh- gebens zu reden. Auch das Zdokohgeben müsse organisiert wer- den und was dergleichen Wichtigkeiten mehr sind. Du ärgerst dich, lieber Leser, wenn du einem Armen ein paar Pfennige giebst und er sich für deine Spende ein paar Zigaretten kauft. Da ist aber kein Grund zur Aufregung. Denn 1) pflegst auch du Ziga- retten zu rauchen, warum willst du diesen Genuss deinem armen Bruder missgönnen-, 2) würde es doch eine ganz schmähliche Be- raubung eines frei geborenen Menschenwesens um das wichtige Recht der Selbstbestimmung bedeuten, wenn du den Armen, nach- dem er dich verlassen hat, gegen seinen Willen in seinen Dis- positionen bevormunden wolltest. Oder meinst du vielleicht, er habe dir für die paar Pfennige, die du ihm gabst, seine Freiheit verkauft ?

§3.

Beim Beten stehen wir alle als Bettler vor den Pforten des Himmelreiches. Wie würden wir's aufnehmen, wenn Gott mit uns 80 verfahren wollte, wie wir's so häufig mit den Armen tun! Was du nicht willst ~ usw. Hierbei ist aber nicht blos an das Gebet zu denken. Rascher als mancher glaubt| kann er am eigenen Leib erfahren, was Armut ist. Ein Rad kreist in der Welt. Der Eine kommt hinauf, der Andere hinunter. Zu keiner Zeit aber kreist dieses Rad so hastig, so unberechenbar wie in der Zeit des Krieges.

§ 4.

Auch der Arme muss Zdokoh geben, auch dann, wenn er selbst auf Zdokoh angewiesen ist. Auch ihn, den so leicht das Abhängigkeitsgefühl des Nehmenden entwürdigt, soll das stolze Bewusstsein des Gebenden erfüllen.

§ 5.

Das moderne Denken hat den Begriff der Pflicht, wie so vieles, verwässert. Wir unterscheiden gesetzliche von moralischer Pflicht. Zur gesetzlichen Pflicht zwingt der Staat, zur moralischen das Gewissen. Diesen Unterschied kennt auch die Thora, nur

238 Soziale Ethik.

liegen die von ihr gesteckten Grenzen zwischen Müssen und Sollen ganz anderswo als die der ])rofanen Moral genehmen. So ist z. B. Zdokohgeben nicht moralische, sondern Gesetzespflicht, über deren Einhaltung die staatlichen Behörden zu wachen haben. Dass die- ses zwangsmässige Wesen der Zdokoh ihre sittliche Hoheit nicht beeinträchtige, dafür sorgt schon der Gesamtgeist eines im Sinne der Thora sich vollendenden Lebens, der unter der Parole ]''d"id "'JN null "IDN''^' IV ^n"l^< die Pfiicbten des SoUens und Müssens zur höheren Einheit des freien Wollens verknüpft.

§6.

Bei Spenden für wohltätige oder rehgiöse (synagogale) Zwecke ist das Beste gerade gut genug, 'nb D^n 'PD. Alles „Fette" in unserer Habe sollen wir für Gott reservieren.

§ 7.

Waisenkinder haben zur Pflicht des Zdokohgebens ein be- sonderes Verhältnis. Aus den Einzelheiten der gesetzlichen Re- gelung dieses Verhältnisses spricht sowohl das innige Mitleid des Gesetzgebers mit der Verlassenheit eines elternlosen Kindes, als auch eine tiefe Seelenkunde, die neben den Interessen ihrer Lebenshaltung auch die Ehre der Waisen und die ihrer Todten bedenkt.

§ 8.

Arme Leute, die früher vermögend waren, können im Sinne des jüdischen Religionsgesetzes nur schwer die Grenze ihres be- rechtigten Anspruchs überschreiten, denn sie haben Anspruch auf alles, was sie durch den Verlust ihres Vermögens verloren haben: Kleidung, Nahrung, Hausgerät, usw. War ein Armer gewohnt zu reiten, darf er uns nicht als „frecher Armer" gelten, wenn er ein Pferd verlangt, war er gewohnt, Dienerschaft zu halten, darf er Dienerschaft beanspruchen. Auch haben wir kein Recht, ihm das Heiraten zu verbieten, müssen ihm vielmehr und seiner Frau die nötige Ausstattung besorgen. Eine Angst vor Proletarierzuwachs kennt das Religionsgesetz nicht, weil unter dem Regime seiner sozialen Vorschriften ein Proletariat nicht möglich ist.

§ 9.

Liegt's am eigentümlichen Schmelz der hebräischen Sprache

Soziale Ethik. 239

oder an der leuchtenden Humanität des hebräischen Geistes, dass DTincn bv Dninon □''^iV viel feiner, edler, rührender klingt, als Hausbettel? Wenn du Bettler sagst, dann denkst du vor allem an den schäbigen Anzug, den Bettler tragen, wenn du von D''''2y D^nnDH bv Dninon sprichst, dann denkst du an Freitag- Abend - Gäste, die als Menschen, als Freunde, als Brüder in den Licht- schein deiner Sabbathlampe treten.

§ 10. Was bei uns in Deutschland dem Ausländer stark in die Augen sticht, das ist der Mangel an minn IDD, der bei uns herrscht. Die Thora selbst wird wohl in weiten Kreisen auch bei uns ge- ehrt, doch nicht die Menschen, die sich ihrem Studium weihen und jener Aristokratie des jüdischen Geistes angehören, die auch in den Vorschriften über das Zdokohwesen bevorzugt wird. Keine grössere Mizwo giebts, als einen Thoragelehrten in seinen ge- schäftlichen Unternehmungen zu fördern; riDIT n"nb "'J^'^D b'^^DT} bD rhv^ b}ff n:D"'f"'D nVi/V). Ja, viele sonst recht fromme Glaubensge- nossen, ;die nicht zum Orden der n"n zählen, empfinden sogar eine stille Genugtuung darüber, wenn sie bei Thoragelehrten ge- schäftliche ünbeholfenheit und wirtschaftliches Zurückbleiben ge- wahren. Hättest du nicht in deiner Jugend den ganzen Tag hinter der Gemoro gesessen ! So denken sie, ohne zu ahnen, wie sehr ihre Denkweise den Ruin der Thora bedeutet.

§ 11- Zu den jüdischen Sorgen der vergangenen Friedenszeit ge- hörte auch die tiefgründige Überlegung, wie man am besten dem „Unfug" des sogenannten Wanderbettels zu steuern vermöchte. Die Bestimmungen im Schulchan Aruch über die dem "I3"iyn ""iy n)pDb mPDO (zu Deutsch : Wanderbettler) an Werk- und Sabbath- tagen zustehenden Portionen an Nahrungsmitteln galten damals als veraltet. Inzwischen haben sich andere Sorgen angemeldet, die uns jene alten aus der Friedenszeit erst in ihrer ganzen Klein- lichkeit zeigen, und der Wanderarmen sind so viele geworden, dass es des ganzen Aufwandes der in Europa noch vorhandenen Menschenliebe wird bedürfen, um auch nur einer Teil der Arbeit zu leisten, die man in der Friedenszeit durch kaltherzige Organi- sationsversuche zu bewältigen dachte.

240 Soziale Ethik.

§ 12.

Die Vorschriften über Zdokoh machen mit dem religiösen Charakter des Zdokohweseus bitter Ernst. Verfehlungen gegen das Religionsgesetz können unter Umständen die Ausschliessung des Armen von dem Rechte des Zdokohanspruchs zur Folge haben. Zdokohnehmen. ist ein Gemeinschaftsrecht, welches bei jüdischen Armen mit der Zugehörigkeit zur jüdischen Bekenntnisgemeinschaft steht und fällt. Orthodoxen Logenbrüdern empfehlen wir, sich in einer freien Stunde, die ihnen Müsse zu nachdenklicher Einkehr gönnt, in D^ f^) ']"W'2 '2 rj^JTD ii":i p^D l"V zu vertiefen.

§ 13.

Die Abgabe des zehnten Teiles der Einnahmen für wohl- tätige Zwecke ist sicherlich ein anzuerkennendes Zeichen von Edel- mut und Selbstlosigkeit. Wir sind mit Recht stolz darauf, dass Maassergeben seit je zu den Gei^flogenheiten des jüdischen Pflicht- lebens zählte. Unsere reichen Leute sollten aber nicht vergessen, dass im Religionsgesetz das Maassergeben bei reichen Leuten nur als n"':"li"'D mo, als eine sittliche Tat von nur mittelmässiger Grösse bezeichnet wird. Nur wer ein Fünftel seiner Einnahmen im Wohl- tun verausgabt, darf sein edles Haupt mit dem Lorbeer sittlichen Heldentums bekränzen (HD'' py). Über ein Fünftel hinauszugehen, grenzt an Leichtsinn, weil es den Gebenden mit der Gefahr eigener Verarmung bedrohen könnte. Bei ungewöhnlichem Reichtum {l'^W :^D1D) darf auch über ein Fünftel gegeben werden. Das sollten sich die Herren Kriegslieferanten merken.

§ 14.

Wie fern dem Religionsgesetz eine Denkweise ist, die den Armen durch den Empfang einer wohltätigen Spende entwürdigt glaubt, geht auch daraus hervor, dass unter gewissen Voraussetz- ungen Maassergeld auch zur Förderung anderer idealer Zwecke verwendet werden darf, so z. B. zur Anschaffung religiöser Schriften, zur Ernährung erwachsener Kinder, deren Unterhalt dem Vater gesetzlich nicht mehr obliegt u. dgl. mehr. Werden Kinder, die unter den vom Religionsgesetz aufgestellten Bedingungen durch Maassergeld unterhalten werden, durch dieses väterliche Almosen sich entwürdigt fühlen ?

Soziale Ethik. 241

§ 15. Die Grenzen, die das Gesetz der Wohltätigkeit nach oben steckt, fallen mit dem Tode des Besitzenden fort. Bei der Ver- fügung, was mit dem Vermögen nach dem Tode seines Besitzers geschehen soll, sind die Interessen der Erben mit denen der Ge- samtheit auszugleichen. Auch darüber gibt es im Schulchan Aruch bedeutsame Winke, die von Besitzenden, die ihr Testament machen, beachtet werden sollten.

§ 16-

Beim Zdokohgeben mach ein freundliches Gesicht, sei heiter und herzlich dabei. Zeige dem Armen, dass du seine Armut mit- iühlst. Mit Worten des Trostes bahne dir einen Weg zu seinem Herzen. Machst du beim Geben ein griesgrämiges Gesicht, dann entwertest du nicht blos deine Spende, du übertrittst auch das Thoraverbot "jDDb Vi"' i^^^ dabei. Bist du selbst nicht vermögend genug, um eines Armen Bitte zu erfüllen, dann schrei ihn wenig- stens nicht an, dann sprich ihm freundlich zu, damit er wenigstens deinen guten Willen merke. Gar mancher hält sich für einen Wohltäter, obwohl einmal auf seinem Grabstein die Worte aus Lessings Nathan stehen müssten: „Er gab so unhold, wenn er gab; erkundigte so ungestüm sich erst nach dem Empfänger; nie zufrie- den, dass er nur den Mangel kenne, wollt' er auch des Mangels Ursach wissen, um die Gabe nach dieser ürsach filzig abzuwägen".

§ 17.

Wer andere zum Geben veranlasst, erwirbt sich damit ein doppeltes Verdienst. Sein Verdienst ist's, dass der Gebende gibt, sein Verdienst, dass der Empfangende empfängt. Nebenbei pflegt er auch bei unholden, filzig abwägenden Gebern der Blitzableiter zu sein, der für den Armen die ungestümen Erkundigungen nach des Mangels ürsach auffängt.

§ 18.

Beim Zdokohgeben unterscheiden die Weisen acht Stufen, die vom höchsten Grad des sittlichen Wohltuns bis zum niedrigsten hinabführen, wo Zdokoh noch gerade Wohltun ist :

1. Wenn du einen wirtschaftlich Sinkenden vor dem Fall bewahrst, indem du ihn durch ein Darlehen, durch Arbeitsnachweis

242 Soziale Ethik.

u. dgl. über Wasser hältst, dann übst du eine Zdokohtat, deren sittliche Grösse nicht übertroffen werden kann. Bei solchem Tun stehst du auf der höchsten Stufe der Zdokohpflicht.

2. An zweiter Stelle schon steht Unterstützung eines bereits arm Gewordenen. Doch ist diese Stufe immer noch die zweit- höchste, wenn weder der Gebende weiss, wem er gibt, noch der Empfangende weiss, von wem er empfängt. Auch das geheime Spenden in dfe Armenbüchse steht noch auf dieser zweiten Stufe.

3. Weiss der Gebende, wem er gibt, wenn auch der Empfan- gende nicht, von wem er empfängt, dann sinkt die Hoheit des Wohltuns schon eine Stufe tiefer hinab.

4. Noch tiefer sinkt sie, wenn der Arme weiss, wem er die ihm gewordene Spende verdankt.

5. Dem niedrigsten Grad nähert sichs schon leise, wenn du dem Armen, wohl unaufgefordert, doch immerhin von Angesicht zu Angesicht, deine Spende in die Hand drückst.

6. Auf drittletzter Stufe steht, wer den Armen wohl aus- reichend doch erst nach Aufforderung beschenkt.

7. Auf die vorletzte Stufe sinkt der filzig Abwägende, auch wenn er mit freundlicher Miene gibt.

8. Zu Unterst steht, wer beim Geben geheim die Wohltuns- pfiicht beseufzt, wer ungern gibt, auch wenn er dem Armen durch keine Miene sein Miss vergnügen verrät. Für einen, der often mit saurer Miene gibt, haben die Weisen auf ihrer Skala keine Stufe reserviert: seine Spende hat mit Zdokoh nichts gemein.

§ 19.

In K"Dpn '^D a"-2'\i^i 'wn wird weitläufig erwogen, ob es statt- haft ist, sich auf einem Gegenstand, der einem Zdokohzweck ge- weiht ist, durch Anbringung seines Namens zu verewigen : es ist erlaubt, vorausgesetzt, dass nicht Ruhmsucht die Triebfeder dieser Selbstverewigung ist. Denn strafwürdig ist's, sich der Erfüllung der Zdokohpflicht zu rühmen.

§ 20.

An den Psalmvers (17, 15) "i^iD niHi^ plüS ^^N wird die em- pfehlenswerte Übung gelehnt, vor jedem Gebete Zdokoh zu geben. Auch hier tritt uns die Identität von pl)i und npl)i, von Recht und Almosen entgegen.

Soziale Ethik. 243

§ 21. in^3 "i^D D''^:iy vn\ lautet ein Satz der Weisen, verriegele den Annen nicht dein Haus, lass sie wie Familienangehörige in deinen Wohnraum treten. Ob weiland die Richtlinien, wenn sie daklamier- ten, dass „durch den Eintritt der Juden in die geistige Kultur und die soziale Lebensgemeinschaft einer Zeit, die durch neugewonnene Erkenntnisse ihren geistigen Gesichtskreis erweitert und eine Um- wälzung auf allen Gebieten des Lebens" erfährt, „viele überlieferte Vorstellungen, Einrichtungen und Bräuche aus dem Bewusstsein und aus dem Leben" schwinden, ob sie dabei blos an Ziziss, Te- filin u. dgl. oder auch an die altjüdischen „Zeremonien" des Wohltuns dachten, die leider auch in jüdischen Kreisen vielfach „neugewonnenen Erkenntnissen" weichen mussten, die in vielen jüdischen Gemeinden zu einem strikt durchgeführten „Bettel- und Hausier"verbot geführt haben ? Ist es nicht auffallend, dass Juden, wenn sie von Ziziss und Tefillin sich lossagen, sich auch von dem Satze -jn^n ^:3 D^^^V Vn^ emanzipieren ?

IL VoH der Rangordimng beim Geben.

§ 1. Für das Zdokogeben hat das Gesetz eine Rangordnung auf- gestellt. Sie geht von dem Grundsatz aus, dass Jeder sich selbst der nächste ist. (Dieser Grundsatz gilt freilich nicht in dem all- gemeinen Sinne, in welchem ihn die deutsche Anschauung denkt). Bei der Lebenserhaltung muss Jeder zuerst an sich selbst denken. Aus dem Selbsterhaltungstrieb wird ein Selbsterhaltungsgesetz. In Ziffern ausgedrückt stellt sich die Rangordnung beim Geben so dad" : 1. Vater und Mutter. (Hier gilt die wichtige Einschränkung, dass zur Unterstützung armer Eltern Maassergeld nur dann ver- wendet werden darf, wenn die eigenen Mittel nicht reichen.) 2. Kinder unter 6 Jahren. (Sie stehen im Rang den Eltern nach. Nannte doch schon Jehudah (1. B. M. 43, 8), als es die Ernährung des Jakobshauses galt, zuerst den Vater und erst in zweiter Linie die Kinder). 3. Kinder über 6 Jahre, wenn sie der Vater zum Zweck ihrer religiös-sittlichen Erziehung von der Erwerbspflicht

244 Soziale Ethik.

dispensieren möchte. (Selbstredend kann der Vater auch zur Un- terstützung eines volljährigen Kindes mehr wie jeder andere ange- halten werden). 4. Geschwister. (Brüder, die nur einen gemeinsa- men Vater haben, stehen Brüdern, die nur eine gemeinsame Mutter haben, im Rang voran.) 5. Sonstige Verwandte. 6. Nahestehende Arme. 7. Ortsarme. 8. Arme des heiligen Landes. 9. Sonstige Arme. Hierbei sind noch eine Reihe von Ausführungsbestim- mungen zu beachten.

§ 2. Es ist kein Zeichen sittlichen Hochstandes, sich beim Geben durch persönliche Sympathien oder Antipathien leiten zu lassen und aus solch vagen Gefühlen heraus unter den zum Empfangen Berechtigten eine Auswahl zu treffen, bei der etwa blos einer be- dacht wird, während die andern leer ausgehen.

§ 3. Die Frau geht dem Manne voran und zwar sowohl in ihrem Anspruch auf Ernährung als auch Bekleidung. Es wäre gut, wenn es keine Frauen gäbe, die von Thür zu Thür wandern, um Zdokoh zu erhalten. Das entspricht nicht der Stellung der jüdischen Frau innerhalb der jüdischen Gemeinschaft. Hier tritt die soziale Trag- weite, der soziale Segen jener so übel beleumundeten Ungleichheit von Mann und Frau hervor, die man dem jüdischen Religionsgesetz als einen seiner unmodernsten Makel anzuhängen pflegt. Gewiss erkennt die Thora der Frau nicht dieselbe Gleichheit zu, die ihr nach moderner Anschauung gebührt. Ja, die Thora wagt es sogar, den Wert eines Frauenlebens gegenüber demjenigen eines Mannes- lebens abzugrenzen und im Zweifelsfalle, wenn ein Frauenleben nur auf Kosten eines Manneslebens gerettet werden könnte, dem Manne einen Vorzug einzuräumen, der in seiner Pflicht zum Tho- ralernen und seiner hieraus folgenden Bestimmung, Träger des Thorageistes zu sein, begründet ist. Dieser nüchterne Blick für die Realitäten des Lebens ist aber auch gleichzeitig milde genug, um diej^Frau in der ihr eigenen Hoheit und Würde zu schauen imd ihr gerade dort, wo doch sonst alles auf der Gleichheit von Recht und Pflicht beruht, eine Vorzugsstellung einzuräumen. Daher auch ein Waisenmädchen eher als ein Knabe ein Anrecht hat, verheiratet

Soziale Ethik. 245

zu werden. Die Frau, die nicht zur Ehe kommt, leidet mehr als der zur Ehelosigkeit verurteilte Mann. Diese Sachlage darf kein Jude übersehen, der praktische soziale Ethik treibt.

§ 4. Wer ist bedauernswerter : der Hungrige oder der Nackte ? Der Hungrige. Erst ist der Hungrige und dann in zweiter Linie der Nackte zu versorgen. Der Hungrige hat auch den Vorzug, dass er bedingungslos und ohne Aufschub gespeist werden muss, und Niemand ist berechtigt, erst festzustellen, ob er auch des Brotes würdig ist, das ihm gereicht wird. Der Hungrige muss ohne An- sehen der Person versorgt werden. Nur bei dem Werke der Nacktenbekleidung erlaubt das Gesetz, sich zu vergewissern, ob das Kleid auch die Blosse eines Würdigen decken wird.

§ 5.

Die Rangordnung Kohen-Lewi-Jissroel gilt auch für Zdokoh : wenn es nicht möglich ist, in einer Schar von Armen alle zu ver- sorgen, dann geht der Koben dem Lewi, der Lewi dem Jissroel vor. Ein ymn D'J pj steht einem DDR Tübn I^ÜD nach. Steht man vor der Wahl, einen DDP TD^n zu bekleiden oder einen Dy yinn zu speisen, dann geht, obwohl es im allgemeinen umgekehrt ist, die Pflicht der Bekleidung der der Speisung voran, vorausge- setzt, dass dem y^i^T] üV durch diese Zurücksetzung nicht die Ge- fahr des Verhungerns droht •, vor Lebensgefahr tritt, wie überall im Gesetz, jede andere Rücksicht zurück. Wie man sich zu ver- halten hat, wenn der Anspruch eines DDn "i''D':'n mit dem eines Verwandten oder Nahestehenden kollidiert, das ist ein ebenso in- teressantes, wie schwieriges religionsgesetzliches Problem, zu dessen Klärung ein Vergleich mit 'J '"»yo n"}}p '"»D D"n erforderlich ist.

Im Anschluss an diesen Paragraphen liegt es nahe, die Frage zu prüfen, ob die soziale Ethik auch wirklich ein neutrales Gebiet ist, auf welchem sich Orthodoxie und Liberalismus gemeinsam und friedlich betätigen können. Hier sei blos die Tatsache unterstrichen, dass denn doch angesichts der Entschiedenheit, mit welcher das Gesetz das Banner der Thora auch in der sozialen Ethik aufpflanzt, das Verhalten der sozialen Ethik des Judentums zu den religions-

246 Soziale Ethik.

politischen Kämpfen der Judenheit zumindest als eine Art „bewaff- neter Neutralität" bezeichnet werden muss.

§ 6- Viel zu wenig gekannt und beherzigt ist der auch für die Rangordnung der Zdokoh massgebende Satz iDnD "IDH n^{<, die Frau eines Thoragelehrten steht imselben Rang wie er selbst. Dieser Satz verleiht Rechte und Pflichten. Das sollten sich manche Rabbinerinnen merken.

§ 7. Aus der Rangordnung für Zdokoh darf nicht gefolgert werden, dass unter allen Umständen die nächsten Angehörigen den Vorzug vor allen anderen Armen haben. Hat Jemand ausdrücklich eine Summe für allgemeine Armenunterstützung bestimmt, dann dürfen arme Verwandte nicht einseitig bevorzugt werden. Es ist ein Streit im Gesetz, auf welchen Teil in solchem Falle Verwandte Anspruch haben. Bindend jedoch ist jene Rangordnung, wenu ülicr die Verwendung der Zdokoh nichts näheres bestimmt ward uud anzunehmen ist («i1D1i<), dass stillschweigend die Rangordnung der Thora als massgebend zu gelten habe.

§ 8. Wenn ein nachahmenswerter Brauch in jüdischen Gremeinden bestimmt, dass bei Anschaffung von Kleidern durch Abgaben für D^D"nV "^^nbü und rhj nOiDn der soziale Gemeinsinn gepflegt werde, dann beruht diese Art Zdokoh nicht auf einem freiwilligen Ent- schluss des Gebenden, sondern auf bnpn Pipn , und es kann daher für sie nicht die Rangordnung für Zdokoh massgebeud sein, wonach Verwandte zu bevorzugen sind, weil hier eben jedes persönliche Moment der Rücksicht auf das durch die Gemeinde vertretene Allgemeininteresse weicht.

§ 9. So wichtig Zdokohgeben auch ist, so äugsthch wacht das Gesetz darüber, dass im Gefühl des Mitleids nicht höhere Gemein- schaftsinteressen beeinträchtigt werden. Als unbedingt vordring- lich gilt die Pflicht der Armenunterstützung nur dann, wenn Le bensgefahr abzuweisen ist, bei kranken Armen, bei Hnngrigoa in Zeiten der Lebensmittelnot u. dgi. Ist jedoch unmittell)are Lebens-

Soziale Ethik. 247

gefahr nicht zu befürchten, dann kann unter umständen der Bau einer Synagoge und ganz gewiss der eines Lehrhauses und die Unterstützung von thoralernenden Jünglingen wichtiger sein als Armenpflege. Denn was würde aus der sozialen Ethik des Juden- tums, wenn man den religiösen Geist, den Synagoge und Schule pflegen, verkümmern Hesse ? Die soziale Ethik des Judentums ist nur eine unter den Früchten am Lebensbaum der Thora. Wird der Baum nicht gepflegt, dann gehen auch die Früchte zugrunde.

Die grossen sozialen Pflichten, die uns nach dem Kriege be- vorstehen, dürfen den Sinn für die jüdischen Kulturaufgaben nicht schmälern. Das ist die wichtige Mahnung, die sich aus diesem Paragraphen für die Gegenwart ergibt. Schon vor dem Kriege war man in weiten Kreisen geneigt, die Gründung und Erhaltung von Bet- und Lehrhäusern im Vergleich zur Armenpflege als Luxus zu betrachten. Diese Kreise sollten sich durch das jüdische Reli- gionsgesetz belehren lassen, das ein nD^DD fT^D und ein tt'llDn n"'3 mindestens so wie das tägliche Brot zum Existenzminimum des jüdischen Menschen zählen.

§ 10.

Als Luxus, sogar als sträflicher Luxus, wird vielfach in mo- dernen Kreisen auch die Verheiratung armer Mädchen betrachtet, selbst dann, wenn es arme Waisenmädchen sind. Diesen Moder- nisten, die sich auch in orthodoxen Kreisen finden, sollte man bei- bringen, dass die Angst vor dem Anwachsen des Proletariats dem Gottesgesetze ebenso fremd ist, wie das Zweikindersystem, das auf einer ähnlichen Angst beruht. Die Verheiratung armer Mäd- chen ist eine müO> die an Heiligkeit alle andern Sorten Armenpflege, ja (nach J":p '^DD p""'"inD) selbst den Bau einer Synagoge übertrifft. Ist's nicht eine zum Weinen schmerzliche Ironie, dass unsere heutige Generation, auf die Tag für Tag ein Regen von eisernen Kreuzen und Tapferkeitsmedaillen niedergeht, sich vor den kleinen Kindern fürchtet? Etwas mehr „Zivilcourage", meine Herren! Nicht blos Todesmut, auch Lebensmut gehört zum wahren Heldentum

§ 11- Die grosse Steuerbelastung, die uns der Krieg beschert, weckt missmutige Empfindungen, die vornehmlich in der Überzeugung

248 Soziale Ethik.

wurzeln, dass diese unabsehbaren Opfer, die schon gebracht wurden und weiterhin gebracht werden sollen, einer mehr gewollten, von politischer Leidenschaft und Masslosigkeit uns auferlegten als einer historisch begründeten, innerlich vernünftigen Notwendigkeit ent- sprechen. Wie dem aber auch sei, wir Juden sollten bei deu Steuern, die auch wir zahlen müssen, an frühere Zeiten nicht ver- gessen, wo uns die Staaten mit besonderer Liebe in steuerliche Fürsorge nahmen. Es gab einst eine Zeit, die besondere Juden- ateuern kannte, mit welchen sich ^unsere Vorfahren ihr nacktes Lebensrecht erkaufen mussten. Da gab es gar manche, die zu arm waren, um diese Judensteuer zu entrichten. Diese Armut war lebensgefährlich, und sie zu bannen höchste sozialethische Pflicht, deren Vordringlichkeit selbst n~nn TiD'?n-Zwecke überwog. Wir kennen die Gefühle nicht mehr, die unsere Vorfahren beseelten, wenn sie diese Judensteuern zahlten. Das ist deshalb zu bedauern, weil sich erst an diesen Gefühlen die Grösse des moralischen Hochgefühls ermessen Hesse, das sich im Bewusstsein der Gleichheit der Steuerpflicht für alle Staatsbürger erzeugt.

§ 12.

Auch die Gefühle, die das Wort ü^)2^ ]Vlü, „Auslösung von Gefangenen' erweckt, sind uns Bürgern eines Rechtsstaates, der Menschenraub unmöglich macht, allmählich fremd geworden, ji^ic □i"i3^ war Befreiung aus unmittelbarer Lebensgefahr, eine vordring- liche Pflicht des Einzelnen und der Gesamtheit, die jede andere Zdokohpflicht beiseite schob.

§ 13.

Armut ist ein relativer Begriff, der sich mit den wirtschaft- lichen Verhältnissen ändert. Es hat wirtschaftsgeschichtliches In- teresse, dass ein Besitzer von D'^D^riT '"i in talmudischer Zeit als fähig zu selbständiger Lebenshaltung und der Zdokoh nicht be- dürftig angesehen wurde.

§ 14.

Schon oben ist betont worden, dass Zdokoh ihrem Wesen nach, als einer von Gott gebotenen Pflicht, nicht entwürdigen kann. Wer Zdokoh nimmt, wer Zdokoh nehmen muss, verliert nichts von seiner Menschenwürde. Es gibt eine falsche Scham, die den

Soziale Ethik. 249

Hunger und alles Elend vorzieht und um keinen Preis Zdokoh nehmen möchte. Diese Scham ist unsittlich, weil sie den materi- ellen Besitz zum beherrschenden Träger des Ehrgefühls erhebt. Das Geld macht den Menschen nicht aus. Diese Grundwahrheit der sozialen Ethik wird von dem geleugnet, der sich aus Scham weigert, Zdokoh zu nehmen. Einem solchen Armen, den die Scham in doppelte Armut stürzt, muss auf dem Wege der List, durch unauffällige Unterstützung in der Form eines Geschenks, eines Darlehens u. dgl. geholfen werden. Möge er doch bedenken, dass selbst ein reicher Mann, der momentan, etwa auf Reisen, in Geldverlegenheit ist, sich als temporär verarmt betrachten und Zdokoh nehmen darf. Sollte nicht jede Armut im Hinblick auf die Vergänglichkeit und Nebensächlichkeit aller irdischen Verhält- nisse, im Hinblick auf den Gegensatz zwischen dieser und jener Welt nur als ein zeitweiliger, vorübergehender Zustand gelten dürfen ?

§ 15.

Von Zeit zu Zeit wissen die Tagesblätter zu berichten, dass irgendwo in. einem engen, verlassenen Dachstübchen ein reicher Sonderling an Entkräftung starb, weil er zu geizig war, um sich kräftig zu ernähren. Einer solchen gewollten Armut gegenüber gilt der Satz: 1D |T"'jtt'D ^K V2)iV D^yiDn Ttt'y um einen Reichen, der freiwillig hungert, braucht sich Niemand zu kümmern.

§ 16.

Wer sich der nicht immer dankbaren Aufgabe unterzieht, durch Sammlung von Geldern einem Verschuldeten aufzuhelfen, kennt den Einwand der Gebenden : Wir möchten dem Betreffenden recht gerne helfen, wir fürchten aber, dass unser Geld in die Hände der Gläubiger kommt. Ja, es soll zuweilen vorkommen, dass die Gläubiger selbst für ibre Schuldner sammeln und die er- zielte Summe befriedigt einstecken. Man sollte sich in solchen Fällen im Religionsgesetz umsehen, wo man Richtlinien linden wird, ob und wann der Gläubiger berechtigt ist, sich an Zdokoh- geld, das für seinen Schuldner bestimmt ist, bezahlt zu machen. Im allgemeinen hat er kein Recht dazu, nur dann ist er dazu be- rechtigt, wenn die Gewäurung der Zdokoh ausdrücklich die Be- friedigung des Gläubigers im Auge hatte.

250 Soziale Ethik,

§ 17. Einen Thoragelebrteu in seinen geschäftlichen Unternehmungen zu fördern, bedeutet keineswegs wie mancher real denkende Geschäftsmann glauben mag eine seltsame Verquickung von Geschäft und Religion, sondern ist religiöse Pflicht, die mit dem Gedanken einer Aristokratie des Geistes Ernst macht. Geschäft ist Geschäft ? Nein, meine Herren, Ihre Frömmigkeit ist keinen Pfifferling wert, wenn Sie aus Ihren Geschäftsräumen die soziale Ethik verbannen, und Ihr Judentum steht auf thönernen Füssen, wenn Sie den D'DDn n^D^n die Rangstellung versagen, die ihnen auch im geschäftlichen Leben im Sinne der Thora gebührt.

§ 18. Denken wir uns den Fall, ein Mann und eine Frau befinden sich in Gefangenschaft, und die Räuber geben sie nur gegen Löse- geld frei. Das Lösegeld, welches aufgebracht werden konnte, reicht aber nicht für beide. Wer muss zurücktreten, der Mann oder die Frau? Das moderne Bewusstsein wird alsbald eine Entscheidung bereit haben: Natürlich der Mann, einer Dame gehört der Vortritt. Zu den charakteristischen Merkmalen des jüdischen Bewusstseins gehört es aber, dass es nicht durch Reminiszenzen an die Zeit der Minnesänger beschwert ist, sondern, wie alles im Leben, auch Fragen des Vorrangs zwischen Mann und Frau den ewigen Massstäben der Thora unterwirft. In unserem Falle ist die erste Frage des Ge- setzes: Ist das Leben des Mannes, ist die Sittlichkeit der Frau gefährdet. Ist das Leben des Mannes in Gefahr, dann muss die Frau zurücktreten, ist die Sittlichkeit der Frau bedroht, dann muss der Manu zurücktreten. In einem solchen Dilemma darf nicht ge- fragt werden, welchen Verlust erleidet eine Familie, die Mensch- heit etc., sondern die Frage kann lediglich objektiv gefasst werden: Welchen Verlust erleidet die Thora, wenn entweder der Mann oder die Frau geopfert wird. Und die Antwort kann nicht anders lauten als: durch den Tod eines Mannes, dessen jüdischer Pflichtenkreis grösser ist als der der Frau, erleidet die Thora einen Verlust, dessen Grösse nur übertroffen werden kann, wenn eine Frau das Diadem ihrer sittlichen Reinheit verliert. R. B.

(Fortsetzung folgt.)

Das jüdische Kriegsrecht und die Frau. 251

Das jüdische Kriegsrecht und die Frau.

Von Rabbiner Dr. A. Neuwirth, Mainz. (Fortsetzung.)

Der erste zu dem erwähnten Zweck unternommene Krieg war zu einer Zeit geführt, wo Israel noch kein Volk war und noch kein selbständiges Land besass. Jedoch wurde, wie dies im Mid- rasch beim Verkaut des Josef ausdrücklich erwähnt wird jed- wedes grösseres Unternehmen vom Rat des Lehrhaus von Sem und Eber abhängig gemacht. Als Fremder weilte Jakob in der kana- näischen Stadt Sichem. Seine Tochter Dina wurde von dem Sohne des Stadtfürsten vergewaltigt. Die Brüder der Vergewaltigten waren ob dieser Schandtat so aufgebracht, dass sie selbst die schwersten Sühnemittel, die nicht nur den Uebeltäter selbst, son- dern alle Stadtleute den Beleidigten darboten, verachteten. Simon und Levi fielen über die Stadtleute, zu einer Zeit, wo ein Ent- rinnen nicht gut- möglich war, her, und erschlugen alle Männlichen. Selbst Jakob billigt das Motiv und die Art des Vorgehens seiner Söhne und nur die Befürchtung, alle Bewohner Kenaans könnten sich susaramentun und an seiner an Zahl noch geringen Familie für c;ie Sichemiter Rache nehmen, nötigt ihm einen Vorwurf gegen das Geschehene ab. Die Annahme des Vaters war richtig ; die Familie verliess die Gegend. Aber nur „der Schrecken Gottes auf den Bergen ringsum bewirkte, dass man den Fliehenden nicht nachgejagt ist" (Gen. 34. i -35, 6). So haben die Söhne Jakobs ihre ganze Existenz aufs Spiel gesetzt, um nur die Ehre ihrer Schwester zu retten.

Es ist für die jüdische Auffassung von dem Schutz, den man einer wehrlosen Frau zur Reinerhaltung ihrer Ehre zu gewähren hat, charakteristisch, dass ein Strafgericht, wie das eben erwähnte, nicht nur, wenn sittenlose Heiden sich an der Ehre eines jüdischen Mädchens vergriffen, vollführt wird, sondern auch, und zwar in noch strengciem Masse, wenn es sich um einen Israeliten, der dem Ge- setze Gottes untersteht, handelt. Wie in dem erwähnten Fall Dina, werden auch hierbei nicht nur die Übeltäter selbst, sondern

252 Das jüdische Kriegsrecht und die Frau.

weit darüber hinaus selbstj die nur mittelbar Schuldigen bestraft und zwar werden sie alle mit den schwersten Strafen belegt, als Warnungszeichen für die Zukunft.

Wir meinen das Verbrechen von Gibea. Ein treuloses und ehebrecherisches Kebsweib wird von den Stadtleuten von Gibea geschändet, wobei das hilflose Weib den Tod findet. Als das Verbrechen bekannt wird „Da geschah es, dass ein jeder, der es sah, sprach : Solches ist weder geschehen, noch gesehen worden seit dem Tag als Israel aus Aegypten gezogen, bis auf diesen Tag! Nehmet es zu Herzen, ratet und sprechet!" (Rieht. 19, 30). „Da zogen aus alle Söhne Israel und es versammelte sich die Gemeinde wie ein Mann von Dan bis Beer-Scheba und das Land Gilead vor dem Ewigen in Mizpa" (ibd. 20, 1). Ganz Israel for- dert die ßenjamiten auf : gebet doch die ruchlosen Menschen her- aus, dass wir sie töten und das Böse aus Israel wegschaffen. Da dies verweigert wurde, zog das ganze Volk gegen Benjamin, und trotzdem es zweimal geschlagen wird, ruht es nicht, sondern er- neuert den Kampf gegen die Übeltäter. Zuletzt werden alle Ben- jamiten, selbst Frauen und Kinder, vernichtet; die ganze Gemeinde schwört dann noch, den wenigen Entronennen keine Frauen zu geben, Die Tatsache, dass ganz Israel sich gegen den Stamm Benjamin erhebt, ihm selbst Frauen und Kinder tötet und sogar den Ueberlebenden Frauen zu geben verweigert, beweist zur Ge- nüge, wie heilig und erhaben dem ganzen Volke der Schutz der wehrlosen Frau war; wer diese verletzte, war des Todes schuldig.

Diese zwei Episoden zeigen uns wie Israel mit Feuer und Schwert für die Ehre der Frau eingetreten ist. Wir wollen jetzt die Massnahmen betrachten, die zum Schutze und Wohle der Frau in solchen Kriegen getrofien, in denen nur untergeordnete Streitig- keiten zum Austrag kamen. Auch sie zeigen, wie die bereits er- wähnten, die umfassende und humane Rücksicht, die die Thauro auf die Wehrunfähigen nimmt. Noch schöner und erhabener ist aber die Heiligkeit, mit der die Thauro das neugeschlossene Band zwischen Mann und Frau versieht und selbst für Kriegszeiten seine ünwandelbarkeit dem Volke gegenüber feststellt.

Nach jüdischem Gesetz ist ein jeder Zwanzigjährige militär-

Das jüdische Kriegsrecht und die Frau. 253

pflichtig. Nun befreit die Thauro einen jeden Neuvermählten so- wie einen jeden Verlobten vom Heeresdienst. „Wer ist, der sich mit einem Weibe verlobt und es noch nicht heimgeführt ? Er gehe und kehre zurück nach seinem Hause, dass er nicht im Kriege sterbe und ein anderer Mann es heimführe" (Deut. 20, 7). Diese Worte musste der Priester vor dem Kriege an die ganze Mann- schaft richten. Nach Sota, 44a, war ein jeder Verlobte, ob er nun ein Mädchen oder eine Witwe heiraten wollte, vom Militärdienst befreit. Selbstredend musste sich jeder Bräutigam ausweisen, dass die Verlobung zu einer Zeit geschah, wo vom Kriege noch nicht die Rede war. (Vgl. Jeruschalmi Sota 8, 9 : rT'J^') i<^2nb pjilü ]"1JD bj iri'^inib). Nur zu Hause, wo sein Leben nicht gefährdet war, war der Bräutigam verpflichtet, die Kriegszwecke durch Lieferung von Nahrungsmitteln und sonstigen Leistungen, die den öffentlichen Zwecken dienten, zu unterstützen. (Vgl. Sota ibid.) Nur in dem Fall, dass das Vaterland unmittelbar bedroht war, musste auch der Verlobte in den Krieg ziehen.

Noch eine grössere Vergünstigung lässt die Thauro dem Neu- vermählten zuteil werden. Hierbei war nicht die Furcht, er könne auf der Walstatt sterben, massgebend, um ihn vom Militärdienst zu befreien. Der Neuvermählte hatte noch eine höhere Pflicht : die Frau glücklich zu machen, „Man darf die Frau, die man mit dem Wörtchen ""b,, sich aneignet, in den Erwartungen nicht täu- schen, unter welchen sie die Seinige geworden, man muss es als seine höchste Aufgabe in der Ehe erkennen, das Weib glücklich zu machen, welches sein Weib geworden" (S. R. Hirsch zu Deut. 23, 7). So sieht es mit der oft geschmähten Zurücksetzung der Frau im Judentum aus 1 Wir lesen : „Wenn jemand sich eine neue Frau aneignet, so soll er nicht ins Heer einrücken, und nichts soll über ihn ergehen in irgend einer Beziehung, frei soll er ein Jahr seinem Hause bleiben und die erfreuen, die er sich ange- eignet" (Deut. 23, 7). Nach jüdischem Gesetz war der Neuver- mählte von jedweder Leistung zum Kriegszwecke entbunden. Dem Neuvermählten werden auch sonstige Vergünstigungen zuteil : jed- wede Steuer war ihm entlassen. Dem Ehemann wurde es somit zur Pflicht gemacht, die Erwählte seines Herzens glücklich zu

254 Das jüdische Kriegsrecht und die Frau.

machen und zu diesem Zwecke wurde er vom Militärdienst be- freit (Sota ibid.).

Man mnss bemerken, dass eine derartige Verordnung in der beutigen Zeit wohl schwer durchführbar wäre. Für die Anhänger und Bekenner der Bibel kam aber ein besonderes Moment in Be- tracht. Zwischen den Auffassungen und Ueberzengungen über Siege und Niederlage in einem blutigen Ringen, wie sie heute verbreitet sind, und wie sie einst den geistigen Führern der Bibel vorschwebten, weht eine unüberbrückbare Kluft. Kein moderner Staat hat in Friedenszeiten daran gedacht und auch in der Praxis durchgeführt, dass Gott auch mit einem kleinen Heere die Feinde niederzuzwingen vermag. Bei aller Gläubigkeit hörten die Rüst- ungen und Vorbereitungen zum Kriege nicht auf. Ganz anders in dem alten theokratischen Staate Israels, wo der Gedanke an Gott und seiner Allmacht unter den frommen Königen den Ausgangs- punkt für jedes Unternehmen bildete. Ihre Devise war: Nicht durch Kraft und nicht durch Macht, nur durch meinen Geist, spricht Gott". Diese üeberzeugung, dass Gott allein der Retter und Erhalter des Vaterlandes ist, kam jedes Jahr dreimal zum sichtbarsten Ausdruck. Zu den drei Wallfahrtsfesten musste aus den entferntesten Ecken des Landes jeder Jüngling von dreizehn Jahren sowie ein jeder Mann nach Jerusalem wandern, sodass das Land an allen Enden von wehrfähigen Mannschaften entblösst wurde. Mit dieser üeberzeugung zog man auch in den Krieg.

Nur ein auf derartigen Ideen aufgebauter Staat konnte dem Eheglück des Einzelnen eine solch entscheidende Wichtigkeit nicht nur für das Einzelheil, sondern für die Gesamtwohlfahrt beimessen, dass es den Mann ein ganzes Jahr nach der Ehelichung eines Weibes von allen öffentlichen Lasten und Leistungen freigesprochen, ja dessen Heranziehung geradezu verbietet, damit er ganz seiner Häuslichkeit leben und sich der Begründung des Glückes seines Weibes hingeben könne.

Sehen wir nun, welche Fürsorge die Bibel für die Hinter- bliebenen der im Kriege Gefallenen, für die Witwen und Waisen vorgesehen hat. Hierbei lassen sich zweierlei Gesetze unterschei- den: die Unterstützung von der gemachten Beute und dann die

Das jüdische Kriegsrecht und die Frau. 255

vielen für den theokratischen Staat vorgesehenen Witwen- und Waisengesetze. Was zunächst den ersten Punkt betrifft, so war folgende Einrichtung für die Verteilung der Beute vorgesehen. Die ganze Beute wurde zwischen den Kriegern, die gekämpft und den Daheimgebliebenen in gleicher Weise geteilt. „Und du sollst die gemachte Beute, die du erbeutet hast, zwischen den Kriegshand- habern, die zum Heere auszogen und der ganzen Gemeinde teilen. (Xum. 31,27). So sehen wir z. B. bei der ursprünglichen Ero- berung des Landes, dass die Frauen und Kinder im Ostjordanland zurückgeblieben waren, während die waffenfähige Mannschaft des Ostjordans gemeinsam mit den anderen Stämmen den Jordan über- schritten hatten. Nach der Eroberung des Westjordanlandes er- hielten die Zurückgebliebenen einen gleichen Anteil wie die Krieger. „Unsere Kinder, Frauen, Kleinvieh und unsere ganze Herde bleibe im Lande Gilead, wir aber ziehen gerüstet in den Krieg." (Num. 32,26) „Und Josua sprach zu ihnen: mit grossem Vermögen kehret ihr in euere Zelte zurück: mit äusserst grossem Viehbestand, mit Silber Gold, Kupfer und Eisen und mit vieler Kleidung; teilet die. Beute euerer Feinde mit euren Brüdern." (Jos. 22,8)

Wenn nun merkwürdigerweise dieser göttliche Befehl, die Beute, die man im midjanitischen Kriege macht, zwischen Kriegern und Daheimgebliebenen zu teilen, von keinem der Dezisoren als eine gültige Norm für die Zukunft aufgefasst wurde, so haben doch die frommen Heerführer immer danach gehandelt. Auch David lässt die Beute gleich unter die, welche aus Ermattung zu- rückgeblieben, und, die, welche in den Kampf gezogen teilen. (L Sam. 30, 25). Die letztere Stelle ist sehr merkwürdig. Sie lautet: 7]]T^ DVn IV !?«-l^^'5 ^D'^übl pnb HD^lß'^l H^yoi i^inn DVHD ^n^i Aus diesem Wortlaut geht hervor, dass erst David die Einrichtung getroffen, während sie doch tatsächlich schon im Pentateuch er- wähnt ist. (Vgl Raschi z. St.)

Bei dieser Teilung erhielten auch die Frauen und Kinder ihren Teil. So wurde bereits den Töchtern Zelafchats von Mansche ein Erbstück im heiligen Lande zugesichert, trotzdem, dass das Land erst erobert werden musste und sie als Frauenspersonen den Eroberungskrieg nicht mitmachen konnten. (Vgl. Num. 27, 1 ff. und

256 Das jüdische Kriegsrecht und die Frau.

ib. 36, 1 ff.). Ebenso wird uns von den Makkabäerkämpfern mit- geteilt, das8, „Nachdem sie den Sabbat gefeiert, teilten sie denen, die Misshandlungen erlitten hatten, und den Witwen und Waisen von der Beute mit" (2 Mak. 8, 28).

Die Unterstützung der Armen und Witwen der gefallenen Krieger aus der Reute, die im Feindesland gemacht, war selbst- redend nur von untergeordneter Bedeutung, denn darauf konnte nicht immer gerechnet werden und wenn dies ja schon der Fall war, reichte es nur selten für eine längere Zeit. Die Bibel hat daher noch auf anderer Weise Fürsorge für die Witwen und Waisen getroffen. So werden, dem vornehmlich agrarischen Charakter des jüdischen Landes entsprechend, verschiedenste Pflichtabgaben von den Bodenerzeuguissen an den Witwen und Waisen vorgeschrieben. Reichte auch diese Hülfe nicht aus, so konnte ein jeder Bedürftige einen rechtlichen Anspruch auf eine Unterstützung der Gemeinde bezw. des Staates erheben.

(Fortsetzung folgt.)

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mONflTSHeFTE

herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kohn, Ansbach, unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Salomon Breuer, Frankfurt a. M.

Jahrgang 4. Heft 9.

Heldentum.

Bei unseren Helden weilen unsere Gedanken. Längst haben wir ihnen die Siegespalme gereicht. Denn während ihre Brust dem Feinde sich entgegenstemmt und der grause Tod wider sie stürmt, wohnt in ihren Herzen der Friede, und leben auf ihren Lippen die Lieder. Mit stiller Heiterkeit ver- mögen sie in eine Welt hineinzuschauen, deren Jammer wohl ihr Herz zerwühlt, deren Trostlosigkeit aber ihren Frieden nicht zu rauben vermag. Sie haben gelernt, Schüler Gottes zu sein yi'2 n)h)i^ mi, da erschloss sich ihnen ein Friedens- quell, der ihnen nimmer versiegt.

Sie haben den Schabbos mit hinausgenommen, der Schabbos grüsst auch dort sie mit Friedensgruss und breitet sein Friedenszelt auch dort über sie und deckt ihnen den Tisch mit allem Köstlichen des Lebens.

Dem Schabbos singen sie ihre Lieder, deshalb trotzen sie dem Jammer und trotzen dem Tod. In ihrer Hand ruht die Waffe, in ihrem Herzen wohnt der Friede. Denn wo der Schabbos wohnt, weilt Gottes segnende Nähe und ver-

258 Heldentum.

scheucht den Hass und erstickt die Flammen verzehrenden Neides.

Sie grüssen den Schabbos inmitten aller Weihe- losigkeit, deshalb schaut ihr Auge in das Chaos hinein und erblickt über eine der Entseelung verfallende Welt Gottes Friedensbogen gespannt, kündend den Frieden und den Anbruch glücklicher Zeiten.

Dem Eriedensbrot hungert die Welt entgegen. Sie hat es niemals gekannt. Denn das Kriegsbrot hat den Krieg entzündet. Denn der Schabboshauch hat es niemals um- weht. Fluchbeladen wird es so lange die Erde in Jammer ersticken, bis eine Menschheit sich rüsten wird, ihm den reinen, goldenen Tisch auf Heiligtumsboden zu errichten. Dann werden Priester es holen, und die Genien „der Liebe und Brüderüchkeit, des Friedens und der Freundschaft" (Berachot 12) werden es umschweben.

Unseren Helden reichen wir die Palme, denn sie bre- chen das Brot, das sie am Gottestisch geniessen.

Stilles, grosses Heldentum !

TV "»DiS Dem Städteeroberer, wir wollen ihm das Hel- dentum nicht schmälern, aber yy i^i'?» inna Su'iö aiö wer seinen Willen beherrscht, ist grösser als der Städtebe- zwinger, lautet die Wahrheit jüdischer Königsweisheit. Denn nr na ti>aiD,n m^J )r:va wahres Heldentum, wo der Mensch über seine Leidenschaft triumphiert !

Unsere Huldigung den Helden, denen der Schabbos die Kraft verleiht, über gemeine Sinnlichkeit und menschenunwürdige Genusssucht stolz und rein sich zu erheben ! Die Weisen unseres Volkes ergreifen ihre Rechte und führen sie Josef zu, um dessen Haupt das Gottes- wort den Strahlenkranz göttlicher Weihe und sieghafter Grösse gewoben, da er in den heissesten Jahren seines Lebens sich losriss von der Sünde.

Und kommt auch ihnen der Tag mn DVn3 '.t-i (Gen. 39) mit Flammenschrift steht das Wort ihnen vor der Seele: in^sSo mtt'vS nn^an ay) das den Augenblick festhält, da Josef

Heldentum. 259

ins^Haus kam, um sein Werk zu verrichten". Ein Schabbos war es, meint das Weisheitswort, heisst es doch auch vom Schabbos : inDN^D Sdö nnti> n ^3 Gott hielt inne mit seinem Werk -

Zum Helden weiht euch der Schabbos. Mit dem Ein- tritt jeder Schabbosstunde, in der ihr der Herrschaft entsagt und eurem Gotte huldigt, ringt ihr nieder die Stimmen der Selbstsucht und der Machtgier. In solcher Stunde wird der Mensch zu seinem Herrscher. Er wird zum Schöpfer seines Schabbos. „Wer den Schabbos hütet iS^kd nntJ'n nx lüiron So nat^^n nK nti>j; macht selber den Schabbos, unter dessen Hän- den ersteht der Schabbos. Fordert doch Gott Sxnu^^ ^J2 ilöti^i nntJ>n nn mti^yS nntJ'n nx Israel hüte den Schabbos, damit] der Schabbos durch es zur Wahrheit werde.

Draussen in der Schöpfung herrscht Schabbos n '3 liiDxSö Sdö r\2)i^ t den hat Gott bewirkt, seitdem er den fort- zeugenden, Welten schaffenden Kräften Stillstand geboten. Der Schabbos der Natur ist Gottes Werk.

Aber jm Menschenleben wogt es noch unfertig. Da gilt's, dass der Mensch selber das Gotteswerk vollende und mit dem Schabbos, zu dem er in freier Selbstbestimmung sich bekennt, die Schöpfung Gottes kröne. Wer es vermag, steht triumphierend da als Schöpfer seines Schabbos mu^vS

Ihr bekennt euch zum Schabbos, wollt den Schabbos hüten, weil ihr tief und wahr es begriffen, dass, wenn je, ihr draussen seiner bedürft, um nicht in trostlosem Jammer und grauenvoller Öde zu vergehen > denkt da- ran, wenn die Stunde naht: ihr könnt den grössten Schabbos eures Lebens erleben oder für immer den Schab- bos euch verscherzen !

Geht ihr mit Josef ins Haus inDxSo mtt^yS dann hat die Entscheidungsstunde auch für euch geschlagen, ob ihr zu dem „Werk* euch anschickt, mit dessen Verrichtung ihr für immer das köstlichste Gut eures Lebens, den Schab- bos, euch vernichtet : ihr lasst euch locken, ertötet die

260 Heldentum.

Scham, gebet preis die Selbstachtung, löschtet aus jed^e Er- innerung an Elternhaus und Lebensweihe, wilde, entfesselte Gier hat die Herrschaft über euch, und der Schabbos klagt vor Gottes Thron, dass er um einen Träger ärmer ge- worden —

Lebt aber jüdischer Heldensinn in euerer Seele, hat für den Schabbos jemals euer Herz geglüht, in der Stunde rüstet still sich eure Kraft inD^So nwvh t ihr schafft euer Werk, das herrlichste, das Gott euch anvertraut : ihr ringet nieder, was hässlich und gemein sich in euch regt und habt mit dem Sieg, den ihr davon getragen, dem Schabbos ewige, reine Stätte in eurem Leben bereitet. Die Stunde Hess euch einen Schabbos erleben, auf den ihr für euer Leben lang stolz sein dürft.

Solche Helden brauchen wir. Die zertrümmerte Welt bauen sie uns auf. Und übergeht auch der flüchtige Griffel chronistischer Beschränktheit achtlos ihre Taten, wr kennen eine Chronik, in deren ewigen Blättern ihr Helden- tum golden strahlt.

J. Br.

Das Bachweidenblättchen. 261

Das Bachweidenblättchen.

Als ich da neulich auf meinem Synagogenplatz zum Boden niederschaute, entdeckte ich ein kleines, gelbes, welkes, verhutzeltes Blättchen, wie es schüchtern 'und ver- schämt unter dem Teppich hervorlugte, offenbar vergessen und liegen gelassen von den Reinigungsarbeiterinnen, die immer nach den Feiertagen ihres Amtes walten, um das durch starken Gebrauch verstaubte Bethaus wieder in Ord- nung zu bringen. Es war ein Bachweidenblättchen, das vermutlich am Hoschanorabbo-Tage von dem Lulowgewinde abg^efallen und unbeachtet liegen geblieben war. Da lag es nun, verdorben und gestorben, und wer weiss, wie lang es noch liegen geblieben wäre, hätte es mein zufällig zu Boden blickendes Auge nicht entdeckt. Wie ein stilles Mitleid mit armseligen Menschenschicksalen, die m ein ähnliches Ster- ben an unbeachtetem Wegrande münden, überkommt es einen, wenn man nach den Herbstfeiertagen auf seinem Synagogenplatz so ein verschollenes Bachweidenblättchen entdeckt. Vielleicht gehörte es zu den Weiden, die sich während des Festes zu den drei andern Pflanzenarten des Feststrausses gesellen dürfen, vielleicht aber auch zu jenem besonderen Weidenbündel, mit welchem übereifrige Aro- wausklopfer so heftig auf den Pult zu schlagen pflegen, dass einem Hören und Sehen vergehen. In letzterem Falle kann man ohne weiteres annehmen, dass so ein hegen ge- bliebenes Bachweidenblättchen sich unter der Masse der abgefallenen Blättchen verlor und . den Augen der Auf- räumungsarbeiterinnen leicht entgehen konnte. Aehnliches soll ja auch hie und da auf dichtbesäten Leichenfeldern sich ereignen, wie überhaupt was ja schon angedeutet wurde so ein Bachweidenblättchenschicksal gewissen Menschen- schicksalen auffallend ähnlich ist.

Es giebt Menschen, die nur erster Klasse fahren, an- dere sind weniger vornehm und fahren zweiter Klasse, an-

262 Das Bachweidenblättchen.

dere wieder sind gar nicht vornehm und begnügen sich mit der dritten Klasse, während die ganz gewöhnüchen Menschen oft mit einem Stehplatz in der vierten Klasse vorlieb neh- men müssen. Das sind die plebejischen Bachweidenmen- schen, die vom Schicksal so rücksichtslos zerzausst zu wer- den pflegen, wie jene armen Arowaus am Hoschanorabbo, an welchen Radaulustige, seitdem das Hamanklopfen am Purim infolge neuzeitlicher Ordnungsliebe über schüchterne Auftakte nicht mehr hinauskommt, umso gründlicher ihr Mütchen kühlen, während der Esrog, dieser dicke, ver- wöhnte, verweichlichte Esrog in einer silbernen Büchse ein bequemes Dasein führt und auch dann, wenn er beim Lu- lowschütteln mit den Andern von der zweiten, dritten und vierten Klasse zusammentrifft, nicht vergisst, was er an Distanzwahrung seinem Adel schuldig ist, indem er eine ganze Hand wie der Reiche seine eigene Villa für sich beansprucht, mögen sich die drei anderen in der zweiten Hand noch so dicht im engen Raum wie die Armen in der Mietskaserne zusammenpressen müssen.

Diese Unterschiede zwischen reichen und armen Men- schen werden wohl niemals verschwinden, solange es auf der einen Seite Menschen geben wird, die vom Schicksal begünstigt und auf der anderen Seite Menschen, die vom Schicksal benachteiligt werden. Auch in der Pflanzenwelt sind diese Unterschiede da, nur hat man nie gehört, dass da auf dem Wege blutiger Gewalt natürliche Höhen zu senken und natürliche Tiefen zu heben versucht worden wären. Diese gleichmacherischen Bestrebungen sind eine Eigentüm- lichkeit der Menschen, die den Eingebungen ihrer sogenannten Vernunft sklavischer folgen, als den Lehren der Geschichte und Religion. Wie viele Illusionen blieben den Menschen erspart, wenn sie in ihren Anschauungen und Urteilen weni-" ger auf die Vernunft und mehr auf geschichtliche und reli- giöse Lehren hören möchten ! Da würden sie gar oft die Dinge ruhiger und klarer sehen, statt sich von allerhand Spiegelungen der Phantasie täuschen und narren zu lassen.

Das Bachweidenblättchen. 263

Sie würden vor allem dem Schicksal ruhig in die Augen sehen, statt sich in massloser Ueberschätzung ihrer Macht als die Herren und Gestalter ihres Schicksals zu fühlen. Ist der Mensch Herr über sein Geschick ? Er war es nie und wird es niemals sein. Mit bestimmten Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen, die er wohl ausbilden und regeln, doch niemals umstossen oder neu erzeugen kann, kommt er auf die Welt. Mit dem, was er in sich und um sich vorfindet, muss er sich durchs Leben schlagen. Wohl gelingt es ihm zuweilen, aus kleinem Grosses zu schaffen. Aber dieses Gelingen selbst ist kein Erwerb, sondern Geschenk. Es hätte ihm auch nicht zu gelingen brauchen, seine Versuche und An- strengungen hätten auch fehlschlagen können, wenn er kein „Glück" gehabt hätte. Der grösste Atheist scheut sich nicht von „Glück" zu reden, obwohl dieser Begriff nicht eine Spur durchsichtiger ist, als der Begriff „Gott", den er ablehnt.

Da ist nichts zu ändern: mit „Schicksal" und „Glück" müssen wir uns abfinden, weil das von Gott gewollte Natur- tatsachen sind. Ist uns aber nichts in die Hand gegeben, um das Leben aus den ihm von Gott geschmiedeten Fesseln wenn auch nicht zu befreien, das kann und wird uns nie gelingen aber doch trotz dieser Einkerkerung in ewige Notwendigkeiten zu einem schönen, wirklich lebenswerten Leben erstehen zu lassen ? „Zwei der vier Lulowpflanzen tragen Früchte, zwei sind unfruchtbar, die fruchtragenden sollen sich mit den unfruchtbaren, die unfruchtbaren mit den fruchtbaren verbinden, und die Pflicht wird nur erfüllt, wenn sie alle in einem Bunde sind : so kann auch Israel das göttliche Wohlgefallen nur in einem Bund vereinigt er- streben. Heisst es doch also : im Himmel baut Er seine Stufen, aber auf Erden hat Er seinen Bund gegründet" (Me- nachoth 27a). Hier ist es ausgesprochen, was Menschen tun müssen, um die Erde zu einer erträglichen Wohnstätte für glückshungrige Menschen zu machen. Sie müssen verhin- dern, dass die natürliche Ungleichheit zwischen Reich und

264 Das Bachweidenblättchen.

Arm nicht noch durch menschliche Bosheit und mensch- lichen Unverstand künstlich gesteigert werde, und sie können es hindern, wenn sie sich zusammenschliessen, „wenn sie alle in einem Bunde sind".

An diesem Sicheinsfühlen mit anderen Menschen fehlt es, daher auch im vierten Kriegsjahr die Erbitterung in weiten Kreisen so gross ist. Jeder denkt nur an sich, an seinen Vorteil und an die Möglichkeit der besten Art, wie er aus dieser Schreckenszeit heil und satt in die zukünftige Friedenszeit sich hinüberretten könne. Jeder möchte wie ein Esrog in einer silbernen Büchse seine Jahre verbringen, und so wenige giebts, ach so wenige, die einen Blick haben für die vielen, vielen Bachweidenblättchen, die welk und lebensmüd zu Boden fallen und unbeachtet liegen blei- ben, bis sie von einem zufälhg sie streifenden Auge wahr- genommen werden. Nur wer Geld und Glück hat zählt mit. Der Esrog wird bewundert und verhätschelt. Das Bach- weidenblättchen fällt, noch ehe das Fest aus ist, zu Boden und stirbt. Und doch, und doch im Himmel baut Er seine Stufen, aber auf Erden hat Er seinen Bund gegründet.

X.

Zum 1 1 . Jahrbueh der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft. 265

Zum 11. Jahrbuch der Jüdisch- Literarischen Gesellschaft.

Im diesjährigen Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gresellsehaft setzt Herr Rabbiner Dr. Ehrentreu in München seine Aufsatz-Serie „Spracliliches und Sachliches aus dem Talmud" fort und kommt dabei auch auf S. 237 ff. auf eine Kritik zu sprechen, die wir im ersten. Jahrgang unserer Zeitschrift an einer von seinen im vorigen Jahrbuch veröffentlichten talraudischen Untersuchungen geübt haben. Herr Dr. Ehreutreu sucht unsere Kritik zu entkräften; dieser Ent- kräftuhgsversuch ist aber selbst wieder so angreifbar, ja, er be- weist selber so schlagend die Berechtigung unserer Kritik, dass wir nicht umhin können, die ganze Kontroverse hier wieder in aller gebotenen, '^eil zur Klarheit erforderlichen Ausführlichkeit aufzurollen und Herrn Dr. Ehrentreu, wie wir hoffen, endgültig zu beweisen, dass seine Auffassung der fraglichen Talmudstelle auf einem offensichtlichen Irrtum beruht.

I.

Der geehrte Herr Verfasser schreibt :

„In den „Jüdischen Monatsheften" Jahrgang 1, Heft 3, S. 110, finde ich unter dem Titel „Kritische Streifzüge" eine Besprechung meines Artilsels im Jahrbuch X S. 215 ff., über die Talmudstelle Joma 86a. Der Verfasser R. B. bezeichnet meine Auffassung als, „nicht stichhaltig" und will die alte von Raschi gegebene Erklärung rechttertigen. Üas ist ein sehr löbliches und dankenswertes Bestreben, denn das D''J\^N"I b"^ piDÜ 1131^ kann niemand mehr anerkennen als ich.

Ohne dies wollte ich auf den Gegenstand noch einmal zurückkommen, weil ich den betreffenden Artikel noch vor der Drucklegung wesentlich um- gearbeitet und erweitert hatte. Nur durch ein Versehen ist er in der altern Fassung zum Abdruck gelangt. So bietet sich mir die erwünschte Gelegenheit, nebenbei auf die Einwände der „Kritischen Streifzüge" erwiedern zu können.

An obiger Stelle sagt Rah : „Es wäre ein DliTl bl'^PI) w^enn ich beim Metzger Fleisch kaufen und nicht gleich bezahlen würde". Raschi erblickt den GttTl '^l^n darin, dasa der Metzger ihn in Verdacht haben werde, er wolle sich seiner Verpflichtung entziehen. Ich führte eine Raschistelle aus Chulin 44b an, auf Grund deren ich zu der Meinung kam, der Q^n '?*l^n beziehe «ich auf dit- Zuschauer, die glauben könnten, Rab werde von dem Metzger begünstigt.

Der Kritiker meint nun, die folgenden Worten des Abbaji: i^^^ ^^^ j^S

i

266 Zum 11. Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft.

Hb ^ynm «nnJO bn« "»y^n nH ^<-ln«D widersprechen meiner Auffassung uad bekräftigen Raschis Erklärung; denn Abbaji sagt, der Verdacht kann nur dort Platz greifen, wo es üblich ist, sofort beim Einkauf Barzahlung zu leisten, nicht aber dort, wo der Metzger erst später kommt, nm den Betrag der Fleischrechnung einzufordern. „Wäre es Rah", so schreibt Herr R. B., „wie der Verfasser meint .... bei seiner sofortigen Bezahlung darum zu tun ge- wesen, den Verdacht zu vermeiden, als ob er für seine erleichternde Ent- scheidung von dem Metzger begünstigt würde, warum sollte dieser Verdacht ^yDm {^IDND wegfallen? Der Verdacht freilich, von dem Raschi spricht, I^TJ ^ii<^ "1Q1N Nin yilD^ -IHND ^JNtt'D, bei säumiger Bezahlung tür einen ]bli gehalten zu werden, fällt ij;3ni J^IDHD naturgemäss fort". Allein der Verdacht, von dem Chulin 44 a die Rede ist . . . fällt nur dann fort, wenn die im Laden befindlichen Mitkäufer mit eigenen Augen wahrnehmen, dass der □^n für sein Fleisch denselben Preis bezahlt wie jeder andere. Um diesem Ver- dacht vorzubeugen, muss das Geld überall, einerlei ob "^y^ni NIDND oder "'VDn i^h, sofort bezahlt werden". So meint der Kritiker.

Ich bin darin ganz gegenteiliger Meinung. Gerade die Worte Abbajis spre- chen für meine Auffassung, Rab sagt, es wäre ein ^^n blbn» wenn er Fleisch vom Metzger nehmen und nicht gleich "in^^b bezahlen würde. Was heisst "ipl^Nb? Jeder, der Raschis Erklärung zustimmt, muss doch annehmen, dass dieses irib{<b sich nur auf den Moment der ortsüblichen Bezahluugsweise be- zieht. Ist die sofortige Bezahlung beim Fleischeinkauf üblich, so ist unter inbn^ dieser Moment zu verstehen ; zahlt man dagegen gewöhnlich bei Vor- lage der Fleischrechnung, dann ist mit inbi^S eben dieser Zeitpunkt gemeint; denn derselbe Verdacht, der ly^n t^^l NIDi^D am Sonntag beim Fleischein- kauf besteht, der entsteht doch ^y2^^^ ^^IHND ^.m Montag, wenn die Fleisch- rechnung vorgelegt wird. Wie kann also Abbuji da einen Unterschied machen und sagen, dass tj^^ni {^tflKD kein Verdacht angeht?

Meint er wieder, dass "ly^fll NinMD ^^^ beim JFleischeinkauf kein Ver- dacht entstehen kann, wohl aber bei Vorlage der Rechnung, dann hätte er sich einerseits sehr 'ungenau ausgedrückt, denn nDPI "ID^Vi die Hauptsache, dass auch ^y^rn MIHND bei Vorlage der Rechnung Verdacht entstehen kann, fehlt in seinen Worten, anderseits ist das, was er sagt das ly^ni i^lHND beim Fleischeinkauf kein Verdacht angeht etwas so Selbstverständliches, dass es gar nicht gesagt zu werden braucht. Wie soll jemard auf den Gedanken kommen, dass Rab verpflichtet seia soll, ^3;3rn NIDJO) ^o jedermann erst nach Vorlage der Rechnung seine Schuld begleicht, im Gegensatz zur orts- üblichen Einrichtung, sogleich Bezahlung zu leisten? Wie soll da der Metzger auf den Gedanken kommen, den Rab zu verdächtigen, dass er sich seiner Verpflichtung entziehen will, weil er nicht gleich beim Einkauf Bezahlung leistet, wenn es so ortsüblich ist nnd seine anderen Kunden es ebenso halten ? Das ist doch unbegreiflich.

Nach meiner Auffassung, wie ich sie im Jahrbuch a. a. 0. dargelegt

Zum 11. Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft. 267

habe ich werde weiterhin nachweisen, dass die frühesten Rischonim höchs- wahrscheinheh dieser Meinung waren ist die Unterscheidung, die Abbaji macht, klar und einleuchtend. Nur ly^n fc^*?! N")nN3> ^^ gleich beim Einkauf bezahlt wird, merken die Mitkäufer, dass Rah von der ortsüblichen Bezahlungs- weise abweicht, und es könnte bei ihnen der Verdacht entstehen, dass er in unzulässiger Weise vom Metzger begünstigt wird. Dagegen ^y^ni {^inj^D» wo die Bezahlung erst nachträglich und nicht coram publico erfolgt, da kann ein 'n Si^n nicht entstehen, selbst wenn Rah die ihm vorgelegte Rechnung nicht sogleich honoriert, weil dies ein Internum zwischen dem Metzger und seinem Kunden bleibt und nicht in die Oeffentlichkeit dringt.

Der Kritiker meint, nach meiner Auffassung bleibe auch da der Ver- dacht bestehen, Die Leute werden immerhin sagen, Rab wird von dem Metzger begiinstigt. „Um diesem Verdacht vorzubeugen, muas das Geld über- all . . . sofort bezahlt werden" s. o.

Dieser Einwand ist ganz und gar unberechtigt, und es wundert mich nur, dass mein Herr Kritiker das nicht eingesehen hat. Der Ausspruch Abbajis richtet sich, von meinem Standpunkt aus, gerade gegen ihn, um seine Meinung auszuschliessen. Du sollst nicht meinen, sagt Abbaji, dass die sofortige Be- zahlung unter allen Umständen notwendig sei. Nein, nur wenn der DDPI ^^ Gegensatz zum ortsüblichen Brauch nicht sofort den Kaufpreis erlegt, dann würde er durch diese Abweichung von der lokalen Norm dem Verdacht Nahrung geben ; und das muss er vermeiden. Wenn er aber ^y^ni N"inN3 wohnt, wo alle anderen erst nachträglich bezahlen, dann liegt kein Anlass zum Verdacht vor, wenn er es ebenfalls so mächt. Das ist doch so klar und ein- fach, dass es im Ernste nicht bestritten werden kann.

Dabei will ich noch auf einen anderen Umstand aufmerksam machen. Abbaji beginnt seinen Satz mit den Worten )^^ j^S „Das ist nicht gelernt worden". Dieser Ausdruck wird nur in Bezug auf eine nn"ii"i3 oder einen bestimmt formulierten |i-] gebraucht. Hier aber steht dergleichen nicht. Rab hat nur gesagt : „Wenn ich das und das tun würde, so usw." Darauf passt kein ))]^ i^^, höchsten» iSiq i^nv In der Tat lesen auch so einige Handschriften bei Rabbinowicz. Meine Erklärung kann auch bei i^iq i^m bestehen, aber sie rechtfertigt auch und begründet unsere Leseart. Rabs Worte sind im Hin- blick auf die {^rTi^D •" Chulin 44 b : my^DH ]D pHIH D^DDH 110« bnn ge- sprochen. Darauf passen dann die Worte Abbajis: „i^^j; ^^ diese Worte der XrT'nD Sinti nur gesprochen ly^n ühl «"IHND"-

Zunächst und vor allem: Was berechtigt den Verlasser, die Einschränkung Abbajis schon in Raw hineinzulernen? Warum soll Raw, wenn er ihSkS sagt, hierbei an den „Moment der ortsüblichen Bezahluugsweise" gedacht haben ? Die Unterscheidung zwischen 'V^ni NnnN3 und 'j;an sSl NnnN2 ist ja das Neue, womit Abbaji den Ausspruch Raws berichtigt oder ergänzt. Nichts berechtigt aber

268 Zum 1 1 . Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft.

den Verfasser, das Wort nn^xS im Munde Raws anders als in seinem gewöhnlichen Sinne, als „sofort", d. h. unmittelbar nach dem Fleischeinkauf, zu verstehen, statt durch Verquickung der beiden Aussprüche von Raw und Abbaji eine Schwierigkeit zu kon- struieren, für die der Gemaratext auch nicht die kleinste Handhabe bietet. Jedoch abgesehen von dieser ganz willkürlichen und un- begreiflichen Interpretationsverschiebung fällt ja Herr Dr. Ehrentreu bei seiner Erklärung des Ausspruches von Abbaji mit einem Male ganz aus der Rolle. Worauf läuft denn die Erklärung, die der Verf. im Gegensatz zu Raschi bietet, im wesentlichen hinaus ? Auf eine Uebertragung des Verdachtes, von dem Chulin 44b die Rede ist, auf Joma 86a. Die Talmudstelle in Chulin handelt von- dem Verdaqht, dass ein D3n für eine erleichternde Entscheidung vom Metzger mit Preisermässigung belohnt wird. Wir sind nun der Meinung, dass dieser Verdacht auf Joma 86a nicht übertragen werden kann, weil dann die Unterscheidung zwischen ^y^m NnriN2 und •'V^n ah nicht angängig ist, denn um diesem Verdacht vor- zubeugen, muss das Geld überall sofort bezahlt werden. Nun kommt Herr Dr. Ehrentreu und will nachträglich erklären, warum nach seiner Auflassung unserer Talmudstelle Joma 86a die Unter- scheidung des Abbaji „klar und einleuchtend" ist: Nur kSi NinK3 ''V^n, wo gleich beim Einkauf bezahlt wird, merken die Mitkäufer, dass Raw von der ortsüblichen Bezahlungsweise ab- weicht, dagegen 'j?3n"i KinXD, wo die Bezahlung erst nachträglich und nich coram publico erfolgt, da könne ein Verdacht nicht ent- stehen, selbst wenn Raw die ihm vorgelegte Rechnung nicht so- gleich honoriert, weil dies ein Internum zwischen dem Metzger und seinem Kunden bleibe und nicht in die Öffentlichkeit dringe.

Ja, hat denn der geehrte Herr Verfasser urplötzlich vergessen, dass es sich in Chulin nicht um den Verdacht einer Abweichung von der ortsüblichen Bezahlungsweise, sondern lediglich um den einer Gewährung von Preisermässigung handelt? Und merkt denn der Herr Verfasser nicht, dass er mit dieser uns ganz unverständlichen Ignorirung des Kernpunktes seiner Hypothese den

Verdacht erweckt, dass er selbst emen Ausgleich der Ueber- tragung des Verdachtes von Chulin auf Joma mit dem Ausspruch

Zum 11. Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft. 2()9

des Abbaji für unmöglich einsieht und wenn er uns jetzt mit einem Male mit einem neuen Verdacht der Abweichung von der ortsüblichen Bezahlungsweise kommt, dieses Novum, statt unseren Einwand zu entkräften, das Verständnisnur noch weiter kompliziert?

Nicht die Bezahlungsweise, sondern die Möglichkeit einer Preisermässigung nährt nach Chulin 44b den Verdacht einer un- gesetzlich erleichternden Entscheidung. Wie nun die Möglichkeit dieses Verdachtes mit dem Ausspruch des Abbaji vereinbart wer- den kann, darüber ist uns Herr Dr. Ehrentreu eine Erklärung nach wie vor schuldig geblieben. »Das ist doch so klar und einfach, dass es im Ernste nicht bestritten werden kann."

Die urplötzliche Ignorierung von Chulin 44b ist umso unbe- greiflicher, als Herr Dr. Ehrentreu in seiner nachträglichen Recht- fertigung seines von Raschi abweichenden Standpunktes ein neues allerdings unseres Erachtens durchaus unzulängliches Beweis- moment entdeckt zu haben glaubt. Aus den Worten uu' ah, mit welchen Abbaji seinen Satz beginnt, will nämlich der Verf. schlie- ssen, dass Rabs Worte im Hinblick auf die Nn'na in Chulin 44b gesprochen seien, weil der Ausdruck i:^ ah nur in Bezug auf eine Nn''''13 oder einen bestimmt formulierten pi gebraucht werde „hier in Joma stehe aber dergleichen nicht".

So ? Herr Dr. Ehrentreu hat es offenbar verabsäumt, den Ausspruch Raws im Zusammenhang mit dem Vorhergehenden zu lesen, denn sonst wäre es ihm sicherlich nicht entgangen, dass auch in Joma „dergleichen steht". Wenn die Gemara fragt ''yn Dü^n '?lS^n ''01 und Rab darauf ant'svortet '151 WN p:3, so ist diese Frage und Antwort in engstem Zusammenhang miit einer vor- hergehenden Kn^nn zu verstehen, die also lautet; ntiö "i hüti^ 'f2 Sin '1D1 n-iQD 'p)hn 'v^in nv^^ 'ona nntv |n myS« 'n nN^tt^in p "\y mSnS nmtJ>nn np iS j^« n^a niJ'n Si'?'n ir^ü». Auf diesen xn^n>Satz '1D1 n'3 OU^n SlS'^n U>'U> ^O Snx bezieht sich nun die Frage des Talmuds Dtt>n SlSm ^öT *'3n und die Antwort Raws '131 WN p:p und wenn nun Abbaji mit den Worten '1D1 iJti» ah sich eine Ein- schränkung erlaubt, so ist gar kein Grund vorhanden, in die Ferne zu schweifen, wo das Gute so nahe ist, die Worte '1D1 iJti> ah im Hinblick auf eine Nn''n2 in Chulin gesprochen zu denken, wo sie

270 Zum 11. Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft.

doch viel einfacher und ungezwungener auf eine Kn''^13 an Ort und Stelle sich beziehen.

11.

Hören wir den Herrn Verfasser weiter:

„Nun kommt aber der Kritiker mit einem anderen Einwand. Das, was ich angebe, dags ein Q^p) von einem Stück, das durch seine Entscheidung -|^3 wurde, kein Fleisch kaufen soll, das sei kein besonderes plTl^nT) <i*s sei ein einfacher r\-\, dazu braucht man nicht Rah zu sein, um sich davon fer« zu halten, denn es steht dort in Chulin 44b ')j "liy^Dn ]D pPliri- Mit diesem Einwand geht es mir eigenartig ; er kommt mir so gelegen, wie nur möglich. Jeder, der meinen Aufsatz gelesen hat, musste sich doch sagen, durch die Erklärung, dass Rab nur dann seine Vorsicht der sofortigen Bezahlung ge- braucht hat, wenn er das betreffende Stück Vieh für "itfD erklärt hatte, habe ich mir die Sache erschwert ; denn von diesem Vorbehalt steht nichts in den Worten Rabs. Ich hätte doch einfacher sagen können, dass Rab bei jedem Einkauf von Fleisch so rigoros verfahren ist, auch wenn er nicht darüber ^gepasskent" hatte. Das ist ganz richtig; aber ich hatte im Moment des Nie- derschreibens Bedenken zu sagen, dass auch in einem solchen Fall 'n '^»i^n angehen soll, weil die Nn''^"lD Chulin 44b nur von p-^n n{< ]"I spricht. Dieses Bedenken habe ich in der vorhin erwähnten Neubearbeitung fallen gelassen.

Nun kommt mein Kritiker und ruft aus : „Und eines solchen Min- destmasses an Hut vor 'f^ bl'^P hätte sich 3^ als eines Beispieles von beson- derer Achtsamkeit rühmen sollen ?" Für 3-) verlangt er „sublimere -iiffri" Möglichkeiten". Umso besser, sage ich. Ich habe ja nur behaupten w^ollen, dass in solchen Fällen der Tatbestand des '^ ^^b^\ gegeben wäre. Um aber jeder Missdeutung aus dem Wege zu gehen, da die Leute doch nicht wissen konnten, ob Rab In die Lage gekommen war, über das betreffende Stück eine Entscheidung zu fällen oder nicht hat er als j^iriNl ülDj dessen Ent- scheidung Vorkommendenfalls angerufen wird, sich überhaupt zur Regel ge- macht, ein für allemal beim Fleischeinkauf Barzahlung zu leisten. Damit er weit mehr getan als, was in Chulin 44 b gefordert wird, und er hat dadurch eine „sublimere Auffassung" über 'n b)br\ bekundet.

Eine Stütze für meine Auffassung, dass der Verdacht von Seiten an- derer Leute und nicht von Seiten des Metzgers zu befürchten sei, fand ich nachträglich im Kommentar des bi^i^n '"1 i" ^^r Wilnaer Talmudausgabe. Er schreibt zu unserer Stelle : n^^ «"itt'D b^piCl 2'^b H^n^TH N^X ID^Db Tl«! IQ! „Die Leute werden sagen ; ich sah, wie Rab Fleisch ohne Bezahlung ge- nommen hat". Auch in den nN"'J v"^"in niD^n ed. Bamberger S. f"Q lautet die Erklärung ähnlich. Mit Raschis Erklärung lassen sich diese Worte nicht in Einklang bringen. Zu der von mir vorgeschlagenen passen sie gan» gut."

Der geehrte Herr Verfasser gehört zu den bedeutendsten Talmudkennern des deutschen Judentums, daher müssen wir ihn

Zum 11. Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft. 271

schon vorher um Verzeihung bitten, wenn wir behaupten, dass uns selten ein solches Beispiel von unentwegter Versteifung in einen falschen Gedankengang vorkam, wie es uns diese ganze Ausein- andersetzung bietet. Es ist doch ganz offensichtlich, und Herr Dr. Ehrentreu giebt doch selbst diese Prämisse in vorstehender Dar- legung zu, dass Raw, der ganz allgemein von seinem Verhalten beim Fleischeinkauf spricht, hierbei nicht blos an Fälle, die ihm zur Entscheidung vorlagen, dachte, sondern bei jedem Fleisch- einkauf sich vor ntt^n h^h^t hütete. Die Frage ist nun, was für eine Art von Dtt>n h'hn Raw hierbei im Auge hatte. Herr Dr. Ehrentreu verweist im Gegensatz zu Raschi auf Chulin 44b. Herr Dr. Ehren- treu pflichtet uns, wenn auch nicht ausdrüklich, bei, dass zwischen dem mi\n) in Chulin und der Hut vor Dti>n SiSn in Joma ein Un- terschied besteht, kann sich aber nicht dazu verstehen, Raschis Auffassung als die auf Grund dieses Unterschieds einzig mögliche zu acceptieren, sondern es mus», koste es, was es wolle, der Ge- dankengang in Chulin auch in die Stelle in Joma hineingedeutet werden.

Und was ist nun das Resultat? Worin besteht die „subli- mere Auffassung" von üti^rt SlSn, die Raw bei jedem Fleischein- kauf bekundet haben soll ? Er hat sich als NinNI N"iO zur Regel gemacht, ein für allemal beim Fleischeinkauf Barzahlung zu leisten! Ja, wie oft sollen wir denn den Herrn Verfasser erin- nern, dass es sich in Chulin um den Verdacht der Preiser- mässigung handelt! Dieser Verdacht wird aber nur beseitigt, wenn die Mitkäufer merken, dass der üDJi den regulären Preis be- zahlt. Es erhebt sich darum von selbst wieder unser früherer Einwand, dass mit einer solchen Auffassung des Ausspruches Raws Abbajis Einschränkung sich unmöglich verträgt, weil nicht] einzu- sehen ist, warum Raw 'J7am Kinxs die Hut vor DU>n hlhn für über- flüssig halten soll. Betrachten wir aber selbst den Ausspruch Raws ausser Zusammenhang mit dem Satz Abbajis, so ist durchaus nicht einzusehen, warum Raw sich als «nriNI »no eine Erschwerung auf- erlegt haben soll, die in Chulin 44b nicht die mindeste Begründung hat. Uns will bedünken, als ob Herr Dr. Ehrentreu nicht recht ver- standen hat, was wir mit dem Ausdruck „sublimere lUTi-Möglich-

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2/2 Zum 11. Jahrbuch der Jüdiseh-Literarischen Gesellschatt.

keiten", sagen wollten; Raw- will die Frage des Talmuds, was unter QV:^n '^iSn z,,u verstehen sei, beantworten. Raw verweist nun auf eine „sublimere l'lJ^n-Möglicbkeit", vor der sich wohl ein QDn, nicht aber gewöhnliche Menschen in acht nehmen müssen. Es giebt Situationen im Leben, die wohl einen non, nicht aber gewöhnliche Menschen in ein verdächtiges Licht setzen. Und zwar wird in solchen Situationen der DSn leichter in den Verdacht einer unedlen Handlung kommen, weil er eben als D^n einer schärferen Kritik als gewöhnliche Men- schen ausgesetzt ist. Raw kann darum in Joma unmöglich an eine Art des Verdachtes gedacht^ haben, vor dem sich in analogen Fällen auch gewöhnliche Menschen zu hüten haben. Wenn der Nie KiriNT bei seinem Fleischeinkauf sich vor dem lUTi einer ungesetz- lich erleichternden Entscheidung hütet und wenn er hierbei selbst so weit geht, dass er immer auch in solchen Fällen, die- seiner Entscheidung nicht vorlagen, sein Verhalten so einrichtet, das kein Verdacht aufkommt, so geht er hierbei nur einem itf^n aus dem Wege, der in analogen Fällen auch gewöhnliche Menschen, die nicht „paskenen", bedrohen könnte. Warum verschweigt denn Herr Dr. Ehrentreu die wichtige Stelle in Chulin, die wir seiner- zeit in unserem Artikel wörtlich citiert haben: HlU^n^ Dl^i'ö n^S plöTil b2H n^'h pxt^^n |Sn 'M'vr^'^ 'D'i,x?npi 'lai ]nr\ na p K^im Knn Kn- '-3 '^2^ iS nann |öi mvv^n- pm:n D^o^n v-,ok '531 KriDiD KniJ>. Es ist also hier, wie wir damals ausführten, kei- neswegs von den besonderen, sublimeremu^n-Möglichkeiten die Rede, die nur bei grossen, hervorragenden Männern zu SlSn Q'^n führen können, sondern von solchen Möglichkeiten der Ver- dächtigung, denen Jedermann, i^lD iTyniJ> nnj?."!- pi, ohne Unter- schied des Standes und Ranges in gleichem Masse ausgesetzt sind. Wenn demnach Raw in Joma der sofortigen Bezahlung des Metzgers als einer besonderen Hut vor DU>n h^hn sich rühmt, so kann er dabei unmöglich an die Vermeidung eines simplen l)i^n gedacht haben, wie einem solchen Jedermann ausgesetzt ißt, vielmehr muss und kann sein Ausspruch nur so verstanden werden, wie ihn Raschi erklärt. Kann sich Herr Dr. Ehrentreu nicht einen analogen Fall denken, wo Jemand, der nicht „paskent", der kein DDn ist, einer ii5>n-Möglichkeit mit derselben ängstlichen Gewissen-

Zum 11. Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft. 273

haftigkeit ausweichen müsste, die nach dös Verfassers Meinung Raw in Joma betätigt haben soll ? Der nUTi, der den K*iö NiriKI in Chulin bedroht, kann in ähnlicher Weise jeden andern auch bedrohen. 'W)!n\i^ Dnj?n p1, wenn irgend ein Zeuge über irgend einen Gegenstand ein Zeugnis ablegt, so warnen ihn die Weisen, diesen Gegenstand in seinen Besitz zu bringen, weil böse Menschen sein Zeugnis auf persönliche Interessirtheit am Gegen- stand der Aussage zurückführen könnten. Wir müssen also in Chulin an eine Art des Verdachtes denken, die vollkommen absieht von der Persönlichkeit des dem Verdachte Ausgesetzten, die Jeder- mann, er mag ein ODn oder ein gewöhnlicher Mensch sein, be- drohen kann. Natürlich wird sich ein xiriNT Xlö vor dem itt^rr der Interessirtheit vor allem auf dem Gebiete der riKiin hüten müssen, und wenn er dabei noch so weit geht und noch so sehr 'T'^riö ist, so handelt es sich hierbei nicht um diejenige Hut vor W^n h)hr\, die Raw im Auge hat, denn der Verdacht der persönlichen Inter- essirtheit ist etwas, was dem NiriKI N*10 nicht als D3rt anhaftet, wovor er sich selbst dann zu hüten hätte, wenn es möglich wäre, dass Jemand KiriKI Knö sein kann, ohne zugleich ein Don zu sein. Raw denkt an niJ>n-Möglichkeiten, die sich ddh h'\i^ iSli •'öS Son, wie der Rambam sagt je nach der Grösse des betreifenden QDn verschieden abstufen, die den DDn allein und nur ihn bedrohen können. Der ntj>n, von dem in Chulin die Rede ist, muss darum in Joma vollkommen ausscheiden, weil die Art des in Chulin be- handelten Verdachtes von der persönlichen Qualität der grösseren oder kleineren Grösse absieht und ganz objektiv die Handlungs- weise des Menschen daraufhin besieht, ob sie zum Tfi^n Anlass giebt oder nicht. Es bleibt in der Tat nichts anders übrig, als Raschis Erklärung zu acceptieren, auf die wir noch im weiteren Verlauf dieser Auseinandersetzung zurückkommen werden.

Unhaltbar scheint uns auch eine Nebenbemerknng zu sein, die sich in einer Fussnote des Artikels des Herrn Dr. Ehrentreu findet : „Nebenbei will ich meinem Gegner folgendes entgegen- halten: Dass dieses mvDn |0 pnnn kein einfacher |n sei, ergiebt sich schon daraus, dass die D'pDIC diesen p gar nicht erwähnen, was schon R. Jesaia Berlin im nriDtt'n inia 93 befremdlich findet.

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Diese Nichterwähnung scheint darauf hinzAiweisen, dass es kein yi, sondern nur WTOn n:ti>ö sei. Es heisst doch dort ausdrücklich np^S pNli^n jSlO „Sie alle sind berechti'gt, davon zu kaufen". Wenn nun Rab von dieser Berechtigung keinen Gebrauch machte und sich die D"'T'Dn nWfi zu Norm nahm, so ist das im- merhin etwas . . . ."

So befremdlich es ist, dass die D''pD'iQ die Forderung p pmn TlV^n nicht erwähnen, obwohl sich dieser Satz mehr als einmal im Talmud vorfindet, so |nj 'm nnx 2, 2, NS31T |'"1N "[m 1 und 2, so ist es doch unseres Erachtens ein voreiliger Scbluss, aus dieser Nichterwähnung zu folgern, dass diese Forderung kein p, sondern nur Q'^TOn nWf2 sei. Es wäre das nicht der einzige Fall, dass et- was als VI gälte, obwohl es im Schulchan Aruch nicht erwähnt wird. Das Verbot, einen Fruchtbaum umzuhauen, wird nicht vom *l2nü und nicht vom «"O^i, sondern vom T"J2 erwähnt. Das ist auch befremdlich, und doch werden wir uns hüten müssen, auf Grund dieser formalen Seltsamkeit den |n-Charakter jenes Verbotes zu bezweifeln. Ganz unhaltbar is es aber nun, wenn Herr Dr. Ehren- treu aus den Worten np''h |''Nti>n |SlD den Schluss zieht, dass wir es bei der Forderung mv'^n |0 plTii"! nicht mit einer allgemein- gültigen Norm, sondern nur mit einer an'Dn nJti'ö zu tun haben. Hier "hat den Verfasser mit Verlaub die ruhige Überlegung gänzlich im Stich gelassen, np^h |^Klt>1 jSlD heisst doch nichts an- ders als: Gesetzlich kann 's nicht als nh'"!: bezeichnet werden, wenn Jemand unter Nichtachtung des '^i'^'^Dn pnnn einen Gegen- stand erwirbt, über den er gepaskent oder ein Zeugnis abgelegt hat. Jedoch vom Standpunkt der jüdischen Ethik, in deren Erd- reich die Forderung "iiy^n pmn wurzelt, ist es ein sittliches Gebot, auch den Schein einer unedlen Handlung zu vermeiden. Dieses sittliche Gebot der jüdischen Ethik, dessen Befolgung wohl nicht polizeilich erzwungen werden kann, jedoch dem moralischen Bewusstsein und Willen überantwortet ward, wendet sich nicht an einzelne, erlesene, ethisch hochstehende Personen, sondern an je- den Einzelnen in Israel, iTynii* onvn p1, das in seiner Gesamtheit zur sorgsamen Hut vor dem Bösen und vor allem, was dazu führen kann, aufgerufen wird. Sehr instruktiv ist hier ein Studium der

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bereits citierten Stelle in pJ 'IT nUK:. |Sn^ löXJi laipn kS |ND noK: i^V'^h nann pi nr;^3n jo pnnn aipn yS m^nv n^S n'if^n nanS anpn nS '1^1. Sind etwa nach HeiTn Dr. Ehrentreu die';^göttlichen Verbote 2ipn ah nriNöiis nm ni^^K Ski und n^ipn ah ntJ^a inu' Sj ha \if'a.\i>'a nicht als jn, sondern nur als CT'DPi njt>i2 gedacht ^

Was nun die vermeintliche Stütze betrifft, die der Verfasser im Kommentar des Sxj:n 'l gefunden zu haben glaubt, so konnten wir trotz eifrigen Bemühens mit dem besten Willen nicht finden, dass haiin "i was doch die Hauptsache wäre zum Kern der Erklärung des Herrn Dr. Ehrentreu sich bekennt. Nicht darin liegt der Gegensatz des Ve^-fassers zu Raschi, dass nach ersterem der Verdacht auf Seiten anderer Leute, nach Raschi von Seiten des Metzgers zu befürchten ist, sondern im Gegenstand des Verdachtes weicht der Verf von Raschi ab. Herr Dr. Ehrentreu überträgt den Verdacht der Preisermässigung von Chulin auf Joma, während Raschi von einer Art des Verdachtes spricht, die nur beim orn angeht. Hierin stimmt SN::n "i mit Raschi völlig über- ein. Auch nach SNJJn 'i geht der Verdacht auf nh't:. Wenn 't haiin zum Träger des Verdachtes nicht wie Raschi den Metzger, sondern das Publikum macht, so ist das ein ganz nebensächlicher Unterschied, der neben der Tatsache, dass hann 'i im Gegenstand des Verdachtes und darauf kommt es in der Hauptsache an mit Raschi völlig eines Sinnes ist, überhaupt nicht ins Ge- wicht fällt.

Nebenbei wollen wir noch auf ^inen wichtigen Punkt hin- weisen, der für den Unterschied zwischen dem Verdacht in Chulin und dem in Joma sehr belangreich scheint Zu dem Worte h'hn ctt'n in der NiT'm, auf das sich, wie wir oben bemerkten, die Frage des Talmuds cifn SiSn ^öT •'yn bezieht, bemerkt Raschi : anriN X'tsnöl a'c^n. Auch hierin scheint uns ein wesentlicher Unter- schied zwischen dem llt>n in Chulin und dem ü^n h'hn in Joma zu liegen. Wo ein itTi zu befürchten ist, da hat man blos an seine eigene Reinheit zu denken. Bei c^n h^hn kommt auch die Wirkung auf Andere in Frage, und je grösser der orn ist, desto ängstlicher muss er die Wirkung seiner Handlungsweise auf An- dere berechnen.

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III.

Herr Dr. Ehrentreu schreibt :

„Mit der Auffassung von Raschis Erklärung seitens des Herrn Kritikers bin ich ebenfalls nicht ganz einverstanden. Er schreibt: ,Was sagt Raschi ?

3nD ^tSd rwnb ^:üd id'pi ]bn ^li^i:; iD^i< sin viiüb nnt^Q '>:{i^D

„Wenn ich säumig bin in der Bezahlung, so wird er sagen, dass ich ein Räuber sei, und er wird mich zum Vorbild nehmen, um gleichfalls in leichtfertiger Weise Unredlichkeit zu üben". Damit rückt Rabs Ausspruch ine rechte Licht. Wenn ein gewöhnlicher Mensch yno^ irii^D '^t, dann wird er vom Metzger nicht gleich für einen j^n^j erklärt werden. Da wird der Metzger sagen, es hat noch Zeit, wenn der Käufer einige Stunden später oder am fol- denden Tage Barzahlung leistet, warum muss er den Preis für seinen Einkauf "in'PN^ sofort erlegen? Und selbst wenn der Metzger über die säumige Zahlung gewöhnlicher Schuldner den Kopf schüttelt, so wird er deshalb aus ihrer säu- migen Zahlung noch nicht die Berechtigung herleiten, ^|jj3 h]^';^ zu sein. U. s. w."

Der Kritiker hat sich hier nicht deutlich genug ausgedrückt. Er will doch sicherlich nicht sagen, dass der Metzger den Rab für einen leichtsinnigem Menschen )"f] hielt als seine übrigen Kunden, dass er bei den andern, wenn sie nicht gleich zahlten, sich damit vertröstete, dass sie später zahlen werden, während er in dieser Hinsicht von Rab geringschätziger dachte ; denn das wäre doch unlogisch in höchstem Grade. Warum soll ein Verfahren bei Rah eine pi^TJ sein und bei andern nicht?; Er will offenbar sagen, das Verweigero der,, sofortigen Bezahlung ist an sich eine n^TJ» bei Rab sowohl als auch bei andern, aber an gewöhnliche Menschen legt man keinen so strengen Massstab an und nimmt sie auch nicht zum Vorbild, während bei Rab beides berechtigt erscheint.

Demnach erklärt er die Worte Raschis : ^^]} '^iiW lt2)H NIH ganz buchstäblich: Selbst wenn ich später meine Schuld begleiche, so Avird er mich dennoch als ih]^ Dezeichnen ; die Tatsache, dass ich nicht sofort Bezahlung geleistet habe, ist allein schon in seinen Augen eine rÖ]2.

Gegen diese Auffassung habe ich grosse Bedenken. Ich bezweifle sehr, ob man einen säumigen Zahler mj^ 1^3 ]1^^D einen ^h}} nennt, wenn er die Zahlungsfrist nicht gar zu lange, weit üljer die zulässige Zeit hinausschiebt. Meiner Meinung nach hat Raschi den Verdacht oder Q^n b)bn -anders auf- gefasst. Der Umstand, dass jemand nicht sogleich bezahlt, involviert noch nicht den Tatbestand einer rh]}. ^^ ^s jedoch ly^n ühl KlflXD üblich war, sogleich zu bezahlen, so gilt derjenige, der ts nicht tut, als ein unzu- verlässiger Kunde. Der Metzger sagt sich, der Mann kauft Fleisch, ohne die nötigen Mittel zu besitzen ; wer weiss, wann er seine Schuld wird beglei- chen können, bis dahin kann er daran vergessen haben, dann kann ich zu- sehen, wie ich zu meinem Gelde komme u. dgl. m. Das meint nun Raschi mit den Worten : i^^J "'iNtt' ~ID1N yilD^ lUi^D "^^ÜVI^J » Wenn ich meinen

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Verpflichtungen nicht sogleich nachkomme, dann macht er sich Sorgen und denkt, ich sei ein j^;;;, der keine Mittel hat, um zahlen zu können". Obgleich er nach ein oder zwei Tagen, wenn die Bezahlung erfolgt, die Grundlosigkeit seines VerdaeLtes einsehen wird, so wird doch der zeitweilige Verdacht seine schädliche Wirkung geltend macheu, sodass auch sr es mit seinen Verpflichtun- gen leicht nehmen wird.

Das sclieint auch die Ansicht des Meiri gewesen zu sein, denn er schreibt zu unserer Stelle: nopHD npi^^ p3r T^'H n^b IQüj; K^DDH n"n bj yiD^ nb^ nD HDI^D )D)iV nm})^ mD P^"»:"! TNW DPDD. Diese letzteren Worte nZna'U IDüV nvi^iyi können doch nicht in positivem Sinne aufgefasst werden, dass er sich wirklich „vergessen macht, weil er nicht zahlen will", denn das ist nicht nur beim p"n verwerflich; wer immer es tut, ist ein pi2 und wird y^;-) genannt. Die Worte sind vielmehr im Sinne des Metzgers ge- sprochen ; dieser denkt, der Käufer macht sich vergessen und will gär nicht bezahlen.

Das war meines Erachtens die Ansicht Raschis. Der Ehrenschild des n"n soll so blank und rein sein, dass er, wenn auch nur vorübergehend, nicht durch den Schatten eines Verdachtes getrübt werden darf."

Viel Worte um nichts. Was hat der Verfasser gegen meine Auffassung einzuwenden ? Er bezweifelt es sehr, ob man einen säumigen Zahler niü 'J3 p^Sn einen |Sn nennt. Gewiss nicht. Hier aber ist doch von der besonders scharfen Kritik die Rede, der sich in seinem öffentlichen Verhalten ein Mann wie 21 ausge- setzt fühlen muss. Der Verf. hätte blos die betr. Stelle in unserem Artikel ausführlicher citieren müssen, dann hätte er sich seine ganze Darlegung erspart. Je höher, so führten wir damals aus, die ethischen Anforderungen sind, denen ein Afann wie T] auf allen Gebieten des Lebens zu entsprechen hat, desto eher wird er auch dort in den Verdacht laxer Anschauungen geraten, wo gewöhn- liche Menschen vor einem solchen Verdachte geschützt sind. Was im Verhalten gewöhnlicher Menschen eine harmlose Ungenauigkeit ist, das kann auf das Gemüt des Metzgers, wenn ein Mann wie 21 sich diese Ungenauigkeit zu schulden kommen lässt, den Ein- druck einer nhn machen. Gewiss ist sich der Metzger bewusst, dass objektiv betrachtet auch bei einem Manne wie n eine säu- mige Bezahlangsweise nicht als nSn bezeichnet werden kann. 21 hat aber befürchtet, dass der Metzger sein Verhalten nicht objektiv, sondern subjektiv l)ewerten werde, dass der Metzger ein Verhalten, welches er bei jedem andern für harmlos fände, bei einem Manne

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wie m gleich r]":ipn, der bekanntlich mit seinen Frommen pnpno ist mj?ü>n t3inD zu einer grossen Sünde, zu einer nSn aufbau- schen und als willkommenen Anlass aufgreifen werde, um sich in seinen eigenen Geschäftsusancen das Verhalten eines „grossen Mannes" zum Vorbild zu nehmen: Wenn ein Mann wie y^ in Geld- sachen lässig ist, dann wird es doch Niemand einem Metzger ver- übeln, wenn auch er es nicht so genau nimmt und dergl. mehr. „Das ist doch so klar und einfach, dass es im Ernste nicht be- stritten werden kann".

Wohl aber kann es bestritten werden, ob die Auffassung, die Herr Dr. Ehreutreu von Raschi hat, wirklich Raschis Meinung ent- spricht. Es scheint uns beinahe, als ob Herrn Dr. Ehrentreu hier ein Widerspruch mit seinen eigenen Ausführungen unterlaufen ist. Zu Beginn seiner Ausführungen sucht der Verf. unsere Auffassung Raschis, die ihm nicht deutlich genug formuliert erscheint, deut- licher darzustellen : „Der Kritiker hat sich hier nicht deutlich ge- nug ausgedrückt. Er will doch sicherlich nicht sagen, dass der Metzger den Rab für einen leichtsinnigeren Menschen rn hielt als seine übrigen Kunden, dass ,er bei den Anderen, wenn sie nicht gleich zahlten, sich damit vertröstete, dass sie später zahlen wer- den, während er in dieser Hinsicht von Rab geringschätziger dachte; denn das wäre doch unlogisch in höchstem Grade u. s. w " Was hier der Verfasser hypothetisch von unserer Auffassung sagt, das möchten wir affirmativ von der seinigen behaupten, dass sie näm- lich unlogisch ist in höchstem Grade. Nach Herrn Dr. Ehrentreu denkt sich der Metzger im Sinne der Befürchtung Raws, „der Mann kauft Fleisch, ohne die nötigen Mittel zu besitzen". Es wird also hier nach des Verfassers Meinung nicht blos subjektiv eine sonst harmlose üngenauigkeit zu einem Verbrechen aufge- bauscht, sondern der Metzger meint wirklich, dass Raw ein un- zuverlässiger Kunde ist und nur deshalb nicht sofort bezahlt, weil er nicht über die nötigen Mittel verfügt. Der Metzger denkt also objektiv geringschätziger von Raw als von jedem andern seiner Kunden. Denn während er sich bei jedem andern mit der Aus- sicht auf spätere Bezahlung vertrösten wird, erscheint ihm Raw als ein wirklicher |St:, dessen unlautere Moral er sich in sei-

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nera eigenen Verhalten zum Vorbild nehmen wird. Ist das nicht „unlogisch in höchstem Grade" ? „Warum soll ein Verfahren bei Rab eine n'?« sein und bei andern nicht?" Mit dem Ausspruche des Meiri hat unsere Kontroverse bezüglich der Auffassung Raschis nichts zu tun. Selbstredend muss ein n"n dort, wo es nicht üblich ist, auf Borg zu kaufen, in seinen Einkäufen mehr als ein ge- wöhnlicher Mensch den Ortsbrauch peinlichst beobachten. Diese Forderung hat aber mit Raschi nichts zu tun. Da gilt es zu ver- stehen, wann und warum der Metzger aus dem Verhalten eines Mannes wie ni für seine eigenen Usancen leichter allerhand un- moralische Schlüsse und Handhaben entnehmen wird, als aus dem eines gewöhnlichen Menschen, und da scheint uns nun allerdings die Auffassung, die ein objektiv harmloses Verhalten Raws sub- jektiv zu einem Verbrechen aufbauschen lässt, logischer und der Meinung Raschis entsprechender zu sein, als die Meinung des Herrn Verfasaers, der einen Mann wie Raw in den Augen des Metzgers, wenn auc]i nur zeitweilig, zu einem wirklichen Ver- brecher herabsinken lässt,

IV.

Hören wir den Verfasser weiter :

„Zu der im Vorigen besprochenen Stelle Joma 86a schreibt Rambam H. Jesode Thora 5,11: „Es giebt noch andere Dinge, die den Tatbestand eines 'n ^ibn ausmachen, wenn sie von einem Manne fllTDriD DDIIDDI rniHD bn^l ausgehen, Dinge, die nicht direkt sündhaft sind, aber von den Menschen be- krittelt werdan." 1{<1{DJ>| ,}b tt'^W J^IHI '\Dbuh npDH ^Dl \r\M IJ^KI üpb^ ]"I3D IDPO J<^m rVUin D'^IDIDm- »Z- B. er macht Einkäufe und erlegt den Kauf- preis nicht sogleich; aber nur dann, wenn er Barmittel besitzt, sodass die Verkäufer Bezahlung verlangen und er ihnen schuldig bleibt."

für Rambam besteht demnach diese Verpflichtung nicht blos beim Ein- kauf von Fleisch, sondern auch bei anderen Waren. In meinem Artikel Jahr- buch X habe ich bereits bemerkt,- dass er unsere Stelle im Sinne Raschis auf- gefasst und daher folgerichtig diese Verpflichtung verallgemeinert hat. Damit ist wohl Rambam gerechtertii^t, aber er müsste sich doch selbst die Frage vorlegen, warum hat Rab nicht ebenfalls seinen Ausspruch allgemein gefasst, warum hebt er gerade den Einkauf von Fleisch hervor.

Ausserdem ist' zu bemerken, dass Rambam die Worte : i^ ^>i^ t^ini „nur wenn er Barmittel besitzt" hinzufügt, die im Texte der Gemara keine Unterlage und keine Stütze haben.

Folgende Erwägung dürfte uns darüber Klarheit verschaffen. Chulin 8Ga schliesst sich Rab der Meimmg des R. Eleasar b. Asarjah an, dass der Fleisch-

i

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genuss aufs Äusserste einzuschränken sei. Nur wer über reichere Mittel ver- fügt, soll Fleisch geniessen. R. Jochanan wendet dagegen ein, dass Rab zu der D"'{^">1D flDD^D- zu dem Geschlechte der Kräftigen uud Gesunden gehörte; für das spätere, schwächere Geschlecht kann diese Einschränkung nicht mehr gefordert werden. Rab Nachman geht noch weiter und sagt : p^i'^ ^jj^ pj j p'PDINI «Solche Schwächlinge wie wir, sollen sogar auf Kredit nehmen", um sich gesund und kräftig zu erhalten. Nach Rab jedoch dies ergibt sich oflfensichtlich aus dieser Stelle war dies beim Bezug von Fleisch nicht ge- stattet, am allerwenigsten einem n"n. Wer keine Barmittel besitzt, soll kein Fleisch kaufen. Fleisch war nach seiner Meinung ein entbehrliches Genussmittel und kein notwendiges Nahrungsmittel, daher diese Einschränkung. Für andere Nahrungsmittel, die zu den notwendigen gehören, kann eine solche Forderung nicht geltend gemacht werden. Beim Einkauf von Brot kann mann selbst vom rigorosesten Standpunkt aus nicht verlangen, dass man auf Kredit nicht kaufen soll.

Es wäre sogar sündhat so zu tun, den im ähnlichen Falle, wenn einer auf Almosen angewiesen ist, heisst es: ni '^"1" bl31J 1i''i<1 b)]2'^h 'Vl'ü'W "^D bD CD! "JCIIS' (Peah 8, 9 jer.). Da gilt vielmehr das in anderem Zusammenhange gesprochene Wort : y-|1D ""JJ^I "^D 1i''DHm 'by ))b «Leihet euch aus im Ver- trauen auf mich, ich werde es bezahlen" (Bezah 15 b). Natürlich gilt das nur für den, der nicht in der Lage ist, sofort zu bezahlen und den Kredit in An- spruch nehmen muss. Wer die Mittel hat bar zu zahlen, der soll keine Schul- den machen, gleichviel ob es sich um Einkauf von Genussmitteln oder Nah- rungsmitteln handelt.

Deshalb hat Rab nur vom Fleischeinkauf gesprochen. Da konnte er seine Sentenz in absoluter Form aufstellen : '^^i {^"i^i^ i<i'!'"'p^ ^{< „wenn ich Fleisch kaufe und nicht sogleich bezahle"; denn da kann man talmudisch •gesprochen, iw^^ nOD sagen : Wer kein Geld hat, soll kein Fleisch kaufen, wer Geld hat, soll es bar bezahlen. Für andere, notwendige Bedürfnisse gilt diese Alternative nicht, da heisst: es nur, wer in der günstige Lage ist, es zu tun, der soll bar bezahlen und. keine Schulden machen.

Die Anschauung Rabs über Fleischnahrung hat jedoch bei den späteren Amoraim keine Zustimmung gefunden. Sie sagten, für uns gehört auch das Fleisch zu den notwendigen Nahrungsmitteln. Die Unterscheidung, die Rab machen wollte, fällt also weg. Von seinem Ausspruch bleibt nur soviel übrig, dass ein DDIIDDI ^IIJ n"n niemals auf Borg Einkäufe machen soll, wenn er in der Lage ist, bar bezahlen zu können. Dadurch wird die Sentenz Rabs einerseits erweitert und auf alle Einkäufe ausgedehnt, andererseits wieder auf den Fall des Besitzes von Barmitteln eingeschränkt. Damit stimmen nun die Worte des Rambam überein. Er kodificiert von den Worten Rabs nur das, was von ihnen halachisch gültig ist: '\r\bi6 npDH ^Dl ]n"i: I^N") npbvj ]13D

'h w^ Nim."

Bevor wir auf den Versuch des Verfassers eingehen, die gegen den Rambam erhobenen Einwände zu beseitigen, wollen wir

Zum 11. Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft. 281

feststellen, ob denn diese Einwände wirklich so schwer sind, dass sie eine so umständliche Klarstellung, wie sie der Verf. bietet, rechtfertigen. Der Verf. fragt, warum Raw nicht gleich dem Ram- bam seinen Ausspruch allgemein gefasst habe, warum er gerade den Einkauf von Fleisch hervorhebe. Dieser Frage fügt der Verf. in einer Fugfmote folgende Bemerkung an : „Herr R. B. in den Monatsheften a. a. 0, meint : „m hat seinen Metzger gekannt usw. Er betrachtet die ganze Sentenz auf die Persönlichkeit des betref- fenden Metzgers zugeschnitten, so dass „wenn ein anderer Snj DIU glaubt, diese Vorsicht seinem Schneider gegenüber walten lassen zu müssen, dann ist er natürlich ebenso dazu verpflichtet." Diese Auflassung ist ganz und gar unzulässig. Sie trägt in den Text etwas ganz Fremdes hinein. Ich lege wenig Wert auf den Ein- wand, dass es nach dieser Erklärung "'xrinaö „von meinem Metz- ger heissen müsste ; wohl aber sage ich mit aller Bestimmtheit, dass der RMBM dann noch weniger berechtigt gewesen wäre, die Sentenz des Rab zu vefallgemeinern, wenn sie nur auf individuelle Fälle Geltung haben sollte".

So weit Herr Dr. Ehrentreu. Es ist sehr bedauerlich, dass der Verfasser unsere Darlegungen zum Rambam offenbar nur sehr ungenau gelesen und dementsprechend in seinem Aufsatz ganz un- genau wiedergibt. Wir haben in unserem Artikel genau dargelegt, warum der Rambam Rabs Vorsichtsmassregel für alle Fälle ver- allgemeinerte, Ausdrücklich heisst es doch daselbst: D^iaia NlfVDl ü'iQh ntj^ri löify hv pTpi^^ fni: ddh h)i^ iStj '^h h^n iSxn ym nilti'D. Mit anderen Worten: Dort, wo die sublimsten ethischen Anforderungen persönlicher Selbstzucht in Frage stehen, lassen sich keine festen, allgemeingiltigen Normen aufstellen. Hier hat immer in jedem Einzelfall die bejirefifende Persönlichkeit über ihr V^erhalten zu entscheiden. Zu den an dieser Rambamstelle auf- gezählten Fällen gehört auch der folgende: nS'DK3 1K pinti^n n21'U> 1K in'yyi y-iHn •'OJ? Sxn n'Tili^l ein durch Thoragelehrsamkeit und Fröm- migkeit ausgezeichneter Mann muss in seinem gesellschaftlichen Verhalten, in der Unterhaltung, in Speise und Trank, die erfor- derliche Distanz zu wahren wissen, um keinen Anlass zu ü^n hlhTi zu geben. Wie gross die in jedem Einzelfall zu wahrende Die-

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tanz sein und wem gegenüber sie in dieser oder jener Grösse ge- wahrt werden soll, darüber lassen sich keine stabilen Vorschriften aufstellen, das zu bestimmen, muss in jedem Einzelfall der noDn des betreffenden h)!: DIN überlassen werden. Was aber für das Verhalten des '^Hi DlNan den Stätten des geselligen Lebens gilt, das gilt ebenso für sein Verhalten an den Stätten des ge seh ält- lichen Lebens. Auch hier muss es in jedem Einzelfall ihm allein überlassen werden, wie er sein Verhalten zu regulieren habe. Wenn m nun von sich selbst erzählt: 131 NlU^^i NiS-pli' NJK pj" ich pflege im Verkehr mit meinem M etzger niemals zu vergessen, mit wem ich es zu tun habe, so hat 21 keineswegs mit diesem Ausspruch eine allgemein giltige, für jeden h)i: aiü massgebende Forderung aussprechen wollen, vielmeht nur etwas rein persön- liches, individuelles damit berichten wollen: ich pflege diese Vorsicht meinem Metzger gegenüber walten zu lassen, glaubt ein anderer h'ili DIN diese Vorsicht seinem Schneider gegenüber walten lassen zu müssen, dann ist er natürlich ebenso dazu ver- pflichtet. Es ist daher ohne weiteres klar, dass Maimonides, dessen Aufgabe es ist, aus den Sätzen des Talmuds die allgemei- nen halachischen Normen zu abstrahieren, das spezielle Beispiel von T) in die allgemeine Fassung umgiessen musste ; irNi nph'^ pJ3

Nun kommt Herr Dr. Ehrentreu und meint, „dass der Rambam dann noch weniger berechtigt gewesen wäre, die Sentenz des Rab zu verallgemeinern, wenn sie nur auf individuelle Fälle Geltung haben sollte". Ja, sieht denn der Herr Verfasser nicht, dass zwischen Verallgemeinern und Verallgemeinern ein Unterschied ist? Es giebt zwei Möglichkeiten der Verallgemeinerung. Man kann eine Lebensregel, die jemand für sich selbst iür einen bestimmten Fall aufgestellt hat, als eine im gleichen Fall für Jedermann bindende und verpflichtende erklären. Das ist die eine Möglichkeit. Die andere wird dann verwirklicht, wenn aus einer individuellen Lebensregel, die ursprünglich für einen besonderen Fall aufgestellt war, eine für alle bindende und verpflichtende Norm abgeleitet wird. Diese zweite Möglichkeit hat der Rambam realisirt, als er aus Rabs Ausspruch eine allgemeingültige Norm' abstrahierte. Der

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Rarabam hat nirgendwo die Regel aufgestellt, dase jeder hin DIN seinem Metzger gegenüber die von Raw geübte Vorsicht walten lassen müsse. Liegt der Fall so, dass die von Raw gehegte Be- fürchtung, die das Motiv seines vorsichtigen Verhaltens war, von einem andern hMi Qia seinem Metzger gegenüber nicht gehegt zu werden braucht, so handelt nach dem Rambam dieser an- dere Snj DIK ganz im Sinne Raws, wenn er die Vorsichtsmassregel Raws für überflüssig hält. Nicht das individuelle Verhalten Raws in dem Spezialfall des Metzgers hat der Rarabam generalisiert, son- dern den Grundgedanken der Sentenz Raws, der jedem DIU ^hl: 'öS Shj als Richtschnur zu dienen hat, ntt>vn lö^fy hv plpl'^

Auch der zweite Einwand des Verfassers, warum der Rambam die Worte lS U^''^ Nim hinzufügt, „die im Texte der Gemara kein Unterlage und keine Stütze haben", scheint uns einer umständ- lichen Klarstellung keineswegs bedürftig zu sein. Wir halten es nämlich nicht für ausgeschlossen, dass diese Worte im Zusammen- hang mit den folgenden |ö'po Nim |''5?3in an^ion iNiföJl zu verstehen sind. Nach dem nJtt^ö fp2 z. St. lag dem Rarabam im Gegensatz zu Raschi eine andere Lesart in der Gemara vor, nämlich: ijti> nh n3 ]h n^S 'v^n ahi ninaz Snx ^ynm NnnK2 nSn. Vielleicht hat nun der Rambam durch die Worte '1^1 lS i:>'t:> Nim andeuten wollen, dass zwischen beiden Lesarten ein halachischer Unterschied nicht besteht. Hat ein Sn: Dia beim Einkauf Geld, dann onDlön 1NV0:i l^ymn, dann ist der Anspruch des Verkäufers auf sofortige Bezahlung eine stillschweigende Folge der Tatsache, dass "ih ti^"'t5>, dann ist der Käufer zur sofortigen Bezahlung verpflichtet, auch wenn er hierzu nicht ausdrücklich aufgefordert wird. Beim SlU DIU er- giejbt sich der Anspruch des Verkäufers auf sofortige Bezahlung aus der Tatsache, dass es dem Snj DIN möglich ist, sofort zu be- zahlen : pj?ain nnoion in5:o:i iS tt>'ti> Nim.

Wie dem aber auch sei unsere Erklärung will blos als unverbindliche Hypothese gelten so scheint uns doch jedenfalls die umständliche Darlegung des Verfassers, der wir uns nun zu- wenden, nichts weniger als richtig zu sein, ja, sie stellt eine so krasse Abweichung von der Wahrheit dar, dass, wäre uns Herr

284 Zum 1 1 . Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft.

ür. Ehrentreu nicht als Snj D3n TKihn bekannt, wir kein Bedenken trügen /u behaupten, dem Verf. sei hier ein geradezu schülerhafter tJ^niJ' unterlaufen. Der Verf. sucht die Tatsache, dass Rab nur vom Fleischeinkauf spricht, während der^ Rambam die Sentenz Rabs zu einer für alle Einkäufe giltigen Norm verallgemeinert, mit dem Hinweis auf die Stelle in Chulin 84a zu erklären, und er geht hierbei zunächst von der Voraussetzung aus, dass aus dieser Stelle sich ,, offensichtlich" im Urteil über das Mass der Zulässig- keit von Fleischgenuss ein Gegensatz zwischen Raw auf der einen, R. Jochanan und R. Nachman auf der anderen Seite sich ergiebt. Wir gestatten uns zunächst der Meinung zu sein, dass dies kei- neswegs so „offensichtlich'' ist, wie der Verf. glaubt. Die drei Aussprüche von Rab, R, Jochanan und R. Nachman widerstreiten einander nicht, sie ergänzen einander und zwar wollen sie wie sich das aus den Ausdrücken ij« und i:n pjD „offensichtlich" er- giebt für den Fleischgenuss eine je nach der physischen Kon- stitution, dem Gesundheitszustand der betreffenden Generation sich verschieden abstufende Regel aufstellen, deren prinzipieller Grund- gedanke, dass der Fleischgenuss aufs äusserste einz-uschränken sei, von R. Jochanan und R. Nachman ebenso anerkannt wird wie von Raw. Allein, zugegeben, es besteht ein Gegensatz zwischen den drei Amoraim in Bezug auf den Fleischgenuss was hat denn um des Himmels willen die Sentenz Raws in Joma 86 a mit dem Thema in Chulin 84a zu tun ? Die Sentenz Raws in Joma will ein Beispiel aufstellen, wie ein Fall von a'^n h'ih'n bei einem diu hin und nur bei einem solchen möglich ist. Gilt aber der Satz in Chulin |p7 nmS ti'lnb i:« |^2nif 31 IDN nur für den SilJ aiN ? Gilt er nicht für alle Zeitgenossen Raws ? Was berechtigt den Verfasser, die Stelle in Joma mit der in Chulin so gewaltsam zu verquicken, dass er nicht einmal davor zurückscheut, selbst den Rambam an dieser Verquickung partizipieren zu lassen und uns eine Erklärung des Rambams zu bieten, die, schlägt man im Ram- bam selber nach, wie ein Schlag ins Gesicht der Wahrheit wirkt? Deshalb soll der Rambam in H. Jesode Thora von Einkäufen im allgemeinen und nicht wie Raw vom Fleischeinkauf insbesondere reden, weil er von den Worten Raws nur das kodifiziert, „was

Zum 11. Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen' Geseilschaft. 285-

von ihnen halachisch gültig- ist ?" Weil die Anschauung Raws über Fleischnahrung „bei den späteren Amoraim keine Zustimmung gefunden'^? Wie nun, wenn vrir den Nachweis erbring'en, dass gerade das, was nach der Me^inung des Verfassers an den Worten Raws halachisch nicht gültig ist, an einer anderen Stelle im Rambam als kodifizierte Halacha auf- tritt? Und dass daher dem Rambam In Jesode Thora un- möglich die Talmudstelle Chulin 84a vorschwebein konnte?

Wir bitten den Herrn Verfasser, myn mD^n 5, 10 im Ram- bam aufzuschlagen und dort zu lesen :

'y löKJU' pnx'nS aha iiJ^n din h^a^ ahii^ pK' ini' d^ödt! m DNi nnu? nyS nnt^ nny» iii^n SidnS «nnV vi nij'n Si3j«V -[^w mxri

Und in niü^ö P]D0 zur Stelle :

prm »nn liTötJ? 'ö-S 'h't: '3m änn pnöK'i o"» j^^jim am ^lö^ piD

Und im nju^ü nnS zur Stelle :

pTi^ 1JX p:D '1D1 UN Sax '131 D'Knn nnai^^Dö Kax pnv 'i idk d^ tiüni N-iöJi pnaxiD D'Nnn un px nrn pn^i' 07« ii'^^^ i^'^n ano p ':eöi '1di

Hier also und nicht in Jesode Thora, wie der Verfasser meint, ist die Stelle, wo der Rambam den Ausspruch Raws in Chulin 84 a codificiert. Aus den Bemerkungen des nJU>ö f]DD und nWfi DPiS ist aber mehr als „offensichtlich", dass 1) Raws Aus- spruch von R. Jochanan und R. Nachman nicht abgelehnt, son- dern, wie wir oben bereits betonten, ergänzt wird ausdrück- lich heisst es im n:^ö f]D3 z. St. : 'iDi 'h'ü ':ni onn pnaxi , dass 2) auch nin jon, auch heute noch, wie der njij>a ort'? aus- drücklich betont, die Sentenz Raws vollinhaltlich halachisch gültig ist, wenn die Voraussetzung vorhanden ist, unter der allein schon zur Zeit Raws sein Ausspruch halachische Geltung besass : )3"0

Sollte dem Herrn Verfasser diese Rambamstelle noch nicht genügen, um ihn von der Unhaltbarkeit seiner Ausführungen zu überzeugen, sollte es noch eines Beweises bedürfen, dass der

286 Zum 11. Jahrbuch der Jüdisch-Literarischen Gesellschaft.

Rambam, wenn er in Jesode Thora den Satz aufstellt: npStJ^ pJ3 -ih^xS npon 'ül |mj irxi unmöglich die Talmudstelle Chulin 84a im Sinne gehabt haben 'kann, so ersuchen wir den Herrn Ver- fasser, in mvn moSn a. a. 0. weiter zu lesen, er wird dann dort zu seiner Überraschung in r n^hn dem Satz begegnen: i:nöl lKtJ>ö

Es werden hier also die zwei Sätze, die vom Verfasser, um den Rambam in Jesode 1 hora zu interpretieren, mit einander ver- quickt werden, in einem und demselben Abschnitt der mjjn niD^^n vom Rambam selbst in zwei von einander völlig getrennten Halachoth codifiziert, die mit ihrem talmudischen Ursprung auf zwei von einander gänzlich unabhängige Gemarastellen zurückgehen.

Was bleibt demnach in den Ausführungen Dr. Ehrentreus übrig, „was von ihnen halachisch gültig ist"? Nichts.

R. B.

IDj;"? 31C0 Uli

JUEDISCHE

mONATSHeFTE

heraus|i;egeben von Rabbiner Dr. P. Kohn, Ansbacb, unter Mitwirkung von Rabbiner l)r. Salonion Breuer, Frankfurt a. M.

Jahrgang 4. Heft 10.

Zwei Feinde.

„Wenn die Lade aufbrach, sprach Moses : Erhebe dich, o Gott, dass deine Feinde zerstieben, dass deine Hasser fliehen vor dir! Und wenn sie zur Ruhe kam, sprach er: Kehre ein, o Gott, bei den Myriaden der Tausende Israels!" (4. B. M. 10, 35-36).

I.

Zwei Feinde hat Israel, die gegen seine Existenz an- rennen, einen äusseren und einen inneren Feind. Der äussere regt sich, wenn die Lade wandert, der innere, wenn die Lade ruht.

Wenn die Lade wandert, wenn sie von Ort zu Ort ihre Ruhestatt wechselt, dann kommt auch über Israel eine Zeit der Unruhe und Bewegung. Sein Schicksal ist von dem der Thora nicht zu trennen. Das mit seiner Thora im Arm von Ort zu Ort, von Land zu Land wandernde Israel muss sich in unausgesetztem Kampf um seine Existenz gegen seine Feinde und Hasser erwehren. Doch nicht seine Feinde, nicht seine Hasser sind 's in Wahrheit, gegen die Israel

288 - Zwei Feinde.

auf seiner Wanderung sich verteidigen muss. Deine Feinde und deine Hasser sind 's, o Gott! „Gott, iass dir keine Ruhe, schweige nicht und raste nicht, o Gott! Denn deiR( Feinde sind 's, 'die toben, deine Hasser, die ihr Haupt er- heben. Gegen dein Volk halten sie listigen Rat, sie rat- schlagen gegen deine Schützlinge. Sie sprechen: Auf. lasst uns sie vertilgen, dass sie kein Volk mehr seien, dass nicht mehr gedacht werde Israels Namen" (Ps. 83, auf den Raschi a. a. 0. verweist).

An Israels Erhaltung als Volk hat Gott mindestens so viel Interesse wie Israel selbst. Wenn sich die Feinde und Hasser gegen Israel als Israel wenden, d. h. wenn nicht wirklich tadelnswerte Eigenschaften und Lebensäusserungen jüdischer Menschen es sind, die Hass und Feindschaft her- ausfordern, sondern Israel als Träger der Thora gehasst und angefeindet wird, dann ist es in Wahrheit der Urheber der : Thora, der sich zu verteidigen hat. Ihm überlässt Moses, '. wenn die Lade aufbricht, den Kampf gegen die Feinde und J Hasser, um deren Zersplitterung und Verscheuchung er fleht. 1

' IL Wenn die Lade ruht, dann regt sich der innere Feind. Auch er sucht gleich dem äusseren die Existenz Israels zu erschüttern, zu vernichten. Doch nicht wie der äussere gelU er offen auf sein Ziel los, heimtückisch sprengt er wie eine ; verborgene Minenstolle von innen heraus das Objekt seines Angriffs in die Luft.

Wenn die Lade ruht, dann ruht auch das Volk. Das ruhende, friedliche, glückliche Israel hat den äusseren Feind nicht zu fürchten. Dagegen erzeugt sich aus den erschlaf- fenden Wirkungen der Ruhe eine andere Gefahr, die nicht : minder schwer als äussere Feinde und Hasser die Existenz '. des Volkes bedroht: die Gefahr, aus der Nähe der Schechina verbannt zu werden.

miB' n^'^D^r] p«^ id'-^d ^t<"ii!^^ ^^bn mD^n 'n n2W -idn" nn;Di

pbr\Dr\]^ r]:'^j]i;b di)2 ni «iiD2 ü^Dm nncD pcy nb^ nn ina non niDDi

Zwei Feinde. 289

bi^i^^D fjebamoth 64a. Vgl, no^on min zu 4. B. M. a. a. 0. Zum Verständnis der Zahl 22 000 hätte n"n auf den «"^inD zu x"V T"tDp nntfi' verweisen müssen, wo diese Zahl er- klärt wird).

Das viele Kinderbekommen ist, wie männiglich bekannt, nicht Jedermanns Sache. Das war schon vor dem Kriege so und ist jetzt auch im Kriege nicht viel anders geworden. Und auch nach dem Kriege werden die schönen Projekte, vermittelst deren die auf eine grosse Bevölkerungszahl er- pichten Staaten die furchtbaren Lücken, die das europäische Völkermorden in die Familien riss, ausstopfen möchten, an dem Widerstand der sehr egoistisch veranlagten Kultur- menschen scheitern, die sich wohl kaum so radikal neuori- entieren werden,, um sich von dem imposanten Rechen- exempel: Viele Kinder viele Sorgen, wenige Kinder wenige Sorgen, keine Kinder keine Sorgen, loszusagen.

Unsere alten Weisen in Jebamoth haben von Mitteln und Mittelchen wie Mutterschaftsprämien, Steuerermässigung u. dgl. nichts gehalten. Sie appellierten an das Bedürfnis des Volkes nach der Nähe der Schechina und sprachen das grosse Wort gelassen aus : Wer mutwillig die natürliche Volkszahl auch nur um ein Kind vermindert, wer durch sein Verhalten zur und in der Ehe Schuld trägt, dass nur ein Kind weniger auf die Welt kommt, als es dem gött- lichen Weltplan entspricht, der veranlasst die Flucht der Schechina aus Israels Kreis. Mit einem Israel, dessen Volks- zahl nicht die natürliche Höhe erreicht, weil ein leichtsinni- ger Mensch oder ein schmutziges Paar künstlich diese Zahl auch nur um ein Kind vermindert, will die Schechina nichts zu tun haben

Darum wenn die Lade ruht betet Moses zu Gott, dass es immer Myriaden der Tausende Israels seien, die auf den Einzug der Schechina warten.

III.

Wenn die Lade wandert und wenn die Lade ruht, im- mer steht Israels Existenz in Frage ; und Moses steht da

1

290 " Eine Trauungsrede.

und betet für sein Volk. So wichtig und grundlegend ist 's, was Moses betet, wenn die Lade wandert und wenn die Lade ruht, dass aus den beiden Versen, die uns seine Ge- betsworte überüefern, durch Einklammerung mit einem '; HDiDn auf beiden Seiten ein besonderes Buch der Thora wurde : NDj?tD ^«D nroDbi röv^bü pD^D r\"2pii nb n^v "ii na'-iD Nin iDijy ^:d2 Bitten iDOiy ^2dd ^21 idn (Sabbath 116 a).

Eine Trauungsrede.

Bis auf den letzten Platz war die Synagoge besetzt. Die Neugierde hatte alles, Männlein und Weiblein, herbei- getrieben, obwohl man ganz gut wusste, dass gewöhnlich eine Trauung der andern so ähnelt wie ein Ei dem andern. Die beiden Familien des Brautpaars gehörten aber den oberen Zehntausend an, und man versprach sich darum von dem voraussichtlich zur Entfaltung kommenden Prunke eine aparte Augenweide. Man wollte halt dabei sein.

Des Chorgesanges letzter Ton war verklungen, da räusperte sich der Rabbiner und begann und sprach :

„Geehrtes Brautpaar! Ich möchte so zu euch sprechen, wie wenn ihr vor mir in meiner Stube ständet. Was ver- schlägt 's, wenn 's auch die andern da unten hören ! Sie dürfen 's hören und sie sollen 's hören.

Mein Herz ist so voll, als wenn ihr meine Kinder wäret. Denn ich habe noch eure Grosseltern gekannt, die zu den Gründern unserer Gemeinde zählten. Es waren brave, ein- fache, fromme Leute. So recht vom alten Schlag. Hätte ' man die Grosszügigkeit ihres Wohltuns nicht gekannt, dann

Eine Trauungsrede. 291

hätte Niemand gewusst, wie reich sie waren. Sie genossen ihr Leben auf eigene Art und verstanden es, glückhch zu sein in jener stillen, anspruchslosen Weise, die heute das Lächeln des Besserwissenden erregt. Euch hat das Leben in ein prunkhafteres Milieu versetzt. Ihr stellt andere An- sprüche an's Leben, als eure Grosseltern gestellt haben. Nun wohl, das wäre noch nicht schlimm. Auch der Luxus hat seine Mission auf Erden ; und ihr seid die Pioniere, die ihm die Erfüllung seiner Mission erleichtern. Man ist aber noch sehr wenig von einem guten Menschen, wenn man nichts anderes kann und will, als dem Leben seine offenen und versteckten Reize abzulauschen. Möget ihr euch das euer ganzes Leben vor Augen halten. Der Genuss allein garanlirt dem Glück nicht seine Dauer.

Und noch eines, geehrtes Brautpaar ! Ihr braucht die Augen nicht vor Scham zu schliessen, wenn ich offen mit euch rede. Prüderie ist die widerHchste Heuchelei, weil sie die Verlogenheit gerade dort zu etablieren sucht, wo nur das aufrichtige, reine Empfinden den Menschen vom Tiere scheidet. Hört darum nur kühl und ruhig an, was ich euch sagen werde.

Ihr wollet doch beide ein jüdisches Ehepaar sein. Man ist es aber noch nicht, wenn das jüdische Leben eines Ehe- paars im Synagogenbesuch u. dgl. sich erschöpft. Es ist ge- wiss recht schön, wenn Mann und Frau Arm in Arm zum Gotteshause wandeln ; wenn sie sich, umgeben von einer blühenden Kinderschaar, an den gemütlichen Freilag Abend- Tisch setzen oder leuchtenden Auges den sabbathlichen Schalet tilgen und am Pessach ihre Mazzos knuspern. Dazu gehört aber doch noch etwas ungemein wichtiges : die Hei- ligung des Ehelebens selbst. Was nützt der Freitag Abend was nützen die Mazzos u. dgl., wenn das eheliche Leben in den Formen animalischer Roheit sich bewegt und das göttliche Gesetz gerade dort missachtet wird, wo ihm die Entstehung der künftigen Generation vor Augen schwebt.

i

292 Eine Trauungsrede.

Mit der ganzen Innigkeit, deren mein Wort fähig ist, beschwöre ich euch darum : Seid jüdische Ehegatten ! Bleibet dem Geiste eurer Erziehung treu. Vergesset nie- mals, dass ein in Unreinheit gezeugtes und empfangenes Kind in die Ehe einen Makel bringt, der unauslöschlich ist und den auch die späten Thränen einer künftigen Reue nicht zu tilgen vermögen.

So schliesset denn euren Herzensbund. Es segne der Allmächtige eure Liebe und Er gewähre euch Kraft, auch dort Jehudim zu sein, wo der Leichtsinn nur geringe Mühe hat, die Stimme des Gewissens zu übertönen. Seid würdige Glieder eures Volkes, dann wird eure Ehe eine glückliche sein. Amen !"

Pfui, wie taktlos, ' flüsterte Frau Mayer, die auf den Rabbiner ohnedies nicht gut zu sprechen war, ihrer Nach- barin in's Ohr.

Ein betretenes Schweigen folgte auf diese Rede. So andächtig hatte die Gemeinde noch niemals gelauscht. Aber das Geschimpfe, das sich draussen auf der Strasse, nach- dem sich das Gotteshaus entleert hatte, gegen den Ral):)iner erhob das hättet ihr hören sollen.

Sei ruhig, lieber Leser, dieser taktlose Rabbiner hat niemals existiert und seine Trauungsrede ist, niemals gehal- ten worden. Denn wärs nicht in Wirklichkeit taktlos, so zu sprechen ? In breiter Oeffentlichkeit '? Vor Krethi und Plethi? Das erwarteten auch die Weisen nicht Das wider- spräche auch dem schämigen Sinn, mit welchem sie über Sexualia dachten und sprachen. Das Geschlechtsleben mit kecker Hand seines Schleiers zu entkleiden, mi'. welchem die Natur die empfindsamste Sphäre des menschlichen Gr- mütslebens unserem Schau- und Tastv^ermögen entzog, das überliessen sie den hyperästhetischen Snobs, die jeden Stra- ssenkot auf seine Eignung zu literarischem Düngstoff be- schnüffeln

Die heilige Zahl. 293

Aber fürwahr gesund wäre es für gar manches Brautpaar, in der heiligsten Stunde seines Lebens an das heiligste Anliegen seines Lebens gemahnt zu werden!

X.

Die heilige Zahl.

7 ist eine heilige- Zahl. Man braucht nur an den Sab- bath zu denken, den grossen, heiligen siebenten Tag, der im Centrum des jüdischen Pflichtlebens steht; und an die sieben Wochen zwischen Pessach und Schewuos; und an die sieben Tage, die zwischen Geburt und Beschneidung hegen, die den Weg bezeichnen, der aufwärts führt aus der Tiefe physischer Entstehung zur Höhe des priesterlichen Berufs.

Wie das alles in den Schriften Samson Raphael Hirschs mit Andacht nachzulesen ist.

Auch im Eheleben spielt die heilige Zahl. 7 eine grosse Rolle; zuweilen auch eine traurige: z. B. in dem des Herrn und der Frau Levy.

Der Sabbath ist vom Ehepaar Levy mit Bewusstsein und Absicht noch niemals entweiht worden. Pünktlich eine halbe Stunde vOr Sabbathanfang verlässt Herr Levy alle Freitag sein Bureau, um noch rechtzeitig im Gotteshaus den Sabbath empfangen zu können. Im Sturmschritt eilt er vom Geschäft nach Haus, wo seine Gattin bereits alles vorbereitet hat, wessen Herr Levy zur sabbathlichen Verzierung seines angenehmen Äussern bedarf. Und im selben Au;.ienblick, wo Herr Levy unter hastigem „Gut Schabbes"-Wunsch aus

294 - Die heilige Zahl.

der Wohnung verschwindet, tritt Frau Levy mit Andacht vor ihre Schabbos-Lampe hin, um ihr jüdisches Heim im vorgeschriebenen Lichterglanz erstrahlen zu lassen. Das hat sie noch niemals versäumt. Sie wäre tief unglücklich, wenn sie 's auch nur einmal vergässe. Den Sabbath am 6. oder 5. Tag zu feiern oder ihn, was praktischer wäre, auf den geschäftsfreien Sonntag zu verlegen, ist den Beiden noch niemals eingefallen. Das fänden sie höchst lächerlich. Sab- bath ist eben am siebenten und an keinem andern Tag. Sic haben Respekt vor der 7-Zahl und empfänden ihre Ent- thronung als unverzeihHches Sacrileg.

Herr Levy ist sogar sehr orthodox. Zwischen Pes- sach und Schewuos „aumert" er mit grosser Pünktlichkeit. Trotz grosser geschäftlicher Inanspruchnahme sucht er es in den 7 Wochen zwischen Pessach und Schewuos einzu- richten, jeden Abend bei „Maariw bismano" anwesend zu sein. Er legt Wert darauf, mit „Minjan" zu aumern. Und niemals geht er in den 7 Wochen zwischen Pessach und Schewuos zu Bett, ohne seiner Frau auf den Zahn zu fühlen, ob sie auch richtig geaumert habe. Und wehe ihr. wenn sie schlecht gezählt. Mit dem frohen Bewusstsein pünkilich erfüllter Pflicht gehen so Herr und Frau Levy dem heran nahenden Schewuos-Feste entgegen. Sie gehören beide zu den grössten Käskuchen-Konsumenten der Gemeinde. Das ganze Jahr über. Insbesondern aber am Schewuosfeste, wo sie sich mit der gleichen Pünktlichkeil, wie sie geaumert, alljährlich den Magen zu verderben pflegen. Noch in keinem Jahre ist es ihnen eingefallen, schon am Ende der 6. oder 5. W^oche das Aumern zu beschliessen, obwohl sie doch bei dieser Zählmethode früher zu ihrem Schewuos-Käskuchen kämen. Das fänden sie höchst lächerlich. Schewuos ist eben am Ende der siebenten und keiner andern Woche. Sie haben Respekt vor der 7-Zahl und empfänden ihre Entthronung als unverzeihliches Sacrileg.

Nach langem fahren haben Herr und Frau Levy ihr erstes Büblein bekommen. Bis dahin waren es lauter Mäd-

Die heilige Zahl. 295

chen. Du lieber Himmel! Man hat ja alle seine Kinder lieb. Aber ein -Bub bleibt halt doch ein Bub. Trotz Fraueneman- zipation Und nun war er da, der so lang ersehnte Bub. War das eine Freud im Hause des Herrn Levy ! Statt Karten !

Die glückhche Geburt eines strammen Burschen zei- gen hoch erfreut an ... .

Alles lacht über den „strammen Burschen" ; indessen verzeiht man dem glücklichen Vater die geschmacklose Wendung. Herr Levy ist ganz aus dem Häuschen. Obwohl er die Zeitungsannonce ausdrückhch „statt Karten" einrücken Hess, teilt er dennoch das glückliche Ereignis allen Freun- den und Bekannten schriftlich oder mündlich mit. Jeder soll 's wissen. Und nun bestellt er den Konditor und Mohel Den Konditor für den „Socher", den Mohel für die „Bris Miloh". Zum „Socher" wird die ganze Gemeinde geladen. Und man kommt. In hellen Scharen. Es giebt in jeder Ge- meinde „Socher"Spezialisten : die genau wissen, wann sie kommen, jedoch keine Ahnung haben, wann sie weggehen sollen. Herr Levy springt von einem zum andern. Jeden muntert er auf, zuzugreifen. Er ist wirklich hochbeglückt. Von Zeit zu Zeit verschwindet er, um nach Frau und Kind zu schauen. Wie ahnungslos der Bub in seinem Bettchen liegt. Er weiss nicht, was ihm bevorsteht. Sein Papa hat Mitleid mit ihm. Und wenn sie ihn dann hineintragen zu seinem ersten schweren heiligen Gang, zur Miloh, da wird Mama weinen. Er ist ja doch noch so klein und zart. Und es muss doch schon geschehen, das Schwere, das Heilige, das Schmerzliche. Genau wenn 7 Tage vorbei sind, am 8. Tage. Keinem fällt es ein, die Miloh auf später zu ver- schieben. So ein „strammer Bursche'' braucht für die Miloh nur 8 Tage alt zu sein. Und mit keiner Wimper zucken Herr und Frau Levy, als die 7 Tage vorbei sind und für ihren Bub der Tag der Miloh kommt. Gelassen nehmen sie die Pedanterie des Gesetzgebers hin. Ja, ein heiliges Feuer schlägt aus der Stimme dcs Herrn Levy, als er nach voll-

296 - Die heilige Zahl.

zogener Miloh den Segensspruch des Vaters spricht; und im Nebenzimmer weint Frau Levy und gelobt, ihren Jungen für alles Gute zu erziehen. Hätte es nicht aber doch später geschehen können, wenn der Junge älter und kiäftiger ist? Hört nur sein klägliches Wimmern .... Nein. Sie haben Respekt vor der 7-Zahl und empfänden ihre Entthronung als unverzeihliches Sacrileg.

„Es müssen sieben ununterbrochen aufeinander folgende reine Tage gezählt, die Zählung aber frühestens erst am fünften Tage begonnen werden."

Sollte man glauben, dass Frau Levy, als sie diesen Satz in ihrer Brautzeit zum ersten Male las, überlegen lächelte und seine Forderung als übertrieben, a!s zuweitge- hend verwarf? Dass dieses Lächeln und diese Meinung sie während ihrer ganzer! Ehe niemals verliess ? Und dass Herr Levy niemals den Versuch machte, seine Gattin von dieser empörenden Inkonsequenz zu befreien ? Weil er selber auch nicht anders dachte ?

Y.

Der schöne Arthur. 297

Der schöne Arthur.

Der schöne Arthur, der einen nicht unerheblichen Teil seines Lebens vor dem Spiegel verbrachte, ging jetzt stark auf Freiersfüssen. Gar zu gerne hätte er ein Mädchen aus den oberen sozialen Regionen der Gemeinde heimgeführt. Dies jedoch gelang ihm nicht : entweder weil sein Einkommen zu gering war, oder weil er die siegende Kraft seiner tadellosen Frisur, seines per- manent reinen Kragens usw. doch überschätzt hatte. Er sah sich darum genötigt, seine Ansprüche beträchtlich herabzuschrauben und die verzehrenden Wirkungen seiner glühenden Augen, die berückende Suggestion seines parfümierten Wesens an den Jungfrauen der sozialen Mittelschicht zu erproben. Als Folge dieser ungewollten Selbstbescheidung kam eine frische Note : etwas unsagbar König- liches, majestätisch Gewährendes, sich leutselig Herablassendes in sein Benehmen zu den ,Damen der Gemeinde. .Die es merkten, lachten ihn aus, und die es nicht merkten, fühlten sich geschmei- chelt. Bei den letzteren galt er als eine hervorragend gute Partie. Er hatte nämlich auch geistige Interessen. Im jüdischen Vereiusleben der Gemeinde spielte er eine grosse Rolle. Referate über Referate entquollen der Schatzkammer seines Intellekts. Was er sprach, war gar nicht übel; und so war er bald im verehrlichen Publikum als ein wirksamer Pionier des Judentums verschrieen. Demgemäss konnte er nicht umhin, auch in seiner ganzen Lebens- führung mögliehst den jüdischen Weltweisen zu markieren. Als oberstes Leitmotiv seines Handelns galt ihm der Grundsatz: „Jophe tahnud thora im derech erez".

Diesem löblichen Grundsatz gab er eine seltsame Interpreta- tion. Er bedeutete für ihn nichts mehr und nichts weniger als eine völlige Koordination alles jüdischen und nichtjüdischen, was auch in seiner Lebensführung deutlich genug zum Ausdruck kam. So kam es nicht selten vor, dass er vom Vereinsabend, nachdem er soeben in zündenden Worten über ein jüdisches Thema geredet hatte, direkt zu irgend einem Tanzvergnügen sich begab, wobei d n Stimnmngswechgfl, den dieser Übergang mit sich brachte, .,is eine ideale Ausstrahlung des jüdischen Geistes empfand.

298 Der schöne Arthur.

Für die ,Talmud)iiden" der Gemeinde hatte er nur über- legenen Spott. In i^ewissera Sinn betrachtete er sie als Han)jnden. Dass sie geistig minderwertig waren, ging ja schon aus dem Um- stände hervor, dass sie niemals bei seinen Keferaten anwesend waren. Dafür rächte er sich, indem er bei sämtlichen .Hchiurim" der „Schass Chewra" durch hartnäckige Abwesenheit' glänzte.

Ueberhaupt der Talmud! Der schöne Arthur hatte seine be- sonderen Ansicht über den Talmud. Man kann nicht gerade sagen, dass er ein grosser Talmudkenner war. Das sagte, obwohl er sonst recht eingebildet war, nicht einmal er. Der Mangel an tal- mudischem Wissen hinderte ihn nicht, dem Talmud bei der Be- gründung einer jüdischen Welt- und Lebensanschauung, auf die er (nicht der Talmud, sondern Arthur) einen grossen Wert legte, eine ziemlich untergeordnete Rolle zuzuweisen. Der Talmud sei eben nur Gesetzbuch, enthalte aber nur so nebenbei die Elemente, aus welchen .sich die besondere Art des jüdischen Denkens und Fühlens erbaue. Man brauche ja nur auf die osteuro])äi8chen Ju- den hinzuweisen, die wohl im Talmud sehr versiert seien, jedoch einer tieferen Einsicht in das Wesen des Judentums entbehrten.

Demnach betrachtete sich der schöne Arthur als ein auser- lesenes Exemplar von einem Juden. Niemals kam ihm der Ge- danke, wie doch der Geist einer ganz haarsträubenden Inkonse- quenz übers einem Gebahren schwebte. Er hatte keine Ahnung, wie lächerlich er oft war.

Zum Beispiel, wenn Fastnacht kam. Eine überzeugte An- teilnahme am Karneval betrachtete Arthur als die Pflicht jedes jungen -Menschen von schäumender Lebenslust ; und da er ein Jüngling war, der auch nicht im entferntesten daran dachte, klöster- lichen Verzicht auf die Freuden dieser Welt zu- üben, vielmehr schon als Schuljunge damit begonnen hatte, zum flotten Tänzer sich auszubilden, war es für ihn so gut wie selbstverständlich, bei allen Maskenbällen der besseren und zuweilen auch der minder guten Gesellschaft mit Verve seinen Mann zu stellen. Er tanzte bis tief in die Nacht hinein, und einmal war es ihm sogar pas- siert, nach Tagesanbruch erst das Balllokal verlassen zu haben und dabei einem ironisch lächelnden Vereinsgenossen begegnet zu

Der schöne Arthur. 299

sein, der gerade mit seinem TefiUinbeutel unterm Arm nach dem Gotteshause wallte.

Das Stilwidrige in diesen Vergnügungen vermochte er nicht zu wittern. Im Gegenteil: Wenn er. vom Tanze recht erhitzt, eine kleine Erfrischung genehmigte und dabei den Arm um sein Hinter- haupt legte, um bedeckten Hauptes die vorgeschriebene Benedik- tion zu sprechen, so empfand er diese plötzliche Verwandlung des Balllokals in ein Gotteshaus als ein wahres „Kidusch Haschern".

Weit entfernt, dem schönen Arthur in seinen Heiratsaus- sichten zu schaden, -erwiesen sich ihm vielmer diese flotten Allüren recht förderlich darin. Er galt, wie gesagt, als eine gute Partie. Ein gebildeter Mensch, ein tüchtiger Geschäftsmann, ein Pionier des Judentums und dabei durchaus kein „Eckmuster" auch in gesellschaftlicher Beziehung Herz, was willst du mehr !

Lang suchte und wählte er. Am Ende verlobte er sich doch. Es war ein schönes, frommes, intelligentes Mädchen. Wie ge- schaffen passte sie zu ihm. Die Hochzeit sollte nicht zu weit hin- ausgeschoben werden. Es galt darum, recht bald alle nötigen Vorbereitungen zu treffen. An den Vereinsabenden nahm der schöne Arthur um diese Zeit nicht teil. Dafür Hess er sich an einigen Abenden der Woche von einem Mitgliede der „Schass- Chewra" wichtige Abschnitte aus dem jüdischen Ehegesetz zum Vortrag bringen. Mit einer Cigarre sass er dabei und prüfte das Vorgetragene mit dem Feingeschmack des Inhabers einer jüdischen Welt- und Lebensanschauung. Nein, dieser Talmud f«hr es ihm mehrmal durch den Kopf. Und als beim Herannahen des Hochzeitstages die Vorträge ihr Ende nahmen, da war er von der Inferiorität der talmudischen Geisteswelt, die so herzlich schlecht zu der seinigen passte, so fest überzeugt, wie noch nie .... Und als el' bei der Trauung mit dem Stolze eines Siegers zum Baldachin schritt, da war im Gedanken das gesamte Publikum einig darin, welch ein idealer Mensch der schöne Arthur sei.

Z.

\

300 Soziale Ethik.

Soziale Ethik.

(Fortsetzung.)

in. Von d<^r Pflicht des Nehmen«.

§ 1. Auch das Nehraen kann eine so heilige Pflicht sein wie das Geben. Wer zu alt oder zu krank ist, um sich von seiner Hände Arbeit zu ernähren, wer seine Töchter nicht verheiraten kann, ist verpflichtet, Zdokoh zu nehraen. Weigert er sich aus falscher Scham, fremde Hilfe anzunehmen, dann gilt er nach jüdischer An- schauung als D''Dl "|DVsfi>, als ein leichtsinniger Mensch, der mit seinem Leben und mit dem seiner Kinder freventlich spielt.

§2. Die Pflicht des Nehmens hat aber auch ihre Grenzen. Sie ist nur dann eine Pflicht, wenn sie in unausweichlichem Zwang begründet ist. Aus, Faulheit, aus Begehrlichkeit und ähnlichen Motiven Zdokoh nehmen ist Sünde. Besser ist 's, sich einzu- schränken, als ohne dringende Not fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen. Denn ein köstliches Gut ist die Selbstänijigkeit. Braucht erst gesagt zu werden, dass Jemand, "der sich unter der Maske eines Bedürftigen, durch Lug und Trug das Mitleid seiner Neben- menschen erlistet, mit solchem Frevel seine MenscKenwürde preis- giebt? „Er wird nicht sterben, ohne den bitteren Kelch wiTklicher Bedürftigkeit gekostet zu haben".

§3. Jedes Schulkind weiss, dass Thora, Aboda und Gmilus Chassodim die drei Säulen einer jüdischen Gemeinde sind. Doch sehr wenig Erwachsene werden einmal gründlich durchdacht haben, was das bedeutet, dass im jüdischen Religionsgesetz auch die so- zialen Aufgaben zu rein konfessionellen Angelegenheiten gestempelt werden. So innig ist die soziale Ethik des Judentums mit der religiösen Natur des jüdischen Gemeinschaftslebens verwachsen, so sehr ist Zdokohgeben und Zdokohnehmen nur ein Ausschnitt aus dem religiösen Pflichtenkreis des Juden, dass es einem jüdischen Armen geradezu als D^n '^l'rn angerechnet wird, wenn er die jü-

Soziale Ethik, 301

dische Hilfsbereitschaft in Verruf bringt, indem er aus nichtjüdi- . scher Hand Zdokoh annimmt; nur wenn die jüdische Zdokoh nicht ausreicht, ist es ihm gestattet, nichtjüdische zu nehmen. Dagegen darf aus der Hand eines nichtjüdischen Königs oder Fürsten Zdokoh bedingungslos genommen werden, weil hier eine Zurückweisung als Verletzung der einem Staatsoberhaupte g'ebührenden Ehrfurcht em- pfunden werden könnte.

Kurzsichtige Modernisten werden geneigt sein, diesen Para- graphen als ein Gewächs aus der Ghettozeit zu belächeln. Viel- leicht mögen sie gar in dieser Konfessionalisierung des Zdokoh- wesens nur eines der Mittel sehen, deren sich das jüdische Reli- gionsgesetz bedient, um jede Möglichkeit einer Assimilation zwischen Juden und NichtJuden zu verhindern, Sie mögen sich jedoch be- lehren lassen, dass dieselbe Thora, welche die Pflicht des Zodkoh- gebens und Zdokohnehmens zu einem rein konfessionelhn Anliegen der jüdischen Glaubensgemeinschaft macht, in einer äbnlichen, doch prinzipiell anders fundierten Beziehung die weitestgehende Toleranz übt. Wenn ein NichtJude für ein jüdisches Gotteshaus „Gelobungen und Weihungen" (m:n:i am:) spendet, so werden sie mit der gleichen Toleranz entgegengenommen, mit der einst der jüdische Tempel nichtjüdischen Opfern offen stand. Es ist da^ eine Toleranz, deren sich wohl der NichtJude, doch nicht der vom Gottesgesetz abgefallene Jude erfreut. (Im "1"^' wird diese Aussehliessung des abtrünnigen Juden allerdings nur auf das Tempelopfer beschränkt).

IV. Von den Formen des Gebens.

§ 1- In talmudischer Zeit liatten sich für das Zdokohgeben ge- wisse Formen eingebürgert, die heute wohl etwas altmodisch an- muten, die aber gleichwohl auch heute noch als mustergültig gelten können, wann immer es gilt, in kleinem, leicht übersehbarem Kreis an armen hungrigen Menschen (»rganisierte Wohltätigkeit zu üben. Von Woche zu Woche wurden von jedem einzelnen Gemeindeglied Geldabgaben eingefordert, und zwar in bestimmter, der Gebefähig- keit jedes Einzelnen angepasster Summenhöhe. Das auf diese Weise zusammengekommene Geld wurde allfreitäglich an die Armen

l

302 Soziale Ethik.

derart verteilt, dass jeder Bedürftige davon seinen Wochenljedarf decken konnte. Diese wöchentliche Zdokohsteuer hiess riDip. Sie war eine in allen jüdischen Gemeinden heimische obligatorische Form des Zdokohgebens. Daneben war es in manchen Gemeinden Brauch, Gabaim (Sammler) aufzustellen, die Tag für Tag in alleo Haushaltungen vorsprachen, um freiwillige Abgaben an Lebensmit- teln oder Geld entgegenzunehmen. Am Abend wurde das Ergebnis der Sammlung an die Armen zur Deckung ihres Tagesbedarfes verteilt. Diese Form des Zdokohgebens wurde "'"inDD (Schüssel) genannt. Sie beweist, dass der Gedanke der modernen Volks- küchen in jüdischen Kreisen schon in talmudischer Zeit lebendig war.

§ 2. Für das Erheben der Kuppoh-Steuer sind mindestens zwei Männer erforderlich, die Verteilung besorgt ein Kollegium von drei Männern. Zwei Männer rpüssen es zumindest sein, welche die Steuer erheben, weil eine behördliche Funktion niemals in der Hand einer einzelnen Person liegen kann. Drei Männer müssen mit der Verteilung des Geldes betraut werden, weil die Festsetzung der jedem Armen zustehenden Summe wie ein Rechtsurteil zu be- trachten ist, das nur von einem mindestens aus drei Männern be- stehenden Kollegium gesprochen werden kann. Bei der Einsamm- limg der Tamchuj-Spenden werden nicht, wie bei der Kuppoh, feste, sondern von Fall zu Fall erst festzusetzende Abgaben erho- ben, weshalb es hier nicht nur bei der Verteilung, sondern auch schon bei der Erhebung eines zu rechtskräftigen Beschlüssen kom- petenten Dreimännerkollegiums bedarf.

§ 3. Die Tamchuj- Abgaben werden jeden Tag, die Kuppoh-Steuer wird von Freitag zu Freitag erhoben. Jene kommen allen Armen, diese kommt blos den Ortsarmen zugute. Die Gemeinden sind be- . fugt, diese Regel durch Ausnahmen zu durchbrechen. Auch ist ein b)!} DDP, wenn das Zdokohwesen unter seiner Aufsicht und nach seinen Direktiven gehandhabt wird, befugt, nach eigenem Er- messen die Verwaltung der Kuppoh- und Tamchuj-Spenden zu ge- stalten. Nur muss man sich hüten, b)!} DDü etwa mit Armen- pflegschaftsrat zu übersetzen.

Soziale Ethik. 303

§ 4.

Sind auch in unserer gegenwärtigen Zeit die Einrichtungen der Kuppoh und Tamchuj nicht mehr in ihren überlieferten Formen anzutreffen, so dürfen deshalb doch die Grundsätze, die bei diesen ehrwürdigen Institutionen masssjebend waren, nicht als veraltet gelten. Noch heute müssen „Gabaim" von jeder Gemeinde auf- gestellt werden, und noch heute müssen die mit der Verwaltung der Zdokoh Betrauten den Anforderungen des jüdischen Religions- gesetzes entsprechen. Und sie müssen Kenner des Lebens und der Menschen sein. Die Wünsche der Nehmenden und die Ab- sichten der Gebenden müssen bei den Gabaim gut aufgehoben sein. Sie müssen sich auf die Bedürfnisse und die Charaktereigentüra- lichkeiten besitzloser Menschen verstehen, vorsichtig sein, ohne ihre Vorsicht zu grämlichem, menschenverachteuden Misstrauen aus- arten zu lassen. Gewiss giebt es auch unter den Armen Betrüger. Ist denn Betrügen ein Privilegium der Reichen? und Pflicht jü- discher Gabaim ist 's, darüber zu wachen, dass die ihnen anver- trauten Gelder nicht unnütz und zweckwidrig verschleudert werden. Gilt es aber, Hungrige zu speisen, dann ist kein Gabai befugt, erst umständlich nach ihrer Würdigkeit zu forschen. Werden nicht auch die Schwerverbrecher in den Gefängnissen auf Staatskosten gespeist ?

Gabaim, die ihr Amt unjüdisch verwalten, sei es, dass es ihnen am Willen oder am Verständnis fehlt, müssen abgesetzt werden. Kleben sie so fest an ihrem Amt, dass ihre Entfernung unmöglich ist, dann ist es verboten, ihnen Zdokohgeld anzuver- trauen. Denn also haben die Weisen gesprochen: „Keinen Pfennig einer Armenbüchse, deren Verwalter nicht R. Chananja b. Tradjon gleicht!" Ist auch dieses Ideal heute unerfüllbar, sind auch in den heutigen Zeitläuften die Thoragelehrten so dünn gesät, dass manche Armenkasse ohne Verwalter wäre, wenn jede auf einen R. Chananja b. Tradjon warten müsste, so verlangt doch das Mindestmass der Anforderungen, die man an einen jüdischen Ar- menpfleger zu stellen verpflichtet ist, dass er wenigstens ein DIU "llfi'D sei. Allerdings geht der jüdische Begriff" des „braven Mannes" über die Qualitäten der polizeilichen Unbescholtenheit weit hinaus.

i

304 Soziale Ethik.

Man muss auch in religiöser Hinsicht unbescholten sein, um den Ehrentitel eines i^D G"i« zu verdienen.

§5- Gabaira, die gemeinschaftlich Zdokohgeld sammeln, sollen stets zusammenblieben, um jeden Verdacht einer Veruntreuung des ein- gesammelten Geldes zu verhindern. Denn es giebt misstrauisehe Menschen genug, die eine Einzelperson, die für wohltätige Zwecke sammelt, im stillen des Eigennutzes verdächtigen. Aus gelichem Grunde soll der Gabai, wenn er Geld auf der Strasse findet, den Fund nicht in seiner eigenen, sondern in der Zdokohkasse bergen und erst zuhause das gefundene Geld an sich nehmen. Das gleiche Verfahren ist auch für den Fall vorgeschrieben, dass ein persön- licher Schuldner des Gabai seine Schuld auf offener Strasse be- gleicht. Und dergleichen mehr. Auch für die Rechnungsabgabe über die Verwaltung der Zdokohgelder stellt das Gesetz Bestim- mungen auf, die in dem Satze wurzeln : „Rein sollt ihr dastehen vor Gott und Israel !" Sich über jeden Verdacht erhaben fühlen, das ist kein jüdisches Gefühl.

6.

Ein Gabai, der Schmähungen eines „frechen Armen" kalt- blütig hinnimmt, erwirbt sich nach jüdischer Anschauung ein mo- ralisches Verdienst, das umso grösser ist, je unverschämter sich der Arme geberdet.

§7.

Hat ein Armer reiche Verwandte, dann ist die öffentliche Armenpflege nur dann verpflichtet, sich seiner anzunehmen, wenn diese Verwandten sich weigern, für ihren Angehörigen zu sorgen, und keine Möglichkeit besteht, sie durch eine jüdische Behörde dazu zwingen zu lassen.

§ 8.

Der Gabai ist nicht berechtigt, bei der Verteilung des Zdokoh- geldes einen armen Verwandten andern Armen vorzuziehen. Nur wer aus eigenen Mitteln Zdokoh übt, darf und soll seine Ver- wandten in erster Linie bedenken.

§ 9.

Zdokohgeld, das sich in der Hand des Gabai befindet, ist

Soziale Ethik. 305

im allgemeinen unantastbar, d. h. es darf nicht einmal zeitweilig unter Vorbehalt eines alsbaldigen Ersatzes für andere 'Zwecke verausgabt werden. Wann und wie eine Änderung des Zweckes und der Verwaltung zulässig ist, das muss von Fall zu Fall an der Hand des Religionsgesetzes erkundet werden.

§ 10. Es bedarf sehr der Erwägung, ob die allgemein übliche Skruppellosigkeit beim Empfang von Zdokohgeld dem Geiste des Religionsgesetzes entspricht. Das non ölet- Prinzip wird von der Thora nicht anerkannt, wie das Gebot der Vorsicht zeigt, die zu beachten ist, wenn Frauen und Kinder kommen, um dem Gabai Geld für Zdokoh zu überbringen, wobei er sich zu vergewissern hat, ob das Geld nicht geraubt oder gestohlen ist. Im Reiche der Thora heiligt der Zweck die Mittel nicht.

§ 11.

Taktlose Menschen werden niemals gute Gabaim sein. Gar manche Wohltäter giebt 's, die aus falschem Ehrgefühl über ihre Verhältnisse geben. In solchen Fällen das Interesse der Armen- pflege mit der Rücksicht auf die Empfindlichkeit eines Wohltäters, dessen Wille grösser ist als sein Können, harmonisch zu vereinen, das erfordert Takt. Ein Gabai, der durch taktloses Fragen und Fordern einen Wohltäter beschämt, wird sich darüber vor Gottes Richterstuhl zu verantworten haben.

§ 12.

Viel zu wenig ist gewürdigt der Ordnungssinn, den das jü- dische Religionsgesetz mit seinen bis ins Kleinste und Einzelnste gehenden Bestimmungen pflegt. So ist die Organisation des jüdischen Gemeindelebens, wenn es auf der Basis des Schulchan Aruch folge- richtig auf- und ausgebaut wird, in ihrer wahrhaft lückenlosen Geschlossenheit nicht zu übertreffen. Wie haben sich Landbewohner zu verhalten, wenn sie am Rosch-Haschonoh und Jom-Kippur in die Stadt zum Gottesdienst kommen und dort anlässlich der Seelen- feier (mD^J'J mDTD) eine Zdokohspende geloben: müssen sie dieses Geld der Stadtgemeinde abliefern oder dürfen sie 's an ihre Orts- armen verteilen ? Diese und ähnliche Fragen stammen aus einer Zeit, die im Gegensatz zur Gegenwart in der Synagogenordnung

306 Soziale Ethik.

nur einen Ausschnitt aus der grossen jüdischen Lebensord- nung sah.

§ 13. Der Gebende ist befugt, im Rahmen des gesetzlich Zuläs- sigen die Verwendung seiner Spenden nach eigenem Ermessen zu regeln. In diesem Falle wird die von ihm gespendete Summe als pymn }b pNtt' pDD angesehen, als Geld, welches den An- und Ein- sprüchen der öffentlichen Armenpflege entzogen ist. Ist auch Zdokoh insofern als pv^in }h IC^IT ]1DD zu betrachten, als das Gesetz eine freiwillige Entschliessung zum Geben nicht kennt, so geht doch die Sozialisierung der Ethik nicht so weit, auch in den For- men des Gebens den persönlichen Willen durchweg auszuschalten.

§ 14.

Wie ängstlich wacht das Gesetz darüber, dass Waisenkinder zu ihrem Recht kommen ! In jüdischen Gemeinden war 's einst Brauch, einen Waisenvater (D"'Din^ ^Dt<) aufzustellen, dem die Kon- trolle über das Gebahren der Waisenvormünder zustand. Wie eng und klein erscheint gegenüber diesen umfassenden Aufgaben, zu deren Lösung einst jüdische Gemeinden vor Gott und Gesetz sich berufen tühlten, das, was man heute vielfach unter den Obliegen- heiten einer jüdischen Kultusgemeinde versteht. S. R. Hirsch hatte wahrlich Recht, wenn er neben so vielen andern Ausdrücken, die sich als unjüdische Konterbande in den jüdischen Kreis ein- genistet haben, auch das Wort „Kultus" als verhängnisvolles Schmuggelwört verwarf.

§ 15.

Der so modern anmutende Gedanke einer Zentralisierung des Zdokohwesens ist dem jüdischen Religionsgesetze nicht fremd. is":i iD''D ''"2 citiert eine i<"Dt^"i nzi^rn, die sich mit der Frage beschäftigt, ob und wann eine Zersplitterung der Armenpflege von den Gemeindebehörden geduldet werden darf.

§ 16.

Hat Jemand Geld für öffentliche Armenpflege bestimmt, so verliert er das Recht persönlicher Verfügung darüber, selbst wenn in- zwischen seine eigene Familie verarmt und unterstützungsbedürftig geworden sein sollte. Die Loslösung des Geldes von seinem Be-

Soziale Ethik. 307

sitzer ist ein psychischer Akt, der sich umso leichter und hem- mungloser vollzieht, je weniger dem Besitzer sein Besitztum, noch ehe er sich davon lossagt, als ein untrennbares Stück seiner Per- sönlichkeit erscheint.

§ 17.

Zdokoh ist eine Form des „Gelobens" ("ii:). Während jedoch beim Gelübde die verpflichtende Kraft durch das Aussprechen be- dingt ist, genügt bei Zdokoh schon der stille Vorsatz, um die Pflicht alsbaldiger Erfüllung hnxn bn) zu begründen. Auch diese Einreih- ung der Armenpflege in die Katgeorie der D^lli (die bekannt- lich! das Thema des Auftaktes unserer alljährlichen Versöhnungs- feier (mj bD) bilden) beweist, wie ernst es dem Judentum mit seiner Konfessionalisierung der sozialen Ethik ist,

§ 18.

Die Formen des Gebens sind auch durch die Motive des Gebens bestimmt. Für die sittliche Höhe einer Zdokohtat ist es nicht gleichgültig, aus welchen Beweggründen heraus die Tat geübt wird. Gleichwohl kommt es dem Gesetz weniger auf das Motiv der Tat als darauf an, dass sie überhaupt geschieht. Der Glaube an einen Lohn im Jenseits beruht ja auf der Anerkennung des Anspruchs auf persönliches Wohlbefinden als Entgelt für eine vor- geschriebene oder freiwillige Guttat. Es ist darum kein Akt reli- giöser Naivetät, wenn Jemand eine bestimmte Summe für Zdokoh gelobt für den Fall, dass ihn Gott aus einer Gefahr erretten werde. Im Religionsgesetz finden sich Bestimmungen darüber, ob eine solche Form des Gebens den religionsgesetzlichen Anforderungen entspricht und rechtskräftig ist. Diese Form des Gebens ist statt- haft, und die sonst gültige Norm «"'jp ab t^riDDDN, wonach im all- gemeinen eine auf unbestimmter Spekulation beruhende Selbstver- pflichtung als nicht bindend zu betrachten ist, wird hier nicht an- gewendet. Wer also für den Fall, dass er z. B. heil vom Schlacht- felde heimkehrt, sich zu einer Zdokohabgabe verpflichtet, macht sich keines Versuches einer Bestechung Gottes schuldig. Denn im Hinblick auf das Dogma Ton der jenseitigen Belohnung eines rein vollbrachten irdischen Lebens könnte mit demselben Rechte das ganze jüdische Leben als ein Komplex von Bestechungsver-

308 Soziale Ethik.

suchen bezeichnet werden, und geläuterter aie unser Stammvater Jakob religiös empfand, als er die Worte sprach: „Wenn Gott mit mir sein wird und mich behütet auf diesem Wege, den ich gehe, und giebt mir Brot zu essen und ein Kleid anzuziehen, und ich kehre zurück in Frieden in das Haus meines Vaters : so soll der Herr mein Gott sein, und dieser Stein, den ich aufgerichtet zur Säule, soll sein ein Gotteshaus, und alles, was du mir giebst, will ich dir verzehnten" braucht auch im Jahrhundert des Weltkrieges keiu Jude zu empfinden.

R. B.

Das jüdische Kriegsrecht und die Frau. 309

Das jüdische Kriegsrecht und die Frau.

Von Rabbiner Dr. A. Neuwirth, Mainz. (Fortsetzung.)

Besondere Gesetze sind ferner für den Fall vorgesehen, dass Frauen und Kinder in die Gefangenschaft geraten sind. Wenn wehrlose Angehörige des Judäereiches in die Gewalt der Krieger vorn israelitischen Lande gefallen, so wurden sie nach der Ein- bringnng sofort wieder freigelassen. So wird uns z. B, von einem sraelitischen Feldzuge gegen Judäa berichtet. Die Israeliten siegten und noachten dabei eine aussergewöhnlich grosse Beute. „Und die Israeliten nahmen von ihren Brüdern 200000 Frauen, Jünglinge und Töchter gefangen, sie machten auch eine grosse Beute und sie brachten alles nach Samaria". Da stand ein Gottesmann auf und unterrichtete die Krieger wie sie sich den Gefangenen gegenüber zu verhalten haben. „Dünkt euch etwa die Landesleute von Juda und Jerusalem als Sklaven und Mägde zurückzubehalten ? ; damit würdet ihr eine grosse Sünde begehen. 0, höret doch auf mich und führet die Gefangenen, die ihr von euren Brüdern gemacht, wieder zurück, denn sonst begeht ihr eine grosse Sünde. Und es standen die vornehmsten Leute auf und unterstützten die Ge- fangenen; denen es an Kleidern fehlte, bekleidet man aus der Beute, gab ihnen Schuhe, dann zu essen und zu trinken und salbte sie ; alle Schwachen wurden auf Eseln gesetzt und brachte sie nach Jericho" (II. Chron. 28, 7—15).

Die Bibel berichtet uns von einem ähnlich buu»anen Vorgehen auch Heiden gegenüber^). Diese Behandlung der Gefangenen zeugt von einem Grossmut dem Feinde gegenüber, und von einem Ver trauen, das man selbst dem Gegner schenkte, wie sie heute in die- sem Masse nicht bemerkbar sind. Denn nach der Freilassuni: der Gefangenen hoffte man, werden die Gegner sich für besiegt er- klären und eine Entschädigung zahlen.

') Vgl. I. Kön. 20, 32. Dieses humane Mitg<;fdhl mit den Gefangenen verleitete auch Saul zu der hekannten Sünde, dass er den (iefangenen A;<og leben Hess (I. Sam. 15, 8 f.).

310 ' Das jüdische Kriegsrecht und die Frau.

Andere Einrichtungen sind für Frauen für den Fall vorge- sehen, dass sie in die Gefangenschaft fremder Völker geraten sind. Es wird da einem jeden zur Pflicht gemacht, mit allen Mitteln dafür zu sorgen, dass die Gefangenen wieder ihre Freiheit erlangen. Der talmudische Ausspruch, der dieses Liebeswerk einschärft, lautet: „Mit der Auslösung der Gefangenen erfüllt der Mensch ein Grund- gebot der Religion, denn Gefangenschaft ist schwerer als Tod und Hungersnot : in ihr treffen beides zusammen" (Baba b. 8 b). An einer andren Stelle heisst es : „Es gibt kein grösseres Gebot als die Auslösung der Gefangenen, denn der Gefangene gehört zu den Hungrigen, Durstenden, Nackten , und Lebensgefährlichen" (Jore Dea Cap. 252). Und schliesslich lesen wir an einer dritten Stelle : „Die Auslösung der Gefangenen geht der Ernährung und Beklei- dung der Armen vor ; man darf hierzu Geld und Sachen, die selbst für andre Wohltätigkeitszwecke bestimmt sind, verwenden" (Jore Dea ibid.).

Bisher haben wir von den Einrichtungen, die die Bibel zum Schutze und Wohle der jüdischen Frauen und Kinder getroffen, gesprochen : betrachteten wir nun die Bestimmuugen, die für die Wehrlosen heidnischen Glaubens vorgesehen sind.

Wir bemerkten bereits, dass die Thaura Heiden vor Augen hat, die auf einer denkbar niedrigen Kulturstufe standen. Im Kriegs- falle scheuten sich die Frauen nicht, sich den feindlichen Mann- schaften preiszugeben. Für derart gesittete Völker vermögen wir ganz humane Gesesze nicht zu erwarten. Nichtdestowenigr er- warten wir, dass die Thauro im „Prinzip" zwischen Kämpfern und wehrlosen Nichtkombattanten ein Unterschied machen werde. Eine derartige Unterscheidung ist tatsächlich in der Bibel zugunsten der wehrlosen Frauen und Kinder vorgesehen. Zunächst wird be- stimmt, dass Frauen und Kinder eines besiegten heidnischen Volkes auch dann verschont bleiben sollen, wenn die Männer kriegsrecht- lich zum Tode verurteilt werden.

Nach der Thauro ist es gestattet, wenn die Umstände es er- fordern, die werhaften Männer des Feindes zu tören ; Frauen und Kinder mussten dagegen unter allen Umständen verschont bleiben (Deut. 20) : nb^t:' bj "i^VD rp.T T^'ii ^Di noriDm rpn) D^'Z':n pi

Das jüdische Kriegsrecht und die Frau. 311

*]'? TlDn „Nur die Frauen und Kinder und das Vieh und alles, was in der Stadt sein wird, all ihre Beute plündere für dich". Der Siffre zu Deut. 20, 1, begründet diese Verschonung der Frauen und Kinder mit den Worten : anbi Dnn y2^M< "1J2D „Du darffst nur gegen deine Feinde kämpfen", nicht gegen Wehrlose ^).

-Auf die Frauen und die Kinder eines heidnischen Volkes, das mit Israel im Krieg stand, nimmt die Thanro auch sonst die schonendste Rücksicht sofern die erstem sich nicht der Un- zucht preisgegeben haben.

Aus dem Vorgehen des moabitischen Volkes in Schittim (vgl. Num. 25, 1 ff.), ersehen wir, dass im Altertum bei manchen orien- talischen Völkern der Kriegsbrauch bestand, Frauen und junge Mädchen mit in den Krieg zu nehmen, und sie der Unzucht preis- zugeben, um auf diese Weise die Feinde zu bezwingen. Einer der- artigen Versuchung ist ja bekanntlich auch Israel, als es in der Nähe Moab lagerte, erlegen^). Was die Moabiter nicht durch Waffen- gewalt, nicht durch Zaubersprüche Bilams erringen konnten, dies .haben sie durch Preisgebung ihrer Töchter an Israel erreicht. Das Volk, das eben noch Moab feindlich gesinnt war, schickte sich an, Bundesgenosse desselben zu werden. "i^VD "PVD^ ^Nl^"' IQü"""! „Israel schloss sich eng dem Baal Peor an" (ibid.) '}.

') Eine Ausnahme bilden nur die Frauen und Kinder von den kanatni- tischen Völkern die Israel erobern sollte. Wenn einer von den 7 Völkern, die Palästina vor der^israelitischen Einwanderung bewohnten, mit Israel auf die Be- dingung bin nicbt einen Friedensbund schliessen wollte, den Götzendienst zu beseitigen uni Israel unterthänig zu sein, so wurden Mann und Frau rer- niclitft (vgl. Deut. 20, 16). Diese Härte hat die niin ^'ber nur mit Rücksicht auf die Reinerhaltung des Judentums angeordnet (vgl. ibid. "n;^^^ i<^ l^ü IVO^

') Das tiefere Motiv für das unzöcbtige Verhalten Israels wurde leider bis nun nicht recht ernannt. Es handelt sich, wie dies bei alten Völkern der Brauch war, um eine Kriegslist. Die Thauro selbst betont dies Moment : 13 DD^ "I^D^ "Itt'N DrT'bDJIl GD^ DD D"'"l"nH »Denn sie befeindeten euch durch ihre Arglist, mit der sie euch belisten" (ibid.).

•'') In Siffre wird ausdrücklich auf diesen sittenlosen Brauch der Heiden hingewiesen. So lesen wir eu Deut. 21, B.: niia^priQ DD DiT'mJD D'^^y^Dn mUTnb '?"'D^2 nDnb^I3 nD'f' Kananiterlnnen zogen geschmückt, aufgeputzt in den Krieg, um sich der Unzucht preiszugeben". Nach der Ansicht des Sl-

312 Das jüdische Kriegsrecht und die Frau.

Als Israel die Sünde erkannte, wurde es aufgefordert, Mid- jan, das vor der ^noKsen Macht Israels erbebte und nur durch die Unzucht und Sittenlosigkeit des Volkes Herr zu werden suchte, zu bekriegen. Den Intentionen des ganzen Unternehmens ens- sprechend, wichen hierbei liie Sieger von der sonstigen, von der Thauro vorgesehenen Massnahme für wehrlose Frauenspersonen (Vgl. Deut. 20, 14: i"? n^n n^bif '-DI . . . nioni a^^:- pi „die Frauen und die Kinder sollst du dir zur Beute machen") ab und töteten alle Frauen und Mädchen (ibid. 31, 17j.

Wie nun die kriegsgefangenen Heidinnen draussen im Kriegs- lager vor jeder Belästigung seitens eines Kriegers durch das jü- dische Gesetz geschützt waren, so durften sie auch vertauensvoll in die Zukunft schauen. Denn auch nach dem Kriege waren die Gefangenen in jeder Weise geschützt. Die Unzucht mit derartigen Personen war in jeder Weise verboten. Wenn einem Krieger eine Gefangene besonders gefiel, so durfte er. sie ehelichen, ohne Ehe- lichung war sie ihm verboten.

Aber gerade dieser Eheliehung raussten soviele Vorbereitungen vorangehen, dass wir an diesem einen Gesetz die ganze Erhaben- heit und Göttlichkeit der biblischen Gesetze erkennen können. Wir möchten die Bestimmungen, wie sie in der Bibel aufgezählt sind, der Reihe nach, anführen. 1. Er durfte nur eine einzige Gefangene sich als Frau nehmen, um ihr genügend Achtung zu zollen \ die Vielweiberei als solche verursacht schon die Kespekt- losigkeit, geschweige denn^ bei Kriegsgefangenen. Der Siffre zur Stelle verbietet die Heimführung einer zweiten Gefangenen selbst für den eigenen Vater oder den Bruder, denn auch in dieser Hand- lungsweise liegt eine gewisse Erniederung 2. Er musste die Gefangene nach Hause bringen ; draussen im Kriege durfte er sie unter keinen Umständen zur Frau nehmen. Nach dem Siffre durfte er sie nur in das eigene, nicht aber in das Haus des Nächsten führen, denn auch die» wäre eine Geringschätzung.

pomo zu Deut. 23, 18, soll die Warnung :^^»^1 'r^KT^^ m;2.^ "'i'ip ""'nn nb ^N"!^"" ""jDD tt'lp "^1% die im Anschluss an die Massnahmen für das Kriegs- lager erwähnt, ebenfalls gegen den sittenlosen Kriegabrauch der Heiden ge- richet sein. Danach sollen sogar Männer der Unzucht preisgegeben worden sein.

Das jüdische Kriegsrecht und die Frau. 313

3. Das übliche Haarseheeren und Nagelabschneiden bei den Ge- fangeneu (n^inci nt< nn'^yi npm nn'?:! vgl. Ramban z. St.; wäre nach J. Barth (Jeschurun Jahrgang. 1 287) ein Zeichen der Unterwürfigkeit. Gegen diese Erkläung spricht aber die Tatsache, dass die Thauro das Abschneiden nicht dem Sieger wie dies in die Parallelstellen von Bart geschieht, sondern der Gefangenen vorschreibt. Es scheint vielmehr, dass das Haar und die Nägel zum symbolischen Zeichen des freiwilligen Eingehens auf das Bündnis mit dem Mann verwendet wurde (vgl. Barth a. a. St.). So versteht man dann auch die Fortsetzung des Verses : n'i^VD r[^2^ nbD^ n~i"'Dm. Dieser Akt wurde demnach nur zur Erhebung der Gefangenen vorgenommen. 4. Er muss ihr noch vor der Ehelichung eine Zeit gewähren, in der sie ihre Eltern, die sie verlassen, l)etrauern kann. Nach der Thauro soll dies einen Monat dauern. Nach Jebamoth 48 ib sollte in dieser Zeit auch die Entsagung der heidnischen Gewöhnungen im Elternhause bewirkt werden, um sie nachträglich in jeder Hin- sicht als jüdische Frau zu betrachten, und sie auch in dieser Ab- sicht zu ehelichen. 5. Sie sollte das Gewand ihrer Gefangen- schaft ablegen, das sie nur als Hörige oder gar als Sklavin cha- rakterisieren könnte. (Vgl. Genesius 41, 14, rni'^DV n^n"»"! üb}"'), 2. Könige 25, 29, )tibj njD n:m und Jer. 52, 29). 6. Erst nach allen diesen Vorbereitungen durfte er sie, durch eine jüdi- sche Trauung geheiligt, zur Frau nehmen. Mit dieser Trauung übernahm er alle Pflichten, die ein jJude gegen eine geborene Jüdin zu erfüllen hatte (Siffre zur St.). Auch für den Fall, dass sie ihm später nicht gefallen sollte, ist ihr zugunsten dieselbe Vorsichtsmassregel gegen eine leichtfertige Scheidung getroffen (die Kethubo, in Ehekontrakt) wie bei einer geborenen Jüdin (vgl. Maim.. Hilchoth Melochim 5, 6). 7. Ihre Kinder waren nicht nur e'-bberechtigt, sondern ihr erstgeborener Sohn durfte auch, wie dies bei Kindern jüdischer Eltern der Fall ist, auf zweifachen Anteil Anspruch erheben (Kidd. 22 a, vgl. ibid. 66 b). Dies ge- schah auch dann, wenn Kindr von einer andern (einer Jüdin), die aber erst später geboren waren, da waren. 8. Dem Manne ist

314 - Das jüdische Kriegsrecht und die Frcju.

verboten, mit dieser Gefangenen irgendeine Arbeit verrichten zu lassen, die man mit einer jüdischen Frau nicht tun liesse.

Für eine ganz einfache Heidin, die aiif der niedrigsten Kul- turstufe steht, schreibt die Thauro derartig humane Gesetze vor, für den Fall, dass sie in den jüdischen Kreis gelangt. Aber auch wenn die Gefangenen nicht als Mitglieder in die Gemeinde Israels aufgenommen, für die Sieger nicht als Frauen iu Betracht kamen, war den Gefangenen eine sehr humane Behandlung zuteil gewor- den. Dies war schon dadurch gesichert, dass alle Gefangenen, soweit sie überhaupt im jüdischen Lande verblieben, das Judentum beziehungsweise, die riJ ""HD mii^ V-^, annehmen mussten und dann unter wahrhaft humanen Gesetzen standen. Welche Rück- sicht auf die heidnisen Gefangenen im jüdischen Lande genommen wurde, ersiQht mau aus den Vorgehen der Gibboniter, die als Ge- fangene behandelt wurden. Zur Zeit von David kam eine Hun- gersnot, die auf die schlechte Behandlung der Gibboniter seitens Sauls zurückgeführt wurde. Sieben Söhne von Saul verfielen da- her dem Tode (IL Sam. 21, 1—10).

Retter des Judentums. 315

Retter des Judentums.

Ein brennender Wunsch, zu leisten, zu wirken, nicht umsonst gelebt zu haben, seinesteils beigetragen zu haben zur Hinüberrettung der Thora in die kommende Zeit, dazu der flammende Ehrgeiz, mitgezählt zu werden, wenn man die Führer Israels zählt: das un- gefähr ist die seelische Stimmung, welche die Besten unter uns erfüllt.

Schon die Jugend meldet sich zum Wort. Sie hat vergessen, was Bescheidenheit ist. Statt zu lernen lehrt sie, statt zu hören redet sie. Und glaubt mit all dem das Judentum zu retten.

Wenn das so weiter geht, dass unser Wille zum Judentum inj Erzeugung enthusiastischer Wärme sich erschöpft : wenn die blosse Bewegung, die Vielgeschäftigkeit, Reden und Diskutieren, Pose und Applaus unsere einzigen Mittel zur Rettung des Juden- tums sein und bleiben werden, dann behüte uns Gott.

Was uns fehlt, ist ein Doppeltes : Viel Geist und viel Geld.

Unser Wissen, unser Können, die Schwungkraft unseres Geistes, die Ergiebigkeit unseres Könnens ist gering. Ein Blick auf den jüdischen Büchermarkt genügt, um zu erkennen, auf wel- chem Niveau unsere geistige Potenz schon seit Jahr und Tag ver- harrt. Jahre vergehen, bis unsere Intelligenz ein Buch von Ewig- keitswert in den Handel bringt.

Diese armselige Erscheinung hat schon Manche an der zün- denden, befruchtenden Kraft der Thora irre gemacht, weil sie die wahre Ursache dieser geistigen Impotenz verkannt haben. Nicht die Thora ist schuld, wenn ihre ohnmächtigen Jünger für ihre süssesten Geheimnisse kein Ohr und kein Auge haben.

Es ist unglaublich, wie trag diese Jüuger sind ; wie ängst- lich sie jede Anstrengung meiden, die ihnen das spielerische Er- gehen in den Hallen der Thora erschwert ; wie sie lesen die Thora statt sie zu lernen als ob n'^M^n lloS ein geistiges Aus- spannungsmittel und nicht ein opfermutiges Martyrium wäre.

Vermehret den Geist in unseren Reihen, sorgt dafür, dass minn noS aus einem originellen Sport in einen ewigen, keine

316 Retter des Judentums.

Mühe und kein Opfer scheuenden Ritterdienst sich verwandele, dann habt ihr was für die Rettung des Judentums getan.

Auch unser Geld ist gering. Die dringlichsten Aufgaben werden zurückgestellt, weil kein Geld da ist. Wenn alle unter uns, die keine. Zeit zum Lernen haben, wenigstens Geld zu ver- dienen und was noch wichtiger ist auszugeben hätten, wir könnten frohgemuter in die Zukunft schauen. Unsere Lehranstalten für|Thorakiinde müssen um ihre Existenz vielfach schwer kämpfen. Und Niemand empfindet diesen Missstaud als eine Schmach. Wir haben uns damit, wie mit so vielem, allmählich abgefunden und bestreben uns unter grossem Geräusch, die billigen Kräfte un- serer Kultur- und Finanzpolitik im Rahmen der Gesamtheit zu er- proben Das kann gut werden.

Wenn wir uns blos die Pose der Judentumsretter abgewöhnen könnten ! Wenn wir schlicht und grad unsere Wege gingeu und ohne Ehrgeiz nach Applaus nur einfach täten, was uns die Pflicht gebietet: wenn wir uns entschliessen könnten, den Teil unserer Zeit und unseres Vermögens, auf .den wir im Sinne der Thora gar keinen Anspruch haben, der Thora zu weihen, wenn wir unser Geld zu Spenden und Stiftungen verwendeten, statt es zu verspielen und zu verjubeln, uns aufs Lernen verlegten, statt nach Amüsement zu jagen : vielleicht hätten wir damit das Judentum, sicherlich aber uns selbst gerettet.

Literarisches. Kuriosa. 317

Literarische^

o.

Jüdisches Jahrbuch für die Schweiz 1917 18. Verlag des Jadischen Jahrbuchs Luzern-Leipzig.

Mit seinem reichhaltigen Stoff reiht sich dieses Jahrbuch seinem Voi-- gänger würdig an. Wenn das jüdische Leben der Schweiz ebenso reichhaltig ist, wie der Kalender, der dieses Leben wiederspiegeln soll, dann ist die Schweiz nicht nur ihrer Neutralität, sondern auch ihres Judenturas wegen zu beneiden.

Kuriosa

Liert.

Ach, es ist nicht gut zu sagen. Denn wer sagt, versagt. Könnten wir den Schwall ertragen, War er Baum, der ragt.

Alle Wesen Augenabend Klimmen wie die Hirschkuh trabend. Lehnen zart das Innig-Scheue Ihres Haupts an unsre Atemtreue.

Aber wir, ein schwarzer Samen, Lügner, die zu Worte kamen, Tatlos Tauscher, Tner, Täter, Weltzernenner, Waldverräter, Morden Gott und uns mit Namen Namen. (Aus „Der Gerichtstag, Gedichte von Franz Werfel", abgedruckt in Heft 1—2 des 2. Jahrgangs der Buberschen Monatsschrift ,der Jude".)

318 Kuriosa.

IL

Geliebte.

Mit Stalz und berechtigtem Hochgefühl erfülle Euch, Geliebte, das

Bewusstsein .... Wohlan .... meine geliebte Gemeinde, die Du hier erschienen

bist, um Zeugin zu sein dieses weihevollen Gottesdienstes .... Aber, Geliebte, ehe das Wort der Offenbarung .... So, Geliebte, sei es in diesem heiligen Kampfe .... Darum, Geliebte, seiet st^rk im Glauben. Geliebte, so hat Seele stets zu Seele nur gesprochen. Geliebte, dieses Wort des edlen Dichters sei uns Geleite in dieser

ernsten Stunde. Und doch, Geliebte, wie unfroram und undeutsch wäre es ^ . . . Ja, Geliebte, lasset uns verstehen in dieser festlichen gegürteten

Stunde .... "'

Darum, Geliebte, weiss ich in dieser Stunde kein beschwingteres und

tiefer dringendes Wort .... Zuletzt, aber nicht zuletzt, Geliebte, lasset uns noch die frommen

zitternden Lichtlein grüsseu .... Also, Geliebte, lasset sie leuchten, die Lichtlein der Chanukka. (Aus „Kriegspredigten, gehalten in der Gemeinde-Synagoge am Börneplatz von Rabbiner Dr. N. A. Nobel, Seelsorger der Garnison Frankfurt a. M.")

JUEDISCHE

=7

TT70NAT5HeFTE

herausj^egeben von R:ibbiner Dr. P. Kolin, Ansbach, unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Salomon Breuer, Frankfurt a. M

Jahrgang 4. Heft 11.

Die Sehnsucht nach dem Ende.

Auch Pharao sehnte sich nach dem Ende. Mit ihm ersehnen es die Genusssüchtigen, denen der Weltenjamraer den Genuas ver- gällt; sie können das Ende nicht erwarten, um wieder ungestört vom Taumel sich ergreifen zu lassen. Mit ihm ersehnen es die Gedankenlosen, die das Getöse einer berstenden Welt um den Schlaf gebracht ; unwillig, verärgert warten sie auf den Augen- blick, da Ruhe wieder eingetreten und der Schlaf sie wieder um- fängt. Mit Pharao warten sie, bis „Erleichterung eingetreten" (Ex. 8, 11) So sind sie, sprechen traurig die Weisen, unter der Wucht der Leiden, im Gefühl ohnmächtiger Schwäche beugen sie sich, es hraucht aber das Unwetter sich nur zu verziehen, und es ist, als hätten sie nichts gelernt

Die Sehnsucht nach dem Ende ist ein Recht, das erat er- worben werden muss.

Im Gefängnis schmachtete er verlassen und yergessen. Über ihn hinweg gingen die Ereignisse, erloschen sein Andenken, in Nacht getaucht seine Zukunft inn^B^"'"

320 Die Sehnsucht nach dem Ende.

Und auch sein Volk „geplündert und beraubt, sie alle der Anhauch der Buben, bergen in Gefängnissen sich, werden zur Beute, und keiner rettet, zur Plünderung, und niemand spricht : gib wieder" (Jes. 42)

Und auch Zion klagt : Verlassen hat mich Gott, mein Herr hat uiein vergessen (Jes. 49)

pD TT^i innuz'^', Er setzt das Ende, Er allein weiss es. "itt'in'? ü^ yp Er setzt der Finsternis das Ende (Jiob 28), Er setzt auch unserer Finsternis das Ziel.

Ihr ersehnet das Ende. Glaubt ihr an ein Ende, an ein Ziel ? Dann steht ihr mit dem Propheten auf der Warte und starrt hinaus in die finstere Nacht historischer Uubegreiflichkeiten, und, umwogt von atemberaubenden Nebelschwaden, flüstert ihr euch i}^)üb ]"iTn "ny "iD (Hab. 2) die Botschaft zu vom anbrechen- den Morgen, der euch eine Gewissheit ist, so lange für euch die Geschichte der Menschheit nicht aufgehört hat, das Werk einer schaf- fenden Gottheit zu sein, dessen einzelne Phasen euch freilich ebenso rätselhaft sind wie der Werdegang jedes ans Licht sich ringenden organischen Geschöpft. Ihr kennt das lyiD, das Ziel gottgewollter Weltentwicklung: aus grauenhafter Entfremdung soll eine törichte, betrogene Menschheit ihren Schöpfer wiederfinden, nachdem sie den erbärmlichen Wahn, sich 'selber Lebenswege zu bahnen und Lebensziele zu setzen, mit nicht endenwollendem Leid gebüsst. Ihr kennt dies "lyid, von Para dieses wonnen begleitet, grüsst es euch am Beginn der Weltgeschichte, von Prophetenwort verbrieft, strahlt es euch durch alle Nacht niederbeugender Trostlosigkeiten zu- kunftsgewiss entgegen. Und deshalb ypb r\D^) haucht es euch heran, leise, ganz leise dem Ende entgegen DTD'' nb nichts kann euch die Gewissheit rauben, und zögert es, ihr harret sein, es kommt, es kommt, keinen Augenblick später als Er es will.

Nur nicht verzagen, nur nicht irre werden ! Fluch, wer in törichten, nutzlosen Berechnungen sich zu ergehen wagte (San- hedrin 97).

Itt'in^ D^ yp Er setzt der Finsternis das Ende. Wann? Wenn die Menora [über das Schwert gesiegt, überwunden hat die Roheit und Gewalt. Wann ? mobs^ bD)ü üb)}}2 V^T) '\)i^^ ]DT bj

Die Sehnsucht nach dem Ende. 321

übiyD Wundert euch nicht über die finstere Nacht, die schaurigen Todesschatten noch lebt das Böse.

Es lebt in der Anbetung der Macht, in der Vergötterung des Menschen, wenn Menschen Ihn nicht schauen, der allem Leben das Ziel und die Wege dahin zu künden bereit ist, es lebt in der Gedankenlosigkeit und den beschämenden, erniedrigenden Leichtsinn, mit dem der Genusssüchtige um den Rausch des Augenblicks sein Leben verspielt und die Erde sollte nicht in Nacht', und Tod sich hüllen ?

Macht erst der Herrschaft des yin "lü"' ein Ende, wenn ihr das Ende wollt. Er setzt der Finsternis ein Ende, ihr aber könnt es beschleunigen. Folget dem Licht der Chanuka, es leuchtet euch in die Nacht und, von ihm geführt, erlebt ihr „das grosse Licht", während ihr im Finstern wandelt, und strahlt euch ein Leuchten in Todesschatten hinein (Jes. 9)'.

Es bricht einst Gott, nach dem Worte der Weisen (Sukka 52), die Macht des Bösen. Den Gerechten erscheint dann rückblickend das Böse in ragender Bergesgrösse, und es fliessen ihre Tränen : wie konnten wir diesen hohen Berg bezwingen ! Doch den Frevlern steht es da wie ein Faden so schwach, und es fliessen ihre Tränen: wie vermochten wir nicht diesen Faden zu bewältigen!

Wenn einst eine tränenvolle Geschichte das Ende der Nacht erleben wird, langsam und allmählich die Schatten zu weichen beginnen, grausige Erfahrung und bittere Enttäuschung dem Men- schengeschlecht die Binde von den Augen nehmen, schal gewor- den die Freude und der Genuss, in Jhrer Kläglichkeit erkannt Macht- und Selbstvergötterung, von seinem Götterthron niedersteigt der Mensch, für immer entsagend dem widersinnigsten, grässlich- stenWahn: selbst sich seinen Gott zu machen und ist doch selber nicht Gott (Jer. 16) und ihm in ihrer Selbstverständlichkeit die Erkenntnis aufgeht, dass Menschen erst die Gottheit gebären müssten, ehe sie imstande wären, sich selber ihr Leben zu deuten und zu stützen und dann die Tränen der Reue ihnen fliessen, und sie vor dem unfassharen Rätsel nur stehen werden, dass ein solch erbärmlich „schwacher Faden" jemals sie zu fesseln ver- mochte, sie sich ihrer Schwäche schämen werden, die sie dieses

322 Die Sehnsucht nach dem Ende.

„schwachen Fadens" ni^cht Herr hat werden lassen und mit Jahr- tausende langem Jammer sie büssen Hess glücklich, wenn ihr dann zu jenen euch zählen dürft, die lange, lange vorher schon die Wahrheit begriffen, in einer Zeit, da bergeshoch die Schwierig- keiten, vermessen schien der Mut, es wagten, allein dazustehen und zur Menora griffen, während eine Welt mit dem Schwerte stürmte. , vor euch „der Berg so hoch** (Sech. 4), in eurer Brust aber unbe- siegbare Kraft, in eurem Auge ewiges, siegesfrohes Leuchten, glücklich, wenn einst im Gedanken daran die Tränen stolzer Freude und stiller Rührung euch fliessen.

Führet den Kampf um das Ende, damit ihr das Recht haht, das Ende zu ersehnen

J. Br.

Vom Christentum. 323

Vom ehristentum.

Willkürliche Meinungen, die das Wesen des Judentums nur zu trüben geeignet sind, müssen unbedingt von der Hand gewiesen werden. Diese Forderung gilt auch für die Beant- wortung der Frage, worin der Einfluss des Judentums auf die Weltkultur besteht. Dieser Einfluss wird gewöhnlich sehr einseitig erfasst. Man lässt sich hierbei in der Regel von sehr materialistischen Erwägungen leiten, indem man sich auf die Prüfung der^Frage beschränkt, worin der Einfluss der Juden auf die materielle Kultur der Menschen besteht. So beobachtet man z. B. den jüdischen Kaufmann und schreibt nach berühmtem Vorbild ein dickes Buch über den Einfluss der Juden auf das Wirtschaftsleben. Man zählt die jüdischen Künstler und Politiker und bemisst danach den Einfluss der Juden auf Kunst und Politik. Man erfährt, dass ein Jude es war. der zu Beginn des Krieges Deutschlands Rohstoffver- sorgung sicher stellte und zieht daraus den Schluss, welch einen Faktor der Landesverteidigung die jüdische Intelligenz darstellt. Man konstatiert, daiss von 14 deutschen Trägern des Nobelpreises die Hälfte Juden sind, dass die Weltmeis- terschaft im Schachspiel in der letzten Zeit dreimal von einem Juden errungen wurde und man schliesst daraus, dass die Weltkultur verarmen müsse, wenn ihr der jüdische Einschlag tV'hlen würde. So gewiss aber auch diese statistischen Fest- stellungen ebenso interessant wie bezeichnend für den Ein- fluss der Juden auf die Weltkultur sind, so müssen wir uns doch hüten, Juden und Judentum ohne weiteres zu identifi- zieren. Das Judentum, als solches hat unmittelbar weder mit dem Rohstoff noch mit dem Schachspiel et was zu tun. Wenn wir den Einfluss des Judentums auf die Weltkultur feststel- len wollen, so haben wir nicht danach zu fragen, was ein- zelne hochbegabte Menschen, die zufällig als Juden geboren sind, zur Förderung der Kultur beigetragen haben, wir haben dabei vielmehr das Judentum in seiner historischen Er-

324 Vom Christentum.

scheinung, als geistige Macht, als religiöse Potenz ins Auge zu fassen und uns danach umzusehen, was die Weltkul- tur der jüdischen Religion zu verdanken hat. Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir die Gegenwart ver- lassen und uns der Vergangenheit zuwenden.

I. Es war vor ungefähr 1900 Jahren, zur Zeit der römi- schen Herrschaft über Palästina, oder wie man besser sagt, Judäa, denn damals gehörte ja das Land noch der jüdischen Nation, die blos unter römischer Oberhoheit stand. Der rö- mische Kaiser Hess das Land durch Statthalter verwalten, die sogenannten Landpfleger. Das römische Joch wurde ratur- gemäss von den Juden recht schwer und hart empfunden. Man würde aber doch den Römern Unrecht tun, wollte man 'nicht zugeben, dass die ersten Landpfleger, die nach Judäa kamen, bemüht gewesen sind, den Juden die Fremdherrschaft möglichst erträglich zu machen. Das brachten sie aber nur fertig, indem sie sich vor allen Dingen davor hüteten, die re- ligiösen Gefühle der Juden zu verletzen. Wenn römische Truppen in Jerusalem einzogen, dann hatten sie Befehl, von ihren Fahnen die göttlich verehrten Kaiserbilder abzunehmen, weil den römischen Machthabern die jüdische Anschauung > bekannt war, die in dem Bibelwort niedergelegt ist: Du sollst dir kein Bild machen, kein Abbild dessen, was im Himmel droben^ und was auf Erden unten (Ex. 20,4). Ja, im jüdischen Lande durften nicht einmal die römischen Münzen mit den Köpfen der römischen Kaiser Augustus und Tiberius geprägt werden. So weit ging die Rücksichtnahme Roms auf die religiöse Empfindlichkeit seiner jüdischen Un- tertanen.

Diese dank der römischen Toleranz noch einigermassen erträglichen Verhältnisse hörten nun mit einem Schlage auf erträglich zu sein, als im Jah.-e 26 die Stelle des Landpflegers neu besetzt wurde. Der n^ue Mann führte dt^n später so berühmt gewordenen Namen Pontius Pilatus. Die Entsen- dung dieses Mannes hängt mil V^orgängen in Rom zusammen,

Vom Christentum. 325

die uns hier weniger interessieren. Wichtig für die Juden war's und wichtig sollte es späterhin für das Schicksal der ganzen Weltkultur werden, dass dieser Pilatus im Einver- ständnis mit seinem Vorgesetzten, dem römischen Minister Sejan, mit ganz neuen Verwaltungsmaximen nach Jerusalem kam, dass er mit den duldsamen Überlieferungen seiner Vor- gänger brach und in Jerusalem einen förmlichen Kultur- kampf zu entfesseln wusste. In der Hauptsache waren es zwei Vorgänge, die unter den Juden masslose Erbitterung und Erregung erzeugten, ja sogar zu hitzigen Revolten und blutig ausgehenden Strassentumulten führten: die öffentliche Aufstellung der Kaiserbilder in Jerusalem, die Beschlagnah- me des Tempelschatzes, um daraus die Kosten einer Was- serleitung zu bestreiten, die Jerusalem mit einer 36 Kilometer entfernten Quelle verbinden sollte. Man muss schon wissen, wie tiefsitzend in jüdischen Gemütern die Scheu vor abgöt- tischen Bildnissen ist eine Scheu, die ja noch heute aus den jüdischen Gotteshäusern jede Abbildung verdrängt man muss schon die Weihe und Heiligkeit aller Eirrichtungen kennen, die mit dem jüdischen Tempeldienst zusammenhängen, um die furchtbaren Wirkungen diesep^ behördlichen Mass- nahmen ermessen zu kcinnen.

Die wilde Erregung, welche die Anordnungen "des Pi- latus erzeugten, sie hat welthistorische Bedeutung, denn sie wurde der Ausgangspunkt einer religiösen Sektenbildung, die weiterhin wie wir noch sehen werden für die ganze' Weltkultur von weittragendster Bedeutung werden sollte. Wir müssen uns zum Verständnis dieser Entwicklung in die Seele des jüdischen Volkes jener Zeit hineinversetzen Wir dürfen nicht vergessen, dass die Juden damals nicht wie heute, wo sie sich zumeist bloss als konfessionelle Gemeinschaft empfinden, noch unbestritten eine Nation mit allen Ansprü- chen auf nationale Selbständigkeit, auf nationales Eigenleben waren. Je grösser der römische Druck wurde, je meisterhafter es Pilatus verstand, die Revolution in Judäa mit allen Mitteln einer Schreckensherrschaft zu bekämpfen, desto leidenschaft-

326 Vom Christentum.

lieber musste im Innern des Volkes die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft erwachen, desto heisser musste das Volk die Verwirklichung all jener prophetischen Weissagungen herbeiwünschen, wonach einmal der Tag kommen werde, da Israel unter dem Szepter des davidischen Königshauses em Leben der Freiheit und Selbständigkeit leben werde. Die Tyrannei des Pilatus führte zu eine r unerhörten Steigerung djer messianischen Sehnsucht. Je dunkler die Gegenwart war, desto heller war die Zukunft, von der man träumte, desto inbrünstiger wurde das baldige Kommen des Messias erfleht.

Schwer ist es für trockene, nüchterne Menschen des 20. Jahrhunderts, sich in die messianische Stimmung jener Zeit zurückzufühlen. Es ist schwer, doch nicht unmöglich Denn etwas ähnliches hat sich ja später nicht blos im 17. [ahrhundert wiederholt, als ebenfalls unter dem Emdruck von allerhand politischen Drangsalen messianische Träume die Köpfe benebelten, etwas ähnliches allerdings in etwas modernisierter Form erleben wir ja auch in unsern Tagen Haben denn nicht auch die furchtbaren Leiden des Welt- krieges messianische Stimmungen erzeugt? Ist denn der ewige Frieden, den ganz vernünftige Leute als Resultat des Welt- krieges erwarten, ist denn der Schrei nach Abmachung und Verständigung, von dem der Reichskanzler spra( h, etwas anders als eine moderne Verkleidung jener uralten jüdischen Idee von dem Kommen des Moschiach, von der Verbrüder- ung aller Völker, von der Verwandlung der Schwerter und Lanzen in Pflugscharen und Sensen? Noch immer hat poli- tisches Leid die Sehnsucht nach dem Moschiach geweckt. So war 's zu allen Zeiten. Und so war 's auch, nur noch in- tensiver und hitziger, auf dem heiligen Boden Judäas im 2. Jahrzehnt des 1- Jahrhunderts.

Das allgemeine Gefühl der Erlösungsbedürftigkeit wur- zelte jedoch nicht blos in den traurigen politischen Verhält- nissen Judäas. Auch die inneren religiösen Zustände vvaren verworrener als je. Es gab damals drei Parteien unter den

V'om Cbristentum. 327

Juden: die Pharisäer, Sadduzäer und Essäer. Die Pharisäer das waren die Anhänger des alten Judentums, die ihre Lebens- weise genau nach Gesetz und Überlieferung einrichteten. Es war der weitaus grössere Teil der Nation, der unentwegt an an der überlieferten Religion festhielt. Die Sadduzäer, die blös einen, kleinen, aber durch Reichtum und soziale Stellung sehr einflussreichen Bruchteil der Nation bildeten, emanzi- pierten sich von einem Teil des jüdischen Religionsgesetzes and zwar hauptsächlich ^von denjenigen Elementen der Thora, die ihrem Streben nach politischem Einfluss und un- beschränktem Lebensgenuss hinderlich waren. Die Essäer waren eine ZvVeigabteilung der pharisäischen Partei. Sie bildeten innerhalb der pharisäischen Partei einen religiösen Orden mit besonders strengen Regeln, unter welchen beson- ders hervorgehoben seien: Gütergemeinschaft, Ehelosigkeit, Gleichheit und primitive Einfachheit in Kleidung, Nahrung und allen Lebensbedürfnissen. So waren sie blos mit einem langen weissen Rock bekleidet, der an den Hüften durch einen Gurt zusammengehalten war. ' '

Die Zwistigkeiten zwischen .Pharisäern und Sadduzäern auf die wir in diesem Zusammenhang nicht näher einge- hen können waren nicht blos ein Verhängnis für den in neren religiösen Frieden, sie haben auch die politische Moral mi höchsten Grade- ungünstig beeinflusst. Es kam so weit, dass die römischen Landpfleger, nicht genug damit, dass sie sich das Recht anmassten, den jüdischen Hohepriester ein- und abzusetzen, gewohnheitsmässig die Hohepriesterwürde ein den Meistbietenden verkauften und, was noch viel schlim- mer, dass sich unter den Sadduzäern auch Leute fanden, die sich auf dieses noble Kaufgeschäft eingelassen haben. Auch zur Zeit des Pontius Pilatus war 's ein Sadduzäer, namens Joseph Kaiphas, der das Amt des Hohepriesters bekleidete.

Diese traurigen religiösen Verhältnisse trugen neben den politischenZuständen wesenilich dazu bei, um in weiten Kreisen der jüdischen Nation einen brennendenWunsch nach Besserung

328 - Vom Christentum.

und Gesundung, eine krampfhafte vSehnsucht nach dem Mes- sias zu erzeugen. Fand sich nun ein Mann, der, ausge- stattet mit allen Eigenschaften eines Volksführers, getragen von der messianischen Stimmung der Zeit, die Gunst des Augenblicks zu nützen wusste und es verstand, das er- lösende Wort zu sprechen und die erlösende Tat. wenn auch nicht zu vollbringen, aber doch phantastisch und bildkräftig an die Wand zu malen, so musste er ein leichtes Spiel haben, wenigstens einen kleinen Kreis von Schwärmern und Gläubigen um sich zu sammeln und sich selbst als den providentiellen Messias, als den von Gott selbst gesandten Erlöser und Befreier eines nach Erlösung und Befreiung schmachtenden Volkes zu proklamieren. Ein solcher Mann fand sich in der Tat in einem kleinen Städtchen in Nieder- galiläa, südlich von Sepphoris : es war Jeschua aus Na- zaret, der Stifter des Christentums.

IL

Wir Juden dürfen uns nicht berufen fühlen, die rätsel- haften Vorgänge jener Zeit im einzelnen darzustellen oder gar darüber ein kritisches Urteil abzugeben. Wir dürfen nie- mals vergessen, dass diese Vorgänsie unseren christliche^n Mitbürgern ein unantastbares Heiligtum bedeuicn. jSchon aus Gründen des Taktes müssen wir darum hier die grös-^te Vorsicht walten lassen. Die gleiche Toleranz, die wir von unsern christlichen Mitbürgern für unsern Glauben verlan- gen, müssen wir auch dem ihrigen entgegenbringen. Natür- lich braucht uns dieser Takt nicht zu hindern, der Wahrheit, wie wir sie verstehen, die Ehre zu geben und ohne weiteres zu behaupten, dass im Sinne unseres Glaubens die welt- geschichtliche Mission des Christentums darin besteht, die Weltkultur mit jüdischem Geiste, mit jüdischen Gedanken zu durchdringen. Um diese Behauptung zu rechtfertigen, dazu genügt es vollkommen, wenn wir uns aus der Ge- schichte der Entstehung des Christentums nur die wichtig- sten, grundlegenden Tatsachen vergegenwärtigen.

Vom Christentum. 329

Wir haben hier zwei Dinge scharf auseinanderzuhalten : das Wollen und Wirken des Stifters der christlichen Religion auf der einen, das Wollen und Wirken seiner Nachfolger auf der andern Seite. Die -Lebensarbeit des ersteren galt aus- schliesslich der jüdischen Nation, die der letzteren der gan- zen Welt. Es ist im Grunde genommen nicht richtig, wenn manjeschua aus Nazar^t als den Stifter einer neuen ReHgion bezeichnet. Seine Absicht war keineswegs, eine neue Reli- gion zn begründen soll er doch persönlich die jüdischen Ceremonialgesetze, wie Sabbath, Speisegesetze [etc. streng befolgt haben sondern im Gegenteil die alte jüdische Re- ligion im Volke zu befestigen und Judäa vom römischen Joche zu befreien. Hätte er es unterlassen, sich selbst als den von den Propheten angekündigten und von Gott ge- sandten Messias zu bezeichnen und seine Sendung durch Wundertaten beglaubigen zu wollen, so hätte der Gerichts- behörde in Jerusalem, dem Sanhedrin, jeder Rechtsgrund ge- fehlt, ihn unter dem Vorsitz des Hohepriesters Kaiphas zum Tode zu verurteilen. Denn abgesehen von seinen messia- nischen Ansprüchen lief seine Lehre im grossen und ganzen auf ein essäisches Judentum hinaus. Diesen Zusammenhang mit dem Judentum hat das Christentum bis auf den heutigen Tag nicht zu lösen vermocht. Weltfeindlichkeit, Verachtung des Reichtums, Ehelosigkeit, Gütergemeinschaft, Verwischung der Grenzen zwischen Glauben und Aberglauben: man muss schon sehr kurzsichtig oder eigensinnig sein, um hier die Verwandtschaft des Christentums mit dem jüdischen Essäer- tum zu verkennen.

Ist aber auch das Christentum zur Zeit seines Stifters eine interne jüdische Streitsache gewesen, die vor dem Fo- rum des Sanhedrin erledigt werden musste, so hat es doch die Tragik des jüdischen Volkes jzefügt, dass dieses jüdische Todesurteil zu Israels schmerzlichstem und blutigstem Ver- hängnis werden sollte. Man vergass im Laufe der Zeit, dass dieses Todesurteil nicht bloss ein Akt der jüdischen Rehgi- onsbehörd«^ sondern auch eine Massnahme der römischen

330 - Vom Christentum.

btaatsljehördc vvai. Jeschua aus Nazaret musste aus doppelten Gründen, aus religiösen und politischen, verurteilt werden. Er musste sterben, wed er 1) mit seinen messianischen An- sprüchen in einen verhängnisvollen Gegensatz zur jüdischen Religion geriet und weil er /j mit seinen politischen Tenden- zen zur Befreiung Judäas aus römischem Joche der römischen Regierung als rex Judaoreum, als König der Juden, als Staatsverräter galt. Nicht bloss das jüdische Sanhedrin, auch der römische Landpfleger Pilatus hat ihn zum Tod verurteilt. Ja, die ganze Art und Weise, wie er hingerichtet wurde die Geisselung vor dem Tode, die Kreuzigung, die Dornen- krone — dem jüdischen Kriminalrecht ist sie fremd - das war alles Pilatus' Werk. Und wenn in den kommenden Jahrhunderten die aufreizende Vorstellung dieses grausigen Todes zur Überschwemmung der Erde mit einem Meer von jüdischem Blut und jüdischen Thränen führte, während Rom frei ausging, so beweist dieses Unrecht nur, dass Israel, wie so oft, so auch hier, für die Sünden anderer bluten- für die Schuld seines eigenen Erbfeindes büssen musste.

III. Es ist ein uralter jüdischer Gedanke, dass es keinen Menschen gibt, der imstande wäre, den Wert seines eigenen Lebens und dessen Bedeutung für die Folgezeit zu beurteilen. Wir alle, die Grösten und die Kleinsten, sind Werkzeuge ui Gottes Hand. Vielleicht die wunderbarste Bestätiiiung dieses Gedankens bietet uns die Entstehungsgeschichte des Chris tentums. Hat sein Siüter bis zu seinem Tode nur die Be- freiung und Erlösung Judäas im Auge gehabt von den Heiden wollte er nichts wissen, denn man darf die Perlen, wie er sagte, (dies Wort stammt von ihm) nicht vor die Säue werfen von der weltkulturellen Bedeutung seiner Lehre ahnte er nichts so haben seine Nachfolger dafür gesorgt, dass die Perlen des Judentums auch vor die heidnischen Säue geworfen wurden, dass die jüdisch'en Ideen, die ihr Meister verkündete, die ganze Weltkultur auf eine neue Basis stellten. Es kann nicht unsere Aufgabe sein,

Vom Christentunö. 331

hier im einzelnen zu schildern, wie sie das fertig gebracht haben.j Bios die wichtigste Tatsache sei hervorgehoben, dass der alte jüdische Glaube in der Hand der Apostel, ins- besondere des genialsten unter ihnen, Paulus, eine tiefgrei- fende Umgestaltung, Abschleifung und Anähnelung an das Heidentum erfahren musste, ehe er seinen Siegeszug durch Länder und Völker antreten konnte. Wohl war es nicht mehr das alte Judentum mit dem ganzen Reichtum seines unbegriffenen Inhalts, das hier gelehrt wurde, immerhin, auch die vereinzelten Blüten vom Baume des Judentums genügten, um die morsche, lebensmüde heidnische Welt vor dem völ- ligen Untergang zu retten, um verzweifelnde Gemüter noch einmal mit dem Glauben an den Anbruch eines Weltfrühlings zu erfüllen. Wir müßten es verstehen, uns in die Zustände und Stimmungen der damaligen römischen Welt völhg ein- zufühlen, um ermessen zu können, wie revolutionirend es auf die Menschen jener Zeit gewirkt haben muss, als sie ge- wahrten, wie da in langsamem aber sicherem Prozess die Weltkultur mit jüdischem Geiste sich durchsetzte, als sie den Geist des Judentums über die Brücke des Christentums wie einen Eroberer auf sich zukommen sahen. Man muss den Gegensatz zwischen antiker und christlicher Welt- anschaung vierstehen, um den Einfluss des Judentums auf die Weltkultur zu ermessen. Ist es nötig, diesen Einfluss im einzelnen nachzuweisen?

So gar manches tragen die Menschen seit vielen Jahr- hunderten in und mit sich herum, ohne zu wissen, wie schwer ihr Lebensgepäck mit jüdischen Edelsteinen beladen ist. So ist z. B. der Begriff der Menschheit ein jüdisches Patent Die alten Völker kannten keine Menschheit, sie kannten nur sich, nur ihren eigenen Stamm, nur ihre eigene Nation, alle anderen galten ihnen als „Barbaren". Da kam, das Juden- tum und predigte die Zusammengehörigkeit aller Menschen: Alle Menschen sind Kinder des einen und desselben Gottes. Der Begriff der einen Menschheit hängt mit dem Begriff des einen Gottes zusammen. Nur dann, wenn alle Menschen

332 Vom Christentum.

einen Gott haben, giebt es etwas, was sie innerlich zusam- menhält und sie aus einem Rudel wilder Tiere in eine Fa- milie vofi gesitteten Menschen verwandelt. Hüten wir uns, den Einfluss dieser grossen jüdischen Idee auf die Welt- kultur zu unterschätzen. Man pflegt die Antike im Hinblick auf die Zeit der Renaissance als die Wiege der modernen Weltkultur zu bezeichnen. Es ist nicht wahr. Wir könnten uns die moderne Weltkultur viel leichter ohne Griechentum als ohne Judentum denken. Das künstlerisch bewegte und orientierte Griechentum hat die Schönheit des menschlichen Leibes entdeckt, das religiös bewegte und orientierte Juden- tum hat die Schönheit der menschlichen Seele entdeckt. Was wäre aber die Weltkultur, wenn ihr gerade die Ele- mente fehlten, die ihr aus der Schönheit der menschlichen Seele erblühten. Über die Unverlierbarkeit dieser Seelenschön- heit dürfen wir uns keiner Täuschung hingeben. Selbst in dem blutigen Graus der Gegenwart verleugnet die Seele ihre Schönheit nicht. Denn so furchtbar dieser Krieg ist, so ge- wiss er auch den Anschein des Bankrotts der Weltkultur er- weckt, und so gewiss unsere heutige Generalion Gefahr läuft, durch Überspannung des nationalen Gefühles den Begriff der Menschheit wieder zu verlieren und damit wieder in die Barbarei des Altertums zurückzufallen, so wird doch Jeder- mann zugeben, dass z. B. all die reinmenschlichen Gross- taten, die auf dem Gebiete der sozialen Fürsorge geschehen und noch geschehen werden, ebenso viele Beweise für die Unzerstörbarkeit der sozialen Ethik im Kreise der Men- schen sind. Es giebt aber keine soziale Ethik, die, wenn sie diesen Namen wirklich verdient, nicht im Judentum ver- wurzelt wäre. Ist es denn ein Zufall, dass die jüdische Wohltätigkeit einen Glanz ausstrahlt, der selbst das Auge unserer Gegner blendet? Die christliche Kirche ist mit Recht stolz auf die Wohltätigkeit, auf die Caritas, die sie seit den Tagen ihres Stifters übt. Wo hat- sie diese Caritas ge- lernt '? Im Judentum. Es war kein Zufall, dass in urchrist- licher Zeit die christliche Gemeindekasse den hebräischen

Vom Christentum. 333

Namen „Corbona" (Opfer) trug. Und wenn in den aposto- lischen Konstitutionen die Christen verpflichtet wurden, von ihrer Habe die Erstlinge und den Zehnten zu spenden, so haben sie auch dieses nicht aus den Fingern gesogen, so haben sie auch dieses dem Judentum entnommen. Der Un- terschied zwischen jüdischer und christlicher Caritas besteht bloss darin, dass die „apostolische" Forderung „Maaser" zu geben, in jüdischen Kreisen immer noch strenger einge- halten wird als in christlichen, was leicht zu beweisen wäre, wenn sich die Statistik nur einmal entschliessen wollte, nicht bloss die Juden, sondern auch das von Juden Geleistete zu zählen.

IV. Der Gegensatz zwischen antiker und christlicher Welt- anschauung: darin haben wir in erster Linie den Einfluß des Judentums auf die Weltkultur zu sehen. Es wäre aber eine ungeschichtliche Vorstellung, wenn wir den Einfluß des Ju- dentums auf die Weltkultur nur in dieser Herausarbeitung eines Gegensatzes zwischen antiker und christlicher Weltan- schauung erblicken wollten. Denn das weltgeschichtliche Verdienst des Christentums besteht nicht bloß darin, die ver- derblichen Elemente der antiken Kultur überwunden, sondern auch ihre guten Elemente in die Neuzeit hinübergerettet zu haben. Als zur Zeit der Völkerwanderung das damals noch wirklich barbarische, weil rohe und rauhe Germanentum mit seiner urwüchsigen Kraft das römische Weltreich berannte, da waren auch die wertvollen Bestandteile der alten Kultur in Gefahr, für alle Zeiten vernichtet zu werden. Ihr Retter war und zu ihrem Beschützer wurde das Christentum, welches die unkultivierten Germanen in seine Lehre nahm, um sie durch religiöse Unterweisung für höhere Dinge empfänglich zu machen. Aus sich sel1)st heraus hätten die Deutschen niemals zur Höhe ihrer heutigen Kultur sich entwickeln können, wenn sie nicht das ganze Mittelalter hindurch beim Christentum in die Schule gegangen wären. Welche Mittel waren es aber, mit welchen das Christentum die barbarischen

334 Vom Christentum.

Germanen kultiviert hat? Nun, wir brauchen uns nicht zu ge- nieren, etwas zu behaupten, was die Gebildeten unter unseren christlichen Mitljürgern ohne weiteres zugeben werden: Die jüdische Bibel war das erste Buch, in welchem die Deutschen buchstabieren lernten, unsere alte, heili- ge Thora war's, aus der das deutsche Volk die An- fangsgründe seiner Kultur empfing Lange bevor das Judentum daran dachte sich dem Deutschtum zu assimilieren, hatte sich das Deutschtum dem Judentum assimiliert. Ist das nicht eine historische Tatsache, auf die wir Juden stolz sein dürfen ? Haben wirs schon einmal gründlich durch- dacht, was das heißt, daß unsere alte jüdische Bibel es ist, welche die Weltkuitur auf eine neue Basis stellte, was das bedeutet, wenn seit vielen Jahrhunderten unsere jüdischen Psalmen es sind, die in allen christlichen Kirchen des Erd- balls rezitiert und gesungen werden ? Ja, an den Worten eines jüdischen Sängers erheben und erbauen sich noch heute unsere christlichen Mitbürger in Freud und Leid, im Hochgefühl ihrer Freude und in den Stunden ihrer Bedräng- nis. Denn so wie David hat es niemand verstanden, dem Auf und Nieder der menschlichen Seele zu folgen, so wie er hat es niemand fertig gebracht, religiösen Gemütern ein treuer Begleiter zu sein von der Wiege bis zum Grabe.

Wie eifrig man darum auch in weiten Kreisen bemüht sein mag, den Einfluß des Judentums auf die Weltkultur zu bestreiten, oder, was im Grunde noch viel schlimmer ist, iiesen Einfluß an mehr oder weniger materiellen Dingen, an lier Zahl der judischen Geschäfte, an der Teilnahme der Juden an Wissenschaft, Rudsi, Politik usw abzulesen wir wollen die Einschätzung unseres Wertes uns selber vor- behalten. Wir wollen die Geschichte befragen, und nur das, ^as sie uns über den Einfluß des Judentums auf die Welt- kultur verrät, soll und darf uns maßgebend sein.

V.

So interessant es wäre, den historischen Einfluß des Ju- dentums auf die Weltkultur in weiteren Einzelheiten zu ver-

Vom Christentum. 335

folgen und insbesondere mit der Frage uns zu beschäftigen, was sich vom Standpunkte des Judentums über die weitere Entwicklung des Christentums bis aus die Gegenwart sagen jässt, so wollen wir uns doch in die inneren dogmatischen Nöte des heutigen Christentums nicht einmischen. Nur eines wollen wir noch zum Schlüsse betonen. Es ist bekannt, dass die Kirche in der Gegenwart lange nicht mehr den Einfluss besitzt, den sie in früherer Zeit gehabt hat. Schuld an diesem Schwinden ihres Einflusses ist vor allem der uralte Gegen- satz zwischen Glauben und Wissen, zwischen Religion und Kultur, ein Gegensatz, der eben in der Neuzeit viel schärfer geworden ist, als er in früherer Zeit war. Es ist? nun er- schütternd zu sehen, wie gerade die unjüdischen Elemente des Christentums es sind, die in ihrer Unverträglichkeit mit der Weltkultur bei hervorragenden Christen ich erinnere nur an Naumann einenJZerfall mit ihrer Religion herbeifüh- ren. Wohl sind innere Nöte auch uns nicht fremd. Sie dür- fen und werden aber niemals so stark sein, um den uns allen gemeinsamen Stolz auf unsere grosse jüdische Vergangen- heit zu erschüttern. Denn nicht Selbstüberhebung ist's, son- dern ein Gebot geschichtlicher W^ahrhaftigkeit, wenn wir Ju- däa als die Wiege der Weltkultur betrachten.

R. B.

336 Über die Grundideen des Buches Hiob.

Über die Grundideen des Buches Hiob.

Von Oberrabbiner Dr. Hermann Klein-Kismarton (Eisenstadt).

Von jüdischer und nichtjüdischer Seite ist so viel über dieses Buch geschrieben worden, dass es als Kühnheit erscheinen dürfte, etwas Neues sagen zu wollen. Zweck der folgenden Ausführungen ist auch nicht etwas Originelles zu bieten, wie sie auch nicht den Anspruch erheben, überall neu zu sein. Sie sollen blos in mögJ liebster Kürze das Ergebnis meiner Untersuchungen geben, die ausführlich im zweiten Bande meines Buches „Chochmoh ira Nachloh" in hebräischer Sprache dargelegt werden sollen.

Die Gestalt des Hiob hat Deifker, Künstler und Dichter schon vielfach beschäftigt. Die düstere und doch erhabene Gestalt hat etwas Fascinierendes, dass sie den Betrachtenden förmlich in ihren Bannkreis zwingt ; man wird den müden, verzweifelten Blick des Leidenden, das vor Schmerz erstarrte Antlitz nicht so bald los. Unser Geist nnd unsere Phantasie sind beide ergriffen und es ist daher kein Wunder, wenn dieses Buch die Kommentatoren so leb- haft angeregt und beschäftigt hat. Es kommt dann noch hinzu, dass ja kein Mensch von Leid frei ist, dass jeder sich oft als Hiob dünkt und wie sollte da ein Buch, in dem das Leiden, der Schmerz im Mittelpunkte stehen, in dem das Weh des Menschtn das Problem ist, um das sich alles dreht, nicht das lebhafteste Interesse des Menschen erregen. Wir sagen, dass das Leiden und das Weh des Menschen im Mittelpunkte des Buches stehen. Wir haben damit schon unseren Standpunkt in grossen Umrissen ge- kennzeichnet. Allgemein wurde angenommen, dass das Buch das Problem der Theodicee zum Gegenstande hat, von anderen wieder, dass es die uralte Frage des ih mal v^l "iS pl pnx, warum es den Gerechten oft schlecht und dem Bösewicht ^ut ergeht, beant- worten will, aber wir glauben, dass^ auch dieses Buch, wie die meisten heiligen Schriften, uus nicht Ansichten über Gott n"n ver- mitteln will, sondern die Ansichten Gottes über den Meuschen. Es ist dies eines der wichtigsten Forschungsresultate Rabbiner Hirschs h"^"!, dass es unseren tt*np ^^DD fast nie darum zu tun ist,

über die Grundideen des Buches Hiob. 337

uns Ansichten über unseren Schöpfer, sondern fast immer darum, uns die Ansichten unseres Gesetzgebers über den Menschen zu vermitteln. Es kommt auch wenig darauf an, wie und was wir über Gott denken, und alles darauf, was Gott von und über uns denkt. So ist auch in diesem Buche nicht Gott, sondern der Mensch im Mittelpunkte des Problems. Wie wirkt das Leid auf den guten, sittlichen Menschen? Wird das Leid ihn bessern, läutern oder ihn abtrünnig machen? Das ist die eine Frage. Die zweite Avieder : Wird er durch das Leiden an sich selbst irre werden, wird er seinen Freunden Glauben schenken, dass er mo- ralisch wertlos, dass überhaupt kein Mensch auf moralische und sittliche Integrität Anspruch erheben darf, dass jeder Mensch sün- digen müsse. Hat er dieses zugegeben, so hat Satan gewonnenes Spiel, denn in diesem Falle hat der Mensch sich selbst verloren, da es ja für den Menschen eine Unmöglichkeit ist, sittlich lauter zu sein, wozu also nach sittlicher Vollkommenheit ^streben ? Be- hauptet er aber, dass er rein und makellos dastehe, dass er nie gefehlt, dass er die moralische Integrität erreicht, so wird sein Leiden zu einem Unrecht Gottes, d. h. wenn er eben das Wesen des Leidens als |VDJ als eine von Gott gewollte sittliche Erhöhung durch Versuchung nicht begreift und dann hat der Mensch seinen Gott verloren. (Vgl. über fVD3 Hirsch, Kommentar zu noj D^pSKm omax riM») In Kürze, der Mensch darf den Glauben an seine ihm innewohnende Fähigkeit zur Erlangung der höchsten Stufen der Sittlichkeit nicht verlieren, da er sonst ein Diener Satans wird; er darf aber auch durch das Leiden nicht den Glauben an die Gerechtig- keit Gottes verlieren, da er auch dann aufhört, ein Diener Gottes SU sein. In beiden Fällen hat Satan den Sieg davon getragen. Es muss eben eine andere Lösung gefunden werden und diese wird in der Erklärung des Wesens des Leidens gefunden und in der Erkenntnis, dass der Mensch sich weder alle Rätsel in der Natur noch die im menschlichen Leben lösen kann, weil er nur Mensch ist« Es ist selbstredend, dass auch andere Probleme im Verlaufe der Dialoge Jberührt werden, so namentlich das Problem des pHif lS 3lt3l y^'^ iS vm, ferner das Problem von Determinismus und Wil: lensfreiheit, wie unsere Weisen in T'B Kina Nai HDDö bemerken -

338 Über die Grundideen des Buches Hiob.

nK-i3 py p nxnn mtsiSp vmD"ic *nön riNin mpno vmonc "iitr^ nsnn ] |n'Sv 3DJ?ö D^pn^f riKID D^V^I riKin OJn^J, dass Hiob die Willens- freiheit in Abrede stellte, (vgl D"ntt'i z. St. und nn:K ^m^n K"r*i,"i)2 da er ja irgendeine Erklärung für die Tatsache seines Leidens suchte, ohne das Bewasstsein seiner Reinheit und moralischen In- taktheit aufgeben zu müssen und so verfiel er auf den Gedanken, dass es überhaupt kein Verdienst sei gut und sittlich zu sein, dass sowohl im Universum als auch im Menschen blinde Notwendigkeit herrsche, da er sich sonst seine Schmerzen nicht erklären könne, da er sich keines Unrechts bewusst sei, worauf ihm nach dem Worte der Weisen seine Genossen sehr richtig bemerkt haben : nnx f]N 'itih nrf^i^ vnjm nKl^^ian, wenn du die menschliche Freiheit leugnest, so kannst du ruhig dein Pochen auf deine moralische und sittliche Reinheit aufgeben, oder noch richtiger, du hast es ja damit schon preisgegeben, denn mit der Preisgabe der mensch- lichen Freiheit „hast du jede. Gottesfurcht im Grunde zerstört und den Wert des Wandeins vor Gott sehr herabgestimmt". (mt^^n mü'S von mT"^). Dies liegt in der Natur der Sache, da ja Hiob nach einer Erklärung ringt und auch seine Freunde ihm seine Qualen deuten wollen, so müssen ja alle diese Grenzprobleme berührt werden, aber sie werden eben nur flüchtig berührt, sie bilden nicht den Kern des Buches. Die Fragen, um die es sich hauptsächlich dreht, sind die von mir angedeuteten. Wird Hiob den Glauben an sich selbst, an seine Fähigkeit zur Sittlichkeit, oder an Gott verlieren, dann hat Satan gesiegt, oder aber er ringt sich zur Klar- heit und Wahrheit durch, er erkennt das Wesen des Leidens, es erschliesst sich ihm der Begriff des fVD:, der mit dem Glauben an DTiön nTin engverwachsen ist und der Mensch hat gesiegt, Gott hat seinen treuen Diener behalten. Hiob konnte von selbst auf den Gedanken des |VDJ nicht kommen, da er, wie unsere Weisen in r'12 Xinn Mnn meinen, den Gedanken von D^nön n^nn nicht kannte. D'^non n^nna IDD 2VH heisst es daselbit und da konnte er auf den Gedanken des |VDJ nicht kommen, dass das Leid den Menschen erhöhe, da er ja sich immer fragen musste. wie er denn dafür, dass er doch gelitten, dass er durch sein ganzes hieniediges Leben

über die Grundideen des Buches Hiob. 339

Schmerz getragen habe, entschädigt werde. Die sittliche Erhöhung und Vertiefung der ganzen Persönlichkeit durch das Leid erschien ihm als eine nicht ganz genügende Recompensation für das Leid und es ist auch keines, wenn der Sinn des ganzen Lebens das diesseitige Leben ist, wenn es keine Fortdauer der Persönlichkeit mich dem irdischen Tode giebt.' Die Erkenntnis über das Wesen des Schmerzes und dem Gedanken von den ewigen Sein des Men- schen dämmert nvN langsam auf; Ausdruck verleiht diesen Gedan- ken die einzige jüdisch sprechende Person im ganzen Buche, Elihu, und Hiob erblickt Gott und ist gerettet.

Versuchen wir nun in grossen Zügen uns den Gang der Handlung zu vergegenwärtigen und betrachten wir die Dialoge, so Averden wir sehen, dass es sich in diesem Buche hauptsächlich um diese Fragen dreht; wenn auch, wie gesagt, auf alle Grenzproble- me hie und da Streiflichter fallen.

Hiob war ein reicher und glücklicher Mann und dieser Mann war j,nö IDI D\"iS« KIM ^i'^''] nn fromm, gerade, gottesfürchtig und mied das Böse. Ob die letzte Eigenschaft nicht eine Einschrän- kung bedeutet, bildet den Gegenstand einer Kontroverse. Wir haben den Eindruck, als ob die Frömmigkeit des Hiob mehr ne- gativer Art ist, keine aktive, lebendige Frömmigkeit. Nach den Gelagen seiner Söhne bringt Hiob Opfer dar, „denn vielleicht haben meine Söhne gesündigt und in ihrem Herzen Gott gelästert." Aktive Frömmigkeit hätte, anstatt hinter dem Rücken der Kinder Opfer darzubringen, die Kinder von Angesicht zu Angesicht über ihr Tun und Lassen zur Rede gestellt. Aber Hiob ist kein Freund der Aufregung. Er bringt Opfer für seine Kinder dar und hat damit sein Gewissen' beruhigt. Und vielleicht sollte das Leid ihn aus dieser mehr negativen Frömmigkeit aufrütteln. Gott sitzt auf seinem Trone und die himmlischen Scharen versammeln sich um Ihn. Auch Satan erscheint unter den himmlischen Scharen. Da fragt Gott den Satan: Hast du deinen Sinn auf meinen Knecht Hiob gerichtet, denn es giebt nicht seinesgleichen auf Erden fromm, gerade, gottesfürchtig, das Böse meidend. Satan beanstandet den sittlichen Wert Hiobs und sagt : Fürchtet denn Hiob dich um- sonst? Du beschützest ihn ja und die Seinigen, seiner Hände

340 Über die Grundideen des Buches Hiob.

Werk hast du gesegnet und sein Besitztum breitet sich aus im Lande. Doch strecke einmal deine Hand aus und greife sein Eigen- tum an, ob er dich nicht ins Antlitz lästern wird?! Nun tolgt Schlag auf Schlag. Die Hiobsboten kommen und verkünden Un- glück, seine Kinder werden hinweggerafft, seine Habe wird ge- plündert, alles geht zugrunde, aber Hiob spricht demutsvoll: ,Gott hat gegeben, Gott hat genommen, der Name Gottes sei gepriesen". Doch die Prüfung wird fortgesetzt. Hiob wird von einem bösar- tigen Aussatz heimgesucht. Er sitzt in Asche und Teile der nek- rotisierten Haut lösen sich von seinem Leibe. Hiob duldet schwei- gend, weist das Ansinnen seines Weibes, Gott zu lästern, mit der grössten Heftigkeit zurück : Snp mtsn m d: nmn mS:ijn nna 1212 2Va Kc:n nh nai Sdd SnpJ ah j?in rixi D'nSKn nxö „Wie eine der nichts- würdigen Frauen würdest du auch dann sprechen, wenn wir das Gute von Gott erhielten, da wir das Unglück nicht annehmen sollen". Wer beim Unglück Gott zu lästern imstande ist, der wird auch für das Gute Gott nicht dankbar sein. (Diese Erklärung will die Schwierigkeit des d3 im Satze lösen). Hiob weist also den Gedanken einer Gotteslästerung weit von sich. Es kommt ihm gar nicht in den Sinn, Gott zu fluchen oder zu murren. Er will ge- duldig sein hartes Geschick ertragen. Erst die Zumutung seiner Freunde, in dem Unglück die wohlverdiente Strafe Gottes für seine sittliche Minderwertigkeit zu erblicken, lässt ihn Worte hervor- stossen, die bereits nahe an Gotteslästerung streifen. Seine drei Freunde, Eliphas, Bildad und Zofar besuchen ihn, um ihn zu trösen. Sieben Tage und sieben Nächte sitzen sie stumm und in dieser bleiernen Stille bereitet sich ein fürchterlicher Ausbruch Hiobs vor. Hiob verflucht sein Leben, den Tag seiner Geburt und wünscht sich lebhaft den Tod, der für ihn das Ende ist : Warum dem Müh- seligen Licht geben, dem Verbitterten Leben ? Die harren doch auf den Tod, der nicht kommen will, die graben n^ch ihm mehr denn nach Schätzen, I3p IXifO' '2 lt^''ü>'' h'i 'hü D'HOti'n, die nur die eine Freude haben und mit der Aussicht auf den Jubel froh- locken, den sie anstimmen werden, wenn sie das Grab gefunden haben. Er verflucht sein Geschick, aber weder lästert er Gott noch murrt er gegen ihn.

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Da beginnt Eliphas und teilt ihm ein Gesicht mit, das ihm geworden .,in nächtlichen Erscheinungen, da tiefer Schlaf die -Men- scben überfällt, da stahl sich zu mir leis ein Wort, mein Ohr ver- nahm nur einen Teil davon, will der Mensch von seinem Gott als gerecht, das Geschöpf von seinem Schöpfer rein gesprochen wer- den ? Siehe, traut er doch seinen Dienern nicht, ja seine Engel selbst sind nicht makellos, um wie viel weniger die in Lehmhütten Wohnenden, deren Grundstoff Staub ist tf>y 'is'? q\hdt. Lehm und Staub prädestiniren sie ja, Frass der Würmer zu werden. *ipnö inr* 2iyh. Vom Morgen bis znm Abend werden sie bedrückt ^'5312 D'li>0, wenn sie sich dies nicht zu Herzen nehmen und bekennen, (lass dies sie mit Recht wegen ihrer Sünden betroffen nax' nifjS. sind sie für ewig verloren. C3 D"in' VDJ N^n. Dann ist ja hin- geschAvunden, was den Schmerzen als Vorzug innewohnt und die vom Leid Betroffenen sterben aus Mangel an Weisheit. Darum poche nur nicht auf deine Unschuld, es ist grenzenlose Überhebung, wenn der Mensch glaubt, makellos vor Gott da zu stehen. Nimm deine Leiden als Strafe für deine Sünden bin, denn ,,Heil dem Menschen, den Gott züchtigt, verschmähe nicht die strafende Zu- rechtweisung des Allmächtigen." Dreimal wiederholt Eliphas diesen Gedanken und die beiden anderen Freunde wissen auch nicht viel Besseres zu sagen. Sie bieten Hiob wenig Trost, sondern ver- wunden ihn tief schmerzlich, denn Hiob will nicht das Bewusstsein seiner Unschuld aufgeben, will es nicht glauben, dass der Mensch unfähig ist, die sittliche Reinheit zu erreichen, da ja sonst alles Streben nach Sittlichkeit keinen Sinn hätte, da ja das Ziel für den .Menschen unerreichbar ist. Doch schaudert er auch vor der an- deren Konsequenz zurück, es aussprechen zu müssen, dass Gott ihm Unrecht zufüge. ,,0 würde doch mein Verlangen erfüllt . , .

»i»np nöK 'mn:i ah '2 „0 möchte doch Gott sich entschliessen, mich ganz zu zermalmen, möge er doch Seiner Hand freien Lauf lassen, auf mich zerstörend nieder zusausen und ich hätte den einen Trost in diesem erbarmungslosen Weh, dass ich die Worte des Heil 'gen nicht verleufrnet." Sterben möchte er rein, bevor er sich gegen Gott versündigt. Nun wendet er sieb gegen seine Freunde. Liebe

342 Über die Grundideen des Buches Hiob.

erwartet der Leidende von seinen Freunden und ihr kommt mir mit frommen Redensarten. 2^^ '1^ riNl^l lon inyiö DöS. „Ihr seid mir untreu geworden wie ein Wüstenbach auf durchglühter Steppe, auf den die lechzende Karawane wartet. Im Winter von Schnee geschwängert, fliesset er dahin, im Sommer aber, wo man Labsal von ihm erwartet, ist er verschollen. iKi^ni nnn "iKin üh nn'\i nny '2. Wäret ihr noch das, was ihr wäret, ihr würdet gar nicht den Schrecken sehen und euch fürchten mir beizustehen oder nach dem np: ^h Dr\'"n nny ':> nun seid ihr ganz sein, ganz Gottes, da ihr das Schreckliche sehet, fürchtet ihr euch, mir noch Freund zu sein. Was verlange ich denn von euch ? Habe ich denn gesagt, dass ihr von eurer Kraft für mich verschwendet, erlöset mich von Fein- des Hand und errettet mich aus der Gewalt des Unterdrückers? Belehret mich und ich will schweigen und worin ich geirrt, lasset mich begreifen. tj^Ni: nöN mnSi nif^nn d^So n^DinSn. Sind denn Worte schon Unterweisung und haltet ihr für Geist Worte der Verzweiflung ? Was ihr mir ratet ist Resignation, Verzicht auf meine Menschenwürde, nn 'plif um meine Gerechtigkeit handelt es sich und ich kann sie nicht preisgeben. Ich weiss ja, dass Heeresdienst hat der Mensch auf Erden und wie Tage des Miet- lings sind seine Tage. Wäre er dem Knechte gleich, Sif F]Nti>', würde er nach dem Schatten, sich auszuruhen, lechzen, lS>'D mp'' "i^D'^D) aber als Mietling harrt er seiner Arbeit, da ja nur die Arbeit sein Leben fristet. So arbeitete ich durch Monde und Jahre und nun als Lohn ist mein Fleisch in Wurm und Staubeskruste gekleidet. 0 wäre ich doch tot ; der Wolke gleich, die sich auflöst und ver- schwindet, so ist der, der]^in die Gruft hinabsteigt, er kommt nicht wieder. Und der sterbliche Mensch, warum ist er so gross auf einmal, dass du deinen Sinn auf ihn richtest. Und wenn ich gar, wie meine Freunde behaupten, gesündigt hätte, was tat ich Dir Menschenbildner, warum hast Du mich zur Zielscheibe ausersehen, dass ich mir zur Last geworden bin, warum vergiebst Du meine Schuld nicht mir, dem sterblichen Menschen, der sich in den Staub legt und nicht mehr da ist ?"

Doch ich habe gar nicht gesündigt und nun spricht er es / aus : ^Jt^^pvi 'JX an '•JV^'I' 'Q piax dn „Wenn ich gerecht bin und

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es ausspreche, so verdammt mich mein Mund, da ich damit Gott in Unrecht setze, wenn ich unschuldig bin, so verstrickt mich dies. ''rt DNöN ''^ü: yiN ah ':k an ,,Bin ich schuldlos, so begreife ich meine Seele nicht, begreife nicht, warum mir mein Leben zur Last ist? nS^o Nin ytrm nn ^nnöi^ p hv N\n nn« Es ist ja ganz einerlei, darum spreche ich es aus, den Frommen wie den Bösewicht ver- nichtet er. Es ist für mich einerlei, ob ich den Glauben an die Gerechtigkeit Gottes aufgebe, dann hat alles sittliche Streben kein Ziel, dann herrscht ja Willkür. aiNnö n'^' t2lli> DK Da tötet die Geissei blindlings j?^l T-i n:nj pK und die Erde ist in Tyrannen- hand, oder aber muss ich unbedingt Bösewicht sein yiJ^lK "'3JN yya San nt nöS wozu mühe ich mich dann vergebens ? Wenn ich mich in Schnee bade und meine Hände mit Lauge reinige, dann tauchst Du mich in die Pfütze, dass meine Kleider sich ekeln vor mir". Das ist die fürchterliche Tragik, die Kollision, von der er keinen Ausweg findet. Für sein ferneres moralisches Leben ist es für ihn einerlei, ob er ausspricht nhzü Nin yu^m on oder 'JiN V^'^a beide Alternativen sind gleich schrecklich •, darf er Gott des Unrechts zeihen, darf er an seiner Fähigkeit zur Sittlichkeit ver- zweifeln? Er wandelt zwischen Abgründen und es ist kein Wun- der, wenn er ausruft : ^Tin 'U>q: n^pi Aleinen Geist ekelt mein Le- ben an ! Nun wendet er sich mit inniger Bitte an Gott, dass er ihm doch seine Sünden bekanntgebe, damit er sich doch bessern könne, denn das Leid kann Strafe sein, wenn der vom Leid Be- troffene sein Vergehen kennt, •'jymn TiH'^n'i 'Vli^Q mNLsm mJIJ? 'h nOD wenn er aber sein Vergehen gar nicht kennt, so sieht das Leid nicht nach Strafe, sondern nach Rache aus und warum be- trachtest Du mich als Feind -[S ymh ^:a^nm, und an wem willst Du Dich rächen P]nn ^2" ti^p iiNl pyn P]1: rthyn „ein fliehend Blatt willst Du in Schrecken setzen und dürres Stroh verfolgen?" 0 töte mich doch hn'ü üh 'jSttp'' |n ich erwarte ja nichts besseres, oder hn^H "6 ich hoffe nur noch darauf. Siehe der Mensch ist ja Deiner Beachtung gar nicht wert. „Der Mensch weibgeboren, lebensarm und kummerreich ! Wie eine Blume schiesst er auf und welkt, flüchtig wie der Schatten ist er, der nicht bleibt. Und auf diesen richtetest Du Deinen Blick und mich bringst Du in Gericht vor Dir?

344 '' Ilber die Giundideen des Buches Hiob.

ina nS üfi'cn: m-'^: p' Giebt es doch keinen einzigen Reinen vom Unreinen. Wenn }?ar fleissig seine Tage, so ist die Zahl seiner Monde bei Dir, Du hast ihm seine Grenzen gesetzt, die er nicht überschreiten kann. Darum lass doch ab von ihm, dass er zu lei- den aufhöre und er wird wie der Mietling sein Tagewerk voll- bringen. Dann ist ja ohnehin die Nacht für ihn da, eine Nacht, der kein Morgen folgt. „Denn der Baum hat Hoffnung, wird er gefällt, so blüht er aufs Neue auf, seine Nährkraft versiegt nicht. Wenn im Boden seine Wurzel altert und im Staub sein Stamm erstirbt, vom Duft des Wassers grünt er wieder und bringt Ernte, als wäre neu er gepflanzt. Doch der Mann stirbt, da er schwach geworden und verscheidet der Mann, wo ist er dann? Gewässer schwinden aus dem Meere und der Strom versiegt und vertrocknet. Der Mensch schläft und steht nicht wieder auf und sind die Him- mel nicht mehr, nichts weckt sie aus ihrem Schlaf!

DK ^jnD7m pin 'S n^ii'n •]Dn miJ^ iv ^n^non ^jr^j^n h:a^2 ]r\' 'r: 'nsi'hn N12 IV Sn\s 'N32: ^fs' Sd n'n\"i nn: mc' 0, wenn es doch an- ders wäre, wenn der b)Hti^ nicht das Ende wäre, wenn Du mich nur da bergen würdest, bis Dein Zorn sich gelegt, dann aber mir Zeit bestimmen würdest, da Du wieder mein gedenkst, mit an- dern Worten „wenn der Mann stürbe und er dann wieder auf- leben würde, still würde ich dann während meiner Heereszeit harren.^ bis die Ablösung kommt", oder bis dann meine Verwechslung kommt, denn dann wäre ja der Tod nichts anderes. Ja, wenn es ein Jenseits, ein Leben nach dem Tode gäbe, da wären meine Rätsel gelöst. Doch vergeblich sind ja diese Hoffnungen ... . l'?n"'1 njfjS inQpnn auf ewig raffst du Ihn hinweg, da er von hinnen geht. Darum SnKfi vhv "iti'BJl 1N3' vhv 11^3 "[ü wenn sein Körper ihn schmerzt, so trauert seine Seele um ihn.

Eliphas weiss nun wieder ihm nichts anderes 7U sagen : ni: ntt^X "llS' pnx '31 n^r "'D ti^UX Was ist denn der Mensch, dass er rein sich dünke, wie kann der Weibgeborene schuldlos sein? Traut doch Gott seinen Heiligen nicht, ja selbst die Himmel sind nicht rein in seinen Augen, um wieviel mehr der Befleckte, der Ver- derbte, der Mensch, der wie Wasser Unrecht trinkt. Da meint Hiob mit bitterer Ironie: Auch ich könnte reden wie ihr, wenn ihr

über die Grundideen des Buches Hiob. 345

an meiner Stelle wäret, würde genau solch schöne Wortgefüge finden, genau so mein Haupt über euch schütteln. Ihr habt doch kein Zeugnis wider mich, als dass Gott mich gestraft lyS '•rLiOpm njy 'JÖ3 'tiTiD "•! DpM n\T Dass du mich verdorren liessest, ward zum Zeugen und erhebt sich wider mich, meine Abtrünnigkeit wird mit meinem Aussehen bezeugt. Kein anderer Beweis liegt für meine Abtrünnigkeit vor, als mein Weh und doch nDT 'nSöni '•DDa Dan üh hv klebt nichts Unrechtes an meiner Hand und rein ist mein Flehen, darum Erde verdecke nicht mein Blut, oder auch mein stilles Leid und kein Raum begrenze meine Klage. Siehe im Himmel ist mein Zeuge und mein Beistand in den Hohen. Und habe ich mich in meinen Freunden getäuscht ^rj? nöSn mhü 'VI "Thti so sind meine Fürsprecher und meine Freunde, was zu Gott aus meinen Augen hinauftränt. Diese Tränen sind meine Fürsprecher und Freunde und diese Träne ^r:v^h DIN pT mSx QV 12:S HDVl wird für den Menschen mit Gott rechten., wie etwa der Menschensohn für seinen Nächsten. Diese reine Träne bleibt mein Fürsprecher auch dann, wenn meine Zeit um ist und ich den Weg gehe, von dem es keine Wiederkehr giebt. Im Himmel sind diese blanken Tränen meine Zeugen und sie werden mein Beistand sein in den Höhen.

Seine Schmerzen steigern sich, er sieht wie alles sich von ihm wendet und flehentlich bittet er seine Freunde, o erbarmet, erbarmet euch mein, warum verfolgt ihr mich wie Gott und kön- net euch von meinem Fleische nicht sättigen. 0 würden doch meine Worte aufgezeichnet, eingegraben in ein Buch mit eisernem Griffel und mit Blei, ja für die Ewigkeit in Fels gehauen und ich weiss "Ti 'Sn13, dass mir ein Erlöser erstünde, der die Schmach von mir nehme und wäre er auch der letzte Sterbliche, er würde für mich sich erheben. Und endlich wirft er seinen Freunden vor, dass es ja den Bösen durchaus nicht so schlecht ergehe D'ytt'1 yT'ö S^n T13J d: Ipnv vn\ Warum leben Frevler, werden alt und kräftig, ihre Häuser sind sicher und Gottes Geissei kommt nicht über sie, verbringen im Glück ihre Tage und ft^hren im Nu ins Schatten- reich, sterben ganz schmerzlos. Sie wollen von Gott nichts wissen, nun ist euer Trost nicht eitel, sind eure Widerlegungen nicht falsch?

346 '' Über die Grundideen des Buches Hiob.

Darum, so scblieBst er •■nsfi yüH üh yi^ IV Q^DN pn::K DN 'h nh'hn 'ö^ö '22b f]in' ah nQ",x ah) ^npTnn ^npnva ^:d!2 Darum fem sei es von mir, euch Recht zu geben, bis ich verscheide, Ixsse ich mir meine Tugend nicht rauben. An meiner Gerechtigkeit halte ich fest und lasse sie nicht los, mei^ Herz schmäht nicht einen ein- zigen meiner Tage. Und n,un kommt der grosse Eid Hiol)8, mit dem er alles grässliche Unglück auf sich herabwünscht, wenn er je etwas Unrechtes begangen, ja wenn er nur je seine Sünde verleugnet. 0 fände sich doch jemand, der seine Vergehen nie- derschriebe, auf seinen Schultern wollte er das Buch tragen, als Hauptschmupk es sich umbinden und den Verfasser gleich einem Fürsten ehren, denn er wünscht ja nichts anders, als belelirt zu werden, als seines Unrechtes überführt zu werden, damit er ans dem fürchterlichen Dilemma herauskäme, entweder an sich oder an Gott verzweifeln zu müssen. Er fühlt »ich schuldlos und er fühlt auch, dass Gott nicht ungerecht. Er sucht nach einem Ausweg, den ihm aber die Freunde nicht zeigen konnten. Hiob lästert Gott nicht, seine Reden schliessen alle mit Fragezeichen. Er sieht Rätsel, die er nicht zu lösen vermag und mit dem Fragezeichen aVK nm Ii2n enden die Worte Hiobs.

Die Freunde wissen Hiob nichts mehr zu antworten, Nin pnv '2 vrp denn sie konnten seinen Glauben an sich selbst, an seine Tugendhaftigkeit nicht erschüttern. Da entbrannte der Zorn Elihus gegen Hiob wphHü WL2 lp12: Sy weil er nahe daran war, sich ge- rechter als Gott zu dünken und gegen die drei Freunde entbrannte sein Zorn nVK nx ly'tf'l'l nJVö 1K2:o üh nti'K hv weil sie keine andere Antwort fanden, als Hiob zu verdammen, ihn als Bösewicht l)inzu- stellen. Wie wir gesehen haben, hat ja Hiob nicht Gott gelästert, hat sich auch im grössten Schmerze nicht von Gott losgesagt, sondern nur Belehrung, Aufklärung verlangt und diese Belehrung soll ihm nun durch Elihu werden. Hiob hat stets gewünscht Gott gegen- überzustehen, mit Gott Controverse zu pflegen, damit entweder er Gott von seiner Unschuld überzeuge oder durch Gott seiner Schuld überführt werde. vjöS nDn^N inji3n IV N13K inNi'^si 'nvT ]r\' 'b lün' nrnNi ^:jv' Q'hü nyiN mnnn ahf^a ^di kqsj'o „0, wenn ich ihn doch zu finden wüsste, ich würde bis in sein inneres

über die Grundideen des Buches Hiob. 347

Wesen vordringen, darstellen würde ich mein Recht vor ihm und mein Mund mit Beweisen füllen, ich weiss er würde mir antworten und ich würde verständig durch das, was er mir sagen würde", oder an anderer Stelle : •'Jl^rm nmx IX n:vn ^d:ni Klpl „so rufe doch und ich will Dir antworten, oder ich will reden und Du ent- gegne mir". Nun meint Elihu : '3K DJ ^niflp löHö SkS ySi^ 'JK |n „Nun bin ich deinem Wunsche gemäss hier, für Gott einzustehen, jedoch dem Tone bin auch ich entstammt, meine Furchtbarkeit kann dich nicht schrecken, meine Macht nicht auf dir lasten, mir kannst du Rede stehen : '}y]i^n |''Sö ti>"' qn ich will die Sache Gottes vor dir als Mensch vertreten, mit dem du dich in aller Ruhe auseinandersetzen kannst. Siehe du bist nicht gerecht, dass Gott auf all die Worte des Menschen nicht antworte, (vin be- zieht sich auf tt^UK), n:V' N'^ vnm Sd •'D (von dem im früheren Satze die Rede ist ti>iJNO rtlhü nai" '2), denn Gott spricht auf zwei- erlei Weise zum Menschen; entweder im Traume, wenn Schlummer auf Menschen fällt, da öffnet er das Menschen Ohr Dinn* vlDöm und vollendet seine Erziehung, die, wenn wir den folgenden un- endlich schwierigen Satz, der fast von keinem der Coramentatoren restlos erklärt wird, richtig verstehen, darin besteht, niJ>j?ö DIU yorth nüy la^D mJI dass der Mensch jede solche Tat meide, die den Mannesstolz für immer bedecken würde, dass jede Tat gemieden werde, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist, dass der Mensch zu gut, zu stolz zur Sünde sei; oder aber Gott spricht auf die zweite Art, n:iW kS D'Ti^n'i wo man ihn nicht unmittelbar sieht und diese zweite Art ist: p'n Vöay yy inDtt'ö hv mNDOa HDim dass der Mensch durch Schmerz erzogen wird, durch den heftigen Kampf seiner Glieder, bis das Brot ihn anekelt und seine Seele sich dem Verderben nähert und sein Leben den Tötenden. Findet sich nun ein Engel, ein Dolmetsch aus Tausen- den, die dem Menschen kiindet, nr' die Gerechtigkeit und Ge- radheit Gottes, yh^, ein Dolmetsch, der dem Menschen den Sinn seiner Leiden, die das unausgesprochene Wort Gottes an ihn sind, kündet, ncij ^riMao nrf^ r\iif2 inyiti nöX'i i^jn-i und so gnadenreich ist und dem Menschen sagt erlöse doch ihn, den Menschen vom Untergang, so hat das Leid gewirkt, wie es wirken

348 Über die Grundideen des Buches Hiob.

sollte und Gott hat das Leid als Lösegeld angenommen. Es ver- jüngt sich sein Fleisch von neuem nviina VJD KIM er hat Gottes An- tlitz in der Erschütterung gesehen inpiv U^lixS nit>n und das giebt dem Menschen seine Unschuld zurück. Das Leid soll den Menschen erhöhen, erziehen, ihn vevinnerlichen und vertiefen, oder, wie Elihu es so" schön sagt, djUS ynh^ h^i vjyn 'iy yhn'' rüsten fürs Leben will er den Armen durch sein Leid, öffnen will er ihr Ohr durch ihre Drangsal, öffnen ihr Ohr, damit sie auch über sich hinaushören, damit sie endlich begreifen, dass der Mensch gar nicht Mittelpunkt der Welt ist, dass es ausser dem Geschehen in dem und um den Menschen es noch eine ganze Welt giebt, die der Mensch zu er- fassen bestrebt sein soll. Auch Mahnung ist zuweilen das Leid vom Unrecht abzulassen, nnS IT) 'iV '^^nn jH^'?"' D''pn DniDN DX"i pNO pmtJ>^ '3 ifin^i iDiöS Q3TN hi') n^JD^ ^D nn^ytJ^öT nSyc „wenn sie in Ketten gefesselt, mit Banden des Elends gefangen werden, so will er ihnen nur ihr Werk künden, dass ihre Frevel um sich greifen, ihr Ohr will er öffnen der Zucht, er sagt ihnen blos, dass sie sich von Frevel abwenden mögen". „Nur hüte dich, dich dem Unrechten zuzuwenden, das du aus Elend und durch das Elend erwähltest, denn so gewaltig auch Gottes Kraft, er gebraucht sie nur, um Menschen zu erziehen, versuche sein Werk zu begreifen, wie wohl dies für den Menschen kaum möglich ist". Ist das Lei- den aber blos ein Erziehungsmittel, hat es diese Wirkung, so ist es gar keine Strafe mehr, sondern |VDJ Erhöhung durch Prüfung, Er- höhung durch Bewährung. Und auch für dieses Leid wird ihm Genugtuung miKDi iS Qh)i^' DIU SyiD ^3 Sivü nu^i V^^fi ''«'? ^^'^^ £2Dtt>0 mv K*? niJ^I Vfi^y X*? ^ii DiöK f]N IJK^yo^ ^'ü „Fern sei von Gott das Unrecht, vom Allmächtigen der Frevel, denn das Werk des Menschen vergilt er ihm und nach dem Wandel des Mannes lässt er ihn finden. Aber Gott will nicht ungerecht sein und der Allmächtige nicht das Recht krümmen". Eine sofortige Vergeltuug hinieden würde Rechtübeu zu keiner Tugend werden lassen. Doch wer trug ihm auf naiK, es hier auf Erden zu tun, wo er doch Herr der ganzen Welt ist. Wenn der Mensch sein Herz aufrichtig Ihm zuwendet, so wird er sehen P]1DK^ vh'H iriüti»:! imi, dass Er seinen Geist und seine Seele zu sich hinnimmt, in' 1^2 Sd Vir wo alles

über die Grundideen des Buches Hiob. 349

Fleisch vergeht und der Mensch zum Staube zurückkehrt. Nur das Fleisch vergeht, aber Geist und Seele sind bei Gott. n:''3 DXl riNT nj;atf> und willst du Belehrung, so höre dies! So viel über dein Leiden. Du sehntest dich nach einem Jenseits, dieses Jen- seits existiert ; ja, mu'^ ItV ^V Ol**"! der Mensch kehrt über den Staub hinweg zurück. Dass es noch trotz allem Rätsel giebt, wer wollte es leugnen ! Wenn du Hiob erst die ganze Welt mit allen ihren Wundern und Rätseln begriffen, werden sich dir auch deine Rätsel lösen. Und es ist viel lehrreicher, auf das ganze Universum zu sehen, als seinen Blick stets in sich zu versenken. Im Vergleich zu dem grossen und gewaltigen All ist der Mensch so winzig klein, dass es töricht ist, wegen seines Geschickes, den Himmel stürmen, Gott den Schöpfer und wunderbaren Lenker dieses Alls enttronen zu wollen. Dein Schmerz soll dich doch erhöhen, hu niNSöJ pnnm nav „erhebe dich und betrachte die Wundertaten Gottes. Weisst und begreifst du wie Gott seine Wolken blitzen lässt . kannst du dich zu den Wolken em- porschwingen, kannst du mit ihm die Himmel betreten, die stark sind wie gegossener Spiegel ? Wir können den All- mächtigen nicht ergründen, Er ist gross an Kraft und Recht, an Gnadenfülle und er unterdrückt nicht. Darum üh D''U>:k imXT 2h "'O^n ^3 nxn' „sollen Ihn die Menschen ehrtürchten, Ihn, den auch der Weiseste nicht sehen kann"!

Die Worte des Elihu verfehlen ihre Wirkung nicht. Hiob erblickt Gott und ganz bescheiden bekennt er zum Schlüsse ]n "TilSp fürwahr ich bin zu leicht befunden worden; p2N nSi 'm:n VIK nSi "JOtt mxSeiJ doch ich habe nur geredet, weil ich nicht be- triff", CS war mir zu erhaben, dass ich es nicht fassen konnte und da bat ich in meiner Verzweiflung in dem Labyrinth der Gefühle und Begriffe *jymm ihn^ü inx TJNI NJ yött> o höre mich, ich will reden, fragen will ich dich nur, damit du mich belehrest". Meine Bitte ward erfüllt "[nNI 'yy nn*;i 1'nj?ör |TS yatJ^S ich hörte mit meinem Ohre von dir durch die Worte Elihus und ich bin auch sehend geworden und mein Auge sieht dich nun. ncv hv Tiomi DNDK p Sy "löXI Darum verwerfe ich was ich früher gedacht, und bin nun ge- tröstet liber den, der St;iub und Asche ist und begreife, dass die- ser auch zu resignieren verstehen muss, dass ihm wohl ein Anblick

350 Über die Grundideen des Buches Hiob.

Gottes gegönnt ist, aber dass dieser Anblick beschränkt bleiben muss, weil der Mensch eben doch nur Mensch ist.

Hiobs Leiden haben zur Bewährung geführt, er hat Got* nicht gelästert und hat auch den Glauben an sich selbst nicht ver- loren. Stand er anfangs vor einem unlösbaren Dilemma, entweder an sich oder an Gott zu verzweifeln, so wird er langsam der Wahrheit iune, dass das Leid ^VDJ Erhöhung ist, dass der gute Mensch durch das Leid erhöht wird, dass er erweitert wird, wie der Psalraist sagt, iTHin 'llS niiy, dass Leiden des Menschen Herz nicht verengen, sondern 'weiten, und es erschliesst sich ihm die Wahrheit der Unsterblichkeit der menschlichen Seele, eine Wahr- heit, die die notwendige Ergänzung des |VD3-Gedanken8 ist. Das Leiden leitet ihn zu der Höhe empor, wo er Gott erblickt und der Mensch hat seinen Gott und durch seinen Gott sich gefunden und Gott hat über Satan gesiegt: der Mensch Hiob bleibt nvN nnj? der treue Diener Gottes.

Literarisches.

Des deutschen Volkes Wille zum Leben. Bevölkerungspolitische und volks- pädagogiscbe Abhandlungen über Erhaltung und Förderung deutscher Volks- kraft. Herausgegeben von Martin Fassbender. Freiburg i. B. Herdersche Ver- lagshandlung.

Ein hochbedeutsames und instruktives Sammelwerk, in welchem den jü- dischen Leser insbesondere das Kapitel über Geburtenrückgang und Konfession interessieren wird. Danach ist der Verlauf der Geburtenbewegung bei der katholischen Bevölkerung ein verhältnismässig günstiger, während der Gebur- tem-ückgang bei den rein evangelischen Ehen grösser und am grössten bei den rein jüdischen und gemischten Ehen ist. „Die Geburten aus rein jüdischen Ehen sind seit 1891 um 1,07 d. h. um beinahe ein Drittel ihres damaligen Standes zurückgegangen. In den Jahren 1891—1895 kamen noch mehr als drei Kinder durchschnittlich auf jede jüdische Eheschliessung. Jetzt sind es nicht viel über zwei im Durchschnitt. Die Juden sind also in Preussen schon vollständig bei dem Zweikindersystem angelangt. Die absolute Zahl der Ge- burten aus rein jüdischen Ehen hat sich von 8675 im Jahre 1891 auf 7800 im Jahre 1901 und 5661 im Jahre 1913 vermindert, während die Zahl der rein jüdischen Eheschliessungen in den Jahren 1891 und 1913 ungefähr gleich war. (2488 bezw. 2422). Da bei einer Durchschnittszahl von zwei Kindern auf eine Ehe eine Bevölkerungsgruppe sich erfahrungsmässig in ihrem Bestände nicht erhalten kann, müssten die deutschen Juden allmählich aussterben, wenn sie sich nicht durch Zuzug von Stammesgenossen aus dem Ausland ergänzen." (S. 210 f.) Wenn diese Zahlen richtig sind, dann wäre es unverantwortlich, wie wenig unsere jüdischen Organisationen mit jüdischer Bevölkerungspolitik und Volkspädagogik sieh befassen. Dies ist übrigens nicht die einzige Disziplin, in der wir manches von den Katholiken lernen könnten.

=— iDj;'? 31D s'-n =-= JUEDISCHE

mONATSHeFTE

herausgegeben von Rabbiner Dr. P. Kolin, Ansbach, unter Mitwirkung von Rabbiner Dr. Salomon Breuer, Frankfurt a. M.

Jahrgang i. Heft 12

Ohne Mehl keine Thora!

Am Ende des 8. Abschnitts von Therumoth im Jeru- schalmi wird von R. Jochanan erzählt, dass er einmal von Räubern sein Geld abgenommen bekommen habe und dar- über so aufgeregt war, dass er ausserstande war, eine hala- chische Frage zu beantworten, die R. Simon b. Lakisch an ihn richtete. Zweimal richtete R. Simon die Frage an ihn und zweimal Hess R. Jochanan die Frage unbeantwortet. Da sprach der Fragesteller : Warum antwortest du nicht ? Was ist der Grund deines Missmuts und deiner Verwirrung? R. Jochanan antwortete : D'D3 ')hn ihn) aSn pSn onain hl „alle Dinge hängen vom Herzen ab, das Herz aber hängt vom Geldbeutel ab".

R. Jochanan war sicherlich genug idealistisch veranlagt, um den Wert des Geldes nicht zu überschätzen. Gleichwohl war er über den Verlust seines Geldbeutels so betrübt, dass die zur Beantwortung einer halachischen Frage nötige gei- stige Sammlung ihn verliess und er, ganz ausser Fassung gekommen, zweimal schwieg, als R. Simon ihn zweimal et- was fragte. Und als er endlich das »Schweigen der Ver-

352 Ohne Mehl keine Thora !

wirrung brach, wies er in sarkastischen Worten dem Geld- beutel eine selbst das Centralorgan des Herzens beherr- schende Stellung im Leben zu. Was ist der Mensch ohne Herz, was ist das Herz ohne Geld ?

Man muss schon ein Mensch wie R. Jochanan sein, um die Qual der Armut in ihrer ganzen Lästigkeit zu em- pfinden. Wenn ein gewöhnlicher Kaufmann Geldsorgen hat, dann leidet sein Geschäft, wenn ein Mann wie R. Jochanan Geldsorgen hat, dann leidet die Thora. Wenn R Jochanan immerfort an seinen verlorenen Geldbeutel denken muss, dann kann er nicht lernen nnd lehren, dann hüllt er sich in ein missmutiges und verwirrtes Schweigen, das er nur mit einer spöttischen Betrachtung über die durch das Geld re- gierte Welt unterbricht.

Männer wie R. Jochanan waren schon vor tausend Jahren rar. Damit wollen wir von vornherein dem Einwand begegnen, dass eine Übertragung von Dingen, die uns von R. Jochanan erzählt werden, auf Thoraweisen unserer Zeit nicht angängig sei. Sicherhch ist nicht jeder Rabbiner ein verkappter R. Jochanan. Aber die Unmöglichkeit, wenn Geldsorgen das Gemüt bedrücken, mit der nötigen Klarheit und Heiterkeit des Geistes in den Hallen der Thora sich zu bewegen, darin unterscheiden sich unsere heutigen Rab- binen von den Weisen des Talmuds nicht im geringsten. Auch heute muss die Thora im Sinne des bekannten Aus- spruchs in den Sprüchen der Väter ein Bündnis mit dem „Mehle" schliessen, wenn sie sich in dieser vom Gelde be- herrschten Welt als eine Grossmacht behaupten will. Ja, in unsern Tagen, wo ein Hundertmarkschein so viel wert ist, wie Izwanzig Mark in der Friedenszeit, würde R. Jochanan nicht blos zeitweilig seinen Kopf verlieren, er käme sich bei dieser von Tag zu Tag zunehmenden Teuerung aller zum Leben notwendigen Dinge vor, wie wenn ihn jeden Tag eine Schar von Räubern überfiele, um ihm von seinen sauer ersparten Groschen den einen nach dem andern zu ent- reissen. Dieses langsame wirtschaftliche Sinken der Fest-

Ohne Mehl keine Thora I 353

besoldeten ist viel schlimmer als ein einmaliges Ausgeraubt- werden durch eine Räuberschar. Den Räubern, die R. Jo- chanan ausgeraubt haben, ist, wie der Jeruschalmi erzählt, R. Simon b. Lakisch nachgeeilt, um ihnen das geraubte Geld abzunehmen und es R. Jochanan zurückzugeben. Wer giebt aber unsern heutigen Thoraweisen das Geld wieder, das ihnen der Weltkrieg geraubt hat ?

Unter den Beamten aller Kategorien herrscht zur Zeit eine grosse Erbitterung, weil ihre Gehaltsverhältnisse, auch wenn sie durch Teuerungszulagen verbessert werden, der wirtschaftlichen Lage nicht entsprechen. Die verschiedenen Beamtenverbände, insbesondere die der Lehrer, treten an die zuständigen Behörden heran, um sie zu eingreifenden Massnahmen zu veranlassen. Nur von den Rabbinen hat "man bisher nichts gehört, dass sie sich zusammengetan hätten, um bei ihren Gemeinden eine zeitgemässe Erhöhung ihrer Besoldung durchzusetzen. Diese Zurückhaltung der Rabbinen in finanziellen Dingen, die nur noch durch die Zurückhaltung der Gemeinden übertroffen wird, ist in der historisch gegebenen Stellung begründet, die der Rabbiner in seiner Gemeinde einnimmt oder, sagen wir besser und richtiger, einnehmen sollte. Historisch betrachtet kann der Rabbiner keiner der bestehenden Beamlenkategorien be- grifflich eingeordnet werden, weil bei der geschichtlich ge- wordenen Stellung des Rabbiners Anschauungen massgebend waren, die sich bei der Genesis keines anderen Berufes nachweisen lassen.

Das, was der Rabbiner im Hauptamt tut, war ursprüng- lich keine Standessache. Das Lernen und Kennen der Thora in möglichst ausgedehntem Masse ist eine religiöse Pflicht, die Jedermann in Israel zu erfüllen hat. Thoraweis- heit ist kein rabbinisches Standesprivileg. Die Beschäftigung mit der Thora ist ferner eine Aufgabe, die sich durch ihre Ei^füllung und nur dadurch belohnt machen soll. Auch wenn das Lernen und Lehren der Thora ein rentables Geschäft wäre, so wäre es doch verboten; die Thora als ein Mittel zur

354 Ohne Mehl keine Thora !

Gewinnung finanziellen Reichtums zu missbrauchen. Ein bequemes, behagliches, vergnügungssüchtiges, von Luxus und Komfort geschmücktes .Leben ist nicht der geeignete Rah- men für das Bild einer wirklich lebensfähigen Thora. Die jüdische Geschichte kennt wohl bis auf den heutigen Tag Persönlichkeiten, die nriK mp03 nhili'] mm vereinigen, die Thora mit Reichtum verbinden, sie sind aber immer Ausnahmen ge- wesen, die nur die Regel bestätigen, dass '03 D^O'^pno nmn nai yn *03 nhn n^^ntf^T nh'DH imoi jn^v ^ino onoiSa k"?! on^hv lOifV nonne^ .vcyöyS noum vyvh nj^ p^ nSi rtzn idij ivifoi n^Sy loity n'DOtt> Lässigkeit, Wohlleben, Essen und T-rinken, langes und süsses Schlafen: die Männer, denen Israel es zu verdanken hat, dass n^ö^'pno niin.n nm, dass die Thora bis auf den heutigen Tag wie ein sturmerprobter Fels allen Angriffen durch Zeiten und Menschen trotzt, die kannten und kennen keine Lässig- keit und kein Wohlleben, sie waren und sind gewohnt, das, was die talmudische Sprache mit pm 'Jir;n „Vergnügungen der Zeit" bezeichnet, als wesensfremde Störung ihrer Lebens- harmonie von sich fern zu halten, sie waren und sind der Meinung, dass Thoraweise, die sich ein schönes Leben ma- chen wollen, besser daran täten, statt sich mit der Thora zu beschäftigen, unter die Kriegslieferanten zu gehen, die an Teuerungszulagen keinen Mangel haben.

Wovon soll aber der Thoraweise leben, wenn er den Tanz um das goldene Kalb nicht mitmachen soll oder will? Es läge nahe, an den Ausw^eg zu denken, den die idealen Formen des jüdischen Wohltuns bieten. Der Thoraweise könnte auf dem Wege der Wohltätigkeit zu seinem L^nterhalt kommen. Die jüdische Zdokoh ist ja, wenn sie im Sinne der Thora geübt wird, kein Almosen, das seinen Empfänger entwürdigt. Gleichwohl .wird es als DtP.i SiSn und min nn bezeichnet, wenn ein Thoragelehrter die Armenpflege in Anspruch nimmt, um der Notwendigkeit enthoben zu sein, sich neben seinem Thorastudium einem praktischen Berufe zu widmen (vgl. Nedarim 62 a). Praktisches, produktives Schaffen so wird man ja wohl am besten das hebräische

Ohne Mehl keine Thora ! 355

Wort n^KSö wiedergeben ist nicht nur dem Thorageist nichts widerstrebendes, sondern im Gegenteil : yH)i^ nmn Sj ]))} rniij hdkSö nov, es giebt keine idealere Ergänzung des theoretischen Studiums der Thora als die praktische Be- währung des Thorageistes im wirklichen Leben, während die blosse Theorie ohne diese Bewährung nur allzuleicht zu[^Ein- seitigkeilen und Konflikten führt. „Wer neben dem Thora- lernen nicht auch eine ernährende Arbeit pflegt, läuft Gefahr, aus Mangel das Lernen einstellen zu müssen und sich aus Not und Elend zu Unrechtem verleiten zu lassen" (Komm. Gebete S. 436). Diese Verbindung von Thora und Arbeit, die bekanntlich in talmudischer Zeit selbst in den Kreisen der Träger und Repräsentanten des Thorageistes keine un- gewöhnliche Erscheinung war, setzt neben grossem Fleiss vor allem ungeschwächte körperliche Gesundheit voraus. Ist es schon schwer, in dem grossen Reiche des theoreti- schen Wissens zu einer umfassenden Beherrschung der zu wirklicher nicht blos dflletantischer Thorakenntnis er- forderlichen Wissensgebiete zu kommen, wie schwer muss es erst sein, diesem Reiche der Theorie auch das Reich der Praxis anzugüedern, neben dem Thorastudium auch nur einen Augenblick Zeit für praktische Arbeit zu finden! Die Weisen der Halacha sind darum selber nicht einig in der Frage, ob es denn wirklich nicht angängig und zulässig ist, dass Je- mand, der im Studium und in der Verbreitung der Thora seine Lebensarbeit findet, aus dieser Lebensarbeit ein lohnen- des Geschäft macht. Ideal und Wirklichkeit stimmen hier zu wenig überein, als dass der Gedanke eines selbstlosen Lebens und Webens in Thora und Aboda zu einer allgemein verpflichtenden Forderung erhoben werden könnte. In der Tat ist es seit unvordenklichen Zeiten Brauch in Israel, dass die in den jüdischen Gemeinden zum Lernen und Lehren offiziell Berufenen, vulgo- Rabbiner genannt, aus der Ge- meindekasse einen festen Gehalt beziehen, und zwar jauch dann, wenn sie in der Lage wären, sich den nötigen Lebens- unterhalt durch praktische Arbeit zu erwerben. Dieser Brauch

356 Ohne Mehl keine Thor'a !

ist SO allgemein und wird überall als so selbstverständlich empfunden, dass ein Rabbiner, der sich einfallen Hesse, neben seiner rabbinischen VVirksamkeit irgend ein Geschäft zu betreiben, eine lächerliche, unmögliche Figur wäre. Unter den Grössen der Halacha sind es insbesondere der n3t>o p]DD nmn iiö'^n ms'^noyD und der 'ts p'D mcna iSk pnc Vrino (siehe roi |0"'D fi'fi mD'?n i'^)> die, zumal der erstere, die ausrei- chende Besoldung des Rabbiners als eine im Inter- esse der Erhaltung des Judentums den Gemeinden obliegende Ehrenpflicht verkündet haben.

Nun wäre es aber ein schwerer Irrtum von unseren Gemeindeverwaltungen, wenn sie etwa der Meinung wären, dass sie im Sinne des Religionsgesetzes das Lebensinteresse der Thora genügend wahren, wenn sie ihren Rabbinern eine Besoldung gewähren, die ihnen gerade ein ärmliches Aus- kommen zur Not sichert. Diese Meinung ist ja bei unseren Parnossim ziemlich weit verbreitet Als vor einigen Jahren in einer jüdischen Gemeindeverwaltungssitzung, auf deren Tagesordnung der Gehalt des zu wählenden Rabl)iners stand, einer der Vorsteher eine Gehaltshohe vorschlug, die über das in jener (übrigens orthodoxen) Gemeinde übliche Mass etwas hinausging, erhob sich ein Kollege von ihm und rief mit komischer Emphase: „So ein Rabbiner hat doch ganz andere Bedürfnisse als unsereins. Meinen Sie denn, ein Rabbiner muss essen jed n Tag Kalbfleisch ?"

Dieser ebenso edle wie gemütstiefe Zeitgenosse, der den Rabbinern schon in Friedenszeiten das „Durchhalten" empfahl, hatte es offenbar verabsäumt, bevor er seine Mei- nung kundgab, sich ein wenig im jüdischen Religionsgesetz nach der Meinung umzuschauen, die unsere Alten von der Höhe des dem Rabbiner zu gewährenden Gehaltes gehabt haben. Bei diesem Ausflug in die viel gepriesenen aber so wenig gekannten Gefilde (\er Halacha hätte dieser ehren- werte Herr zu seiner Ueberraschung erfahren, dass im Sinne der Thora eine mangelhafte Besoldung der Rabbiner wie eine der Thora selbst angetane

Ohne Mehl keine Thora! 357

Schmach zu bewerten ist. Sätze wie die im rts a. a. 0. -. DnoKJ )hn pQ2 nh ^n^'Oi vnx S^d in'^ij vhkö Snii jn^n pncKi «m miö iS un^iJ^ n3 Nii^nS 133; pi xas* ^m nx inns* "1 TmNT K\nn3 '12 P]n' 'IDT nuan pin -[-n ir\n '"irn ij'indi^ imr^ri, sie beweisen, dass im Sinne des jüdischen ReHgionsgesetzes eine jüdische Ge- meinde ihrem Rabbiner gegenüber erst dann ihre Pflicht er- füllt hat, wenn sie ihn mit seinem Gehalte so stellt, dass er auch in finanzieller Hinsicht über die Masse seiner Gemeinde- mitglieder hervorragt. Ja, der n"2 vertritt sogar die Ansicht, mnan ijj Q'j?otJ>: vim vn^ti> itf^vnnS mjno n^'h •nti' i"n«Si, dass die Autorität des Rabbiners umso grösser ist, je reichlicher seine Einnahmen fliessen und er es daher als nicht unter seiner Würde zu betrachten braucht, durch Nebeneinkünfte seine wirtschaftliche Lage zu verbessern. Wenn aber schon in den Tagen des n"2 die Menschen so materialistisch gesinnt waren, dass ein Rabbiner, der Thoraweisheit mit Geldreich- tum vereinigte, ihnen mehr imponierte, als einer, dessen Tho- rawissen sein einziger Reichtum war. so wird man in unserer Zeit, die noch viel entschiedener geistige Dinge nach ihrem münzbaren Werte misst, die oft ganz empörend niedrige Besoldung unserer Rabbiner nur als Symptom der Gering- schätzung verstehen müssen, mit der man leider auch in orthodoxen Kreisen (die liberalen Rabbiner sind die bestbe- zahltenj über den Rabbiner und die Bedeutung seines be- ruflichen Wirkens denkt.

Wir glauben die Würde unserer Rabbiner nicht verletzt zu haben, wenn wir an dieser Stelle auch einmal über die- ses heikle Thema zu redf^-n für nötig fanden. Die historisch begreifliche Scheu, mir der die Rabbiner selbst der Oeftent- lichkeit gegenüber über ihre finanziellen Verhältnisse zu Schweigen pflegen, darf die Gemeindeverwaltungen zumal in jetziger Zeit nicht zurückhalten, ihre bisherige Praxis in der Frage der Rabbinerbesoldung einmal gründlich zu revidieren. Die Zurückhaltung der Rabbiner darf von den Gemeinde- vorständen nicht zum Nachteil der Rabbiner ausgenutzt wer- den. Als einst ein zudringlicher Petent sein Bittgesuch bei

358 Zur Palästinafrage.

Mayer Amschel v. Rothschild mit den Worten einleitete : „Herr Baron, Sie sind ein solch grosser „Onow" (so be- scheiden)" — unterbrach ihn der Baron : „Wenn ich ein Onow bin, so dürfen Sie deshalb noch nicht ungezogen sein" ! Das ist's, was wir meinen.

Zur Palästinafrage.

Zur Zeit ist sehr viel von Palästina die Rede. Seitdem die englische Regierung ihr prinzipielles Einverständnis mit dem Programm des Zionismus erklärte, glaubt man in weiten jüdischen Kreisen an das allmähliche Hereinbrechen des Tages, der die Verwirklichung unserer tausendjährigen Zions- sehnsucht bescheinen wird. Es wäre in der Tat schön, wenn der Moschiach bald kärne. Ob ihn uns freilich die Zionisten bringen werden, ist eine andere Frage.

Von Anbeginn haben die Zionisten die Orthodoxie an den Punkten zu packen gesucht, wo sich scheinbar der mo- derne Zionismus mit dem überlieferten berührt. Der Misra- chismus beweist, dass diese zionistischen Versuche, den sehr wertvollen Wind der Thora in die Segel des Baseler Pro- gramms einzufangen, nicht ergebnislos verlieff^n. Die Stim- men kommen nicht zur Ruhe, welche die orthod )xe Gegner- schaft zum Zionismus als einen unverantwortlichen Fehler bezeichnen, mit welchem sich die Orthodoxie nur in das eigene Fleisch schneide. Immerfort isst es. ob denn das was der Zionismus will, dem Geist der Thora widerstreite ; ausdrücklich habe doch j"30l auf Grund des ncD die ßesied.

Zur Paläslinafrage. 359

lung Palästinas, hn^.x^' pN 2W, als eine heilige religiöse Pflicht erklärt.

Wir wissen nicht, ob in der ziemlich vveitschichtigen zionistischen Literatur schon einmal mit Nachdruck auf den interessanten Umstand hingewiesen wurde, dass unsere alten Dezisoren in der Frage, ob die mxo von hHi)^'' px aiu'^ auch in der Gegenwart angängig ist, durchaus nicht so einig waren, wie man aus der fanatischen Einseitigkeit, mit der man zur Zeit aus der Palästinafrage ein zentrales Lebens- interesse des Judentums macht, wohl entnehmen könnte. So hat u. a. a'^n u^m, dem das heilige Land mindestens so innig ans Herz gewachsen war wie unsern heutigen Zionisten und Misrachisten, das_ grosse Wort gelassen ausgesprochen : pi^jiy nöDi pK3 nnSnn mxö nor ii>^ '3 ^"«3 nn': nijfö ^yn vk>3j?i an'hv moySi ona "ini^S ]'h)y ux pxi „In der Gegenwart ist es keine Mizwa, in Palästina zu wohnen, denn die Gefahr, den zahlreichen Verpflichtungen, die das Wohnen im Lande auf- erlegt, nicht richtig nachzukommen zu können, ist zu gross, um das Risiko einer Uebersicdlung zu rechtfertigen" (siehe Nin nnn '3 "p m3in3 'Din). Wenn D'^n irsn heute leben würde, dann müsste er sich wohl den Vorwurf des mangelhaften Weitblicks oder gar versteckten Assimilantentums gefallen lassen. Nun ist freilich die Ansicht des D"n 1^31 nicht die von der für uns gültigen Halacha rezipierte, ja, von einer Seite (nmnsS "n3i n"2 "d 'wni t5"nn siehe n \y j?"nN n3itJ>n 'ms^) wird sogar bezweifelt, ob seine von 'Din zitierte Äusserung authentisch ist, immerhin beweist die Diskussion über diese Frage, die mit ihren zahlreichen Kontroversen u. a. auch vom yniD behandelt wird; welch empörende Unaufrichtigkeit und Spiegelfechterei es ist, wenn Palästinaschwärmer, die von einer konsequenten Anerkennung der Halacha nichts wissen wolh-n, ihre politischen Luftschlösser halachisch zu fundamentieren suchen. Wie es heute mit Palästina zu halten ist. das war einmal sehr fraglich. Dass man den Sabbath heiligen muss und sich nicht rasieren darf, das war niemals kontrovers.

360 Die mährische Landrabbinerwahl vor 70 Jahren.

Die mährische Landrabbinerwahl vor 70 Jähren.

Ein Beitrag zur Biographie Rabbiner Uirschs ViCT«

I.

Am 8. Tewes 5604 (1843) wandten sich die Vertreter der israelitischen Gemeinde in Nikolsburg in Mähren mit einem laugen, zum Teil in deutscher zum Teil hebräischer Sprache abgefassten Schreiben, in welchem aber auch die zumeist in dem spezitisch österreichisch-deutschen Idiom gehaltenen Abschnitte hebräisches Schriftgewand tragen, an den Landrabbiner Samson Raphael Hirsch in Emden, um auf dem Wege schriftlicher Verhandlung, von der damals Niemand ahnte, dass sie erst nach Jahren zu dem gewünschten Ergebnis führen werde, die Bedingungen festzustellen, unter welchen der Emdener Rabbiner geneigt wäre, auf dem Ni- kolsburger Rabbiuatssitz die Nachfolge der R. Nachum Trebitsch. R. Mordechai Banet und all der rabbinischen Grössen zu überneh- men, die vordem diesen „für die ganze mährische Judenschaft ein-, flussreichen Posten" innegehabt hatten. Bevor dieses Schreiben abging, hatten die „Häupter und Führer" der Gemeinde Nikolsburg durch den Prediger Mannheimer in Wien bei Hirsch anfragen lassen, ob er prinzipiell geneigt wäre, einer Berufung nach Mähren Folge zu leisten, und erst nachdem die Rückäusserung Hirschs einge- troffen war, dass er „nicht abgeneigt wäre, das mährische Land- rabbinat anzunehmen, wenn ihm dasselbe angetragen würde", Hess der Nikolsburger Gemeindevorstand seinen offiziellen Autrag nach Emden abgehen. In überschwänglichen Worten hatte Mannheimer die Eignung Hirschs zur Uebernahme des Landrabbinats der Ge- meinde Nikolsburg geschildert, und ihre Verwaltung war offenherzig genug, in ihrem offiziellen Antrag es Hirsch deutlich merken zu lassen, wie glücklich die mährische Judenschaft sich schätzen würde, wenn es ihr gelänge, die eingeleiteten Verhandlungen zu dem ersehnten Abschluss zu bringen. Der imposanten Überschrift: löiyn nssion li^'nr^ xin nntf'p yh' ny im^ nü^nn ^nö3 Sy hni'c^' ^astn

Die mährische Landrabbinerwahl vor 70 Jahren. 361

SxQn ]^^^2)i^ ,n"i!:3 ms np M^sfin San 'jq hv mm Ss-u>' n: SSiDn oon N"j;> jjj-ioj; p"pn Sxnu>^ pN n*;-, rt'npn motJ>?2 imö^o hv nvD njinn entsprach der Ton des ganzen Schreibens, das schon in seinen einleitenden Worten „die öffentliche Anerkennung, welche Ihren zu tage getretenen Werken in der literarischen Welt zuteil ge- worden, und der wohlverdiente ungeteilte Beifall, welcher von den Gelehrten aller Klassen Ihrem gedeihlichen Rabbinatswirken zuer- kannt wird, ist aus der weiten Ferne in unser Mährenland ge- drungen" — in Ausdrücken einer fast schwärmerischen Verehrung sich erging.

Man erwartete sich damals in Mähren viel von dieser Be- rufung. „Der geistige religiöse Zustand unserer Gemeinde bildet ein fruchtbares Feld, das bei zweckmässiger Bearbeitung und Kul- tivierung die edelsten Früchte verspricht. Durch die bereits ge- troffenen zweckmässigen Schuleinrichtungen die erste in der österreichischen Monarchie höchsten Ortes sanktionierte deutsch- hebräische Hauptschule ist vorläufig der Same hierzu ausge- streuet worden". In wahrhaft klassischen Worten umschrieb der Nikolsburger Gemeindevorstand die Grundzüge der Wirksamkeit des zu wählenden Landrabbiners, als er Hirsch die Erwartungen auseinandersetzte, die man in den Kreisen der mährischen Juden- heit hegte, für den Fall dass Hirsch bereit wäre, dem „fruchtbaren Felde" ein „zweckmässiger" Bearbeiter und Kultivierer zu sein. Noch heute lassen sich die Aufgaben eines Rabbiners nicht besser formulieren, als mit den folgenden Worten aus dem Nikolsburger Schreiben vom 8. Tebeth 5604. Diese Stelle des Briefes ist in hebräischer Sprache abgefasst, vermutlich weil die Absender die Wirkung ihrer Worte durch Übertragung in eine profane Sprache nicht abschwächen wollten. Diese Worte lauten : möDna 'p^ loiSo '\r 'n 7m ammnS r^ivr^ ':aV möv^ nr« k^'nh ir:iti>S2 d: i:itrS mnaa ^^'^^'f:2 n^sinSi ect^^^n viai S3S3S yin D^viem D\sn' an irnSnp 'Z'^v "ir, '2 inxci ir::nx ncii-* usti^N pirSa dj nu^npn mo'Sa Vf2nt2 invnS". 'n nur na- n^^xn D'trpno inxa uSid d^oSu^i minn 'yisö hv imy Snn 'n nai 'harz* SdS n^tJ'nS yiv nmn; jSsic*. ^33 D'O* nva lon mna dv n-nn ]*'annSi nr nj? uSjmn "itt>K2 nsn^m

362 Die mährische Lnndrabbinerwahl vor 70 Jahren*

D^jfenn D'Dmposn pan Sipö uaS do' kSi nSn hv mn ToynS ,nnNn

D>ytj>-i ^:ti> mnpnS "amn„ iiDon o^nna e"i5>K> tj>ip itt^N vmSi:?ö2i vtrvaa nmnn mrj?» i'^onS fcn inb iS nS« ir« ^*'ah 'd hjib: Sa nmvnSo nnu^Si umK TNT nSyD*? cn^iin o'rjy msSaSi 'n nm j;ioti>S n'^nnn pNOjt mnbi Sn:oSi nynS i:S nvnS ;j>k"i3 u^ti^mS n:jD a^nöu^i d^k>u> nvnS onpo

ntJ^iNn ^noa Sy u^mon

An diesen Worten ist vor allem die Entschiedenheit be- merkenswert, mit der sie die Ausübung des rabbinischen Berufes in der überlieferten Weise, durch Leruen und Lehren der Thora, als erste und wichtigste Vorbedingung der Wahl zum Landrabbiner aussprechen. Ausdrücklich ward Hirsch zur Bedingung gemacht, yntt^ h:>2 wti' nva lön mna nv niin painS, „einige Tage in der Woche mit Jünglingen Thora zu lernen" mit andern Worten, eine sogenannte „Jeschiwah" einzurichten. Dieser Forderung ist später- hin Hirsch auch wirklich nachgekommen. Dann aber legen diese Worte einen besonderen Nachdruck auf die Wichtigkeit einer mann- hatten Vertretung des überlieferten Judentums gegenüber den zer- setzenden Einflüssen der D''D*np'aN des liberalen Judenturas, wie man heute lieber sagt, und verlangen im Hinblick auf diese religiösen Gegensätze von dem künftigen Führer, dass er mit ausgebreiteten Wissen auf speziell jüdischem Gebiete und hebräischer Sprachkunde auch Kenntnis und Beherrschung dsr deutschen Sprache verbinde. Ja, es musste ein Mann sein, der „die Philosophie ordentlich ab- solviert hatte", wie es an einer andern Stelle des Schreibens heisst. „Und dass es an solchen, welche die Philosophie ordentlich ab- solviert haben, wenigstens an solchen durchaus mangelt, die damit echte Religiosität und all die guten Eigenschaften verbinden, die eine so einflussreiche Stelle erheischt, müssen wir zu unserem grössten Leidwesen gestehen".

Wenn die Verhandlungen mit Hirsch erst nach Jahren zum Abschluss kamen, so war daran vor allem die eigentümliche Ver- fassung des mährischen Landrabbinats und das umständliche Wahl- verfahren schuld. „Was ferner den Wirkungskreis des hierländigen Landesrabbinats betrifft, dürfte Ihnen bereits durch Herrn Prediger Mannheimer die Wichtigkeit des Einflusses auf Religion, Synagogen

Die mährische Landrabbinerwahl vor 70 Jahren. 363

und Schulwesen, welcher demselben amtlich zusteht, bekannt wor- den sein, wobei wir nur noch bemerken müssen, dass unsere höchst weise und humane Regierung eben damit beschäftigt ist, dem Landrabbinate eine ausgedehntere und zweckmässigere Richtung dadurch zu geben, dass ihm aus den rerschiedenen Kreisen noch 6 Kreisrabbiner untergeordnet werden, welchen in weiterer Ab- stufung die Lokalrabbiner untergeordnet sein sollen, damit der Landrabbiner seinem ausgedehten Wirkungskreise entsprechender obliegen könne. Nach den vorausgeschickten Daten kommt nun die Form, Art und Weise zu erörtern, wie nach unserer Landes- verfassung die Rabbinate besetzt werden, um Sie mit dem Gange rertraut zu machen, wie die Gemeinde Ihre Beförderung «um Lokal- und dann zum Laudrabbiner -zu erzielen beabsichtigt. Die Wahl eines Lokalrabbiners hängt zwar einzig und allein von der Ge- meinde ab, jedoch ist diese blos auf solche Individuen beschränkt, welche mit Fähigkeitszeugnissen vomJLandrabbiner und, nach einer neuen Verordnung, mit pädagogischen und womöglich auch mit philosophischen Zeugnissen versehen sind. Das Landrabbinat aber ist kein Wahlakt, welcher den Gemeinden allein zukommt, sondern es wird seinerzeit von der mährischen Landesbebörde der Konkurs zur Besetzung desselben ausgeschrieben, worauf nur Inländer und nach einer jüngst erfiossenen Regierungsverordnung nur solche CJil kompetieren können, welche die Philosophie ordentlich ab- solviert haben, und nur in Ermangelung solcher Individuen wie dieses der Fall sein könnte dürfen auch Andere, Xichtphilo- sophen, zut Kompetenz zugelassen werden. Das Mährenland ist in 6 Kreise und diese wieder in verschiedene Gemeinden geteilt, von denen jede einen Rabbiner zu unterhalten verpflichtet ist. Von jedem der 6 Kreise wird ein 21 als Wahlmann gewählt, welche sich insgesamt an einem von der hohen Landesregierung zu bestimmenden Tage in der Hauptstadt Brunn zum Wahlakte beim löblichen Kreisanit einzufinden haben. Diese haben zwischen den verschiedenen Kompetenten den vorzüglichsten als Landrab- biner zu wählen, welcher sodann von der höchsten Hofkanzlei be- stätiget und in Aktivität gesetzt wird. Dass die Wahlmänner dabei an die gesetzliche Bestimmung gebunden sind und demjenigen den

364 Die mährische Land rabbiner wähl vor 70 Jahren.

Vorzug einräumen müssen, welcher den Anforderungen der Behörden entspricht, versteht sich yon selbst .... Wir sind also nicht nur im Namen unserer Gemetnde, sondern auch im Namen der ganzen zahlreichen^mährischen Judenschaft berufen und aufgefordert, einen Mann wie "'"j O'D,. der die Lücke, die ein 31 unserer Zeit überhaupt und insbesondere eine so umfangreiche Stelle würdig ausxufüUen vermag, vorläufig als 2^-nhnp zu wählen, dem dann mit freudiger Zuvorkommenheit, durch Hinzutun aller Wohlgesinnten, von Seiten der hohen Landesregierung das Landesrabbinat ohne Zweifel zu- gewendet werden wird; wobei wir nicht unbemerkt lassen können, dass hochdieselbe mit der Konkurs-Ausschreibung vorsätzlich sistiert, weil seit undenklichen Zeiten das Laudrabbinat dem hie- sigen Lokalrabbinate angeknüpft war, und weil sie sich durch die Umsicht, die wir bei der jetzigen Wahl bewähren, im Vertrauen bestärkt sieht, in dem von uns gewählten Rabbiner einen voll- kommen geeigneten Kompetenten zum Landesrabbinate zu finden. Soll daher Ihre Ernennung zum hiesigen Lokalrabbiner, sowie Ihre weitere Beförderung zum Landrabbiner nach dem Wunsche unserer ganzen Gemeinde wirklich realisiert werden, so kann es nur da- durch geschehen, dass wir mit Beibringung Ihrer Zeugnisse, welche hoffentlich in jeder Beziehung entsprechend sein werden, im Wege der höchstem Hofkanzlei bei Seiner Majestät den Dispens erwirken, Sie ausnahmsweise in Berücksichtigung aller obwaltenden Umstände als Ausländer anstellen zu dürfen. Diese höchste Genehmigung ist schon der Stadt Wien für Herrn Prediger Mannheimer, der Stadt Prag für Herrn Dr. Sachs zuteil worden und ijach den be- reits hierzu vorbereiteten Schritten und des von den grössten und einflussreichsten Männern Wiens uns hierzu zugesagten Beistandes, können wir der allerhöchsten Genehmigung mit Vertrauen ent- gegensehen".

Das mährische Landrabbinat war, wie aus vorstehendem er- sichtlich ist, ein wohlorganisiertes Gebilde von über- und unter- geordneten Behörden, eine jüdische Zentralorganisation, gegen deren Uebertragung auf deutschen Boden freilich das orthodoxe Judentum in Deutschland: seit Jahr und Tag mit grosser Entschiedenheit protestiert. Denn was dort in Mähren vor 70 Jahren in einem

Die mährische Landrabbinerwahl vor 70 Jahren. 365

Kreise, der in überwiegender Majorität aus Thoratreuen bestand D''ö'?lJ>1 D'Hy nrt irnSnp ^n^V lain '2 biesg es eben in dem hebräischen Citat ein Segen war, das würde und müsste sich in Fluch verwandeln, wenn man es auf einen Kreis übertrüge, den der Sturm der jüdischen Kulturkämpfe des vorigen Jahrhunderts aus dem Zusammenhang mit dem Geist der Thora riss. Immcrliin wäre unseres Erachtens in der abwärts führenden Entwicklung des jüdischen Geistes in gar mancher jüdischen Gemeinde Deutsch- lands und Mährens manches anders gekommen und geworden, wenn das gesunde Prinzip der mährischen Verfassung, wonach jede Gemeinde ihren Lokalrabbiner, jeder Kreis seinen Kreisrab- biner und das ganze Land seinen Landesrabbiner haben musste, auch in Deutschland heimisch gewesen wäre und in Mähren ge- genüber dem zersetzenden Einfluss der nach Hirschs Fortgang immer gewaltiger hereinbrechenden Neologie sich hätte behaupten können. In Deutschland liegen die Verhältnisse seit Jahrzehnten so, dass auch grössere fromme Landgemeinden nach einem eigenen miö nxnn nicht das mindeste Bedürfnis haben und sich mit ihrem Lehrer-Kantor-Schochet durchaus zufrieden fühlen. Zum Nieder- gang des Thorageistes, Thorawissens und Thoralebens in Deutsch- land hat nicht zum wenigsten das Fehlen der religiösen Autorität in den einzelnen Gemeinden beigetragen, das Fehlen eines Mannes, der als fähiger und würdiger Repräsentant der Thora über die Erhaltung des jüdischen Geistes hätte wachen können. Die peri- odischen Besuche der Provinzial-, Distrikts- und Bezirksrabbiner in den Landgemeinden sind mehr oder weniger Formsache, die wohl eine Kotrolle dessen, was geschieht und nicht geschieht, ermög- Itchen, jedoch zur Hebung des jüdischen Geistes und Lebens in den Gemeinden nur wenig oder gar nichts beitragen können. Was den jüdischen Landgemeinden in Deutschland fehlt, das ist nicht zum wenigsten eine ständige Bearbeitung und Beeinflussung vonseiten einer als religiöse Autorität auftretenden Persönlichkeit, die über das nötige Thorawissen und Lehrgeschick verfügt, um in die Herzen der ihrer Seelsorge Anbefohlenen Liebe und Willen zur Thora einzupflanzen.

Die Hebung des Thorageistes in den Gemeinden ist eine

366 Die mährische Landrabbinerwahl vor 70 Jahren.

Personen und, was schliesslich auf das gleiche hinausläuft, eine Geldfrage. Könnten sich unsere Kultusgenieinden entschliessen, in ihren Kultusaufgaben etwas mehr als ein traditionelles Zubehör zum Leben zu sehen, mit dem man sich so wohlteil wie möglich abzufinden sucht,, es stände anders mit dem Judentum. Denn nicht blo8 innerer Drang, sondern die Wertschätzung, die der Rabbiner- berut in der Otfentlichkeit fände, würde gar manche jüdischen Talente diesem Berufe zuführen, wenn sich die jüdischen Gemein- den schämen würden, ihre religiösen Führer mit Taglöhnerge hältern abzuspeisen. Was man vor 70 Jahren dem künftigen mährischen Landrabbiner bot, war für damalige und dortige Verhältnisse nicht wenig und übersteigt an relativem Wert gar manches heutige Rabbinerhonorar selbst in orthodoxen Grossgemeinden, auch wenn die mit Ach und Weh gewährten „Teuerungszulagen" (wobei die Teuerung um ein vielfaches die Zulage übersteigt) mit hinzuge- rechnet werden. „Was endlich die äusseren Bedingnisse betrifft, so ist für das Lokalrabbinat ein jährlicher Gehalt von 600 tl. aus der Gemeindekasse zu beziehen. Die dem Lokalrabbinate zuge- wiesenen Emolumente dürften sich ca. auf 300 fl. erstrecken. Mit dem Landrabbinate ist ein jährlicher Gehalt aus dem K. K. Mäh- rischen Landesmassafonds mit 600 fl verbunden. Die demselben zukommenden Emolumente betragen eben mindestens 300 fi.. Sind schon diese Beträge an und für sich vollkommen hinreichend, ein unabhängiges und anständiges Auskommen für den künftigen Land- rabbiner zu sichern, so i&t doch die hohe Landesregierung soeben mit dem Plane beschäftigt, den auf 600 fl. bemessenen Landrab- binergehalt noch bedeutend zu erhöhen und jedem der 6 Kreisrab- binate wovon eines jedenfalls unserem Lokalrabbiner zugewie- sen würde, wenn wider alles Vermuten die Landrabbinerwahl ihn nicht träfe einen jährlichen Gehalt von 300 fl. aus dem oben •erwähnten Massafonds zuzuwenden. Zwar hat mm 'mo m:on roN rr'nSSlfl ViS^ants, welcher wie jeder seiner Vorgänger nach der oben bezeichneten Norm zuerst das Lokalrabbinat antreten und dann erst um das Landrabbinat kompetieren musste, auch bis zur Zeit seiner Beförderung zum Landrabbiner aus der Gemeindekasse blos den stipulierten Gehalt mit 600 fl. bezogen und mit Einschluss der

Die mährische Landrabbinerwahl vor 70 Jahren. 367

bezeichneten Emolumente einen anständigen Unterhalt gesichert gesehen. Aliein um für '"i n"03 die vorläufige Annahme des Lo- kalrabbinats annehmbar zu machen und Ihnen selbst für diese Zwischenzeit einen vollständiji: anständigen Unterhalt zu sichern, wurde hnpn nCDKa beschlossen : dass vorzugsweise für ''": n'ö3 und zwar blos bis zum wirklichen Antritt des in Aussicht gestellten Land- oder mindestes Kreisrabbinats der auf 600 fl. stipulierte Gehalt auf die Summe von 1000 fl. erhöht werde, wobei es sich von selbst versteht, dass dieser nach erlangter Kreis- oder Land- rabbinerstelle, verhältnismässig, jedoch nur bis zu den ursprüng- lichen 600 fl. verringert würde. In dieser Art ist der gefertigte Vorstand ^"j n"ö; oy zu kontrahieren und zur Erwirkung der aller- höchsten Genehmigung bereits ermächtigt."

So ehrenvoll diese „äusseren ßedingnisse" waren, so war doch die angedeutete Möglichkeit, dass Hirsch, zum Lokalrabbiner von Nikolsburg ernannt, ^ wider alles Vermuten" nicht zum Land- rabl)iner gewählt werden könnte, nicht ganz unbedenklich und ein gewichtiger Grund, die eingeleiteten Verhandlungen nicht von heute auf morgen zum Abachluss gelangen zu lassen.

R. B. (Fortsetzung folgt.)

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368 Zu Joma 86a.

Zu Joma 86 a.

Man darf wohl bei den Lesern dieser Zeitschrift voraussetzen, dass ihnen der Meinungsstreit, der hinsichtlich der in der Ueber- schrift bezeichneten Talmudstelle zwischen den Herren Dr. Ehren- treu und R. B. -obwaltet, aus dem 9. Heft des 4. Jahrgangs der „Jüdischen M»)nat8hefte" genugsam bekannt sei. Ich erlaube mir darum, mit Vermeidung von unnötigen Wiederholungen, ohne Um- schweife in medias res einzutreten und zunächst im allgemeinen zu bemerken, dass mön hv irnon Dn^:tt» aniin D'-nonj T'jyS und da- durch beiderseits gewisse Behauptungen aufgestellt wurden, die meinem bescheidenen Dafürhalten nach berichtigt werden sollen.

I.

S. 266 konstruiert Herr Dr. Ehrentreu aus den Worten "nn's, die Herr R. B. seiner Auffassung entgegenhielt, einen Gegenan- griff gegen '•"ti^i, indem er schreibt: „Gerade die Worte Abbajis sprechen für meine Auffassung. Rab sagt, es wäre ein DttTi SiSn, wenn er Fleisch vom Metzger nehmen und nicht gleich ih'^nS bezahlen würde. Was heisst dieses ihSkS ? Jeder, der Raschis Erklärung zustimmt, muss doch annehmen, dass dieses in'^NS sich nur auf den Moment der ortsüblichen Bezahlungsweise bezieht. Ist die sofortige Bezahlung beim Fleischeinkauf üblich, so ist unter IhSkS dieser Moment zu verstehen ;^zahlt man dagegen gewöhnlich bei Vorlage der Fleischrechnung, dann ist mit nn'rN'? eben dieser Zeitpunkt gemeint; denn derselbe Verdacht, der Min^n 'ynn ahl am Sonntag beim Fleischeinkauf besteht, der entsteht doch 'yam Ninxn am Montag, wenn dit^ Fleisch- rechnung vorgelegt wird. Wie kann also Abbaji da einen Unterschied machen und sagen, . dass ^ysm Nin^n kein Verdacht angeht? Meint er wieder, dass 'j?nm Ninsa nur beim Fleischeinkauf kein Verdacht entstehen kann, wohl aber bei Vorlage der Rech- nung, dann"... .ist das, was er sagt, so Selbstverständli- ches, dass e.s gar nicht gesagt zu werden braucht. Wie soll jemand auf den Gedanken kommen, dass Rab verpflichtet sein soll, "'yam Xinxa, wo jedermann erst nach Vorlagii der Rechnung

Zu Joma 86a. 369

seine SchuM begleicht, im (iregensatz zur ortsüblichen Einiichtung, sogleich Bezahlung zu leisten?"

Soweit Herr Dr. Ehrentreu; und da er diese Einwände ge- gen ''i:>i unbehoben lässt und sie auch durch Herrn R. B. S. 268 nicht hinreichend widerlegt werden denn zugeg.iben, dass m den Ausspruch ■"'nx's nicht im Auge hatte, so hatte doch^ im- merhin '^2K den Ausspruch ai's vollinhaltlich akzeptiert^); und die Fragen richteteu sich dann gegen '''2N , da nun, wie gesagl, diese Fragen in ihrem Wesenskem allenfalls unangetastet blieben, daif, wenn irgendwo, so hier das Wort gelten: Ka"i KnnJ

Zunächst kann nämlich sehr wohl angenommen werden, dass auch •'ynm NnnK2 nur beim Fleischeinkauf kein Verdacht entstehen kann. Man könnte jedoch der Meinung Raum geben, dass der Metzger einem 2" gegenüber eine gewisse Scheu empfin- det und ihn auch ^y^m NIDNa nicht so leicht und nicht so bald zur Zahlung auffordert, also, dass die Eigentümlichkeit des K"inN ■•yam bei einem Snj aiH völlig illusorisch wäre; darum mussto •"nx betonen, dass dem nicht so sei und 'vnm NinN3 auch (iin m keinem Verdacht ausgesetzt wird, wenn er nicht gleich beim Fleisch- einkauf bezahlt, da 'ysm NinNl keiner beim Einkaut bezahlt und später im Gegensatz zu der auch bei uns üblichen Um-; gangsweise jeder, aurh der Vornehmste zur Zahlung aufgefor- dert wird. Der Ausspruch m's ist also nicht etwas Selbstverständ- liches, auch wenn die Prämissen, von welchen Herr Dr. Ehrenlreu ausging, unanfechtbar wären.

In Wirklichkeit können wir uns dieser Deutungsweise getrost entschlagcn, da es ja uns unzweifelhaft erscheint, dass der Ver- dacht, der ^yan nSt snriNn entstehen kann und entstehen muss, 'yam snriNS nicht im geringsten angängig ist, auch wenn man bei Vorlage der Fleischrechnung nicht nnVKS

') Vgl. -lo^n HDiyc 0"D bbj 2"^ pbn ."iOn mtt>; nach seinen Aus- führungen ist es jedenfalls evident, dass einer der zwei D"'{<11DN den ur- sprünglichen pi mit dem Unterschiede, den ^j^ i^'-) macht, unverkürzt sich zu eigen macht. Nach dem dort S. 6U gesagten ist auch die Kontroverse S. 267 und 2G9 der „Monatshefte" in Bezug auf ^y^ n'i gegenstandslos.

370 Zu Joma 86a.

])ezahlt. Wir müssen nur die Dinge nehmen, wie sie sind. Es ist doch ohne weiteres klar, dass, wenn sich jemand trifft, der 'Vin ahl Kinxi zufälligerweise einmal von der ortsüblichen W iise abweicht und beim Fleischeinkauf nicht sofcut bezahlt, er doch noch nicht sogleich als ]hn verdächtigt wird, geschweige denn, wenn dieser ,Jemand„ ein an ist. Nur, wie '"C^l wohlweislich her- vorhebt, yntS nriNö ':xt5>D1, wenn er mit der Bezahlung aus Ver- gesslichkeit oder Mittellosigkeit säumt, dann, aber nur dann wird beim Metzger der Verdacht erweckt, dass Betreffender ein I^TJ sei, da er sich folgendes sagt: Der Käufer bildete eine Aus- nahme; er kaufte entgegen der Ortsgew(»hnheit Fleich auf Borg; nun sind Tage verstrichen und er bezahlt nicht, wiewohl er weissj, dass hier ^yan ühl Ninx ist und ich ihn zur Zahlung nicht sobald auffordern werde. Gewiss denkt der Käufer, entweder dass das ganze Anliegen im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten werde, oder aber meint er, dass, wenn ich ihn imdlich gerichtlich belangen werde, er mir den ganzen Kauf ableugnen oder behaupten könnte, dass er inzwischen schon bezahlt hätte.

All diese Verdachtgrunde fallen 'j;2m K"inN3 selbstredend weg, da die Schuld niemals veigessen werden kann, da es ja dem Metzger freisteht, wenn der Käufer bei Vorlage der Rechnung am Montag nicht bezahlt, diese am Dienstag und am Mittwoch wieder vorzulegen. Nach der Auffassung '•"ti^n's also ist der Aus- spruch "3n's ohne jedwede Zwangsdentung restlos klar.

Nicht dasselbe lässt sich von der Ehrentreu'schen Au?ilegung sagen .

Den Einwand allerdings, den sein Kritiker, S. 268, geltend macht, dass an der Stelle zu pSin von Preisermässigung, hier zu NOV aber von einer Abweichung von der üblichen Zahlungs- weise die Rede ist, vermag ich nicht zu unterschreiben, da dieser Vorwurf |vielleicht die unpräcise Wiedergabe, nicht aber das Wesent- liche des Ehrentreu'schen Gedanken^^anges triftt. Die xriDDin zu pSin, worin gesagt wird : iS nöTin |01 mvon JD pmn. dürfte näm- lich tJ>"Dö, in gesteigertem Masse angewendet werden, wenn jemand an dem ortsüblichen Zahlungsmodus für seine Person etwas ändert und

Zu Joma 86a. 371

hierdurch, wie wir gesehen haben, sich sogar dem Verdacht, ein 1^7: zu sein, aussetzt. Nur bei den n^KIIDN daselbst, bei ns 13 nT\ nyn und nn, die, wie gewöhnlich, das gekaufte Fleisch sogleich bezahlten, konnte nur von dem Verdacht der Preisermässigung ge- sprochen werden, dem aber durch die Tatsache, dass sie nach Gewicht kauften und den normalen Preis erlegten, vorgebeugt wurde.

Jedenfalls aber könnte die höchst originelle Auffassung des Herrn Dr. Ehrentreu, nrch wenn der Einwand des Herrn R. B. besteht, ihre Verwertung finden nach F]"''1 und tf>"K1, die den Aus- •spruch '»3n's nicht codificieren, aUo zwischen diesem und ai, wie es scheint, eine antchsi erblicken.]

Meinerseits habe ich gegen die Ansicht des Herrn Dr. Ehren- treu folgende Bedenken. Nehmen wir Menschen und Dinge wieder einmal, wie sie sind. Es ist dann fraglos, dass wenn jemand, zumal ein ai, ""Vin ühl NinK2, wo jedermann seine Fleisch-Rechnung so- gleich beim Einkaufe bezahlt, die ortsüfjliche Zahlungsweise ein- mal umgehen und auffallender Weise Fleisch auf Borg nehmen muss, er dies sicherlich nicht wortlos tut. Gewiss wird er sich dann beim Metzger mit einigen Worten entschuldigen, dass er momentan kein Geld bei sich habe und dergleichen mehr, dass er die Schuld ehestens begleichen werde. Es kann demnach nur der Verdacht angenommen werden, der, wie ''"U^l ausführt und wie oben des Näheren dargelegt wurde, späterhin beim Metzger entstehen kann. Der Verdacht hingegen, dass der n^n für lein „Passkenen" „Fleisch unentgeltlich erhält", wird ja Lügen gestraft durch die Entschuldigungsworte, die er als doH, der doch factisch ebenso bezahlt wie andere, und der als iSun na rrNIT besonders vorsichtig ist, gewiss hörbar für jedermann sprechen wird.

Nur zu T'O l'Sin. wo von dem Verdacht einer Preisermäß- sigung die Rede ist, da. wie bereits gesagt, gewöhnlich sofort bezahlt wird, sagt ""^ sehr richtig, dass wenn man nicht so- gleich die Schuld tilgt, der Verdacht der Preisermässigung noch immer besteht, da man sich sagen wird, der nrn nimmt wohl das Fleisch nach Gewicht und er wird wohl, wie er eben sich ent- schuldigt, bezahlen, aber weniger als wir. In VB NOV kann

372 Zti Joma 86a.

jedoch, wie Herr R. B. treffend bemerkte, von dem Verdacht einer Preisermässigung nicht gesprochen werden, da der Unterschied zwischen ^van ühl N"inm 'Vnm xnnK dem widerspricht.

Im Übrigen yyn Hin) ist es klar, dass '"^n zu |^Sin nur die Tatsache konstatiert, dass T-o mv^n |mJ1, da dies von vorneherein nicht anders vorausgesetzt wurde und auch die Nlö3 diesen Punkt stillschweigend für bekannt angenommen hatte. Somit, meint '"fi^\ fallen die onit^n gewiss weg; möglich ist es aber, dass wenn der ddh dem Metzger erklärt, dass er späterbin nach Gewicht den normalen Preis erlegen werde, der liyD von rSin ebenfalls ganz behoben ist und nur jener bleibt, der zh KOV nach "'"ti^i erwähnt wird und folgerichtig : nSi KnnK3 '•S^ö '•:n"i

Dass nh ^ynm Ninxn, ist aber auch nach dieser Erklärung, die '''VI bietet, kein NU'ti'D, nicht etwas Selbstverständliches, da ja D"nö"i nach ,"t:ti>D P]DD in der Tat umgekehrt die üDI': hat : ött; xS '•yin nhl S2K ,"'V3rn» Was nun nach n'ao"' affirmativ einleuchtend ist, würdet man nach '•"tJ>"i, so '^nx seinen Spruch nicht getan hätte, hypothetisch, irrtümlicherweise, Toa, sehr wohl angenommen haben-, darum, um die HOyi des D'aöl auszuschalten, sagt ^'3X mit Nach- druck ab 'V3m NinK3 Snx,

IL

S. 279—80 bespricht Herr Dr. Ehrentreu die diesfällige Ent- scheidung des N"\-i ni^nn mo^ 'no n"B D"nön, die die Sentenz im Gegensatze zu m's Ausspruche, der sie nur beim Fleischeinkaufe, hier aber bedingungslos gelten lässt, „einerseits erweitert und auf alle Einkäufe ausgedehnt, andererseits wieder auf den Fall des Besitzers von Barmitteln eingeschränkt" codificiert.

Diese scheinbare Abweichung des D"3Dn von unserer Quellenstelle erklärt Herr Dr. Ehrentreu durch einen Hinweis auf T'D F]1 yh^n, wo m den Genuss von Fleisch aufs Äussersste ein- schränkt und ihn nach Belieben nur demjenigen gestattet, der über reiche Mittel verfügt. Diese Ansicht des an liege nun auch seinem Ausspruche zu KöV zu Grunde, weshalb er die Sentenz nur beim Fleischeinkaufe, da aber in absoluter Form aufstellte- „denn da kann man, talmudisch gesprochen, i^i»c: noo sagen : Wer kein

Zu Joina 86a. 373

Geld hat, soll kein Fleisch kaufen, wer Geld hat, soll es bar be- bezahlen. D'nöl hingegen „codificiert [von den Worten m's nur das, was von ihnen halachisch gültig ist"; und da „die Anschauung m's über Fleischnahrung bei den späteren Amoraim keine Zustimmung gefundjejn" „sie sagten, für uns gehört auch das Fleisch zu den notwendigen Nahrungsmitteln"

darum formuliert d"2ö1 die nzhn in der uns vorliegenden Fas- sung: 1^ it^^tr Kim nnSxS npon 'fii pu lym nph^ ]^:i,

Demgegenüber behauptet Herr R. B. S. 283, „dass diese Worte

lh U>^U> Nim im Zusammenhang mit den folgenden : IKITÖJI jD^pö Nim yy2ir\ D^DIOH zu verstehen sind". „Hat ein Snj ülü beim Einkauf Geld, dann yyyin Qn^icn iKSfOJl, dann ist der Anspruch des Verkäufers auf sofortige Bezahlung eine stillschweigende Folge der Tatsache, dass ih tt'^U', dann ist der Käufer zur sofort- igen Bezahlung verpflichtet, auch wenn er hierzu nicht ausdrücklich aufgefordert wird."

Gegen den Gedankengang, womit Herr Dr. Ehrentreu den d'^O". interpretiert, erhebt sein Kritiker die folgenden Einwände: 1. S. 284. „Die Sentenz Raws in Joma will ein Beispiel aufstellen, wie ein Fall von Dtt>n h'ihn bei einem '^nj mx und nur bei einem solchen mög- lich ist. Gilt aber der Satz in Chulin: '^3^S U^inS UX j^oni: m löN IpTn nur für den Sn: DIN?" 2. S. 285. dasB „gerade das, was nach der Meinung des Verfassers an den Worten Raws halachisch nicht gültig ist, an einer anderen Stelle im Rambam als codifizierte Ha- lacha auftritt", zu 5,10 myn m^Sn, wo es heisst: h)Dnh «naS vi hDia üv Sra nu>2 h^zah ns i'^i^v "^ dkt nntJ» myS na^ myo "itra. 3. S. 286. „Es werden hier myn 'n die zwei Sätze, die vom Verfasser, um den Rambam in Jesode Thora zu interpretieren, mit einander verquickt werden", der zu pSin und der zu MDV nämlich „in einem und demselben Abschnitte der mr' '-t vom Rambam selbst in zwei von einander völlig getrennten Halachoth codifiziert, die mit ihrem talmudischen Ursprung auf zwei von einander gänzlich un- abhängige Gemarastellen zurückgehen."

Ich bin nun in der angenehmen Lage, die erfreuliche Mit- teilung zu machen, dass in gewisser Beziehung npS UIID D.m:tt' Snj, dass die Anschauungen beider Parteien teilweise von einem

374 Zu Jom 86a.

Vorläufer vertreten sind, der kein geringerer ist als ^t2''nKpDK3 P]SKn "i S"2:t, ein Sohn des hp^n n^irriü Sj?a, der weltberühmte Verfasser des muffi IID. Da, wie ersichtlich, das ncD nicht jedem zur Ver- fügung steht, lasse ich von seinen Ausführungen, daselbst y P]1, die zu unserem Probleme einschneidenden Bemerkungen wörtlich folgen :

r\yr\)if S'-Joi "\D^ jö'po Nim yv^^n cinsiön inxoji 'idi nnvi ma Kim i^pin D^nDiom noxa n n\n:j> imsS -jn Kin miK^S "invöj,!,, D^Dian lyari' mn^nm ^«mn p dni "loi 1:121 iii»« nmn Nin ^nx 'idt |D^pö SiD' iJ\s njipn Kin a: Nim 'idi n:pjn imn rm ,nivon nny n^o inix 1Ö31 in'32 mvö iS tr^ K13: Ninm «in ynM 'iSj "imn nnti> 'idi Sv:nnS S"T im iiN^ir,

Hier ist also die Grundidee, an die R. B. seine Deutungsart versuchsweise anknüpft, in positiver Form verzeichnet.

Die Ausführungen des ni^^f^n mo, die zum Teile die Ehren- treu'sche Auslegung enthalten, lauten wie folgt :

n:^'hf2 m. '^i n''^2n S"t iram T02 ':n iöin it ?]k 'idi inSai,, nSi NPaao N-iti>n NjS^ptt^ ^x n:k pjD nn ion V'ti Dtt> pnDNi h":n «noji S"7 irnnS n^*? x^tj^p, n'Jif' nxn 'idi 'idi xno:n V'^j; 'i3i ihSn'? ^di N:rn^ pi mnnjn |o nc tsp: xSi ,Nnnaö Nnt>2 Npn i:itt>S3 m t:p: noS K3N |ir Nim ,NonD i:iit>Sn öpJoS anS iS "n mw nnvi ,nDnDi '':i:nn |0 ,n\T'C^ n\m onann Sa nn SSid n^n^ ^öt N:n^^^ xSi ;n^o n:h'p^ \s' nTH ^Njnn nunnS iS n2:^ p\nö T':^'? n'^P ^"i iJ'si nna d3 S^D Nnon i3t: nS niiNaStr ,S^v'7 iidndi 'idi )h u'^iy Nim h'n n^nnti^ nSi ncpna np^S iidn ^öj d^di iS pN 'd f]N NoSn p dni ,mn 'Ninnö vSa 'NiJ^UD "IHN ni2 nmyn:tj> ^n^Nn.

Sa iS IN 2:^ n7öi "[D am niö^o inh t^naS S't iran ,nNi "[a mroi rn S"n Nioja pnöN H"v t's *]"i pSinai Nim no anatt'vnnaDi man löN 'iai 'iai ipTH nanS tJ^inS ijn panx an nox 'iai i^iaj nx 'n pm' ^a )h j^Ntt» ^öT naiD am ma Dniani .S"ay pSaiNi piS i:n p:a |om ai c>"aöi nati>S iS^bni nnN Nits^S iS^bx SSa ntf>a n:p^ xS n:o D^tt>en ninoS xSx iK>a mx h^ü' ah^ nn:y p itvSx 'la laiD xin aitt> ,Sinn nixra xSt xnnxa n^•^ am ,mNoS j?Qit?>a nann niyö i'? .m.mti'a ir\'n pax^nS DX'p DX1 ,']U^2n ym niyön mo löy x^anSi mnuS 711: npiSn '\mr ^yan nnx px m nsS iSxiti» najsn n\n 'nn ,nat3no ncpna nt^an npiS n\n an löiSi ni:a SyjnnS Sia^ ai n\T nSi idSn^i W2n mno 'on "[öj? x^ao

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Hin«,, werden, da,» talmudisch gesprochen, d,e A -s hr^,ng

nes leitenden Gedankens, ^"'^'^"'Y'' f" pShi. '^ ner Anwendung .ur Entsehe.dung des n 30-> ;' '^^ . h; p'"HP='«= wohlweislich darun, nach der oben g

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legten Methode, nicht aber nach der Ebrentreu'schen bewerkstelligt und gebraucht wird, damit den sehr be- rechtigten ersten zwei Einwänden, die Herr R. ß. gegen diese letzte erhebt, vorgebeugt werde.

Nach mii'ö niD wird der Ausdruck XJK ji:3 folgerichtig nicht nur in der üblichen Weise, sondern, wie oben durch Sperrdruck hervorgehoben, auch in dem Sinne gedeutet, dass „wer so gesund ist, wie ich" etc., und hierdurch, aber nur hierdurch wird der Einwand ad. 1) hinfällig.

n:tt>ö mo erörtert die Art der Anwendung seines Gedanken- ganges zur Beleuchtung der Entscheidung des D"201 des Näheren nicht. Eb ist demnach klar, dass er den lt»nn, den Herr Dr. Ehrentreu uns gebracht, dass nämlich zwischen m und den ande- ren D-NllöK zu i'Sin eine KH^iSd bestehe und o"30n die diesfällige n^hn im Gegensatze zu 21, nach den ihn bekämpfenden D'NmDK entscheide, ablehnt. Denn würde nJ^O IID an diesen tt>n'n gedacht haben, so hätte er ihn, als iedenfalls kein nb''^ci NdSo, als kein „etwas Selbstverständliches", sicherlich mit Nachdruck hervorge- hoben und begründet. Die Durchführung der Grundidee des -no n:U>ö mit Hinblick auf die Entscheidung des D"nö1 erscheint daher als ohne weiteres gegeben ; und zwar j?""i2T ayhü, in Übereinstim- mung mit sämtlichen D'^NnöN zu pSin. Man braucht nur einfach den Faden weiterzupinnen: y] zu nov hat von Ausnahmefällen, von D^K^in nnatt^ö gesprochen-, d"30*1 hingegen spricht von der Allgemein- heit, der auch Fleisch als unentbehrliches Nahrungsmittel gilt und dessen Kauf, so man kein Bargeld hat, gestattet ist. Wie es sich mit Einkauf von Fleisch speziell für D'Mn2 nPiCti'ö verhält, die Ab- leitung dieses p's durfte D"30"i stillschweigend vorausgesetzt haben eben aus jener n'jhn, die er '"n n"t mvT illoSn codifiziert, dass

Die'sen Fall, der mn |on eine Ausnahme, eine n^r x'?! KnSo ist, die beispielsweise von C]"'l und tt>"K*i überall systematisch über- gangen wird, konnte D'niD") umsomehr unerwähnt lassen, da er, wie dargelegt, in den moSn zu myn 'n und zu nmnn mo' 'n implicite enthalten ist.

Der Vorwurf des Herrn R. B. ad. 2) ist nach dieser Klar-

Zu Joma 86a. 377

Stellung ebenfalls gegenstandslos, da, wie nach nitt>0 "ilD angenom- men werden muss, die msSn zu mV'T 'n und n"nD' 'n nicht nur sich nicht widersprechen, sondern vielmehr sich gegenseitig ergänzen.

Der Vorwurf ad. 3) scheint mir von vorneherein unbe- rechtigt, da nur von einer Verquickung der zwei NiDJ-Stellen die Rede war. D"301 codificiert hingegen das, was an beiden Stellen n^hfi ^t hy für jedermann bezw. für jeden Gesunden aktuell und bindend ist. So spricht er in myn 'n vom D\t>n SiS'n, zu n"nD' 'n vererst vom Fleischgenuss, dann vom geschäftlichen Gebahren eines DDn i^oSn, cSiyn oiSti^ o^aio d^odh n^oSn nowit» no D^'-p'?.

III.

Zur Behebung der auch vom njtt^on no vermerkten Schwie- rigkeit, dass n speziell vom Fleischeinkauf spricht, d"3ö1 hingegen den Geltungsbereich der Sentenz auf alle Einkäufe erstrekt, möchte ich meinerseits folgenden Lösungsversuch empfehlen. In n'V^^ 'K n:tf>0 'N pIQ wird gelehrt, dass die Ausstände eines Ladenbe- sitzers, also eines Lebensmittelhändlers, auch in einem Erlassjahre aufrecht bleiben und nicht fahrengelassen werden müssen, ncpn nSDö^O nrx mjn, Demgegenüber wird '3 nj^ö daselbst gelehrt, dass die Ausstände eines Metzgers gleich anderen Schulden be- wertet werden und in einem Erlassjahre wegfallen. Aus der Fülle der Erklärungsvveisen, die diesen scheinbaren Widerspruch zwi- schen 'K n:)i^i2 und '3 rcU'O zu eliminieren trachten, sei hier die Auffassung des P]DV n"'2 angeführt, die unser Problem m. E. be- friedigend löst.

'"3 zu tj"" |0'D T"D p'ü D'in schreibt :

n:oNn Kvn m:n ncpm mv^f^r^ «>ti^c2 caenn ^m^ 'idi nun nßpn„

iVN'^ ':bo n^raii'n nW2 J30tJ>j n\n^ nS |»2pjn nn inpo* poo "[d tsyo ^h ^dö Sax am n'n'r ö"j? m:nn Sj^n i*? n^o kSi mn T-y N'nnb pDC D"30"in 'idi 'idt V'Dj? i:ioo i^ |nM Srn papnju> ly tsyr: nnnn ncpm 'i2i mtn riK tDmrm pDc dji tsero nrn m:nn ncpm im pNi um SöiJ P11D3"! D'njti>i njii^ ^'p'"^'' "[mtf^ 'j«r px D^pDiQn nnSi n^ya^n ihk iy ^:^^hr^ iS^kd S"in pttt p^ji i^:jS nnK ' vinc*? |öT ^b V2p k^^i n*nnS pen iDian Snx nj:o^o n'v^atf» ir\m naoiro n^rntJ^i imSn iS^nj S"in iS n30tt> to n^ra^n ^mn n\i dn nnn npSni nnen nN amti>m K'nm kövb

378 Zu Joma 86a.

Es ergibt sich demnach, dass der Kaufuiodus beim Fleiscb voü dem, der bei den meisten Lebensmitteln üblich war, im Zeit- alter der D'N^n sich v/esentlich unterschied.

Wenn man andere Lehensmittel ohne sofortige Bezahlung kaufte, 80 wurde dies nicht als Kreditgewährung betrach- tet, da man für sie gewöhnlich erst nach 1 2 Jahren, nachdem man schon ein grösseres Quantum genommen hatte, zu zahlen pflegte. Darum heisst es n:tJ>p3: nü^u^ö nrs nun ncpn. Fleisch hingegen bildete, so man dafür nicht gleich bezahlte, das typi- sche Bftispiel für den Kauf auf Borg auch bei einem Ge- nussartikel, da man es wie andere Gegenstände, wie Kleidungs- stücke und dgl., verhandelte und wenn man dessen Kaufpreis nicht sogleich erlegte, dies als Kreditanspruch angenommen wurde. Mit Recht sagt darum '3 nr^D, dass mn npbm nnsn na tsm^n »oti'o nmj?D ^inn n\n du,

Man darf nun ohne weiteres voraussetzen, dass die Kaufs- modalitäten, die zu Zeiten der n:ii>o in Geltung waren, im Zeitalter an's noch bestanden, zumal mn x:n 31. 21 hatte darum mit Ab- sicht von Fleischeinkauf gesprochen, um den ti>nri darzutun, dass es auch beim Einkaufe von Lebensmitteln einen Fall gibt, wo der Dti'n SiSn entstehen kann. d"2ö"i hingegen rezipiert eine nrSn nach ihrer Grundidee, nach ihrem Wesensgehalt, dass sie geltend ge- macht werden könne immerdar, im Anschluss an die jeweiligen Sitten und Gebräuche einer jeden Zeit. So sehen wir beispiels- weise heute, dass der Unterschied zwischen Fleisch und anderen Nahrungsmitteln, der zu Zeiten der n:tJ>o bestand, bei uns und für uns nicht zu berücksichtigen, da er einfach nicht mehr zu kon- statieren ist. D"30n stellte daher die allgemeine Regel auf : pjr

|a'pö Nim, dass in jeder Zeit und in einem jeden Falle, wo ein Kreditanspruch festgestellt werden kann, dieser von einem am T-oSn unterlassen werde.

Diese Deutungsart dürfte besonders zutreffend sein, wenn man sich an njti>0 P]D3 hält, der bekanntlich nach D"3ö"i die Lesart hat: '151 ''j;3m Ninxa ö"m, wonach der oti'n SiSn in der unnötigen Inanspruchnahme des Kredits wurzelt. Vgl. hierzu : njtJ>en mo, '2 ly^2 ,SKntt>^ mNDn, t5"»in daselbst und vss p"D ro '^oa d^öid. Szäszregen. Rabb. J. Freund.

DS Jüdische Monatshefte

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Jg. 3-4

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