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Kant und der * * Sozialismus

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KARL VORLÄNDER

BERLIN 1900, VERLAG von REUTHER & REICHARD.

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Kant und der Sozialismus

unter besonderer Berücksichtigung

der neuesten theoretischen Bewegung

innerhalb des

Marxismus.

Von

Dr. phil Karl Vorländer.

Erweiterter Sonderdruck aus den „Kantstudien"

Berlin,

Verlag von Reuther & Reichard 1900.

Alle Eechte, auch das der Übersetzung, vorbehalten.

Vorwort.

Der Ausgang des scheidenden Jahrhunderts steht unter dem Zeichen des Sozialismus, wie das Ende des 18. unter dem Zeichen des Individualismus (Liberalismus) stand. Charakteristisch ist nun, dass der Drang nach philosophischer Vertiefung und Be- gründung, der sich in beiden Fällen bemerkbar macht, beide Male an den Namen und die Philosophie Immanuel Kants anknüpft. Freilich erfolgt diese Anknüpfung in wesentlich verschiedener Weise. Kants Anhänger und Nachfolger vor hundert Jahren erfassten zu- meist nicht tief genug den Kern dessen, was Kant gewollt: die neue wissenschaftliche Methode, die er begründet hat. Sie stürzten sich statt dessen auf die von ihm neu aufgerollten metaphysischen Probleme und führten, die schlichten Grundsätze der Wissenschaft als nüchtern verachtend, ihre kühnen, zum Teil grossartigen Ge- dankenluftbauten auf, deren Zusammenbruch über kurz oder lang unausbleiblich war. Anders der heutige oder Neukantianismus, den eben jener um die Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgende Zusammen- bruch der philosophischen Romantik allmählich wieder erwachen liess. Bestrebt, einerseits die Grenzscheiden der verschiedenen Wissenschaften und Bewusstseinsgebiete klar zu halten, und getrieben andererseits von dem Drang nach Einheit und Zusammenfassung, der sich gleichzeitig auch im Leben der Kulturvölker erst auf nationalem, dann auf sozialem Gebiet immer stärker geltend gemacht hat, sucht er v^or allem gerade die Methodik Kants für die Probleme unserer Zeit fruchtbar zu machen. So haben wir denn bereits seit mehreren Jahrzehnten ein Wiedererwachen der Kantischen Philo- sophie auf erkenntnistheoretischem, naturphilosophischem, ethischem, religionsphilosophischem und ästhetischem Gebiete erlebt. Nur die- jenige Bewegung, welche dieser Methode zu ihrer vollen Entfaltung am dringendsten bedürfte, die soziale, hat sich bisher vor- wiegend ablehnend zu ihr verhalten: teils, weil ihre Begründer, Marx und Engels, historisch von Hegel ihren Ausgangspunkt ge- nommen haben, teils aber auch, weil die heutigen Führer gegen den

Neukantianismus dessen Methode, sie nicht kennen, misstrauisch sind und ihn für einen Versuch ansehen, überwundene metaphysische Ideen in den Sozialismus einzuschmuggeln. Erst in allerneuester Zeit hat sich eine Annäherung der neukantischen und der sozialen Bewegung vollzogen. Hervorragende Kantianer haben die kritische Methode auf das Gebiet der Sozialphilosophie auszudehnen und die Kantische Ethik zur Begründung des Sozialismus zu verwenden be- gonnen; und dem gegenüber hat sich von einer Seite her, von der mau es noch vor wenigen Jahren nicht für möglich gehalten hätte, aus den marxistischen Kreisen heraus der Schlachtruf: „Zurück auf Kant!" erhoben, der in Bernsteins bekannter Schrift seinen sichtbarsten, wenn auch nicht gerade klarsten Ausdruck erhalten hat. Unter diesen Umständen glaubt die vorliegende Schrift einem Bedürfnis entgegenzukommen, indem sie die Berechtigung dieser neuen sozial -philosophischen Bewegung zu prüfen und zugleich in knappen Zügen ein zusammenfassendes Bild des gegenwärtigen Standes der Dinge zu geben unternimmt. Sie untersucht zu dem Zwecke 1. ob und inwiefern der Sozialismus ein Recht hat, sich auf Kant zu berufen und legt zu diesem Behufe an der Hand zahl- reicher, zum grössten Teil noch nicht beachteter Stellen Kants inneres Verhältnis zu den sozialen Problemen der Gegenwart dar. Sie entwickelt 2. die Stellung der Neukantianer (A. Lange, Cohen, Stammler, Natorp, Staudinger u. a.) zum Sozialismus und die von diesen Männern ausgehende eigenartige Neubegründung des letzteren. Und sie schildert 3. nach einem kurzen Blick auf die Begründer des Marxismus, die „Rückkehr zu Kant" bei den jüngeren Marxisten bezw. Sozialisten, wobei besonders J. Jaures (der bekannte französische Sozialist), C. Schmidt, E, Bernstein und L. Wolt- mann eine nähere Beleuchtung erfahren.

lLs ist ein gutes Zeichen von der Lebenskraft und Fruchtbarkeit des kritischen Idealismus, dass er nach mehr denn einem Jahrhundert auf neuen Gebieten frische Wurzeln treibt. Nachdem die verschiedenen philosophischen Disziplinen, nachdem die Naturwissenschaften, nach- dem die Theologie vorangegangen, schickt sich nun auch die mächtigste Bewegung der Gegenwart, die soziale, an, in ihren theoretischen Betrachtungen den Weg zu dem Begründer des Kritizismus zu suchen. Auf der einen Seite haben die namhaftesten Vertreter des Neukantianismus die Kantische Lehre gerade nach der sozialwissen- schaftlichen und sozialethischen Seite hin immer entschiedener auszu- bilden begonnen. Von der anderen Seite her antwortet dem aus Kreisen, die sich bisher dem Einflüsse des Kritizismus völlig ver- schlossen gezeigt hatten, aus dem parteisozialistischen Lager heraus der Ruf „Zurück auf Kant!", sodass man fast cum grano salis! von sozialistischen Kantianern und Kantischen Sozialisten reden könnte. Indem wir im Folgenden ein zusammenfassendes Bild des Standes der Dinge zu entwerfen versuchen, entwickeln wir zunächst unsere eigene Auffassung in Beantwortung der Frage: Inwiefern hat der Sozialismus ein Recht, sich auf Kants Lehre und Weltanschauung zu berufen?^) Dabei sei von vornherein bemerkt, dass wir unter dem vieldeutigen Worte Sozialismus keine bestimmte politische Partei, mit der die philosophische Untersuchung nichts zu thun hat, sondern eine sittliche Weltanschauung verstehen. Ferner interessieren uns in diesem Zu- sammenhange nicht sowohl einzelne, etwa von sozialistischer Seite

1) Benutzt sind für einen Teil der zunächst folgenden Ausführungen drei von mir unter dem Titel „Zurück auf Kant!" veröffentlichte Artikel der Wochen- schrift „Ethische Kultur" VII, No. 22, 24, 26 (3. Juni, 17. Juni, 1. Juli 1899). Einzelne Stellen, an denen die Änderimg des Wortlautes unzweckmässig er- schien, sind hier in derselben Formulierimg beibehalten worden.

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behandelte Punkte der Kantischen Lehre, wie beispielsweise die vom

Ding an sich, als vielmehr der Gesamtzusammenhang, der, um es

gleich heraus zu sagen, unseres Erachtens auf dem Gebiete der

Ethik zu suchen ist.

I.

Kants politische Stellung ist noch wenig, die sozialpolitische sozusagen noch gar nicht untersucht worden. Soweit dies geschehen, galt er und gilt er wohl auch heute noch bei den meisten als Ver- treter eines entschiedenen und gleichwohl mit einer gewissen monarchisch-konservativen Gesinnung gepaarten Liberalismus (z. B. Überweg-Heinze III 1, 238), dem in ethischer Hinsicht seine Stellung als Begründer einer rein individualen Ethik entspreche. Und in der That, wenn wir z. B. sein politisches Hauptwerk, die Rechtslehre, flüchtigen Blickes durchmustern, erscheiut er durchaus als Befür- worter des blossen „Rechtsstaats". Jedes Mannes Wirken ist eben durch seine Zeit bestimmt. Es war nur natürlich, dass Kants politische Philosophie sich vor allem gegen den absolutistischen Polizeistaat und die ständische Gesellschaftsordnung des 18. Jahrhunderts kehrte, und dass sie demgemäss ihr Centrum in dem Begriff der Freiheit und des Rechtes fand: darin der grossen politischen Umwälzung seiner Tage verwandt, die er denn auch bekanntlich, ebenso wie die Gründung der nordamerikauischen Freistaaten, mit unverhohlener Sympathie begrüsste. Zu einer Sozialphilosophie im modernen Sinne fehlten damals noch alle Vorbedingungen: die Maschinenindustrie, die grossartige Ausbildung des kapitalistischen Systems, das Ent- stehen einer Klasse freier Lohnarbeiter u. s. w. Indessen ist Kant, wie schon August Oncken in seinem Buche über „Adam Smith und Immanuel Kant", Leipzig 1877, nachgewiesen hat, keineswegs reiner Individualist oder Manchestermann gewesen, sondern blieb stets von einem starken Staatsgedanken erfüllt. Aber nicht hier findet der Sozialismus seine unmittelbarsten Anknüpfungspunkte, sondern in den Grundgedanken der Kantischen Ethik.

Kants Ethik ist. trotz ihres scheinbar individualistischen Gewandes, am letzten Ende, ja vorzugsweise Gera ein schafts-Ethik. Nichts

anderes aber ist der Sozialismus, ethisch verstanden. Ich habe an anderer Stelle (in meiner 1893 erschienenen Dissertation) entwickelt, wie gerade aus der Eigenschaft, die man dem Kantischen Sitten- gesetze in der Regel zum Vorwurf macht, aus seinem formalen Charakter die reichste, unermesslichste Fruchtbarkeit entspringt. Gerade darin, (Jass es nichts weiter als das formale Prinzip einer allgemeinen G-esetz- gebung sein will, liegt seine Gemeinschaft stiftende Kraft, erzeugt es in dem Gedanken einer „systematischen Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze" die Idee eines Reichs der Sitten oder Reichs der Zwecke. Freilich ist dies Reich ,.nur ein Ideal" (Grundlegung S. 59), aber doch ein solches, welches „durch unser Thun und Lassen wirklich werden kann" (ebd. S. 62 Anm.), konstituiert durch die Idee der Menschheit. Und aus dieser letzteren leitet sich unmittelbar jene, neben den anderen in der Regel nicht genug beachtete, Formulierung des kategorischen Impe- rativs ab, die sich in der „Grundlegung der Metaphysik der Sitten" an dritter Stelle (ed. Kirchmann S. 53 f.) findet: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloss als Mittel brauchst." „Jedes vernünftige Wesen", auch der armseligstß Tagelöhner, „existiert als Zweck an sich selbst", ist keine Maschine, kein „Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen" (52), keine „Sache", sondern eine „Person", in der uns die Mensch- heit heilig sein soll. Dieses Prinzip der Menschheit als Selbstzweck niuss die „oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Hand- lungen eines jeden Menschen" sein (55). Kann die Grundidee des Sozialismus, der Gemeinschaftsgedanke, einfacher ausgesprochen, deutlicher verkündet werden?

Wie ernst es Kant aber mit der Verwirklichung dieses Ge- dankens war, zeigt der Nachdruck, mit dem er bereits vier Jahre zuvor au einer bedeutsamen Stelle seines Hauptwerks') die grösste Konzeption des antiken Sozialismus, Piatos Republik, gegen die-

1) Kr. d. r. V. S. 319 f. meiner kürzUeh (bei 0. Hendel, Halle) er- schienenen Ausgabe (B 372 f.).

jenigen verteidigt hatte, die in ihr bloss das erträumte Hirngespinst eines mUssigeu Denkers sahen. Die Ausführungen unseres Philo- sophen sind so bezeichnend für seine politisch-soziale Denkart, und auch heute noch „realpolitischer" Klugthuerei gegenüber, die nur mit den „Maulwurfsaugen" der sogenannten Erfahrung zu sehen ver- mag, so beherzigenswert, dass wir uns nicht enthalten können, ihren Hauptinhalt wörtlich hierher zu setzen. Anstatt Piatos Gedanken zu verspotten, würde man, meint Kant, .,besser thun, ihm mehr nach- zugehen und ihn (wo der vortreffliche Mann uns ohne Hilfe lässt) durch neue Bemühungen ins Licht zu stellen, als ihn unter dem sehr elenden und schädlichen Vorwande der Unthunlichkeit bei Seite zu setzen. Eine Verfassung von der grössten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, dass jedes Freiheit mit der anderen ihrer zusammen bestehen kann (nicht von der grössten Glückselig- keit, denn diese wird schon von selbst folgen), ist doch wenigstens eine notwendige Idee, die mau nicht bloss im ersten Entwürfe einer Staatsverfassung, sondern auch bei allen Gesetzen zum Grunde legen muss, und wobei man anfänglich von den gegenwärtigen Hindernissen abstrahieren muss, die vielleicht nicht sowohl aus der menschlichen Natur unvermeidlich entspringen mögen, als vielmehr aus der Ver- nachlässigung der echten Ideen bei der Gesetzgebung. Denn nichts kann Schädlicheres und eines Philosophen Unwürdigeres ge- funden werden, als die pöbelhafte Berufung auf vorgeblich wider- streitende Erfahrung, die doch gar nicht existieren würde, wenn jene Anstalten zu rechter Zeit nach den Ideen getroffen würden und an deren Statt nicht rohe Begriffe eben darum, weil sie aus Er- fahrung geschöpft worden, alle gute Absicht vereitelt hätten.''

Drei Jahre später (1784) bezeichnet Kant in seiner ..Idee zn einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht- als das grösste Problem, die höchste Aufgabe und den letzten Zweck der ,.Menschengattung" : die Erreichung einer „vollkommen gerechten bürgerlichen Verfassung" (ed. Kirchmann S. 9), d. i. einer Gesell- schaft, in der die Freiheit eines jeden ihrer Glieder nur durch die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit aller anderen

eing-eschränkt ist/) eines Zustandes, in welchem allein alle natür- lichen Anlagen der Menschheit ihrer Bestimmung gemäss sich ent- wickeln können, wo man nicht mehr „Vorteile geniesst, um deren willen andere desto mehr entbehren müssen. "2) Allerdings sei dieses Problem „zugleich das schwerste und das, welches von djer Menschen- gattung am spätesten aufgelöst wird"; denn „aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades ge- zimmert werden" (ebd. S. 10). Die unumgängliche Voraussetzung' zu der „uns von der Natur auferlegten" Annäherung an das bezeich- nete Ideal seien: 1. „richtige Begriffe von der Natur einer mög- lichen Verfassung," 2. „grosse, durch viel Weltläufe geübte Er- fahrenheit," und „über das alles", 3. „ein zur Annehmung derselben vorbereiteter guter Wille": „drei Stücke", von denen wir freilich mit Kant meinen, dass sie sich „sehr schwer und, wenn es geschieht, nur sehr spät, nach viel vergeblichen Versuchen einmal zusammen finden" werden (11). Und doch glaubt er zu sehen, dass sich „dennoch gleichsam ein Gefühl in allen Gliedern, deren jedem an der Erhaltung des Ganzen gelegen ist, zu regen anfange" (16). Das gebe Hoffnung und wer von uns wäre so vermessen oder so resigniert, den tröstenden Zukunftsglauben unseres Philosophen von vornherein gänzlich zu verdammen? dass „nach manchen Revolutionen der Umbildung endlich das, was die Natur zur höchsten Absicht hat, ein allgemeiner weltbürgerlicher Zustand, als der Schoss, worin alle ur- sprünglichen Anlagen der Menschengattung entwickelt werden, der- einst einmal zustande kommen werde" (16 f.).

Diese seine politischen Grundüberzeugungen verleugnet Kant auch in seinen späteren ethischen und staatsphilosophischen Schriften nicht. Immer wieder kommt er auf sein oben bezeichnetes Kechts- und Staats- ideal zurück; man vergleiche insbesondere die Abhandlung über den ,,Gemeiuspruch" von Theorie und Praxis, den Aufsatz „zum ewigen Frieden", den „Streit der Fakultäten", die „Rechtslehre", auch eine Reihe von Stellen in R. Reickes „Losen Blättern aus Kants Nachlass".

1) Eine Definition seines Staatsideals, die sich in derselben oder in einer ähnlichen Form öfters in seinen Schriften wiederholt.

2j Die letzte Stelle findet sich Kr. d. prakt. Vernunft 186 A. (Kehrbach).

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Aus der „Kritik der Urteilskraft" wollen wir hier nur eine bedeutsame Stelle anführen, die an den Wert des Begriffs der Organisation auf dem politischen Gebiet anknüpft. Ein Jahr nach dem Ausbruch der französischen Revolution schrieb Kant: „So hat man sich, bei einer neuerlich unternommenen gänzlichen Umbildung eines grossen Volkes zu einem Staat, des Worts Organisation häufig für Einrichtung der Magistraturen u. s. w. und selbst des ganzen Staatskörpers sehr schicklich bedient. Denn jedes Glied soll freilich in einem solchen Ganzen nicht bloss Mittel, sondern zugleich auch Zweck und, indem es zu der Möglichkeit des Ganzen mitwirkt, durch die Idee des Ganzen wiederum, seiner Stelle und Funktion nach, bestimmt sein" (ed. Kehrbach S. 256 Anm.; j vgl. auch noch S. 324 f. und S. 339 desselben Werkes).

Über die Utopien Jindet sich eine interessante, bisher, soviel ich sehe, noch nirgends beachtete Stelle, die den Standpunkt von 1781 dem Wesen nach durchaus festhält, in dem ,, Streit der philo- sophischen Fakultät mit der juristischen" (Streit der Fakultäten ed. Kehrbach, S. 113 Anm.): ,, Piatos Atlantica, Morus Utopia. Har- ringtons Oceana und Allais Severambia^) sind nach und nach auf die Buhne gebracht, aber nie . . . auch nur versucht worden .... Ein Staatsprodukt, wie man es hier denkt, als dereinst, so spät es auch sei, [als] vollendet zu hoffen, ist ein süsser Traum, aber sich [ihm] immer zu nähern, nicht allein denkbar, sondern, so weit es mit dem moralischen Gesetze zusammen bestehen kann, Pflicht" freilich mit dem heute jedenialls starker Opposition begegnenden Zusätze: ,, nicht der Staatsbürger, sondern des Staatsoberhaupts"; wie denn Kant in der gleichen Schrift die aufklärende Stimme der ,, freien Rechtslehrer d. i. Philosophen" nicht „vertraulich ans Volk", „als welches davon und von ihren Schriften wenig oder gar keine Notiz nimmt" (!), sondern „ehrerbietig an den Staat gerichtet" wissen will (S. 109).

1) Die beiden letztgenannten Utopien erschienen 1656 bezw. 1677. Der Verfasser der Histoire des Sevarambes heisst mit seinem vollständigen (Kant anscheinend nach unbekannten) Namen: Devis Vairasse d' Allais; vgl. über ihn O. Hugo in: Qeschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen I, 2 (Vorläufer des neueren Sozialismus) S. 821—837, über Harrington und seine Oceana vgl. Ed. Bernstein ebenda S. 648—662.

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Andererseits glaubt man fast einen modernen Sozialtheoretiker zu hören, wenn man liest, wie Kant fordert, „dass der Staat sich von Zeit zu Zeit auch selbst reformierend und, statt Revolution Evolution^) versuchend, zum Besseren beständig- fortschreite" (113), nämlich zu einer ,, republikanischen Verfassung", wobei es auf die Staatsforni (die monarchisch bleiben kann) weniger ankomme, als auf die Regierungsart „nach allgemeinen Rechtsprinzipien" (S. 107 f. vgl. Lose Blätter 604 606, 674 f.). Oder, wenn man ihn ausführen sieht, dass „die Natur der Dinge dahin zwingt, wohin man nicht gerne will: fata yolentem ducunt, nolentem trahunt" (Schluss der Abhandlung über den Gemeinspruch; vgl. Lose Blätter S. 604). Auch ist er kein Freund von dem „am Staate flicken", wie es „alle sich so nennenden Praktiker gewohnt sind" (Lose Blätter S. 673), dieselben „Politiker", die stets davon sprechen: „Man muss die Menschen nehmen, wie sie sind, nicht, wie der Welt un- kundige Pedanten oder gutmütige Phantasten träumen, dass sie sein sollten", während sie sie doch selbst zu dem, was sie sind ,, durch ungerechten Zwang, durch verräterische, der Regierung an die Hand gegebene Anschläge gemacht haben", nämlich „halsstarrig und zur Empörung geneigt" (Streit d. Fak. S. 99). Das Volk verlange von der Regierung nicht Wohlthätigkeit, sondern sein Recht; ,,denn mit P>eiheit begabten Wesen genügt nicht der Genuss der I Lebensannehmlichkeit . . ., sondern auf das Prinzip kommt es an, ' nach welchem es sich solche verschafft" (ebd. 106 f. A., vgl. L. Bl. S. 574 f.). Das Rechtsbewusstsein eines Volkes sei es denn auch gewesen, was den französischen Revolutionsheeren den Sieg über ihre Gegner verliehen habe, denn „wahrer Enthusiasmus geht immer nur aufs Idealische und zwar rein Moralische, dergleichen der Rechtsbegriff ist" und „kann auf den Eigennutz nicht gepfropft werden" (a. a. 0. 106).

Im Zusammenhang hiermit sei es uns gestattet, auf eine interessante Stelle hinzuweisen, die mit unserem Thema zwar nicht in unmittelbarer

1) Den heute viel gebrauchten Ausdruck entlehnt Kant, wie er S. 107 bemerkt, „Herrn Erhard" (dem als eifrigen Verehrer Kants bekannten Philosophen).

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Beziehung steht, die aber volles Licht auf die freiheitliche Gesinnung unseres Philosophen in. politischen, sozialen und religiösen Dingen wirft. Sie findet sich in einer Schrift, in der man sie auf den ersten Blick nicht vermuten sollte, und hat vielleicht deshalb noch nicht die ver- diente Beachtung gefunden: „Ich gestehe, dass ich mich in einen" (Kant: im) „Ausdruck, dessen sich auch wohl kluge Männer bedienen, nicht wohl finden kann: Ein gewisses Volk (was in der Bearbeitung einer gesetzlichen Freiheit begriffen ist) ist zur Freiheit nicht reif; die Leibeigenen eines Gutseigentümers sind zur Freiheit noch nicht reif, und so auch die Menschen überhaupt sind zur Glaubensfreiheit noch nicht reif. Nach einer solchen Voraussetzung aber wird die Freiheit nie eintreten; denn mau kann zu dieser nicht reifen, wenn man nicht zuvor in Freiheit gesetzt w^orden ist (man muss frei sein, um sich seiner Kräfte in der Freiheit zweckmässig bedienen zu können). Die ersten Versuche werden freilich roh, gemeiniglich auch mit einem beschwerlicheren und gefährlicheren Zustande verbunden sein, als da man noch unter den Befehlen, aber auch der Vorsorge anderer stand, allein man reift für die Vernunft nie anders als durch eigene Versuche (welche machen zu dürfen, mau frei sein muss). Ich habe nichts dawider, dass die, welche die Gewalt in Händen haben, durch die Zeitumstände genötigt, die Entschlagung von diesen drei Fesseln" gemeint ist die politische, wirtschaftliche, religiöse Fessel - „noch weit, sehr weit aufschieben. Aber es zum Grund- satze zu machen, dass denen, die ihnen einmal unterworfen sind, überhaupt die Freiheit nicht tauge, und dass man berechtigt sei, sie jederzeit davon zu entfernen, ist ein Eingriff in die Regalien der Gottheit selbst, die den Menschen zur Freiheit schuf. Bequemer ist es freilich, in Staat, Haus und Kirche zu herrschen, wTun man einen solchen Grundsatz durchzusetzen vermag. Aber auch gerechter?" (Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft ed. Kehrbach S. 204 Anm.).

Auch die „Rechtslehre" endlich ist keineswegs so rein indivi- dualistisch und liberalistisch, wie man gewöhnlich annimmt. Das Recht wird als die „Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach

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allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden durchgängigen wechsel- seitigen Zwanges'' vorgestellt (ed. Kirchmann S. 33), wie auch noch die „Anthropologie" (ed. 1800 S. 324 f., vgl. S. 328 f.) die Erziehung des Menschengeschlechtes zu einer „bürgerlichen, auf dem Freiheits-, zugleich aber auch gesetzmässigen Zwangs-Prinzip zu gründenden Ver- fassung" ins Auge fasst. Auch an das Problem der ursprünglichen Bodengemeinschaft, nicht als Faktum, sondern als Idee, das Kant viel beschäftigt hat f Rechtslehre S. 55 f., vgl. die wiederholten Ansätze in den Losen Blättern, bes. S. 251 ff., 293 ff.), könnte vielleicht der moderne Sozialismus anknüpfen. So sagt Kant (Rechtslehre S. 70 f.) : ,,Der Besitz aller Menschen auf Erden, der vor allem rechtlichen Akt derselben vorhergeht (von der Natur selbst konstituiert ist), ist ein ursprünglicher Gesamtbesitz (communio possessionis originaria), dessen Begriff nicht empirisch und von Zeitbedingungen abhängig ist, wie etwa der gedichtete, aber nie , erweisbare eines ur anfäng- lichen Gesamtbesitzes (communio primae va), sondern ein praktischer Vernunftbegrift, der a priori das Prinzip enthält, nach welchem allein die Menschen den Platz auf Erden nach Rechtsgesetzen ge- brauchen können."

Indessen nicht auf solche Ähnlichkeiten in Einzelfragen kommt es an. Sie würden an und für sich nichts beweisen, zumal da Kants politisches Ideal, wie oben bereits bemerkt, in erster Linie durch den Freiheitsgedanken bestimmt bleibt. Der wahre und wirkliche Zusammenhang des Sozialismus mit dem kritischen Philosophen ist vielmehr in dem „rein Moralischen" gegründet, in den von Kant selbst praktisch nicht immer gezogenen Konsequenzen jener einfach -erhabenen Formel des kategorischen Imperativs, die uns die Menschheit in der Person eines jeden Mit- menschen jederzeit zugleich als Selbstzweck, niemals bloss als Mittel zu achten lehrt. Auf diesem Fundamente muss der Sozialismus bauen, wenn anders er überhaupt nach einer ethischen Begründung verlangt. Und von dieser Seite, d. h. von Seiten der ethischen Begründung aus lässt sich der Königsberger Weise in der That als der betrachten, zu dem ihn ein, wohl auch nur in

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diesem und nicht im engen historischen Sinne gebrauchtes, kühnes Wort Hermann Cohens (s. u.) stempelt: „der wahre und wirkliche Urheber des deutschen Sozialismus".

Woran lag es, dass Kant diese Rolle geschichtlich nicht gespielt, dass vielmehr an seiner Statt Fichte dem philosophischsten unter den deutschen Sozialisten (Lassalle) als solcher erschienen ist? Nun, zunächst wohl daran, dass er seinen weittragenden sozialethischen Grundprinzipien keine systematische Anwendung auf das praktische Gebiet sozialer Wirtschaft gab, wie Fichte es in seinem „Geschlossenen Handelsstaat" wenigstens versucht hat. Ja, Kant scheint in seinem politischen Hauptwerke, der ,, Rechtslehre", jenen grundsätzlichen ethischen Standpunkt, den der kategorische Imperativ vorschreibt, auf politisch - ökonomischem Gebiet nicht voll aufrecht zu erhalten. Er tritt zwar für vollste gesetzliche Freiheit, Gleichheit und Selb- ständigkeit aller Staatsbürger ein, aber er betrachtet die Gesellen „bei einem Kaufmann oder bei einem Handwerker", die privaten Dienstboten, Tagelöhner, Zinsbauern und „alles Frauenzimmer", kurz jedermann, der „Nahrung und Schutz" von anderen erhält, nicht als Staatsbürger, sondern nur als Staatsgenossen (S. 152 154; vgl. auch die Abhandlung vom Gemeinspruch etc., ed. Kirchmann S. 122 f. Anm., wo er es indes für „etwas schwer" erklärt, „die Erfordernis zu bestimmen, um auf den Stand eines Menschen, der sein eigener Herr ist, Anspruch machen zu können"). Jedoch sollen auch sie „als Menschen" dieselbe Freiheit und rechtliche Gleichheit, wie jene, gemessen; denn ohne diese kann kein Volk ein Staat heissen. Auch soll ihnen nichts im Wege stehen, aus dem „passiven" Zustand der blossen Staatsgenossen zu dem „aktiven" der Staatsbürger „sich emporzuarbeiten". Die volle Konsequenz seines kategorischen Imperativs, die der moderne Sozialismus eben hieraus zieht, dass die thatsächliche ^'orbedingung politischer Selbständigkeit, die wirt- schaftliche Selbständigkeit d. i. Freiheit von ökonomischer Knecht- schaft, allen nicht bloss ideell, sondern thatsächlich zu ermöglichen sei, hat Kant noch nicht ins Auge gefasst. Und, ein billiger Be- urteiler wird es zugestehen, er konnte es kaum, bei den Wirtschaft-

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liehen und kulturellen Zuständen seiner Zeit. Sind doch die Gesetz- geber der grossen französischen Revolution nicht weiter gegangen als unser Philosoph; denn sie sind ihm, wie J. Jaures (vgl. S. 41 unten) gezeigt hat, mit jener Unterscheidung von aktiven und passiven Staatsbürgern vorangegangen. Wir stehen damit bei der zweiten, oben bereits gekennzeichneten, historischen Schranke seines Sozialismus.

II.

So verlief denn des letzteren Entwicklung unter ganz anderen philosophischen Auspizien. Als einige Jahrzehnte nach Kant die grossen technisch -ökonomischen Umwälzungen eintraten, welche die soziale Bewegung unserer Tage nach sich zogen, stand Deutschland philosophisch unter dem Zeichen Hegels, später Feuerbachs und der Materialisten ; von ihnen empfingen die theoretischen Vorkämpfer des modernen Proletariats ihre philosophische Bildung; Kant zählte fast zu den Vergessenen. So wurde der Sozialismus, wenigstens der politische Parteisozialismus, unter dem Banner des ,, Materialismus" gross, der prinzipiell im stärksten Widerspruch zu seinen Ideen steht und nur als Feldzeichen gegenüber der seichten Rhetorik eines dogma- tischen Scheinidealismus einigen Wert besitzt.

1. Selbst ein Friedrich Albert Lange, der sich um die Über- windung des Materialismus nicht bloss auf erkenntnistheoretischem, sondern auch auf dem ethischen Gebiete ein so durchschlagendes Verdienst erworben hat, hielt noch „die ganze praktische Philosophie", so mächtig sie auch auf die Zeitgenossen gewirkt habe, für den „wandelbaren und vergänglichen Teil der Kantschen Philosophie" (Gesch. d. Mat. ed. Cohen 1887, S. 356). Er ist zwar der erste „Kantianer" oder vielmehr der erste von dem kritischen Idealismus nachhaltig beein- flusste Philosoph der neueren Zeit, der sozialistisch gedacht hat, aber die Verbindung zwischen seinem „Kantianismus" und seinem „Sozialismus" ist keineswegs eine systematische; sie bestand vielmehr nur in seiner edlen, vom reinsten ethischen Idealismus erfüllten Persönlichkeit. Seine „Arbeiterfrage" knüpft zur Begründung seiner sozialethischen An- schauungen an den Kritizismus nicht an; sie polemisiert, im Gegenteil^

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gegen Kants Rechtsbegrifif und seine Ableitung des Eigentumsrechts (4. Auflage S. 268 ff.), die insbesondere, wenn man ihm „bis in die Begründung des individuellen Eigentumsrechts hinein" folge (S. 271), zu einer offenbaren petitio principii werde.

2. Der erste Kantianer vielmehr, der offen auf die grundlegende Bedeutung der Kantischen Ethik für die Fundamentierung des Sozialismus hingewiesen hat, ist der Führende unter den heutigen Neukantianern, Hermann Cohen in Marburg. Bereits sein vor dreiundzwanzig Jahren geschriebenes Buch „Kants Begründung der Ethik" (Berlin, Düramler, 1877) mündete in den Gedanken aus, dass Kants höchstes Gut, wie schon Schleiermacher bemerkt habe, im Grunde ein politisches sei (328). Der moderne Hiob frage nicht mehr, „ob der Mensch überhaupt mehr Sonnenschein als Regen habe, sondern ob der eine Mensch mehr leide als sein Nächster; und ob in der austeilenden Lust-Gerechtigkeit der berechenbare Zusammen- bang bestehe, dass ein Mehr an Lust für das eine Mitglied im Reiche der Sitten das Minder des anderen zum logischen Schicksal macht" (327). Jenes höchste Gut brauche aber nicht mehr, wie von Kant geschehen, besonders „postuliert'* zu werden. Es sei bereits gegeben in der .,vor keiner Thatsache der sogenannten Erfahrung zurückschreckenden'' Idee eines Reichs der Zwecke als regulativer Maxime, die dazu da ist, den „Erfahrungsgebrauch", dessen kausale Bedingtheit umzustossen sie durchaus nicht beansprucht, zu regeln, „nach der Idee der Menschheit den Menschen umzuschaffen" (246). Darin besteht die objektiv- praktische Realität des Sittengesetzes. Und so bezeuge und bewähre sich Kants „in ihrer Grundlegung auf anthropologische Gelehrsamkeit verzichtende Ethik in ihrer Begründung als Anthroponomie" (328).

In dem biographischen Vorwort (von 1881) zu F. A. Langes Geschichte des Materialismus (S. XIII) wird dessen gleichzeitiges Verhältnis zu Kant und dem Sozialismus nur kurz gestreift. Indem Lange seinen Standpunkt gegenüber Strauss und Überweg ein- nehme, von denen der erste den Sozialismus gehasst, der andere ihn ignoriert habe, habe er die ethische Frage ,,an ihrer lebendigen

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ehrlichen Wurzel zu ergreifen verstanden'', und „das vor allem, mache ihn ,,zu einem Apostel der Kantischen Weltanschauung".

Am unumwundensten aber hat sich Cohen in seiner „Einleitung mit kritischem Nachtrag" zur fünften Auflage desselben Werkes (1896) über unser Thema geäussert. Wir haben diesen leider noch nicht seinem vollen Werte nach beachteten Nachtrag bereits im ersten Bande der „Kantstudien" (S. 268 272) besprochen und machen hier nur auf die unser Spezialthema berührenden Gedanken, in etwas anderer Ver- bindung und grösserer Ausführlichkeit, nochmals aufmerksam. Indem er sich entschieden gegen das ,, Vorurteil einer naturalistischen Be- gründung" des Sozialismus wendet, dem auch Lange in seiner vom Darwinismus erfüllten Zeit nicht widerstanden habe, erklärt Cohen kurz und bündig: ,,Der Sozialismus ist im Recht, sofern er im Idealismus der Ethik gegründet ist. Und der Idealismus der Ethik hat ihn begründet." Somit ist Kant „der wahre und wirkliche Ur- heber des deutschen Sozialismus" (S. LXV). Es folgt dann dieselbe Ableitung des sozialistischen Grundgedankens aus Kants kategorischem Imperativ, die wir oben gegeben haben, der sich ein kurzer historischer Rückblick auf die Entwicklung der schon von den Stoikern und den Naturrechtlern des 17. und 18. Jahrhunderts vertretenen Idee dersocietas humana, der menschlichen Gesellschaft anschliesst. Freilich dürfe uns nicht mehr die „Natur" Rousseaus und die als die blosse Summe der Indi- viduen gefasste Gesellschaft Bürgin des Ideals sein, sondern die Idee der Gesellschaft, als „Ordnungs- und Leitbegriff der Individuen" (S. LXVII ).

Für die seit Langes Tod verflossenen zweiundeinhalb Jahrzehnte glaubt Cohen einen „Riesenfortschritt" in der „Anerkennung des ökonomisch -juristischen Rechts des Sozialismus im Bewusstsein der allgemeinen Bildung" konstatieren zu dürfen. „Heute wehrt sich kein Unverstand mehr gegen den „guten Kern" der sozialen Frage, sondern nur noch der böse oder der nicht zureichend gute Wille". Nur der „idealfeindliche Egoismus, der der wahre Materialismus ist", versagt dieser „Wahrheit des öffentlichen Bewusstseins", die freilich noch ein ,,öffentliches Geheimnis" ist, den Glauben und pocht auf das geschriebene

Vorländer. Kant und der Sozialismns. 2

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oder gar „im Dienste seiner Interessen eiligst umzuschreibende" Recht, auf die .,verbrieften Privilegien der Stände" ( S. LXVII f.).

Wie eirtschieden nun auch der Marburger Philosoph die Idee des Sozialismus anerkennt, so hat er doch an den ,,dennaligen politischen Sozialismus" verschiedene sehr gew^ichtige Forderungen zu stellen: 1. Als Fundament muss der Materialismus nicht nur „zeitweise ab- geschüttelt", sondern „radikal aufgegeben" w^erden. 2. Als Krönung seines Gebäudes darf, wie die Ethik, so auch der Sozialismus die Gottesidee nicht abweisen, die freilich bei Cohen nichts anderes als den Glauben an die Macht des Guten, die Hoffnung auf die Ver- wirklichung der gerechten Sache bedeutet. 3. Gegenüber einer rein realistischen Auffassung des Begriffs der Gesellschaft und gegenüber der materiellen Wirtschafts-Genossenschaft müssen Recht und Staat, als Ideen, Ehrfurcht fordern und finden; denn, wie keine Freiheit ohne Gesetz, so kann ohne die im Gesetz bestehende Gemeinschaft keine freie Persönlichkeit, keine wirkliche Gemeinschaft moralischer Wesen bestehen. Mit der Anerkennung der, notwendigerweise mangel- haften, bestehenden Rechts- und Staatsordnung kann sich gleichwohl der schärfste Blick für ihre Gebrechen, die tiefste Glut für deren gründliche Heilung verbinden. Die Vereinigung beider Bedingungen hat von jeher den „grossen, wahrhaft revolutionären Umschwung", nämlich den stetigen geschichtlichen Fortschritt verbürgt. Endlich ist 4. mit der Idee der Menschheit (menschlichen Gesellschaft) die Idee des Volkes (der Nationalität) zu verbinden, indem wir jene, die wir ehren und achten in diesem, das wir lieben, zu verwirklichen streben. Die Volksidee, wie z. B. ein Fichte sie gelehrt, vertritt zugleich ..den be- vorrechteten Ständen gegenüber die Idee der Menschheit im eigenen Volke" ( S. LXXV). „Eine Nation, die für Reich und Arm verschiedene Schulen hat . . . mag auf dem Wege zur Nation sein; ein Volk ist sie nicht" (ebd.). So ,, erschafft die Idee der Gesellschaft die wahre Einheit des Volkes auf dem Grunde der Kultur des Geistes". In diesem Sinne für die Realisierung der Volksidee zu wirken, ist „der Inbegriff der Aufgaben des Idealismus" (S. LXXVI).

3. Noch etwas vor Cohens letztgenannter Schrift erschien das

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grundlegende Buch von Rudolf Stammler (Halle): „Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozial- philosophische Untersuchung" (Leipzig, Yeit, 1896). Gab Cohen mehr eine ,,expektorative Darlegung" seines sozialethischen Denkens, so ent- hält dagegen Stammlers Werk eine ausgeführte systematische Be- gründung des sozialen Idealismus. Da wir seinerzeit das Buch Stammlers unter dem Titel „eine Sozialphilosophie auf Kantischer Grund- lage" in den „Kantstudien" (I, 197 216) eingehend besprochen haben, so begnügen wir uns an dieser Stelle mit einer Hervorhebung der Haupt- gesichtspunkte. Stammler fasst seine Aufgabe, ganz im Sinne Kan- tischer Methode und mit Berufung auf sie, rein erkenntnis kritisch. Psychologie, Naturwissenschaft, Nationalökonomie, Jurisprudenz werden in reichem Masse herangezogen, aher methodisch nur als Hilfstruppen betrachtet; gegenüber Dogmatismus und Skeptizismus, gegenüber der psychologischen und genetischen Betrachtungsweise, gegenüber Materia- lismus und Spiritualismus wird der ,, kritisch gesuchte und methodisch eingeleitete" Standpunkt des wissenschaftlichen Idealismus vertreten. Seine Kernfrage lautet nicht etwa: Wie ist soziales Leben entstanden? sondern : Unter welcher formalen Bedingung ist soziales Leben als ein eigener Gegenstand unserer Erkenntnis zu erfassen und einheitlich zu denken möglich? Die Antwort: Indem das Zusammenleben von Menschen als äusserlich (durch äusserlich verbindende Normen) ge- regelt gedacht wird. Die äussere Regelung ist die Form (Kantisch genommen) der sozialen Materie d. h. das Bestimmende, Bedingende, Gesetzmässige an der sozialen Erfahrung, welche letztere, wie alle Erfahrung, nur eine sein kann. Es giebt nur eine Kausalität, und darin, dass sie eine einheitliche Methode oder Gesetzlichkeit für die wirtschaftlich-rechtliche Entwicklung aufstellt, liegt kein Fehler der materialistischen Geschichtsauffassung, sondern das ist ihr Haupt- verdienst. Auch Stammler behauptet einen ,, Kreislauf", einen .,Monismus" des sozialen Lebens, auch er hält den Zusammenhang der geistigen mit den zu Grunde liegenden ökonomischeu Be- wegungen für grundsätzlich unabweisbar. Aber er behauptet mit

Kant und den Neukantianern etwas weiteres: Es ist neben der

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unausweichlichen und undurchbrech baren Kausalität der Erfahrung noch eine andere Art von Gesetzlichkeit (Einheit des Gesichts- punkts) als diejenige von Ursache und Wirkung zu denken möglich, welche sich auch dem Laien in den einlachen Unterscheidungen von Erkennen und Wollen, Bewirktem und zu Bewirkendem, Sein und Sollen deutlich genug kund giebt. Es soll das keine zweite Kausalität sein, die etwa in die erste von ungefähr hineinfahren und ihre aus- nahmslose Geltung zu nichte machen könnte, sondern eine andere Art von Gesetzmässigkeit, die nicht nach dem Warum, sondern nach dem Wozu, nicht nach Ursache und Wirkung, sondern nach Mittel und Zweck, bis hinauf zu der obersten Einheit möglicher Zwecksetzung, als dem Endzweck, fragt. Es giebt, mit anderen Worten was die Theoretiker des sozialen Materialismus bisher nicht genügend beach- teten — neben der kausalen noch eine ihr nicht widersprechende, sondern sie ergänzende teleologische oder, wie wir jetzt wohl ohne Furcht vor Missverstehen sagen dürfen, ethische Betrachtungsweise der sozialen Erscheinungen. Die ethische Beurteilung eines sozialen Vorkommnisses ist etwas ganz anderes als die genetische Erklärung seines Werdens. Die konkreten Bestrebungen erwachsen freilich immer aus den sozialen Zuständen, sind aber nach menschlichen Wünschen und Zielen zu leiten, deren oberster Massstab nur ein solcher des Endzwecks (Endziels) sein kann. Dieser letztere aber kann, wenn anders er Allgemeingiltigkeit erstrebt, kein empirisch bedingtes Einzel- oder Sonderziel, sondern er muss ein formaler Gedanke d. i. einheitlicher Gesichtspunkt sein, der. wenn er sich auch mit konkretem Inhalt selbstverständlich nur aus der Erfahrung füllen kann, dennoch über allen bedingten Einzelzwecken in un- bedingter Geltung richtend und leitend steht. Das soziale Endziel ist nach Stammler (S. 575) die Gemeinschaft frei wollender Menschen, in der „ein jeder die objektiv berechtigten Zwecke des anderen zu den seinigen macht."

4. Der methodische Grundgedanke, von dem Stammlers sozial- philosophische Untersuchung beherrscht ist, liegt auch dem neuesten Werke von Paul Natorp (Marburg) zu Grunde, seiner „Sozial-

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pädag-og'ik. Theorie der Willenserziehuiig auf der Grundlage der Ge- meinschaft". (Stuttgart, Frommann, 1899). Nur dass das, was Stammler in breitester, den Gedanken nach allen Seiten hin drehender und wendender Ausführung darlegt, bei Natorp in knappster Zusammen- fassung erscheint und bloss die Einleitung zu seinem Hauptthema bildet. Letzteres aber, das bei dem Zwecke des Stammlerschen Buches ausgeschlossen, von Cohen nur eben angedeutet war, ist: die systematische Begründung einer Volkserziehungslehre auf der Grundlage der Gemeinschaft.

Natorp hat sich bereits seit Jahren mit diesem Probleme be- schäftigt. Schon seine „Religion innerhalb der Grenzen der Huma- nität" (Freiburg 1894) bezeichnete er als „ein Kapitel zur Grund- legung der Sozialpädagogik"; auch kleinere Schriften, besonders „Pestalozzis Ideen über Ärbeiterbildung und soziale Frage" (Heil- bronn 1894) und „Piatos Staat und die Idee der Sozialpädagogik" (Berlin, Heymann 1895) waren, wie schon die Titel zeigen, dem gleichen Zwecke gewidmet. Es sollen ein Gebiet, das die bis herige Sozialphilosophie noch fast ganz seitab hat liegen lassen die Wechselbeziehungen zwischen Gesellschaftslehre und Er- ziehungslehre untersucht, und zwar beide als „in der tiefsten Wurzel eins und untrennbar zusammengehörig" (Vorwort S. V) nach- gewiesen werden. Zu diesem Zwecke aber musste auf die philo- sophischen Fundamente beider zurückgegangen, eine systematische Grundlegung gegeben werden. So enthält das Buch weit mehr, als sein Titel zunächst vermuten l^st, nämlich : 1. eine erkenntniskritische Grundlegung, 2. die Hauptbegriffe der Ethik, 3. die Grundlage einer Sozialphilosophie, und erst 4. das in seinen Umrissen aus- geführte System einer sozialen Pädagogik, als „Organisation und Methode der Willenserziehung" : dies alles auf einem Räume von nur 350 Seiten. Wir versuchen im folgenden wenigstens die Grund- gedanken herauszuschälen, was allerdings bei der Fülle des in so knappe Form gegossenen Inhalts keine ganz leichte Sache ist.^)

1) Eine ausführlichere Besprechung habe ich vor kurzem in der Zeitschrift für Philosophie u. philos. Kritik (Bd. 114, S. 214—240) unter dem Titel: Eine Socialpädagogik auf Kantischer Grundlage gegeben.

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Die „Grundlegung" steht auf dem Boden Kantischer Methode, in der gewöhnlich als Neukantianismus bezeichneten freien Weiter- bildung, die ihr Cohen, Natorp u. a. gegeben haben. Erziehung ist Willensbildung. Wille aber ist Zielsetzung, Vorsatz eines Gesollten, einer Idee, In der Idee tritt der gesamten Welt der Natur, deren oberste Begriffe und Gesetze die Wissenschaft in kausaler Durch- dringung zu erforschen sucht, ein ganz neuer Gesichtspunkt gegen- über, der weder naturwissenschaftlich noch psychologisch (auch die Psychologie ist Naturwissenschaft), sondern nur erkenntniskritisch zu verstehen ist. Man muss sich zunächst klar machen, dass neben dem zeitlich bedingten Denken noch ein anderes, gewissermassen überzeitliches Denken (so das logische und mathematische) existiert. Sätze wie A = A oder 2 X 2 ^^ 4 gelten unterschiedslos zu aller Zeit. Nur vermittelst dieses nach Einheit im Bewusstsein (oder durchgängigem Zusammenhang des Gedachten) strebenden logischen Denkens kommt theoretische oder Naturerkenntnis (nach Kant: Er- fahrung) zustande. Aber diese Erfahrungserkenntnis ist ihrer Natur nach einer Vollendung, eines Abschlusses im Unbedingten unfähig. Hier tritt nun die regulative Idee (im Kantischen Sinn des Wortes) ein. „die letzte Einheit, der letzte eigenste Blickpunkt der Erkenntnis*' (24). Das Gebiet der Zwecksetzung thut sich vor uns auf, die, indem sie nach Zwecken, zuletzt dem Zwecke aller Zwecke (Endzweck) fragt, uns in das Reich des WoUeus, des Sollens und somit der Ethik führt.

Worin besteht nun die Gesetzlichkeit des Sollens? Diese Frage muss die Grundfrage einer wissenschaftlichen Ethik sein. Antwort: In der „formalen" Einheit meiner Zwecke, d. h. in ihrer notwendigen Übereinstimmung unter sich. Das Gesetz der Einheit das ist der durch Kants transscendentale Methode bestimmte Grundgedanke des Natorpschen Philosophierens ist das Grundgesetz des Be- wusstseins, das zunächst die theoretische Erkenntnis (in der mathe- matischen oder Grössen- und der Natur- oder ursachlichen Gesetzlich- keit), dann aber ebenso die praktische (in der Zweckgesetzlichkeit) be- herrscht; so schliesst sich in ununterbrochenem Zusammenhange an die Logik die Ethik an. Kants formales Sittengesetz bedeutet nichts Anderes

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als unbedingt einheitliche Ordnung- der Zwecke nach dem Massstabe und unter der Herrschaft der Vernunft.

Die „Erfahrung" vermag zwar diese Kantische Ethik der reinen Idee in ihrem letzten formalen Grunde nicht aus sich selbst heraus zu begründen, aber ihrem Stoffe nach bleibt die neue Gesetzlich- keit (der Zwecksetzung) ganz und gar auf Erfahrung angewiesen. Das Gesollte soll doch verwirklicht werden. Wie die Erfahrung den Stoff bietet, und wie er sich jener reinen Form fügt, das im Anschluss an Natorps scharfsinnige Deduktionen darzulegen, würde zu weit führen. Wir erwähnen nur, dass der Verfasser drei „Stufen der Aktivität" .unterscheidet, von denen jede die vorige in sich enthält: 1. Trieb, 2. bewusster Wille, 3. Vernunftwille, dazu die interessante Parallele auf dem theoretischen Gebiet: 1. Vorstellung schlechtweg, 2. be- wusst objektivierte Vorstellung, 3. wissenschaftliche Objekterkenntnis, und die Übertragung auf das soziale: 1. Naturkräfte, 2. deren bewusste Beherrschung durch die Technik, 3. die Unterordnung der letzteren unter den höchsten menschlichen Zweck: die Menschenbildung.

Menschenbildung aber ist möglich nur in menschlicher Gemein- schaft, und durch sie; alle Pädagogik ist deshalb im Grunde Sozial- pädagogik. Echter Sozialismus schliesst den berechtigten In- dividualismus nicht aus, sondern ein; denn Erhebung zur Gemein- schaft bedeutet nicht Beschränkung, sondern Erweiterung des eigenen Selbst, nicht die Eindämmung, vielmehr erst die wahre Entfaltung des Individuums.

Wir übergehen das folgende Kapitel von den „Hauptbegriffen der Ethik" seinem grössten Teile nach, weil das System der indi- viduellen Grundtugenden (Wahrheit, Tapferkeit oder sittliche That- kraft, Reinheit oder Mass, Gerechtigkeit), das unser Philosoph hier in freier Anlehnung an Plato entwirft, so interessant es auch für den Ethiker ist, doch in keiner unmittelbaren Beziehung zu unserem Thema steht. Nur der vierten und letzten Tugend, der Gerechtig- keit {dixatoavvi]) muss hier gedacht werden, weil sie die individuelle Grundlage der sozialen Tugend bildet. Denn sie verlangt Wahr- haftigkeit, sittliche Thatkraft und das rechte Mass in Arbeit und

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Genuss im Interesse der Gemeinschaft. Indem sie ihren letzten Grund in der Kantischen Achtung der Menschheit in jeder Person, auch dem Ärmsten und Schlechtesten, findet, fordert sie Gleich- heit alles dessen, was Menschenantlitz trägt. Diese Gleichheit kann und soll freilich keine mechanische sein, nicht in der Zuteilung von Gütern je nach dem Gutsein bestehen, sondern nur darin, dass allen die gleiche Möglichkeit zur Ausbildung ihrer Fähigkeiten gegeben wird. Die Wahrhaftigkeit des Einzelnen wird nun zur Herrschaft der vernünftigen Einsicht im öffentlichen Leben im Gegensatz zu Per- sonen-, Klassen- und Rassenhass, die Thatkraft zum Einstehen für Recht und Gesetzlichkeit im Kampf gegen die eigenen und die gesellschaftlich mächtigen Sympathien und Antipathien, das rechte Mass zur harmonischen Ordnung von Arbeit und Genuss überhaupt: die soziale Gerechtigkeit endlich verlangt, dass jeder seinen rechtmässigen Anteil an Bildung, Regierung und Arbeit habe!

Von unmittelbarster Bedeutung für die Beziehungen zwischen neu- kantischer Philosophie und Sozialismus sind die in den§§ 18 mit wahr- haft bewundernswürdiger Kunst auf 48 Seiten (S. 131 178) zusammen- gedrängten Fundamente einer kritischen Sozialphilosophie.

Die in dem ersten Teile nachgewiesenen drei „Grundfaktoren der menschlichen Aktivität'": Trieb Wille Vernunft, ergeben, auf das soziale Leben ihrer Träger übertragen: Arbeitsgemeinschaft^) unter gemeinschaftlicher Willensregelung (durch die Technik), die ihrerseits der vernünftigen Kritik der Gemeinschaft untersteht (S. 134). Daraus ergeben sich weiter drei, einander selbst fort und fort neu erzeugende und gestaltende Grundklassen sozialen Thuns: die wirt- schaftliche, regierende und bildende Thätigkeit, deren jede ihren eigentümlichen Zweck hat, aber in Verfolgung desselben auch die beiden anderen in Anspruch nimmt. Wirtschaft und Recht insbesondere dienen beide als blosse Mittel dem einen höchsten Zweck, der Menschenbildung, der nun seinerseits die wirtschaftliche Arbeit und politische Thätigkeit sittlich zu adeln vermag.

1) Präziser scheint mir statt dessen aus Gründen, die icli Zeitschr. t. Pliilos. a. a. 0. S. 225 und Kantstudien I, 200 f. dargelegt habe, der Begriff: Zusammen- leben von Menschen als bestimmbarer, trieberfüUter, willenstahiger Wesen.

Natorps „Grundg-esetz der sozialen Entwickluag" 18) will keine kausale Erklärung ihres zeitlichen Geschehens bieten, zu dessen wirklicher Erkenntnis es ihm bei dem heutigen Stande der Wissen- schaft noch an den notwendigsten Vorbedingungen zu fehlen scheint (S. 162), mithin kein Natur- oder Erfahrungsgesetz sein, sondern als ein regulatives Gesetz der Idee verstanden werden, das jedoch mit den allgemeinen Gesetzen der Erfahrung in engster systematischer Verbindung steht. In lückenlosem Zusammenhang- reihen sich an einander (vgl. schon oben): Naturerkenntnis Technik soziale Regelung vernunftgemässe Gestaltung des sozialen Lebens. Den Zusammenhang der drei ersten Stufen hat auch die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung klar erkannt. Was ihr noch fehlt, ist das bewusste Aufsteigen zu der höchsten Stufe, der Grund davon am letzten Ende der dem historischen ebenso, wie dem naturwissenschaftlichen, Materialismus anhaftende Mangel an Erkenntniskritik. Wie es kein Naturgesetz ausser uns giebt, so ist auch die soziale Gesetzlichkeit nur Gesetzlichkeit des Bewusstseins und kann ernstlich aus der sozialen ..Materie'- nicht abgeleitet werden. Und weiter: ,,Von den untersten materialen Bedingungen bis zum höchsten Gesetze der Bewusstseinsform, dem Gesetze der Idee, besteht ein durchgehender, ununterbrochener Zusammenhang" (S. 166). Eine neue soziale Ordnung zu schaffen, erfordert gewiss zunächst die höchste technische und zwar sozialtechnische Einsicht, aber nicht minder notwendig als letzten Leit- und^ Gesichtspunkt die Idee einer best- möglichen Ordnung der Zw^ecke. Diese Idee muss selbstverständlich, wenn sie nicht einem verschwommenen und haltlosen Spiritualismus verfallen will, in gesetzmässigem und ununterbrochenem Zusammen- hang mit der sozialen Materie bis. zu ihren letzten Unterlagen herab bleiben. So entsteht ein durchgehender Gesetzeszusammenhang der soeben bezefchneten Grundfaktoren des sozialen Lebens, den Natorp, durch eine höchst scharfsinnige Übertragung der drei „regulativen Prinzipien" Kants (der Homögeneität, Spezifikation und Affinität oder^ wie Natorp moderner sagt: der Generalisation, Individualisation und des stetigen Übergangs) vom Natur- auch auf das technische, soziale

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und sittliche Gebiet, noch enger und systematischer zu gestalten weiss. Das sittliche Endziel. der sozialen Entwicklung und zugleich Grund- gesetz der menschlichen Bildung sieht der Verfasser, dabei an Pestalozzi erinnernd, in der einheitlichen sittlichen Ordnung der Zwecke unter allseitiger Entfaltung des Menschenwesens in lückenlosem harmonischem Zusammenhang seiner Grundkräfte (175 f).

Diesem Ideale in ewiger Arbeit am einzelnen wie an der Gemeinschaft (und zwar am letzten Ende des gesamten Menschen- geschlechtes, S. 188) zuzustreben, das ist die „Bewegung zum End- ziel". Was haben wir zu thun, um zu diesem Ziele oder zunächst wenigstens auf den Weg zu ihm zu gelangen? Das lehrt, soweit die Antwort auf dem Gebiete der Erziehungslehre liegt, die zweite Hälfte des Buches: die soziale Pädagogik als Organisation und Methode der Willenserziehung (S. 191 352).

Das wesentlichste Mittel nämlich zur Erziehung des Willens sieht unser Sozialpädagoge in der Organisation der Gemeinschaft in Haus, Schule und öffentlichem Leben. Von der reichen Fülle praktischer Anregungen, die dieser Teil dem Pädagogen, dem Ethiker, dem Sozialpolitiker giebt, mag sich jeder durch eigene Lektüre über- zeugen; über des Verfassers Grundstellung kann nach allem Vorher- gesagten kein Zweifel mehr sein. Wir greifen, das eigentlich Pädagogische beiseite lassend, nur einige wenige Paukte heraus, -die den Sozialpolitiker näher angehen.

Die Familie, die gegenwärtig in einer noch nicht absehbaren Periode innerer Umbildung begriffen ist, kann zwar nicht mehr zu den verengenden und veralteten Formen einer für uns auf immer entschwundenen Zeit zurückkehren, aber wir brauchen deshalb ihrem Verfall nicht mit verschränkten Armen zuzusehen. Starkes Gemeinschafts- und gesundes Familienleben sind wohl vereinbar. Heutige keiraartige Anfänge, wie die Fröbelschen Kindergärten, wären allmählich zu all- gemeineren Organisationen (Familienverbänden, Nachbarschaftsgilden) erweitern; wozu natürlich für die arbeitende Klasse eine „vor allem um der Erziehung willen zu verlangende grössere Freiheit vom Arbeitszwang (durch gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit bei

gleichzeitiger Sicherung eines angemessenen Arbeitseinkommens)" ge- hören würde. Für die Schulerziehung fordert Natorp eine wirkliche Volksschule im weitesten Sinne des Wortes. Denn alle haben Anspruch zwar nicht auf genau die gleiche Bildung, wohl aber auf gleiche Sorgfalt für ihre Bildung, auf Anteil an der grossen Bildungsgemeinschaft, allein nach dem Massstab der Fähigkeit, nicht sonstiger Vorrechte. Seine Vorschläge, die wir hier nicht diskutieren wollen, lauten : Allgemeine obligatorische Volksschule bis zum zwölften Lebensjahre, dann Vorbereitung auf die Berufe : das „neuhumanistische Gymnasium" nur für die wirklich zu theoretischer Ausbildung Befähigten, daneben eine Gewerbe- oder Realschule mit angegliederten (fakultativen) Fachkursen für die gewerblichen Berufe; statt der bisherigen unzu- länglichen Fortbildungsschule eine Vollschule für alle bis zum acht- zehnten Jahre, die, in freierer Weise organisiert, zugleich mit den An- fängen der beruflichen Ausbildung (Lehrlingszeit) verbunden werden könnte. Für die Stufe der freien Selbsterziehung im Gemeinleben der Erwachsenen endlich: Erweiterung der jetzigen Universität zu einer wahren universitas, d. h. Hochschule für die Gesamtheit, wobei an die Universitäts-Ausdehnuugs-Bewegung in England und den Vereinigten Staaten, an die „Volkshochschule" der skandinavischen Länder anzu- knüpfen wäre, an die letztere auch in Hinsicht auf ein geordnetes Zusammenleben ihrer Zöglinge.

Kurz, die Erziehung muss sich in den Dienst der Gemeinschaft, das Leben der Gemeinschaft am letzten Ende in den Dienst der Erziehung stellen, wie schon Plato erkannt, aber bei seiner Über- schätzung der Geistesbildung sowie der Arbeitsteilung, und seiner Unter Schätzung des wirtschaftlichen und politischen Faktors für das Gemeinleben, nur unvollkommen durchgeführt hat. Wir alle haben den Beruf der sozialen Erziehung, und Endzweck eines jeden, auch des geringsten, Menschendaseins ist nicht Wirtschaft und Recht, sondern Vollendung des Menschentums. Nur auf dem Grunde eines wahrhaften Gemeinschaftslebens kann und wird auch der Unterricht, namentlich der geschichtliche (285 ff.), ethische (303 ff.) und philosophische (310) wahrhafte Früchte tragen, das ästhetische Niveau erhöht werden (S18 f.)

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und endlich das religiöse, d, i. das Menschheits- und EwigkeitsgefUhl ge- deihen. Die alte Jenseits-Religion hat ihre Rolle ausgespielt (351), die neue, reifere „innerhalb der Grenzen der Humanität", in die sie um- zubilden ist, und die für Natorp nur in dem Glauben an die Idee besteht , sie wird nicht künstlich gemacht werden, aber sie wird eines Tages von selbst da sein, „eine Frucht der sittlichen Erneuerung menschlicher Gemeinschaft" (352).

5. Tragen die Werke von Stammler und Natorp in erster Linie einen wissenschaftlichen, auf die methodisch-systematische Begründung eines idealistischen Sozialismus gerichteten Charakter, so verfolgt die vierte Schrift, die wir hier zu besprechen haben, Franz St au dingers „Ethik und Politik" (Berlin, Dümmler 1899, VI und 162 S.) neben ihrem wissenschaftlichen auch den praktischen Zweck, die Zeitgenossen auf „diejenigen materiellen und sittlichen Grundlagen hinzuweisen, auf denen allein eine Erneuerung des sittlichen Lebens möglich ist" (Vorwort S. III). Es werden demgemäss in dem zweiten Teile, der die (in dem ersten) gefundenen Prinzipien der Sozialethik auf die beutige Gesellschaft anwendet, auch bestimmte ethische und politische Zeitrichtungen (die Nationalsozialen, die Bodenreformer. die Gesellschaft für ethische Kultur und besonders die deutsche Sozialdemo- kratie) charakterisiert und kritisiert. Aber, wenn auch der Stilcharakter verschieden ist, so ist doch der Geist derselbe. Das Fundament ist auch für Staudinger der Kantische Gedanke vom Reich der Zwecke und der moderne Sozialismus in seinen Augen nur eine weitere Aus- bildung dieses in seinem Kern schon von der Prophetie des alten Bundes und der Jesuslehre verkündeten Gedankens. Staudinger stellt sich noch offener und entschiedener als jene beiden auf die Seite des Sozialismus, aber er verlangt auch ebenso entschieden im Interesse der wissenschaftlichen Konsequenz von ihm, dass er seiner Begründung „das Prinzip einheitlichen Erkennens und einheitliehen vernünftigen Wollens" bewusst zu Grunde lege. „Die analytische Begründung der Ethik durch Kant, wie sie durch Cohen, Natorp, Stammler u. a.*' hier vermeidet Stand, aus Bescheidenheit sich selbst zu nennen^)

1) Vgl. sein früheres Werk: Das Sittengesetz (2. Aufl. Berlin 1897) und manche kleinere Abhandlung.

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„weiter entwickelt worden ist, bildet die notwendige Ergänzung zu der vorwiegend historisch - kausalen Begründung der Marx- Engels'schen Schule" (Vorw. IV).

Weniger in äusserlichem Anschluss an Kant, dem er vielmehr mitunter (S. 45 und 65 A.) sogar entgegentritt, aber ganz im Sinne der uns nun bekannten Kautischen, wenn man will, neu kantischen Methode legt auch Staudinger den verschiedenen Sinn von kausaler und Zweckbetrachtung dar, und zwar werden diejenigen, denen diese Betrachtungsweise noch weniger geläufig ist, vielleicht gerade durch seine populärere Art, welche die Leitsätze durch zahlreiche Beispiele aus allen Gebieten zu illustrieren weiss, gewonnen werden. Ebenso wenig, wie die Begriffe ,, richtig (wahr)" und „falsch", haben „gut" und „schlecht" an sich etwas mit kausalem Werden zu thun. Und nicht auf den Inhalt, sondern auf die Einhelligkeit alles Erkennens kommt es der echten Wissenschaft an. „Wahr ist nur dann ein Satz, wenn er sich eindeutig in den Zusammenhang aller Erkenntnisse einfügen lässt" (17). Das entspricht ganz Kants „formaler Einheit der Erfahrung". Und gut ist eine Handlung oder ein Wille, „sofern und weil sie sich einheitlich in den Zusammenhang alles Lebens ( aller Zwecke) einfügen" (39). Das ist Kants formales Sittengesetz in etwas anderer Form. „Das Prinzip der wahren Moral ist also das Prinzip der Einheit menschlichen Denkens, Wollens und Handelns, unter gleichberechtigten Menschen." Es ist zugleich dasselbe Prinzip, das dem Christentum als Idee eines Reiches Gottes (also im Kantischen Sinne) zu Grunde liegt; nur ist es jetzt „in seinen inneren Be- dingungen erkannt und entfaltet" und „aus den Nebeln des Jenseits zu einer treibenden Kraft in dem Leben der Menschheit erhoben" ( 39 ). In diesem Sinne ist jene Einheit, nach der sich unser ganzes Wesen sehnt, ,,für uns wirklich Gott" (43), weil das Gute, der oberste Richtpunkt unseres Denkens und Wollens. (Ich sehe nicht ein. weshalb Staudinger sich S. 43 Anm. gegen Natorps in genau dem gleichen Sinne gebrauchten Ausdruck: das Unbedingte, wehrt; denn das „Unbedingte" erhält auch bei Natorp seinen Inhalt selbstver- ständlich erst aus der Erfahrung). Das sittliche oder, sagen wir be-

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stimmter, das sozialethische Ideal bestimmt Staudinger, sachlich in völligem Einklang mit Natorp und Stammler, als „die durch freie, gleichberechtigte Menschen zu schaffende Einheit des praktischen Ge- meinschaftslebens in Erkenntnis, Zweckordnung und Wille- (66 f.), später (S. 81, 84) h,uch geradezu mit Stammler als „die Gemein- schaft frei wollender Menschen".

Aus ihm entspringt alle Gemein seh aftsethik. Die Verdunke- lung dieses Einheitsstrebens dagegen ist der Quell aller Gewalt- ethik, die das Mittel über den Zweck stellt: als fanatischer Sekten- geist, als dogmatische Unterdrückungssucht, als nackte Literessen- politik oder gar als „satanische" Lüge und Heuchelei, Dem gegenüber bleibt die Aufgabe ethischer Politik: die vernunftgemässe Fort- bildung der gegebenen, geschichtlich gewordenen Ordnung jenem sozial- ethischen Endziele zu. Ihre Mittel sind: Erkenntnis und Organi- sation (80). Das dunkle Bewusstsein der Massen, ihr blinder Gefühls- drang zu mehr oder minder phantastischen Zielen muss sich abklären zu klarem Erkennen, zielbewusstem Wollen und organisiertem Handeln.

Freilich ist alle Ethik machtlos, sobald die historischen Be- dingungen zu einer sittlichen Erneuerung der Gesellschaft fehlen. „Die schönsten Grundsätze Mark Aureis können kein Rom vor dem Zusammenbruch retten, weil sie nicht als lebendige Triebkräfte einer Massenbewegung erscheinen" (80). Diese letzteren sieht Staudinger in der modernen Arbeiterbewegung. Das kapitalistische System ist nicht, wie der alte Liberalismus glaubte, ein System des Zusammen- lebens freier und gleicher Menschen (S. 111), sondern übersetzt nur die früheren persönlichen Herrschaftsformen in die unpersönliche des Kapitals. Dem gegenüber vertritt der Sozialismus die höhere Sitt- lichkeit; aber auch er hat noch manchen Rest der ihm gegenwärtig anhängenden Gewaltethik abzustreifen; er muss die Kontinuität der Entwicklung d. i. den steten Zusammenhang des Werdenden mit dem schon Gewordenen, den schon die Natur der Dinge vorschreibt, auch seinerseits nicht durchbrechen wollen, und den Weg der ver- fassungsmässigen Fortbildung wahren, soweit es an ihm liegt.

Dem Marxismus steht Staudinger ähnlich gegenüber wie Stamm-

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1er und Natorp, im ganzen aber doch wohl etwas näher. Er ver- g'leicht die Marx'scbe Methode mit derjenigen von Kant, insofern beide keine psychologischen Untersuchungen, sondern objektive Analyse des Gegebenen treiben. „Darum ist, wenn auch manche Einzeluntersuchuug verbesserungsfähig sein mag, an Prinzip und Me- thode der Marx'schen Forschung nichts auszusetzen. Wir vermögen an ihr keinen prinzipiellen Fehler, sondern nur einen Mangel zu ent- decken, der zu ergänzen ist" (110). Dieser Mangel liegt darin, dass Marx auf die Frage des Verhältnisses der Ökonomie zur Ethik nicht eingeht. Er will nur zeigen, welche Gesetze thatsächlich in der heutigen Volkswirtschaft wirken, weist dagegen jede Begründung ihres Rechtes oder Unrechtes ab. Das aber ist ein „unmögliches Unterfangen." „So lange der Marxismus das soziale Werden nach dem kausalen Gesichtspunkte wissenschaftlich verfolgt, ist er leistungsfähig und kann etwaige Irrtümer stets wieder nach wissenschaftlich-einheit- licher Methode korrigieren. Sobald er sich aber bewusste und planmässige Umgestaltung des Gegebenen zum Ziele macht, kann er den Massstab hierzu nicht in jenem kausalen Werden entdecken . . . Sobald der Marxismus dessen inne wird, kommt er In konsequenter Verfolgung seines eigenen Prinzips zu Kant", auf dessen Forschungen die Einsicht in das Gesetz der Zweckbildung ruht. Und umgekehrt bleiben ,,die Gesetze der Zweckbildung ein leeres Schema, sobald die Naturgesetze des thatsächlichen Lebens nicht die Grundlage darbieten. Sobald der Kantianer dies klar erkennt, kommt er in folgerechter Entwicklung seiner eigenen Grundgedanken zu Marx'', auf dessen Forschungen die Einsicht in die Gesetze der bisherigen wirtschaftlichen Entwicklung gegründet ist (159).

So ist Staudinger unter den Neukantianern denn diesen ist er trotz einzelner Divergenzen wegen seiner Methodik offenbar zu- zuzählen — derjenige, der die Möglichkeit einer Verbindung von Marxismus und Kritizismus am deutlichsten zum Ausdruck bringt, ihre Notwendigkeit am kräftigsten betont. Wir wären damit an der Grenze unseres Abschnittes angelangt und könnten nunmehr von den

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sozialisierenden Kantianern zu den kantianisierenden Sozialisten übergehen, wenn wir nicht noch einige litterarische Erscheinungen der letzten Zeit zu verzeichnen hätten, die, gerade weil sie von Ge- lehrten ausgehen, die bisher nicht als Kantianer bekannt waren, zeigen, wie sich innerhalb der verschiedensten wissenschaftlichen Kreise ein Drang in der bisher von uns beschriebenen Richtung bemerkbar macht.

6. Die von Professor Otto Gerlach (Königsberg) zum Kant- geburtstag 1899 in der Kantgesellschaft zu Königsberg gehaltene Rede über „Kants Einfluss auf die Sozialwissenschaft in ihrer neuesten Entwicklung" (jetzt abgedruckt in der Tübinger „Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft" 1899, S. 644 663) freilich ist ihrem wesentlichsten Inhalt nach nur ein, seiner Klarheit wegen recht lesenswertes, Referat über Stammlers oben von uns besprochenes Buch. Auch Gerlach zeigt, wie Stammlers Frage- stellung und Methode durchaus die des Kritizismus ist und nichts zu thun hat mit der sogenannten ethischen Richtung der National- ökonomie, in die Sombart ihn einzureihen versucht hat sondern aus den eigenen Erkenntnisbedingungen der Sozialwissenschaft deren eigenartige Methode und Gesetzlichkeit begründet. Er schlägt (S. 662) vor, Stammlers Lehre als ,. realistischen Idealismus" zu be- zeichnen und ist überzeugt, dass sie berufen sei, ,, einen Markstein in der Geschichte der Sozialwissenschaft zu bilden und diese in die von der Kantschen Philosophie gewiesenen Bahnen hineinzuleiten" (648). Die „bislang noch immer schwankenden Fundamente der- selben", so schliesst er seine Ausführungen (668), werden durch den neu in ihr erwachten Geist Kants ,,eiue gesicherte Grundlage er- halten."

Der „Riesenfortschritt" des sozialen Bewusstseins, von dem Cohen (s. oben S. 17) sprach, ist in der That unleugbar. Er giebt sich in der täglich mehr anschwellenden sozialethischen Litteratur zu er- kennen. Wir greifen aus der letzteren zwei hervorragendere Er- scheinungen heraus, weil auch in ihnen das ,.Zurück auf Kant!" deutlich zu verspüren ist, wenn auch nicht so sehr in Beziehung auf

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die wissenschaftliche Methode, als auf den ethischen Standpunkt. Insbesondere ist dies bei dem zuerst zu nennenden der Fall.

7. Theodor Lipps hat in zehn, teilweise im Volkshochschul- rerein zu München gehaltenen, Vorträgen ,,Die ethischen Grund- fragen" erörtert (als Buch gedruckt bei Leopold Voss, Hamburg, und Leipzig 1899, 308 S.). Als solche betrachtet er: L Egoismus und Altruismus. 2. Die sittlichen Grundmotive und das Böse. 3. Eudämonismus und Utilitarismus. 4. Gehorsam und sittliche Freiheit. 5, Das sittlich Richtige. 6. Die obersten sittlichen Normen und das Gewissen. 7. Das System der Zwecke. 8. Soziale Organismen (Familie und Staat). 9. Die Freiheit des Willens. 10. Zurechnung, Verant- wortlichkeit und Strafe. Seinem populären Zwecke entsprechend, enthält das Buch keine gelehrten Citate (von denen übrigens auch die besprochenen Schriften von Cohen, Natorp und Staudinger fast völlig frei sind). Um so bemerkenswerter ist, das Lipps, der uns früher nicht als Kantianer bekannt war, von Philosophen einzig und allein Kant hervorhebt und sich an dessen ethische Grundprinzipien durch- aus anschliesst. Besonders erfreulich war uns, dass er, wie wir, den vielgescholtenen ,, Formalismus" der Kantischeu Ethik verteidigt und nachweist, wie gerade in ihm ihr Inhaltsreichtum begründet liegt (158 f.). Doch wir haben hier nur festzustellen, dass er mit aus- drücklicher Berufung auf Kant und aus dessen ethischen Prinzipien auch seine sozialen Gedanken ableitet.

„Niemand kann nach sittlichem Rechte Herr sein, ohne . . . zugleich Dien er zusein, nämlich Diener des absoluten sittlichen Zweckes, . . . auch in der Person des Dienenden. Und jeder, der dient, soll zu- gleich Herr sein, d. h. eine des sittlichen Gesamtzweckes und ihres eigenen sittlichen Lebenszweckes sich bewusste Persönlichkeit. Jedes andere Herrschen und jedes andere Dienen ist unsittlich" (157). Das Sittengesetz sagt: Habe alle möglichen menschlichen Zwecke und stifte zwischen ihnen eine für alle Fälle und für alle Menschen gültige Ordnung (159). Wenn Lipps (mit Theobald Ziegler) die soziale Frage als sittliche Frage auffasst (190), so geschieht das •doch in dem gleichzeitigen Bewusstsein, dass zugleich um mit

Vorländer, Kant nud der Sozialismus. 3

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Staudinger zu reden „die sittliche Frage eine soziale Frage" ist,^) Menschen müssen zunächst leben; Menschen sollen aber auch als Menschen leben (189), sich als sittlicher Selbstzweck, nicht als Arbeitssklaven bethätigen und fühlen (189 f.). Deshalb muss das Klassen- und Privilegienrecht übergehen in das sittliche Menschen- recht (232). Das letzte Ziel aller Staatsordnung ist die volle sitt- liche Rechtsordnung, d. h. der vollkommene sittliche Organismus der Menschen (237), ein Reich der sittlichen Menschheit, „ein Reich Gottes auf Erden" (238). Die jetzt bestehende Eigentumsordnung und Staatsverfassung sind nur so lange unantastbar, als sie sittlich zweckmässig sind, d. i. „mehr als andere geeignet, den sittlichen Endzweck des Staates, die Verwirklichung der starken, reichen und reien Persönlichkeit zu fördern" (235). Wären wir überzeugt, dass dies nicht mehr der Fall, so hätten wir die Pflicht, .Jeder' an seinem Teile, an dem Umbau dieser Grundpfeiler der bestehenden sozialen und staatlichen Ordnung mitzuarbeiten" (ebd.). Revolution, als „sitt- liche Notwehr" kann Pflicht sein, heiligste Pflicht. ,,Kein ^'olk hat das Recht, sich sittlich zu Grunde richten zu lassen .... Die sitt- liche Höhe der Menschheit ist das höchste Gesetz und das absolute Recht" (239).

So kraftvoll und unerschrocken redet, von Kants kategorischem Imperativ ergriffen, der Münchener Philosoph. Wenn er auch die Spezialanwendung auf das eigentlichste Gebiet des Sozialismus, das wirtschaftliche, nicht vollzieht, und mehr als Soziale thiker denn als Sozialökonom auftritt, so kann darum in weiterem Sinne doch auch er zu der bisher von uns charakterisierten Gruppe der Kantisch beeinflussten sozialen Idealisten gerechnet werden.

8. In gewissem Sinn ist das auch mit dem letzten hier zu be- sprechenden Gelehrten, dem Professor an der tschechischen Universi- tät Prag, Th. G. Masaryk, der Fall. Sein ebenfalls aus akade- mischen Vorträgen entstandenes Buch: Die philosophischen und

1) Vergleiche den unter obiger Überschrift erschienenen schönen Aufsatz Staudingers in den Piiilosophischen Monatsheften (herausg. von Natorp) XXIX (1893) S. 30—53 und 197—219.

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soziologischen Grundlag-en des Marxismus (Wien, C. Konegen 1899, XV und 600 Seiten) giebt als ,, Studien zur sozialen Frage" eine eingehende und mit vielem bibliographischen Material ausge- ■stattete, freilich nicht sehr einheitliche Darstellung und Kritik des Marxismus. Hier interessiert uns zunächst nur die eigene kritische und systematische Stellung des Verfassers, der in der neuesten x\uflage von Ueberweg-Heinze (III 1, 493) als Comte-Spencerscher Positivist bezeichnet wird.

In einer Replik gegen einen seiner Kritiker (Neue Zeit vom 18, November 1899, XVIII 1, S. 217f.), meint er nun allerdings, dass er ebenso wenig Positivist sei, als er eine „Rückkehr zu Kant" verlange. Dennoch hat der betreffende Kritiker (Antonio Labriola) nicht ganz Unrecht, wenn er in Masaryks Buch, falls er „richtig ver- standen habe", die „Rückkehr zu Kant" gepredigt sieht (Neue Zeit, XVIII S. 76). Gewiss schliesst sich Masaryk nicht ausdrücklich an Kant an, wie denn überhaupt sein stofflich sehr reichhaltiges Buch einen einheitlich durchgeführten methodisch-systematischen Stand- punkt sehr vermissen lässt. Dass er in die Tiefen Kantischer Philoso- phie nicht eingedrungen ist, zeigen Aussprüche, wie die : die Philoso- phie Kants wie die Humes sei „subjektivistisch" und deshalb „ent- schieden individualistisch'' (S. 199), Kant habe sich in der „Frage aller Fragen'' nämlich der „der schöpferischen Spontaneität" mit einer „merkwürdigen Doppelseitigkeit von empirischer Unfreiheit und Freiheit, die von der reinen Vernunft postuliert werde, beholfen" (234) u. a. m. (vgl. noch S. 462, 482). Dennoch steht er in dem philosophischen Ergebnis seiner Untersuchungen dem Kritizismus nicht fern.

Nicht nur huldigt er entschieden einer ethischen Begründung des Sozialismus, die er freilich mehr behauptet als selbst me- thodisch durchführt: „Wie jedes Denken logisch, so soll jedes Handeln ethisch sein" (228). „Die Politik ist gleich allen praktischen Wissenschaften auch der Ethik untergeordnet" (227). „Das soziale Ideal lässt sich (wie im Anschluss an Stammler gesagt wird) nur ethisch begründen" (229). Sondern auch philosophisch nähert er

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sich dem Kritizismus gerade in den Schlussparagraphen des theo- retischen Teils doch recht stark. „Der Materialismus ist noetisch und metaphysisch unhaltbar, auch der Positivismus genügt nicht. Wenn wirklich ein Erwachen aus dem ideologischen Schlaf statt- finden soll, so muss das erwachende Bewusstsein uijd Denken vor allem die Feuerprobe der erkenntnistheoretischen Kritik be- stehen — der Kritizismus jedoch ist das Grab des Materialis- mus. Die jüngeren Marxisten sprechen darum schon von der Rück- kehr zu Kant" (512). „Den Aufgaben der Zeit ist bloss eine neue schöpferische Synthese gewachsen" (513), die vor allem das „noetische"- Problem: „Was ist Wahrheit?" zu lösen, die blosse Skepsis zu über- winden hat. „Dieser Aufgabe unterzog sich unter anderen auch (I) Kant am umfassendsten und tiefsten; darin liegt die historische und kulturelle Bedeutung seines Kritizismus" (514; vgl. auch 553j. Und wenn das Problem der „neuen Philosophie" nicht bloss theoretisch, sondern auch praktisch ist, wenn es sich um neues Leben handelt, so hat auch hier Kant bereits den Weg gewiesen (515. vgl. auch 17 f., 509 und 535).

Wir haben Masaryk in unseren Aufsatz, wie gesagt, nur ein- gereiht, weil wir auch in seinem Buche ein Zeichen der Zeit in dem von uns angedeuteten Sinne erblicken. Die neue Sozialphilo- sophie, die eine systematische Verbindung von Sozialismus und Kantianismus ermöglicht, und der auch wir anhängen, finden wir nicht bei ihm, sondern bei Natorp, Stammler und Staudinger ent- wickelt. Wie verhält sich nun dem gegenüber der Sozialismus im engeren Sinne, insbesondere der „wissenschaftliche Sozialismus" oder Marxismus? Kann man, wie dort von sozialistischen oder sozialisieren- den Kantianern, so hier von Kantischen oder doch kantianisieren- den Sozialisten sprechen?

Darauf soll unser dritter und letzter Abschnitt antworten.

III. Von Lassalle soll hier nicht geredet werden, da er keine zu- sammenhängende wissenschaftliche. Begründung des Sozialismus ge-

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geben hat. Marx und Engels, die Begründer des „wissenschaft- lichen Sozialismus", haben entschieden an Kant nicht angeknüpft. Es ist eine andere Frage, ob nicht trotzdem, wie Staudinger (s. oben S. 31) und Woltmann (s. unten) meinen, gewisse gemeinsame Züge zwischen ihrer und der Kantischen Denkweise obwalten, oder ob nicht, wie wir mit Natorp, Stammler und Staudinger zu behaupten geneigt sind, von uns eine systematische Verbindung zwischen beiden hergestellt werden kann. Historisch und im Bewusstsein der beiden sozialistischen Denker lag die Sache jedenfalls so, dass sie sich zu dem kritischen Idealismus, wie zu einer idealistischen, ethischen Be- gründung des Sozialismus überhaupt, theoretisch wenigstens, in einen entschiedenen Gegensatz gestellt haben.

1. Zwar hat Marx als Student, wie er in einem vor zwei Jahren^) von seiner Tochter Eleanor veröffentlichten Briefe an seinen Vater schreibt, anfangs dem Idealismus angehangen und ihn „mit Kantischem und Fichtesehem verglichen und genährt", aber schon als Neunzehnjäriger ist er, wie er ebendort berichtet, davon abge- kommen, um „im Wirklichen selbst die Ideen zu suchen." Und in seinen späteren Schriften findet sich kaum noch eine Anspielung auf Kant^ während er bekanntlich von Hegel und Feuerbach stark beeinflusst war und blieb. Masaryks Buch, dessen Hauptwert gerade in der eingehenden historischen Darstellung der philosophischen Grund- lagen des Marxismus beruht, findet in ihm alle möglichen -ismen (nicht weniger als 24 an der Zahl, vom „Astatismus bis zum Ultra- positivismus",^) nur nicht den Kritizismus. Und Woltmann, der Marx möglichst nahe an Kant heranrücken möchte, muss doch von vorn- herein^) zugeben, dass Marx „sich dieses prinzipiellen Zusammen- hangs nicht klar bewusst gewesen ist."

2. Nicht viel anders steht es mit seinem Freunde Eng e 1 s. Engels

1) Neue Zeit XVI, 1, S. 9.

2) Vgl. des Näheren meinen Artikel in No. 50 der Ethischen Kultur 1899 : Zur Kritik der marxistischen Weltanschammg.

3) Vorwort S. VI seines unten noch zu besprechenden Buches: Der

historische Materialismus-

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hat zwar in seinem Aufsatz über Feuerbach ^) die deutsche Arbeiter- bewegung als die „Erbin der deutschen klassischen Philosophie'' bezeichnet und 1S91 einmal unter sein Bild geschrieben: „Wir deutschen Sozialisten sind stolz darauf, abzustammen nicht nur von Saint-Simon, Fourier ^md Owen, sondern auch von Kant, Fichte und Hegel" ; aber als eigentlicher Kepräsentant der „klassischen" Philosophie gilt ihm und Marx doch nur Hegel. Vor Kant zeigt er zwar stets Hochachtung, aber er ist in dessen Philosophie nicht tiefer ein- gedrungen. So nennt sein Antidühring^) den Königsberger Philosophen an verschiedenen Stellen (S. 8 f., 16, 37 f., 46 f., 56j, ohne sich doch im mindesten von dessen erkenntniskritischer Methode berührt zu zeigen. Ja, im ,, Feuerbach" (S. 181.) zeigt er so wenig Verständnis des Kantischen „Dings an sich", dass er diese „philosophische Schrulle" einfach durch das chemische Experiment für widerlegt er- klärt, was ihm selbst von seinem Parteigenossen Woltmann (a. a. 0. S. 25, vgl. näher S. 306 ff. ) den Vorwurf „grauenhafter Unkenntnis" zuzieht. Die „Neubelebung der Kantschen Auffassung in Deutschland durch die Neukantianer" sei „der längst erfolgten theoretischen und praktischen Widerlegung gegenüber, wissenschaftlich ein Kückschritt und praktisch nur eine verschämte Weise, den Materialismus hinter- rücks zu acceptieren und vor der Welt zu verleugnen"! (ebd. S. 19). Und Kants kategorischer Imperativ wird in derselben Schrift wiederholt (S. 27 und 40) für ,, ohnmächtig" erklärt, „weil er das Unmögliche fordert, also nie zu etwas Wirklichem kommt". Kurz, beide Freunde kennen, nach ihren litterarischen Äusserungen zu urteilen, von der neueren Philosophie genauer nur Feuerbach und Hegel. Wenn sie von Philosophie oder Metaphysik reden, so ist darunter in der Regel die Hegeische Spekulation zu verstehen.^)

3. Diese philosophischen Ansichten von Marx und Engels haben

'j Fr. Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. Stuttgart, Dietz 1888. S. 68.

2) Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, 3. Aufl. Stuttgart, Dietz 1894.

3) In diesem Urteil stimmen auch die zwei neuesten, von einander ganz «inabhängigen Kritiker des Marxismus, Masaryk und Wolfmann, überein.

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unter ihren Anhängern und Nachfolgern bis vor kurzem keinen Widerspruch gefunden. Galt doch der Anti-Dühring noch Winter 1894/5 nicht bloss Kautsky (Neue Zeit XIII 1, 715), sondern auch noch Bernstein (ebd. S. 142 ff.) als ein „Lehrbuch ersten Ranges." So ist es denn auch nicht zu verwundern, wenn sich das wissenschaftliche Organ des Marxismus, die ,,Neue Zeit", bis vor etwa zwei Jahren mit Kant so gut wie gar nicht beschäftigt hat. Wir haben zwölf Bände derselben die Jahrgänge 1890/1 bis 1895/6 daraufhin durchmustert und nur an ganz wenigen Stellen eine ganz oberflächliche Berührung mit Kant gefunden. Leopold Jakoby polemisiert einmal (Xll 2, 59 f.) gegen Kants Raumbegriff, und Bernstein wendet sich gelegentlich eines Aufsatzes über F. A. Lange und Ellissens Lange- Biographie, in ganz ähnlicher Weise wie Engels und im Anschluss an dessen „Feuerbach", gegen den Neukantianismus (X 2, 102 f.) und Kritizismus (104 f.), der mit einem „Kirchgang" endige! Engels wieder- holt (XI 1, 18 f.) seine vermeinte Widerlegung des Kantschen Ding an sieh durch das chemische Experiment. Von Kant im Zusammenhang mit sozialen Problemen ist erst recht nicht die Rede. Ein historisch- darstellender Aufsatz H. Cunows über „Soziologie, Ethnologie und materialistische Geschichtsauffassung" übergeht sogar Kants Geschichts- philosophie völlig und geht von Herder sofort zu Hegel über. Eine gewisse Ausnahme macht nur ein nichtdeutscher Sozialist, dessen Vortrag über ,,die idealistische Geschichtsauffassung" in Band XIII, 2 der „Neuen Zeit" abgedruckt wurde. Auf ihn aber haben wir aus- führlicher einzugehen.

4. Der erste ausgesprochene Sozialist nämlich, der ausdrücklich auf Kant als geistigen Miturheber des deutschen Sozialismus hingewiesen hat, ist Jean Jaures, der, ehe er als Vorkämpfer des Sozialismus in die politische Arena trat, eine Dissertation: Deprimis socialismi Germanici lineamentis apud Lutherum, Kant, Fichte et Hegel (Tolosae. Chauvin. 1891, 83 S.) geschrieben hat. Schon um der Person des Verfassers, des bekannten hervorragenden Führers der französischen Sozialisten, willen bietet es wohl ein gewisses Interesse, wenn ich aus der in Deutschland fast unbekannt gebliebenen nur

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Vaihinger hat in seinem Litteraturberieht im Archiv für Geschichte der Philosophie VIII, 559 eine kurze Notiz darüber gebracht und nicht im Buchhandel befindlichen Schritt Ausführlicheres mitteile. (Ich gestatte mir dabei, das keineswegs klassische Latein des damaligen Professors von Toulouse ins Deutsche zu übertragen.)

Jaures erklärt auf S. 3 rund heraus, dass er den ..wahren" Ursprung des Sozialismus nicht auf den Materialismus der „äussersten Hegeischen Linken'", sondern auf den Idealismus eines Luther, Kant, Fichte und Hegel zurückführe. Wenn der heutige deutsche Sozialis- mus unter dem Schilde des Materialismus kämpfe, so sei dies nur ein Charakterzug des gegenwärtigen Kriegszustandes (tanquam belli praesentis habitus), nicht des „zukünftigen Friedens". „Im innersten Herzen des Sozialismus lebt der Geist des deutschen Idealismus". Die „wahren Sozialisten" seien Schüler der deutschen Philosophie, ja des deutschen Geistes selbst gewesen. „Die Dinge gehen aus den Ideen hervor, die Geschichte hängt von der Philosophie ab". Wohl sei in England, dem klassischen Lande des Kapitalismus, dessen Prozess geschaut und beschrieben worden, aber von einem, deutschen Hegelianer (S. 4).

Seine interessanten Ausführungen über die ,, ersten Grundlinien des Sozialismus" bei Luther (S. 4 26), die hauptsächlich an dessen Schrift über den Wucher (S. 15if.j anknüpfen, müssen wir hier übergehen und uns zu dem zweiten Kapitel (S. 27 43) wenden, das über den Staatsbegriif von Kant und Fichte handelt. Schon in dem ersten KapiteL war ausgeführt worden, dass der deutsche Geist, im Gegensatz zu dem französischen, zum Allgemeinen, daher auch zum Sozialismus neige, und im Anschluss daran (S. 11 f.) von Kant gesagt: „Immanuel Kant selbst, obwohl er den menschlichen Willen für absolut frei erklärt hat, setzt dennoch die Freiheit selbst nicht in das reine und leere Vermögen, Entgegengesetztes zu wählen, sondern definiert sie als die allgemeingültige Richtschnur der Pflicht (universalis officii norma). Der Mensch ist frei, weil er die Pflicht erkennt, was ihm mit allen vernünftigen Geschöpfen gemein ist. Jeder Mensch ist frei durch das Sittengesetz (lex moralis). welches

) «

erhaben ist über Erde, Himmel und die gesamte Menschheit." Freiheit sei eben den Deutschen identisch mit Gesetz und Gerechtigkeit.

Einen anderen Unterschied des deutschen und des französischen Geistes findet nun J. im zweiten Kapitel darin, dass der erstere im Gegensatz zum zweiten zur Vermittlung und zur Synthese neige. So verbinde auch Kant die aus Frankreich (Rousseau) herüberge- kommenen Freiheitsideen mit dem preussischen Staatsgedanken eines Friedrich IL (S. 27 ff.). Kant scheine zwar zunächst die individuelle Freiheit jedes Einzelnen als die Grundlage des Rechtes zu betrachten. (S. 33). „Jeder Mensch ist frei, weil er die Pflicht erfüllen und dem Gebote des Sittengesetzes gehorchen soll: wer soll, kann auch. Daher ist auch jeder Mensch in Bezug auf seine Freiheit den andern gleich; und da ein jeder . . eine Person und keine Sache ist, kann kein Mensch den anderen als eine Sache gebrauchen; der Mensch ist kein Mittel, sondern sich selbst Zweck". Diese Freiheit wird nur durch die Rücksicht auf die Freiheit eines jeden Anderen einge- schränkt. Zu jedem Rechtsgesetz ist die Zustimmung des ganzen Volkes nötig. Aus dem ,, ursprünglichen Vertrag", dem pactum sociale, leiten sich alle rechtmässigen Gesetze her. Hiernach sollte man Kant für einen französischen Revolutionsphilosophen halten (34). aber dem gegenüber erscheint nun andererseits die Idee des Staats, der nicht die blosse Summe der Einzelwillen ist, sondern ,.eine Art innerer V^ernunftwillen des Volkes" (interna quaedam et rationalis populi v,oluntas), dem sonach mit Recht die höchste Macht inne wohnt, gegen den eine Empörung nicht erlaubt ist (35 f.). Damit hat Kant, wie Jaures (37) meint, dem Sozialismus zwar nicht ,, ausdrück- lich beigestimmt", aber ihn doch ,,warm vertreten" (fovit).

Was dagegen die Verteilung des Besitzes angehe, so stehe Kant dem Sozialismus bald näher bald ferner. Er behaupte freilich, die politische und menschliche Freiheit und Gleichheit könne ohne wirtschaftliche Gleichheit bestehen, und acceptiere die Unter- scheidung von aktiven und passiven Staatsbürgern, „welche zuerst die Gesetzgeber der Revolution beschlossen haben" (!), wonach der. Unselbständige kein Stimmrecht habe, während ihm der spätere

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Zugang- zur Selbständigkeit ofifen stehe (vgl. unsere obigen Aus- führungen über Kant S. 14 f.). Das klinge antisozialistisch, führe aber in seinen Konsequenzen gerade zum Sozialismus. ,,Denn dieser erklärt, dass die politische und yjhilosophische Gleichheit nur ein Gespötte sei, wenn nicht ein gewisses Auskommen allen Bürgern zu Gebote stehe, und dass die armen Bürger, auch wenn sie das] Stimm- recht besitzen, dennoch passive seien, da ihr Leben von dem Willen anderer abhänge". Nun schreibe aber Kant auf die Fahne des Staates: Freiheit, Gleichheit, wirtschaftliche Selbständigkeit (Besitz). Also müsse man, wenn man allen Menschen die Thore des Staates wieder öffnen wolle, sie auch alle ,,zur Teilnahme an den Gütern der Erde und zur Selbständigkeit rufen. Das aber ist Sozialis- mus'' (38).

Übrigens, fährt J. fort, fliesst auch das Besitzrecht selbst nach Kant nicht aus dem Individualwillen des Einzelnen occupatio non est possessio , sondern aus dem ursprünglichen Vertrag. Da der Erdboden allen Menschen zum Wohnsitz angewiesen ist, so ist die Bodengemeinschaft eine ursprüngliche, in der Idee. Wie fern sind wir hier von der vulgärökonomischen Doktrin! (S. 39). Ist aber der Staat Obereigentümer des Bodens, so muss ihm auch das Recht zustehen, die Besitzbedingungen zu ändern. Und „wird nicht jeder Mensch versuchen, jene vernunftgemässe und ausserzeit- liche Gemeinschaft des Bodens und der Reichtümer in eine reale, historische und gegenwärtige umzuwandeln?" (40.)

So lautet denn das Resultat bezüglich des Königsberger Philoso- phen: „Obwohl Kant gleichsam das ganze Menschentum in die Frei- heit gesetzt und politisch dem Sozialismus widerstrebt hat. so stimmt er doch in philosophischer Hinsicht durch seine Staats- und Besitzidee mit dem Sozialismus überein ... Individualismus und Sozialismus treten sich nicht als Gegensätze gegenüber, sondern werden mit einander versöhnt'' (40). Fichte sei ein er- weiterter Kant, er stelle die Versöhnung von Anarchismus (er- weitertem Individualismus) und Kollektivismus (erweitertem Sozialis- mus) dar (41), während Lassalle die Dialektik mit der Idee der

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ewigen Gerechtig-keit, Hegel-Marx mit Fichte verbinde (S^jJ '-Doch wir können auf das Kapitel über Fichte (44 57), sowie auf die Er- örterungen über Hegel, Marx und Lassalle (58—82) nicht näher ein- gehen und weisen nur noch auf die Schlussgedanken des Ver- fassers hin. Nachdem er von Lassalle gesprochen, schliesst er: so stimme der dialektische Sozialismus mit dem moralischen, der deutsche mit dem französischen Uberein, und die Stunde sei nicht mehr fern, wo ein einziger universaler Sozialismus alle Herzen, Geister und Gewissen vereinigen werde. Wolle man also den deutschen Sozialismus verstehen, so sei es nicht genug, ihn in der „eigentümlichen and vorübergehenden Gestalt, den ihm Bebel und die übrigen geben", zu erlassen, sondern man müsse seine sämtlichen Quellen aufsuchen : den christlichen Sozialismus eines Luther, den morali- schen eines Fichte, den dialektischen eines Hegel und Marx. Der Sozialismus ist nicht Sache einer kleinen Partei, sondern der Mensch- heit, er ist sub specie humanitatis et aeternitatis zu betrachten (83). Vier Jahre später hat sich derselbe Jaures allgemeiner über die .„idealistische Geschichtsauffassung" überhaupt in einer Diskussion mit Paul Lafargue (dem Schwiegersohn und strikten Anhänger von Marx), die „im Quartier Latin in einer öffentlichen, von der Gruppe kollektivistischer Pariser Studenten einberufenen Versammlung" ge- halten wurde, ausgesprochen.^) Die materialistische Auffassung der Geschichte, so entwickelt er hier, schliesst die idealistische nicht aus; eine Synthese beider ist erforderlich. Übrigens sei der Marx- sche historische Materialismus keineswegs gleichbedeutend mit dem physiologischen und ebenso wenig mit dem ethischen Materialis- mus, der alle menschliche Thätigkeit dem Zwecke unterordne, „die physischen Bedürfnisse zu befriedigen und das individuelle Wohl zu erstreben" (a. a. 0. S. 545 f.). Nach der idealistischen Geschichts- auffassung trägt die Menschheit von vornherein die Keime einer Idee von Recht und Gerechtigkeit in sich (546), und diese Idee wird zur treibenden Kraft des geschichtlichen Fortschritts, der gesellschaftlichen

ij Abgedruckt in Neue Zeit XIII, 2, (1894/5), S. 545—567.

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Umgestaltung (547). Jaures scheinen beide Auffassungen keine un- überwindlichen Gegensätze, beide können und müssen sich versöhnen, „einander durchdringen" (551), denn das wirtschaftliche und das moralische Leben sind von einander nicht zu trennen (554). Kant speziell spielt in diesem Vortrag keine bedeutendere Rolle, er wird nur in der Reihe der neueren Philosophen (neben Descartes, Leibnitz, Spinoza und Hegel) aufgeführt, deren Bestreben auf die Synthese der fundamentalen Gegensätze Natur und Geist, Notwendigkeit und Frei- heit geht (549). Dagegen steht Jaures dem oben geschilderten Grundgedanken der transscendentalen Methode nicht fern, wenn er dem Menschen „von Anfang an, sogar noch vor der ersten Äusserung seines Gedankens, den Sinn der Einheit" zuschreibt (553) und meint, der Mensch sei von Anfang an ,,ein metaphysisches Tier" ge- wesen, „denn das Wesen der Metaphysik besteht ja in der Erforschung der Einheit des Alls, welche alle Vorgänge und Erscheinungen, alle Gesetze in sich begreift" (554).

5. Jaures' Dissertation scheint in den marxistischen Kreisen nicht bekannt geworden zu sein. Die neue Kantbewegung, die sich inner- halb dieser Kreise seit nicht viel mehr als zwei Jahren bemerkbar gemacht hat, knüpft nicht an ihn an, sondern ist in Deutschland spontan entstanden. Eine bessere Würdigung des kritischen Philo- sophen zeigte hier zuerst ein an die bekannte Kantbiographie von M. Kronenberg anknüpfender längerer Artikel von Conrad Schmidt (3. Beilage zum „Vorwärts" vom 17. Oktober 1897).

Schmidt meint, dass „die Vereinigung von genialer Tiefe und wissenschaftlicher Klarheit des Gedankenganges, die Kant aufweist, von keinem der späteren Philosophen erreicht" sei. „Da, wo diese tiefer graben wollten, als es Kant gethan, verfielen sie meist einem mystisch metaphysischen Gedankenspiele, das nur äusserlich die Formen wissenschaftlicher Darlegung annahm." Er setzt sodann aus- einander, wie dagegen Marx und Engels in Hegel, von dessen Ideen sie in ihren Jugendjahren aufs tiefste ergriffen worden waren, auch später noch den höchstentwickelten Repräsentanten des philo- sophischen Denkens sahen. Gegenüber der tiefsinnig träumenden und

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dichtenden Metaphysik Hegels sei es jetzt, wo der von Heg-el idealistisch-g-ewaltsam zurechtkonstrulerte Entwicklungsg-edanke über- all in die besonderen Wissenschaften eingedrungen sei, an der Zeit, zu einer wissenschaftlichen Philosophie zurückzukehren, „die sich von solchen Schwärmereien fern hält und klar begrenzte Probleme, die ausserhalb des Gebietes der speziellen Wissen- schaften liegen, durch scharf eindringende, verstandesmässige Zer- gliederung zu lösen sucht." Der grösste Vertreter dieser wissen- schaftlichen oder kritischen Philosophie aber sei Immanuel Kant. Die Bedeutung seiner Kritik liege nicht so sehr in der Zerstörung der alten Metaphysik an sich, als in der eigentümlichen Weise, in der sie deren Haltlosigkeit nachwies, indem sie diesen Nachweis auf die tiefste Zergliederung der menschlichen Erkenntnis gründete. Bis hierher ist alles gut. In den dann folgenden Erörterungen geht Schmidt leider von dem glücklich gewonnenen methodischen Stand- punkt wieder etwas zurück. Er sieht das Centrum und das „wahrhaft Fruchtbare" der Kantischen Erkenntnistheorie nicht, wie wir ge- wünscht hätten, in dem Nachweis der synthetischen Grundsätze als Bedingungen der mathematischen Naturwissenschaft, sondern in einer an F. A. Lange erinnernden Weise, in der „genialen Unter- suchung über die Zusammensetzung und das Zusammeuspiel unserer seelisch-geistigen Organisation, durch welche die Erscheinungswelt zustande kommt", also in einer psychologischen Zergliederung, deren hohen Wert auch für die „natürlich gegebene" materialistische Auffassung er betont. Die Aufdeckung der Struktur unseres Yor- stellungsvermögens sei die eigentliche, mit bewunderungsw^ürdigstem Scharfsinn in Angriff genommene Aufgabe der Kritik der reinen Vernunft. Kant habe sie zwar nicht „endgültig" gelöst, aber jeder Versuch tieferen Eindringens in diesen „geheimnisvollen Schacht" müsse durch Kant hindurch, mit ihm abrechnen. „Ohne solche Ab- rechnung kein Fortschritt in der Erkenntnistheorie, die mit der Logik zusammen den eigentlichen Gegenstand wissenschaftlicher Philosophie bildet".

Während Schmidt so auf erkenntnistheoretischem Gebiete

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erfreulicherweise mit einem „Zurück auf Kant!" endigt, erscheint ihm dagegen Kants Moralphilosophie als ein ,, ungeheuerlicher Ver- such, ein rein logisches Verhältnis zum Prinzip des Sittlichen zu machen,'' das. wie er mit so vielen anderen meint, „damit von jeder Rücksicht auf das Fühlen, Begehren und die realen Zwecke des Lebens losgelöst wäre." Er hat noch nicht erkannt, dass auch die Ethik, wenn anders sie Anspruch auf den Charakter einer Wissen- schaft erhebt, der strengsten erkenntniskritischen Begründung bedarf, und dass gerade ihr ,, Formalismus'' sie zu der fruchtbarsten An- wendung auf ,,das Fühlen, Begehren und die realen Zwecke des Lebens" befähigt.M

Wegen dieses und eines anderen (gegen ein Buch Plechanows) gerichteten Artikels hat C. Schmidt ein Jahr später von G. Plechanow einen heftigen Angriff erfahren,"^) worauf er seinerseits in derselben Zeitschrift erwidert hat. Da indessen die Leser der ,,Kantstudien" durch Staudingers Aufsatz im vorigen Hefte über diesen Streit, der sich wesentlich in eine Polemik über das Kantische ,.Ding an sich'' zuspitzte, unterrichtet sind, so können wir von einer Dar- stellung desselben absehen, zumal da er für die inneren Beziehungen zwischen Kantianismus und Sozialismus kaum von Bedeutung ist. Im folgenden nur ein Zeugnis dafür, in welchem Grade Plechanow von Vorurteilen gegenüber Kant befangen ist. Zu einer Zeit, in der bedeutende Kantianer sich dem Sozialismus, bedeutende theoretische Vorkämpfer des Sozialismus sich Kantischen Anschauungen nähern, er- blickt er in dem kritischen Idealisten den Philosophen derBourgeoisiel Die Bourgeoisie hoffe, ,,iu Kants Philosophie das Opium zu finden, durch das sie das Proletariat einschläfern möchte, das immer begehr- licher und unlenksamer wird." (!) ,,Der Neokantianismus ist für die herrschende Klasse gerade deswegen in die Mode gekommen, weil

1) Den zum Schluss erfolgenden Hinweis Conrad Schmidts auf Kants „V^er- suoh, die negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen" (1763) als Vor- läufer der Marxschen Dialektik, auf den wir hier nicht eingehen können, möchten wir der Beachtung der Kantfreunde empfehlen.

2) „Conrad Schmidt gegen Karl Marx und Friedrich Engels'-, Xeiie Zeit XVn, 1, S. 133—145.

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er ihr eine geistige Waffe im Kampf ums Dasein liefert" (a. a. 0. S. 145). Als ob das, was Plechanow unter „Bourgeoisie" versteht, sich um Kantische Philosophie auch nur im mindesten kümmerte I Mit Recht hat sich C. Schmidt in seiner Replik (a. a. 0. S. 333) über die Fiktion der in „Fonds und Kantischer Philosophie spekulierenden" Bourgeois lustig gemacht.^) Der wahre Grund von Plechanows Vorgehen enthüllt sich als ein parteipolitischer. „Das Zurückgehen auf Kant, das sich manche Genossen angelegen sein Hessen, ist ein schlimmes Zeichen"; denn „es ist ein Ausdruck jenes opportunistischen Geistes, der leider in unseren Reihen grosse Fortschritte macht" (S. 145).

6. In dem nächsten Satze nennt Plechanow denjenigen, den er hierbei vor allen im Auge hat: Eduard Bernstein. In der That „verdient", wie wir mit Plechanow sagen, „der Umstand die Auf- merksamkeit aller, denen die Sache des Sozialismus am Herzen liegt", dass gerade Bernstein, der langjährige Schüler von Marx und Freund von Engels, einer der erprobtesten theoretischen Vorkämpfer des marxistischen Sozialismus, „eine Schwäche für den Neokantismus empfunden hat."

An der Stelle, wo er dem Sozialismus zuerst das ,, Zurück auf Kant!" zugerufen hat (Neue Zeit XVI, 2, S. 226), führt Bern- stein die „unmittelbare Anregung" zu seiner Aeusserung auf den so- eben besprochenen Vorwärts-Artikel von Conrad Schmidt zurück. Der innere Grund zu seiner viel besprochenen theoretischen Wendung konnte natürlich nicht in einem einzelnen Artikel liegen, sondern muss tiefer gesucht werden. So spricht denn auch Bernstein selbst in einem Briefe an mich von „einer ganzen Reihe von Einflüssen", die ihn „nach und nach dem Kantiauismus zuführten." Als solche bezeichnet er in erster Linie das Studium Friedrich Albert Langes, zu dem er durch Ellissens vortreffliche Biographie besonders angeregt worden sei; später habe dann der bedeutsame Aufsatz H. Cohens in dem „kritischen Nachtrag" (s. o. S. 17 f.) entscheidend mitgewirkt.

1) Vgl. auch Wültmann, Der historische Materialismus S. 310 Anm.

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Die ersten Keime einer dem Neukantianismus gerechter werdenden Auffassung sieht man in der That bereits in dem zweiten der drei schon zu Anfang 1892 in der Neuen Zeit (X, 2) veröffentlichten Artikel ,,Zur Würdigung Friedrich Albert Langes", die im Anschluss an die kurz vorher erschienene Langebiographie Ellissens geschrieben wurden. Er gesteht dort (ö. 102) wenigstens der neukantischen Bewegung „ihre gewisse Berechtigung'' als „Reaktion gegen den flachen naturwissenschaftlichen Materialismus der Mitte dieses Jahr- hunderts einerseits und die Auswüchse der spekulativen Philosophie andererseits" zu. Aber diese Keime werden doch noch stark über- wuchert von der Engels'schen Stellungnahme gegenüber Kant, der er sich dort noch ausdrücklich anschliesst (S. 103 f vgl. oben S. 39).

Ganz anders sechs Jahre später in dem Artikel: „Das realistische und das ideologische Moment im Sozialismus" (XVI, 2, S. 225 ff.).

Hier bekennt er offen, dass seines Erachtens ,.das .Zurück auf Kant' bis zu einem gewissen Grade auch für die Theorie des Sozialismus zu gelten habe" (S. 226 Anm.). Kant, der transscendentale Idealist, sei „faktisch ein sehr viel strengerer Realist" gewesen, als „sehr viele Bekenner des sogenannten naturwissenschaftlichen Materialismus". Er habe den Begriff des jenseits unseres Erkenntnisvermögens liegenden ,,Dinges an sich" nicht aufgebracht, sondern begrenzt. B. weist an Beispielen nach, dass neuere „Materialisten'' sich erkenntnistheoretisch auf den Boden Kants stellen, ebenso wie dies „die meisten der grösseren modernen Naturforscher gethan haben" (227). Dass der Sozialismus als Lehre ursprünglich reine Ideologie war, bestreite niemand (228), auch das System des historischen Materialismus wirtschafte mit „idealen Mächten" als Triebkräften der sozialistischen Bewegung (229). Schon das Interesse, das der marxistische Sozia- lismus voraussetze, sei ,,von vornherein mit einem sozialen oder ethischen Element versehen und insoweit nicht nur ein intelligentes, sondern auch ein moralisches Interesse, so dass ihm auch Idealität im moralischen Sinne innewohnt" (230). Und ebenso seien die

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„proletariscbeu Ideen" über Staat, Gesellschalt, Ökonomie und Ge- schichte „notgedrungen ideologisch gefärbt" (231).

Um „das realistische wie das idealistische Element in der sozialistischen Bewegung gleichmässig zu stärken" (Vorwort S. X). schrieb dann Bernstein zu Anfang 1899 seine vielgenannte, Aufsehen erregende Schrift: „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie" (Stuttgart, Dietz Nachf. 1899, X. und 188 S.). Nur mit ihrem philosophischen Teile und auch mit diesem nur, soweit er auf Kant oder die kritische Methode Bezug hat, haben wir uns hier zu beschäftigen. Und da ist allerdings unsere Aus- beute geringer, als man nach dem im vorigen Absätze angezogenen Ar- tikel erwarten durfte. Erst das „Schlusskapitel" (S. 168 188) führt uns zu dem Begründer des Kritizismus zurück. Es trägt das Motto: „Kant wider Cant", erläutert dasselbe aber eigentlich erst auf der vorletzten Seite (187) bestimmter. Bernstein ist überzeugt, „dass der Sozialdemokratie ein Kant not thut, der einmal mit der über- kommenen Lehrmeinung mit voller Schärfe kritisch-sichtend ins Gericht geht, der aulzeigt, wo ihr scheinbarer Materialismus die höchste und darum am leichtesten irreführende Ideologie ist, dass die Verachtung des Ideals, die Erhebung der materiellen Faktoren zu den omnipotenten Mächten der Entwicklung Selbsttäuschung ist, die von denen, die sie verkünden, durch die That bei jeder Gelegen- heit selbst als solche aufgedeckt ward und wird." Gewiss erfüllt es uns mit lebhafter Befriedigung, wenn ein Mann gerade von der theo- retischen Vergangenheit Bernsteins, unter ausdrücklicher Berufung auf Kant, in markigen Worten die Notwendigkeit des Ideals und der Kritik betont: wie wir denn überhaupt der ethischen Grund- tendenz seiner Schrift, der bewussten Anerkennung des sittlichen Fundaments, die sich auch an anderen Stellen (namentlich S. 130 f.) ausspricht, und vielen Einzel gedanken unsere volle Anerkennung zollen. Wir halten diesen Fortschritt an sich für ausserordentlich wertvoll. Was ihm dagegen noch fehlt, ist die bewusste Erfassung derjenigen Methode, mit welcher der kritische Philosoph seine Ethik erkenntniskritisch begründet hat.

Vorländer, Kant und der Sozialismus. 4

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In dieser Hinsicht muss schon das, was nun zum Schlüsse der Schrift folgt, uns etwas stutzig machen: dass nämlich Bernstein sein „Zurück auf Kant!" am liebsten in ein „Zurück auf Langel" ver- wandeln möchte. So gut sich diese Änderung der Parole vom politischen und persönlichen Standpunkt aus rechtfertigen lässt denn, im Gegensatze zu Kant, hat Lange in der Zeit der soziali- stischen Bewegung und für sie gelebt und gestritten , und so er- freulich auch der darin ausgesprochene Auschluss Bernsteins an den sozialen Idealismus uns erscheint: so zeigt sich doch gerade in ihr, dass die methodische Begründung dieses sozialen Idealismus, wie sie von dem heutigen Neukantianismus unseres Erachtens in glücklichster Weise vertreten wird, ihm noch ferne liegt.

Und so finden wir denn auch in dem ersten, grundlegenden Abschnitt seiner Schrift Sätze, die wir vom methodischen Standpunkte aus bekämpfen müssen: „Materialist sein, heisst zunächst die Not- wendigkeit alles Geschehens behaupten" (S. 4, gleich daraufrichtiger: kein Geschehen ohne materielle Ursache annehmen), was dann auch (S. 5) auf den historischen Materialismus übertragen wird. „Der Geschichte ehernes Muss" soll durch die „ethischen Faktoren", die heute einen „grösseren Spielraum selbständiger Bethätiguug als vordem'' erhalten haben, eine „Einschränkung" erfahren. Dahin gehört auch Bernsteins S. 9 offen ausgesprochene Neigung zum Eklektizismus entgegen dem „doktrinären Drang, alles aus Einem herzuleiten und nach einer und derselben Methode zu behandeln", während er doch andererseits (S. 9 f. Anm.j richtig erkannt hat, dass ohne „das Streben nach einheitlicher Erfassung der Dinge'' .,kein wissenschaftliches Denken möglich" ist. Wir können nicht umhin, Kautsky Recht zu geben, wenn er dem gegenüber betont, dass „auch idealistische Philosophen die Notwendigkeit alles Geschehens, d. h. die Geltung des Kausalitätsgesetzes für alle Thatsachen unserer Erfahrung behaupten" (Neue Zeit XVII, 2, S. 6j so Kant und alle Kantianer , und dass Wissenschaft eben in der ,. Erkenntnis der notwendigen gesetzmässigen Zusammenhänge der Erscheinungen" (S. 7) besteht. Bernstein hat denn auch in seiner Erwiderung auf

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Kautskys Artikel (Neue Zeit XVU, 2, S. 2t>0 ff.) die relative Be- rechtig-uug dieses Einwandes zugegeben: er habe den Ton nicht entschieden genug auf „Materie" gelegt und bekämpfe nur die „un- bedingte physische Notwendigkeit alles Geschehens." Ahnlich er- klärt er in einem Staudinger erwidernden Artikel der „Ethischen Kultur'' (1899, No. 23), dass er mit den von uns beanstandeten Sätzen nicht das Kausalgesetz, sondern nur die „Bestimmungsmacht des technisch-ökonomischen Faktors" habe einschränken wollen.

Zusammenfassend hat sich Bernstein über die alte Frage von Notwendigkeit und Freiheit nochmals in einem gegen einen seiner Kritiker gerichteten Aufsatze der Neuen Zeit (XVII, 2, 845 ff.) geäussert. Wir müssen uns hier begnügen, die Quintessenz seiner Ausführungen und ihr Verhältnis zur kritischen Methode kurz zu kennzeichnen, Bernstein hat die richtige Empfindung, dass dem Marxismus die bewusste und methodische Berücksichtigung des ethischen Momentes fehlt. In dem Bestreben, diesem letzteren zu seinem Rechte zu verhelfen, schlägt er nun aber nicht den von den Neukantianern bezeichneten Weg ein, die einen durchgehenden ge- setzlichen Zusammenhang von den untersten Grundlagen bis zu der obersten Spitze des sozialen Lebens herstellen und deshalb die materialistische Geschichtsauffassung nicht eigentlich bekämpft, sondern durch Hinzu fügung des Zweckgedankens (der Idee) ergänzt wissen wollen;^) sondern er möchte gern die „ethischen Faktoren", deren Macht wir sicher nicht bestreiten, sondern gerade verstärken wollen, als „selbständig wirkend" bereits an einer Stelle, an die sie nach der Kantischen Grundregel reinlicher Scheidung noch nicht gehören, nämlich in die kausal bestimmte Erfahrung hineintragen und scheint dadurch mindestens, wenn er es auch in seinen neuesten Äusserungen nicht Wort haben will, die ausschliessliche Geltung des Kausalitätsprinzips auf dem Gebiete der (sozialen) Erfahrung auf- heben oder doch einschränken zu wollen. Dass es manche Dinge auf Erden giebt, die sich noch nicht haben restlos erklären lassen, und

1) Vgl. oben S. 373 f. (Stammler), S. 378 (Natorp), S. 881, 383 (Staudinger).

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bei denen dies (wie wir ihm für die Tliatsache unserer Bewusstheit zugeben) auch aller V^oraussicht nach nie der Fall sein wird, mindert unseres Erachtens nicht im geringsten die ausschliessliche Geltung des Gesetzes von Ursache und Wirkung auf dem gesamten Gebiete der Erfahrungs Wissenschaft. Der „Gedanke des kausalen Zusam.men- hangs der Weltvorgänge" ist nicht bloss ein „als Leitfaden für die wissenschattliche Forschung unbestritten wichtiger" Gedanke (a. a. 0. S. 848), sondern deren notwendige Voraussetzung. Ob wir da- bei alle Zwischenglieder der kausalen Kette bereits gefunden haben oder nicht, macht prinzipiell nichts aus; sie zu finden, ist eben die unendliche Aufgabe der Wissenschaft.

Auch ist mit einer solchen Annahme unbedingter kausaler Not- wendigkeit im Reiche der Erfahrung durchaus nicht, wie Bernstein (S. 848 f.) zu glauben scheint, der erkenntniskritischen Selbständig- keit (Spontaneität) des Bewusstseins präjudiziert. Gewiss sind wir Menschen nicht blosse „mit Bewusstsein begabte Automaten", sondern be- sitzen „Autonomie des Denkens und damit auch des Handelns" (849). Das verallgemeinern wir Kantianer sogar dahin, dass wir die ganze „Erfahrung" als aus unserem Bewusstsein erzeugt ansehen. Diese Copernicusthat Kants ist der Grundkern alles Idealismus. Aber so- bald unsere Handlungen in die Erscheinung treten, verfallen sie un- entrinnbar dem ,, ehernen" Gesetze von Ursache und Wirkung. Und Kant hat es ausdrücklich für einen ,, elenden Behelf" erklärt, die transscendentale Freiheit darin zu sehen, dass BestimmungsgrUnde unseres Handelns „innere, durch unsere eigenen Kräfte hervor- gebrachte" Vorstellungen oder Begierden sind. Das sei allenfalls eine psychologische .,Freiheit", wenn anders man dieses Wort „von einer bloss inneren Verkettung der Vorstellungen brauchen" wolle, die gleichwohl den Gesetzen der Naturnotwendigkeit unterliege, nicht anders als „die Freiheit eines Bratenwenders" oder einer Uhr, die, wenn sie einmal aufgezogen, von selbst ihre Bewegungen verrichten (Kr. d. prakt. Vern. Kehrbach S. 11() 118). Nur, wenn wir von den Zeitbedingungen unserer Handlungen völlig absehen, sie dagegen der moralischen Be- urteilung unterziehen, können wir im wahren Sinne von Freiheit reden.

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Nicht das also bekämpfen wir vom Kantischen Htandpunkte aus an Bernstein, dass er die „ideologischen" Elemente des Sozialis- mus kräftiger hervorhebt das halten wir im Gegenteil für einen hocherfreulichen Fortschritt , sondern vrir vermissen nur die methodischen Grundlagen dieses Idealismus. Das Verhältnis von Naturerkennen und Zv^ecksetzung, Erfahrungsgesetz und Idee ist von ihm noch nicht im Sinne des kritischen Philosophen erfasst. Bernstein hat sich in seinem ersten Kant-Artikel mit lobenswerter Bescheidenheit als „Laien auf dem Gebiete der Erkenntnistheorie" bekannt. Bei so selbstkritischem Sinne und einer solchen Fähig- keit, sich in ein ihm ursprünglich fremdes Gebiet einzuarbeiten, wie sie der in der Beschäftigung mit sozialwirtschaftlichen und politischen Problemen Grossgewordene in seinen philosophischen Erörterungen bewiesen hat, ist zu hoffen, dass er bei weiterem Studium und tieferem Eindringen in den Kantianismus auch dessen erkenntnis- kritischer Methode sich mehr und mehr bemächtigen wird.

7. Die von Bernstein an den theoretischen Grundlagen des Parteiprogramms geübte Kritik hat, wie man auch sonst über sie denken mag, jedenfalls die erfreuliche Folge gehabt, dass die Dis- kussion darüber nun auch innerhalb der Sozialdemokratie energisch in Fluss gekommen ist. Die nationalökonomische undpolitische Seite der- selben, die zu der berühmten fünftägigen Debatte in Hannover geführt hat, geht uns hier nichts an, sondern nur der auf die philosophischen Grund- lagen des Sozialismus bezügliche Teil. Dass es sich hierbei wirklich um eine Krise für den Marxismus handelt, dass ein Teil der jüngeren Mar- xisten offen zu Kant neigt, hat nach einer Mitteilung Masaryks (a. a. 0. S. 590) Kautsky selbst zugestanden. Auch in den Spalten des wissenschaftlichen Organs der Sozialdemokratie, der Neuen Zeit^ tritt dieser Umschwung der Dinge deutlich hervor^). So still wie diese Zeitschrift bis vor zwei oder drei Jahren von Kant gewesen

1) Auch in den „Sozialistischen Monatsheften", einem „freien Dis- kussionsorgan für alle Anschauungen auf dem Boden des Sozialismus'', wenn- gleich in geringerem Massstab. Zu den von Staudinger (Kantstudien IV S. 167) zitierten Artikeln ist noch nachzutragen ein solcher von Alexis Nedow (Plechanow versus Ding an sich, Märzheft 1899, S. 104 112), der im Anschlufs

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war (vgl. oben S. .39), so hallt sie seitdem, namentlich in den zwei Bänden ihres letzten Jahrganges (1. Oktober 1898 1899). wider von Kant und dem Kritizismus. Mehring hat seine häufig auf Kant Bezug nehmenden ,.Asthetischen Streifziige" veröffentlicht, die noch vor Kurzem zu einem polemischen Nachspiel mit Woltmann über eine Kantfrage geführt haben. Plechanow und Conrad Schmidt haben in einer Reihe von Artikeln, über die Staudinger im vorigen Hefte der Kantstudien berichtet hat, ihre 'Fehde über das^Kantische ,,Ding an sich" ausgefochten, und Bernstein hat seine philosophischen Anschauungen gegen einen stark vom Neukantianismus berührten Marxisten S. Gunter verteidigt. Nur diesem letzteren haben wir noch einige Worte zu widmen.

Gunter hatte bereits ein Jahr vorher in einem „Die mate- rialistische Geschichtsauffassung und der praktische Idealismus" betitelten Aufsatz (Neue Zeit XVI, 2, S. 452 ff.) den historischen Materialismus gegen Stammler zu verteidigen unter- nommen. Er hatte darin Kaut und den Neukantianern (Cohen, Natorp, Stammler) „Versteifung" auf ihre „Begriffsanatomie" vor- geworfen. Hier müsse „Hegel als korrigierende Instanz hinzutreten und zeigen, dass die Ergebnisse anatomischer Analyse nicht in un- verrückbarer Starrheit auf den physiologischen Lebensprozess über- tragen werden dürfen." Er empfahl aus diesem Grunde den histori- schen Materialismus als ,,gewissermassen die Synthese der Kant- Hegelschen Philosophie in Bezug auf thatsächliche Erfahrung" (S. 455). Seine dortige Bekämpfung der Stammlerschen Scheidung von Kausa- lität und Telos rührte von dem Missverständnis her, als wolle Stammler zwei verschiedene Kausalitäten schaffen, eine ,,mit kausaler Gebundenheit ganz unvereinbare Willensfreiheit" einführen (456). Dem gegenüber meint Gunter die, in Wahrheit von Stammler nicht bestrittene, Einheitlichkeit des kausalen Zusammenhanges im histo-

an ein Motto aus H. Cohen in geschiciiter Weise den Neukantianismus vertritt, am Sehluss freilich eine Synthese von Kant und Hegel wünscht. Für eines der nächsten Hefte hat Nedow einen Aufsatz über „Kant und Hegel in der bisherigen Parteilitteratur" in Aussicht gestellt.

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rischeii Materialismus betonen zu müssen, Dass er den letzteren nicht dogmatisch, sondern, im Anschluss übrigens an Marxsche Worte, als blossen „Leitfaden" für die „Studien" oder, mit einem Kantischen Ausdruck, als „heuristisches Prinzip" auffasst (460), ist sehr anerkennenswert. Mit solchem historischen Materialismus ist allerdings ein „praktischer Idealismus" wohl vereinbar, der im An- schluss an die Formulierung des Erfurter Programms, die „allseitige harmonische Vervollkommnung" als zu erstrebendes Endziel auf- stellt.

In seinem zweiten, gegen Bernstein gerichteten Artikel „Bern- stein und die Wissenschaft (Neue Zeit XVII, 2, 644—653) scheint Gunter noch mehr von den Neukantianern gelernt zu haben. Zwar geht er wieder vom Marxismus aus, zwar wendet ^ sich auch einmal in ziemlich unvermittelt schroffer Weise gegen Kants „intelli- gibele Welt" als eine „Flucht ins Mysterium'^ (648) und gegen seinen „mysteriösen" Freiheitsbegriff (649); allein, wenn er sich auch auf den Neukantianismus nicht ausdrücklich beruft*), so zeigt er sich doch sachlich von der Methode der Cohen, Natorp, Stammler und Staudinger stark beeinflusst. Wie diese, dringt auch er auf „Ein- heitlichkeit und Geschlossenheit" der Methode (650), wenn auch die Wendung, „das innere Wesen unseres Daseins" (!) liege „in dem Drang nach Einheitlichkeit begründet" (652), uns als Motiv zu un- bestimmt subjektiv erscheint. Er zeigt indes gleich darauf, dass dieselbe in Wirklichkeit objektiv gemeint ist. Auf Einheitlichkeit im Denken, d. h. „Beseitigung der uns quälenden Gedankenwidersprüche" geht die Wissenschaft aus, auf Beseitigung der Widersprüche im eigenen Handeln die Ethik, auf die Beseitigung der Widersprüche in den gesellschaftlichen Einrichtungen die Sozialpolitik (Ethik im weitesten Sinne). ,.Die ganze sozialistische Bewegung ist nichts anderes als ein Ausdruck des Einheitsstrebens in letztgenannter Hinsicht" (652). Dass der Marxismus die Gesetz-

1) Erst am Schlüsse folgt eine Anspielung auf einige Artikel der Ethischen Kultxir, die teils von Staudinger teils von mir herrühren.

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lichkeit dieses (ethischen) Einheitsstrebens noch zu erforschen habe^ g-esteht der Verfasser sogar offen zu (ebenda).

Einen solchen „Marxisten" kann sich der Neukantianer schon gefallen lassen. Er arbeitet, nur von der anderen Seite des Berges, demselben Ziele zu. Und das ist in diesem Falle um so bemerkens- werter, als der Artikel gewissermassen unter offizieller Approbation der Redaktion der Neuen Zeit erschienen ist, die ihm ausdrücklich die Antikritik gegen Bernstein „soweit die philosophischen Grund- lagen in Frage kommen", übertragen hat (S. 644).

8. Am offensten von allen ausgesprocheneu Sozialisten bekennt sich zu Kant ein erst in den letzten Jahren hervorgetretener jüngerer Schriftsteller, der Dr. med. et. phil. Ludwig Woltmann, der bereits in seiner, im ersten Bande der Kantstudien (S. 438 f.) von ihm selbst angezeigten, philosophischen Doktordissersation seine Beein- flussung durch Kant in seiner Unterscheidung von ..kritischer' und „genetischer' Methode bewies und seitdem in drei grösseren Schriften*) seinen Standpunkt, eine eigenartige Synthese von Kant, Marx und Darwin, vertreten hat, von denen der letztere für unsere Betrachtung ausscheidet.

Bereits, ehe er offen zum politischen Sozialismus übertrat, hat Wolt- mann in seinem ,, System des moralischen Bewusstseins"^) eine, unseres Erachtens allerdings noch nicht ganz ausgereifte und allseitig durch- geführte, „Darstellung des Verhältnisses der kritischen Philosophie" zu „Darwinismus und Sozialismus'' versucht. Ganz im Sinne unserer Auffassung weist er dort nach, dass der vielgeschmähte Formalismus der Kantischen Ethik doch nur in ihrer vernunftgemässen Begründung be- steht, die nicht eher ruht, als bis sie die „grösstmögliche Einheit der

1) L. Woltmann, System des moralischen Bewusstseins, mit be- sonderer Darlegung des Verhältnisses der kritischen Philosophie zu Darwinis- mus und Sozialismus, XII und 391 S., 1898. Ders., Die Darwinsche Theorie und der Sozialismus, ein Beitrag zur Naturgeschichte der mensch- lichen Gesellschaft. VIII und 397 S. 1899. Ders., Der historische Materialismus, Darstellung und Kritik der marxistischen Weltanschauung, IX und 430 S. 1900. Alle drei im Verlage von H. Michels, Düsseldorf.

'^) Näheres darüber in meinem Aufsatz: „Eine Ethik der Gegenwart" in No. 23 und 24 der Ethischen Kultur (1898).

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Prinzipien" erreicht hat. Die Kantischen Termini, „eigene Vollkommen- heit" und „fremde Glückseligkeit" werden dann auf die Ethik des Sozialismus angewandt, als diejenigen Zwecke, die zugleich Pflichten sind. Die Förderung eigener Vollkommenheit muss jedes Menschen ur- eigenstes Werk sein. Dagegen ist die Beförderung fremden Glückes eine notwendige Forderung sozialer Gerechtigkeit; die materielle Grundlage, auf der das Vollkommenheitsstreben überhaupt erst be- ginnen kann, „den Amboss gleichsam, auf dem jeder nach eigenem Talent sein Glück schmieden mag", ist „die Gesellschaft und der einzelne innerhalb derselben zu schaffen verpflichtet*'. So wird ihm „die Kautische Moralbegrüudung" zum „erhabensten und allein mög- lichen Ausdruck sozialer Gerechtigkeit" (S. 49 j.

Man habe innerhalb des Sozialismus zu oft vergessen, „dass die soziale ebenso sehr eine individuelle, und dass die ökonomische Frage ebenso sehr eine sittliche Frage bedeutet" (260). „Die einzige Möglichkeit", fährt der Verfasser in etwas jugendlich -über- schwänglichem Ausdruck fort, „den Sozialismus vor geistiger Er- starrung zu bewahren, besteht darin, die Ideen des wirtschaftlichen Kollektivismus und Materialismus mit den Prinzipien der kritischen Moralphilosophie und den höchsten Gedanken Piatons, Jesu und Kants innerlich zu einer ethischen Ökonomie zu verbinden" (261). Der Inhalt der „evolutionistischen und sozialistischen" Ethik, die Woltmann erstrebt, muss sich in seiner erkenntnistheoretischen Grund- legung „unbedingt der kritischen Ethik unterordnen" (277). Des- halb ist ihm „Kants Moralphilosophie eine Ethik des Sozialismus" (316), und der letztere „die sozialökonomische Erfüllung des mora- lischen Gesetzes" (314).

Das neue Buch Woltmanns hat vor diesem, allzuviel in seinen Rahmen fassen wollenden, ersten den Vorzug, dass es sich auf ein bestimmtes Gebiet einschränkt, dieses aber eingehender ins Auge fasst: den historischen Materialismus. Seine ,, aktuelle" Bedeutung liegt darin, dass sich hier ein ausgesprochener Sozialist ganz offen auf Kants Seite stellt und die Marxisten zu kritischer Selbstbesinnung mahnt. „Mein Buch steht unter dem Zeichen der Rückkehr zu

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Kant" (Vorwort S.V). In der Kantischen Philosophie , .liegen die logischen Mittel, um eine systematische Kritik des Marxismus herbeizuführen" (26).

Zwar haben wir gegen des Verfassers „Kantianismus'' an manchen Stellen Einwände zu erheben. Einen Widerspruch zu Woltmanns Kantischem Bekenntnis finden wir insbesondere darin, dass er in Fichtes Ableitung alles Seins aus dem „Ich denke" einen „Fortschritt über die Kritik der reinen Vernunft hinaus" (104) er- blickt, wie er denn überhaupt die „einseitigen" Kantianer auf die von diesen an und für sich wohl kaum bestrittenen ..ent- wicklungsfähigen Elemente" in den nachkantischen Systemen hin- weisen möchte (Vorw^ort S. IV). Andererseits ist er selbst zu einem konsequenten Idealismus doch nicht durchgedrungen, insofern er zwischen einer begrifflichen und' der „wirklichen" Erfahrung unter- scheidet, deren „wirklichen" Prozess „alle wissenschaftliche syste- matische Darstellung" nur „wiederspiegele" (187). Wo anders existiert denn „wirkliche" Erfahrung als in der Wissenschaft? So gewinnt denn auch die von Marx und Engels aus Feuerbach entnommene ,, Theorie des Spiegelbildes" für ihn eine mehr bei einem Marxisten als bei einem Kantianer begreifliche besondere Bedeutung (S. 285 294). Kants Verwandtschaft mit Plato erscheint uns weit bedeutsamer als die nur äusserliche mit Aristoteles (S. 36, 43, 187); und so noch manches Andere.

Dennoch hat Woltmann erfasst, was uns an Kant die Haupt- sache dünkt: die erkenntniskritische Methode. Gegenüber dem ,, Walle von Vorurteilen und Missverständnissen", der bisher einer „sogenannten natürlichen Weltanschauung" das Verständnis des kritischen Problems erschwert hat, will Woltmann den Unterschied von kritischer und entwicklungsgeschichtlicher, logischer und psycho- logischer Methode zeigen und nachweisen, dass die Erkenntnistheorie eine notwendige Voraussetzung aller Entwicklungslehre ist (44), welche letztere übrigens gerade Kant durch seine geschichtsphilo- oophischen Aufsätze nicht wenig gefördert hat (45). Seine kurze Analyse der Kritik der reinen Vernunft (49 61) ist namentlich Nicht-

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kennern der Kantischen Philosophie, deren sich unter Woltmauns Lesern wohl noch viele finden werden, recht zu empfehlen. Als Kants Ziel bezeichnet er mit Recht „die Neubegriindung der rationalen Wissenschaft" (50), wobei wir nur das „rationale" als überflüssig- und möglicherweise irreführend, streichen möchten. Natur ist für Kant = mathematisch -physikalische Naturwissenschaft (61). Seine Erkenntniskritik geht vom fertigen, entwickelten Bewusstsein aus (50). Das centrale Problem der Kantischen Philosophie ist die „transscendentale Deduktion" der Möglichkeit der Erfahrung (56). Das „Ding an sich" wird richtig als „kritischer Grenzbegriff" formuliert (59, vgl. 307), das a priori in seinem wahren, nicht- zeitlichen Sinne dargestellt (S. 277 ff.). Das notwendige Endziel der Vernunft ist die ,, unbedingte Einheit aller Erfahrung" (60).

Auch die erkenntniskritische Begründung der Ethik wird hier präziser als in dem ersten Buche durchgeführt. Nicht auf die Entstehung der moralischen Begriffe, sondern auf die Feststellung und Begründung ihrer Allgemeingültigkeit kommt es an (64), so ruft er gegenüber den „ewigen trivialen Einwendungen der Moral- historiker aus der Darwinschen und Marxschen Schule" aus, die ,,so wenig methodische Selbstbesinnung haben, dass sie eine Sache untersuchen wollen, über deren Begriff sie sich vorher nicht klar geworden sind" (66 f.). Der teleologische Gesichtspunkt erweitert die physikalische zu einer moralischen Weltordnung (69, vgl. 310, 8H ff., 398 f.). Endlich ist auch das ästhetische Gefühl als Ur- quell und Einheitsgrund von Erkennen und Wollen, die Kunst als Brücke zwischen Natur und Freiheit richtig erkannt (74 f.), wenn wir auch nicht soweit gehen, darum Kants Philosophie schlechtweg als „ästhetische Weltanschauung" (75) oder Begründung einer solchen (89) zu bezeichnen.

Wie beurteilt nun Woltmann von seinem kritischen Standpunkte aus „die marxistische Weltanschauung"? Hier ist seine historische Darstellung und Beurteilung von seiner systematischen Kritik bezw. Fortbildung des Marxismus zu trennen. Auf dem letzteren Oebiete können wir ihm beistimmen, auf dem ersteren nicht.

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Mit Recht zwar macht Woltmann auf den in der That oft zu wenig beachteten Umstand aufmerksam, dass der Marxismus eine fünfzigjährige Entwicklungsgeschichte durchgemacht habe, .,so dass Verschiedenheiten und selbst Widersprüche . . . natürlicherweise entstehen mussten" (Vorwort S. III), und er hat sich das Verdienst er- worben, in dem zweiten Teile seines Buches eine gut orientierende Übersicht über diese Entwicklungsgeschichte zu geben, nachdem der erste „die philosophischen Quellen des Marxismus" in der „klassischen" ') deutschen Philosophie dargelegt hat. Es bietet u. a. Interesse, den ethischen Ausgangspunkt des Marxismus hier deut- lich festgestellt zu sehen. Allein für uns in Betracht kommen kann doch eigentlich nur die systematisch ausgebildete Lehre, die dem Marxismus sein charakteristisches Gepräge giebt. Und hier lässt sich Woltmann durch sein nachher zu würdigendes methodisches Bestreben, eine Synthese von Kant und Marx herzustellen, dazu verleiten, zu viel Kantische Elemente in Marx' Lehre hineinzulegen. Da Marx selbst sich auf Kant nicht beruft (vgl. oben S. 37), so soll seine „Rückkehr zu der unverfälschten Urschrift der klassischen deutschen Philosophie", d. h. zu Kant (Vorwort S. VI), ohne sein Wissen vor sich gegangen sein (vgl. S. 297). Seine ., Auffassung des wissenschaftlichen Denkprozesses" soll „zweifellos" und ..durch- aus*' Kants kritischer Philosophie entsprechen (Vorwort S. \j S. 187).

Davon aber haben uns Woltmanns Ausführungen nicht über- zeugen können. Wohl geben wir einen gewissen Parallelismus der Methode zu. Wie Kant die synthetischen Bedingungen der fertigen Wissenschaft, so analysiert Marx ,,die fertigen Resultate des (kapi- talistischen) Entwicklungsprozesses" (Kapitel I, S. 52 der 2. Aufl.). (Dem gleichen Gedanken sind wir schon bei Staudinger begegnet; vgl. oben S. 30 f.). Aber der Hegeische „Rest" in der Marx'schen Gedankenwelt bezieht sich doch nicht ,,fast nur auf die äussere Darstellungsweise", während „die innere Gedankenbewegung durch-

1) Woltmann versteht hierunter, dem Sprachgebranch der Marxisten, ins- besondere Engels, folgend, die deutsche Philosophie von Kant bis Feuerbaoh.

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aus von der kritischen und (!) naturwissenschaftlichen Methode ge- tragen wird" (Woltmann S. 321). Wir können der Ansicht nicht beipflichten, dass die Erkenntnistheorie auch für Marx eine „durchaus primäre Frage" gewesen sei (295); dass Marx einmal seine neue Lehre als „Leitfaden" für die „Studien" bezeichnet hat, reicht dafür nicht aus. Woltmann erklärt selbst an einer anderen Stelle (S. 260), in dem bekannten Satze von Marx, dass für ihn das Ideelle nichts Anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und über- setzte Materielle sei, liege „das erkenntnistheoretische Problem noch ungelöst verborgen". Das sei „eine für jeden Erkenntniskritiker geläufige Vorstellung", und doch ,, bildet" für ihn dieser Satz das logische Fundament des ganzen Marxismus (ebenda). Marx' kritische Stellungnahme zu Hegel soll, „im Grunde" wenigstens, eine Rückkehr zur Lehre des kritischen Idealismus 4>edeuten (297), und doch wird unmittelbar darauf (298) „die Marxsche Philosophie" als „das voll- endetste System des Materialismus" gepriesen. Marx selbst hat sich bekanntlich, abgesehen von seinen ersten Jugendjahren, stets als An- hänger der „materialistischen" Methode bekannt. Sollte sich ein so genialer Denker wirklich einer so gewaltigen „intellektuellen Selbst- täuschung über den eigenen Standpunkt" (184) hingegeben haben?

Diese scheinbaren oder wirklichen Widersprüche begreifen sich, wenn man sie sich aus Woltmanns eigener kritisch -systematischer Stellung erklärt. W. sagt einmal (S. 4) selbst, dass das „philosophische System" dessen ,, Mittelpunkt" die materialistische Geschichtsauffassung bilde, „erst, durch eine kritisch-historische Untersuchung aus den litterarischen Erzeugnissen des ganzen Marxismus heraus- konstruiert werden muss". Die ,, kritisch-historische" Untersuchung wird eben von ihm, wie das psychologisch ja leicht erklärlich ist, bereits im Hinblick auf das systematische Eesultat geführt, das wir nun noch in aller Kürze zu betrachten haben.

Woltmann weist nach, dass der Marxismus weder bei der blossen Ökonomie noch bei der dialektischen Methode, die Marx von Hegel, „ohne ihre Richtigkeit zu prüfen", einfach übernommen habe (262), stehen bleiben kann. Der Marxismus, obwohl ein „philosophisches

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Lehrgebäude ersten Ranges" (S. 5) und die „reifste intellektuelle Fracht unseres gegenwärtigen Zeitalters" (ebd., vgl. S. IV und S, 186j, wie er mit seiner Vorliebe für starke Worte sagt, ist durch den Kantischen Kritizis- mus, die genetische durch die kritische Methode zu ergänzen. Er sucht dann zu zeigen, wo die Anknüpfungspunkte im Marx'schen Systeme liegen, die nur der bewussten Fortbildung im kritischen Geiste bedürfen. Die materialistische Geschichtsauffassung ist ihm eine .,Idee" im Kantischen Sinne, ein ,, regulatives Prinzip", das „in der gesetzlichen Entwicklung des Erkenntnisprozesses selbst erzeugt wird" (178). Der Historiker muss von einem „leitenden Prinzip" ausgehen. ..denn", wie Kant sagt, ,, Erfahrung methodisch anstellen heisst allein beobachten" (179). Über den Wahrheitswert jeder Idee aber ent- scheidet ihre Fruchtbarkeit. Nur auf dem Wege des Versuches Woltmann hätte an die Platonische Hypothesis erinnern können entsteht Wissenschaft. Von solchem Gesichtspunkte aus analysiere nun auch Marx, darin Kant analog, die fertigen Resultate des wirt- schaftlichen Entwicklungsprozesses, sodass es ., aussehen mag. als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu thun" (Kapital S. 821). Mit Geschick reiht Woltmann dann diejenigen Momente des Marx'schen Denkens an einander, die sich in gleicher Richtung be- wegen. Dem blossen Natur st off tritt im Menschen eine Natur- macht gegenüber, die nach bewussten Zwecken schaff't. Zur Voll- führung seines Werks bedarf der Arbeiter des „zweckgemässen Willens". „Was von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopfe gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut". Das ,. Resultat" des Arbeitsprozesses war „beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden" (Marx a. a. 0. S. 164). So erhebt sich über den Naturkräften als erster Stufe die Technik oder „Technologie", indem sie „das aktive Verhältnis des Menschen zur Natur enthüllt" (ebd. S. 886 Anm.). Auf ihr baut sich dann die „ökonomische Struktur" der Gesell- schaft auf. Auf dieser wiederum beruht die soziale Gruppierung der Menschheit, denn auf dem Gebiete des wirtschaftlichen Handelns

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folgt der Mensch dem „stummen Zwang- der ökonomischen Verhält- nisse". Diese letzteren werden somit zu Klassen Verhältnissen, „deren Geschöpf" der einzelne Kapitalist oder Grundeigentümer sozial bleibt, „so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag" (Vorwort zur 1. Auflage des „Kapital" S. 7).

An diese, von Marx wenigstens beiläufig zugestandene Möglich- keit einer „subjektiven Erhebung" des Einzelnen Über die wirtschaft- lichen Motive des Selbst- und Klasseninteresses, mehr noch aber an die im ganzen Marx-Engels'schen Denken latent vorhandene ethische Unterströmung knüpft Woltmann an, um die Notwendigkeit eines bewussten Fortschreitens über den bloss-ökonomischen zum ethischen Standpunkt auch den Marxisten plausibel zu machen. Er weist nach, wie Marx' Geschichtsansicht im Grunde durch und durch ethisch ist, wenn sie auch nicht ,,in der Manier eines Moralpredigers", sondern „mehr in der Form der Satire und eines in der Tiefe des Herzens qualdurchzuckten Spottes und Hohnes" (S. 207) zum Ausdruck kommt. Er weist darauf hin, wie hinter der materialistischen Hülle eine moralische Teleologie verborgen ist. Die Unterscheidung einer ge- schichtlichen Stufenfolge menschlicher Ordnung und Gesittung, alle die Urteile über Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnisse, Mehrwert und Ausbeutung, Freiheit und Unterdrückung, sie können nicht rein kausal begriffen werden, sondern enthalten die theoretisch so scharf abgelehnte teleologische d. i. ethische Wertung bereits in sich (S. 366 ff.).

Es würde zu weit führen, auf die zum Teil in sehr starken Ausdrücken gehaltene Kritik einzugehen, die Woltmann an Engels mehr aber noch an einigen jüngeren Marxisten, wie Plechanow, Stern und Mehring übt (vgl. über die letzteren die Anmerkungen zu S. 50, 81 f., 237 f., 259). Auch Engels wird vorgeworfen, dass er ,.in Fragen der Erkenntnistheorie und Ethik Kant missverstanden oder gar nicht verstanden habe" (S. 25 j, und dies später im einzelnen, nament- lich an der Engels'schen Kritik des Kantischen „Dinges an sich" nach gewiesen (S. 305—321), S. 227 auch von der materialistischen Dialektik im allgemeinen zugestanden, dass sie „keinen Apriorismus

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kenne-', dass ihre Erkenntnistheorie „sensualistiseh" sei. Dennoch finden sich, wie Woltmann zeigt (z. B. S. 228 f., 368 f.), auch bei Engels manche Anknüpfungspunkte, an die eine Fortbildung des Marxismus im Kantischen Sinne anknüpfen kann.

Woltmann will überhaupt keine „Preisgabe des Marxismus" (296 vgl, 403), sondern nur eine „kritische Selbstbesinnung" des- selben, eine „Versöhnung" und ein „Bündnis" mit der kritischen Philosophie, durch das er „an innerem Wahrheitswert nur gewinnen kann" (269), „um mit geläutertem Bewusstsein von neuem an die Probleme des dialektischen und historischen Materialismus heranzu- treten" (296). Eine Annäherung beider Gedankensysteme lasse sich „viel leichter und folgerichtiger vollziehen, als man anf den ersten Eindruck anzunehmen pflegt'" (297). Denn Kant sei ein viel modernerer Geist als Hegel und stehe dem Zeitalter der naturwissen- schaftlichen und sozialistischen Weltanschauung weit näher, „nament- lich wenn man die grosse Bedeutung der Kantischen Ethik für die Theorie der sozialistischen Gesellschaftsorganisation in Betracht zieht" (296). Der Sozialismus ist in erster Linie eine ethische Notwendigkeit (427), der Marxismus kann, wenn er folgerecht verfahren will, dem Idealismus ,,oder vielmehr" der Kanti- schen Philosophie nicht entfliehen (209).

So haben wir denn die Beziehungen zwischen Kantianismus und Sozialismus von Kant bis herab auf die jüngste Gegenwart verfolgt und erläutert. Wir haben zunächst gesehen, dass Kant zwar nicht selbst als Sozialist oder sein System als ein sozialistisches bezeichnet werden kann, dass aber nicht bloss eine ganze Reihe seiner Staats- und geschichtsphi- losophischen Gedanken Anknüpfungspunkte für den Sozialismus bieten, sondern dass insbesondere seine Ethik die unerschütterliche Grund- lage liefert, auf der sich eine sozialistische Weltanschauung im Sinne der Gemeinschaftsethik aufbauen lässt. Wir sahen weiter, dass die Bestrebungen der Neukantianer mit allem Nachdruck darauf ge-

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richtet sind, den Kritizismus auch auf dem Gebiete der Sozialwisseu- schaft zum vollen Ausdruck zu bringen, mit dem Rüstzeug- der transscendentalen Methode und zugleich den Blick auf Kants ethisches Ideal gerichtet, eine Sozialphilosophie zu schaffen, „die als Wissenschaft wird auftreten können"; und dass sie andererseits gerade im Interesse einer einheitlichen Methode den Marxismus so weit anerkennen, dass ihrerseits einer prinzipiellen Versöhnung zwischen Kant und dem sozialen Materialismus nichts im Wege steht, sobald der letztere seines wesentlichsten Mangels, des Fehlens einer erkenntniskritisch- ethischen Begründung, inne wird. Und wir sahen endlich, dass diesem Streben unter den jüngeren Marxisten ein immer grösseres Verständ- nis entgegengebracht wird, dass der Ruf: ,, Zurück auf Kant!" von immer mehr Seiten erschallt, und somit eine Verständigung zwischen „sozialistischen" Kantianern und kantischen Sozialisten unschwer zu erreichen sein dürfte. Wir verhehlen uns andererseits freilich auch die Schwierigkeiten nicht, denen eine solche Verständigung auf Seiten des Marxismus zur Zeit noch begegnet. Die wesentlichste ist die, dass die meisten marxistischen Schriftsteller zugleich (als Redakteure, Journalisten, Parlamentarier u. s. w.) mitten im politischen Kampfe stehen und naturgemäss auch als Theoretiker durch politische Gesichtspunkte sei es augenblickliche oder dauernde sich be- einflussen lassen: was der wissenschaftlichen Objektivität nicht eben dienlich und auch der Partei selbst auf die Dauer schwer- lich förderlich ist.

In den letzten Monaten ist die theoretische Bewegung, ins- besondere was ihre philosophische Tendenz angeht, zwar äusserlich eine stillere geworden. Nach der monatelangen, überaus lebhaften journalistischen Polemik, die in der fünftägigen „Bernstein-Debatte" zu Hannover ihren vorläufigen Abschluss fand, hat sich natürlich auf beiden Seiten ein gewisses Ruhebedürfnis geltend gemacht. Dass sie indessen im stillen weiter fortgeht, ist aus manchen Anzeichen mit Sicherheit zu schliessen. In der Neuen Zeit, der Bernstein nach einer Erklärung in No. 11 des laufenden Jahrgangs nur noch als Mitarbeiter, nicht mehr als Redaktionsmitglied, angehört, ist in

Vorländer. Kant und der Sozialisnius. 6

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neuester Zeit naturgemäss die dem Kantianismus mit Misstrauen gegenüberstehende Richtung mehr zu Worte gekommen. Welch tief eingewurzelten Vorurteilen auf dieser Seite der doch von Sozialisten im eigensten Interesse des Sozialismus erhobene Ruf „Zurück auf Kant!" zum Teil noch begegnet, zeigt namentlich ein Artikel F. Mehrings, in dem selbst der „Sozialistenhasser" Häckel gegen Kant und die Neukantianer ausgespielt wird, die „auf dem Gebiet der Gesellschaits- wie der Naturwissenschaften jenes Dunkel der Verwirrung stiften möchten, worin gut munkeln ist" (!).^) während doch gerade die neukantische Richtung, nach dem Vorbilde des kri- tischen Philosophen, ,,die Grenzscheiden klar zu halten und auf jedem Gebiet ganze Arbeit zu machen" (Mehring S. 420) sich befleissigt. Erfreulich dagegen gewissen Übertreibungen der materialistischen Geschichtsauffassung gegenüber ist es, dass einer ihrer getreuesten Vertreter, H. Cunow, in demselben Hefte in einem Artikel „Philo- sophie und Wirtschaft" mit aller Entschiedenheit betont, dass die Philosophie nicht ,,in ihrem ganzen Umfang", sondern ,,nur in ihren sich mit dem sozialen Sein beschäftigenden Teilen", durch die „sozialwirtschaftlichen Zustände und deren ideellen Niederschlag im gesellschaftlichen Bewusstsein" bestimmt werde.^) In einem gewissen Widerspruch hierzu steht es unseres Erachtens, wenn Cunow in einem zweiten (Schluss-)Artikel trotzdem Kants Erkenntnistheorie ihrem ,,Ziel'' und ihrer ,.Tendenz" nach durch seine Ethik das will bei Cunow sagen: für Kant von vornherein feststehende religiöse An- schauungen über das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele bestimmt sein lässt (a. a. 0. S. 468 470). Es ist hier nicht der Ort, diese Anschauung, die sich in etwas anderer Form ja auch in Paulsens bekanntem Kantbuch wieder findet, zu kritisieren. Aber vorausgesetzt auch, dass sie mit ihrer Auffassung von solchen Kants Gedankengang möglicherweise mit bestimmenden persönlichen Motiven Recht hätte, so ist doch mit einer solchen rein psycho- logischen Erklärung nichts gegen Kants System und seine Methode

1) Neue Zeit (vom 6. Januar 1900j XVIII, 1, 420 f.

2) Ebd. S. 425.

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bewiesen. Diese bleiben nach unserer Ansicht haltbar und wertvoll, was auch jene persönlichen Motive gewesen sein mögen. Jedenfalls aber trifft Cunows Argumentation nicht den sozialphilosophischen Neukantianismus, der auf dem Boden der modernen Wissenschaft steht und Kants Postulate als unnötige, ja methodisch schädliche Anhängsel der Kantischen Ethik streicht.

Wir würden es mit Freude begrüssen, wenn unsere Darlegungen auch den streng-marxistischen Kreisen gezeigt hätte, wie wenig es mit der vermeinten ,,Bourgeoisie"- Freundlichkeit Kants und der Kantianer auf sich hat, welch festes Fundament vielmehr die kritische Methode im Bunde mit der Kantischen Gemeinschaftsethik dem Sozialismus zu geben vermag. Überall da, wo sie warm werden- gehen diese sozialen .,Materialisten" ja doch zum ethischen Idealis- mus über. Zum Beweis sei es uns gestattet, aus vielen Beispielen ein besonders bezeichnendes herauszugreifen. Karl Kautsky wohl der bedeutendste unter den neueren Marxisten, beschliesst seine letzte, gegen Bernstein gerichtete Schrift^) mit einem begeisterten Aufrufe zum „Idealismus", der im Gegensatz zu der „nüchternen Alltäglichkeit" der „Augenblicks- und Berufsinteressen" über deren Kreis hinaus den Blick erweitere zur Erkenntnis der ,,grossen Zusammenhänge aller proletarischen Interessen unter einander und mit den allgemeinen gesellschaftlichen Interessen", der sich erhebe zu den „grossen Zwecken", „mit denen es" (das Proletariat) ,,zu höherem Geistesleben heranwächst"; die unentbehrliche Klein, arbeit des täglichen Lebens werde sich schon von selbst aufdrängen.^) Derselbe Kautsky pries bereits in seiner Erläuterung des Erfurter Programms (Stuttgart 1892) das „selbstlose Suchen nach der Wahrheit" das „Streben nach dem Ideal" (S. 172), das, wie er freilich einseitig meint, heute nur noch bei dem Proletariat zu finden sei (S. 174f.). Schon in diesem als „eine Art Katechismus für die Sozialdemokratie"

1) Bernstein und das sozialdemokratische Programm. Eine Antikritik von Karl Kautsky. Stuttgart, Dietz Nachf., 1899, VIII und 195 S.

2) a. a. 0. S. 195. Wir haben schon in einem Artikel „Zur Kritik der Marxistischen Weltanschauung" (Ethische Kultur vom 16. Dez. 1899) kürzlich auf diese Stellung des führenden Marxisten aufmerksam gemacht.

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(Vorwort S. VI) gedachten Buche redete er ausdrücklich von einer „moralischen Wiedergeburt oder „Hebung" des Proletariats (S. 198, 198, 241), dessen Ziel „gleiche Rechte und gleiche Pflichten aller", die allseitige harmonische Vervollkommnung" (S. 104), kurz ein ,, zufriedenes, seinen Anschauungen von Menschenwürde ent- sprechendes Dasein" (S. 212) ist. „Nur eine Konsequenz", schrieben wir daher vor einigen Wochen, „seiner eigenen sittlichen" Grund- gedanken würde es sein, wenn der Marxismus auch theoretisch den Boden des kritischen Idealismus beträte." Dass man in den marxistischen Kreisen in Wirklichkeit den Grundgedanken des letzteren nicht so feindlich gegenüber steht, wie es bisweilen scheint, beweist u. a. der Umstand, dass ein zwar an Kant sich äusserlich nicht an- lehnender, aber von neukantischer Methode so durchtränkter Artikel, wie derjenige Gunters (s. oben S. 56) unter ausdrücklicher Billigung der Redaktion in der Neuen Zeit erscheinen konnte.

Wenn unsere Untersuchung in ihrer äusseren Form das Gepräge einer historischen Darstellung trug, so lag dies in der Natur der Sache. Ihr Kern und ihre Absicht sind jedenfalls systematischer Art. Wir lieben die Schlagworte nicht und wollen daher den Weisen von Königsberg nicht als „Philosophen des Sozialismus" ausrufen. Aber wir sind der Meinung und der Hoffnung, dass es mit dem sozialen Materialismus ebenso gehen wird, wie mit dem naturwissen- schaftlichen. Wie der naturwissenschaftliche Materialismus als Philosophie erst dadurch überwunden worden ist, dass F. A. Lange ihn nicht schlechtweg verwarf, sondern als Ferment in die eigene, idealistische Weltanschauung aufnahm, so kann auch der soziale Materialismus nur dadurch überwunden werden, dass er als voll- berechtigtes, wenn auch auf seine methodische Bedeutung (vgl. oben S. 51) beschränktes Glied in das System eines wissenschaft- lichen d. h. (nach Kant) „kritisch gesuchten und methodisch ein- geleiteten" sozialen Idealismus eingefügt wird, der ohne ihn in der Luft schwebt. Andererseits bedarf die Kantische Ethik, wenn sie festen Fuss im sozialen Leben fassen will, des sozialökonomischen und sozialpädagogischen Ausbaus, damit ihr schlichtes Gebot, keinen

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Menschen bloss als Mittel zu betrachten, verwirklicht, damit ihr Reich der Zwecke zur Wahrheit werde in einer Gemeinschaft frei wollender Menschen oder, in Marxscher Sprache, in einer ,, Association, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung der freien Ent- wicklung aller ist." So aulgefasst. verwandelt sich das „Zurück auf Kant!" in ein „Vorwärts mit Kant!", ein „Vorwärts!" auf der Bahn einheitlicher Erfassung des sozialen Geschehens und des sozialethischen Ziels.

Dmck von A. W. llayn's Erben, Berlin und Potsdam.

Reuther & Relchard's ^ix^^i i^S Verlag in Berlin W.9:

In nnserm Verlas- erscheinen:

Kantstudien.

Philosophische Zeitschrift

unter Mitwirkung von

E. Adickes, E. Boutroux, Edw. Caird, C. Cantoni,

J. E. Creighton, W. Dilthey, B. Erdmann, M. Heinze, R. Reicke,

A. Riehl, W. Windelband und anderen Fachgenossen

" herausgegeben von

Dr. Hans Vaihinger,

0. ö. Professor der Philosophie an der Universität Halle a. S.

In Bänden von je 4 Heften. Preis für den Band M. 12.—.

Einzelne Hefte M. 6. .

Bis jetzt sind 4 Bände erschienen.

Die „Kantstudien" sind ein unentbehrliches Hilfsmittel nicht nur für denjenigen, der sich mit Kant beschäftigt, sondern auch für jeden, der sich mit Philosophie überhaupt abgiebt. Dem ersteren bieten die „Kant- studien" die vollständige Sammlung des gesamten wissenschaftlichen Materials der Gegenwart für alle Fragen, die sich auf Kants Philosophie beziehen; die „Kantstudien" bilden die beste Einführung in die Kantische Philosophie und in alle Probleme, die sich an dieselbe anknüpfen. Für das Studium der einzelnen Werke Kants sind die „Kantstudien" die zweck- mässigste Handhabe, indem jeder Band derselben einen übersichtlich ange- legten Index enthält, in welchem die Erläuterungen, die sich auf Kants einzelne Werke beziehen, systematisch verzeichnet sind, so dass dieselben einen fortlaufenden Kommentar zu den einzelnen Werken Kants bilden. Ein weiterer sehr sorgfältiger Index, das Sacliregister, enthält alle wichtigen Hauptbegriffe der Kantischen Philosophie nebst Angabe der Stellen, an denen sich Neues über dieselben in dem betreffenden Bande findet. Endlich bietet ein genaues Novitätenregister einen bequemen Überblick über die ganze neueste Kantlitteratur, wölche in dem betreffenden Bande eingehend und sachgemäss besprochen ist.

Aber auch für das Studium der Philosophie überhaupt bilden die „Kantstadien" eine wertvolle Fundgrube. Wo von Kant die Rede ist, muss auch von seinen Vorgängern und Nachfolgern die Rede sein. Ein Blick in das reichhaltige Personenregister, das in jedem Band enthalten ist, zeigt eine überraschende FüUe von Namen alter und neuer Philosophen,

Theologen und Naturforscher, welche beim Studium der Kantischen Philo- sophie sich aufdrängen, und deren Beziehungen zu Kant in einer Weise erörtert werden, welche für das Studium der Philosophie überhaupt von fruchtbarstem Erfolg ist.

Keine öffentliche Bibliothek, welche mit dem Fortschritt der Wissenschaft gleichen Schritt halten will, wird somit die „Kantstudien" entbehren wollen und können.

Die „Kantstudien" haben in ihren bis jetzt erschienenen vier Bänden eine grosse Fülle von Beiträgen gebracht. Unter den bisher erschienenen heben wir besonders folgende hervor:

E. A dick es, Die bewegenden Kräfte in Kants philosophischer Entwicklung

und die beiden Pole seines Systems. K. Vorländer, Goethes Verhältnis zu Kant in seiner historischen Entivicklung. A. Pinloche, Kant et Fichte et le probleme de V liducaiion. K. Vorländer, Eine Sozialphilosophie auf Kantischer Grundlage. W. Lutoslawski, Kant in Spanien.

F. Staudinger, Kants Traktat: Zum eivigen Frieden. Ein Jubiläumsejnlog. P. Menzer, Der Entwicklungsgang der Kantischen Ethik.

H. Hoff ding, Rousseaus Einfluss auf die definitive Form der Kant ischen Ethik. E. Fromm, Das Kantbildnis der Gräfin K. Ch. Ä. von Keyserlifig (mit

Abbildung). K. ^'orl ander, Publikationen aus dem Goethe- und Schiller-Archiv und dem

Goethe- National -Museum zu Weimar, Goethes Verhältnis zu Kant

betreffend. J. E. Creighton, The Philosophy of Kant in America. H. Mai er. Die Bedeutung der Erkenntnistheorie Kants für die Philosophie

der Gegemvart. K. Vorländer, Villers' Bericht an Napoleon über die Kantische Philosophie. C. Lülmann, Kants Anschauung vom Christentum. Fr. Medicus, Zwei Thomisten cmitra Kant. Fr. Paulsen, Kant der Philosoph des Protestantismus. M. W entscher, War Kant Pessimist? A. Neu mann, Lichtenberg als Philosoph. A. Döring, Kants Lehre vom höchsten Gut. H. Vai hinger, Bericht über eine Kontroverse in Frankreich über Kants

Lehre vom Krieg. H, Rickert, Zum Jubiläum des Fichteschen Atheismusstreites. Fr. Medicus, Zu Kants Philosophie der Geschichte mit besonderer Beziehung

auf K. Lamj»-echt. Fr. Staudinger, Der Streit um das Ding an sich und seine Erneuerung

im sozialistischen Lager. K. Vorländer, Kant und der Sozialismus- Fr. Paulsen, Kants Verhältnis zur Metaphysik.

Ausserdem geben zahlreiche Rezensionen u. s. w. eine sehr umfassende wertvolle Übersicht über die laufende philosophische Litteratur des In- und Auslandes. Eine schätzbare Beigabe bilden die Ee- produktionen mehrerer bisher unbekannter Kantporträts \\. s. w.

Wir laden hiermit zur Subscription ein.

Die Verlagsbuchhandlung.

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