„Kant=Studien" ^^^^^^^^

Ergänzungshefte im Auftrag der Kant-Gesellschaft herausg. von H. ValhJnger, M. Frischeisen-Köhler und A. Lieberf. Nr. 54

Kants Lebensanschauung

in ihren Qrundzügen

von

Albert Qoedecl<emeyer

o. ö. Professor an der Universität Königsberg

Motto: Was nutzt Philosophie, wenn sie nicht die Mittel des Unterrichts der Menschen auf ihr wahres Bestes lenkt. Kant.

Berlin

Verlag von Reuther & Reichard 1921

Alle Rechte vorbehalten.

Druck von H. L a u p p jr in Tübingen.

III

Inhalt.

Seite

I. Die Bestimmung des Menschen.

1. Der methodische Standpunkt i

2. Das Wesen des Menschen 6

3. Das Weltbeste 29

II. Die besonderen sittlichen Aufgaben.

1. Eigene Vollkommenheit 35

2. Fremde Glückseligkeit 53

III. Die Realisierbarkeit des Weltbesten.

1. Ihre Bedeutung für die sittlichen Aufgaben 56

2. Die Realisierbarkeit als Glaubenssache 57

3. Die Postulate der moralisch-praktischen Vernunft 59

IV. Die Realisierung des Weltbesten.

1. Der Fortschritt der Menschheit 64

2. Die Realisierung der Sittlichkeit 69

3. Die Realisierung der Glückseligkeit 89

IV

Vorbemerkung.

Es steht fest, daß die theoretischen Untersuchungen für Kant nicht Selbstzweck gewesen sind, sondern im Dienste einer Lebens- philosophie gestanden haben. Sie zielen in letzter Linie alle auf die Beantwortung der Frage nach der richtigen Lebensführung hin. Kants Philosophie ist in ihrem tiefsten Grunde Weisheitslehre gewesen »in der Bedeutung, wie die Alten das Wort verstanden, bei denen sie eine Anweisung zu dem Begriffe war, worin das höchste Gut zu setzen, und zum Verhalten, durch welches es zu erwerben sei«^). Ihr eigentlichstes Problem ist daher kein anderes als das, was von verschwindenden Ausnahmen abgesehen immer im Brennpunkte philosophischen Interesses gestanden hat, seitdem ihm durch den epochemachenden Kampf der griechischen Sophistik gegen die Naturphilosophie diese zentrale Stellung zuteil geworden ist. »Die größte Angelegenheit des Menschen ist, zu wissen, wie er seine Stellung in der Schöpfung gehörig erfülle uud recht ver- stehe, was man sein muß, um ein Mensch zu sein«^). Die Frage nach des Menschen Bestimmung und der Art, in der er ihr gerecht zu werden vermag, ist für Kant das wichtigste.

i) Kritik der praktischen Vernunft S. 130/31 R.

2) WW. VIII S. 623 Hart. Vgl. Logik S. 25 Jäsche.

I. Die Bestimmung des Menschen.

I. Der methodische Standpunkt.

Wer von einer Bestimmung des Menschen spricht, muß sich darüber klar sein, ob eine solche Redeweise überhaupt und unter welchen Voraussetzungen sie berechtigt ist. Kant hat sich dieser Aufgabe nicht entzogen. Folgendes ist die Lösung, die er gibt.

Solange, heißt es bei ihm, kann von einer Bestimmung des Menschen keine Rede sein, als man sich mit einer rein mechani- schen Erklärung der Welt und aller Dinge in ihr begnügt und zugleich auf ihr besteht. Das zu tun ist aber wegen der Bedeutung der mechanischen Erklärung für die Einsicht in die Natur der Dinge durchaus begreiflich. Denn man sieht nur soviel voll- ständig ein, als man aus einem klar und deutlich erkannten Prinzip abzuleiten vermag und darum nach bekannten Gesetzen auch selbst machen und zustandebringen kann. Deshalb ist die Natur- wissenschaft bestrebt, an den Prinzipien festzuhalten, die es ihr ermöglichen, ihre Objekte selbst auf dem Wege des Ex- periments — hervorzubringen. Das aber sind nicht selbsterdachte Kräfte und keiner Belege fähige Gesetze, sondern Grundsätze, deren Gegenstand in einer möglichen Erfahrung gegeben werden kann, die sich also empirisch bestätigen lassen, d. h, die Prin- zipien des Mechanismus als der Verbindung der Materie nach ihren eigenen Kräften, der Anziehung und Abstoßung, und ihrem eigenen Vermögen, dem Bewegungsvermögen. Aus Gründen der einsichtigen Erkenntnis also hat die Vernunft das größte Interesse daran, alle Naturerscheinungen auf die bloßen Bewegungsgesetze der Materie zurückzuführen und am Mechanismus festzuhalten. Täte sie das nicht, so würde es überhaupt keine Natur erkennt- n i s mehr geben; eine »faule Philosophie« oder bloße »Träumerei« würde an ihre Stelle treten, die keine Naturphilosophie mehr wäre,

Goedeckemeyer, Kants Lebensanschauung. I

2 Die Bestimmung des Menschen.

sondern das Geständnis, daß man mit seiner Philosophie zu Ende sei i).

Eben deshalb ist es für die Naturwissenschaft auch ganz un- möglich, von einer Bestimmung des Menschen zu sprechen. Der Gedanke der Bestimmung setzt den Begriff eines Zweckes voraus und weist damit auf eine Kausalverbindung hin, die in der Natur- wissenschaft keine Stelle haben kann. Denn der Begriff des Zweckes ist ein reiner Vernunftbegriff oder eine Idee, ist m. a. W. ein Begriff, für den die Erfahrung, auf die sich die Naturwissen- schaft immer stützen muß, ein adäquates Beispiel nicht an die Hand gibt. Er kann in der Naturwissenschaft nur als ein »Fremd- ling« angesehen werden, die Kausalverbindung der Endursachen hat in ihr nichts zu suchen.

Läßt sich aber nur dann von einer Bestimmung des Menschen reden, wenn man den Zweckbegriff voraussetzt, so erhebt sich die Frage, ob man allem Interesse der Naturwissenschaft zum Trotz Grund hat, sich seiner zu bedienen, und vor allem, ihn auf den Menschen anzuwenden. Wobei es sich nach allem schon Gesagten natürlich von selbst versteht , daß die Anwendung eines solchen teleologischen Prinzips immer nur den Wert einer bloß subjektiven, d. h. einer nur für uns Menschen gültigen Be- trachtungsweise haben kann. Sie würde m. a. W. nicht sagen wollen, daß das teleologisch interpretierte Objekt durch eine zwecktätige Ursache wirklich zustande gekommen sei, sondern nur, daß wir es so beurteilen müssen, als ob es auf diese Weise entstanden wäre.

Daß nun Gründe zur Anwendung des Zweckprinzips vorhan- den sind, ist Kants Ueberzeugung. Freilich ist er ein entschie- dener Anhänger des Grundsatzes, daß man die Prinzipien der Erkenntnis nicht ohne Not vermehren soll. Er betont mit aller Schärfe, daß man im Interesse der Naturwissenschaft soweit wie irgend möglich an der mechanischen Erklärungsart festzuhalten und ihr auch im Fortgange einer Untersuchung stets das »Recht des Vortritts« vor aller teleologischen Betrachtung zu sichern habe. Aber schließlich ist es, wie er meint 2), doch das Ziel der Philosophie, sich alles in der Welt durch Vernunft begreiflich zu machen

i) Vgl. Krit. d. pr Vern. S. i66 R. ; Kritik der Urteilskraft S. 308 R. WW. II 331; VIII 137 Ak.-Ausg

2) Vgl. WW. VIII S. 169 Ak.-Ausg.

Der methodische Standpunkt. o

und darüber wenigstens so weit zu urteilen, als es uns nach unserer eigenen Natur, d.h. nach den Bedingungen und Schranken un- serer Vernunft möglich ist. Darum muß man dem Menschen die »Befugnis« zugestehen, sich dort des teleologischen Prinzips zu bedienen, wo theoretische Erkenntnisquellen nicht zu- langen. Man erhält dadurch »doch wenigstens ein Prinzip mehr« ^), die Erscheinungen der Natur unter Regeln zu bringen, also eine weitere Möglichkeit, Nachforschungen über sie anzustellen und sie sich auch in dem Falle wenigstens begreiflich zu machen, daß die mechanische Erklärung nicht ausreicht.

Dieser Fall liegt nun nach Kants Ueberzeugung in den Or- ganismen wirklich vor. Jedermann weiß, daß der Philosoph die der Erfahrung auch heute noch allein entsprechende Ansicht ver- treten hat, daß der bloße Mechanismus der Natur die Entstehung organisierter Wesen nicht erklären kann. Einen Organismus, so führt er aus ^) , müssen wir uns notwendig als Natur zweck vor- stellen, d. h. als ein materielles Ding, dessen Teile ihrem Dasein und ihrer Verbindung nach nicht nur die Idee eines Ganzen voraus- setzen — das gilt auch vom Kunstwerke als dem Produkte einer von den Teilen desselben verschiedenen vernünftigen Ursache , sondern sich auch nur dadurch zu einer Einheit verbinden, daß sie sich ihrem Zusammensein nach insgesamt wechselseitig be- stimmen und so aus eigener Kausalität ein Ganzes hervor- bringen. Und er hat diese Ansicht mit solcher vielleicht zu weit- gehender — Schärfe vertreten, daß er erklärt: man könne dreist sagen, es sei für Menschen ungereimt, auch nur den A n- schlag einer mechanischen Erklärung der Organismen zu fassen oder zu hoffen, daß noch etwa dereinst ein Newton auf- stehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde. Hier also ist nach Kants Ueberzeugung die mechanische Erklärungsart für den Menschen endgültig an ihrer Grenze ange- langt. Will er daher die Organismen überhaupt zu verstehen suchen, will er sie m. a. W. überhaupt als Fälle einer allgemeinen Regel subsumieren, so bleibt ihm nichts anderes übrig als sie so aufzufassen, a 1 s o b die Natur sie nach Zwecken hervorgebracht hätte.

1) Krit. d. Urteilskraft S. 238 R.

2) Krit. d. Urteilskraft § 64 ff.

I*

4 Die Bestimmung des Menschen.

Aber diese Betrachtungsweise, mit der der auf Verstehen bedachte Mensch den Organismen gegenübertritt und gegenüber- treten muß, führt einmal zugelassen mit Notwendigkeit weiter. Sie führt zur Auffassung der ganzen Natur als eines Systems von Zwecken. Gewiß sind wir berechtigt, ja genötigt, in der Naturwissenschaft die teleologische Beurteilungsart auf die Or- ganismen anzuwenden, ohne die Frage aufzuwerfen, w i e sich die Zwecktätigkeit der Natur hinsichtlich der Organismen denken lasse. Aber vom Standpunkte der mechanischen Natur- gesetze aus sind die Organismen etwas Zufälliges, und die Vernunft, die überall darauf ausgeht, nach Grundsätzen zu urteilen, strebt danach, auch für dieses Zufällige einen Grund zu finden; und darum wird sich jene Frage am Ende doch nicht umgehen lassen.

Nun sieht Kant freilich sehr wohl ein, daß dieses ganze Streben der Vernunft lediglich auf ihrem subjektiven Bedürfnis nach Be- friedigung beruht. Er fügt sogar hinzu, daß dieses Bedürfnis für die theoretische Vernunft keineswegs unbedingt gilt, es vielmehr in letzter Linie vom Wollen des einzelnen abhängt, ob er ihm nachgibt oder nicht ^). Statt sich nun aber hier zu beschränken und damit einer positivistischen Philosophie und einem positivisti- schen Idealismus Raum zu schaffen, entscheidet er sich aus Grün- den der praktischen Vernunft, in letzter Linie also aus Motiven, die nur aus seiner stark pietistisch gefärbten Erziehung begreiflich werden, dafür, diesem Bedürfnis ein Recht zuzuerkennen.

Tritt man ihm hierin bei, so kann ein die Vernunft befriedigen- der Grund für die Zweckmäßigkeit der Organismen nicht etwa in einer zwar zweckmäßig, aber doch ohne Absicht wirkenden Natur- kraft gefunden werden, sondern nur in einem über die Natur hinausliegenden Verstände. Denn die einzige, uns durch Erfahrung bekannte Grundkraft, die nach Zwecken wirkt, ist die Ver- nunft. Wir haben aber, sagt Kant ^) und spricht damit das Urteil über den ganzen sog. Vitalismus, nicht das geringste Recht, un- abhängig von der Erfahrung irgendeine neue Grundkraft zu er- denken. Ein solches Operieren mit erdichteten Prinzipien würde der Vernunft die Möglichkeit geben , alles , was sie will und wie sie will, zu erklären, und würde sie verleiten, dichterisch zu schwärmen, d. h. grundsätzlich ihre Grenzen zu überschreiten,

1) Vgl. Krit. d. Urteilskraft S. 330 R.; WW. VIII S. 139 Ak.-Ausg.

2) Krit. d. Urteilskraft S. 284/5 R.

Der methodische Standpunkt. " c

»welches zu verhüten eben ihre vorzüglichste Bestimmung ist«^). Als ein für uns verständlicher Grund der Zweckmäßigkeit der Organismen kann daher nur ein architektonischer Verstand in Betracht kommen.

Soll aber von dessen Tätigkeit die Struktur der Organis- men abhängen, so muß er auch für ihre Materie und deren mecha- nische Wirksamkeit bestimmend sein. Teleologie und Mechanis- mus der Naturzwecke müssen in einem einzigen obersten Prinzip miteinander zusammenhängen, weil nur so die Anwendung bei- der auf die Organismen begreiflich wird, die einerseits materielle Dinge sind und andererseits allein teleologisch verstanden werden können. Da es aber, wenigstens für uns, unmöglich ist, beide Arten der Kausalität als identisch anzusehen, so ist ihr Zusammen- hang nur in der Form der Unterordnung denkbar. Und hier kann es nach Kant keinem Zweifel unterliegen, daß der Mechanismus dem teleologischen Prinzipe unterzuordnen ist. Dort, wo es nötig ist, Zwecke als Gründe für die Möglichkeit gewisser Dinge anzunehmen, müssen auch Mittel vorausgesetzt werden, die diesen Zwecken dienen können. Nichts aber steht dem im Wege, deren Gesetz- mäßigkeit als eine rein mechanische aufzufassen.

Hängen aber Mechanismus und Teleologie von einem einzigen Prinzip ab, soweit es sich um Organismen handelt, so ergibt sich angesichts des Umstandes, daß dieses Prinzip als im Gebiete des Uebersinnlichen gelegen unserer Erkenntnis entzogen ist, wir in ihm also nur den unbestimmten Grund für die Beur- teilung der Natur sehen können, die Möglichkeit, aus der Einheit des Prinzips der mechanischen und teleologischen Kausalität in bestimmten Fällen zu folgern, daß auch die Produkte der Natur ihm unterstehen, die eine teleologische Beurteilung an sich nicht nötig machen, und anzunehmen, daß auch sie zu einem System der Zwecke gehören. Es ergibt sich m. a. W. die Möglich- keit, daß die Natur durchgängig von beiden Arten der Kausalität bestimmt wird. Und dieser wenigstens als Hypothese erlaubten Annahme wird man nach Kants Meinung um so eher nachgeben, als man dazu nicht nur durch die unendliche Menge der organischen Produkte geradezu veranlaßt wird, sondern mit ihr auch ein heuristisches Prinzip zur Auffindung von besonderen Gesetzen der Natur in die Hand bekommt, die uns sonst verborgen bleiben würden. So ist man in seinen Augen durch das Beispiel,

i) a. a. O. S. 299.

5 Die Bestimmung des Menschen.

das die Natur an ihren organischen Produkten gibt, nicht nur berechtigt, sondern sogar berufen, die Welt so aufzufassen, als ob sie das Werk eines Verstandes wäre, in dem jedes Ding auf das beste eingerichtet und nichts umsonst, sondern alles irgend- wozu gut ist. Damit ist dann aber das Recht erwiesen, auch von einer Bestimmung des Menschen zu sprechen.

2. Das Wesen des Menschen.

Will man wissen, worin des Menschen Bestimmung besteht, so kann darüber nach Kants Erklärungen nur eine Untersuchung über sein von dem Weltprinzip gesetztes Wesen oder über seinen Charakter Auskunft geben. Dabei versteht Kant unter Charakter dasjenige am Menschen, wodurch ihm im System der lebenden Natur seine Klasse angewiesen wird.

Diese Untersuchung zeigt den Menschen zunächst als ein tierisches Wesen, das wie alle Tiere die Materie, aus der es ent- stand, dem Planeten verdankt, auf dem es lebt, und das gewissen sinnlich bedingten, d. h. von der Einwirkung äußerer Gegenstände abhängigen und rein mechanisch wirkenden Antrieben unterliegt, die auf die Erhaltung seiner selbst, die Erhaltung der Art und die Erhaltung seines Vermögens zum angenehmen, aber doch nur tierischen Lebensgenuß gehen. M. a. W.: sie zeigt den Menschen als »eine von den Erscheinungen der Sinnenwelt« ^), als welche er auch der rein mechanischen Kausalität untersteht, die in dieser Welt herrscht.

Aber er ist doch nicht lediglich eine solche »lebende Maschine«. Denn nach Kants nur vom Boden einer unbewußten petitio principii aus möglichen Behauptung muß nicht nur der nachdenkende Mensch urteilen, sondern nimmt vermutlich auch schon der gemeinste Verstand ohne weiteres an, daß wie hinter jeder Erscheinung, so auch hinter dem Menschen noch etwas anderes vorhanden sein wird, das nicht Erscheinung ist 2). Wäh- rend wir nun aber bei allen übrigen Dingen nichts davon wissen können, was sie an sich sind, steht es mit dem Menschen anders. Sich selbst erkennt er nicht wie die ganze übrige Natur lediglich durch Sinne, sondern auch unmittelbar, durch reine Apperzeption.

i) Kritik d. reinen Vern. S. 437 R.

2) Vgl. Grundl. zur Met. d. Sitten S. 91 R.

Das Wesen des Menschen. ^

Durch sie, die Kant als intellektuelle innere Anschauung aus- drücklich vom inneren Sinn unterscheidet ^), wird sich der Mensch gewisser Gemütshandlungen bewußt, die gänzlich spontan sind und daher von aller Affizierung durch sinnliche Eindrücke unab- hängig sein müssen und gar nicht als zur Sinnlichkeit gehörig angesehen werden können. Man wird diese Behauptung bei der ablehnenden Haltung, die Kant sonst der intellektuellen An- schauung gegenüber einnimmt, gewiß erstaunlich finden, darf aber bei ihrer Beurteilung doch nicht außer acht lassen, daß sie sich in diesem Falle nicht auf materiale Inhalte, sondern auf Formen, nicht auf Gegenstände, sondern auf Funktionen bezieht, und muß sich außerdem vor Augen halten, daß es für Kant gar keinen anderen Weg gab, um den Menschen aus der Bedingtheit der sinnlichen Welt herauszuheben und ihm die Stellung zu ver- schaffen, die er ihm von Anfang an verschaffen wollte. Zu diesen reinen Tätigkeiten aber, deren sich der Mensch so unmittelbar bewußt wird, gehören die reinen Funktionen des Verstandes und der Vernunft. Sie sind keine Vorstellungen, die nur entspringen, wenn man von Dingen affiziert ist, sondern etwas ganz aus der eigenen Tätigkeit dieser Vermögen Erzeugtes, Handlungen, die gar nicht zur Rezeptivität der Sinnlichkeit gezählt werden können. Während wir daher bei der ganzen leblosen oder bloß tierisch- belebten Natur keinen Grund finden, uns irgendein Vermögen anders als sinnlich bedingt zu denken, sehen wir ein, daß beim Menschen etwas vorliegt, was einen ganz anderen Charakter trägt und ihn von allen Tieren fundamental unterscheidet. Der Mensch ist nicht nur ein tierisches Geschöpf und als solches ein sinnliches Wesen, sondern zugleich und auf Erden allein eine Intelligenz. Er ist ein niit Vernunftfähigkeit begabtes Tier.

Ist aber der Verstand als das Vermögen zu denken, sich etwas durch selbstgemachte Begriffe oder Regeln vorzustellen, so wird, wer ihn besitzt, nicht mehr allein auf die ihm durch die Sinne gegebenen Einzelheiten angewiesen, sondern imstande sein, nach allgemeinen Regeln und in letzter Linie nach Grundsätzen zu urteilen und, da ihm dieses Vermögen zugleich als praktisches zugeteilt ist, d. h. als ein solches, das Einfluß auf den Willen haben soll, auch nach Grundsätzen zu handeln. Der Mensch ist also schon als Naturwesen dadurch in charakteristischer Weise von allen Tieren unterschieden, daß er kraft seiner Vernunft die

i) WW. VII S. 142, 161 Ak.-Ausg.

g Die Bestimmung des Menschen.

Fähigkeit besitzt, sich über das, was seine Sinne unmittelbar affi- ziert , zu erheben und sich Vorstellungen oder Ideen von dem zu machen , was ihm in Ansehung seines ganzen Zustandes nützlich ist, und demnach sein Handeln einzurichten. Er ist m. a. W. das einzige Wesen auf Erden , das das Vermögen hat, »sich selbst willkürlich Zwecke zu setzen« i).

Aber wenn sich der Mensch auch durch diesen Besitz der Zwecke setzenden Vernunft vom Tiere unterscheidet, so würde das doch nicht von großer Bedeutung sein, wenn die Natur ihm dieses Vermögen in letzter Linie zu nichts anderem gegeben hätte, als dazu, seine eigene Glückseligkeit zu bewirken. Dann wäre es nur eine besondere Manier, deren sie sich bedient hätte, um ihn für denselben Zweck auszurüsten, für den sie die Tiere bestimmt hat. Es würde den Menschen also wohl von der Tier- heit unterscheiden, aber nicht über sie erheben. »Denn im Werte über die Tierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei den Tieren der Instinkt verrichtet« 2).

Nun ist allerdings nicht zu bestreiten, daß die Vernunft auch den Zweck hat , die individuelle Glückseligkeit des einzelnen zu besorgen. Denn sofern der Mensch nicht ein nur vernünftiges, sondern zugleich physisches, Neigungen unterworfenes und von ihnen abhängiges Wesen ist, kann er sich des Strebens nach Glück- seligkeit gar nicht entschlagen. Als Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht , ist sie das natürliche Objekt des Verlangens für jedes vernünftige, aber endliche Wesen, das wegen seiner Endlichkeit von Gegenständen der Sinnlichkeit ab- hängt und ihrer bedürftig ist. Darum kann es dem Menschen, solange er existiert , gar nicht zugemutet werden , auf diesen für ihn als natürliches Wesen völlig unvermeidlichen und un- widerstehlichen Zweck gänzlich Verzicht zu leisten. Die Ver- nunft hat durchaus den »nicht abzulehnenden Auftrag«^), sich um das Interesse der sinnlichen Natur des Menschen zu kümmern und durch Auswahl teils ihrer Bestandstücke, teüs der zu ihr führenden Mittel auch seine eigene Glückseligkeit zu fördern.

Aber soll sich der Mensch über das Tier erheben, so

1) Kritik d. Urteilskraft S. 323 R.

2) Krit. d. prakt. Vern. S. 74 R.

3) Kritik der prakt. Vern. S. 74 R.

Das "Wesen des Menschen. g

kann das nicht ihr ganzer Zweck sein. Und die Erinnerung an die teleologische Naturbetrachtung hilft Kant hier weiter. Ihr gemäß muß es bei allen organisierten Wesen als Grundsatz an- genommen werden, »daß kein Werkzeug zu irgendeinem Zwecke in demselben angetroffen werde, als was auch zu demselben das schicklichste und ihm am meisten angemessen ist«^). Von dieser Voraussetzung aus kann aber die Vernunft als praktisches Vermögen nicht dazu bestimmt sein, den Willen nur so zu leiten, daß er zu einem guten Mittel der Befriedigung unserer Bedürf- nisse als physischer Wesen oder der Erreichung individueller oder auch allgemeiner Glückseligkeit wird. Denn Glückseligkeit ist die Befriedigung aller unserer Neigungen, sowohl der Mannig- faltigkeit als auch dem Grade und der Dauer nach. Und so sehr sich der Mensch auch überhaupt nach ihr sehnt, so sehr die Glück- seligkeit »eine Absicht ist, die man sicher und a priori bei jedem Menschen voraussetzen kann «2), so macht es ihm die Beschränkt- heit seiner Vernunft doch unmöglich, bestimmt und ohne sich zu widersprechen anzugeben, was er denn eigentlich will und was ihn wahrhaft und dauernd glücklich machen würde. Denn einmal müssen die Elemente der Glückseligkeit, die als ein Ideal nicht der Vernunft, sondern der Einbildungskraft ganz auf em- pirischen Prinzipien ruht, sämtlich aus der Erfahrung entlehnt werden, die allein darüber orientieren kann, welche Neigungen da sind und welche Naturursachen zu ihrer Befriedigung dienen können, und zudem involviert die Idee der Glückseligkeit als eines absoluten Ganzen ein Maximum des Wohlbefindens im gegenwärtigen und jedem zukünftigen Zustande. Der Mensch müßte also Allwissenheit besitzen, um jene Frage zu beantworten. Und um so mehr, wenn es sich nicht nur um seine eigene, sondern um die Glückseligkeit aller handelt, deren Verschiedenheit in ihrem Urteil über das, was sie begehren, nahezu unendlich ist. Unmöglich also kann ihm die Vernunft das Ziel in ausreichender Bestimmtheit zeigen. Dann aber ist sie auch nicht imstande, die Mittel anzugeben, mit denen es sein Wille erreichen könnte. Hätte also die Natur dem Menschen die Vernunft nur zum Zwecke der Glückseligkeit gegeben, so würde sie ihre Veranstaltung dazu sehr schlecht getroffen haben. Und um so schlechter, als selbst dann noch nichts gebessert sein würde, wenn das erörterte Be-

i) Grundlegung zur M. 2) a. a. O. S. 49 R.

d. S. S. 23 R.

jO I^iß Bestimmung des Menschen.

denken nicht bestünde. Denn das, was der Mensch unter Glück- seligkeit versteht, kann er auf Erden doch nie erringen. Ganz einfach deshalb nicht, weil seine Natur als die eines nicht bloß sinnlichen, sondern auch intelligiblen Wesens nicht von der Art ist, »irgendwo im Besitze und Genüsse aufzuhören und befriedigt zu werden« ^).

Hat er daher Vernunft und kann deren Aufgabe nicht darin bestehen, seinen Willen zu einem guten Mittel für die Glück- seligkeit und damit, da im Begriffe der Glückseligkeit alle mög- lichen materialen Zwecke des Menschen zusammengefaßt sind, auch nicht darin, ihn überhaupt für irgend etwas anderes gut zu machen, so bleibt nichts übrig, als ihre eigentliche Be- stimmung darin zu sehen, daß sie einen ohne weitere Absicht schon für sich selbst guten Willen hervorzubringen hat. So macht sich Kant vom reinen Eudämonismus los und gewinnt die fundamentale These seiner Lebensphilosophie.

Inwiefern sich aber der Mensch durch diese seiner Vernunft gestellte neue Aufgabe über das Tier erhebt, kann erst eine ge- naue Bestimmung dieses guten Willens und seiner Voraussetzungen zeigen.

Was dabei zunächst das erste angeht, so ist leicht ersicht- lich, daß der schon an und für sich gute Wille nur ein solcher sein wird, dessen Maxime zugleich und ohne mit sich selbst in Widerspruch zu geraten, ein allgemeines Gesetz sein kann. Denn für die Güte des Willens kann niemals der Erfolg, sondern immer nur die Gesinnung in Betracht kommen, weil dadurch, daß ein guter Wille, aber auch wirklich als guter, alles aufbietender Wille und nicht als bloßer Wunsch, aus irgendwelchen äußeren Gründen, sein Ziel nicht erreicht, seine Güte in keiner Weise berührt wird. Durch den Ausschluß der Glückseligkeit als sein letztes Ziel sind aber auch alle materialen Antriebe als Prinzipien seiner Güte aufgehoben. Also bleibt nur ein formales Prinzip übrig: die bloße Form einer allgemeinen Gesetzgebung. Der Wille also wird unbedingt gut sein, der es sich zur Regel macht, niemals anders zu handeln als so, daß seine Maxime jederzeit zugleich Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung sein kann.

Ist aber das »die Formel eines schlechterdings guten Willens« ^), so liegt auf der Hand, daß ein solcher Wille im Menschen nur

i) Kritik d. Urteilskraft S. 322 R. 2) Grundlegung zur M. d. S. S. 75 R.

Das Wesen des Menschen. II

unter zwei Voraussetzungen vorhanden sein kann. Einmal muß sich der Mensch jener Regel oder, was auf dasselbe hinauskommt, des Prinzips aller Sittlichkeit bewußt sein und sich ihm unter- worfen fühlen, und außerdem muß er die Fähigkeit besitzen, sich ihm zu fügen.

Ueber die erste Voraussetzung äußert sich Kant unter Be- rufung auf den gesunden Menschenverstand, dessen Benutzung im Praktischen und außerhalb der Metaphysik er auf Grund der faktischen Leistungen desselben für völlig berechtigt erklärt. In seiner Behandlung der Frage nach der Bekanntschaft des Menschen mit dem Sittengesetze begegnet deshalb immer wieder der Hinweis darauf, daß es jedem Menschen so naheliegt, als ob es ihm buchstäblich ins Herz geschrieben wäre. Wieder und wieder wird hervorgehoben, daß nicht nur der »gemeinste«, son- dern auch der »eingeschränkteste« und »einfältigste« Mensch, ja sogar schon das Kind, sobald es erst einmal Maximen des Willens zu entwiickeln beginnt, seine Stimme hört^). Und das ist bei Kants Auffassung desselben gar nicht überraschend. Als bloß formales Prinzip muß das Sittengesetz eine Funktion der prak- tischen Vernunft selbst sein und allen Wesen, die praktische Vernunft haben, ursprünglich beiwohnen. Das moralische Gesetz, heißt es darum auch 2), braucht nicht erst erfunden zu werden, sondern ist in uns da und immer da gewesen, ist eine Urkunde, die unauslöschlich in jeder Seele aufbehalten ist und vom Men- schen unmittelbar mit dem Bewußtsein seiner Existenz ver- knüpft wird. Daher bedarf es gar keiner besonderen wissen- schaftlichen Bemühungen, um den Menschen von dem Vor- handensein eines solchen Gesetzes zu überzeugen. Das Einzige, was Wissenschaft und Philosophie tun können, im Interesse der Sittlichkeit aber auch tun müssen, ist, daß sie das, was schon ganz, aber noch unentwickelt in der Seele des Menschen vor- handen ist, auf deutliche Begriffe oder auf seine Formel zu bringen suchen, um durch diese Aufklärung über ihr Prinzip die , »dunkel gedachte Metaphysik, die jedem Menschen in seiner Vernunft- anlage beiwohnt«^), in ein deutliches Wissen zu verwandeln und ihm so die Einsicht in die rein apriorische, also allgemeine

i) Vgl. Krit. d. pr. Vern. S. 35, 42 R. ; Grundl. z. M. d. S. S. 43 R.; WW. VI S. 48, 181 Ak.-Ausg.

2) Vgl. Krit. d. pr. Vern. S. 127, 193; WW. VI S. 26*, 85, 183 Ak.-Ausg.

3) WW. VI S. 376 Ak.-Ausg.

12, Die Bestimmung des Menschen.

und notwendige Geltung des Sittengesetzes zu verschaffen, ohne die es weder möglich ist, Sicherheit und Reinheit in die Moral hineinzubringen, noch auch überhaupt reine moralische Gesin- nungen zu bewirken und das angeborene sittliche Gefühl als die Fähigkeit, am moralischen Gesetze ein Interesse zu nehmen, in Bewegung und Kraft zu versetzen.

Diese wissenschaftliche Entwicklung des sittlichen Prinzipes führt aber zu der Einsicht, daß es für den Menschen nicht ein ihn unausbleiblich bestimmendes Gesetz bildet, sondern nur ein ihn nötigendes Gebot, seine Formel also für ihn die eines Impera- tivs ist. Das hängt mit der schon festgestellten Zwiespältigkeit des Menschen zusammen. Wäre er ein bloßes Vernunftwesen, so würde das moralische Gesetz^ als Funktion der reinen Vernunft seinen Willen schlechthin bestimmen ; er würde vollkommen gut oder heilig sein. Aber er ist zugleich ein Naturwesen oder ein Tier und als solches allen möglichen sinnlichen Bestimmungsgründen unter- worfen, die den Forderungen der Vernunft weder zu entsprechen brauchen, noch auch wirklich entsprechen, sondern vielmehr ein »mächtiges Gegengewicht« ^) gegen sie bilden. Diese Un- voUkommenheit seines Willens bringt es mit sich, daß ihm das Sittengesetz nötigend, also als Gebot in der Form eines Imperativs entgegentritt, und zwar, da es Handlungen gebietet, die nicht um irgendeines empirischen Zweckes willen geschehen sollen, sondern als von der reinen und von allen empirischen Zwecken und Bedingungen unabhängigen Vernunft gefordert für sich selbst notwendig sind, in der eines unbedingt gebietenden oder kate- gorischen Imperativs. Jedoch ist dabei eines nicht zu übersehen. Wenn auch das Sittengesetz für den Menschen eine Nötigung oder, was dasselbe ist, einen Zwang enthält, so kann dieser Zwang kein äußerer, sondern nur Selbstzwang sein, d. h. eine innere Nötigung zu dem, was man nicht ganz gern tut. Denn das Sitten- gesetz ist eine Funktion der praktischen Vernunft; der Mensch gibt es sich also als Vernunftwesen selbst. Es kann daher auch der Zwang, den es für ihn enthält, nur ein solcher sein, den er selbst auf sich ausübt.

Aber das Sittengesetz ist in dieser Form des SoUens im ge- meinen Menschenverstände nicht nur als Vorstellung oder Idee überhaupt vorhanden. Der Mensch ist sich auch der schlecht- hinnigen Notwendigkeit bewußt, die ihm als reinem Vernunft-

i) Grundl. zur M. d. S. S. 35 R.

Das Wesen des Menschen.

prinzipe eigen ist; er weiß, daß er ihm und nur ihm unbedingten Gehorsam schuldet. Dieses Bewußtsein tritt in ihm als eine eigentümliche Art von Empfindung auf, die erst durch die Vor- stellung des Sittengesetzes hervorgerufen wird, und sich somit als ein selbstgewirktes Gefühl erweist, das von allen durch Einfluß empfangenen Gefühlen spezifisch verschie- den ist. Es kann im Gegensatze zu aller Lust und Unlust nur als Gefühl der Achtung bezeichnet werden, d. h. als das Bewußt- sein einer freien, also sinnlich unvermittelten, Unterwerfung des Willens unter das Gesetz, die aber doch mit einem unver- meidlichen Zwange verbunden ist, der allen Neigungen, aber nur durch eigene Vernunft, angetan wird. Durch dieses selbst- gewirkte Gefühl der Achtung also mithin innerlich und völlig un- abhängig von aller empirischen Bestätigung ist sich der Mensch der unbedingten Verbindlichkeit des Sittengesetzes für sein Han- deln mit voller Deutlichkeit bewußt ; er fühlt sich verpflichtet, ihm zu gehorchen. In dem gemeinen Begriffe der Pflicht, die nichts anderes bedeutet als »die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz« i), tritt ihm dieses Bewußtsein überall und unmittelbar entgegen. »Jeder Mensch findet in seiner Vernunft die Idee der Pflicht und zittert beim Anhören ihrer ehernen Stimme, wenn sich in ihm Neigungen regen, die ihn zum Ungehorsam gegen sie versuchen« ^), und gerade weil sich der Mensch in seinem Urteile trotz aller Bemühung doch niemals ganz von der Vernunft losmachen kann , gibt es keinen , der so verrucht wäre , daß er bei der Uebertretung des Gesetzes nicht ohne weiteres einen Widerstand in sich fühlte und eine Verabscheuung seiner selbst, bei der er sich selbst Zwang antun muß. Als vernünftiges Wesen, das er nun einmal ist, würde er sich der Vernunft, ja sogar des Daseins, für unwürdig halten müssen, wenn er sich der Anerken- nung dieses Gesetzes widersetzen wollte. Diese Unmittelbarkeit aber und Unvermeidlichkeit, mit der das Sittengesetz ihn inner- lich verbindet, hebt es einerseits über den Charakter eines bloßen Postulates hinaus, macht es andererseits aber auch völlig un- möglich und zugleich unnötig, es irgendwie zu beweisen. Man kann und braucht es nicht aus irgendwelchen vorhergehenden Datis der Vernunft abzuleiten, weil es unbedingt gebietet. Man kann und braucht es aber ebensowenig durch Beispiele aus

1) Grundl. z. M. d. S. S. 29 R.

2) WW. VIII S. 402 Ak.-Ausg.

14 Die Bestimmung des Menschen.

der Erfahrung zu bestätigen. Denn ganz abgesehen davon, daß in der Erfahrung niemals mit Sicherheit ein Beispiel dieses Ge- setzes aufgewiesen werden kann, weil es beim moralischen Werte einer Handlung nicht auf die Handlung ankommt, die man sieht, sondern auf die Gesinnung, die man nicht sieht, und auch die schärfste Selbstprüfung nicht die Gewißheit dafür zu geben ver- mag, daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe vor- handen ist ist sie auch gar nicht imstande, zu der über die Menschenwelt hinausreichenden und alle vernünftigen Wesen um- fassenden Allgemeingültigkeit und absoluten Notwendigkeit zu führen, die ihm als einem reinen Vernunftprinzipe zukommt. Das Sittengesetz ist also überhaupt nicht zu begründen, sondern dringt sich für sich selbst auf und »steht für sich selbst fest« ^). Das Be- wußtsein dieses Gesetzes ist darum nichts anderes und nicht weniger als ein Faktum, und zwar, da es nicht auf Anschauung, weder reine noch empirische, sondern auf Vernunft gegründet ist, ein, ja sogar »das einzige Faktum der reinen Vernunft« 2). »Denn so kann man eine Willensbestimmung nennen, die unvermeidlich ist, ob sie gleich nicht auf empirischen Prinzipien beruht«^). Für Kant gibt es also nichts, was sicherer und zwar unmittel- bar — sicherer wäre als dieses, daß sich der Mensch des Sitten- gesetzes bewußt ist und seine unbedingte Geltung anerkennt.

Aber gut kann sein Wille erst werden, wenn er diesem Gesetze auch zu folgen vermag. Und auch hier wird man_ noch zwei Mo- mente auseinanderhalten müssen. Um dem Sittengesetze folgen zu können, muß der Mensch einmal imstande sein, sich einem Ge- setze dieser Art überhaupt zu unterwerfen und da es in Sachen der Sittlichkeit zuletzt aufs Handeln und beim Handeln immer aufs Konkrete ankommt muß er zweitens die Fähigkeit be- sitzen, festzustellen, wie er sich im gerade vorliegenden Falle zu benehmen hat.

Faßt man nun zunächst den ersten Gesichtspunkt ins Auge, so liegt eine Befolgung des Sittengesetzes nicht schon dann vor, wenn die Taten des Menschen nur äußerlich mit ihm überein- stimmen. Eine derartige Kongruenz ist auch für Handlungen möglich, die aus bloß selbstsüchtiger Neigung erfolgen, und die haben mit Sittlichkeit nichts zu tun. Sie kommen alle auf eigene Glückseligkeit hinaus, die im Gegensatz zu der in der Vernunft

i) Krit. d. pr. Vern. S. 57 R.

2) a. a. O. S. 37 R. u. ö. 3) a. a. O. S. 67 R.

Das Wesen des Menschen. ji

selbst begründeten Sittlichkeit nichts Allgemeingültiges und Not- wendiges, sondern etwas bloß Relatives und Subjektives ist. Von Sittlichkeit läßt sich somit erst dort sprechen, wo die Taten nicht nur dem Sittengesetze gemäß sind, sondern auch bloß um des Gesetzes willen, also aus der einzigen moralischen Triebfeder heraus, die es gibt, aus Achtung vor dem Gesetze erfolgen. Und Kant betont diese charakteristische Eigentümlichkeit des sitt- lichen Handelns so stark, daß er auch jede Vermischung beider Prinzipien aufs schärfste zurückweist. Hat er auch niemals daran gedacht, durch die Forderung der Sittlichkeit vom Menschen zu verlangen, seine Ansprüche auf Glückseligkeit aufzugeben, und hat er sogar ausdrücklich darauf hingewiesen, daß es, um den An- lockungen des Lasters das Gegengewicht zu halten, sogar ratsam sein kann, auf die vielen Reize und Annehmlichkeiten des Lebens hinzuweisen, die sich mit dem sittlichen Wohlverhalten verbinden lassen und die wegen des zugrunde liegenden Bewußtseins erfüllter Pflicht und der damit gegebenen Zufriedenheit sogar einen fröh- lichen Lebensgenuß in Aussicht stellen, so ist es in seinen Augen doch völlig unstatthaft, beim sittlichen Handeln, also in dem Actus, in dem sich der Mensch als tugendhafter seiner Pflicht unterwirft, irgendeine Rücksicht auf Glückseligkeit zu nehmen. Dadurch würde die moralische Gesinnung in ihrer Quelle verun- reinigt und aller Bestimmtheit und Festigkeit beraubt werden. Und was immer auch das physische Leben bei einer Mischung gewinnen möchte, das moralische würde ohne Rettung dahinschwinden. Die Behauptung aber, daß die Natur des Menschen eine solche Reinigkeit nicht zulasse, lehnt Kant mit größter Entschiedenheit ab. Ihre Richtigkeit wäre »der Tod aller Moralität« ^), und ist im übrigen auch niemals zu erweisen.

Im Gegenteil! Kant glaubt es über jeden Zweifel erheben zu können, daß der Mensch wirklich zu einem solchen rein durch die Idee des Sittengesetzes bestimmten Handeln imstande sei. Und wieder ist es die teleologische Betrachtungsweise, die ihm bei diesem Nachweise behilflich sein muß. Denn des Menschen eigene Vernunft ist es, die ihm seine Pflicht vorschreibt. Seine Vernunft aber ist ihm von der Natur zuerteilt, gebietet also nichts, was zu leisten unmöglich wäre. Wenn er sich daher seines Ver- mögens zu rein sittlichen Handlungen auch weder unmittelbar bewußt zu werden vermag, noch es mittelbar durch Vernunft

I) WW. VIII S. 285 Ak.-Ausg.

j;5 Die Bestimmung des Menschen.

oder Erfahrung beweisen kann denn die Vernunft kann nur etwas Bedingtes als notwendig erweisen, während das sittliche Tun etwas Unbedingtes ist, und in der Erfahrung läßt sich ein sicheres Beispiel solchen Handelns nicht aufzeigen , wenn ihm also auch jede Möglichkeit genommen ist, dieses Vermögen theo- retisch zu begreifen, so hat er doch das Recht, aus der unaufhörlich in ihm ertönenden Stimme des kategorischen Imperativs zu schlie- ßen, daß er es besitzt, daß er die Fähigkeit hat, auch für sich selbst praktisch zu sein und mit allen Kräften der Natur in sich und um sich in Kampf zu treten und sie, wenn sie mit seinen sitt- lichen Grundsätzen in Streit kommen, zu besiegen. Und dieses Vermögen, diesen Vorsatz, einem starken, aber ungerechten Gegner des sittlichen Gesetzes Widerstand zu leisten, diese »mo- ralische Gesinnung im Kampfe« nennt Kant Tugend i). Der Mensch kann also tugendhaft sein,, weil er es sein soll. Aus dem Sollen folgt unumgänglich das Können. Und Kant nimmt auch keinen Anstand zu behaupten, daß jeder Mensch im ge- gebenen Falle, wenn er sich auch vielleicht nicht getrauen würde, zu versichern, daß er seine Pflicht der Neigung faktisch vorziehen werde, doch ohne Bedenken einräumt, daß es ihm möglich sei, »Er urteilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich be- wußt ist, daß er es soll«^).

So ist die Fähigkeit des Menschen gesichert, dem Sitten- gesetze überhaupt zu folgen. Aber er muß, wie gesagt, auch das Vermögen haben, in jeder bestimmten Lage seine Pflicht zu tun, und darum auch, sie zu erkennen. Das ist nun nach Kants Ueber- zeugung außerordentlich einfach und leicht. Und gerade darin findet er den großen Vorzug seiner Ethik vor jeder, die auf Glück- seligkeit ausgeht. Denn zu erkennen, was dem Menschen dauern- den Vorteil schafft, erfordert große Klugheit und umfassende Weltkenntnis, aber »was Pflicht sei, bietet sich jedermann von selbst dar« ^), Hier handelt es sich ja nur um Reinheit der Maxime, und darüber wird sich jeder leicht orientieren können. Er hat sich nur die Frage vorzulegen, ob die Maxime seiner Handlung dem Sittengesetz entspricht, oder die Handlung selbst als Fall desselben angesehen werden kann. Ergibt sich hier aber insofern eine Schwierigkeit, als es unmöglich zu sein scheint, ein Gesetz, das unbedingt gilt, auf Begebenheiten, die in der Sinnenwelt

I) WW, VI S. 380 Ak.-Ausg. 2) Krit. d. pr. Vern. S. 36 R.

3) Krit. d. pr, Vern, S. 44 R,; vgl. WW. VIII S. 287 Ak.-Ausg,

Das Wesen des Menschen.

17

geschehen und das sind die Handlungen des Menschen anzuwenden, so hilft dem die Mittelstellung ab, welche das all- gemeine Naturgesetz zwischen den konkreten Handlungen und dem Sittengesetze einnimmt. Denn einerseits ist es auf Gegen- stände der Sinne anwendbar, und andererseits stimmt es in der Form der Gesetzmäßigkeit mit dem Sittengesetze überein, und kann daher als Typus desselben verwendet werden. Die Frage, die sich der Mensch zur Beurteilung des sittlichen Charakters einer Handlung vorzulegen hat, nimmt daher die Form an, ob er sie auch dann wollen kann, wenn sie nach einem Gesetze der Natur geschähe, von der er selbst ein Teil wäre, oder ob er wollen kann, daß ihre Maxime ein allgemeines Naturgesetz werde. Diese Frage aber, deren Beantwortung objektive Schwierigkeiten nicht mehr im Wege stehen, ist auch subjektiv leicht zu lösen, weil das allgemeine Naturgesetz jedem aus seiner ständigen Anwendung in der Erfahrung bekannt und geläufig ist. Sittlich-unmöglich ist also eine Handlung, wenn ihre Maxime nicht so beschaffen ist, daß sie an der Form eines Naturgesetzes überhaupt die Probe hält. Und das wird der Fall sein, wenn sie zum allgemeinen Gesetz erhoben entweder mit sich selbst in Widerspruch gerät, und da- durch der Existenzbedingung einer Natur überhaupt widerstreitet, oder aber den Forderungen eines vernünftigen oder eines vernünf- tigen und zugleich bedürftigen Wesens, und damit den Existenz- bedingungen einer aus vernünftigen und bedürftigen Wesen be- stehenden Natur widerspricht. So wird z. B. die Maxime, ein Versprechen zu geben, ohne es zu halten, zum allgemeinen Natur- gesetz erhoben, jedes Versprechen illusorisch machen und damit sich selbst aufheben; so wird die Maxime, seine Talente rosten zu lassen und sich aufs Faulbett zu legen, kein allgemeines Natur- gesetz werden können, weil sie mit dem Menschen als vernünftigem Wesen in Widerspruch gerät, da er als solches notwendig will, daß alle seine Vermögen entwickelt werden; und die Maxime, andern in der Not nicht zu helfen, deshalb nicht, weil es Fälle geben kann, in denen er als bedürftiges Wesen auf die Hilfe an- derer angewiesen ist, auf die er aber niemals rechnen kann, sobald diese Maxime Gesetz einer alle Menschen umfassenden Gemein- schaft würde. Die Eignung einer Maxime zu einem solchen Gesetz ist darum der Kanon der moralischen Beurteilung seiner Hand- lungen überhaupt.

Die Sicherheit aber, daß er richtig urteilt oder geurteilt hat,

Goedeckem eyer, Kants Lebensanschauung. 2

j3 Die Bestimmung des Menschen.

verleiht ihm das Gewissen. Denn das ist in Kants Augen nichts anderes als die praktische Vernunft selbst, die über unsere Hand- lungen richtet und deren Urteil wir uns als vernünftige Wesen trotz aller Mühe nicht entziehen, das wir aber auch nicht verfäl- schen können, weil sie unbestechlich ist. Sie ist der »Richter in unserem Innern«, sie ist es, die den Menschen »wider und für sich selbst zum Zeugen aufstellt«, und weil sie nichts Erworbenes und daher Relatives, sondern etwas Ursprüngliches und darum Abso- lutes ist, so wie sie unwillkürlich und unvermeidlich urteilt, auch niemals irren kann '^) .

So ist also die Ueberzeugung, daß der Mensch die Fähigkeit besitzt, tugendhaft zu sein, nach beiden in Frage kommenden Gesichtspunkten hin begründet. Und sie führt Kant nun auch zu der Eigenschaft desselben, die ihn nicht nur wie der Besitz der Vernunft vom Tiere unterscheidet, sondern ihn über alle Tierheit erhebt. Denn von der Fähigkeit, sittlich zu handeln, kann, da der Begriff der Sittlichkeit die Unabhängigkeit von allen empirischen Motiven involviert, nur dann gesprochen werden, wenn sich der Mensch in seinem Handeln zwar nicht von der Affizierung durch wo auch immer herkommende lusterregende Motive, denen er als natürliches Wesen stets ausgesetzt ist, los- ^ machen kann, wohl aber von ihrem bestimmenden oder nötigenden Einfluß, m. a. W., wenn sein Wille frei ist. Denn nichts anderes als Unabhängigkeit des vernünftigen Willens von »allem Empirischen und also von der Natur überhaupt« 2) als bestimmender oder nötigender Bewegursache seiner Handlungen ist es, was Kant zunächst unter Freiheit, genauer unter dem negativen Begriff der Freiheit versteht.

Aber mit diesem ersten Begriffe der Freiheit ist es noch nicht getan. Würde man die Freiheit des Menschen lediglich in dieser Weise definieren können, so wäre damit der Vernunft nur die Fähigkeit abgesprochen, in der Welt der Erscheinungen wirk- sam zu sein, deren Geschehnisse dem Kausalgesetze unterstehen, und daher sämtlich durch empirische Ursachen zustande kommen müssen. Das wäre aber viel mehr als man beabsichtige kann; jedes tugendhafte Handeln in der sinnlichen Welt würde dadurch vernichtet werden. Weiterzukommen ist daher nur, wenn es gelingt, die Freiheit positiv zu bestimmen und sie in diesem Sinne dem Menschen zuzuweisen.

I) Vgl. WW. VI S. 437 ff. Ak.-Ausg. 2) Krit. d. pr. Vern. S. 117.

Das Wesen des Menschen.

19

Diese Bestimmung ergibt sich für Kant aus dem negativen Begriffe auf folgendem Wege. Der Wille ist das Vermögen, seinen Vorstellungen entsprechende Gegenstände entweder hervorzubrin- gen oder sich zu ihrer Hervorbringung zu bestimmen ^). Als solches ist er aber eine Art von Kausalität, und die Freiheit als seine positive Eigenschaft eine besondere Modifikation dieser Kausalität. Im Gegensatz zur negativen Freiheit als der bloßen Unabhängigkeit des Handelns von fremden bestimmenden Ur- sachen kann man sie als das Vermögen bezeichnen, für sich selbst pr9.ktisch zu sein, d. h. seine Wirkungen in der Sinnenwelt ganz von selbst anzufangen, m. e. W. als absolute Selbsttätigkeit. Doch bedeutet das für Kant noch nicht völlige Grundlosigkeit und Zufälligkeit der Handlung. »Sich als ein frei handelndes Wesen und doch von dem einem solchen angemessenen Gesetze entbunden denken, wäre soviel, .als eine ohne alle Gesetze wirkende Ursache denken: welches sich widerspricht« ^). Wie alle Kausalität weist also auch die Kausalität durch Freiheit auf eine Regel zurück, die nun natürlich nicht in dem für das Gebiet der Sinnen- welt geltenden Naturgesetze gefunden werden kann, weil dem der negative Begriff der Freiheit entgegensteht, sondern nur im Willen als praktischer Vernunft selbst enthalten sein kann und ein inneres Prinzip desselben bilden muß. M. a. W. der von äußeren Gesetzen oder fremden bestimmenden Ursachen unabhängige und dennoch einer Regel unterworfene Wille muß autonom sein. Nun ist aber das einzige Gesetz, das sich der Wille selbst gibt, das Sittengesetz. Ein im positiven Sinne freier Wille ist daher ein Wille unter sittlichen Gesetzen, und positive Freiheit ein rein »praktischer Begriff«^), der nichts anderes als Bestimmung des Willens durch das eigene Gesetz bedeutet.

Ist aber das die Definition der Freiheit im positiven Sinne, so kommt für den alle Tierheit überragenden Wert des Menschen jetzt alles darauf an, zu entscheiden, ob man ihm eine solche Freiheit wirklich zuschreiben kann.

Dabei ergeben sich freilich nicht unbedeutende Schwierig- keiten. Zunächst nämlich steht fest, daß diese Freiheit in der sinnlichen Welt nicht angetroffen werden kann. Die ganze Welt des äußeren und des inneren Sinnes untersteht der Zeit; alles, was hier geschieht, geschieht in der Zeit. Für alles aber, was in

i) Vgl. Krit. d. pr. Vern. S. 15.

2) Vgl. WW. VI S. 35 Ak.-Ausg. 3) WW. VI S. 227 Ak.-Ausg.

2*

20 Die Bestimmung des Menschen.

der Zeit geschieht, gilt das Naturgesetz der Kausalität, das aus- sagt, daß jedes Ereignis mit einem vorhergehenden notwendig verknüpft ist. Jede Begebenheit in der Sinnenwelt ist also durch das, was vorherging, notwendig bestimmt, so daß sie, da die Vergangenheit nicht mehr in des Menschen Gewalt ist, aus Grün- den, die nicht in des Menschen, sondern in der Gewalt der Natur stehen, notwendig folgt. Von Freiheit des Handelns kann also hier keine Rede sein. Daraus ergibt sich nun die für Kants ganze Lebensanschauung einschneidendste These, daß, wenn die sinn- lichen Dinge das Einzige wären, was existierte, angesichts der Unnachlaßlichkeit des Kausalgesetzes an die Existenz der Freiheit nicht einmal gedacht werden könnte. »Sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten«^). Sie würde als ein nichtiger und unmöglicher Begriff verworfen werden müssen.

Doch glaubt Kant der von hier aus der Freiheit drohenden Gefahr mit Hilfe seiner Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit leicht entgehen zu können. Sind Raum und Zeit, wie er allerdings zu Unrecht in der Kritik der reinen Vernunft nachgewiesen zu haben meint, nichts Reales, sondern bloße For- men unseres äußeren bzw. inneren Sinnes, in die alles eingehen muß, was unsere Sinnlichkeit affiziert, so können die uns durch die Sinne gegebenen Objekte keine Dinge an sich, sondern müssen »bloße Vorstellungen« oder Erscheinungen sein.

Aber damit ist in seinen Augen zugleich erwiesen und das ist das Wesentliche , daß sie nicht das einzig Wirkliche sind. Als Erscheinungen müssen sie das hörten wir schon ^) Erscheinungen von Etwas sein. Und dieses Etwas kann als Grund der Erscheinungen nicht selbst wieder Erscheinung sein, sondern muß »hinter den Erscheinungen« 3) liegen, d. h. es muß als in- telligible als intelligibel bezeichnet Kant an einem Gegenstande der Sinne das, was selbst nicht Erscheinung ist ^) Ursache der Phänomene oder als Ding an sich gefaßt werden. Dinge an sich gehören aber dem Gebiete an , in dem nichts g e- schiebt; sie unterliegen nicht der Zeit und damit auch nicht dem Gesetze der Naturnotwendigkeit. Ihr Gebiet ist also das- jenige, in dem man die Freiheit im positiven Sinne wenigstens suchen kann.

i) Krit. d. rein. Vern. S. 431. 2) S. .6.

3) Grundl. z. M. d. S. S. 91 R.

4) Krit. d. rein. Vern. S. 432 R.

Das Wesen des Menschen. 21

Indes sind hierdurch auch für Kant noch nicht alle Bedenken zerstreut, die der Annahme der Freiheit entgegenstehen. Läßt man die intelligible Ursache der Erscheinungen ihre Wirkung in der Sinnenwelt auch »von selbst« anfangen, so untersteht diese Wirkung als Teil der Erscheinungswelt doch zugleich dem die ganze phänomenale Welt beherrschenden Naturgesetze, dem- gemäß sie die notwendige Folge vorangegangener Veränderungen ist. Dieselbe Wirkung, dieselbe menschliche Handlung muß also sowohl für frei als auch für naturgesetzlich bestimm^^ gehalten werden. Das aber kann angesichts des kontradiktorischen Gegen- satzes, in dem die Begriffe von Freiheit und Naturnotwendigkeit miteinander stehen, nur als »äußerst subtil und dunkel erschei- nen« ^).

Aber auch dieser Schwierigkeit glaubt er Herr werden zu können, und zwar einfach durch den Hinweis auf die Verschieden- heit des Standpunktes, den man im einen und im andern Falle einnimmt. Erklärt man die Handlung für notwendig, so be- trachtet man das handelnde Subjekt als Erscheinung. Aber bei aller seiner Zugehörigkeit zur Sinnenwelt ist der Mensch doch zugleich auch Ding an sich! Als solches aber besitzt er eine Kausalität, die unter keinen empirischen Bedingungen steht, sondern völlig ursprünglich und unbedingt ist, deren in der Sinnen- welt erscheinende Wirkungen daher auch als frei bezeichnet wer- den müssen. Es würde also möglich, d. h. ohne Wider- spruch sein, dieselbe Wirkung sowohl als notwendig als auch als frei anzusehen, je nachdem man sie mit ihrer sinnlichen oder mit ihrer intelligiblen Ursache zusammenhält, d. h. je nachdem man sie auf den Menschen als Erscheinung oder als Ding an sich bezieht.

Aber auch wenn man diese ohne Frage recht bedenkliche Konstruktion, die durch den wiederholten Hinweis auf die Un- begreiflichkeit der Freiheit keineswegs gebessert wird, akzeptiert, ist noch nicht alles in Ordnung. So wichtig es auch ist, daß durch diese Erwägungen nach Kants Meinung die Denkbarkeit der Freiheit gewonnen ist , dem sittlichen Leben ist doch erst dann gedient, wenn gezeigt werden kann, daß sie »dem mensch- lichen Willen in der Tat zukomme« 2).

Nun liegt es von vornherein auf der Hand, daß sich dieser

i) Krit. d. rein. Vern. S. 431 R. 2) Krit. d. pr. Vern. S. 15 R.

22 Die Bestimmung des Menschen.

Nachweis nicht auf Grund irgend einer Erfahrung führen läßt. Als Eigenschaft des Menschen als intelligiblen Wesens, mithin als übersinnliche Bestimmung derselben, ist die Freiheit kein psychologisches Prädikat, das durch eine empirische Unter- suchung irgendwelcher Art festgestellt werden könnte. Dann aber ist sie theoretisch überhaupt nicht zu beweisen, ja nicht einmal zu begreifen. Denn alle theoretische Erkenntnis muß sich auf Erfahrung stützen. Kann sie aber auch nicht ohne jeden Beweis angenommen werden, so bleibt nichts anderes übrig, als sie aus praktischen Vernunftsätzen abzuleiten. Nun muß man aber auch hier noch zwischen technisch- und moralisch-prak- tischen Sätzen unterscheiden, zwischen solchen, die lediglich an- geben, was zu geschehen hat, wenn ein bestimmter Zweck erreicht werden soll, und solchen, die etwas unbedingt, also ohne Rück- sich auf eine bestimmte Absicht, fordern. Und da nun von diesen beiden die technisch-praktischen, die auf sinnlich bedingte Zwecke gehen, wiederum auf Erfahrung beruhen, so bleibt für die Sicher- stellung der Freiheit nichts anderes übrig, als von dem moralisch- praktischen Vernunftsatze, dem Sittengesetze, auszugehen. Das Gebot der Sittlichkeit bildet den einzigen Erkenntnisgrund für die Realität der Freiheit.

Aus ihm aber leitet Kant die gewünschte These auf folgendem Wege ab. Sobald man das Sittengesetz deutlich denkt, so sagt er^), erkennt man, daß der positive Begriff der Freiheit bereits in ihm enthalten ist. Freiheit in diesem Sinne bedeutete nichts anderes als das Vermögen der empirisch unbedingten Selbstbestim- mung oder Bestimmung des Willens durch das selbst gegebene Gesetz. Das einzige Gesetz aber, das sich der Mensch selbst gibt, ist das Sittengesetz. Es involviert daher die Freiheit als seinen Seinsgrund. Denn soll der Mensch sich selbst ein Gesetz geben, so muß er frei sein. Daraus aber folgt, daß das moralische Gesetz nicht bloß die Möglichkeit der Freiheit, sondern auch ihre Wirklichkeit beweist. Allerdings und das ist ein Punkt, der für die Beurteilung der Lebensphilosophie Kants alle Be- achtung verdient nur für Wesen, die dieses Gesetz als für sich verbindend anerkennen. Das aber tun, wie er nachgewiesen zu haben glaubt ^), alle Menschen als praktische Vernunftwesen. Dann aber können sie gar nicht anders handeln, als unter der

i) Vgl. Krit. d. pr. Vern. S. 2 *, 34 R. ; WW. VIII S. 418 Ak.-Ausg. 2) S. 12 f.

Das Wesen des Menschen. 23

Idee der Freiheit, und sind darum in praktischer Rück- sicht wirklich frei. So kommt nach Kant dem Menschen die positive Freiheit, weil sie Voraussetzung des über jeden Zweifel erhabenen kategorischen Imperativs ist ganz gleichgültig, daß sie sich theoretisch weder beweisen noch auch begreifen läßt , als Eigenschaft eines Willens mit völliger Sicherheit wenn auch nur in praktischer Hinsicht zu. Und so verstanden kann sie trotz ihrer theoretischen Unbegreiflichkeit auch nicht einmal für ein Geheimnis gehalten werden, weil ihr Dasein nach genügen- der Vorbereitung jedermann klargemacht werden kann, da wenig- stens ihr Gesetz hinreichend erkannt ist. Ja, sofern die von der Vernunft kategorisch geforderten sittlichen Handlungen, als deren Voraussetzung sich die Freiheit erwiesen hatte, in der Sinnen- welt wenigstens möglich sind, es also von den Wirkungen der Freiheit eine, wenn auch nur mögliche Erfahrung gibt, glaubt Kant sie sogar als Tatsache bezeichnen zu dürfen ^) .

Mit dieser Eigenschaft der Freiheit ist nun das Moment gewonnen, das dem Menschen einen entschiedenen Vorzug vor allen Tieren verleiht. Sie macht es gewiß, daß seine Vernunft nicht bloß dazu da ist, unter der Herrschaft der Naturgesetze »Dienerin« seines natürlichen Strebens nach Glückseligkeit zu sein, sondern auch imstande, im Felde der Erfahrung durch Ideen selbst wirkende Ursache zu sein. Eben damit aber führt sie zu der Einsicht, daß der Mensch nicht nur ein mit Vernunft be- gabtes Sinnenwesen ist, sondern wenigstens in prak- tischer Rücksicht auch als ein Subjekt angesehen werden muß, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind, d. h. als ein moralisches Wesen. Und das eben ist es , was ihn über alle Tierheit erhebt. Ist er daher auch ein bedürftiges Sinnenwesen und als solches nur auf seine Glückseligkeit be- dacht, so ist er doch nicht so ganz Tier, daß er seine Vernunft lediglich als Werkzeug zur Befriedigung seiner sinnlichen Be- dürfnisse zu gebrauchen suchte; als freies Wesen hat er sie noch zu einem höheren Zwecke bekommen, dazu nämlich, auch das, was sie für sich selbst sagt, nicht nur mit in Erwägung zu ziehen, sondern es von der auf sein Wohl gerichteten Betrachtung gänz- lich zu unterscheiden und wegen seiner absoluten Geltung sogar zur obersten Bedingung aller Glückseligkeit und alles Stre- bens nach ihr zu machen.

i) Vgl. Krit. d. Urteilskraft S. 370 R.

24 Die Bestimmung des Menschen.

Aber diese Annahme der Freiheit als fundamentaler Eigen-, Schaft des Menschen führt in ihren Folgen noch zu einer neuen Beleuchtung seines Wesens. Dadurch, daß er sich als frei be- trachtet, ist er, wie wir schon gesehen haben ^), genötigt, sich trotz seiner Zugehörigkeit zur Sinnenwelt zugleich, also schon hier und jetzt, als Glied einer nur intelligiblen Welt oder einer über- sinnlichen Natur anzusehen. Nun ist aber Natur im allgemeinsten Sinne die Existenz der Dinge in einer gesetzmäßigen Ordnung. Also muß auch in der übersinnlichen Welt und das ist das einzig Positive, was wir von ihr erkennen können eine Gesetz- mäßigkeit und eine bestimmte Ordnung herrschen. Und deren Kenntnis wird es sein, die das Wesen des Menschen noch weiter zu bestimmen erlaubt.

Wegen der prinzipiellen Verschiedenheit der intelligiblen Welt von der sinnlichen können die dort herrschende Gesetzlichkeit und die dort bestehende Ordnung nicht dieselben sein wie die der Sinnenwelt, wie die bloße Natürgesetzlichkeit also oder die Ord- nung der wirkenden Ursachen. Welche es aber positiv gesprochen sind, das wird sich zunächst hinsichtlich der Gesetzlichkeit aus folgender Ueberlegung ergeben.

Was den Gedanken einer intelligiblen Welt überhaupt nötig machte, war die Spontaneität des Menschen. Mit eigener Kausali- tät aber konnte sie dem Menschen nur in praktischer Rücksicht zugesprochen werden, d. h. sofern er durch bloße Vernunft tätige Ursache oder was auf dasselbe hinauskommt reiner Wille war. Nur als reiner Wille also kann sich der Mensch positiv in die intelligible Welt versetzen, und in diesem Willen allein hat er darum auch sein »eigentliches Wesen« oder das zu sehen, was an ihm Ding an sich ist ^) . Von diesem Willen aber geht nur ein Gesetz aus: das moralische. Das muß es daher auch sein, das in der übersinnlichen Welt herrscht und ihr Grundgesetz aus- macht.

Aus der Einsicht aber, daß sich der Mensch nur als reiner Wille in eine intelligible Welt hineindenken kann, ergibt sich nun für Kant auch die Bestimmung der dort bestehenden Ord- nung. Allerdings genügt es dazu nicht, diesen vom bloßen Be- gehrungsvermögen noch verschiedenen Willen lediglich als das Vermögen zu fassen, sich selbst und unabhängig von Natur- instinkten zum Handeln zu bestimmen ; man muß noch eine andere

I) S. 20 f. 2) Vgl. Grundleg. z. M. d. S. S. 99 f. R.

Das Wesen des Menschen.

25

Seite desselben in Rücksicht ziehen. Man muß beachten, daß der sittliche Wille trotz aller Unabhängigkeit von Gegenständlichen als seinem Bestimmungsgrunde, doch eine Materie oder einen Gegenstand überhaupt haben muß, der dann auch als sein Zweck zu bezeichnen ist, trotzdem dasjenige, was wir Zweck nennen, »jederzeit der Gegenstand einer Zuneigung« ^) ist. Daß sich die Sache aber faktisch so verhält, läßt sich aus dem Gesetze des sittlichen Handelns allein nicht ableiten. Die Moral als solche bedarf einer Zweckvorstellung nicht. Ihre Ge- setze gebieten schlechthin, und sie nötigen, wie schon gesagt ^), sogar dazu, bei der jeweiligen Erfüllung seiner Pflicht von dem Gedanken an den Erfolg gänzlich zu abstrahieren. Muß trotz- dem von einem Zwecke auch des sittlichen Wollens gesprochen werden, so muß der Grund davon anderswo als im moralischen Gesetze liegen. Kant findet ihn in letzter Linie im Wesen des Willens. Wie man nicht überhaupt handeln kann, sondern immer etwas Bestimmtes tun muß, so kann man auch nicht schlecht- h i n wollen , sondern muß etwas wollen. Keine Willens- bestimmung kann ohne alle Wirkung und damit auch nicht ohne die Vorstellung einer Wirkung sein. Und diese Vorstellung denkt sich nun der Mensch, wenn auch nich'' als Bestimmungsgrund, so doch als Folge zu der von ihm beabsichtigten Handlung hinzu und muß sie hinzudenken, weil eine Willkür, die zwar angewiesen wäre, wie, nicht aber auch wohin sie zu wirken habe, »sich selbst nich^" Genüge tun kann«^). Darum ist es, wie viel- leicht auch aller anderen Weltwesen, so jedenfalls eine Natur- eigenschaft oder »eine von den unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen und seines praktischen Vernunftvermögens, sich bei allen Handlungen nach dem Erfolg aus denselben umzusehen, um in diesem etwas aufzufinden, was zum Zweck für ihn dienen . . . könnte«*). Er hat trotz aller Unbedingtheit der Geltung des Sittengesetzes doch auch als moralisches Wesen Gegenstände seines Handelns oder Zwecke, auf die seine freien Handlungen als auf ihre Objekte gerichtet sind. Da er sich diese Zwecke aber als moralisches Wesen setzt, so handelt es sich dabei nicht mehr um solche, die er sich nach sinnlichen Antrieben seiner Natur macht, sondern um solche, die er sich nach Gesetzen seiner

i) Religion usw. S. 7 A. R. 2) S. 14 f.

3) Religion usw. S. 5 R.

4) a. a. O. S. 7 A.

20 Die Bestimmung des Menschen.

praktischen Vernunft machen soll, nicht um relative, son- dern um absolute Zwecke.

Und noch eine weitere Differenz kommt hinzu. Sind die von seinen Neigungen bestimmten Zwecke von der Art, daß er sie durch seine eigenen Kräfte erst zu verwirklichen sucht, hängt darum aber auch die Güte des auf sie gerichteten Wollens ganz von dem Grade ab, in dem es sein Ziel zu erreichen vermag, so muß es sich mit den sittlichen oder absoluten Zwecken auch in dieser Hinsicht anders verhalten. Denn der sittliche Wille soll unbedingt gut sein, darf also in seiner Güte nicht von der Ver- wirklichung irgendeines Zweckes abhängig sein. Der Zweck, den er sich dennoch setzt und setzen muß, kann also nicht ein erst zu bewirkender sein, sondern muß schon unabhängig von jedem Tun existieren, muß ein »selbständiger Zweck« sein, der nicht als positives Ziel, sondern als negative Schranke zu denken ist, oder als etwas, dem niemals zuwidergehandelt werden darf, das also niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck in jedem Wollen geschätzt werden muß ^).

Sucht der Mensch aber diesen Begriff des absoluten und seine Handlungen bloß einschränkenden Zwecks mit einem In- halt zu erfüllen und tritt zu dem Ende mit seiner Fähigkeit der Zwecksetzung nach moralischen Gesichtspunkten an die Dinge in der Welt heran, so wird er sich eines wichtiges Unterschiedes zwischen ihnen bewußt, der dann auch zu der Bestimmung der in der intelligiblen Welt herrschenden Ordnung führt. Denn während in der ganzen Schöpfung alles, worüber er etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden kann, verhält es sich mit ihm selbst anders. Wegen der ihm als Subjekt des moralischen Gesetzes zukommenden Freiheit und Autonomie muß sich ihm gegenüber jeder Wille soweit einschränken, daß er mit seiner Freiheit übereinstimmen kann und ihn keiner Absicht unter- wirft, die nicht nach einem Gesetze möglich wäre, das aus dem Willen des leidenden Subjektes selbst zu entspringen vermöchte, dem es nicht selbst zustimmen könnte. Um dieser seiner Freiheit und Autonomie willen darf also kein Mensch als bloßes Mittel benutzt, sondern muß und zwar nicht nur von sich selbst und von anderen seinesgleichen, sondern auch von Gott jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden. Der Mensch allein ist also absoluter Zweck.

i) Vgl. Grundleg. z. M. d. S. S. 75 R.

Das Wesen des Menschen.

27

Als Zwecke an sich selbst stehen nun aber alle vernünftigen Wesen unter dem Sittengesetze. Dadurch nun werden sie zu einem Reiche zusammengefaßt. Denn ein Reich bedeutet die systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemein- schaftliche Gesetze. Und da sie als Zwecke an sich selbst und mitsamt den Zwecken, die sie sich setzen mögen, zu dieser Ver- bindung vereinigt werden, so ist das Reich, das so entsteht, ein Reich der Zwecke, und die Ordnung, die hier gilt, eine Ordnung der Zwecke, d. h. eine solche, in der die in sie eingehenden Faktoren als Mittel und Zwecke aufeinander bezogen werden. Die Ord- nung, die in der intelligiblen Welt besteht, ist also keine andere als die Kausalverknüpfung der Endursachen oder die Ordnung dei Zwecke.

Aus dieser Erkenntnis, daß der Mensch als intelligibles Wesen zu einer Ordnung der Zwecke gehört, ergibt sich nun auch die Einsicht in sein Wesen, auf die Kant das allergrößte Gewicht legt und in deren Konsequenz seine Ausführungen über das Wesen des Menschen erst ihre Vollendung erhalten. Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis oder eine Würde. Jenes, wenn es durch etwas anderes als Aequivalent ersetzt werden kann, dieses, wenn das nicht möglich ist. Für den Menschen gilt, daß er Würde hat. Denn aller Wert wird im Reiche der Zwecke durch das moralische Gesetz bestimmt. Darum hat es selbst einen un- bedingten und unvergleichbaren Wert. Eben das muß dann in abgeleiteter Weise auch von dem gelten, was der Sittlichkeit fähig ist, genauer ausgedrückt von dem, was sich in seinen Handlungen einem selbstgegebenen Gesetze unterwirft, dem Men- schen als moralischem oder autonomem Wesen, in einem Worte als Persönlichkeit. Denn wenn er auch insofern keine Würde besitzt, als er dem moralischen Gesetze unterworfen ist, so doch insofern, als er selbst sich dieses Gesetz gibt, sich ihm daher nur als einem selbstgegebenen unterwirft. Denn das ist die Idee der Würde .eines vernünftigen Wesens, daß es keinem Gesetze gehorcht als dem, das es zugleich selbst gibt. So ver- leiht dem Menschen seine Autonomie auch noch einen »Zweck- vorzug« ^) vor allen anderen Weltwesen und verschafft ihm einen Wert, der ihn vor allen Geschöpfen adelt, eine Erhabenheit seiner Person, mit der verglichen die Beschaffenheit seines Z u- Standes als etwas gänzlich Indifferentes erscheint. Aber weil

i) Grundl. z. M. d. S. S. 68 R.

23 I^ie Bestimmung des Menschen.

es die freie Unterwerfung unter das Sittengesetz ist, der er diese Würde verdankt, darum kann sie ihm auch niemals von einem andern verHehen werden; nur er selbst kann sie sich geben.

Tut er das aber, dadurch daß er auf dem Posten, auf dem er steht, in dem früher i) festgelegten Sinne seine Pflicht erfüllt, so hat er ebenso wie jedes andere Vernunftwesen, das sich ebenso verhält, Anspruch auf eine besondere Art der Schätzung, die durch keinen anderen Ausdruck bezeichnet werden kann als durch den, der auch für die Schätzung des Sittengesetzes galt, den Ausdruck der Achtung. Durch seine Würde also wiid er für alle vernünftigen Weltwesen ein Gegenstand der Achtung, und ist dadurch zugleich berechtigt, sich mit jedem andern zu mes- sen und auf den Fuß der Gleichheit zu schätzen. Denn wenn je- mand nur seine Pflicht tut, so ist kein Grund dafür abzusehen, daß i h m bloß die Pflicht zu gehorchen, einem andern dagegen das Recht zu befehlen zukommen sollte. Solchen Ueberlegungen verdankt Kants berühmtes Wort über Rousseau seinen Ursprung: »Es war eine Zeit, da ich glaubte, der ganze Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiterzukommen, könnte die Ehre der Menschheit ausmachen, und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiß. Rousseau hat mich zurechtgebracht. Dieser verblendete Vorzug verschwindet, ich lerne die Menschen ehren« ^). So tritt zur Freiheit vermittels der erfüllten Pflicht, die sie erst möglich macht, als ihre Konsequenz die Gleichheit hinzu.

Damit ist das Wesen des Menschen festgelegt. Es hat sich herausgestellt, daß er eine von den übrigen auf Erden lebenden Wesen sehr wohl zu unterscheidende Klasse bildet. Während alle andern nur Maschinen sind, die als bloße Sinnenwesen schlechthin dem Prinzip der Naturkausalität unterliegen und in ihrer Willkür objektiv allein durch sinnliche Eindrücke und subjektiv durch das Gefühl der Lust und Unlust nicht bloß affiziert, sondern nezessitiert werden, ist der Mensch trotz aller seiner Zugehörigkeit zur Sinnenwelt nicht nur schon als Naturwesen darin vom Tiere verschieden, daß er Verstand und Ver- nunft besitzt und sich mit ihrer Hilfe Vorstellungen von dem, was auf entferntere Art nützlich oder schädlich ist, machen oder Zwecke setzen kann, mit denen er die gerade gegenwärtigen Ein- drücke auf sein sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden vermag, sondern erhebt sich, was weit wichtiger ist, dadurch

I) S. 14 f. ' 2) WW. VIII. S. 624 Hart.

Das Weltbeste.

29

unendlich über alle Tierheit, daß er in praktischer Rücksicht als ein Wesen zu betrachten ist, das die Fähigkeit hat, sich un- abhängig von allen empirischen Triebfedern und ohne Voraus- setzung irgendeines Gefühls der Lust oder Unlust von selbst zu bestimmen, m. a. W. als ein Wesen, das frei ist und, sofern es von dieser Freiheit Gebrauch macht, zugleich das Recht hat, sich allen andern freien Wesen gleichzustellen.

3. Das Weltbeste.

Aus der Eigentümlichkeit des Menschen muß sich nun seine Bestimmung ergeben.

Jedoch ist, dies Ergebnis zu erhalten, noch eine weitere Erwägung erforderlich, die es mit der Stellung des Menschen im Ganzen der Natur zu tun hat. Sieht man nämlich die Natur, wie es ein vernunftgemäßes Urteilen verlangt ^), als ein teleo- logisches System an, dann ergibt sich mit Notwendigkeit der Begriff eines Endzwecks in ihm. Denn da ein solches System nur von einer verständigen Ursache herrühren kann, die nach Absichten wirkt, so muß sie auch auf einen Abschluß der Kette der einander untergeordneten Zwecke bedacht gewesen sein. Dieser Endzweck der Schöpfung kann aber als ein nicht weiter mehr bedingter Zweck, nur ein solches Naturwesen sein, das den Zweck seiner Existenz in sich selbst hat. Das ist allein der Mensch. Aber auch er nicht schon als sinnliches, sondern erst als Ver- standeswesen oder als das einzige Wesen in der Welt, das sich selbst Zwecke zu setzen vermag, und auch jetzt noch nicht als Verstandeswesen schlechthin, sondern nur unter der Bedingung, daß er die Zwecke, die er sich setzt, dem moralischen Gesetze unterordnet, m. a. W. der Mensch als moralisches Wesen. Denn das Prinzip der Moralität ist »das einzige Mögliche in der Ord- nung der Zwecke, was in Ansehung der Natur schlechthin un- bedingt ist und ihr Subjekt dadurch zum Endzweck der Schöp- fung allein qualifiziert « ^) . Als moralisches Wesen also ist der Mensch Endzweck der ganzen Natur, weil er als solches den Zweck seiner Existenz in sich selbst hat. Und dieser in ihm als mora- lischem Wesen belegene Zweck ist identisch mit seinem End- zweck, dessen Erkenntnis die letzte Voraussetzung für die Fest- legung seiner Bestimmung bildet.

I) Vgl. S. 5 f. 2) Kritik d. Urteilskraft S. 329 * R.

OQ Die Bestimmung des Menschen.

Dieser Endzweck besteht nun in nichts anderem als im höchsten Gut. Als moralisches Wesen ist der Mensch dadurch charakterisiert, daß er alle seine Maximen mit dem Sittengesetze in Einklang bringt, oder die Zwecke, die er sich schon als mit Verstand und Willkür begabtes Sinnenwesen setzt und die die ein- zigen »äußeren Verhältnisse« sind, in denen er als endliches Wesen seinem moralischen Willen den für ihn unvermeidlichen Zweck überhaupt setzen kann ^), dem Sittengesetze unterwirft und so das moralische Gesetz zur obersten Bedingung aller seiner Neigungen und »Privatabsichten« macht. Solche moralischen oder uneigennützigen Zwecke bezeichnet Kant aber als das Gute. Das Gute ist also nichts anderes, als die dem Sittengesetze entsprechende Einschränkung der Gegenstände des von Lust und Unlust bestimmten unteren Begehrungsvermögens oder der subjektiven Zwecke des Menschen dahin, daß sie in dem Urteile jedes ver- nünftigen Wesens Gegenstände des Begehrungsvermögens sein können. Die unvermeidlichen Objekte des reinen Willens ent- springen also aus der Einschränkung der natürlichen Ziele. Sie zu setzen ist aber nach Kants Ueberzeugung für den Menschen als moralisch-sinnliches Wesen nicht nur ein Gebot der praktischen Vernunft, sondern auch deshalb unerläßlich, weil ihn seine sinn- lichen Neigungen zu Zwecken verleiten, die der Pflicht wenigstens zuwider sein können, und deren Einfluß die gesetzgebende Ver- nunft nicht anders abzuwehren vermag, als dadurch, daß sie ihnen entgegengesetzte Zwecke aufstellt.

Nun setzt sich aber der Mensch als vernünftiges Wesen nicht nur überhaupt Zwecke, 'sondern hat auf Grund des Einheits- strebens der Vernunft die Tendenz, sie alle zu einer Einheit zu- sammenzufassen. So macht er es schon als bloßes Sinnenwesen, indem er alle seine natürlichen Zwecke unter dem Namen der Glückseligkeit zusammenfaßt; so auch als moralisches Wesen, und erhält dadurch die Idee eines höchsten Gutes in der Welt, das, da das einzelne Gute die Einschränkung einer b e- stimmten Neigungsmaxime auf die Bedingung ihrer Allgemein- gültigkeit hin ist, selbst ^nichts weiter sein kann, als die gleiche Einschränkung aller seiner materialen Zwecke oder m. a, W. seiner Glückseligkeit. Das höchste Gut ist also ein dem Menschen von seiner praktischen Vernunft gebotenes Objekt, »welches die formale Bedingung aller Zwecke, wie wir sie haben sollen (die

I) Vgl. WW. VIII S. 279 * Ak.-Ausg.

Das Weltbeste.

31

Pflicht), und zugleich alles damit zusammenstimmende Bedingte aller derjenigen Zwecke, die wir haben (die jener ihrer Beob- achtung angemessene Glückseligkeit) zusammen vereinigt in sich enthält « ^) .

Danach sind im höchsten Gute zwei Elemente beschlossen: die Sittlichkeit oder genauer da es sich ja in allen diesen Fragen um den Menschen als vernünftig-sinnliches Wesen handelt die Sittlichkeit in der Form, wie sie für solche Wesen allein mög- lich ist, nämlich als moralische Gesinnung im Kampfe mit der Selbstsucht als der Summe aller Neigungen, d. h. in der Form der Tugend, und zweitens die Glückseligkeit. Und bei aller Ab- lehnung des Eudämonismus betont Kant diese Doppeltheit des sittlichen Endzwecks nicht nur mit aller Entschiedenheit, son- dern hält auch allen Einwänden gegenüber an ihr fest. Denn ein Zweck, so sahen wir schon ^), ist »jederzeit der Gegenstand einer Zuneigung«. Darum sucht der Mensch auch am moralischen Endzwecke etwas, was er »lieben« kann ^). Das aber kann das in diesem enthaltene Sittengesetz nicht sein. Denn das ist für ihn niemals ein Gegenstand der Liebe, sondern immer nur der Ach- tung, weil dem Pflichtbegriffe gerade um seiner Würde willen keine Anmut beigesellt werden kann. Also muß zu ihm noch ein zweites, der Neigung zugängliches Element hinzukommen, um es zum Endzweck tauglich zu machen: die Glückseligkeit. Und auf sie gänzlich Verzicht zu leisten wird dem Menschen vom Sittengesetze auch gar nicht zugemutet. Es fordert nur die Ein- schränkung des Glückseligkeitstrebens, nicht seine Vernichtung. Bleibt darum auch jetzt das schon früher *) festgestellte Wert- verhältnis zwischen Tugend und Glückseligkeit, wonach die Tugend die objektive Bedingung aller Glückseligkeit, im voll- endeten Gute also das oberste ist, völlig bestehen, so bildet doch die Glückseligkeit für den Menschen die subjektive Bedingung, unter der er sich in seiner Unterordnung unter das moralische Gesetz allein einen Endzweck setzen kann. Erst in ihrer not- wendigen Verbindung machen Tugend und Glückseligkeit das höchste Gut aus.

Die Notwendigkeit dieser Verbindung bedarf nun aber noch einer genaueren Bestimmung. Das Verhältnis zwischen zwei Elementen, die miteinander notwendig verbunden sind, kann

i) Rel. usw. S. 5 R. 2) S. 25.

3) Rel. usw. S. 7 A. R. 4) S. 15.

02 ** Die Bestimmung des Menschen.

entweder das logische der Identität oder das reale der Kausalität sein. Von Identität kann nun bei Tugend und Glückseligkeit keine Rede sein, weil sie auf ganz verschiedenen, ja diametral entgegengesetzten Prinzipien beruhen, dem des Sittengesetzes oder der Uneigennützigkeit, das jede Maxime an der Möglichkeit ihrer allgemeinen Geltung mißt, und dem der Selbstliebe, das lediglich das eigene Wohl zur Richtschnur nimmt. Somit ist nur an das Verhältnis der Kausalität zu denken. Und hier kann von den beiden denkbaren Fällen der eine, daß die Glückseligkeit Ursache der Tugend sei, schon deshalb nicht in Frage kommen, weil das Prinzip der Selbstliebe, das auf das stets subjektive und relative Gefühl von Lust und Unlust gegründet ist, empirisch bedingt ist und daher niemals zu einem immer allgemeingültigen praktischen Gesetze führen kann, wie es der Tugend zugrunde liegt. Also kann nur die Tugend Ursache und zugleich Bedingung der Glückseligkeit sein.

Jedoch scheint auch diese Annahme auf ein Bedenken zu stoßen. Alle von unserer Willensbestimmung abhängige Ver- knüpfung von Ursachen und Wirkungen in der Welt richtet sich nicht nach der moralischen Gesinnung, sondern nur nach unserer Kenntnis der Naturgesetze und unserem physischen Vermögen, sie unseren Absichten unterzuordnen. Es sieht also so aus, als könnte mit der Tugend Glückseligkeit wohl einmal zufällig zu- sammentreffen, keineswegs aber so, als habe sie sie notwendig im Gefolge.

Kant glaubt dieses Bedenken durch die Erinnerung an die Doppelseitigkeit des Menschen als Erscheinung und als Ding an sich leicht zum Schweigen bringen zu können. Nur dann nämlich würde es direkt falsch sein, zu sagen, daß die Tugend notwendig zur Glückseligkeit führe, wenn man sie nur für eine Ursache in der Sinnenwelt und die sinnliche Existenz für die einzige Seinsart des vernünftigen Wesens halten wollte. Hier richtet sich der physische Zustand allerdings nicht nach der Ge- sinnung, sondern ist lediglich das Ergebnis des Naturmechanismus. Faßt man sie dagegen wozu man wegen der Befugnis, den Menschen auch als Noumenon zu denken, s. E, vollauf berechtigt ist als einen rein intelligiblen Bestimmungsgrund des mensch- lichen Willens in der Erscheinungswelt auf, so ist es wenigstens nicht unmöglich, anzunehmen, daß die Güte der Ge- sinnung auch eine glückliche Beschaffenheit des natürlichen Zu-

Das Weltbeste.

33

Standes nach sich zieht, weil man wie das Reich der Sitten, so auch das der Natur als das Werk eines intelligenten Urhebers betrachten, und somit beide als in einem obersten Prinzipe zusammenhängend denken darf.

Ist damit aber in Kants Augen wenigstens die Möglich- keit einer notwendigen Verbindung von Tugend und Glück- seligkeit gesichert, so daß ihr, wenn sie, wie es der Fall ist, aus praktischen Gründen angenommen werden muß, theoretische Bedenken nicht mehr entgegengehalten werden können, so erhebt sich nun sogleich die weitere Frage nach dem quantitativen Ver- hältnis zwischen beiden. Darauf aber erteilt er die Antwort, daß es sich nur um eine genaue Proportion handeln könne. Denn wie eine unparteiische Vernunft auf Grund der praktischen Idee vom höchsten Gute nicht umhin kann, zu urteilen, daß derjenige, welcher als endliches Wesen der Glückseligkeit bedürftig und durch Tugend auch würdig ist, ihrer überhaupt teilhaftig werden muß, so kann sie auf die Frage nach dem quantitativen Verhältnis zwischen beiden nur die Antwort erteilen, daß die Glückseligkeit dem einzelnen nach Maßgabe seiner Uebereinstimmung mit dem Sittengesetze zuteil werden muß.

Nur mit dieser Bestimmung kann also die Idee des höchsten Gutes den Endzweck des Menschen als moralischen Wesens, ja, sofern sie die Tugend als, oberste Bedingung aller Glückseligkeit enthält, auch den Bestimmungsgrund des reinen Willens bilden. Denn so enthält sie die Glückseligkeit nicht als das, was wir unbedingt begehren, sondern nur als Folge der Sitt- lichkeit, und nicht die Glückseligkeit, sondern die Würdigkeit, glücklich zu sein^ ist jetzt das Erste und der unbedingte Gegen- stand unserer Maximen. Und »eine Willensbestimmung, die sich . . . auf diese Bedingung einschränkt, ist nicht eigennützig« i).

Zugleich aber ergibt sich daraus, daß das höchste Gut mora- lischer und somit objektiv-notwendiger Endzweck des Menschen ist, es also nicht das Ziel dieses oder jenes bestimmten, sondern nur des Menschen oder der Menschheit sein kann, daß es sich dabei nicht um ein individuelles, sondern um ein gemein- schaftliches Gut handelt. Nicht das Privatbeste, sondern das »höchste Weltbeste« 2), d. h. die im Weltganzen oder im Ganzen aller miteinander in Gemeinschaft stehender Wesen an die reinste

1) WW. VIII S. 280 A. Ak.-Ausg.

2) Kritik d. Urteilskraft S. 348 R. Goedeckemeyer, Kants Lebensanschauung.

34

Die Bestimmung des Menschen.

Sittlichkeit geknüpfte, allgemeine und ihr angemessene Glück- seligkeit ist es also, was den Sinn dieser Idee ausmacht.

Jedoch muß dazu hinsichtlich des einen Elements dieses Weltbesten, der Glückseligkeit, noch eine weitere Bestimmung treten. Wenn es sich im höchsten Gute auch um eine all- gemeine Glückseligkeit handelt , so ist diese Glückseligkeit doch nicht für alle dieselbe. Was der einzelne zu seiner Glück- seligkeit rechnet, ist wegen der empirischen Bedingtheit derselben durchaus relativ und subjektiv. Als freies und allen andern gleiches Wesen hat aber jeder das Recht, »nach seiner eigenen Wahl glück- lich zu sein « ^) . Er darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, »welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann , . . . nicht Abbruch tut « ^) ; und niemand kann ihn zwingen, auf die ihm richtig scheinende Art glücklich zu sein. So besteht das Weltbeste zuguterletzt darin, daß jeder im angemessenen Verhältnis zu seiner Würdigkeit glücklich zu sein der Güter teilhaftig wird, in denen er selbst sein Glück findet.

So verstanden also ist das höchste Gut der Endzweck des Menschen. Dadurch aber, daß es das moralische Gesetz ist, das ihm diesen Zweck vor Augen stellt, erhält auch dieses selbst noch eine neue Gestalt. Es erweitert sich zu einem »kategorischen Imperativ der der Materie nach praktischen Vernunft, welche zum Menschen sagt: ich will, daß deine Handlungen zum End- zweck aller Dinge zusammenstimmen«^). Und in diesem Impera- tiv liegt das vor, was nach Kant die Bestimmung des Menschen ausmacht. In ihm erst findet sie ihren Sinn und ihren vollen Ausdruck. Sie sagt mithin nichts anderes, als daß das höchste Gut nicht etwas ist, das sich der Mensch nach Belieben zum Objekt machen könnte, sondern daß es eine praktisch-notwendige Aufgabe oder eine Pflicht bedeutet : der Mensch soll das höchste in der Welt mögliche Gut zu seinem Endzweck machen, s o 1 durch seine Handlungen das Weltbeste an sich und andern nach allen Kräften zu befördern und an seiner Realisierung mitzuwirken suchen oder m. a. W. : der Sinnenwelt als einem Ganzen ver- nünftiger Wesen die Form ihres Urbildes, der übersinnlichen Natur, und damit diejenige Beschaffenheit geben, die mit dem

1) WW. VI S. 454 Ak.-Ausg. 2) WW. VIII S. 290 Ak.-Ausg.

3) WW. VIII S. 397 A. Ak.-Ausg.

Eigene Vollkommenheit. os

Endzweck der reinen praktischen Vernunft übereinstimmen würde; ja er soll was der Begriff des sittlichen Gebotes mit sich bringt um seinetwillen auch alle möglichen Leiden auf sich nehmen und sich seines Fortschritts freuen, wenn es auch nicht der Vorteil des Vaterlandes oder eigener Gewinn ist. Die Reali- sierung des höchsten Gutes in der Welt oder des Weltbesten ^und gar nichts anderes ist es also, worin Kant die durch den kategorischen Imperativ gebotene höchste und letzte menschhche Pflicht sieht. Darin allein besteht nach seiner Ueberzeugung des Menschen Bestimmung.

IL Die besonderen sittlichen Aufgaben.

I. Eigene Vollkommenheit.

Aus der Bestimmung des Menschen, das Weltbeste zu reali- sieren, ergeben sich nun besondere Aufgaben. Zum höchsten Gute in der Welt gehörten die beiden Elemente Tugend und Glück- seligkeit. Um sie sich zu bemühen ist daher seine größte Pflicht. Aber nur um eigene Tugend und um fremde Glückseligkeit. Denn die Tugend konnte nur der einzelne selbst sich verleihen, und es würde s.'nnlos sein, für etwas an einem anderen zu sorgen, das nur er selbst sich geben kann, und nach eigener Glückseligkeit strebt der Mensch auch ohne Pflichtgebot schon von Natur *).

Tugend und Glückseligkeit gehörten aber so zum höchsten Gut, daß jene die Bedingung dieser war. Um eigene Tugend als die fundamentalste Voraussetzung des Weltbesten hat sich daher der Mensch vor allem zu kümmern. Es ist seine Pflicht, die ihm als moralischem Wesen ursprünglich eigene und nie verlierbare moralische Anlage nach Möglichkeit zu entwickeln oder sich zu moralisieren.

Daraus ergeben sich für Kant gleich zwei Probleme. Es gilt zunächst, sich über den Inhalt dieser Pflicht ganz klar zu werden, weiterhin aber auch, ihre Bedeutung für den einzelnen noch präziser zu bestimmen.

Was das erstere angeht, so muß seine Lösung aus einer Ueber- legung über Sinn und Voraussetzung der Tugend als moralisch-

I) Vgl. S. 8.

og Die besonderen sittlichen Aufgaben.

praktischer Vollkommenheit hervorgehen. Vollkommenheit des Menschen in diesem Sinne bedeutet, daß er das Vermögen hat, sich selbst seinen Zweck nach seinen eigenen Begriffen von Pflicht zu setzen. Dazu aber ist zunächst zweierlei erforderlich. Einmal, daß er sich in der ihm von der Natur verliehenen moralischen Vollkommenheit erhält, also alles vermeidet, wodurch er sich des ihm eigenen Vorzuges eines moralischen Wesens, der inneren Freiheit als seiner angeborenen Würde, berauben und sich zur bloßen Sache machen würde, die Lüge nämlich, den Geiz und alle Kriecherei. Und weiterhin, daß er vollkom- mener zu werden sucht als die bloße Natur ihn schuf, und daher bestrebt ist, alles zu tun, um subjektiv beständig an Lauterkeit der Gesinnung zuzunehmen und objektiv alle speziellen Zwecke, die den Charakter der Pflicht an sich tragen, auch zu seinen Zwecken zu machen. Doch ist von diesen Forderungen die zweite nur von weiter Verbindlichkeit. Da es dem Menschen nicht möglich ist, so in die Tiefe seines eigenen Herzens hinein- zuschauen, daß er jemals auch nur bei einer Handlung Völlig gewiß sein könnte, daß seine moralische Absicht rein und seine Gesinnung lauter war, so betrifft die Pflicht der Erhöhung seines moralischen Zustandes nicht die Handlungen selbst, sondern nur ihre Maxime. Sie verlangt vom Menschen nur, daß er nach allem Vermögen darauf ausgeht, bei allen pflichtmäßigen Hand- lungen ohne jede Rücksicht auf persönlichen Vorteil oder Nachteil den Gedanken der Pflicht ausreichendes Motiv sein zu lassen.

Zu diesen beiden Erfordernissen der Erhaltung und Erhöhung seines moralischen Zustandes kommt nun aber noch ein weiteres als ihre Voraussetzung hinzu. Um moralisch gut oder so gesinnt zu werden, daß er nur lauter gute Zwecke wählt, muß sich der Mensch zuerst einmal in den Stand setzen, überhaupt selbständig und unabhängig von der Natur irgendwelche Zwecke aufzustellen. Dem dient seine Kultivierung, die im Unterschiede von der Moralisierung und weiter reichend als sie »die Hervor- bringung der Tauglichkeit eines vernünftigen V/esens zu be- liebigen Zwecken überhaupt «i) ist. Sie bezieht sich also nicht auf seine moralische Anlage, sondern auf seine Naturanlagen, nicht auf seinen Willen oder seine sittliche Denkungsart, sondern auf seine Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte und geht darauf aus, ihn aus der Rohigkeit seiner Natur, aus der bloß passiv allen

i) Krit. d. Urteilskraft S. 323 R.

Eigene Vollkommenheit. q^

Reizen überlassenen und mechanisch durch sie bewegten Tierheit immer mehr zu einer von der Vernunft geleiteten Aktivität, und damit zur Menschheit, zu erheben, wodurch allein er befähigt wird, sich selbst Zwecke zu setzen. Aber auch sie enthält jene Doppeltheit, auf die Kant schon bei der Moralisierung hinwies. Es ist dem Menschen nicht etwa nur verboten, sich in irgendeiner Weise, durch Selbstentleibung oder Selbstverstümme- lung, durch Selbstschändung und durch Selbstbetäubung des Vermögens zu berauben, von seinen natürlichen Kräften über- haupt Gebrauch zu machen, sondern darüber hinaus geboten, sie alle auszubauen, um dadurch ein in allerlei Absicht brauch- barer Mensch oder ein der Welt nützliches Glied und somit auch in pragmatischer Rücksicht, d. h. in Rücksicht auf seine Fähigkeit zur Beförderung der allgemeinen Wohlfahrt, dem letzten Zwecke seines Daseins angemessen zu werden. Und auch hier gilt wieder, daß die auf die physische Vervollkommnung gerichteten Gebote nur von weiter Verbindlichkeit sind. Die verschiedenen Berufsneigungen der Menschen und die Verschiedenheit der Lagen, in die sie kommen können, läßt für diese Pflichten keine präzisere Formulierung zu, als die, es sich zur Maxime zu machen, Gemüts- und Leibeskräfte zur Tauglichkeit für alle Zwecke anzubauen, die einem vorkommen können, macht es aber unmöglich, dem einzelnen in der Wahl seiner besonderen Lebens- art bestimmtere Vorschriften zu geben.

So also steht es mit dem Inhalt der dem Menschen durch seine Bestimmung aufgegebenen Pflicht, für die moralisch-prak- tische Vollkommenheit zu sorgen. Was aber ihre Bedeutung für den einzelnen betrifft, so stellt sich folgendes heraus. Betrachtet man die Entwicklung der natürlichen Anlagen wie Ge- schicklichkeit in Künsten und Wissenschaften, Geschmack, Ge- wandtheit des Körpers u. a. m., so ergibt sich, daß die Vernunft, der ihre Ausbildung obliegt, nicht instinktmäßig wirkt, sondern allerlei Versuche, allerlei Uebung und Unterricht nötig hat, um sie von einer Stufe zur andern fortzubilden. Daraus aber folgt, daß der einzelne unmäßig lange würde leben müssen, um wirklich die ganze Vollkommenheit seiner Naturanlagen zu erringen. Nun ist jedoch das Leben des einzelnen begrenzt; ist es dennoch Pflicht der Menschen, sich zu kultivieren, so bleibt nichts anderes übrig, als anzunehmen, daß die natürliche Vollkommenheit erst in einer langen, ja vielleicht unabsehbaren Reihe von Generationen er-

o8 Die besonderen sittlichen Aufgaben.

langt werden kann, deren eine der anderen ihre Aufklärung über- liefert, beim Menschen also im Gegensatz zu allen andern Tieren nicht der einzelne, sondern »allenfalls nur die Gattung« ^) hoffen kann, im unaufhörlichen Fortschreiten die physische Bestimmung der Menschheit zu erreichen. Dann aber bleibt für den einzelnen nichts anderes übrig, als beständig und unermüdlich nach ihr zu s t r e b e n.

Und ganz dasselbe gilt auch für die Entwicklung der mora- lischen Anlage. Da der Mensch als endliches Wesen immer von physischen Dingen abhängig ist, so kann er niemals ganz frei von Begierden und Neigungen sein, die ihm Anlaß geben, von den Vorschriften des moralischen Gesetzes abzuweichen. Des- halb ist auch der moralische Zustand, auf dem er steht, niemals der der Heiligkeit, d. h. des Besitzes einer völligen Reinigkeit der Gesinnung, sondern immer nur der der Tugend 2). Auch in Ansehung der moralischen Vollkommenheit kann also für den einzelnen, wenigstens in diesem Leben, nur das Streben nach ihr oder das Fortschreiten zu ihr, nicht aber das Erreichen Pflicht sein.

Ist es also seine Aufgabe, sich zu kultivieren und zu morali- sieren, so bedeutet das für ihn nur, daß er alles tun soll, um einer- seits seine Naturanlagen soweit wie möglich auszubilden, und andererseits and vor allem die von der praktischen Vernunft ge- forderte Üeberordnung des moralischen Gesetzes über die Selbst- liebe, diese sittliche Ordnung der beiden in ihm als sinnlich- übersinnlichem Wesen »natürlicherweise « enthaltenen Triebfedern ^) , auch zum subjektiven Prinzip seines Wollens, zu seiner obersten Maxime zu machen. Er hat dem guten Prinzip zum Siege über das böse zu verhelfen, das ihn bei allem Bewußtsein vom mora- lischen Gesetze doch die gelegentliche Abweichung von ihm in seine Maxime aufnehmen läßt.

Aber mit dieser Bemühung allein ist es nach Kant noch nicht getan. Es treten dem Menschen bei seinem Streben nach Vollkom- menheit allerlei Anfechtungen entgegen, allerlei Anlockungen, die ihn zu verleiten suchen, die sittliche Ordnung der beiden Trieb- federn umzukehren. Und sie bleiben' nicht ohne Erfolg. Sie führen dazu, daß er als einzelner trotz aller seiner Mühen nicht mehr erreichen kann, als sich von der Herrschaft des bösen Prin-

x) WW. VII S. 324 Ak.-Ausg. 2) Vgl. S. 16.

3) Vgl. Religion usw. S. 36 R.

Eigene Vollkommenheit. og

zips zu befreien, während er seinen Angriffen immer noch aus- gesetzt bleibt , und daher genötigt ist , stets zum Kampfe ge- rüstet zu sein, um die Freiheit, wenn er sie einmal gewonnen hat, auch zu behaupten.

Dieser Zustand ist nun aber sittlich von der größten Gefahr. Die Erfahrung zeigt, daß alle Menschen, auch die besten, einen Hang zum Bösen haben. Sie erkennen das Sittengesetz zwar an , neigen aber doch in verschiedenem Maße dazu , von ihm abzuweichen und den Anfechtungen, die an sie herantreten, nachzugeben. Es fehlt ihnen an Festigkeit oder Lauterkeit ihrer moralischen Gesinnung oder gar völlig an ihr. Das aber ist nach Kants Ueberzeugung, weil es die oberste Maxime des Handelns verdirbt , das radikale Böse im Menschen und recht eigentlich »der faule Fleck unserer Gattung « *) . Er macht es den Menschen so schwer, den fortwährenden Angriffen des bösen Prinzips zu widerstehen und ihre Freiheit auch zu sichern. Deshalb ergibt sich für sie als moralische Wesen noch die weitere Aufgabe, alle Kraft anzuwenden, um sich aus diesem für ihre Sittlichkeit so gefahrvollen Zustande soweit es irgend geht herauszuhelfen.

Dieser Aufgabe können sie allerdings in Kants Augen nicht dadurch Genüge tun, daß sie seine subjektive Ursache, den Hang zum Bösen, aufzuheben suchen. Der ist, wie seine Allgemeinheit zeigt, »mit der Menschheit selbst, es sei wodurch es wolle, verwebt und darin gleichsam gewurzelt «2). Er kann darum durch die Ver- nunft wohl getadelt, allenfalls auch gebändigt, aber nie ganz ver- tilgt werden. Es bleibt also nichts anderes übrig, als nach Mög- lichkeit die Anfechtungen zu beseitigen, die den Menschen in den erwähnten Zustand versetzen.

Nun bestehen diese Anfechtungen in den Leidenschaften, die in ihm auftreten. Die aber entspringen nicht sowohl aus seiner eigenen rohen Natur als vielmehr aus seiner Verbindung mit anderen Menschen. Denn die ursprünglichen Anlagen des Men- schen sind gut und zwar nicht nur in dem negativen Sinne, daß sie dem moralischen Gesetze nicht widerstreben, sondern auch in dem positiven, daß sie, richtig entwickelt, die Befolgung des- selben befördern. Darum sind auch die Anreize, die von ihnen, wie etwa von dem Streben nach Selbsterhaltung oder Fortpflanzung, ausgehen, und die Bedürfnisse, die aus ihnen entstehen, an sich nur klein und ohne Störung der Gemütsruhe zu befriedigen. Sie bil-

I) a. a. O. S. 39 R. 2) a. a. O. S. 32.

40

Die besonderen sittlichen Aufgaben.

den an und für sich keine Gefahr für die SittHchkeit. Wohl aber können sie gefahrbringend werden , sobald der Mensch mit an- deren zusammenkommt. Denn dann fängt er als vernunftbesitzen- des Wesen an, seinen Zustand mit dem der andern zu vergleichen und sich je nach Ausfall dieses Vergleichs für glücklich oder un- glücklich zu halten, dann wird der Wunsch in ihm wach, sich auch in der Meinung anderer einen Wert zu Verschaffen. Und liegt ihm ursprünglich nur an Gleichheit, so führt ihn die Besorgnis, daß sich der andere über ihn erheben könnte, nach und nach dazu, ihm durch List oder Gewalt zuvorzukommen. So entsteht allmählich ein scharfer Wettstreit zwischen den einzelnen, aus dem sich die fundamentalsten sozialen Laster des Menschen, die Leidenschaften der Ehrsucht , Habsucht und Herrschsucht ergeben , und alle die feindseligen Neigungen, die damit verbunden sind. Sie erst sind es, durch die seine ursprünglich gute Anlage verdorben wird, und die harmlosen Reize, die von ihr ausgehen, zu gefährlichen Anfechtungen werden. Und von der Ursache dieser Verderbnis vermag er sich nicht einmal loszumachen. Denn so sehr er auch wegen des ihm kraft seiner moralischen Beschaffenheit zustehen- den ursprünglichen und unveränderlichen Rechtes auf Freiheit schon von Anfang an nach Freiheit strebt und darum eher ein einsiedlerisches als geselliges Tier ist, so kann er es doch nicht über sich gewinnen, sich ganz von den andern zurückzuziehen. Denn erst durch die in der Gesellschaft entstehende vergleichende Selbstliebe und den mit ihr gegebenen Wetteifer wird er aus seinem tierischen Hange zur Passivität herausgerissen und ge- zwungen, seine natürlichen Anlagen zu entv/ickeln. Erst hier kommt er zum Bewußtsein seiner selbst als »vernünftiger Natur «^) oder zum Bewußtsein seiner Selbsttätigkeit, und erhält erst so die Möglichkeit, sich wirklich als Mensch zu fühlen, dem ja gerade die Fähigkeit spontanen Handelns vor allen Tieren eigen war ^). Darum ist er durch seine Vernunftanlage geradezu dazu bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und spürt als vernünftiges Tier neben dem Hange zur Iso- lierung zugleich auch einen Trieb zur Gesellschaft.

So findet Kant in diesem unvermeidlichen Zusammensein des Menschen mit andern Menschen, »die er nicht wohl leiden, von denen er aber auch nicht lassen kann«^), den Faktor, von

I) WW. VIII S. 21 Ak.-Ausg. 2) Vgl. S. 23.

3) WW. VIII S. 21 Ak.-Ausg.

Eigene Vollkommenheit. aj

dem die Anfechtungen ausgehen, die sein Streben nach Sitt- lichkeit gefährden. Aber daß das der Fall ist, ist am Ende doch wieder seine eigene Schuld. Denn nicht das Zusammensein mit Menschen überhaupt, sondern die Beschaffenheit dieses Zusammen- seins ist es, die Gefahren bringt. Die aber hängt wenigstens bis zu einem hohen Grade vom Menschen selbst ab. Und darum ist es nun für ihn als moralisches Wesen auch Pflicht, den gesellschaftlichen Zustand so zu gestalten, daß die Gefahren, mit denen er seine Sittlichkeit bedroht, soweit als möglich be- seitigt werden. Außer den Geboten, die die moralisch gesetz- gebende Vernunft jedem einzelnen sozusagen als seine Privat- pflichten vorschreibt, ist dahSr von ihr »noch über dem eine Fahne der Tugend als Vereinigungspunkt für alle, die das Gute lieben, ausgesteckt, um sich darunter zu versammeln und so aller- erst über das sie rastlos anfechtende Böse die Oberhand zu be- kom.men«^), und damit den letzten Zweck der Menschheit, das höchste Gut, soweit es in ihrer Macht steht, zu verwirklichen. Weil aber dieser letzte Zweck als ein gemeinschaftliches Gut eine Angelegenheit der ganzen Menschheit ist, haben wir es bei der Gestaltung des gesellschaftlichen Zustandes nach Kants Erklärung nicht mit einer Pflicht der einzelnen Menschen gegen einander, sondern des ganzen menschlichen Geschlechts gegen sich selbst oder der einzelnen als Glieder eines Ganzen zu tun. Und die treibt sie an, eine bloß auf die Erhaltung und Förderung der Sittlichkeit angelegte Gesellschaft, die mit vereinten Kräften dem Bösen entgegenwirkt, oder ein ethisches Gemeinwesen, ein Reich der Tugend zu errichten und auszubreiten, und so die Sinnenwelt der praktischen Idee einer moralischen Welt »so- viel als möglich gemäß zu machen «2). Denn nur dadurch, daß die ursprüngliche Natur der Menschen auf diesem Wege nach und nach so umgestaltet wird, daß alle nach einerlei Grundsätzen, den moralischen Prinzipien nämlich, handeln, und ihnen diese Prinzipien gewissermaßen zur andern Natur geworden sind nur dadurch wird es möglich sein, alle die Laster zu überwinden, die das menschliche Leben verunehren und die Quelle der m.annig- faltigsten Uebel sind, von denen die Menschen bedrückt werden. Nun fängt aber, wie wir sahen ^), beim Menschen die Ent- wicklung nicht der Vorschrift der Vernunft gemäß mit der Morali-

i) Religion usw. S. 98 R.

2) Kritik d. rein. Vern. S. 612 R. 3) S. 36.

42

Die besonderen sittlichen Aufgaben.

tat an, sondern beginnt mit der Kultur. Und das gleiche gilt für das menschliche Geschlecht. Auch in seiner Entwick- lung geht die Kultivierung der natürlichen Anlagen der Ausbil- dung der moralischen Anlage voran. Bevor daher die Mensch- heit durch den Zusammenschluß zu einem ethischen Gemein- wesen ihre moralische Vollkommenheit bewirken und sichern kann, ist es für sie nötig und damit als Voraussetzung einer Pflicht zugleich Pflicht, ihre Naturanlagen in möglichst vollkommener Weise zu entwickeln.

Das ist aber in dem Zustande, in dem sie sich von Natur befindet, ausgeschlossen. Denn der Naturzustand der Mensch- heit ist ein Zustand wilder Gesetzlosigkeit und Ungerechtigkeit, und wenn auch nicht ein Zustand beständiger Kriege, so doch ein Zustand beständiger Kriegsgefahr. Das folgt aus dem An- tagonismus der menschlichen Neigungen in der Gesellschaft, aus der ungeselligen Geselligkeit, die den Menschen wegen des Wider- streits zwischen ihrem Hange zur Gesellschaft und dem zur Iso- lierung eigentümlich ist. Daher kommt es, daß der Naturmensch, in dem der Freiheitsdrang alle Leidenschaften an Heftigkeit überragt und der darum ohne Rücksicht auf andere oder auf ein allgemeingültiges Gesetz alles nach seinem Belieben gestalten und »selbst Richter über das sein will, was ihm gegen andere recht sei, aber auch für dieses keine Sicherheit von andern hat oder ihnen gibt als jedes seine eigene Gewalt«^), überall Wider- stand erwartet und ebenso bereit ist, Widerstand zu leisten. Und solange die Menschen es sich zum Vorsatz machen, in diesem Zustande äußerlich gesetzloser Freiheit zu sein und zu bleiben, läßt sich auch nicht einmal behaupten, daß die Eröffnung wirk- licher Feindseligkeiten von irgendeiner Seite ein Unrecht sei. Denn einmal gilt der Satz: volenti non fit iniuria; und ferner bedroht in einem Zustande, in dem jede Sicherheit gewährende Obrigkeit fehlt, jeder den andern schon durch seine bloße Gegen- wart in der ihm auf Grund seines Rechts auf Freiheit zustehenden Selbstbestimmung seiner wie wir schon früher sahen ^) , durchaus individuellen Glückseligkeit. Denn dafür, daß sein Neben- mensch in dem Urteile über sein Wohl mit ihm zusammenstimmen werde, hat der einzelne angesichts der Relativität aller Glück- seligkeit gar keine Gewähr. Unter solchen Umständen ist der Wilde aber auch völlig befugt, die ihm drohende Gefahr abzu-

i) Religion usw. S. loi * R. 2) S. 34.

Eigene Vollkommenheit. ao

wenden und seinen natürlichen Gegner durch jedes Mittel soweit wie möglich von sich fernzuhalten. So ist es auch begreiflich, daß er die Kriegstapferkeit für die höchste Tugend hält. Sie ist das einzige Mittel, das ihm hier sein Recht zu wahren ge- stattet.

Aber obgleich dem Menschen kein Vorwurf daraus gemacht werden kann, daß er Gewalt in diesem Zustande anwendet, ist er doch darin im Unrecht, daß er überhaupt in ihm bleiben will. Als »vernünftige Natur« hat er die Pflicht, seine natür- lichen Anlagen soweit es geht zu vervollkommnen. Das aber ist im Naturzustande nicht möglich. Allerdings führt auch schon der in ihm vorhandene Antagonismus zu einer gewissen natür- lichen Entwicklung derselben. Aber die Gefahr, mit der die hier herrschende Wildheit nicht nur die Voraussetzung aller Entwicklung, die Freiheit, sondern auch die Existenz der ein- zelnen beständig bedroht, schließt ihre vollständigere Entfaltung, die nur durch Kunst zu bewirken ist, aus. Davon kann erst dann die Rede sein, wenn Existenz und Freiheit aller dadurch ge- sichert sind, daß die äußere Freiheit jedes einzelnen soweit ein- geschränkt ist, daß die Freiheit aller anderen ungefährdet mit ihr zusammenbestehen kann.

Diese Einschränkung vollzieht aber das öffentliche Recht als der Inbegriff der äußeren und allgemein bekanntgemachten Gesetze. Es bildet somit die Voraussetzung dafür, daß unter einer Mehrheit von Menschen von äußerer Freiheit überhaupt gesprochen werden kann, und macht es dem Menschen erst mög- lich, die an ihn gestellte sittliche Forderung zu erfüllen. Daher sein integrierender Wert, der es gegen jede Verletzung in Schutz nimmt und verlangt, daß es unter allen Umständen heilig ge- halten werde. Es ist der »Augapfel Gottes auf Erden «^), dem nahezutreten man sich jederzeit hüten muß. Und es ist für die Kantische Lebensphilosophie von höchster Wichtigkeit, daß sie durch solche Bemerkungen von den beiden Teilen der Moral, der Ethik und der Rechtslehre, dieser den ersten Platz anweisen will.

Nun fühlen sich aber die Menschen, trotzdem sie als ver- nünftige Wesen ein Gesetz wünschen, das der Freiheit aller Schran- ken setzt, durch die ihnen natürliche »selbstsüchtige, tierische Neigung« 2) veranlaßt, sich selbst, wenn irgend möglich, davon

i) Paedagogik ed. Rink S. 87, vgl. WW. VIII S. 353 A. Ak.-Ausg. 2) WW. a. a. O. S. 23.

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Die besonderen sittlichen Aufgaben.

auszunehmen. Eine rechtliche Vereinigung, eine solche also, in der das Gesetz für alle gilt, kann daher nur unter der Voraus- setzung bestehen, daß als Oberhaupt ein Wille vorhanden ist, der nicht nur als oberster Gesetzgeber fungiert, sondern auch zu- gleich über unwiderstehliche Gewalt verfügt, die ihn instand setzt, jedem die Grenzen seiner Freiheit aufs genaueste sowohl zu bestimmen als auch zu sichern. Sie kann m. a. W. nur be- stehen unter Voraussetzung einer Verfassung. Das ist der Grund dafür, daß die Gesetze, die diese Vereinigung konstituieren, nicht bloß äußere und öffentliche sind denn weil sie als aus einem öffentlichen Willen entsprungen gedacht werden müssen, können sie nicht geheim, sondern müssen öffentlich sein , sondern zu- gleich Zwangsgesetze. Denn jede Einschränkung der Freiheit durch die Willkür eines andern, der sich dabei allemal empirischer Triebfedern bedienen muß, heißt Zwang. Freiheit, Gesetz und Zwang machen daher die drei Faktoren aus, die für jede rechtlich- bürgerliche Vereinigung wesentlich sind, und die bürgerliche Verfassung selbst ist nichts anderes als ein Verhältnis freier, aber doch unter äußeren Zwangsgesetzen stehender Menschen, in dem, jedem das, was als das Seine anerkannt werden soll, gesetz- lich bestimmt und durch hinreichende Macht, die aber nicht die seinige, sondern eine fremde ist, zuerteilt wird. Sie ist also kein moralisches Ganzes, sondern eine »pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft « ^) oder eine mechani- sche Einhelligkeit; kein Zustand der Sittlichkeit, der, weil er nur die innere Idee der Pflicht als Motiv kennt, des äußeren Zwanges entbehrt, und allein auf dem Selbstzwange des einzelnen ruht, aber doch ein Zustand der Gesittung oder äußeren Anständig- keit, in dem an die Stelle der Rohigkeit der bloßen Selbstgewalt eine öffentliche Gesetzgebung getreten ist, der alle einzelnen fak- tisch unterworfen sind.

In dieser vom Rechtsbegriff getragenen bürgerlichen Ver- fassung allein können also nach Kants Auffassung die Natur- anlagen des Menschen vollständiger entwickelt werden, kann auf der einen Seite durch umfassenden Unterricht das Vermögen zur Ausführung aller möglichen Zwecke oder die Geschicklich- keit, können auf der andern Seite durch geeignete, auf die Be- freiung des Willens vom Despotismus der Begierden gerichtete Zucht die Umgangseigenschaften auf einen hohen Grad der Zivili-

i) WW. a. a. O. S. 21.

Eigene Vollkommenheit. ^e.

sation gebracht werden. Ja, die bürgerliche Verfassung ist geradezu »der höchste Grad der künsthchen Steigerung der guten Anlage in der Menschengattung zum Endzweck ihrer Bestimmung«'), Und selbst die Entwicklung der moralischen Anlage bekommt hier wenigstens eine große Erleichterung, sofern ein jeder von sich glaubt, daß er den Rechtsbegriff als Grundlage des Gemein- wesens wohl heilig halten werde, wenn er sich nur von jedem andern eines Gleichen gewärtigen könnte, und die Regierung ihm eben dies z. T. sichert. Denn dadurch wird ein großer Schritt wenigstens zur Moralität getan, dazu also, dem Pflichtbegriffe auch um seiner selbst willen und ohne Rücksicht auf Gegen- leistung anzuhängen.

Aus diesen Gründen bildet in der Entwicklung der Mensch- heit die auf äußere Zwangsgesetze gegründete politische Verfassung die Voraussetzung für die" auf inneren Tugendgesetzen ruhende ethische. Der Mensch muß erst ein gesittetes Wesen sein, ehe er ein sittliches werden kann; und nur die durch Gründung des staatlichen Gemeinwesens möglich gemachte allmähliche Ver- vollkommnung aller seiner Anlagen kann jene pathologisch ab- gedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft endlich in ein moralisches Ganzes verwandeln.

Als vollkommene Vorstufe dieses ethischen Ganzen kann der politische Zustand indessen nur dann angesehen werden, wenn er durchaus gerecht ist. Das trifft zu, sobald er dem einzigen natürlichen Rechte des Menschen, dem Rechte auf Freiheit, völlig angemessen ist, d. h. wenn er der Freiheit seiner Glieder das größte in einer Gesellschaft überhaupt mögliche Ausmaß zugesteht. Dieser Bedingung entspricht er aber, wenn er so ein- gerichtet ist, daß er durch seine Gesetze niemandem Unrecht tun kann. Das wird der Fall sein, wenn von den drei in ihm vor- handenen Gewalten, der gesetzgebenden, vollziehenden und recht- sprechenden, diejenige, von der alles Recht ausgeht und das ist die gesetzgebende nicht nur von der ausführenden getrennt ist, sondern auch wenigstens prinzipiell in der Hand des vereinigten Willens aller liegt, mag man sich auch faktisch mit einer Majorität von Repräsentanten begnügen müssen. Denn dann wirkt jeder an der Gesetzgebung mit, ge- horcht also nur den Gesetzen, zu denen er seine Beistimmung hat geben können. Sich selbst aber kann keiner Unrecht tun.

i) WW. VII S. 327 Ak.-Ausg.

a(q " Die besonderen sittlichen Aufgaben.

Und in diesem Zustande wird zugleich jedem einzelnen die größt- mögliche Freiheit gelassen. Denn wenn nur das gemeinsam gegebene Gesetz herrscht, so gibt jeder bloß das Brutale seiner Freiheit auf, um sie selbst als Glied eines gemeinen V/esens, also in gesetzlicher Abhängigkeit, sofort und, weil diese Abhängig- keit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt, auch unvermindert wieder aufzunehmen. Dieser Akt aber, durch den sich das Volk selbst zu einem Staate konstituiert, oder besser, da es sich auch in Kants Augen nicht um ein Faktum, sondern allein um ein Vernunftprinzip für die Beurteilung aller bürger- lichen Verfassung überhaupt handelt, die Idee dieses Aktes heißt der ursprüngliche Vertrag. Darum ist nur die Verfassung vollkommen und zugleich die beste unter allen, die der Idee des ursprünglichen Vertrages, diesem Prinzipe aller Rechte, ent- spricht. Das aber ist die reine Republik. Und einerlei, ob sie auch der Staatsform oder nur der Regierungsart nach vorhanden ist, ob m. a. W. das Volk selbst die Gesetzgebung in der Hand hat oder die gesetzgebende Gewalt nur solche Gesetze gibt, wie ein Volk mit reifer Vernunft sie sich selbst vorschreiben würde, sie erst ist in vollem Maße aus dem reinen Quell des Rechts- begriffs entsprungen, und nur in ihr herrscht jene Gerechtig- keit, von der Kant sagt: wenn die Gerechtigkeit untergeht, so hat es keinen Wert mehr, daß Menschen auf Erden leben ^).

Diese Republik allein darf daher als die größte Beförderin aller natürlichen Anlagen des Menschen und als die wahre Voraus- setzung eines ethischen Gemeinwesens angesehen werden. Und darum ist sie auch das äußerste Ziel der Kultur. Da es indessen unmöglich ist, unter Menschen ein vollkommen gerechtes Ober- haupt einer solchen bürgerlichen Gesellschaft zu finden, einerlei ob man es in einer einzelnen Person oder in einer Gesamtheit vieler sucht denn »aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert wer- den « 2) so wird nur die Annäherung an dieses Ziel in Frage kommen können. Die ist dann aber auch nicht Sache des Be- liebens, sondern als etwas, »nach welchem zu streben uns die Ver- nunft durch einen kategorischen Imperativ verbindlich macht «^), Sache der Pflicht. Und dieser Pflicht kann man sich nicht durch »die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Er-

1) Vgl. WW. VI S. 332 Ak.-Ausg.

2) WW. VIII S. 23 Ak.-Ausg. 3) WW. VI S. 318 Ak.-Ausg.

Eigene Vollkommenheit. ^y

fahrung« ^) entziehen. Diese Erfahrung würde gar nicht existieren, wenn man sich beim ersten Entwurf einer Staatsverfassung und auch bei allen späteren Gesetzen nur nach jener Idee richten 'Wollte. Und daß sie durchführbar ist, geht daraus hervor, daß es sich bei ihr um weiter nichts als um die rein mechanische und darum für den Menschen als verständiges Wesen auch auflösbare Aufgabe handelt: »eine Menge von vernünftigen Wesen, die ins- gesamt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber insgeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen . . ., daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegenstreben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche bösen Gesinnungen hätten« 2). Die Idee der reinen Republik ist daher kein leeres Hirngespinst, sondern die ewige Norm für alle bürgerliche Verfassung überhaupt.

Indessen reicht auch die Begründung einer solchen Republik noch nicht aus, um dem Menschen die vollkommene Entwick- lung aller seiner natürlichen Anlagen zu gewährleisten, und damit zugleich die Ausbildung seiner moralischen Anlage und die Kon- stituierung eines ethischen Staates vorzubereiten. Denn »was hilfts, an einer gesetzmäßigen bürgerlichen Verfassung unter ein- zelnen Menschen ... zu arbeiten« ^) , wenn vermöge derselben Ungeselligkeit, die s i e auseinanderriß, nun auch die so ent- standenen »Mächte« wie gesetzlose Wilde in ungebundener Frei- heit nebeneinander stehen, und daraus auch für sie jener immer- währende Kriegszustand hervorgeht, unter dem die noch in Ver- einzelung lebenden Menschen litten! Trotz aller Notwendigkeit, die er mit sich führt, alle Talente in angespanntester Weise zu entwickeln, würde er der völligen Ausbildung der natürlichen so gut wie der moralischen Anlage zuguterletzt doch nur wieder im Wege sein.

Denn zunächst machen die wirklichen Kriege durch die Kosten, die sie mit sich bringen, die Verwüstungen, die sie an- richten, die den Frieden selbst verbitternde Schuldenlast, die sie im Gefolge haben, die moralischen Schädigungen, zu denen sie führen, und endlich durch die Gefahr, in die sie die Existenz des ganzen Menschengeschlechts versetzen, den Fortschritt in

i) Krit. d. rein. Vern. S. 276 R., vgl. WW. VII S. 80 Ak.-Ausg.

2) WW. VIII S. 366 Ak.-Ausg.

3) a. a. O. S. 24.

^g Die besonderen sittlichen Aufgaben.

der Entwicklung der Menschheit »immerzu rückgängig«^). Und darum ist Kants ethisches Urteil über den Krieg auch ungemein scharf. Mag er auch in dem Falle, daß er »mit Ordnung und Heilighaltung der bürgerlichen Rechte geführt wird« 2), vom ästhetischen Standpunkte aus etwas Erhabenes an sich haben, moralisch ist er auf das Entschiedenste zu verurteilen. Seinem Ursprung nach beruht er auf der Anhänglichkeit der Menschen an die gesetzlose Freiheit, auf »Rohigkeit« also, auf »Ungeschliffen- heit und viehischer Abwürdigung der Menschheit«^). Seinem Wesen nach ist er eine barbarische Art der Völker, ihre Streitig- keiten zu entscheiden, wodurch das wahre Recht eines Staates trotz aller Phrasen der Staatsmänner niemals ausgemacht werden kann *) . Und in seinen Folgen führt er zur Verderbnis der Sitten und zur Entstehung aller möglichen Uebel ^) . Und so weit geht Kant in seiner Verurteilung, daß er nicht nur den kriegslüsternen Herrschern, die, ohne sich eben selbst in Gefahr setzen zu brauchen, die Menschen »in ihren Streitigkeiten gegen einander aufstellen, um sich schlachten zu lassen«^), den Vorwurf macht, daß sie den Endzweck der Schöpfung selbst umkehren, wenn sie das als bloßes Mittel gebrauchen, was immer zugleich als Zweck behandelt werden soll nämlich den Menschen , sondern daß er überhaupt die stehenden Heere verwirft, sowohl wegen der ständigen Kriegsgefahr, die sie mit sich bringen, als auch um deswillen, weil »zum Töten oder getötet zu werden in Sold genommen zu sein einen Gebrauch von Menschen als bloßer Maschinen und Werkzeuge in der Hand eines andern (des Staats) zu enthalten scheint, der sich nicht wohl mit dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person vereinigen läßt« '), wenn es auch mit der freiwilligen periodischen Waffenübung der Staatsbürger zum Zwecke der Verteidigung gegen Angriffe von außen anders bewandt ist. Und im Zusammenhange mit diesen Gedanken weiß er sogar dem Laster der Feigheit eine gute Seite abzugewinnen. Denn sie ist es, die sich der Menschen erbarmt, damit sie nicht durch den kriegerischen Blutdurst auf- gerieben werden. Der Kriegstapferkeit aber, d. h. der Tapferkeit nicht zum Kriege denn die ist schlechterdings verwerflich ,

1) WW. VII S. 93 Ak.-Ausg.

2) Krit. d. Urteilskr. S. ii8 R. 3) Zum ew. Frieden S. 18 R. 4) Zum ew. Frieden S. 20 R.

5 WW. VII S. 86, 91, 93 Ak.-Ausg.

6) WW. VII S. 89 Ak.-Ausg. 7) Zum ew. Frieden S. 7 R.

Eigene Vollkommenheit. aq

sondern im Kriege, dieser Kriegstapferkeit stellt er, so sehr er auch die ihr selbst im gesitteten Zustande erwiesene Achtung als nicht völlig grundlos gelten lassen will, sofern sie ein Zeichen dafür ist, daß der Mensch woran freilich die Krieg- führenden selbst nicht zu denken pflegen doch etwas haben und sich zum Zwecke machen könne, was er noch höher schätzt als sein Leben, nämlich seine Ehre im Sinne seines moralischen Wertes ihr stellt er doch als die wahre Tapferkeit oder die »einzige wahre Kriegsehre des Menschen « ^) die sittliche Stärke gegenüber, die sich im unentwegten und durch keinen Spott, selbst nicht durch die Scheu vor dem Tode abzuschreckenden Kampfe gegen die Laster als die Brut gesetzwidriger Gesinnungen dokumentiert, und die »mancher nicht besitzt, welcher in der Feldschlacht oder im Duell sich als einen Braven beweist« 2).

Noch mehr als die wirklichen Kriege steht aber die im Natur- zustande vorhandene Notwendigkeit, sich beständig in Kriegs- bereitschaft zu halten, der Ausbildung der menschlichen An- lagen im Wege. Die Rüstungen zur Verteidigung, die sich durch den Wetteifer der einzelnen Staaten bis ins Grenzenlose steigern, machen den Frieden oft noch drückender als den Krieg. Und ein moralischer Fortschritt ist, solange die Staaten alle ihre Kräfte auf ihre eitlen und gewaltsamen Erweiterungsabsichten verwenden, überhaupt nicht zu erwarten. Denn zu ihm ist eine lange innere Bearbeitung erforderlich.

Es kann also gar keine Rede davon sein, daß sich die ur- sprünglichen Anlagen des Menschen in einem solchen immer- währenden Kriegszustande in wünschenswerter Weise zu ent- wickeln vermöchten. Daher ergibt sich vom Standpunkte der Vernunft aus jetzt für die Staaten dieselbe Aufgabe, die zuvor den einzelnen Menschen gestellt war: aus dem rohen Naturzu- stande hinauszugehen und sich zu einem Zustande zu entschließen, in dem ihr Mein und Dein durch äußere Gesetze sichergestellt ist. Das können sie aber nur dadurch, daß sie ihre »tolle Frei- heit« 2) aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen und auf diese Weise einen Völkerstaat bilden, der zuletzt, weil der Erdboden eine nicht grenzenlose, sondern eine sich selbst schließende Fläche ist, alle Völker der Erde in sich befaßt und alle Staaten unter einem gemeinschaftlichen Oberhaupte und

I) WW. VI S. 405 Ak.-Ausg. 2) WW. VII S. 257 Ak.-Ausg. 3) Vgl. Zum ew. Frieden S. 18 R.

Goede ckemeyer, Kants Lebensanschauung. 4

tfQ Die besonderen sittlichen Aufgaben.

in der vollkommensten Form, die es gibt, in der Form einer Welt- republik, zu einer großen Einheit zusammenschmilzt. Dann wird an die Stelle des ununterbrochenen Kriegszustandes der Zustand des ewigen Friedens treten, der das höchste »politische Gut«^) bildet, und als Folge der unbedingt geltenden Rechtsidee nicht etwa nur ein physisches Gut ist, sondern ein Zustand, den zu verwirklichen die praktische Vernunft zur unmittelbaren Pflicht macht.

Indessen es erhebt sich hier eine Schwierigkeit. Jenen Völkerstaat, der den ewigen Frieden allein sichern könnte, wollen die Staaten absolut nicht. Infolge der eigennützigen und daher un- sittlichen Vorstellung von ihrer Majestät, die sie darin finden, gar keinem äußeren gesetzlichen Zwange unterworfen zu sein, sträuben sie sich gegen ihn mit aller Macht. Wenn daher »nicht alles verloren werden soll « ^) , muß an seine Stelle ein Surrogat treten, das dann allerdings nur die bescheidenere Wirkung aus- zuüben vermag, den Krieg nach Möglichkeit abzuwehren. Das aber ist ein sich immer mehr ausbreitender Völker b u n d , der sich vom Völker s t a a t e dadurch unterscheidet, daß er als eine »fortwährend-freie Assoziation« ^), der jeder zu jeder Zeit beitreten, die aber auch jeder zu jeder Zeit aufkündigen kann, auf dem Boden eines gemeinschaftlich verabredeten und in irgendeiner Form von dem vereinigten Willen aller verwalteten Völkerrechts ruht.

Diesen einzigen, mit der Freiheit der Staaten vereinbaren rechtlichen Zustand zwischen ihnen herzustellen, ist dann aber wiederum der Menschen Pflicht. Und erst wenn er ein- geführt und dadurch wegen der Bedingtheit der innerlich- vollkommenen Staatsverfassung durch die äußerlich- vollkommene auch den einzelnen Staaten für sich die Möglichkeit gegeben ist, eine vollkommene Verfassung zu begründen, werden alle natürlichen Anlagen des Menschen gehörig entwickelt werden können. Denn dann ist ein Zustand der Menschheit gewonnen, der einem bürgerlichen Gemeinwesen ähnlich ist und sich wie ein Automat lange Zeit erhalten und beständig zum Bessern fortschreiten kann. Und auch für die moralische Anlage ist in ihm die Möglichkeit gegeben, sich fortzubilden. Mag auch der Ertrag, den dieser ganze politische Fortschritt der Völker für

i) WW. VI S. 355 Ak.-Ausg. 2) Zum ew. Frieden S. 21 R.

3) a. a. O. S. 52.

Eigene Vollkommenheit. ^j

das Menschengeschlecht abwirft, zunächst nur eine Vermehrung der Produkte ihrer Legahtät der pfhcht gemäßen Hand- lungen — bedeuten, insofern als allmählich die Gewalttätigkeiten von Seiten der Mächtigen abnehmen, die Folgsamkeit gegenüber den Gesetzen sich hebt, Wohltätigkeit, Zuverlässigkeit im Wort- halten usw. zunimmt, so kann es doch nicht ausbleiben, daß dadurch nach und nach auch die Besserung im moralischen Sinne gefördert wird. Je mehr der einzelne Staat durch den allgemeinen politischen Fortschritt daran gehindert wird, »einem andern ge- walttätig zu schaden«, je mehr er sich also »allein am Recht halten muß«^), um so mehr wird er auch imstande sein, sich der mora- lischen Bildung seiner Bürger anzunehmen. Er hat nicht mehr die Möglichkeit, alle seine Kräfte und Mittel auf eitle und gewalt- same Erweiterungsabsichten anzuwenden, ist daher auch nicht mehr genötigt, aus Mangel an Mitteln die innere Bildung seiner Angehörigen zu vernachlässigen oder gar zu hemmen, sondern besitzt genug, um tüchtige und ihrem Amte mit Lust obliegende Lehrer zu besolden und sich durch seinen wohlüberlegten Er- ziehungsplan positiv um die langwierige Aufgabe der guten mora- lischen Bildung des Volkes zu kümmern.

Um aber vollen Erfolg zu haben, müssen nach Kants Aus- führungen die Forderungen des Staats- und Völkerrechts noch durch ein Weltbürgerrecht vervollständigt werden. Von der Ueber- zeugung aus, daß die Erde um ihrer Kugelform willen, die es ihren Bewohnern unmöglich macht, sich ins Unendliche zu zer- streuen, allen Menschen gemeinsam gehört, und daher ursprünglich jeder Mensch auf jeden Ort der Erde das gleiche Anrecht hat, verlangt es, jedem einzelnen an allen Stellen der Erde ein Be- suchsrecht zuzugestehen, das zwischen Gast- und Unterdrückungs- recht in der Mitte liegt, und nur die Möglichkeit gewährt, un- gehindert den Versuch eines Verkehrs mit den alten Einwohnern des Landes zu machen. Dadurch aber ergänzt es den »un- geschriebenen Kodex« der beiden andern Teile des öffentlichen Rechts zum »öffentlichen Menschenrecht überhaupt« 2) und bildet damit die letzte Voraussetzung für den ewigen Frieden und die Ausbildung aller und besonders der moralischen Anlagen des Menschen von selten des Staates.

Aber so sehr sich der einzelne Staat um die Moralität seiner Bürger bemühen mag, so wenig ist er doch imstande, sie gegen

i) WW. VIII S. 311 Ak.-Ausg. 2) Zum ew. Frieden S. 25 R.

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c|2 Die besonderen sittlichen Aufgaben.

alle möglichen und unaufhörlich stattfindenden Angriffe zu sichern. Das war, wie wir sahen, nur durch die Gründung eines ethischen Gemeinwesens zu erreichen, die sich damit eben- falls als eine Pflicht der Menschen erwies. Für sie bildet aber der politische Zustand zwar eine Voraussetzung, sofern ohne ihn ein ethisches Gemeinwesen »von Menschen gar nicht zustande gebracht werden könnte«^), es wirklich zu schaffen, ist er jedoch, so sehr er auch in seinem eigensten Interesse den Wunsch nach tugendhafter Gesinnung seiner Bürger haben mag, um dadurch die Unzulänglichkeit seiner Zwangsmittel auszugleichen, der Natur der Sache nach nicht imstande. Denn das Prinzip des rechtlichen Gemeinwesens ist der Zwang, das des ethischen die Freiheit. Die Bürger zu zwingen, in ein ethisches Gemeinwesen zu treten, würde also eine contradictio in adjecto sein. Darum werden auch die Verfassung und Gesetze des ethischen Gemeinwesens nicht von der politischen Macht gegeben werden können, wenn sie sich auch insofern eine gewisse Einschränkung gefallen lassen müssen, als sie nichts enthalten dürfen, was der Pflicht wider- spricht, der sich seine Bürger zu unterwerfen haben, sofern sie zugleich Bürger eines politischen Staates sind, ein Widerspruch der freilich, wie Kant betont, von vornherein nicht befürchtet zu werden braucht, wenn das politische Gemeinwesen nur »echter Art « ^) Jst, d. h. wenn seine Obrigkeit bloß das gebietet, was mit dem Sittengesetze im Einklang steht, und worin sie vom Untertan auch allein Gehorsam fordern kann. Nur durch freien Entschluß also können sich die Bürger eines Staates zu einem ethischen Gemein- wesen vereinigen, und nur durch eine besondere Anstrengung kann ein ethischer Staat gegründet werden. Aber auch darüber müssen sich die zu einem solchen Staate zusammentretenden Bürger eines politischen Gemeinwesens klar sein, daß die von ihnen gestiftete Gemeinschaft noch nicht das ethische Gemein- wesen selbst, sondern nur eine besondere Gesellschaft ist. Denn wegen der Allgemeingültigkeit der Tugendpflichten ist der Be- griff eines ethischen Staates im Gegensatz zu dem eines politischen immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen, und erst dadurch, daß jede besondere Gesellschaft »zur Einhelligkeit mit allen Menschen . . . hinstrebt « ^) , wird ein absolutes ethisches Ganzes oder eine nicht bloß wie die rechtliche friedliche,

i) Religion usw. S. 98 R. 2) a. a. O. S. 100.

3) a. a. O.

Fremde Glückseligkeit. t^o

sondern sogar freundschaftliche weltbürgerHche Gemeinschaft Zustandekommen. Und erst dann wird der Welt der ewige Friede auch gesichert, erst dann aber auch die volle Lösung der sitt- lichen Aufgaben der Menschheit möglich sein. Denn erst wenn der ewige Friede herrscht, wird die Menschheit ihre moralische Anlage zu ihrer höchsten auf Erden möglichen Vollkommenheit zu entwickeln vermögen. Und erst mit der völligen Entwicklung der moralischen Anlage werden auch die schon im politischen Zustande entfalteten natürlichen Anlagen ihre ganze Bedeutung erhalten, die darin besteht, der allgemeinen Glückseligkeit zu dienen. Denn »alles Gute, das nicht auf moralisch-gute Gesinnung gepfropft ist, ist nichts als lauter Schein und schimmerndes Elend« ^). Erst wenn es moralisiert ist, wird also das Menschen- geschlecht aus dem »glänzenden Elende« 2), in dem es sich trotz aller technischen und wissenschaftlichen Kultur und aller gesell- schaftlichen Zivilisation bisher befindet, herauszukommen und seine höchste Bestimmung hier auf Erden zu erfüllen vermögen, soweit davon überhaupt gesprochen werden kann.

2. Fremde Glückseligkeit.

Zur Erfüllung ihrer Bestimmung bedarf es nun aber für die Menschen nicht nur der Sorge für die Entwicklung ihrer eigenen natürlichen und besonders ihrer moralischen Anlage. Im höchsten Gute war außer dem Moment der Tugend auch noch das der Glückseligkeit enthalten. Und bildete auch die Tugend als die Würdigkeit, glücklich zu sein, die Bedingung der Glück- seligkeit und insofern in dieser Verbindung das oberste Gut, so wurde sie doch erst dadurch zum ganzen und vollendeten Gut, daß die Glückseligkeit hinzukam. Darum ist es die Pflicht der Menschen, auch für diese zu sorgen. Die mit Vernunft und Freiheit ausgestattete Menschheit soll alles aus sich selbst heraus- bringen, also auch Schöpferin ihres Glücks sein.

Aber diese Aufgabe nimmt, wie schon oben angedeutet wurde ^), für den einzelnen noch ihre besondere Form an. Als endliches Wesen hat jeder schon von selbst das unausbleibliche Verlangen, glücklich zu werden. Es wäre also töricht, wenn man schlecht-

1) WW. VIII S. 26 Ak.-Ausg.

2) Krit. d. Urteilskraft S. 325 R. 3) S. 35.

CA Die besonderen sittlichen Aufgaben.

hin gebieten wollte, daß jeder für seine individuelle Glück- seligkeit sorgen solle; ja man hat nicht einmal die Möglichkeit, es ihm ohne Widerspruch zur Pflicht zu machen, da diese eine Nötigung zu einem ungern übernommenen Zwecke ist. Nur insofern kann daher von einer Pflicht des Menschen, die eigene Glückseligkeit zu befördern, gesprochen werden, als er sich von einer einzelnen Neigung verleiten läßt, die allerdings schwankende und unbestimmte allgemeine Idee der Glückseligkeit hintan- zusetzen und dadurch in die Gefahr gerät, seine übrigen Pflichten nicht in angemessener Weise erfüllen zu können. Denn das Vor- handensein der Glückseligkeit steigert die Fähigkeit der Pflicht- erfüllung, wie ihr Fehlen leicht zur Versuchung werden kann, das Pflichtgebot zu übertreten. Auch in diesem Falle ist darum der eigentliche Zweck, auf den die Bemühung des einzelnen gerichtet wird, nicht die eigene Glückseligkeit, sondern die Sittlichkeit, der lediglich Hindernisse aus dem Wege geräumt werden sollen. Nicht direkt, sondern nur indirekt kann es also Pflicht sein, für die eigene Glückseligkeit zu sorgen.

Anders steht es dagegen, wenn die Glückseligkeit der Mit- menschen in Frage kommt. Gibt es auch manchen, der aus Neigung andern wohlzutun sucht, so kann doch keine Rede davon sein, daß diese Neigung der menschlichen Natur ebenso notwendig wäre wie die, sich selbst glücklich zu machen. Hier wird daher die Glückseligkeit selbst zum Zweck und ihre Beförderung zur Pflicht, und zwar gar nicht aus egoistischer Berechnung heraus, wie sie dem Satz zugrunde liegt: was du nicht willst, daß man dir tu usw., sondern einfach aus Achtung vor dem Sittengesetze, das die entgegengesetzte Maxime, andern nicht beizustehen, ausschließt ^). Aber auch jetzt muß jede Handlung erst auf ihre moralische Zulässigkeit hin geprüft werden , ehe sie in den Dienst der fremden Glückseligkeit gestellt werden darf. In- sofern ist deren Beförderung nur bedingter Weise Pflicht. Es ergeht daher von hier aus an jeden einzelnen das Gebot, die Glück- seligkeit anderer einerseits dadurch zu befördern, daß er nichts tut, was sie zu Handlungen veranlassen könnte, über die sie ihre Selbstachtung verlieren und Gewissensbisse empfinden müßten, andererseits positiv dadurch, daß er ihre erlaubten, d. h. mit dem Sittengesetz vereinbaren Zwecke auch zu den seinigen macht. Hierbei wird er sich nun wegen der Relativität der Glückseligkeit

I) Vgl. S. i6f.

Fremde Glückseligkeit. ce

im allgemeinen auch nicht nach seinen, sondern nach ihren Be- griffen von Glückseligkeit richten müssen. Und aus diesem Grunde verurteilt Kant auch auf das lebhafteste jede Regierung, die sich in patriarchalischer Weise ganz souverän die Entscheidung darüber anmaßt, wie die Untertanen glücklich sein sollen. Aber doch gesteht er dem Wohltäter die Befugnis zu, wenigstens manches zu verweigern, was nach seinem Dafürhalten der Glückseligkeit des andern nicht nützt, es müßte denn sein, daß dieser ein Recht hat, es von ihm zu fordern.

So ist auch diese Pflicht von weiter Verbindlichkeit. Sie hat einen Spielraum, und ihre Grenzen lassen sich nicht genau angeben. Sie gilt nur für die Maximen, nicht aber für bestimmte Handlungen. Und doch ist sie von höchster Bedeutung. Denn erst dann wird die Idee der Menschheit als Zweck an sich selbst bei jedem alle Wirkung tun, wenn er sich um fremde Glück- seligkeit bemüht. »Denn das Subjekt, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen . . . auch, soviel möglich, meine Zwecke sein « ^) , Und erst durch diese Einstellung zur Glück- seligkeit erhält auch die natürliche Sorge jedes Menschen für sein eigenes Wohlergehen moralischen Charakter und die Bedeutung einer Pflicht. Denn dann sorgt der einzelne für sich nicht mehr unmittelbar und als einzelrien, sondern nur insofern, als er »einer von allen ist, auf die sein ausgebreitetes und edles Gefühl von der Würde der menschlichen Natur sich ausdehnt « ^) . Und dadurch, daß die Maxime seiner Selbstliebe durch die Form der Allgemeinheit für den einzelnen selbst eingeschränkt, auf andere aber ausgedehnt wird, bekommt sie die objektive Geltung eines Gesetzes. Und erst von hier aus erhält auch die Forderung, um fremde Glückseligkeit sich zu kümmern, ihren vollen Sinn. Sie bedeutet nicht, nur für die andern Sorge zu tragen, sich selbst aber zu vernachlässigen oder gar für andere zu opfern, sondern verlangt die Beförderung des Wohles aller oder die der allgemeinen Glückseligkeit, die Realisierung des Weltbesten.

i) Grundl. z. M. d. S. S. 67 R. 2) WW. II S. 217 Ak.-Ausg.

efß Die Realisierbarkeit des Weltbesten.

III. Die Realisierbarkeit des Weltbesten.

I. Ihre Bedeutung für die sittlichen Aufgaben.

Die Realisierung des höchsten Gutes war die Bestimmung der Menschheit. Daraus ergab sich für den einzelnen eine doppelte Aufgabe. Er mußte für sich selbst nach sittlicher Vollkommen- heit streben und sich außerdem die Förderung der Glückselig- keit aller angelegen sein lassen. Im Interesse der ersten Aufgabe waren aber auch an die Gesamtheit gewisse Forderungen zu stellen. Sie mußte auf einen ewigen Frieden bedacht sein, der allein die volle Entwicklung aller ursprünglichen Anlagen der Menschheit in jedem einzelnen ermöglichte und den nur ein ethischer Staat gewährleisten konnte. Der aber setzte seinerseits wiederum eine vollkommene politische Verfassung der einzelnen Staaten sowohl für sich als auch im Verhältnis zueinander voraus.

So waren die ethischen Aufgaben beschaffen, die sich aus der höchsten Forderung der praktischen Vernunft ergaben. Und sie behalten in Kants Augen für die Menschen als vernünftige Wesen unter allen Umständen ihre Geltung. Es ist und bleibt sittlich notwendig, daß der ganze menschliche Lebenswandel diesen Aufgaben untergeordnet wird. Denn sie alle sind Konse- quenzen des Sittengesetzes, und das gebietet kategorisch. Aber mitsamt ihrer Grundlage sind sie doch zunächst bloße Ideen, denen wir zwar als vernünftige Wesen unsern Beifall und unsere Bewunderung nicht versagen können, die aber für uns als end- liche und von allen möglichen Neigungen affizierte Wesen noch nicht ohne weiteres »Triebfedern des Vorsatzes und der A u s ü b u n ^) bilden.

Indes nicht die Bewunderung, sondern die Tätigkeit ist es, worauf im Praktischen alles ankommt. Für sie werden aber die ethischen Forderungen erst dann von Bedeutung, wenn wir wenigstens daran glauben können, daß der letzte Zweck, auf den sie alle hinzielen, und »der einem jeden vernünftigen Wesen natürlich und durch eben dieselbe reine Vernunft«, die ihm das praktische Gesetz gibt, »a priori bestimmt und notwendig ist«^), auch realisiert werden kann, m. a. W. wenn wir es wenigstens als möglich denken und darauf hoffen dürfen, daß die Befolgung

i) Krit. d. rein. Vern. S. 615 R.

Die Realisierbarkeit als Glaubenssache.

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der sittlichen Vorschriften wirklich den Erfolg hat, den die reine Vernunft mit ihr verknüpft, also wirklich zur Glückseligkeit führt. Denn »dem Objekte eines Begriffs nachzustreben, welcher im Grunde leer und ohne Objekt wäre«^), würde praktisch un- möglich sein; und wenn es feststände, daß das höchste Gut nicht realisiert werden könnte, so würden die moralischen Gesetze nichts sein als bloße Ideale und leere Hirngespinste. Nur unter der Voraussetzung der Realisierbarkeit des höchsten Gutes läßt sich erwarten, daß sich die dem Sittengesetze stets und immer geschuldete Achtung nicht abschwächt, daß der moralischen Ge- sinnung kein Abbruch widerfährt, und das sittliche Streben nicht ermatten, sondern fest und beharrlich seiner Aufgabe nachkommen wird. So wird diese Frage zu einem wichtigen, ja zum allerwich- tigsten Problem der kantischen Lebensphilosophie.

2. Die Realisierbarkeit als Glaubenssache.

Tritt man an es heran, so steht es für Kant aus sittlichen und in letzter Linie teleologischen Gründen absolut fest, daß das höchste Gut muß realisiert werden können. Allerdings sind wir nicht imstande, seine Realität in der Erfahrung, also für den theoretischen Vernunftgebrauch hinreichend, zu erweisen. Aber daraus, daß die theoretische Vernunft der Möglichkeit seiner Existenz auch nicht im Wege steht, und es zudem ein Gebot der reinen praktischen Vernunft ist, zu seiner Hervor- bringung alles zu tun, was in unsern Kräften steht, geht zur Genüge hervor, daß wir nicht nur befugt sind, seine Möglichkeit anzunehmen, sondern sie sogar annehmen müssen. »Denn einem Zwecke, der für nichts als Hirngespinst erkannt wird, nachzugehen, kann die Vernunft nicht gebieten« 2). V^er das behaupten wollte, müßte das moralische Gesetz, von dem jenes Gebot ausgeht, .»als -bloße Täuschung unserer Vernunft in praktischer Rück- sicht«^) ansehen. Dadurch aber würde er die Vernunft, die es als ein unbedingt gültiges Prinzip gibt, mit sich selbst in Wider- spruch bringen und würde, da sie uns in erster Linie um der Moral willen gegeben ist, nichts geringeres zum Ausdruck bringen,

i) Krit. d. pr. Vern. S. 171 R.

2) Krit. d. Urteilskraft S. 375 R.

3) Krit. d. pr. Vern. S. 137 R.

^3 Die Realisierbarkeit des "Weltbesten.

als den »Abscheu erregenden Wunsch«, überhaupt aller Vernunft »zu entbehren und sich seinen Grundsätzen nach mit den übrigen Tierklassen in einen gleichen Mechanism der Natur . geworfen anzusehen«^). Das aber wäre eine Vernichtung der sittlichen Grundsätze, die jeden in seinen eigenen Augen als nichtswürdig und verworfen erscheinen lassen müßte, weil ihm dadurch gerade das genommen würde, worauf allein seine Würde und die Ach- tung, die ihm im Unterschiede von allen andern Geschöpfen ge- bührt, beruht. Will man daher diese Degradierung der Mensch- heit vermeiden und man muß sie vermeiden, weil die Stimme des Sittengesetzes in uns ihr aufs Entschiedenste widerspricht , so bleibt nichts anderes übrig, als zuzugestehen, daß wir das höchste Gut, das zu befördern uns die moralisch-praktische Ver- nunft mit aller Entschiedenheit gebietet, als ein »wahres Objekt« ^) ansehen müssen.

Aber diese Notwendigkeit ist doch nicht selbst wieder eine Pflicht oder ein Gebot und insofern objektiv. Denn es kann gar keine Pflicht geben, die Existenz eines Dinges anzunehmen, weil darüber nur durch den theoretischen Gebrauch der Vernunft etwas ausgemacht werden kann. Sie ist vielmehr ein mit dem Pflichtgebot verbundenes und insofern moralisch gewirktes B e- dürfnis der reinen praktischen Vernunft, also nur subjektiv. Die Vernunft, die in der Existenz des höchsten Gutes eine un- umgängliche Voraussetzung dafür findet, daß der Gedanke des moralischen Gesetzes das Tun und Lassen des Menschen auch wirklich und beharrlich beeinflußt, und die doch ihre Unfähig- keit einsieht, sie zu beweisen, wirkt infolge dieser Einsicht in ihre Unzulänglichkeit durch den nach wie vor in ihr vorhandenen Erkenntnistrieb selbst das Gefühl des Bedürfnisses, sie anzuneh- men. Da jedoch das moralische Gesetz die Beförderung des höchsten Gutes unbedingt gebietet, so ist das Bedürfnis, das seine Existenz annimmt, trotz seiner Subjektivität ein schlechter- dings notwendiges, oder ein unbedingtes Bedürfnis. Es tritt in der Vernunft nicht bloß dann auf, wenn wir urteilen wollen, sondern mit Notwendigkeit, »weil wir urteilen müssen«^), und zwar urteilen müssen, daß die Idee des höchsten Gutes mit dem moralischen Gesetze unzertrennlich verbunden ist. Damit

1) WW. VI S. 355 Ak.-Ausg.

2) Krit. d. pr. Vern. S. 138/9 R.

3) WW. VIII S. 139 Ak.-Ausg.

Die Postulate der moralisch-praktischen Vernunft. gn

aber erweist sich das höchste Gut als ein Gegenstand, der als Folge des pflichtmäßigen Gebrauchs der reinen praktischen Vernunft a priori gedacht werden muß, oder als ein Postulat der praktischen Vernunft, an das wir glauben und auf dessen Erreichung wir vertrauen dürfen. Es ist weder eine Sache des Wissens noch auch Sache bloßer Meinung, wohl aber eine und zwar die fundamentale Glaubenssache. Denn »Glaube ist ein Vertrauen zu der Erreichung einer Absicht, deren Beförde- rung Pflicht, die Möglichkeit der Ausführung derselben aber für uns nicht einzusehen ist« ^), ein zwar objektiv mit Bewußt- sein unzureichendes, subjektiv aber zureichendes Fürwahrhalten.

3. Die Postulate der moralisch-praktischen Vernunft.

Steht so die Realisierbarkeit des höchsten Gutes im allge- meinen fest, so muß sich auch die Frage beantworten lassen, wie man sie sich im einzelnen zu denken habe. Und zwar kommt es für Kant hierbei vor allem darauf an, wie weit der Mensch an ihr beteiligt ist.

Es lagen aber im Begriff des höchsten Gutes zwei Elemente: Sittlichkeit und Glückseligkeit. Und so ergeben sich aus jener Frage zwei Probleme, von denen das eine die Realisierbarkeit des ersten und das andere die des zweiten Elements zum Gegen- stande hat.

Was das erste Problem angeht, so stellt sich Kant auf den Standpunkt, daß die Sittlichkeit, wie er sich wohl auch für seine eigene Auffassung etwas zu weitgehend ausdrückt, »gänzlich in unserer Gewalt« ^) ist. Sie ist etwas, »was niemand als der Mensch selbst sich geben oder nehmen kann«^). Denn als moralisch kann nur gewertet werden, was zurechnungsfähig ist, und als zurech- nungsfähig nur, was unsere eigene Tat ist. Darunter aber ver- steht Kant das, was Aktus einer dritten Freiheit ist, die noch hinter der sittlichen Freiheit als der Unterordnung der Hand- lungen unter das Sittengesetz liegt, weil sich die Willkür des Menschen durch diese Tat überhaupt erst für die Annahme des Prinzips des Guten oder des Bösen als oberste Maxime des Han-

i) Krit. d. Urteilskr. S. 374 R.

2) Krit. d. Urteilskr. S. 373 A. R.

3) WW. VIII 27 S. 283 * Ak.-Ausg., vgl. oben S. 27/8.

^Q Die Realisierbarkeit des Weltbesten.

delns entscheidet. Was aber der Grund dieser Tat ist, das können wir nach Kants eigenen Ausführungen nicht weiter sagen. Sie ist als außerhalb der Zeit gelegen für uns unerklärlich denn er- klären können wir nur, was wir von einer Ursache nach Gesetzen der Natur abzuleiten vermögen, und etwas Derartiges ist mit dem Gedanken einer freien Kausalität unvereinbar , muß aber trotz ihrer Unerforschlichkeit angenommen werden, um die Mög- lichkeit dafür zu erhalten , beim Menschen überhaupt von Zu- rechnung und infolge dessen auch von moralischer Beschaffenheit zu sprechen. Durch diese Tat der Freiheit also soll er sittlich werden. Was er aber werden oder tun soll, muß er Kants teleologischem Prinzipe zufolge auch werden oder tun können. Indessen schränkt Kant diese These, sofern sie den Gedanken an die Zulänglichkeit des eigenen Tuns enthält, doch etwas ein. Wir dürfen keineswegs schlechthin behaupten, daß das, was w i r zum Gut- und Besserwerden zu tun imstande sind, für sich allein zureiche und zur Vollendung unserer moralischen Anstrengungen nicht noch eine »übernatürliche Mitwirkung«^) nötig sei. Doch wird dadurch an ihrem eigentlichen Inhalt nicht viel geändert. Auch wenn eine solche Hilfe nötig sein sollte, würde der gleiche Grund moralischer Wertung überhaupt wenigstens dafür sprechen, daß der Mensch müßte hoffen können, auf den Weg zur Besserung durch eigene Kräfte zu gelangen. Das um so mehr, als er sich, ehe ihm jener Beistand zuteil werden kann, würdig machen muß, ihn zu empfangen, und fähig, ihn anzunehmen,' und es dazu wiederum nichts anderes gibt als ernstliche Be- strebung, seine sittliche Beschaffenheit nach aller Möglichkeit zu bessern. Dazu kommt, daß der Begriff eines solchen übernatür- lichen Beistandes immer transzendent ist und eine bloße Idee, über deren Realität uns keine Erfahrung Sicherheit verschaffen kann. Und schließlich läßt es die um unserer Moralität willen zu fordernde eigene Tätigkeit als äußerst gewagt erscheinen, ihn auch nur in bloß praktischer Absicht anzunehmen. Gibt daher der Mensch der Vernunft Gehör, so ist es schon besser, so zu verfahren, »als ob alle Sinnesänderung und Besserung ledig- lich von seiner eigenen angewandten Bearbeitung abhinge« ^), und im übrigen bloß zu hoffen, daß dann das, was nicht in seinem Vermögen steht, durch höhere Mitwirkung auf irgendeine Weise werde ergänzt werden, um deren genauere Bestimmung er sich

I) WW. VI S. 44 f. Ak.-Ausg. 2) a. a. O. S. 88.

Die Postulate der moralisch-praktischen Vernunft. 6l

nicht weiter zu sorgen braucht. Und so gilt unter allen Um- ständen — mag eine solche Mitwirkung höherer Art da sein oder nicht der Grundsatz, »daß ein jeder soviel als in seinen Kräften ist tun müsse, um ein besserer Mensch zu werden«^).

Ist aber aus moralischen Gründen dem Menschen die Fähig- keit, durch eigene Kraft besser zu werden, entschieden zuzu- sprechen, so darf auf der andern Seite doch nicht übersehen werden, daß er als endliches Wesen das Ziel seines Strebens in vollem Maße »in keinem Zeitpunkte seines Daseins « ^) erreichen kann. Alle moralische Vollkommenheit, Zu der der Mensch ge- langen kann, ist wir wissen es schon ^) immer nur Tugend, und es ist nichts als lauter moralische Schwärmerei und Wahn des Eigendünkels, »der Idee seiner heiligen Pflicht sich adäquat zu halten« *). Die Forderung sittlicher Vollendung über- steigt die menschlichen Kräfte und bringt »Unsinn in ihr Prinzip hinein« ^). Ist sie dennoch als Bedingung des höchsten Gutes geboten, und muß sie als geboten auch möglich sein, so kann sie nur in einem ins Unendliche gehenden Fortschritt z u der völligen Angemessenheit des Willens an das moralische Gesetz gesehen werden. Der also ist es, worauf der Mensch zu achten hat und den er durch seine eigenen Bemühungen auch zu bewirken im- stande ist.

Steht nun in diesem Sinne und mit dieser Einschränkung die Realisierbarkeit der Sittlichkeit in der Gewalt des Menschen, so ist es mit dem Hinzutreten der Glückseligkeit zu der so errunge- nen Tugend wesentlich anders bestellt. Daß wir imstande wären, der Tugend in notwendiger und zureichender V/eise die ihr an- gemessene Glückseligkeit zuteil werden zu lassen, daran ist nicht zu denken. Da der äußere Zustand des Menschen von natürlichen Ursachen abhängt, die als rein mechanisch wirkend an und für sich wenigstens für unsere Einsicht auf die Verbindung der Glückseligkeit mit der Tugend durchaus nicht abzielen, so müßten wir, wenn wir ihn der Tugend angemessen machen wollten, nicht nur das Vermögen besitzen, uns selbst im moralischen Gesetze das Gesetz unseres Handelns zu geben, sondern obendrein die Fähigkeit, auch die Natur diesem Gesetze zu unterwerfen, um das Reich der Natur mit dem der Zwecke auf diese Weise in

i) a. a. O. S. 52. 2) Krit. d. pr. Vern. S. 147 R.

3) Vgl. S. 16. 4) WW. VI S. 173 Ak.-Ausg.

5) a. a. O. S. 433 *.

^2 Die Realisierbarkeit des Weltbesten.

Einklang zu bringen. Davon kann aber keine Rede sein. Der Mensch als Teil der Natur ist nicht ihre Ursache, sondern von ihr abhängig. Soweit er daher überhaupt auf das Naturgeschehen einzuwirken vermag, richtet sich der Erfolg seines Eingreifens allein nach seiner Kenntnis der Naturgesetze und seinem physi- schen Vermögen, sie seinen Absichten zu unterwerfen. Die aber reichen beide nicht aus, die Natur hinsichtlich seiner Glückselig- keit mit seinen praktischen Grundsätzen in Uebereinstimmung zu bringen.

So stellt sich heraus, daß die Verwirklichung des höchsten Gutes nur zum Teil in unserer Gewalt steht. Wir können es zwar wenigstens bis zu einem gewissen Grade realisieren, soweit die Sittlichkeit, aber gar nicht, soweit die Glückseligkeit in Frage kommt. Haben wir als moralische Wesen trotzdem das vernunftnotwendige Bedürfnis, an seine volle Realisierbar- keit zu glauben, so ergibt sich für den auch hier seiner Unfähig- keit zu einer apodiktischen Entscheidung sich bewußten Erkennt- nistrieb das weitere Bedürfnis, unser und der Natur Unvermögen durch die Annahme gewisser Voraussetzungen zu ergänzen, ' die zwar über alle mögliche Erfahrung hinausliegen, aber doch die Verwirklichung des höchsten Gutes verständlich zu machen ver- mögen. Und auch dieses Bedürfnis ist unbedingt. Denn ein Vernunftbedürfnis, das auf einem objektiven Bestimmungsgrunde des Willens, dem Sittengesetze, beruht, berechtigt uns als mora- lische Wesen nicht nur, sondern macht es für uns unvermeidlich, dasjenige vorauszusetzen, was zur Verwirklichung seines Objekts anzunehmen für unsere menschliche Vernunft notwendig ist. Jedoch haben diese Voraussetzungen, wenn sie auch an sich »theoretische Positionen«^) sind und als solche nicht nur wider- spruchslos, sondern auch so beschaffen sein müssen, daß sie von der theoretischen Vernunft nicht widerlegt werden können, den- noch als Prinzipien, die die Verwirklichung eines durchs mora- lische Gesetz aufgegebenen Objektes denkbar machen sollen, nicht die Bedeutung »theoretischer Dogmata « ^) oder den Wert von Einsichten, die uns eine Erkenntnis des An-sich-seienden zu geben vermöchten. Sie können vielmehr, obwohl sie als Be- dingungen eines praktisch-notwendigen Bedürfnisses ebenso not- wendig sind wie dessen Grundlage, das moralische Gesetz, nur moralisch-praktische Realität oder die Bedeutung von Postu-

i) Krit. d. pr. Vera. S. 145 R. 2) a. a. O. S. 158.

Die Postulate der moralisch-praktischen Vernunft. 53

laten der moralisch-praktischen Vernunft beanspruchen und gelten für uns auch nur als moralische Wesen oder in Beziehung auf das moralische Gesetz, mit dem sie als Bedingungen des von ihm gebotenen Objekts für den, der »moralisch konsequent denken will«^), unzertrennlich verbunden sind. Anders ausgedrückt: sie betreffen nicht wirkliche Gegensi^ände, sondern sind einzig und allein Maximen der Handlung, sagen also nicht, daß ihre Objekte existieren, sondern verlangen nur, daß wir uns so ver- halten, als ob sie existierten.

Zu diesen Postulaten gehören aber zwei: die Unsterblichkeit der' Seele und das Dasein Gottes. Und zwar hängt jenes besonders mit der im Begriff des höchsten Gutes enthaltenen Forderung der Sittlichkeit, dieses mit der Verbindung von Tugend und Glückseligkeit zusammen.

Denn die Forderung der Sittlichkeit hatte sich für eine tiefere Betrachtung auf die Forderung eines unendlichen Fort- schritts des Menschen zur Vollkommenheit reduziert. Ein solcher unendlicher Progreß ist aber nur unter der Voraussetzung möglich, daß der Mensch ins Unendliche fortdauert. So erweist sich die Unsterblichkeit der Seele als eine für unser Denken un- umgängliche Bedingung der durch das »unnachläßliche Gebot der praktischen Vernunft « ^) geforderten und daher als möglich anzusetzenden Realisierung des höchsten Gutes, Und das macht es dem Menschen zum Vernunftbedürfnis und gibt ihm zugleich das Recht, an sie zu glauben.

Wie aber das im höchsten Gute enthaltene Moment der moralischen Vollkommenheit zum Glauben an ein »Uebersinn- liches nach uns«^) führt, so nötigt die in ihm beschlossene Ver- bindung von Tugend und Glückseligkeit zum Glauben an ein »Uebersinnliches über uns«*). Denn da wir gar nicht einzusehen vermögen, wie die Natur, sei es für sich, sei es unter unserer Ein- wirkung, diese Verbindung sollte herstellen können, so sind wir auch hier berechtigt, an die Wirklichkeit ihrer einzigen für uns denkbaren Bedingung, d. h. an eine von der Natur unterschiedene Ursache der gesamten Natur zu glauben. Weil sich aber in dieser Verbindung die Glückseligkeit nach der moralischen Gesinnung richtet, diese also den beherrschenden Faktor bildet, so müssen wir uns die oberste Ursache weiterhin so denken, als ob sie sich

I) Krit. d. Urteilskr. S. 347 * R. 2) a. a. O. S. 383.

3) WW. I S. 534 Ros. 4) a. a. Ö. S. 533.

^A Die Realisierung des Weltbesten.

in ihrer auf die Natur gerichteten Tätigkeit von moralischen Gesetzen leiten heße. Nun ist aber ein Wesen, das nach der Vor- stellung von Gesetzen zu handeln vermag, eine Intelligenz und seine Kausalität in dieser Hinsicht ein Wille. Also müssen wir uns die oberste Ursache der Natur, sofern sie als Bedingung der ReaHsierbarkeit des höchsten Gutes vorausgesetzt werden muß, als ein Wesen denken, das durch Vorstellung und Wille Ursache der Natur ist und sie zugleich nach moralischen Gesetzen be- herrscht. M, a. W. : dieser aus der Vernunft selbst hervorgehende Begriff einer obersten Ursache der Natur, den insofern uns selbst zu machen die reine praktische Vernunft uns nötigt, ist der Begriff eines moralischen Welturhebers oder, da wir einem solchen alle Eigenschaften zuschreiben müssen, die zur Gründung einer mit dem moralischen Endzweck, der unendlich ist, über- einstimmenden Natur überhaupt erforderlich sind, Allwissenheit nämlich, damit er das Innerste der Gesinnungen und deren mora- lischen Wert erkenne, Allmacht, Allgegenwart, Ewigkeit usw. es ist der Begriff Gottes,

Gott und Unsterblichkeit sind also die unumgänglichen Voraussetzungen für die Realisierbarkeit des höchsten Gutes. Dieses selbst aber ist eine Aufgabe, die sich mit Notwendigkeit aus dem kategorischen Imperativ ergibt. Und so bringt zuletzt das Sittengesetz jene Objekte unvermeidlich mit sich. Der Mensch kann daher mit Recht sagen, zwar nicht : es ist, wohl aber : ich bin moralisch gewiß, daß es einen Gott und eine andere Welt gibt. »Das heißt: der Glaube an einen Gott und an eine andere Welt ist mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt, daß, so wenig ich Gefahr laufe, die erstere einzubüßen, ebensowenig besorge ich, daß mir der zweite jemals entrissen werden könne« ^).

IV. Die Realisierung des Weltbesten.

I. Der Fortschritt der Menschheit.

Durch die soeben dargelegten Ueberlegungen glaubt Kant die Realisierbarkeit des höchsten Gutes sichergestellt zu haben. Aber es bleibt noch die Frage, wie sich die Reahsierung selbst vollzieht, und zwar auch hier wieder mit der besonderen Zu-

i) Krit. d. rein. Vern. S. 626 R.

Der Fortschritt der Menschheit.

65

spitzung, wie und wie weit die Menschen sie bewirken und bewirken können.

In dieser Hinsicht sieht sich nun Kant schon auf Grund seiner Auffassung menschhcher Sitthchkeit von vornherein zu einer Einschränkung zu weitgehender Erwartungen genötigt. Die GlückseHgkeit sollte dem Menschen ja nur im angemessenen Verhältnis zu seiner Sittlichkeit zuteil werden. Hier auf Erden konnte aber gar nicht die Rede davon sein, daß der einzelne seine sittliche Bestimmung erreichte. Nur von der Gattung ließ sich das erwarten, von der Menschheit im Ganzen, so wie sie in Völker und Staaten geteilt auf Erden angetroffen wird, und auch von ihr nur im Fortschreiten durch eine unabsehliche Reihe von Generationen ^). Und selbst das gilt nicht ohne eine weitere Einschränkung. Nur dann nämlich würde die Gattung ihr Ziel ganz erreichen, wenn einmal ein einzelner absolut vollkommen und gut sein würde, so daß er imstande wäre, alle andern zu seiner Höhe emporzuheben. Aber auch daran ist nicht zu denken. Wegen der Unvertilgbarkeit des angeborenen Hanges zum Bösen wird es niemals einen Menschen geben, der nicht irgendeine Ver- dorbenheit in sich hätte. Auch die Gattung kann also die Be- stimmung der Menschheit nie völlig erreichen, sie kann sich ihr nur immer mehr nähern, und deshalb auch nur in dieser Form der Annäherung ihr letztes Ziel verwirklichen. Macht man aber darauf aufmerksam, wie befremdend es doch sei, daß die früheren Generationen sich nur um der späteren willen abzumühen schei- nen, so antwortet Kant: »So rätselhaft dieses auch ist, so not- wendig ist es doch zugleich, wenn man einm.al annimmt« 2), daß die mit Vernunft begabte Menschheit ihren Fortschritt zum Bessern aus eigener Kraft bewirken soll. Das aber muß man um ihrer im moralischen Interesse unentbehrlichen Freiheit willen tun. Nun vollzieht sich dieser Prozeß des Fortschreitens zum Bessern in der Geschichte. Und Kant ist der festen Ueberzeugung, daß hier im großen und ganzen wirklich von einem Weiterkommen gesprochen werden kann. Allerdings nicht in dem Sinne, daß die Natur des Menschen im Laufe der Generationen immer besser würde, oder die Masse des in seiner Natur angelegten Guten beständig zunehme denn dazu würde eine Art von neuer Schöpfung nötig sein, während s. E. die Natur ihre dem Boden und Klima angemessenen Formen längst erschöpft hat ,

I) Vgl. S. 37. 2) WW. VIII S. 20 Ak.-Ausg.

Goedeckemeyer Kants Lebensanschauung. ' K

55 Die Realisierung des Weltbesten.

wohl aber in dem, daß die Menschen ihre ursprüngliche Anlage zum Guten durch Umkehrung der aus ihrem natürlichen Hange zum Bösen entstandenen Verkehrung der sittlichen Ordnung der Triebfedern mit eigener Kraft wiederherstellen und gegen alle Angriffe von selten jenes Hanges mehr und mehr sichern. Zu stützen sucht er diese Ueberzeugung aber nicht bloß mit dem Hinweise darauf, daß der Glaube an den Fortschritt der Welt moralisch gefordert, und daher auch solange festzuhalten sei, als nicht der s. E. ganz unmögliche Beweis für das Gegenteil geführt werde, sondern auch durch die Erfahrung. Er meint, daß die Erfahrung zum mindesten »ein Weniges « ^) von diesem Fortschreiten erkennen lasse, so daß es sogar zu einem auch »für die strengste Theorie haltbarem Satz«^) werde. Zu diesen empiri- schen Argumenten gehört aber zunächst die fortschreitende Kultur der Staaten im Innern. Sie besteht darin, daß jeder Staat seinen Bürgern eine möglichst gute praktische Bildung zu ver- leihen sucht und dazu auch genötigt ist, weil die einzelnen Staaten schon in einem so künstlichen Verhältnis zueinander stehen, daß keiner in der inneren Kultur nachlassen kann, ohne den an- dern gegenüber an Macht und Einfluß einzubüßen. Und aus dem gleichen Grunde geht mit dieser Steigerung der Tauglichkeit Erweiterung der bürgerlichen Freiheit Hand in Hand. Die Frei- heit der Religion tritt ebenfalls hinzu, die freie Kritik auch der Gesetzgebung und überhaupt die für den Fortschritt eines Volkes über alles wichtige Freiheit des Geistes, d. h. des Denkens und der Rede, die das einzige Palladium der Volksrechte bildet, weil dadurch allein die Beschwerden des Volkes ihren Ausdruck finden können, und dem Staatsoberhaupt die Möglichkeit geboten wird, Abhilfe zu schaffen. Und wenn man auch noch nicht behaupten kann, daß sich die Menschheit schon in einem aufgeklärten Zeit- alter befinde, einem solchen also, in dem die einzelnen imstande wären oder auch nur in den Stand gesetzt werden könnten, sich in allen Dingen ungeleitet ihres eigenen Verstandes sicher und gut zu bedienen, so läßt sich doch wohl sagen, daß sie in einem Zeit- alter der Aufklärung leben, in dem ihnen mehr und mehr die Möglichkeit geboten wird, aus ihrer selbstverschuldeten Unmün- digkeit herauszukommen und den M u t zu fassen , von ihrer eigenen Vernunft öffentlich Gebrauch zu machen.

i) a. a. O. S. 27.

2) WW. VII S. 88 Ak.-Ausg.

Der Fortschritt der Menschheit.

67

Dieser ganze kulturelle Fortschritt muß nun aber auch zum moralischen Fortschritt auf den es in letzter Linie allein an- kommt — führen und hat auch wirklich dazu geführt. Er muß dazu führen, zunächst weil alle diese Errungenschaften der Kultur unvermeidlich auf die Sinnesart des Volkes zurückwirken, indem es durch die ihm gelassene Freiheit immer mehr zum selbständigen Gebrauch seiner natürlichen Freiheit heranreift »denn man kann zu dieser nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Frei- heit gesetzt worden ist « ^) , und dadurch eben der Boden für den moralischen Fortschritt bereitet wird, der ohne Freiheit nicht möglich ist ; dann aber auch aus dem Grunde, weil der bloße kulturelle Fortschritt die Menschen nur zu einem glänzenden Elende führen würde, sie also mit ihrem eigenen Streben nach Glückseligkeit in einen Widerspruch brächte, dem sie nur dadurch entgehen können, daß sie auch moralisch immer besser zu werden suchen ^) .

Aber er h a t auch dazu geführt. Das glaubt Kant mancherlei Begebenheiten seiner Zeit entnehmen zu können. Dahin rechnet er vor allem zwei: »die allmählich zum Bessern hinstrebende, auf wahre Rechtsbegriffe sich gründende Staatsverbesserung« ^), wie sie in der französischen Revolution als der »Evolution einer naturrechtlichen Verfassung« zutage getreten ist *), und das öffentliche Auftreten der wahren Religion. Denn wenn beide Tatsachen anfangs auch nur als Mittel zu selbstsüchtigen Zwecken gedacht waren, so sind sie schließlich doch auch als Zwecke an sich selbst in Achtung gekommen, wie bei der französischen Re- volution vor allem an der allgemeinen und doch uneigennützigen, weil gefährlichen, Teilnahme aller Zuschauer deutlich zu erkennen ist. Eben dadurch sind sie aber auch Fortschritte auf dem Wege zum Moralisch-Bessern geworden.

Diese allgemeine und uneigennützige Teilnahme weist nun auch auf eine Beschaffenheit des Menschengeschlechts hin, die es gestattet, selbst ohne Sehergeist vorauszusagen, daß es auch in Zukunft zum Bessern fortschreiten wird vielleicht nicht ohne manchen Rückschlag, aber doch beharrlich und so, daß keine menschliche Macht imstande ist, es jemals gänzlich daran zu hin-

i) Religion usw. S. 204 * R. 2) Vgl. S. 53.

3) Worin besteht der Fortschritt zum Besseren im Menschengeschlecht ed. Kulimann S. 18.

4) WW. VII S. 88 f. Ak.-Ausg.

5*

58 Die Realisierung des "Weltbesten.

dern. Denn die Allgemeinheit der Teilnahme beweist, daß das Menschengeschlecht im ganzen einen ganz bestimmten Charakter, d. h. den Willen, nach festen Grundsätzen zu handeln, besitzt, und die Uneigennützigkeit zeigt, daß dieser Charakter wenigstens in seiner Anlage moralisch ist. In diesem moralischen Charakter aber besitzt es die Beschaffenheit, die es ihm mög- lich macht, selbst Urheber seines Fortschreitens zum Bessern zu sein. Denn in dem »lebhaften Gefühl der Lust«^), das infolge dieser moralischen Tendenz in allen aufgeklärten, d. h. ihres Vernunftgebrauchs wirklich mächtigen Menschen beim Gelingen eines Fortschritts zum Bessern auftritt, ist zugleich der subjektive Grund zur Beförderung desselben gegeben, der für sinnlich- affizierte vernünftige Wesen zur Erfüllung der ihnen von der Vernunft vorgeschriebenen Pflicht unentbehrlich ist. Und der wird sich sogleich bemerklich machen, wenn nur die äußeren Um- stände eintreten, unter denen er sich betätigen kann. Wann sie aber eintreten werden, läßt sich nicht bestimmen, nur daß sie irgendwann einmal auftreten müssen, kann »wie beim Kalkül der Wahrscheinlichkeit im Spiel« 2) vorausgesagt werden. Und daß sich dann die moralische Tendenz des Menschengeschlechts in der Tat als wirksam erweisen wird, sichert nach Kants Ansicht wiederum die französische Revolution. »Denn ein solches Phä- nomen in der Menschengeschichte vergißt sich nicht mehr«; es »ist zu groß, zu sehr mit dem Interesse der Mensch- heit verwebt .... als daß es nicht den Völkern bei irgendeiner Veranlassung günstiger Umstände in Erinnerung gebracht und zu Wiederholung neuer Versuche dieser Art erweckt werden sollte « ^) .

Die so begründete Ueberzeugung vom Fortschritt des Men- schengeschlechts v/ill sich Kant aber auch nicht durch das ab- weichende Urteil der Politiker nehmen lassen. Berufen sich diese auf widerstreitende Erfahrungen, um von da aus zu behaupten, daß sich die Geschichte der Menschheit nur in einem ewigen Zirkel drehe, ohne jemals weiterzukommen, so übersehen sie, daß diese Erfahrungen nur deshalb möglich sind, weil ihr Un- glaube an Tugend überhaupt und an die Kraft einer rein morali- schen Triebfeder sie veranlaßt, vorsätzlich und nach allen Kräften alles zu unterdrücken, was das Fortrücken zum Bessern sichern

i) Worin besteht usw. ed. Kullm. S. 21.

2) WW. VII S. 84 Ak.-Ausg. 3) a. a. O. S. 88.

Die Realisierung der Sittlichkeit. 5q

könnte, so daß sie auf diese Weise selbst Urheber von Erfah- rungen werden, die gar nicht existieren würden, wenn sie sich bei allen ihren Maßnahmen nur nach der Idee des Bessern richten möchten. Aber wenn sie mit ihren »verräterischen Anschlägen«^) auch eine Zeitlang Erfolg haben, auf die Dauer wird ihnen alles nichts nützen. Denn, so erklärt Kant ^) mit unerschütterlichem Vertrauen: ist das Wahre und Gute erst einmal öffentlich ge- worden, dann wird es vermöge der natürlichen Verwandtschaft, in der es mit der moralischen Anlage vernünftiger Wesen steht, nicht ermangeln, sich durchgängig mitzuteilen, immer weiter fortzuschreiten und sich fernerhin von selbst zu erhalten. Er offenbart damit einen Glauben an die Macht des Guten, der zu den wichtigsten Momenten seiner Lebensphilosophie gehört und seinen entschiedensten Ausdruck vielleicht in den Worten über die menschliche Natur gefunden hat, »welche, da in ihr immer noch Achtung für Recht und Pflicht lebendig ist, ich nicht für so versunken im Bösen halten kann oder will (!), daß nicht die moralisch-praktische Vernunft nach vielen mißlungenen Ver- suchen endlich über dasselbe siegen .... sollte«^).

2. Die Realisierung der Sittlichkeit.

So steht für Kant der Fortschritt der Menschheit zum Bessern fest. Fragt man aber nach dem Mittel, durch das er sich befördern läßt, so antwortet der Philosoph mit der Erziehung. Als ver- nünftiges Geschöpf wird der Mensch nicht vom Instinkt geleitet, sondern muß sich den Plan seines Verhaltens selbst machen. Dazu ist er aber, roh und wild wie er auf die Welt kommt, nicht sogleich imstande, sondern muß erst durch künstliche Bemühungen anderer vorbereitet werden. Diese Bemühungen faßt der Begriff der Erziehung zusammen. Sie dient dazu, sowohl die natürlichen als auch die moralische Anlage des Menschen immer mehr zu entwickeln, ihn dadurch aus dem rohen Zustande der Tierheit heraustreten und erst wirklich zum vernünftigen Menschen und zu einer moralischen Persönlichkeit werden zu lassen. Erst als solche ist er ein freihandelndes Wesen, »das sich selbst erhalten, in der Gesellschaft ein Glied ausmachen, für sich selbst

i) a. a. O. S. 80. 2) Religion usw. S. 131 R.

3) WW. VIII S. 313 Ak.-Ausg. Das Ausrufungszeichen habe ich eingefügt.

70

Die Realisierung des Weltbesten.

aber einen innern Wert haben kann«'-), als solche erreicht er also auch erst seine Bestimmung. Darum bedarf der Mensch der Erziehung. Und darum konnte Kant sie auch so hoch werten, daß er erklärte: »Hinter der Edukation steckt das große Ge- heimnis der Vollkommenheit der menschlichen Natur « ^) .

Aber je höher er sie stellte, um so wichtiger wurde die Frage nach ihrem Träger. Und hier glaubte er nun doch die Ansicht vertreten zu müssen, daß der Mensch selbst nicht imstande sei, ihrer höchsten Aufgabe, der Bildung zum Guten oder zur Beför- derung des Weltbesten, gerecht zu werden.

Denn wer sollte diese Aufgabe übernehmen? Denkt man an das Volk, so ist es eher geneigt, die Erziehung um der Kosten willen, die sie mit sich bringt, von sich abzuwälzen, würde aber auch sonst nicht imstande sein, sie in angemessener Weise durch- zuführen. Denn eine Erziehung, die in der Hand so vieler und von ganz verschiedenen Interessen bewegter Menschen läge, würde nicht nur ohne jeden Zusammenhang, sondern, weil die Eltern im allgemeinen ihre Kinder nur für ein gutes Fortkommen in der Welt geschickt machen wollen, auch viel zu eng und beschränkt sein.

. Denkt man an den Staat, dem das Volk die Erziehung gern zuschieben möchte, so ergeben sich andere Bedenken. Einmal hat er, so wie die Dinge jetzt liegen, für die Erziehung kein Geld übrig, weil er alles zum Kriege braucht. Dazu kommt, daß auch sein Sinn zu eng ist. Auch er hat nicht das Weltbeste, sondern nur sein eigenes Wohl im Auge, und der Fürst sieht seine Unter- tanen so sehr lediglich als Instrumente für seine Absichten an, daß man geradezu behaupten kann, »daß das Glück der Staaten zugleich mit dem Elende der Menschen wachse« ^). »Man hat keinen Monarchen, der etwas zum Besten des menschlichen Geschlechts tun will, auch nicht einmal zum Besten des Volks, sondern nur vor das Ansehen des Staats, also auch nur vor das äußere«*).

So bleiben nur Privatmänner übrig, von deren Sorgfalt sich eine der Bestimmung des Menschen entsprechende Erziehung er- warten ließe. Und in der Tat begegnet uns bei Kant die ent- schiedene Erklärung, daß alle Kultur vom Privatmanne an- fange und sich von da her ausbreite, und deshalb auch »bloß durch die Bemühung der Personen von extendierten Neigungen,

i) Paedag. ed. Rink S. 29. 2) a. a. O. S. 12.

3) a. a. O. S. 22. 4) WW. XV Nr. 1416 Ak.-Ausg.

Die Realisierung der Sittlichkeit. ^j

die Anteil an dem Weltbesten nehmen, und der Idee eines zu- künftigen bessern Zustandes fähig\ sind, die allmähliche An- näherung der menschlichen Natur zu ihrem Zwecke möglich« sei 1). Aber auch hier ergeben sich noch gewisse, und zwar er- hebliche, weil prinzipielle, Schwierigkeiten. Man hat allerdings, wie er meint, allmählich eingesehen, was zu einer guten Erziehung gehört daß sie nämlich in allererster Linie kosmopolitisch sein muß , und hat damit wenigstens objektiv die Möglichkeit gewonnen, mit ihr den Anfang zu machen; aber der Erfolg aller Versuche wird doch dadurch in Frage gestellt, daß derjenige, welcher erziehen soll, wieder ein Mensch ist und so fort. Ihnen allen aber ist als Menschen der unvertilgbare Hang zum Bösen eigen und macht es unmöglich, eine beharrliche moralische Fort- bildung der Gattung von ihnen zu erwarten. Dazu kommt ein weiteres. Bei der Erziehung des ganzen Menschengeschlechts muß eine Einwirkung vorhanden sein, die aufs Ganze und erst von da aus auf die Teile geht. Die auszuüben sind Menschen aber nicht imstande. Denn sie gehen mit ihren Entwürfen immer von den Teilen aus und erstrecken aufs Ganze höchstens ihre Ideen, nicht aber auch ihren Einfluß, und zwar vor allem deshalb nicht, weil sie sich schon in ihren Entwürfen widerstreiten, und sich daher schwerlich wie vernünftige Weltbürger aus eigenem, freien Vorsatz zu einem einheitlichen Vorgehen zusammenfinden werden. Soll dennoch die Menschengattung um ihrer Ver- nunft und Freiheit willen alles aus sich selbst herausbringen, erweisen sich aber alle in Betracht gezogenen Wege als ungang- bar, so bleibt am Ende nichts anderes übrig, als das Erreichen dieses Zieles von der Natur oder »vielmehr, weil höchste Weisheit zur Vollendung dieses Zwecks erfordert wird« 2), von einer Vor- sehung, wie sie schon zur Erklärung der Zweckmäßigkeit der organischen Welt angenommen werden zu müssen schien, zu erwarten; und zwar in der Weise, daß sie die Menschen durch Herbeiführung der erforderlichen Umstände, aber unbeschadet ihrer Freiheit zu dem, was guter Wille tun sollte, faktisch aber nicht tut, drängt und sie nötigt, schließHch doch durch eigene Vernunft eine Bahn einzuschlagen, in die sie sich von selbst nicht leicht begeben würden. In höchstem Maße unterstützt werden würde aber diese »Erziehung von oben herab« ^) in Kants

I) Paed. ed. Rink S. 19/20. 2) WW. VIII S. 310 Ak.-Ausg.

3) WW. VII S. 328 Ak.-Ausg.

72

Die Realisierung des Weltbesten.

Augen, wenn es gelänge, die allgemeine Weltgeschichte dieser teleologischen Betrachtungsweise gemäß darzustellen und so zu zeigen, daß die oberste Weisheit nicht bloß für das vernunftlose Naturreich Sorge trägt, sondern auch um den vernünftigen Teil der Welt, sich kümmert, der von jenem den Zweck enthält. Denn diese Darstellung würde die Menschen von der moralisch be- denklichen Tendenz befreien, eine vernünftige Absicht der Schöp- fung erst in einer jenseitigen Welt zu suchen, und würde sie im höchsten Maße in der Erfüllung ihrer Pflicht bestärken, das Beste dieser Welt nach allen Kräften zu befördern.

Was nun diese Erziehung von oben herab im einzelnen an- geht, so muß man sich Kants Wunsche gemäß ^) gegenwärtig halten, daß der moralische Fortschritt der Menschheit eine nega- tive und eine positive Seite enthält. Die negative besteht in der allmählichen Beseitigung des Krieges als des größten Hindernisses alles Moralischen, oder in der Herstellung eines gesicherten Frie- dens zwischen Menschen und Völkern, die positive im Hervor- bringen und beharrlichen Ausbreiten des Guten. Und von ihnen bildet die erste die Bedingung und Voraussetzung der zweiten. Erst dadurch, daß der Krieg beseitigt und ein sicherer Friedens- zustand gewonnen ist, wird dem Menschengeschlecht der Fort- schritt zum Bessern insofern gesichert, als es darin wenigstens nicht mehr gestört werden kann.

Das Mittel aber, dessen sich die Vorsehung in dieser Hin- sicht bedient, ist, soweit sich ihr geheimer Mechanismus durch- schauen läßt, in dem den Menschen eigentümlichen Antagonismus ihrer Neigungen und der damit verbundenen Zwietracht zwischen ihnen zu erblicken. Denn die führt im Naturzustande zur »kon- tinuierlichen Läsion der Rechte aller andern« 2), zu jener Un- sicherheit, in der sich jeder hinsichtlich des Seinen befindet, und zu all der Not, die sich die in wilder Freiheit lebenden Menschen selbst zufügen und die ihnen um so stärker fühlbar wird, je mehr ihre Kultur auf dem Wege des Naturzwanges steigt. Dadurch aber sehen sie, die sonst für ungebundene Freiheit so sehr ein- genommen sind, sich schließlich genötigt, sich, wenn auch ungern, dem Zwange öffentlicher Gesetze zu unterwerfen und zu irgendeiner bürgerlichen Verfassung zusammenzutreten. Doch bringt es die Art ihres Zustandekommens mit sich, daß sie zu- nächst nichts weiter ist als »ein Maschinenwesen der Vorsehung,

i) Vgl. a. a. O. S. 86, 93. 2) Religion usw. S. 10 i * R.

Die Realisierung der Sittlichkeit.

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wo die einander entgegenstrebenden Kräfte zwar durch Reibung einander Abbruch tun, aber doch durch den Stoß oder Zug an- derer Triebfedern lange Zeit im regelmäßigen Gange erhalten werden«^). Und ihre höchste Form, die »wahre bürgerliche Ver- fassung« der Republik ergibt sich aus den äußeren Kriegen, die mit der fortschreitenden Kultur der Staaten und dem damit zu- gleich wachsenden Hange, sich auf Kosten anderer zu vergrößern, immer zahlreicher werden. Denn alle die Not und Mißhelhgkeit, die sie mit sich bringen, muß die Staaten schHeßlich dazu treiben, sich im Innern so zu organisieren, »daß nicht das Staatsoberhaupt, dem der Krieg (weil er ihn auf eines andern, nämlich des Volks, Kosten führt) eigenthch nichts kostet, sondern das Volk, dem er selbst kostet, die entscheidende Stimme habe, ob Krieg sein solle oder nicht« 2), muß sie also m. a. W. zur Realisierung der republikanischen Verfassung veranlassen. Die ist die einzige, die ihrer Natur nach nicht kriegssüchtig sein kann, sondern zum Frieden geneigt sein muß, weil das Volk im Gegensatze zu den Herrschern, die »des Krieges nie satt werden können« 2), es wohl bleiben lassen wird, »aus .bloßer Vergrößerungsbegierde oder um vermeinter, bloß wörtlicher Beleidigungen willen sich in Gefahr persönlicher Dürftigkeit, die das Oberhaupt nicht trifft, zu ver- setzen« ^).

Dieses Ziel aber wirklich, wenn auch nur annäherungsweise, zu erreichen wird der Natur doch erst spät gelingen. Zwar kommt sie den Menschen, deren guter Wille auf jene vollkommen gerechte bürgerliche Verfassung gerichtet, aber zur praktischen Ausführung ohnmächtig ist, durch die selbstsüchtigen Neigungen, die sie in sie gelegt hat, insofern zu Hilfe, als sie ihnen zunächst nur eine rein mechanisch zu lösende Aufgabe stellt *), und zudem durch den Zwang, den sie auf sie ausübt, sich in ihrem äußeren Verhalten nach der Rechtsidee zu richten, auch dieser selbst allmählich Anerkennung und schließlich sogar die Obergewalt verschafft. Aber der ganze Prozeß kann doch nur sehr langsam zu seinem höchstmöglichen Ergebnis führen, weil dazu außer dem guten Willen auch richtige Begriffe von der Natur einer möglichen Verfassung und große durch viele Weltläufe geübte Erfahrenheit erfordert wird; »drei solche Stücke aber sich schwer und, wenn

i) WW. VII S. 330 Ak.-Ausg.

2) Zum ew. Frieden. Vorw.

3) WW. yill S. 311 Ak.-Ausg. 4) Vgl. S. 47.

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Die Realisierung des Weltbesten.

es geschieht, nur sehr spät, nach viel vefgebhchen Versuchen, einmal zusammenfinden können«^).

Aber die Vorsehung sucht die einzelnen nicht nur zur Grün- dung einer staatsbürgerlichen Verfassung zu nötigen, um inner- halb der Völker selbst Frieden zu stiften, sondern will auch den Zustand beständiger Kriegsverfassung zwischen den Staaten be- seitigen. Und sie geht dabei noch ihren ganz besonderen Weg.

Jeder Staat nämlich oder sein Oberhaupt hegt das Verlangen, sich auf die Weise den dauernden Friedenszustand zu verschaffen, daß er womöglich die ganze Welt beherrscht; er sucht eine Universalmonarchie zu gründen. Dem aber stemmt sich die Natur entgegen. Sie will es anders. Und mit Recht. Denn mit dem vergrößerten Umfange der Regierung würden die Gesetze immer mehr an Nachdruck verlieren, und die unver- meidliche Folge würde ein »seelenloser Despotismus«^) sein, der allmählich alle Freiheit und damit auch ihre Früchte: Tugend, Geschmack und Wissenschaft vernichten und so alle Kräfte des Menschen schwächen würde. Das aber wäre als Gegenteil aller menschlichen Bestimmung schlimmer als selbst die Kriegs- gefahr, die doch wenigstens insofern die Freiheit schützt, als zur Kriegführung Geld erforderlich ist, das nur durch eine auf Frei- heit gestützte Betriebsamkeit gewonnen werden kann^). Darum hat die Natur selbst dieser Entwicklung einen Riegel vorge- schoben. Je weiter es in einem solchen Universalstaate mit der Entkräftung der Gesetze und der Ausrottung der Keime des Guten kommt, um so mehr pflegen Aufruhr und Zwiespalt in diesem »Ungeheuer « *) aufzutreten und es durch Zerspaltung in viele kleine Staaten wieder aufzulösen. Die V-erschiedenheiten der Sprache und die der Religion sind die Mittel, die der Vorsehung dabei zur Verfügung stehen.

Aber auch »die sogenannte Balance der Mächte in Europa«^) kann zur Stiftung eines dauernden Friedens zwischen ihnen nicht in Betracht kommen. Sie ist nach Kants Ueberzeugung ein »bloßes Hirngespinst « ^) , weil sie durch den geringsten Zuwachs auf der einen Seite sofort verloren gehen müßte.

Und so ist das Einzige, was diesen Frieden wirklich und zu- gleich ohne Gefährdung der Freiheit und aller menschlichen

I) WW. VIII S. 23 Ak.-Ausg. 2) Zum ew. Frieden S. 33 R.

3) Vgl. S. 66. 4) Religion usw. S. 34 * R.

5) WW. VIII S. 312 Ak.-Ausg.

Die Realisierung der Sittlichkeit. ^c

Kräfte herbeiführen kann, der schon i) erwähnte Völkerstaat, in dem alle einzelnen Staaten dadurch, daß sie sich freiwillig unter dessen Gewalt beugen und seinen Gesetzen gehorchen, zu einer Einheit zusammenschmelzen. Eine solche Weltrepublik bildet daher nach Kants Ueberzeugung die höchste Absicht der Natur und das letzte Ziel der Vorsehung.

Nun setzt aber das auf freiwilliger Unterordnung der ein- zelnen Staaten beruhende weltbürgerliche Ganze eine moralische Basis voraus. Daher kann seine Verwirklichung erst dann er- wartet werden, wenn die Menschen moralisch besser geworden sind. Jedes zu frühe Zusammenschmelzen der Staaten dagegen würde bedenklich sein. Es müßte einerseits zu einem Despotismus führen und könnte darum wegen der Gefahren, die eine solche Regierungsart der Freiheit bringt, nur schädlich wirken, würde andererseits aber auch die Entfaltung der natür- lichen Anlagen der Menschen beeinträchtigen, die im vormorali- schen Zustande bloßer Gesittung noch des Streites bedarf. Denn erst »nach einer (Gott weiß wann) vollendeten Kultur würde ein

immerwährender Friede für uns heilsam sein« 2), während

er auf der Stufe der Kultur, auf der das menschliche Geschlecht noch steht der Stufe der Gesittung im Gegensatz zur Sitt- lichkeit — nur »den bloßen Handelsgeist, mit ihm aber den niedri- gen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend . . machen und die Denkungsart des Volks . . erniedrigen«^) würde. Darum hat die Natur auch hier die Verschiedenheit der Religion und Sprache benutzt, um das vorzeitige Eintreten jenes idealen Zu- standes zu verhüten, und, wie die Abneigung aller Staaten gegen die Weltrepublik zeigt, mit Erfolg. Und doch ist sie zugleich schon bestrebt, ihn wenigstens vorzubereiten, dadurch daß sie die Staaten zwingt, sich zu einem nicht auf moralischen Grundsätzen, sondern auf dem bloßen Mechanismus der menschlichen Nei- gungen ruhenden r e c h 1 1 i c h-weltbürgerlichen Zustande oder zu einem Völker b u n d e zusammenzufinden^), in dem »jeder, auch der kleinste Staat seine Sicherheit und Rechte nicht von eigener Macht . . ., sondern allein von diesem großen Völker- bunde . . . und von der Entscheidung nach Gesetzen des ver- einigten Willens erwarten könnte « ^) .

i) Vgl. S. 49. 2) a. a. O. S. 121.

3) Krit. d. Urteilskr. S. 118 R. 4) Vgl. S. 50.

5) WW. VIII S. 24 Äk.-Ausg.

yyg Die Realisierung des Weltbesten.

Das Mittel aber, dessen sie sich dazu bedient, ist wiederum und vor allen andern der Krieg. Man spürt die tiefe Mißachtung des Weisen gegenüber dem Treiben und Getriebenwerden der Poli- tiker, wenn er erklärt, daß die Menschen für vernünftige Er- wägungen erst spät zugänglich werden, und hinzufügt, daß sie sich darum auch erst spät für jenes »heroische Arzneimittel« i) gegen den Krieg empfänglich zeigen, das Hume angeführt haben soll und das auf die Einsicht hinauskommt, daß Nationen, die im Kriege gegeneinander begriffen sind, sich ebenso betragen wie besoffene Kerle, die sich in einem Porzellanladen mit Prügeln herumschlagen: denn nicht genug, daß sie an den Beulen, die sie sich wechselseitig geben, lange zu heilen haben, sie müssen hinterher auch noch allen den Schaden bezahlen, den sie an- -richteten. Zunächst steht es in seinen Augen jedenfalls noch so, daß jeder Staat seine Majestät darin sieht, gar keinem Zwange unterworfen zu sein, und sein Oberhaupt seinen Glanz darin findet, daß es, wenn es sich auch »bisweilen den obersten Diener des Staates nennt« 2), doch niemand, auch nicht das Volksganze über sich duldet. »Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht vor- nehmlich bei denen, die Gewalt in Händen haben« ^), setzen daher dem Zustandekommen eines solchen Völkerbundes durch Ver- nunft so große Schwierigkeiten entgegen, daß der »großen Künst- lerin Natur«*) nichts anderes übrig bleibt, als die Menschen auch gegen ihren Willen zur Begründung desselben zu zwingen. Und sie tut das durch die Not und Drangsal des Krieges. Der Krieg ist daher, wenn er vom Menschen auch nur durch zügel- lose Leidenschaften angestiftet wird, für die Natur mehr. Er ist die Geisel, durch die sie das menschliche Geschlecht antreibt, immer neue Verhältnisse zwischen den Staaten ausfindig zu machen und einzurichten, bis sie schließlich nach vielen Ver- wüstungen, Fehlschlägen und selbst durchgängiger innerer Er- schöpfung ihrer Kräfte zu dem getrieben werden, was ihnen die Vernunft auch ohne so viel traurige Erfahrung hätte sagen können, nämlich »aus dem gesetzlosen Zustande der Wilden hinauszugehen und in einen Völkerbund zu treten«^).

Zu diesem ersten und wichtigsten Mittel der Vorsehung zur Herbeiführung des dauernden Friedens kommt als weiteres und

I) WW. VII S. 93 Ak.-Ausg. 2) Religion usw. S. 105 f. R.

3) Krit. d. Urteilskr. S. 325 R. 4) Zum ew. Frieden S. 25 R.

5) WW. VIII S. 24 Ak.-Ausg.

Die Realisierung der Sittlichkeit. mi-,

als Surrogat gewissermaßen des Begriffs des Weltbürgerrechts der auf dem Eigennutz beruhende Handelsgeist. Durch ihn werden nach Kants Auffassung die Völker überhaupt zu allererst in ein friedliches Verhältnis gebracht. Denn unter allen Mitteln, die dem Staat zur Verfügung stehen, um seine Bürger zu seinen Absichten zu gebrauchen, ist das Geld das zuverlässigste. Das aber wird in erster Linie durch den Handel gewonnen, der auf Frieden angewiesen ist. Darum bemächtigt sich nicht nur der Handelsgeist früher oder später jedes Volkes, die Staaten sehen sich auch im eigensten Interesse gedrängt, den »edlen Frieden«^) zu befördern und alles zu tun, um Kriege womöglich ganz zu verhüten oder ausgebrochene so bald es geht zum Stillstand zu bringen und auf diese Weise, wenn auch nur ganz von fern, zu- gleich jenen großen Staatskörper vorzubereiten, durch den der dauernde Friede allein erhalten werden kann.

Krieg und Handelsgeist sind also die Mittel, durch welche die Natur die Menschen, die um ihrer Erhaltung willen »das fried- liche Zusammensein nicht entbehren und dabei dennoch einander beständig widerwärtig zu sein nicht vermeiden können« 2), auf rein mechanischem Wege zwingt, mit Hilfe ihrer eigenen Vernunft einen Ausgleich ihrer selbstsüchtigen und einander natürlicher- weise widerstreitenden Interessen zu suchen, sie zwingt, sich zu einem Völkerbunde zusammenzuschließen, in dem zwar keines- wegs jede Gefahr beseitigt ist, damit die Kräfte der Menschheit nicht einschlafen, in dem aber doch auch ein Prinzip der Aus- gleichung vorhanden ist, damit sie sich nicht zerstören. Und während so die »Hoffnung zu dem Ruhestande einer Volksglück- seligkeit« ^) , d. h. aber nichts anderes als die Hoffnung auf ein in untätiger Genügsamkeit aufgehendes »arkadisches Schäferleben«*) immer mehr verschwindet, bringt sie in einer weltbürgerlichen Gesellschaft eine gesetzmäßige Ordnung und damit einen Frieden zustande, »der nicht wie jener Despotism (auf dem Kirchhofe der Freiheit) durch Schwächung aller Kräfte, sondern durch ihr Gleichgewicht im lebhaftesten Wetteifer derselben hervorgebracht und gesichert wird«^).

Fragt man aber nach dem Grade der Sicherheit, die diesem von der Natur »garantierten« Frieden zukommt, so ist doch eine

i) Zum ew. Frieden S. 34 R. 2) WW. VII S. 331 Ak.-Ausg.

3) Krit. d. Urteilskr. S. 326. 4) WW. VIII S. 21 Ak.-Ausg

5) Zum ew. Frieden S. 34 R.

fjß Die Realisierung des Weltbesten.

Einschränkung zu machen. Nur ein Völker Staat würde, wie gesagt ^), eine absolute Garantie des Friedens sein; der Völker- b u n d dagegen, zu dem die Natur die Menschen zwingt, kann den ewigen Frieden nicht durchaus sichern. Er beruht nicht wie jener auf der unverrückbaren moralischen Gesinnung, sondern ist nur ein zwar sehr kunstreicher und lange regelmäßig fort- laufender, aber doch stets labiler Mechanismus, schließt also den Krieg nicht einfach aus, sondern wehrt ihn nur nach Möglich- keit ab.

Und hieraus ergibt sich nun auch, welchen Sinn man dem ewigen Frieden als letztem Ziele des Völkerrechts allein zuweisen kann. Da der Völker b u n d den einzigen von Menschen wirklich realisierbaren Zustand zwischen Staaten bildet, wegen seines bloß mechanischen, nicht aber moralischen Charakters in- dessen nicht ausreicht, um die Kriegsgefahr zu beseitigen, so wäre es unberechtigt, das Eintreten des ewigen Friedens theo- retisch behaupten und vorhersagen zu wollen. So betrachtet ist er nicht mehr als ein »süßer Traum« ^) oder ein »frommer Wunsch « ^) . Da aber andererseits auch seine Unmöglichkeit nicht erwiesen werden kann, und wir als moralische Wesen ein dringendes Interesse daran haben, seine Möglichkeit anzunehmen denn die moralisch-praktische Vernunft in uns spricht ihr un- widerstehliches Veto aus: es soll kein Krieg sein , so reicht jene Sicherung des Friedens von seifen der Natur doch aus, um seine Idee zur Richtschnur unseres Handelns zu nehmen. Ganz gleichgültig daher, ob der ewige Friede ein Ding oder Unding ist bei dieser Lage der Sache müssen wir Herrscher so gut wie Untertanen so handeln, als ob das Ding wäre, das vielleicht nicht ist, und müssen ein jeder, soviel an ihm ist, alles tun, was zur kontinuierlichen Annäherung an den Friedenszustand dienen und dem »heillosen Kriegführen«*) ein Ende machen kann. Dabei lehnt aber Kant, soweit die Untertanen in Betracht kommen, die Benutzung der Revolution aus Gründen der Moral mit größter Entschiedenheit und absolut konsequent ab. Diese Art, sein Recht zu suchen, macht zur Maxime genommen alle rechtliche Verfassung unsicher und führt den Naturzustand völliger Gesetz- losigkeit herbei, also das gerade Gegenteil von dem, was das Volk eigentlich will. Als in sich selbst widerspruchsvoll kann

i) S. 49 f. 2) Zum ew. Frieden. Vorw.

3) WW. VI S. 354/5 Ak.-Ausg. 4) a. a. O. S. 354.

Die Realisierung der Sittlichkeit.

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daher ein solcher Wille seine Absicht nicht planmäßig undder Freiheit unbeschadet einleiten. Revolutionen bleiben, wie Kant bemerkt, »der Vorsehung überlassen«^). Das einzige rechtmäßige Mittel, dessen sich die Untertanen zur Herbeiführung des Friedens bedienen können, ist vielmehr die aufklärende Belehrung durch Wort und Schrift. Und sie darf ihnen, gerade weil sie das allein erlaubte Mittel zur Erfüllung einer pflichtmäßigen Aufgabe ist, auch nicht genommen werden und muß Kants Zutrauen eu der moralischen Anlage der Menschheit zufolge nach und nach sogar »bis zu den Thronen hinaufgehen und selbst auf ihre Regierungs- grundsätze Einfluß haben« 2). Die Politiker aber und vor allem die Staatsoberhäupter haben für den Frieden durch angemessene Reformen Sorge zu tragen. ^Nur dadurch können sie, die nur als Repräsentanten des allgemeinen Volkswillens den Untertanen als Bürgern Befehle zu geben haben, mit diesem in Einklang bleiben und sich davor bewahren, sich mit sich selbst in Widerspruch zu setzen.

Das also sind die Pflichten, die beiden Teilen als moralischen Wesen obliegen. Und so ist und bleibt der ewige Friede, wenn er auch auf dem Boden des Völker b u n d e s eine »unausführbare Idee« ist, dennoch als auf dem Pflichtbegriffe ruhend keine »leere Idee, sondern eine Aufgabe, die nach und nach aufgelöst ihrem Ziele beständig näherkommt « ^) .

Bloß die Förderung der negativen Seite des moralischen Fort- schritts ist, wenn auch immer nur unter dem Drängen der Na- tur, vom Menschen zu erwarten. Der positive Fortschritt zum Guten dagegen darf nur von Gott erwartet werden. Denn der kann nicht mehr aus der mechanisch zu lösenden Aufgabe der Ent- wicldung des politischen Gemeinwesens *) erwachsen, sondern hängt von der Gründung eines ethischen Staates ab. Ein ethisches Gemeinwesen aber läßt sich nur als ein Volk denken, das unter Tugendgesetzen steht; das aber heißt als Reich Gottes. Soll nämlich ein solches Gemeinwesen Zustandekommen, so ist es wie in jedem Gemeinwesen erforderlich, daß alle seine Ange- hörigen einer öffentlichen Gesetzgebung unterworfen sind, deren Gesetze als Gebote eines gemeinschaftlichen Gesetzgebers müssen angesehen werden können. Als Gesetze eines ethischen Gemein- wesens dürfen sie aber keinen Zwangscharakter tragen. Sie

]) Religion usw. S. 131 R. 2) WW. VIII S. 28 Ak.-Ausg.

3) Zum ew. Frieden. Schluß. 4) Vgl. S. 47.

go Die Realisierung des Weltbesten.

können deshalb nicht so aufgefaßt werden, als gingen sie u r- sprünglich von dem Willen des gemeinschaftlichen Gesetz- gebers aus, so daß sie nur durch seinen Befehl verbindend wären, sondern müssen prinzipiell als in dem Einzelnen selbst liegend angesehen und ohne Rücksicht auf jenen Obern für verbindlich gehalten werden. Sie können also nur »zugleich als seine Gebote vorgestellt werden«^). Wegen ihrer Innerlichkeit aber muß das Oberhaupt des ethischen Gemeinwesens auch imstande sein, das Innerste der Gesinnung eines jeden zu durchschauen, um darauf gestützt jedem das zukommen zu lassen, was seine Taten wert sind. Es muß m. a. W. allwissend, weiterhin aber auch allmächtig, allgütig usw. sein. »Dieses ist aber der Begriff von Gott als einem moralischen Welturheber « 2) . Nur von Gott kann also ein solcher ethischer Staat oder was dasselbe ist eine unsichtbare Kirche, »die alle Wohldenkenden in sich be- faßt«^), in vollkommener Weise realisiert werden.

Dennoch bleibt die Verwirklichung dieses ethischen Gemein- wesens ein Gebot der reinen praktischen Vernunft. Als moralisches Wesen ist der Mensch darum keineswegs berechtigt, allein die Vorsehung walten zu lassen. Er ist trotz allem und auch trotz aller Mißerfolge verpflichtet, so zu verfahren, als ob alles auf ihn ankäme. Nur unter dieser Bedingung darf er hoffen, »daß höhere Weisheit seiner wohlgemeinten Bemühung die Vollendung werde angedeihen lassen«*). Werden aber unter diesen Umständen, wie sich von selbst versteht, alle seine Anstrengungen nur Erfolg haben, wenn sie mit dem Willen Gottes übereinstimmen, der allein Urheber eines solchen Reiches sein kann, so folgt, daß der Mensch alle Pflichten, die ihm im HinbHck auf die Be- gründung eines ethischen Staates erwachsen und, da ihr in letzter Linie die Gesamtheit seiner Pflichten dient, alle seine Pflichten überhaupt als göttliche Gebote aufzufassen hat. Unter der Beurteilung aller unserer Pflichten a 1 s göttlicher Gebote ver- steht aber Kant das, was als Religion bezeichnet wird; und so ergibt sich zuguterletzt, daß ein solches ethisches Gemeinwesen von Menschen nur mit Hilfe der Religion in Angriff genommen werden kann.

Aber auch so werden sie diese »erhabene Idee« nur in dürftiger Weise verwirklichen können. Wegen der unvermeidlichen Oeffent-

i) Religion usw. S. 103 R. 2) a. a. O. S. 103/4.

3) a. a. O. S. 190/1. 4) a. a. O. S. 105.

Die Realisierung der Sittlichkeit. gj

lichkeit der Gesetze können sie ihrer Verpflichtung zur Gründung des ethischen Gemeinwesens nur dadurch nachkommen, daß sie sich um eine sichtbare Vereinigung bemühen, die mit jenem Ideal zusammenstimmt, d. h. um die Stiftung einer sicht- baren Kirche. Und d i e sichtbare Vereinigung, die das Reich Gottes auf Erden darstellt, soweit es Menschen überhaupt möglich ist, wird dann die wahre sichtbare Kirche sein, die sich da- durch auszeichnet, daß sie sowohl allgemein ist als auch auf völlig lauterer Gesinnung beruht, der ferner überall, auch in ihrem Verhältnis zur politischen Macht, das Prinzip der Freiheit zu- grunde liegt, und die endlich ihrer Verfassung nach unveränder- lich ist, die kurz gesagt eine allgemeine, freiwillige und fort- dauernde Herzensvereinigung unter einem gemeinschaftlichen, obgleich unsichtbaren, moralischen Vater ausmacht.

Für ihre Gründung ist nun ein reiner Religionsglaube von fundamentaler Bedeutung. Das aber ist ein Glaube, der ledig- lich die moralische Besserung der Menschen im Auge hat und nur aus reinen moralischen Gesetzen besteht, und der, weil er objektiv ganz auf Vernunft gegründet ist, auch allein »die große Erfordernis der wahren Kirche, nämlich die Qualifikation zur Allgemeinheit«^) besitzt, während ein bloß auf Fakta gestellter historischer Glaube nur soweit gilt, als die für die Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit erforderlichen Nachrichten nach Zeit- und Ortsumständen gelangen können.

Um aber eine sichtbare Kirche wirklich zu begründen, reicht dieser reine Religionsglaube für Menschen doch nicht aus. Kommt ihm auch allgemeine Geltung zu, so geht er jeden einzelnen doch nicht schon als Bürger eines göttlichen Staates auf Erden, sondern nur als Menschen an ; es liegt in ihm noch nichts von einer Vereinigung der Gläubigen. Die aber macht gerade das Wesen der Kirche aus. Daher muß zu ihm, der nur die Materie der Gottesverehrung enthält, noch eine gewisse Form oder eine Summe statutarischer Verordnungen hinzukommen, die die Gläu- bigen zu einer Kirche vereinigt und dieser Vereinigung zugleich Beharrlichkeit sichert. Diese Form hängt aber ganz und gar von empirischen Zeitumständen ab; sie ist darum an sich zufällig und mannigfaltig. Und doch ist es auch hier die Aufgabe des zur Gründung einer sichtbaren Kirche verpflichteten Menschen, die richtige zu suchen. Dabei macht sich nun aber »eine beson-

I) a. a. O. S. i68. Goedeckemeyer, Kants Lebensanschauung. O

§2 Die Realisierung des Weltbesten.

dere Schwäche der menschHchen Natur« oder eine aus ihrer Ver- bindung mit der SinnHchkeit stammende »Beschränktheit der menschhchen Vernunft « ^) bemerklich und führt noch auf einen besonderen Abweg.

Die Menschen sind sich ihres Unvermögens bewußt, über- sinnhche Dinge zu erkennen, haben als sinnliche Vv^esen aber doch das natürliche Bedürfnis, sich das Unsichtbare durch Ana- logisierung mit etwas Sinnlichem wenigstens faßlich zu machen. Darum stellen sie sich das unsichtbare Oberhaupt der Kirche nach Art eines menschlichen Oberhaupts und analog auch ihr Verhältnis zu ihm vor. Nun hat aber jeder große Herr auf Erden das Bedürfnis, von seinen Untertanen geehrt und durch Unterwürfigkeitsbezeugungen gepriesen zu werden. Darum will es den Menschen auch nicht in den Kopf, daß es dem Unsicht- baren gegenüber solche unmittelbar auf ihn bezogene Pflichten nicht gibt, und auch nicht geben kann, da Gott als das aller- vollkommenste Wesen von Menschen nichts zu empfangen vermag ; sie wollen nicht einsehen, daß die ethisch-bürgerlichen Pflichten, die Pflichten gegen sich und andere, alles sind, was sie zu tun gehalten sind, und es schlechterdings unmöglich ist, Gott auf andere als moralische Weise zu dienen; sie begreifen darum auch nicht, daß einerseits der unsichtbare Dienst der standhaften Beflissenheit zu einem moralisch-guten Lebens- wandel alles ist, was von ihnen gefordert wird, um Gott wohl- gefällige Untertanen zu sein, sie andrerseits aber auch in ihrem Tun und Lassen, sofern es Beziehung auf Sittlichkeit hat, b e- ständig im Dienste Gottes sind. Vielmehr glauben sie, ihm zu irgendeinem besonderen Dienst verpflichtet zu sein, und geben sich wohl gar der Meinung hin, die Mängel ihres mo- ralischen Verhaltens durch solche besondere Leistungen gut machen zu können in dem aus ihrem Verhalten irdischen Großen gegen- über geschöpften Gedanken, daß es nicht sowohl auf den morali- schen Wert der Handlungen, als vielmehr darauf ankomme, daß sie überhaupt geleistet werden, und obendrein überzeugt davon, daß diejenigen Leistungen -für besonders kräftig zu halten seien, die wie Kasteiungen usw. an sich keinen Menschen besser machen, also »in der Welt zu gar nichts nutzen, aber doch Mühe kosten« ^). So aber durch diesen abergläubischen Wahn, Vv^ie Kant sich ausdrückt kommt es, daß zunächst der Begriff einer gottes-

I) a. a. O. S. 66 *. 2) a. a. O. S. 182.

Die Realisierung der Sittlichkeit. go

dienstlichen Religion entspringt oder besser, da es nur eine Re- ligion geben kann, der eines gottesdienstlichen Glaubens. Der aber unterscheidet sich prinzipiell und zu seinem Nach- teil von dem rein moralischen Religionsglauben, Er enthält nicht nur als unnachlaßliche Bedingung jeden Religionsglaubens moralische Gesetze, sondern auch statutarische, die, da er auch sie als von Gott gegeben ansieht, nur durch eine Offenbarung er- kannt werden können. Damit aber stützt er sich nicht auf Ver- nunft, sondern auf ein empirisches Faktum. Er ist ein bloß histo- rischer Glaube, und als solcher lediglich zufällig und der Möglich- keit des Irrtums unterworfen, besitzt eben deshalb auch vielerlei Arten, die alle nichts anderes sind als »Versuche armer Sterb- licher, sich das Reich Gottes auf Erden zu versinnlichen« ^), und darum sämtlich als gleichberechtigt gelten müssen. Und auf dieser Eigenart seiner Begründung beruht auch sein ethischer Unterschied vom reinen Vernunft glauben. V\/ährend dieser freie Huldigung gegenüber dem selbstgegebenen moralischen Gesetze fordert, also ein freier Glaube ist, verlangt der historische gehor- same Unterwerfung unter gewisse von außen kommende Sat- zungen und bürdet damit dem Menschen, und vor allem dem gewissenhaften, das Joch eines Gesetzes auf, das gerade dadurch das Gewissen ganz besonders belastet, daß es die Menschen nötigt, etwas für göttlich zu halten, was nur historisch erkannt werden kann, und darum nicht für jedermann überzeugend zu sein ver- mag. Diese ethische Differenz bedingt endlich die Minderwertig- keit des Geschichtsglaubens. Denn es leuchtet von selbst ein, daß der moralische Gottesdienst Gott unmittelbar gefällt, also die oberste Bedingung alles göttlichen V/ohlgefallens am Menschen ausmacht. Das wäre aber unmöglich, wenn man annehmen müßte, daß auch der von ihm im Prinzip verschiedene Lohndienst für sich allein Gott wohlgefällig wäre. Also bleibt nichts anderes übrig als Handlungen, die an und für sich keinen moralischen Wert besitzen, für »an sich nichtig« 2) und nur insofern für Gott wohlgefälhg zu halten, als sie als Mittel zur Beförderung und Be- lebung der Moral dienen, gegen jede andere Auffassung derselben aber »mit aller Macht «2) zu protestieren. Und das um so mehr, als die einzelnen Thesen des Geschichtsglaubens hinsichtlich ihrer Wahrheit sowohl als auch hinsichtlich ihres ' Sinnes vielfachen

i) a. a. O. S. 190 A. 2) a. a. O. S. 138.

3) a. a. O. S. 89.

g^ Die Realisierung des Weltbesten.

Bedenken und Meinungsverschiedenheiten unterhegen, und es »das Widersinnigste ist, was man denken kann«^), einen Glauben von solcher Beschaffenheit zur obersten Bedingung eines a 1 1- gemeinen Glaubens zu machen.

Indessen trotz dieser prinzipiellen Inferiorität des historischen Glaubens sind die Menschen infolge der erwähnten Beschränktheit ihrer Vernunft doch geneigt, ihm die größere Wichtigkeit zuzu- gestehen. Und dieser Hang zum gottesdienstlichen Frohnglauben bringt es nun mit sich, daß sie bei Gründung der sichtbaren Kirche auf Abwege geraten. Es scheint ihnen nur eine solche Lehre zu einer unveränderlichen und damit für eine Kirche tauglichen Norm zu passen, die nicht auf bloßer Vernunft, sondern gerade auf Offenbarung beruht. Sie haben hinsichtlich der kirchlichen Form nicht den Mut, sie auf Grund eigener Vernunft festzusetzen, sondern berufen sich dafür auf eine der Offenbarung bedürftige göttliche Gesetzgebung. Bei der Gründung einer sicht- baren Kirche reicht demnach der Vernunftglaube nicht nur nicht aus, es geht ihm der historische natürlicherweise sogar vorher und kann deshalb faktisch gar nicht entbehrt werden. Da er aber seinen Wert immer nur als Beförderungsmittel des moralischen Glaubens besitzt, so ist es, so wenig es wegen der Gefahr des Atheismus auch ratsam ist, ihn bei der Bedeutung, die er für die große Masse nun einmal besitzt, ganz aufzuheben, doch nicht etwa nur gestattet, sondern geradezu Pflicht, sein Fundament, die Offenbarung, unter allen Umständen einer durch- gängigen Deutung zu unterwerfen, die natürlich bei der Rolle, die er zu spielen hat, nur an der Hand der Vernunftreligion und, da es sich um Doktrinen aus alter Zeit und in jetzt toten Sprachen handelt, auch nur mit Hilfe der Schriftgelehrsamkeit, nicht aber etwa vermittels eines inneren Gefühls vorgenommen werden darf.

So also ist es mit diesem Kirchenglauben wie man ihn als Grundlage der sichtbaren Kirche auch nennen kann zu halten. Durch Vernunft und Schriftgelehrsamkeit interpretiert ist er mit dem »ganzen Kram frommer, auferlegter Observanzen«^) zur Einführung der Vernunftreligion in der Tat unent- behrlich. Aber es kann gar keine Rede davon sein, daß er »jeder- zeit als wesentliches Stück« ^) zum reinen Vernunftglauben hinzu- kommen müßte. Gewiß enthält dieser, sofern er für den Menschen

i) a. a. O. S. 197. 2) a. a. O. S. 179.

3) a. a. O. S. 123.

Die Realisierung der Sittlichkeit. gr

die Würdigkeit mit sich führt, der ewigen GlückseHgkeit teilhaftig zu werden, und darum auch als sehgmachender Glaube bezeichnet werden kann, zwei Bedingungen seiner Hoffnung auf Glückselig- keit : den Glauben an die Lossprechung von der auf uns liegenden Schuld, und den Glauben daran, daß man Gott durch einen neuen, der Pflicht gemäßen Lebenswandel wohlgefällig werden könne. Und es müssen sich diese Bedingungen als Momente eines Glaubens auch so zueinander verhalten, daß es möglich ist, die eine aus der andern abzuleiten. Aber nur in dem Falle würde der historische Glaube ein stets wesentliches- Stück des andern sein, wenn der Glaube an die für die Sünden des Menschen geleistete Genugtuung die Bedingung für den künftigen guten Lebenswandel wäre, wenn wir m. a. W. glauben müßten, »daß es einmal einen Menschen, der durch seine Heiligkeit und Ver- dienst sowohl für sich als auch für alle andre genug getan, ge- geben habe, um zu hoffen, daß wir selbst in einem guten Lebens- wandel doch nur kraft jenes Glaubens selig werden können«^). Davon aber will Kant nichts wissen. Dem widerspricht in seinen Augen die moralische so gut wie die natürliche Vernunftanlage des Menschen. Jene dadurch, daß sie uns durch ihr unbedingt geltendes Gebot mit aller Deutlichkeit zu verstehen gibt, daß wir nicht anders hoffen können, der Zueignung eines fremden genugtuenden Verdienstes und so der Seligkeit teilhaftig zu wer- den, als wenn wir uns dazu durch unser eigenes Streben qualifizieren. Und diese, weil sie sich sonst selbst vernichten würde. Denn kein »überlegender Mensch«^) kann jenen Glauben in sich zustandebringen, so daß man ihn schon als himmlisch eingegeben betrachten müßte. Damit aber würde man alles, einschließlich der moralischen Beschaffenheit des Menschen, auf einen unbedingten Ratschluß Gottes hinauslaufen lassen, und das wäre »der salto mortale der menschlichen Vernunft « ^) . Nichts anderes als ein bloß provisorisches Vehikel des reinen Religionsglaubens, »der allein in jedem Kirchenglauben das- jenige ausmacht, was darin eigentliche Religion ist«^), kann also der historische Glaube sein. Er hat nur die Aufgabe, ihn als seinen Zweck vorzubereiten.

Aus dieser seiner Stellung ergeben sich aber weitgehende Einschränkungen seiner Ansprüche und grundsätzlich wichtige

i) a. a. O. S. 128. 2) a. a. O. S. 124.

3) a. a. O. S. 130. 4) a. a. O. S. 118.

85 Die Realisierung des Weltbesten.

Forderungen, denen er sich zu unterwerfen hat. Er muß nicht nur prinzipiell bereit sein, sich dem reinen Glauben unterzuordnen, sondern auch gewillt, ihm kontinuierlich näherzukommen, um schließlich mitsamt dem heiligen Buche, auf dem er beruht, ganz überflüssig zu werden. »Das Leitband der heiligen Ueberlieferung mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, welches zu seiner Zeit gute Dienste tat, wird nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel, wenn der Mensch in das Jünglingsalter eintritt. Solange er (die Menschengattung) »ein Kind war, war

er klug als ein Kind« ; »nun er aber ein Mann wird, legt

er ab, was kindisch ist«« ^). An die Stelle eines »erniedrigenden Zwangsglaubens « ^) muß ein solcher treten, der der Würde einer moralischen Religion angemessen ist, ein freier, auf lautere Herzens- gesinnung gegründeter Glauben, der allein imstande ist, die Einheit der allgemeinen Kirche zu konstituieren. Und nur unter der Bedingung, daß sich eine auf historischen Glauben gegründete sichtbare Kirche der Idee des reinen Religionsgiaubens als regu- lativem Prinzipe fügt, kann sie auf der einen Seite allem Reli- gionswahn abhelfen und vorbeugen und auf der andern selbst als die wahre und allgemeine Kirche angesehen werden. Und wenn sie auch wegen der unvermeidlichen Kontroversen über historische Glaubenslehren nur die streitende heißen kann, so ist sie doch mit der Aussicht verbunden, »endlich in die unver- änderliche und alles vereinigende, triumphierende aus- zuschlagen« ^), die nach Ueberwindung aller Hindernisse noch hier auf Erden als mit Glückseligkeit bekrönt zu denken ist.

Zu erwarten ist aber dieser Uebergang des Kirchenglaubens in den reinen Vernunftglauben, sofern er ein Werk des Menschen sein soll, wiederum nicht von einer Revolution.. Ebenso wie die Verwandlung der historischen Staatsverfassungen in die reine Republik kann auch sie nur das Ergebnis wahrer Aufklärung sein. Und erst wenn sich das Menschengeschlecht zu einer solchen kirchlichen Glaubenseinheit, die mit Freiheit in Glaubenssachen verbunden ist, oder zu einem ethischen Gemeinwesen unter Tugend- gesetzen zusammengefunden hat erst mit dieser »moralischen Weltepoche« ^) wird der ewige Friede, der das Ziel schon der politischen Entwicklung ausmachte, wirklich gesichert und damit auch der Zustand geschaffen sein, in dem alle Keime, die die

i) a. a. O. S. 130. 2) a. a. O. S. 132 A.

3) a. a. O. S. 122. 4) Vgl. a. a. O. S. 147.

Die Realisierung der Sittlichkeit. gy

Natur in die Menschengattiing legte, »völlig können entwickelt und ihre Bestimmung hier auf Erden kann erfüllt werden «i). Erst dann kann der beharrliche Fortschritt zum höchsten auf Erden möglichen Guten, soweit er von Menschen abhängt, in die Wege geleitet werden.

Nun wird man allerdings auch auf religiösem Boden, wie zuvor auf politischem, zugeben müssen, daß für das Erreichen des letzten Zieles, hier also der wahren sichtbaren Kirche, »wenig Hoffnung vorhanden ist« 2), und daß auch von ihr gelten muß, daß sie nicht mehr als eine regulative Idee sein kann. Aber mag auch das wirkliche Erreichen dieses Zieles noch in unendlicher Ferne Hegen, nach Kants Ansicht kann man schon dann mit Recht sagen, daß das Reich Gottes zu uns gekommen ist, wenn wenigstens der prinzipielle Gedanke des fundamentalen Unter- schiedes zwischen Vernunft- und Geschichtsglauben und der Notwendigkeit des Uebergangs zum moralischen Glauben all- gemein und irgendwo auch öffentlich aufgetreten ist. »Denn das ist in der Verstandeswelt schon da, wozu die Gründe, die es allein bewirken können, allgemein Wurzel gefaßt haben« •^). Und auch hier gilt der Satz, daß das Wahre und Gute, wenn es einmal öffentlich geworden ist, vermöge der natürlichen Affinität, in der es mit der moralischen Anlage vernünftiger Wesen überhaupt steht, sich durchgängig mitteilen, immer weiter fortschreiten und sich fernerhin von selbst erhalten wird.

Der Kirchenglaube aber, in dem sich dieser Prozeß zuerst vollzogen hat und der darum auch von Anfang an die Anlage zur wahren allgemeinen Kirche mit sich führte, ist nach Kants Ueberzeugung der christliche. Allerdings mit Ausschluß des jüdischen. Der scheint Kant lediglich auf ein politisches, nicht aber ethisches Gemeinwesen abgezweckt zu sein und darf wegen dieses prinzipiellen Unterschiedes vom christlichen Glauben mit ihm nicht zu einer Einheit zusammengefaßt werden, wenn er ihm auch unmittelbar vorhergegangen ist und die »physische Veranlassung«*) zu seiner Erzeugung gegeben hat. Denn die christliche Religion ist aus dem Munde ihres ersten Lehrers nicht als eine statutarische, sondern sofort als eine moralische hervorgegangen, und Statuten waren mit ihr nur insoweit ver- bunden, als sie zur Gründung einer Kirche benötigt wurden. Sie

I) WW. VIII S. 30 Ak.-Ausg. 2) Religion usw. S. 132 A. R.

3) a. a. O. S. 161. 4) a. a. O. S. 134.

83 Die Realisierung des Weltbesten.

hat darum von vornherein die Fähigkeit gehabt, auch ohne histo- rische Gelehrsamkeit auf alle Völker und Zeiten ausgebreitet zu werden, hat also die Anlage zum wahren und allgemeinen Religionsglauben und damit auch zur einen allgemeinen Kirche besessen. Aber ihrer Entwicklung haben sich Schwierigkeiten in den Weg gestellt. Christus hat sie wegen der ihm entgegen- stehenden Gewalt der Priester nicht realisieren können, und unter dem Einflüsse der schon erwähnten Schwäche der Menschen hat sie sich zunächst überhaupt nicht zu entwickeln vermocht. Vielmehr hielten es die ersten Stifter der Gemeinden für nötig und für ihre Zeit mit Recht , die Geschichte des Juden- tums und dessen statutarische Gesetze mit der christlichen Reli- gion zu verflechten. Und durch die Stifter der christlichen Kirche wurden diese dann sogar zum Fundament der Religion gemacht und durch Tradition und neue Interpretationen noch weiter ver- mehrt. Darum ist es nach Kants Ueberzeugung erst zu seiner Zeit so weit gekommen, daß der im Christentum von Anfang an vorhandene Keim des wahren Religionsglaubens, wenn auch erst von einigen, so doch öffentlich gelegt, und damit zugleich die in ihm enthaltene Anlage zur allgemeinen Kirche ihrer Ent- wicklung nahegebracht und dadurch der Vereinigung der Menschen auch zu einer ethischen Gemeinschaft Bahn gebrochen ist.

Das faktische Ereignis aber, das diesen Fortschritt mit sich gebracht hat, ist nach ihm darin zu sehen, daß »wahre Religions- verehrer« überall, wenngleich nicht allenthalben öffentlich, zwei Grundsätze in Sachen der Religion angenommen haben. Der erste ist der »Grundsatz der billigen Bescheidenheit in Aus- sprüchen über alles, V\^as Offenbarung heißt «. Er beruht im wesent- lichen auf der Ueberzeugung , daß niemand einer Schrift , die ihrem praktischen Inhalte nach lauter Göttliches enthält, die Möglichkeit, hinsichtlich ihres historischen Inhalts von Gott offenbart zu sein, abstreiten kann, und es darum, da bei dem gegenwärtigen d. h. vernünftigen Stande menschlicher Einsicht schwerlich jemand eine neue Offenbarung erwarten wird, »das Vernünftigste und Billigste sei, das Buch, was ein- mal da ist, fernerhin zur Grundlage des Kirchenunterrichts zu brauchen und seinen Wert nicht durch unnütze oder mutwillige Angriffe zu schwächen, dabei aber auch keinem Menschen den Glauben daran als zur Seligkeit erforderlich aufzudringen«^).

I) a. a. O. S. 142.

Die Realisierung der Sittlichkeit. gn

Der zweite ist der Grundsatz, daß angesichts des Verhältnisses des historischen zum morahschen Glauben jener »jederzeit als auf das Moralische abzweckend gelehrt und erklärt« und den Menschen wegen ihres Hanges zum passiven Glauben immer wieder »eingeschärft werden müsse, daß die wahre Religion nicht im Wissen oder Bekennen dessen, was Gott zu unserer Seligkeit tue oder getan habe, sondern in dem, was wir tun müssen, um dessen würdig zu werden, zu setzen sei«^).

3. Die Realisierung der Glückseligkeit.

So stellt sich Kant die Realisierung des Fortschritts der Menschen zur Sittlichkeit vor. Aber die Tugend als die Würdig- keit, glücklich zu sein, bildete im Begriff des höchsten in der Welt möglichen Gutes nur das eine Element. Vollendet wurde es erst durch Hinzutritt der Glückseligkeit. Darum ergibt sich noch die Frage, wie sich diese in der Idee des Weltbesten gelegene V-ereinigung von Tugend und Glückseligkeit verwirklichen läßt.

Auf sie konnte Kant erheblich kürzer antworten. Denn soviel war schon früher ^) festgestellt, daß der Mensch als natürliches Wesen nicht imstande ist, sie zu realisieren, dazu vielmehr die Annahme eines moralischen Welturhebers erforderlich war. Nur unter dieser Voraussetzung konnte überhaupt daran gedacht werden, daß die moralische Beschaffenheit des Menschen für seinen physischen Zustand von Bedeutung zu sein vermöchte. Macht man aber diese Voraussetzung und für einen moralisch konsequent denkenden Menschen ist sie, wie gezeigt ^), unum- gänglich — , dann steht nach Kants weiteren Erklärungen auch kein prinzipielles Bedenken mehr der These im Wege, daß die Menschheit als moralische Gemeinschaft selbst ihre Glückseligkeit bewirkt. Denn in dem Willen des höchsten Wesens ist die Glück- seligkeit die unmittelbare Folge der moralischen- Vollkommenheit, und »der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkom- menen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle

Gewalt hätte, , gar nicht zusammen bestehen«*). Es würde

daher nach seiner Ueberzeugung die sittlich geforderte Bemühung

I) a. a. O. S. 143. 2) Vgl. S. 61.

3) Vgl. S. 63. 4) Krit. d. pr. Vern. S. 133 R.

Goedeckemeyer, Kants Lebensanschauung.

QQ Die Realisierung des Weltbesten.

der Menschheit um die allgemeine Glückseligkeit ihr Ziel auch wirklich erreichen, »wenn wir das ganz wären oder einmal würden, was wir sein sollen« i), wenn m. a. W. alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschähen, als ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich und unter sich befaßt, ent- sprängen. Denn dann wären wir moralisch vollkommen, und die Wichtigkeit der vollkommenen moralischen Beschaffenheit des Menschen, deren Wert unendlich ist, überwiegt weit alle anderen Bewegursachen, die Gott als oberster Herr der Natur in seiner höchsten Weisheit haben mag. Dann würde also die Natur unseren Wünschen, die dann allerdings auch niemals unweise sein, d. h. dem Endzweck der Schöpfung widersprechen würden, gehorchen müssen. Es würde alles nach der Menschen Wunsch und Willen gehn. Die triumphierende Kirche würde schon hier auf Erden realisiert sein.

Indessen ist dieses System der sich selbst lohnenden Moral doch nur eine Idee,- deren Ausführung auf der Bedingung beruht, daß jedermann tue, was er soll. Und darin liegt nun schließlich doch die Schwierigkeit. Denn auf ein solches Verhalten kann bei Menschen nicht gerechnet werden. Sie sind keine reinen Ver- nunft-, sondern zugleich sinnliche Wesen, deren moralischer Zu- stand immer nur Tugend, also morahsche Gesinnung im Kampfe ist 2). Und darum ist es letzten Endes doch umsonst, den Eintritt einer vollen Glückseligkeit der Menschheit, die dann auch die jedes einzelnen involviert, in diesem Leben zu erwarten. Wie die sittHche Vollkommenheit selbst kann sie erst für ein künftiges Leben in Aussicht genommen und wegen ihrer Abhängigkeit von dem Glauben an ein höchstes Wesen, das nach moralischen Gesetzen die Welt beherrscht, auch nur zum Gegenstande der Hoffnung gemacht werden.

Diese letzte und höchste Hoffnung des Menschen ist nun aber auch der eigentliche und tiefste Grund, der den Uebergang von der Moral zur Religion, zur Beurteilung aller unserer Pflichten a 1 s göttlicher Gebote, unausbleiblich macht. Nur von einem moralisch-vollkommenen und zugleich allmächtigen Willen können wir das höchste Gut erwarten, also auch nur durch Ueberein- stimmung mit ihm dazu zu gelangen hoffen. Und weil wir in ihm die letzte und höchste Ursache der Realisierung einer Auf- gabe sehen müssen, die uns vom Sittengesetze zur Pflicht ge-

i) Religion usw. S. 214 A. R. 2) Vgl. S. 16.

Die Realisierung der Sittlichkeit.

91

macht ist, werden wir uns ihm auch von Anfang an verbunden fühlen, ihn mit der »wahrhaftesten Ehrfurcht, die gänzhch von pathologischer Furcht verschieden ist«, in unser moralisches Denken aufnehmen und uns ihm willig unterwerfen. So findet die ganze Lebensphilosophie Kants, wie es angesichts der Eigen- tümlichkeit seiner Erziehung von vornherein zu erwarten war, ihren Abschluß in einer Ethikotheologie, weil »die Moral zwar mit ihrer Regel, aber nicht mit der Endabsicht, welche eben dieselbe auferlegt, ohne Theologie bestehen«^) kann.

Erst mit der Religion also hebt die Hoffnung auf Glück- seligkeit an. Darum dürfen wir auch erst jetzt, nachdem zur Beförderung unserer Aufgabe, das höchste Gut zu realisieren oder das Reich Gottes zu uns zu bringen, dieser Uebergang zur Religion hergestellt worden ist, die Moral, die an sich nur Pflichten auferlegt, als Glückseligkeitslehre bezeichnen. Sie wird erst jetzt zu einer »Anweisung, der Glückseligkeit teilhaftig zu werden«^). Nur wenn er sich auf den Boden der Religion in dem angegebenen Sinne stellt, kann der Mensch darauf hoffen, daß sein Verlangen, glücklich zu werden, das ihm als na.türlichem Wesen notwendig ist, und das er als moralisches Wesen selbst auf den »moralischen Wunsch«, das Weltbeste zu befördern, einschränkt, Befriedigung findet. Und da man sich den letzten Zweck, den Gott im Hin- blick auf das Menschengeschlecht befolgt, nicht anders »als nur aus Liebe« ^) denken kann, so muß die so bedingte Glückselig- keit auch das sein, was Gott bei der Schöpfung und Leitung der Menschen zuallerletzt im Auge hat. »Das, was allein eine Welt zum Gegenstande des göttlichen Ratschlusses und zum Zwecke der Schöpfung machen kann, ist die Menschheit in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit, wovon als oberster Bedingung die Glückseligkeit die unmittelbare Folge in dem Willen des höchsten Wesens ist«*). Verbietet also die Moral dem Menschen auch, sich die eigene Glückseligkeit unmittelbar zum Ziele zu machen, stellt sie vielmehr den Satz auf: »Die erste Sorge des Menschen sei nicht, wie er glücklich, sondern der Glückseligkeit würdig werde« ^), so führt sie ihn zu- letzt doch selbst und mit Notwendigkeit zu der Hoffnung hin, daß seiner sittlichen Bemühung auch der Lohn nicht fehlen wird.

1) Krit. d. Urteilskr. S. 390. 2) Krit. d. pr. Vern. S. 156 R.

3) WW. VI S. 488 Ak.-Ausg. 4) Religion usw. S. 61 R.

5) WW. XII S. 440 Ak.-Ausg.

Q2 Die Realisierung des Weltbesten.

So also steht es mit Kants Lebensphilosophie. Von vorn- herein nur teleologisch fundiert leitet sie aus dem ' Wesen des Menschen seine Bestimmung ab. Nicht in der reinen Sitt- lichkeit — mit einem leeren Formalismus hat Kants Ethik wirk- lich nichts gemein , sondern in der Tugend findet sie seine Aufgabe. Tugend aber heißt sittliche Gesinnung im Kampfe mit den Neigungen, setzt also das Vorhandensein eines in der Natur des Menschen gewurzelten Strebens nach Glückseligkeit voraus. Und weit davon entfernt, dieses Streben auszurotten, ist Kant nur darauf bedacht, es zu »bezähmen«, d. h. auf die Bedingung seiner Allgemeingültigkeit hin einzuschränken, die Aufgaben festzulegen, die sich aus dem so bestimmten Ziel er- geben und im wahren Staat und der wahren Kirche, der Zivili- sierung und Moralisierung die Mittel aufzuweisen, durch die es sich erreichen läßt. So wenig er Eudämonist oder Utilitarist im herkömmlichen Sinne war, im Begriffe des Weltbesten als der auf Sittlichkeit gegründeten und in rechtem Maße mit ihr verbundenen Glückseligkeit der Menschheit hat auch er den Endzweck des menschlichen Strebens gefunden, auf den alle Pflichten in letzter Linie hinzielen. Und jede andere Auffassung seiner Lebensphilosophie und, kann man hinzufügen, jeder Lebensphilosophie, die für Menschen Sinn und Wert haben soll bringt, um auch hier noch einmal ein Wort Kants an- zuwenden, »Unsinn (Phantasterei) in ihr Prinzip hinein«").

i) WW. VI S. 433 * Ak.-Ausg.

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