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Neudrucke seltener philosophischer Werke.
Herausgegeben von der
Kantgesellschaft.
Band II.
Kant und die Epigonen
von Otto Liebmann.
Berlin,
Verlag von Reuther & Reichard 1912.
6
KANT -If,.^
UND
DIE EPIGONEN.
Eine kritische Abhandlung
von
OTTO LIEBMANN.
C'est par l'Erreur qu'au vrai rhorame peut s'avancer.
■' - Helvetius.
Besorgt
von
Bruno Bauch.
Berlin,
Verlag von Reuther & Reichard 1912.
Alle Rechte vorbehalten.
Vorwort des Herausgebers.
Die Jugendschrift Otto Liebmanns, die wir hier neu herausgeben, hat trotz der tiefgreifenden Wirkung, die sie geübt, lange Zeit im Buchhandel gefehlt. An Otto Liebmann waren, namentlich im Laufe der letzten Zeit, vielfach Aufforderungen ergangen, sie neu herauszugeben. Und als die Kant-Gesellschaft die „Neudrucke seltener philosophischer Werke" in den Plan ihrer Aufgaben ein- bezogen hatte, wurde auch uns der Wunsch unterbreitet, das nun hier vorliegende Werk von neuem zugänglich zu machen.
Den Verfasser des Werkes brachte dieser Plan zu- nächst in einige Verlegenheit: Auf der einen Seite war ihm begreiflicherweise seine Schrift lieb und wert ge- worden. Auf der anderen Seite sagte er mir: „Aber es ist eben doch eine Jugendarbeit." Und ich hätte bereits aus der Art, wie er dieser gegenüberstand, den Grund- zug seines philosophischen Wesens, spräche er nicht sachlich schon aus jeder Seite, die er geschrieben, in der kurzen Zeit der persönlichen Beziehungen, die ich seit meiner Berufung nach Jena zu ihm gewonnen hatte, erkennen müssen: die lauterste und rückhaltloseste An- wendung des „yvwd^t asavTov" auf seine Person, sein eigenes Schaffen und Wirken. So war denn sein Ver- hältnis auch zu dieser Schrift das einer geradezu vorbild- lichen Objektivität: „Ich würde sie heute selbstverständ- lich ganz anders schreiben, als vor anderthalb Menschen- altern", sagte er mehr als einmal zu mir. Und »Kant
VI Vorwort des Herausgebers.
würde heute vielleicht noch besser wegkommen, als da- mals; aber wohl auch die Epigonen", meinte er. Nicht als ob dadurch seine später entwickelte, systematische Grundposition irgendwie angetastet werden sollte. Im Gegenteil, gerade von ihr aus hätte er am liebsten sein Erstlingswerk von Grund aus umgearbeitet und für diese Umarbeitung auch die historische Leistung der letzten Jahrzehnte verwertet. Allein, ein so deutliches Zeugnis für die Regsamkeit und Frische seines Geistes gerade dieser Wunsch war, so nötig war doch auch die stetige Rücksicht auf seine angegriffene Gesundheit. Und außer- dem wäre ja gerade eine Neubearbeitung nicht der von uns erbetene Neudruck gewesen, sondern ein neues Werk geworden. So vertraute er mir denn erst nach langem kritischen Erwägen, wenige Wochen vor seinem Tode, die Herausgabe seines Werkes an, in dessen erste zwei Druckbogen ich ihn noch Einsicht nehmen lassen konnte. Es bedarf ja eigentlich keines besonderen Hinweises darauf, daß der Verfasser der „Analysis der Wirklichkeit" und der „Gedanken und Thatsachen" nicht auf der von ihm im Jahre 1865 erreichten Position stehen geblieben ist, sondern über ein Menschenalter erfolg- und segens- reich weiter gearbeitet und weiter gewirkt hat. Als eine Pflicht der Pietät gegen die Person Otto Liebmanns, wie des Dankes gegen die Sache seiner Leistung will es mir aber gerade deshalb doch erscheinen, die heute mit dem Worte besonders schnell fertige Kritik in der Stellung zu Liebmanns Jugendwerk etwas zur Behutsamkeit zu mahnen und ihr zu sagen, daß Liebmann gerade im gerechten Bewußtsein seiner Leistung keinen aufrichtigeren und ehrlicheren Kritiker je wird finden können als sich selbst. Ich möchte darum wenigstens die beiden Haupt- punkte bezeichnen, auf die Liebmanns Selbstkritik gegen- über seiner Schrift über „Kant und die Epigonen" sich vor allem 'richtete. Der eine betrifft den Inhalt, der andere lediglich die Form. Immer noch unter dem Ein-
Vorwort des Herausgebers. VII
drucke der letzten Gespräche mit Liebmann — icli schreibe diese Zeilen genau eine Woche, nachdem ich ihn zum letzten Male gesehen — lege ich das, worauf es ankommt, möglichst im Anschluß an seine eigenen Äußerungen dar, gleichsam biographisch.
Ich beginne mit dem inhaltlichen, den „Geist der Transscendentalphilosophie", um mit Liebmann selbst zu reden, berührenden Momente: Zu den besonderen Freuden, die Liebmann in den letzten Wochen seines Lebens erfuhr, und von deren Wirkung auf ihn ich selbst Zeuge war, gehört die Würdigung, die ihm Windelband in der Charakteristik der „philosophischen Richtungen der Gegenwart" (Große Denker II, S. 363 ff.) zuteil werden ließ. Wenn Windelband hier gesagt hatte, daß „Ein klein wenig von . . . dem Anthropologismus aus den Anfängen des neuen Kantianismus" auch noch bei Otto Liebmann bemerkbar sei, so gab Liebmann diese Kritik als durchaus zutreffend ebenso gerne zu, wie er Windel- bands Auffassung beistimmte, daß diese anthropologische Position gerade durch Liebmanns „Untersuchungen über die abgestuften Schichten des A priori" über sich selbst hinausgeführt wird. Er könne sich, meinte er, mit Windel- band sofort verständigen,^) indem er das A priori aus der Sphäre des Kantischen Begriffs der „menschlichen Vernunft", in der er es anfänglich belassen, in die Sphäre des Begriffs der „reinen Vernunft" verlege, auf den er es in letzter Linie, namentlich in seinen Hauptwerken, doch eigentUch abgesehen habe, und der auch innerhalb des Kantischen Systems von dem der „menschlichen Vernunft" durch die Forschung immer strenger werde
^) Nebenbei sei noch Folgendes, was damit ja im Zusammen- hange steht, bemerkt: Liebmann teilte durchaus auch Windelbands Auffassung des Pragmatismus und meinte : Vor Sokrates habe der „Hominismus" in der That etwas Imposantes. Aljer wem er nach Kant noch imponieren könne, an dem sei eigentlich nicht blos Kant, sondern auch alle Philosophie seit Sokrates spurlos vorübergegangen.
VIII Vorwort des Herausgebers.
unterschieden werden müssen. Und zur Bestätigung dessen wies er auch meine eigenen Ausführungen über seine (Liebmanns) Auffassung der Natur als „objektiver Weltlogik" hin, in der wohl das Anthropologische ab- gestreift und das Transscendentale rein dargestellt sei. Danach nun würde sich auch Liebmanns Stellung zu den „Epigonen" modifizieren. Das ist das Eine, das inhalt- liche Moment.
Und das führt mich gleich zum zweiten, formalen Moment. Liebmann sagte mir eines Tages, die pein- lichste Verkennung der Absicht seiner Schrift über „Kant und die Epigonen" sei die als Lob gemeinte Ansicht ge- wesen, daß er mit Fichte, Hegel und Schelling nach Schopenhauers Vorbild zu Gericht gegangen sei. Er hätte geglaubt, Schopenhauers Verfahren doch gerade in diesem Buche deutlich genug charakterisiert zu haben. (Ausdrücklich wird ja in der That die „Unbill" Schopen- hauers als „unverzeihlich, taktlos, unpassend, ja unan- ständig" bezeichnet.) Aber er sei wohl für die Allge- meinheit der Leser noch nicht deutlich genug gewesen, und so sollte er eigentlich sowohl Fichte, Hegel und Schelling gegenüber, als auch gegen Schopenhauer noch deutlicher sein. Auch diese Bemerkung wollte ich zum rechten Verständnis von Liebmanns Absicht nicht unter- drücken. Ich denke: es ist in seinem Sinn und Geist, diese eigentlich private Aeußerung mitzuteilen. Im übrigen kann ich ja nun auf Liebmanns sachliche Dar- stellung verweisen. Aus ihr ergibt sich für jeden, der philosophische Bücher lesen kann, genau das Gegenteil von Schopenhauers Verfahren. Dieses wird zwar immer noch gelegentlich nachgemacht. Man reißt auch heute noch, nach Schopenhauers Rezept, Stellen aus Hegels Werken heraus, um sie, freilich ohne Schopenhauers Witz, dem Gelächter einer selbst witzlosen Menge preis- zugeben. Und wenn das bei Schopenhauer auch, um Liebmanns Charakteristik der Schopenhauerschen Gepflogen-
Vorwort des Herausgebers. IX
heit gegen Fichte auch auf das noch üblere Verhalten gegen Hegel anzuwenden, „unverzeihlich, taktlos, un- passend, ja unanständig" war, so mochte es bei Schopen- hauer immer noch den Reiz der Neuheit und des Witzes, wenn auch des schlechten Witzes, für sich haben. Das witzlose Copieren Schopenhauers aber ist zu allem anderen noch abgeschmackt.
Um solche Possen zu reißen, dazu dachte Otto Liebmann wahrhaftig zu groß und zu vornehm, dazu hatte er viel zu viel philosophischen Ernst und philo- sophische Würde, viel zu viel Lebensstil, ja schon viel zu viel Geschmack. Dazu hatte er vor allem zu viel von jener echten Ehrfurcht vor echter Größe, die Goethe fordert, zu viel Ehrfurcht vor dem, was er selbst die philosophische Tradition genannt hat. Außer seiner Schrift über „Kant und die Epigonen", und seinem letzten Vortrage über Kant (welche beiden Werke aber selbst stark systematisch gerichtet sind) hat Liebmann zwar nicht eigentlich historisch gearbeitet, sein eigenstes Arbeitsfeld war die systematische Philosophie. Aber ge- rade dadurch erwies er sich als echten Vertreter jener systematischen Philosophie, der die Zukunft gehört, daß er den Wert der Geschichte für das System der Philo- sophie zu würdigen wußte. Davon legt nicht etwa blos seine Abhandlung über philosophische Tradition beredtes Zeugnis ab, dafür zeugen seine systematischen Haupt- werke selbst tausendfältig. Und das philosophische Denken der Gegenwart zeigt gerade darum so wenig be- deutende Erscheinungen, die selbst für die Zukunft arbeiten, und soviel Kleinheit, deren Sein in der Gegen- wart beschlossen liegt, weil dem Gros der Gegenwarts- erscheinungen der Sinn für die Bedeutung der Vergangen- heit noch nicht aufgegangen ist, ohne den es für unsere Gegenwart nun einmal keine Zukunft mehr geben kann. Von diesem Gros hat man einen Liebmann aber wahr- lich zu scheiden. Wenn er hier gegen die „Epigonen"
Vorwort des Herausgebers!
einen energischen Kampf ausficht, um für Kant selbst, freilich unter ebenso energischer Kritik, zu kämpfen, so hat er die „Epigonen" wahrhaftig nicht als Nichtigkeiten hinstellen wollen. Nichtigkeiten hätte Liebmann wohl in einem Gelegen heitsaufsatze abtun können, aber über Nichtigkeiten hätte er sicherlich nie ein Buch geschrieben. Und dieses wieder hätte nicht so positiv gewirkt, wie es gewirkt hat. Daß er über „Kant und die Epigonen" so geschrieben hat, wie er geschrieben hat, ist also nicht blos ein Zeugnis für die Kant jederzeit gezollte Be- wunderung, sondern auch ein Ausdruck der Achtung vor den „Epigonen". Und auch dieser Name kann nicht einmal als eine Herabsetzung gedeutet werden, er muß aus der Sache historischer Epigenese verstanden werden. Denn gerade in dieser Schrift hat Liebmann die „Epigonen" nicht blos als „selbständige Denker", ja als „große Architekten" des Gedankens anerkannt, sondern in ihnen geradezu die „großartigen Haupt- richtungen unserer modernen Philosophie" gesehen. Er hat nicht nur seinen Sinn offen gehalten für ihre „her- vorstechende Kraft des Gedankens", sondern, was mehr ist, er hat es ausgesprochen, wie sehr es ihnen „Ernst mit der Wahrheit" ist. Das ist doch wahrhaftig eine andere Sprache, als sie Schopenhauer gegen Fichte, Hegel und Schelling geführt hat. Wenn er sich nun mit diesen nicht minder energisch auseinandersetzt, als mit Schopenhauer und mit Herbart, so geschah es nur, weil ihm selbst der „Ernst mit der Wahrheit" eine heilige Sache war. Auch das wolle man beachten, wenn man sich an das Studium von Liebmanns Jugendarbeit begiebt.
Da Liebmann, wie schon gesagt, eine Neubearbeitung nicht, mehr möglich war, ohne daß sich ihm eben ein .ganz neues Werk ergeben hätte, so wünschte er, daß ich vielleicht in einem Herausgebervorworte ausdrücklich darauf hinwiese, daß es sich nicht um eine neue Auflage,
Vorwort des Herausgebers. XI
sondern um einen dem Plane der Kant-Gesellschaft ent- sprechenden Neudruck handle. Er gab mir einige Zeilen von seiner Hand, die ich dazu nach meinem Belieben verwerten könnte. Ich lasse sie aber unverkürzt als Vor- wort des Verfassers folgen. Es sind die letzten Zeilen, die, wenigstens ihrem Inhalte nach, von ihm zur Mit- teilung an die Öffentlichkeit bestimmt waren. Als letztes, wenn auch kurzes, literarisches Dokument werden sie seinen Freunden und Lesern willkommen sein.
Mir bleibt noch eine Pflicht: Otto Liebmanns letzter Schüler, Herr Dr. Walter Mechler, hat mich beim Lesen der Korrekturen bereitwillig und freundlich unterstützt. Den aufrichtigen Dank, den ich ihm dafür schulde, möchte ich ihm hier, auch noch im Namen seines ver- ehrten entschlafenen Lehrers, von Herzen aussprechen.
So mögen denn „Kant und die Epigonen" von neuem ausziehen. Ich denke: Wenn man beachtet, was ich hier im Sinne Liebmanns darzulegen versucht habe, werden sie auch von neuem im Sinne Liebmanns wirken. Die philosophische Arbeit der Gegenwart, soweit sie wirklich philosophisch und wirklich Arbeit ist, steht aber- mals unter dem Zeichen der Auseinandersetzung mit Kant und den Epigonen. Auseinandersetzung aber ist ebensowenig verständnisloses Schmähen, wie verständnis- loses Nachbeten. Dieses widerstrebte Liebmanns kritischem Denken ebenso, wie jenes seinem Gerechtigkeitsbewußt- sein. Darum ward seine Schrift zum Aufruf für den Kritizismus gegen den Dogmatismus. Dafür aber hätte er sich nicht blos auf Kants Ausspruch berufen können, daß den, der einmal echte Kritik gekostet habe, alles dogmatische Gewäsch ekele. Mit demselben Rechte hätte er auch auf jene kraftvolle Erscheinung unter den drei großen Epigonen, der er gerne seine besondere Hoch- achtung bezeugt, verweisen können auf Fichte, der gegen die Nachbeterei des Wortes betont: „wer nur dieses hat, hat denn in der Tat auch nur ein Wort und keinen
XII Vorwort des Herausgebers.
Begriff. Nur in der Prüfung und im Ringen des Geistes mit dem Geiste erwäcfist der letztere auf unserem eigenen Boden."
Diese Prüfung aber ist echte Kritik im Sinne des Kritizismus, eben weil sie nicht nörgelnde Negation ist, sondern nach Wertkriterien prüft und selbständig Wert- volles auf eigenem Boden erwachsen läßt. Und in dieser Prüfung und in diesem Ringen möge das Werk Lieb- manns, dessen Geist bloßer Negation ebenso abhold, wie er immer auf positives Schaffen gerichtet war, wiederum Förderung und Klärung bringen, wie es bei seinem ersten Erscheinen mit reichem Erfolg positiv fördernd und klärend in die philosophische Lage eingegriffen hat. Mag es sein Verfasser selbst als „Jugendarbeit" bezeichnen, so ist es doch die Jugendarbeit eines Otto Liebmann. Und wenn dieser es auch auf der Höhe seiner philo- sophischen Laufbahn anders als auf deren Anfängen ge- schrieben haben würde, so hat es doch gerade in der Form, in der es zuerst gewirkt hat, nicht blos den von unseren Neudrucken erstrebten Wert eines bleibenden Kulturdokumentes in der Entwickelung unseres Geistes- lebens, sondern auch den persönlichen Reiz kraftvoller Jugendfrische seines Schöpfers, dem seine Sache dauernde Wirkung verbürgt.
Daß er aber sein Jugendwerk noch kurz vor seinem Tode in die Hände der Kant-Gesellschaft gelegt hat, dafür gebührt ihm unser ehrender Dank.
Jena, im Januar 1912. Bruno Bauch.
Vorwort des Verfassers.
Diese Schrift erschien im Jahre 1865. Sie ist schon seit längerer Zeit vergriffen, während sie doch häufig ge- sucht und verlangt worden ist. Der Verfasser hat es nun, auf Grund mehrfacher ausdrücklicher Aufforderung, gestattet, daß jetzt eine Erneuerung dieser seiner Jugend- arbeit veröffentlicht wird. Dabei handelt es sich aber nicht um eine neubearbeitete Auflage, sondern lediglich um einen, nach Entfernung von Druckfehlern, wörtlichen Wiederabdruck.
Kant
und
die Epigonen.
Eine kritische Abhandlung
von
Dr. Otto Liebmann.
C'est par l'Erreur qu'au vrai rhomme peut s'avancer.
H e 1 V e t i u s.
--3-®-<^
Stuttgart,
Carl Schober 1865.
Einleitung.
Kqsittov y('c(} nov afity.ooi^ ei, fj no^v y.r] Ixavwg nsQtii/c.i.
Piaton. Theaetet. c. 31,
Es ist bekanntlich dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen ; eine Wahrheit, die, wenn sie geeignet ist, den menschlichen Ehrgeiz nieder- zuschlagen, andrerseits dem redlichen Streben nach Er- kenntniß als Sporn dient, insofern sie allen blinden Autoritätsgötzendienst auf ein unschädliches Maaß zu reduciren im Stande ist.
Wenn der menschliche Geist in irgend einer Sphäre seine Thätigkeit so stark und einseitig angespannt, seine Gedanken so bis in die feinsten Nuancen entwickelt hat, daß die Mehrzahl der Denkenden kaum im Stande ist, ihm zu folgen, viel weniger ihn zu überbieten ; dann glaubt er sich wohl zu der Ueberzeugung berechtigt : es bleibe hier Nichts mehr zu denken übrig, er habe den ganzen Inhalt dieser Sphäre durchaus erschöpft ; dann ist er aber auch gewiß jenem Gebiet nahe, das vom Erhabenen nur einen Schritt entfernt liegt. — In solchen Epochen ist es für den selbständigen Forscher das Gerathenste, dem allgemeinen Mißtrauen dadurch Worte zu verleihen, daß er mit principiellem Zweifel vor Allem die Grundlagen untersucht, auf denen das ganze stolze Gebäude ruht. Denn es steht zu befürch- ten, daß, wenn diese nicht ganz zuverlässig sein soll- ten, der ganze Bau eines Tages zusammenstürzen und die in || seinen Hallen versammelte Menge verschütten
Neudrucke: Liebmann, Kant. 1
2 Einleitung.
könnte ; oder mit andern Worten, daß bei der Vernich- tung dessen, was den Maaßgebenden als die höchste, unbezweifelbarste Wahrheit gilt, die Idee der Wahr- heit selbst und der Glaube an sie möchte vernichtet werden. Solches Unglück verhütend, sind schon oft red- lich Zweifelnde zu Förderern der Menschheit geworden. — Goethe sagt :
Wenn wir den Zweifel nicht hätten, Wo wäre denn frohe Gewißheit?
Und Rene Des-Cartes, der einer jener redlichen, epochemachenden Zweifler war, räth uns ausdrücklich : de iis Omnibus studeamus dubitare, in quibus vel mini- mam incertitudinis suspicionem reperiemus *) — Dies gilt vor allen Dingen für jene Sphäre geistiger Thätig- keit, welche einerseits die wichtigste ist, weil in ihr diejenigen Gegenstände betrachtet werden, die uns am meisten am Herzen liegen, welche aber andererseits dem Irrthum und Zweifel am meisten ausgesetzt ist, weil in ihr der Geist sich fast gar nicht auf irgend einen freundlich unterstützenden Führer verlassen kann, fast durchweg auf den eigenen Takt angewiesen ist, — für die Philosophie. Gerade in ihr ist schon häufig jene, oben beschriebene, Epoche eingetreten, wo man glaubte fertig zu sein; gerade in ihr ist aber auch eben so oft durch eine gründliche Revolution Kehraus gemacht, der Boden zu ganz neuem Bau geebnet wor- den. — •
Ich glaube nun nicht vereinzelt mit meiner Meinung zu stehen, wenn ich unsere Zeit für eine solche halte, in der aus dem angegebenen Grunde ein allgemeines Mißtrauen gegen philosophische Untersuchungen herrscht. Jedenfalls muß uns die Thatsache befremden, daß, während die Speculation in einer Reihe von be- rühmten Systemen Alles geleistet zu haben scheint und 5 meint, was in diesem |l Fache geleistet werden kann,
*) R. Cartesii Princip. Philos. I. 1.
Einleitung. 3
doch die Mehrzahl der Gebildeten sehr wenig ergriffen durch, sehr gleichgültig gegen den Geist jener Systeme, theils sich indifferent verhält, theils sich eher zu den oberflächlichen, grund- und bodenlosen Meinungen des Materialismus hinneigt. Zufall ist dies nicht, denn es gibt keinen Zufall. Es dürfte daher wohl der Mühe werth sein, nähere Aufklärung über diese Erscheinung zu suchen.
Nun läßt sich freilich zunächst nicht leugnen, daß die Schwierigkeit der Abstractionen, welche in jenen Systemen verlangt werden, und die Absonderlichkeit ihrer letzten Resultate auf den Ungeübten abschreckend wirken ; auch reizt ihr äußerliches Gewand, die schwan- kende, theils übertrieben bildliche, theils lapidarische Terminologie — im Vorübergehen betrachtet — eher zum Spott, als zum näheren Eingehen. Und vor allem muß die große Differenz, die zwischen den einzelnen Systemen herrscht, und die Gehässigkeit, mit der ihre Gründer und Anhänger gegen einander polemisiren, ihrer Würde, und damit Wirksamkeit, in den Augen des Unparteiischen Eintrag thun, ja sie vernichten. Man er- innere sich nur daran, mit welcher Begeisterung man einstmals den naturphilosophischen Orakelsprüchen Schellings lauschte, welche nachher Her hart für „metaphysischen Unsinn*' erklärt hat ; mit welchem Staunen man der, aus nieverlöschender Triebkraft die ganze Welt umfassenden, Hegeischen Dialektik nachschaute, welche Arthur Schopenhauer, der erst neuerdings beachtete, nicht verächtlich und gehässig genug zu behandeln weiß. Wenn man nun außerdem auf die Polemik Friesen s gegen Fichte, Schel- lin g und Hegel, Herbarts gegen jenen und diese, und Schopenhauers gegen Alle zusammen, endlich gar auf die Streitereien und das Schulgezänk ihrer An- hänger und Halbanhänger unter sich und gegen andere Rücksicht nimmt, so breitet sich vor unseren Augen ein
4 Einleitung.
6 SO II unentwirrbares Chaos von Meinungen, ein so mit Dorngesträuch durchaus verwachsenes Terrain aus, daß es für den ferner Stehenden wie eine schier unmögliche Aufgabe gelten kann, sich hier durchzuschlagen, oder gar zu Orientiren. „Der Eine verachtet, der Andere ,, lacht ; beides bringt Aerger. Und der Unbefangene „Dritte muß trauern über den Zwiespalt und seine Fol- gen". *) Da kommt man dann freilich zu der Meinung :
IIoi/i'Aolg uvTikiyeiv fxsv i^og ne^l navTog oy,oi(os' oQ&ws & Kpriksysiy, ovx tTi tom iy s'd-ei. K(d TTQug fXEi/ TovTovg uQy.sl Xöyog etg o na'Mdog' „^01 fj.ev tavTCi Soxovvt tariv, if^ol cTe rwcfc". '^^■)
So unterscheidet sich der babylonische Thurmbau der deutschen Philosophie unseres Jahrhunderts von dem biblischen leider nicht bloß dadurch, daß seine Bau- meister wirklich bis in den Himmel gelangt zu sein glaubten, sondern auch dadurch, daß außer der Sprach Verwirrung eine Gedanken Verwirrung von ihm ausgegangen ist. Und man muß es danach min- destens erklärlich finden, wenn von dem Geiste unserer Zeit in dieser Hinsicht die Frage „Tt töitv äXtjdsi^a;" jene dringendste und edelste von allen, nicht sowohl mit sokratischer Wißbegier an die Philosophie gestellt, als vielmehr mit pilatischem Achselzucken hingeworfen wird. —
Aber diese Einwände sind nur populärer Natur, d. h. nicht als stichhaltig nachgewiesen. Für uns dagegen kann es sich nur darum handeln, die Sache wissen- schaftlich zu erfassen, ab ovo zu beginnen. — Eine Kritik aller einzelnen Systeme wäre da freilich das aus- führlichste Verfahren, aber deshalb keineswegs das gründlichste. Halten wir uns vielmehr an das, was w^ir
7 oben gesagt il haben, daß in solchen Epochen zunächst
*) Herbart: „Ueber Philosophisches Studium." 1807. Sämmtl. W. edit. Hartenstein. B. I, 397. **) Evrivov Hagiov I.
Einleitung. 5
die Grundlagen, die Principien zu untersuchen seien. Wenn wir nämlicli finden, daß die verschiedenen modernen Systeme der Philosophie von einem gemein- samen Anfangspunkte ausgehen, so muß das Resultat einer genauen Untersuchung dieses Anfangspunktes selbst jedenfalls entscheidend für unser Urtheil über alle jene an ihn anknüpfenden Richtungen sein, v^ir werden einen sicheren Standpunkt gewonnen, den Kern der Angelegenheit in nuce gefaßt haben.
Wo nun dieser gemeinsame Anfangspunkt liege, darüber können wir uns lange Untersuchungen sparen ; denn dies ist längst festgestellt und allgemein aner- kannt: Er liegt in der Kantischen Philosophie. „Kant beherrscht die Philosophie des neunzehnten „Jahrhunderts, wie L e i b n i t z die des achtzehnten*' sagt einer der geistreichsten Geschichtsschreiber der Philosophie.*) Und „daß er der philosophische Re- „formator unseres Zeitalters sei, daß in ihm alle „Systeme der Gegenwart wurzeln," ist auch von seinen Gegnern geradezu und offen bekannt worden. **) Es liegt vielleicht nahe, jenes oft citirte Epigramm Schil- lers auf Kant zu erwähnen :
Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung Setzt! — Wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu thun.
Ich möchte jedoch ausdrücklich bemerken, daß in diesem Distichon, sowohl der Zeit der Abfassung, als namentlich seinem Inhalte nach, unter den Kärrnern nur die Jäsche, Beck, Bouterweck, Krug u. s. w., auch Rein- hold, verstanden sein können, d. h. jene im äußern Formenwesen der kantischen Lehre befangenen subalter- nen Köpfe, welche sich besonders Kantianer nann- ten, weil ihre I Hauptkategorie das „avTog eq)a" war. Die-J
*) Kuno Fischers Gesch. der neuen Philosoph. B. III. Vorrede pag. X ff. Zu vergleichen hiermit ist desselben Verfassers äußerst lichtvolle Rede : „Ueber die beiden kantischen Schulen in Jena." 1862. **) Dr. J. U. Wirth: „Die speculative Idee Gottes." §. 105,
6 Einteilung.
jenigen hingegen, auf welche wir eben hinblicken, und deren Systeme man bisher die Philosophie des neun- zehnten Jahrhunderts genannt hat, nämlich Fichte, Schelling, Hegel, Herbart, Fries und Scho- penhauer, müssen als große Architekten anerkannt werden. Sie hängen zwar einerseits von der Kantischen Philosophie so sehr ab, daß sie ohne diese nicht nur unverständlich, sondern auch unmöglich wären, andrer- seits aber haben sie doch die Consequenzen jener ge- meinsamen Grundlehre so weit und so verschieden aus- gebildet, daß sie als selbständige Denker anzusehen sind. Nach ihrer verschiedenen Auffassung des Kriticis- mus gruppiren sie sich in vier Hauptrichtungen, — welche wir — vorläufig, um der Sache nur überhaupt einen Namen zu geben — die idealistische, rea- listische, empirische und transscendente nennen wollen ; Namen, die im Verlaufe dieser Abhand- lung ihre Rechtfertigung wohl finden werden. Die idealistische ist durch Fichte, Schelling und Hegel, die realistische durch H e r b a r t , die em- pirische durch Fries, die transscendente durch Schopenhauer vertreten. Um allen etwaigen Ein- wänden zuvorzukommen, wollen wir gleich hier nach- weisen, daß ihre Abhängigkeit von Kant nicht bloß eine ihnen äußerlich beigelegte, sondern von ihnen selbst anerkannte ist; und dies geschieht wohl am besten mit ihren eigenen Worten :
Fichte, der Gründer der idealistischen Richtung, an dessen Philosophie unmittelbar Schelling an- knüpft, von welchem wiederum Hegel ausgeht, erklärt : „Er wisse es, daß er nie etwas werde sagen können, „worauf nicht schon Kant unmittelbar oder mittelbar, „deutlicher oder dunkler, gedeutet habe.''*) II
*) Ueber den Begriff d. Wissenschaftsl. 2 te Ausgabe. 1798. Vor- lede pag. V.
Einleitung. 7
Herbart gesteht geradezu: „Mit einem Worte : 9 „Der Verfasser ist [ d. h. Ich bin] Kantianer."*)
Fries „findet für seinen Zweck die gehaltreichsten „Vorarbeiten in den Kantischen Kritiken der Vernunft, „diesen ersten philosophischen Meisterwerken/' **)
Schopenhauer endlich sagt: „Kants Philosophie „ist die einzige, mit welcher eine gründliche Bekannt- „schaft bei dem hier Vorzutragenden geradezu voraus- „gesetzt wird. — Denn Kants Lehre bringt in jedem „Kopfe, der sie gefaßt hat, eine fundamentale Verände- „rung hervor, die so groß ist, daß sie für eine geistige „Wiedergeburt gelten kann."***) —
Was nun den Gründer dieser vier großartigen Hauptrichtungen unserer modernen Philosophie anlangt, so ist er ohne Zweifel der bedeutendste Denker der christlichen Menschheit. Kant vereint in sich alle jene Eigenschaften, mit denen der wirklich große Philosoph ausgestattet sein soll : Tiefe und Größe der Auffassung, Klarheit und Schärfe des Denkens, Besonnenheit und Nüchternheit in der Ausführung und — was vor Allem noth thut — Wahrhaftigkeit. Er ist eben so sehr Feind aller dunklen, phantastischen Scheinphilosophie, als jenes seichten, leicht zufriedengestellten Denkens, wel- ches sich begnügt, die Oberfläche mit einem Netze von Nominaldefinitionen übersponnen zu haben, ohne daß es in jene Tiefe dringt, von der es keine Ahnung hat. — Daher auch ist es bezeichnend, wie er gerade d i e Sätze aufnimmt, in denen der schottische Skeptiker alle Erkennntniß vernichtet zu haben meinte, und, indem er sie mit schonungsloser Strenge bis in ihre äußerste Tiefe verfolgt, il in ihnen vielmehr das eigentliche Funda- 10 ment alles Vorstellens, Denkens und Erkennens findet,
*) Allgem. Metaphysik etc. Vorrede pag. XXVII. S. W. B. III. pag. 64. **) Neue Kritik d. Vernunft. 1807. Vorrede pag. XLIX. ***) Die Welt als Wille und Vorstellung. 3te edit. 1859. Vor- rede pag. XII. u. XXIV.
8 Einleitung.
— Dasjenige, wodurch die unleugbare Thatsache der Erfahrung erst bedingt und ermöglicht wird. — Seine Philosophie ist die spät gereifte Frucht einer langen, einsamen, erlisten Arbeit ; man sieht es ihr an, daß sie der Siegespreis eines angestrengten, beharrlichen Kampfes ist, und lebendig spricht aus allen ihren Zeilen die alte, klassische Wahrheit des Hesiodos :
Tfjg ciQ£Ti]g ISQwra {f-Eui nQonäQoid-sv i'S-rjxcci/.
Doch die Wahrheit:
Ist ein großer Gedanke,
Ist des Schweißes der Edlen werth.
Und Kant suchte die Wahrheit ; und Kant war ein Edler. So ist denn nun auch seine Lehre, im höchsten Sinne des Wortes, epochemachend; sie verhält sich zu allen vorangegangenen Versuchen zur Aufstellung einer fest gegründeten Weltanschauung vollkommen negativ und widerlegend, zu allen nachfolgenden schlechthin positiv und grundlegend. Wer s i e nicht verstanden hat, für den sind die vorkantischen Philo- sophen noch vollberechtigt und die nachkantischen un- erklärlich. Dabei ist sie durchweg bescheiden, so an Form, wie an Inhalt. An Form, — denn sie bringt alle ihre tiefsinnigen Erkenntnisse mit keuscher, unge- schminkter Aufrichtigkeit, ohne Bombast, Selbstlob und Posaunengetön. Wohlthätig sticht sie hierin ab von so manchem hochfahrenden Worte ihrer Nachfolger, die nicht einmal alle die gebotene Pietät gegen ihre ge- meinsame alma mater beobachtet haben. — Bescheiden an Inhalt, — denn was ist denn ihr einfaches, anspruch- loses Thema? Es ist die Durchführung der Regel, daß die menschliche Speculation, bevor sie an großartige, 11 weitschauende Gedankenconstructionen geht, II sich erst darüber Rechenschaft geben muß, wie weit ihre Kräfte reichen ; es ist die Beantwortung der Frage : Was kann ich überhaupt erkennen ? — Ruhig und sicher beant-
Einleitung. 9
wortet sie dieselbe und weist alle Anmaßung des eige- nen Denkens in die Grenzen zurück, die sie sich selbst setzt. Zum Wahlspruch hat sie sich das Wort des Per- s i u s erkoren :
Tecum habita et noris, quam sit tibi curta supellex.*)
Aber dieser bescheidene Inhalt ist von so höchster, vveitesttragender Wichtigkeit, daß er alle überschwäng- liche, hochtrabende Pseudophilosophie vernichtet. Er ist daher durchaus bedeutend ; deshalb ergreift er uns zu- weilen durch die mächtige Wahrheit seiner Gedanken so innig, daß wir, unsere Leetüre unterbrechend, in ein stilles, sinnendes Staunen versinken über die wahrhaft erhabene Tiefe dieses Geistes. Und wenn nun diese sel- bige, in aller ihrer wahrhaften Größe so bescheidene Lehre nicht allein den überschwänglichsten Scheinphilo- sophemen Daseinsrecht hat verleihen müssen, sondern auch selbst so arg vefkannt worden ist, daß man sie für die übermüthigste von allen halten durfte, so sehen wir hierin allein das Mißverständniß ihrer Schüler und Interpreten. Nicht- oder Halb-Philosophen, wieGoethe, der sich dieser Lehre durchaus nicht congenial fühlte**), und F. H. Jacobi, welcher allein das philosophische Interim zwischen Dogmatismus und Kriticismus auszu- füllen im Stande war, hielten Nebengedanken für die Hauptsache. — Wer aber mit voller intellektueller Hin- gabe den wahren, einfachen Grundgedanken dieser Phi- losophie erfaßt, ihres eigentlichen Kerns sich bemäch- tigt hat, der kommt zu der Ueberzeugung: „Ihre Grund- sätze werden unumstößlich bleiben ; ihre Irrthümer sind ge- II ring an Zahl gegen ihre Wahrheiten.*' — So steht 12 sie da in ihrer reinen, erhabenen Größe, — ein bleiben- des Ehrendenkmal des Menschengeistes. —
") Kants Kritik d. reinen Vernunft. Ite edit. Vorrede. **) Goethes Annalen v. 1794.
10 Einleitung.
Aber wenn wir für die Wahrheiten dieser Lehre ein offenes Auge haben, so dürfen wir andererseits für ihre Absonderlichkeiten und Fehler nicht blind sein.
Zunächst war es eine natürliche Folge seiner gründ- lichen sciiülastischen Gelehrsamkeit, daß Kant mit einer Menge von unwesentlichem Außenwerke seine reine, echie Wahrheit überkleidete; jenes Uebermaaß von buntscheckigen lateinischen, griechischen und lateinisch- griechischen Terminis, die er mit strengem Fleiß und Ordnungssinn, ja mit steifer Pedanterie anordnet, um- kränzen den soliden Bau seiner Gedanken wie Rococco- schnörkel, aus denen man hie und da den gepuderten und bezopften Magister leibhaftig hervorblicken sieht. Gerade diesen pedantischen Formel- und Wortkram trifft Heine (der sich übrigens in seiner Polemik ge- wöhnlich als gamin zeigt) mit richtigem Tact in den
Versen :
Er macht ein verständig System daraus;
Mit seinen Nachtmützen und Schlafrocksfetzen
Stopft er die Lücken des Weltenbaus.
Aber dieses Außenwerk ist unschädlich. Die Kan- tianer, im alten Sinne, erblickten darin die Haupt- sache und schmückten ihre, ziemlich unbedeutenden Machwerke damit aus, in der Meinung, sich dadurch als echte Schüler des Meisters zu manifestiren. Vor dem frischen Hauche des lebendigen Geistes ist diese Spreu längst zerstoben.
Etwas viel Bedenklicheres ist dagegen aus derselben Ursache entsprungen : Es ist aus dem Dogmatismus auch ein falscher Begriff, oder vielmehr ein Unbegriff mit herübergeschleppt worden, der nicht nur die eigene Lehre Kants entstellt und verfälscht, sondern auch an 13 allem dem Unheil Schuld ist, das seine Nachfolger i| an- gerichtet haben. Er erbt sich fort bis ins dritte und vierte Glied ; e r hat dazu beigetragen, daß die Kanti- sche Philosophie so schnell verdrängt, so bald für ver-
Einleitung. 1 1
altet angesehen worden ist, daß man die Wahrheit dieser Lehre noch immer durch geschliffene und gefärbte Gläser betrachtet, mag man diese auch, wie Schopen- hauer, für Staarbrillen ausgeben. Er ist es, dessen Kritik allein Gegenstand dieser Abhandlung sein wird.
Doch wir wollen unserem Gedankengange nicht vorgreifen.
Der Plan für unsere Untersuchung ist einfach. Es handelt sich darum, den inneren Zusammenhang der genannten vier philosophischen Hauptrichtungen mit der Kantischen Philosophie zu erkennen und dann aus der Kritik dieser letzteren den Maaßstab für die Beurthei- lung jener zu gewinnen. Nun besteht aber aller innere Zusammenhang verschiedener Gedankenrichtungen allein darin, daß sie, bevor sie divergiren, eine Strecke zu- sammengehen, d. i. eine Reihe von Gedanken gemein- sam haben. Demnach müssen wir also jede dieser Rich- tungen soweit verfolgen, daß wir jene Reihe von Ge- danken, welche sie mit der kritischen Philosophie ge- meinsam hat, genau erfassen. Hierzu wiederum wird nöthig sein, daß wir vor Allem den Kantischen Ge- dankengang im Großen betrachten, seinen speculativen Zusammenhang prüfen und uns von seiner Unumstöß- lichkeit und Gewißheit überzeugen. Treffen wir nun bei dieser Verfolgung der Kantischen Gedanken auf irgend einen Punkt, der uns als Inconsequenz, also als unverträglich mit den eigenen Principien, also als Fehler erscheint, so werden wir berechtigt sein, abzubrechen ; denn nur solange hat ein System Anspruch auf unsere Aufmerksamkeit, als es aus richtigen Principien auf richtige Weise Consequenzen gezogen hat ; begeht es irgendwo eine Inconsequenz, so trifft dies zwar nicht die vorhergehende Gedankenreihe, aber allesFolgende.il
Sollten wir nun eine solche Inconsequenz in der 14 Kantischen Philosophie finden, so würde der weitere Gang unserer Betrachtung folgender sein müssen : Wir
12 Einleitung.
legen der Reihe nach den Gedankengang einer jeden von den vier abhängigen Richtungen so dar, daß man deutlich sieht, wie und M^orin sie mit der Kantischen Speculation zusammenhängt, welche Gedanken sie mit jener gemein hat und von wo aus sie zu divergiren beginnt. Jede muß daher ebenso, wie vorher die Kan- tische Philosophie selbst, genau verfolgt, rein objectiv dargelegt werden, wobei es für's Erste sehr darauf an- kommt, daß wir unsere Kritik nicht im Mindesten ein- mischen, sondern als unparteiische Richter uns rein passiv, zuhörend verhalten. — Aber wie lange? Das ganze System eines Jeden zu skizziren wäre ziemlich weitläufig. Doch dies fordert auch gar nicht einmal die Unparteilichkeit und Gerechtigkeit. Haben wir näm- lich vorher in der Kantischen Speculation einen Fehler entdeckt, so werden wir bei der Betrachtung jedes einzelnen Tochtersystemes nur so lange von unserer Kenntniß jenes Fehlers abstrahiren müssen, bis wir eine klare Ueberzeugung darüber gewonnen haben, wie weit es der unverbesserten Grundlehre folgt, in wel- chem Punkte es abweicht und nach welcher Richtung es sich selbständig weiter entwickelt. Dann aber werden wir berechtigt sein, mit der Frage hervorzutreten :
Wie verhält sich diese Philosophie zu jenem Fehler?
Es ergeben sich in dieser Beziehung drei mögliche Fälle:
Entweder nämlich das vorliegende System er- kennt jenen Fehler nicht als solchen, son- dern läßt ihn unangetastet stehen;
Oder es erkennt ihn als Fehler, weiß ihn aber nicht zu entfernen, corrigirt also die Kantische Philosophie in diesem Punkte nicht; || 15 Oder endlich es erkennt ihn als Fehler,
entfernt ihn und corrigirt damit die Kanti- sche Philosophie.
Einleitung. 13
Sollte dieser letzte Fall irgendwo eintreten, so wäre insofern unsere Frage genügend erledigt. W o aber einer von den ersten beiden Fällen vorliegt, da werden wir berechtigt sein, das betreffende System zu verlassen und auf Kant zurückzugehen.
Dies ist der einfache Leitfaden unserer kritischen Untersuchung.
Wenn wir diese drei Fälle, so in dürre Worte ge- faßt, betrachten, möchte es fast scheinen, als ob der zweite Fall kaum denkbar wäre. Denn, wenn ein Philosoph von so hervorstechenden Anlagen, wie es ohne Zweifel jeder der Genannten ist, einmal in dem Systeme, von welchem er eingestandener Maaßen aus- geht, einen solchen Fehler, eine baare Inconsequenz entdeckt hätte, — wie wäre es dann möglich, daß er darüber hinweggienge, ohne jenes in diesem Punkte zu corrigiren ? — Dennoch sind selbst die beiden be- deutendsten Nachfolger Kants in diesem Falle! Man bedenke hierbei nur im Allgemeinen, wie es in der Geschichte menschlicher Geistesthätigkeit gar nichts Seltenes ist, daß bedeutende Männer der festen Ueber- zeugung lebten, sie hätten die Fehler ihres Vorgängers alle verbessert, während ihnen doch entweder dieser oder jener entschlüpft war, oder der Schaden, den sie geheilt zu haben meinten, an einer anderen Stelle un- versehens wieder aufbrach. Es liegt zudem Nichts näher, als über dem scheinbar Großen das scheinbar Kleine zu vergessen. Und während der begeisterte Schauer mit erklärlicher Unbedachtsamkeit die vor ihm ausge- breitete, herrliche Landschaft bewundert, ist vielleicht ein einziger verwitterter Stein die Veranlassung, daß im nächsten Augenblicke er selbst und mit ihm alle göttlichen Gedanken aus dem Himmel des Enthusias- mus in sehr materielle Tiefen hinabstürzen. II
14 Einleitung.
16 Ob das dritte, einzig richtige Verfahren bisher von irgend Jemand befolgt worden ist, darüber wollen wir hier noch Nichts verrathen, da es bis jetzt noch ganz problematisch geblieben ist, ob und inwiefern das- selbe praktisch zur Anwendung kommen konnte.
Unser kritisches Werkzeug, mit welchem wir uns in jenes verwachsene Wirrsal hineinzuwagen gesonnen sind, haben wir gezeigt. Es ist einfach aber scharf ge- nug, um uns durch alles Gestrüpp den Weg zu bahnen. Deshalb können wir getrost auf unsere Wanderung gehen.
Vorher nur noch ein Paar Worte auf die Reise !
„Mit Recht'', sagt Baco von Verulam, „wird die Wahrheit die Tochter der Zeit genannt.''*) Und nach einem alten Spruche soll, wer die Tochter haben will, es mit der Mutter halten. Deshalb ist der Inhalt jeder echten Philosophie gleichsam die Quintessenz des Geistes ihrer Zeit. Sie findet nur das Wort für die An- sichten, Bestrebungen und Ideale, welche unwillkürlich und unbewußt schon in allen Gebieten des geistigen Lebens gähren, darauf harren, daß sie erfaßt und aus- gesprochen werden. Aber der menschliche Geist ist, wie sein Object, durchaus mannigfaltig, vielseitig; und so können denn dieselben Probleme von verschiedenen Punkten aus betrachtet und ergriffen werden. Der Geist geht nicht in langweiliger und eintönig gerader Schnur, sondern per ambages seinem Ziele entgegen. Selbst der Irrthum und die Einseitigkeit dienen dazu, desto sicherer die umfassende Wahrheit zu finden. „Es ist nicht wahr", sagt Lessing in der Erziehung des Men- schengeschlechtes, „daß die kürzeste Linie immer die gerade sei." So muß die Summe dessen, wodurch die Zeit bewegt wird, erst nach allen Seiten durchgelebt
17 sein, ehe der speculative || Gedanke das Facit ziehen
*) Recte enim Veritas Temporis filia dicitur. Bacon. Nov. Organ. I, LXXXIV.
Einleitung. 15
kann. Aber um diese Aufgabe zu lösen, dieses Facit zu ziehen, dazu gehört ein gewisser subjectiver Geistes- gehalt, eine, ich möchte sagen „immer und über- all fragende** Gemüthsverfassung, welche eben die des Philosophen ist; eine ernste, ruhige Versenkung, intensive Besonnenheit. So verschieden dann auch die gefundenen Resultate aussehen mögen, jene Geistesver- fassung ist allen wahren Philosophen gemeinsam. Wie könnten sie auch sonst darauf kommen, sich jenen ge- meinsamen Titel beizulegen ? Sie, die nach Princip, Methode und Ziel ihres Denkens so sehr von einander abweichen ? — Und läßt sich der wesentliche Inhalt jener Geistesverfassung nicht zusammenfassen und klar aussprechen ? — Vielleicht ! Versuchen wir es !
Wer zu der Einsicht gekommen ist, daß diese ganze unendliche Welt, diese herrliche, lebendige, tausend- fältige Natur mit ihren nie vergehenden Kräften und imttier wiederkehrenden Gestalten, mögen wir sie nun lieben oder bewundern oder erforschen, mögen wir sie in Wort und Bild wiedererzeugen, oder im Experiment belauschen und mit der Schärfe des Gedankens zerlegen — von dem unendlichen, gestirnten Nachthimmel herab bis zum armen, mikroskopischen Infusionsthierchen — daß diese, im täglichen Umgang uns scheinbar näher tretende, Natur doch immer uns gegenüber steht, unser Ob j ect ist ; eine fremde Sprache redend, in allen unseren empirischen Erkenntnissen nur extensiv nach ihrem „Wie", nimmer aber intensiv nach ihrem „Was" uns bekannter wird, — daß sie, von dem enthusiasti- schen Dichter und Künstler liebend umfaßt, doch nur in dessen Phantasie zu verständlich menschlichem Leben erwärmt, wie der Marmor des Pygmalion, wäh- rend sie in der That nie zutraulicher wird, immer — Object, fremdes Object bleibt, — wer, sage ich, diese Einsicht erlangt hat, wen dieser Gedanke in Staunen || versetzt, der ist auf dem Wege zur Philosophie, ja er 18
16 Einleitung.
ist schon Philosoph. Er sieht ein, daß unsere vermeint- liche Bekanntschaft mit der Welt nichts Anderes ist, als gewohnte Unbekanntschaft; weshalb auch Novalis (der, wie alle Mystiker, ein gewisses Analagon von philosophischer Einsicht hat) den Men- schen ,,den herrlichen Fremdling mit den sinnvollen Augen" nennt. — Wessen Besonnenheit aber so weit geht, daß es ihm auffällt, wie diese, vermeintlich uns bekannte, in der That aber fremde, Welt doch wieder- um so fest und unauflöslich an uns gefesselt ist, daß sie ohne uns und wir ohne sie selbst Nichts sein würden (nicht in dem empirischen Sinne, sofern wir ein leib- liches Stück von ihr sind u. s. w., sondern in dem trans- scendentalen, sofern weder ein Denken ohne Gedachtes, noch ein Gedachtes ohne Denken irgend Etwas wäre) — der ist schon im Centrum der Philosophie angelangt. Ihm ist klar geworden, daß Subject und Object die unzertrennlichen Factoren und noth- wendigen Correlata der Erkenntniß sind, die sich ebenso wenig scheiden und vereinzeln lassen, als die Pole des Magneten ; — eine einfache Wahrheit, die aber ebenso wichtig, als oft vernachlässigt ist. —
Dies das objectiv Gemeinsame, der Blick in's Ganze, der alle echten Philosophen auszeichnet !
Was nun aber das subjectiv Gemeinsame, den Frieden und die Harmonie der einzelnen philoso- phirenden Individuen unter einander anlangt, so ver- weisen wir auf den Meister Kant. Er sagt: „Es kann „sein, daß nicht Alles wahr ist, was ein Mensch dafür „hält (denn er kann irren) ; aber in Allem was er sagt, „muß er wahrhaft sein (er soll nicht täuschen): „es mag nun sein, daß sein Bekenntniß blos innerlich „(vor Gott) oder auch ein äußeres sei. Die Uebertretung 19 „dieser Pflicht: der Wahrhaf- || tigkeit heißt Lüge.'' — „Das Gebot: du sollst (und wenn es auch in der „frömmsten Absicht wäre) nicht lügen, zum Grund-
Einleitung. 17
„Satz in die Philosophie als eine Weisheitslehre innigst „aufgenommen, würde allein den ewigen Frieden in „ihr nicht nur bewirken, sondern auch in alle Zukunft „sichern können.'**)
Jener Blick in 's Ganze und diese Wahrhaf- tigkeit — sie sind der wesentliche Kern der wahr- haft philosophischen Geistesverfassung nach seiner sub- jectiven und objectiven, nach seiner theoretischen und seiner praktischen Seite. — Möge uns der Leser beim Worte halten !
Und nun zur Sache !
*) Verkündigung d. nahen Abschlusses eines Tractates zum ewigen Frieden in d. Philosophie. 1796. Schlußsatz.
Neudrucke: Lieb mann, Kant.
20 Erstes Kapitel.
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants.
Manches Urtheil wird aus Gewohnheit angenommen oder durch Neigung geknüpft; weil aber keine Ueber- legung vorhergeht oder wenigstens critisch darauf folgt, so gilt es vor ein solches, das im Verstände seinen Ur- sprung erhalten hat.
Kants Kritik d. reinen Vernunft. 1 te Ausg. pag. 260.
Es ist unsere Aufgabe, den echten Gehalt der Kan- tischen Lehre von der unreinen Schlacke zu scheiden. Hiezu ist vor Allem nöthig, daß wir uns die Haupt- punkte seines Raisonnements in ihrem Zusammenhange vor das Gedächtniß führen ; und wir müssen daher um die Erlaubniß bitten, in kurzen, gedrängten Worten dem Leser das noch einmal darzulegen, was ihm schon längst bekannt ist. Versetzen wir uns also nach epischer Weise sofort in medias res ! Folgendes ist die Hauptlehre, die Quintessenz der Kritik der reinen Vernunft :
„Unser ganzes Vorstellen besteht in Anschauen und Denken, jede Vorstellung ist intuitiv oder abstract. Alles Anschauen aber findet im Raum und in der Zeit statt und kann außer ihnen nicht stattfinden. Alles Denken ferner kann erstens an sich (als Function des intelligenten Subjects) nur in der Zeit vor sich gehen und bezieht sich außerdem immer auf das in der An- schauung (also in Raum und Zeit) Gegebene. Also sind Raum und Zeit Formen und Bedin- gungen alles Vorstellen s. I!
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 19
Raum und Zeit sind nicht aus den Anschauungen 21 abstrahirt, da sie vielmehr vorhanden sein müssen, wenn überhaupt irgend welche Anschauung subjectiv und objectiv möglich sein soll. Daher können wir uns zwar Alles in Raum und Zeit Daseiende hinweg- denken, Raum und Zeit selbst aber schlechterdings nicht ; denn mit ihnen zugleich würde nicht nur die empirische Welt, sondern zugleich unser Intellect, ja unser Ich hinwegfallen, von ihm selbst hinweggedacht werden, was unmöglich ist.*) In den Sätzen !l der 22 Mathematik sprechen wir ferner lauter Bestimmun-
*) Herbart behauptet (Die Psychologie als Wissenschaft etc. §. 144), der Kantische Beweis beruhe auf einer quaternio terminorum. Kant schheße nämlich so:
Was Erfahrung lehrt, enthält nie das Merkmal der Nothwendigkeit. D. R. u. d. Z. sind nothwendige Vorstellungen. Also sind R. u. Z. nicht aus der Erfahrung gelernt. Hier habe nun das „nothwendig" in jeder der beiden Prämissen eine andere Bedeutung. R. u. Z. seien nämlich nur insofern nothwendig, als man sie nicht hinwegdenken könne ; dies komme aber allein daher, weil sie die Körperwelt erst möglich machen, welche für uns wirklich ist, und weil man immer Dasjenige, welches Bedingung der Möglichkeit eines Wirklichen sei, nothwendig vorstellen müsse. Deshalb aber sei der Obersatz falsch; denn in diesem Sinne lehre uns die Erfahrung allerdings auch Nothwendiges. — Hierauf ist zu erwidern: 1) Daß wir die Bedingungen der Möglichkeit eines von uns als wirklich Anerkannten für nothwendig erklären, lehrt uns nicht die Erfahrung, sondern wir fordern es nach sub- jectiven Denkgesetzen. 2) Nicht deshalb allein sind R. u. Z. nothwendige Vorstellungen, weil ohne sie die Körperwelt un- möglich wäre, sondern vor allen Dingen deshalb, weil ohne sie unsere eigene Intelligenz, das Subject der Erkenntniß, mein eigenes Ich, unmöglich wäre. Wir können ohne Raum und Zeit nicht nur Nichts, sondern auch nicht vorstellen; sie sind fortwährend in aller geistigen Thätigkeit gegenwärtig u. s. w. Kurz, wenn man die Kantische Beweisführung einmal in die Form eines Syllogismus drängen will, so würde derselbe so lauten:
Alles, was ich mir aus dem Subject der Erkenntniß nicht hin- wegdenken kann, ohne zugleich dieses Subjekt selbst zu vernichten, ist ihm wesentlich, d. i. a priori.
2*
20 Erstes Kapitel.
gen des Raumes und der Zeit aus, die wir nicht aus der Erfahrung geschöpft (a posteriori erkannt) haben, sondern vielmehr unabhängig von ihr, rein vermöge der Gesetze unseres Intellectes (a priori) für unum- stößlich gewiß, d. i. für schlechthin allgemein und nothwendig erklären. Endlich sind R. und Z. keine discursive, sondern intuitive Vorstellungen ; denn sie verhalten sich zu den, ihnen logisch unter-» geordneten Vorstellungen (verschiedenen Räumen und Zeiten) nicht wie die Gattung zur Art, sondern wie das Ganze zu den Theilen.
Also sind Raum und Zeit nothwendig e, reine Anschauungen a priori. (Functionen des Intellectes).
Raum und Zeit sind aber auch nur insofern noth- wendig, als sie „Bedingungen der Möglichkeit aller inneren und äußeren Erfahrung sind." Abstrahiren wir von der Erfahrung und dem Vorstellen überhaupt, so sind R. und Z, Nichts, d. h. Raum und Zeit sind von empirischer Realität und trans- scendentaler Idealität.
Dies ist der Inhalt der „transscendentalen Aesthetik", welche die eigentliche Basis und das 23 wahrhaft Neue und Epoche- 1| machende der Kanti- schen Philosophie enthält. — Was den Gehalt der nun folgenden „transscendentalen Analytik, als ersten Theils der tr. Logik" anlangt, so wollen wir bemerken, daß die
Raum und Zeit kann ich mir aus dem Subject der Erkenntniß nicht hinwegdenken, ohne dieses zugleich selbst zu vernichten. Also etc.
Wenn neuerdings v. Kirchmann (Philos. des Wissens B. I. pag. 418 —420) diese ganze Lehre angreift, und H. Lotze (Mikrokosmus B. III. pag. 485) wenigstens mit den Beweisen nicht zufrieden ist ; so ver- weisen wir nur auf das eine Argument, welches man pag. 24 u. 31 der Kr. d. r. V. Ite Ausg. findet. Dieses allein schlägt jeden Zweifel zu Boden,
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 21
Kategorientafel, sowie verschiedenes Andere einer be- deutenden Vereinfachung bedürftig und fähig ist. Ohne uns daher auf das unwesentliche Einzelne dieses Ab- schnittes einzulassen, geben wir nur das wesentliche Ali- gemeine :
Die in Raum und Zeit gegebene Mannigfaltigkeit von Elementen der Erfahrung (der Stoff des Vorstel- lens) kann erst dadurch wirklich zur Erfahrung wer- den oder als zusammenhängende Welt von anschau- lichen Gegenständen in das Bewußtsein treten, daß sie durch gewisse Synthesen unseres Intellects (Kate- gorien) verknüpft wird. Diese Synthesen können wir, wie Hume richtig bemerkt hat, nicht aus der Erfah- rung geschöpft haben, da sie uns eben nur eine Viel- heit von nach und nebeneinander gegebenen Eindrücken des (inneren und äußeren) Sinnes, nie- mals aber den noth wendigen Zusammenhang derselben liefert. Also sind die Kategorien, ebenso wie Raum und Zeit, Functionen des erkennenden Subjectes,*) d.h. noth- wendige Vorstellungen a priori. Und da sie nur innerhalb von Raum und Zeit gedacht werden können, so beziehen sie sich auch nur auf räumliche und zeitliche Gegenstände, d. h. haben nur in unse- rem Intellect Gültigkeit. **)
Demnach findet ganz bestimmt folgende Wechselbe- ziehung statt:
1) Unser Intellect erkennt nur die in Raum und Zeit gegebenen Elemente der Er- fahrung, verknüpft von den Kategorien, als Object. ***) II
*) Krit. d. r. V. pag. 253. Wir citiren immer nach der ersten Ausgabe.
**) ibid. pag. 246. a. a. O. ***) pag. 48. 49. 246. 253.
22 Erstes Kapitel.
24 2) Alles, was in Raum und Zeit gegeben
ist. also Alles, worauf die Kategorien an-' wendbar sind, hat nur in Beziehung auf den Intellect Gültigkeit und ist daher, unab- hängig von demselben. Nichts.*)
Hiernach steht also die Sache so:
Die äußere Sinnenwelt der körperlichen Dinge, so- wie die innere Welt unserer geistigen Eigenschaften und Thätigkeiten (also das Object der inneren und äuße-. ren Erfahrung, d. i. Alles in R. und Z. Gegebene) ist keineswegs ihrer Existenz und Wirklichkeit (empirischen Realität) beraubt ; vielmehr existirt sie ebenso gewiß, als Ich, das vorstellende Subject, existire. **) Aber eben so gewiß, wie diese Thatsache ist auch, daß, wenn ich dieses Subject mit seinen intellectuellen Functionen (R. Z. und Kategor.) aufhebe, zugleich die materielle und geistige Welt verschwindet, da sie eben nur in und durch die Formen des Intellectes existiren kann.***) D.h. also: Subject und Object der Erkenntniß hängen durch jene, ihnen gemeinsamen, transscendentalen Formen ihrer Existenz so innig, so nothwendig mit einander zusam- men, daß sie nur mit einander bestehen können, noth- wendige Correlate sind, zugleich stehen und fallen. — Da Ich nun aber, das erkennende Subject, nicht souverän über diesen beiden unzertrennlichen Factoren der that- sächlich vorgestellten, d. i. empirisch-realen Welt, stehe, sondern, auf ewig in die Schranken meines subjectiven Intellectes gebannt, mit dem einen Factor identisch zu- sammenfalle, so spreche ich die Abhängigkeit der beiden Erkenntniß-Factoren so aus, daß ich der empirischen Welt (dem Object der Erfahrung), trotz ihres f actischen Daseins (ihrer empirischen Realität) unbedingte Ab- 1|
*) pag. 42. Vgl. Prolegomena 1783, pag. 62. **) Kritik d. r. V. pag. 370. 371. 379. ***) ibid. 383.
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 23
hängigkeit von dem Dasein meines Intellects (transscen- 25 dentale Idealität) beilege.*)
Indem wir mit gespanntester Aufmerksamkeit diese merkwürdige Oedankenreihe verfolgen, finden wir Alles mit so scharfer, rücksichtsloser Consequenz, so tiefer Gedankenklarheit auseinander entwickelt, daß es uns zu Muthe ist, wie der Welt nach den Entdeckungen des C o I u m b u s und K o p e r n i k u s. Aus der transscen- dentalen Idealität von Raum und Zeit und der Ein- schränkung der Kategorien auf die, in jenen gegebenen, Data der inneren und äußeren Erfahrung folgt die durchgängige Abhängigkeit der wirklichen, empirisch- realen Welt vom erkennenden Subject und umgekehrt. Der Standpunkt eines transscendentalen Idealismus, wel- cher de facto den empirischen Realismus involviert, ist durchaus folgerichtig entwickelt ; und bis hierher ist denn auch die Kantische Philosophie unwiderleglich. Freilich haben wir, um das reine Gold der Wahrheit zu gewinnen, schon auf dem bisher verfolgten Wege man- che unechte Schlacke abgestreift und weggeworfen. Wir haben daher insofern ein eigenmächtiges Verfahren be- obachtet, als wir bei jener Scheidung Gedanken ausein- andergelöst haben, die bei Kant vereinigt sind. Wir haben nur auf die Wahrheit gesehen und der Unwahr- heit den Rücken zugewendet. — Jetzt müssen wir nun jene Inconsequenz aufweisen, die, während sie in unse- rer Darstellung weggelassen wurde, bei Kant fast schon im Anfange mit der Wahrheit verquickt ist. Diese un- glückliche Inconsequenz, welche bereits in den ersten Accorden des Kriticismus störend mitklingt, schwillt im weiteren Verlaufe bis zur schreienden, unerträglichen Dissonanz, || so daß sie den an sich großen, erhabenen 26 Eindruck des Ganzen geradezu vernichtet. Es wird unsere Aufgabe sein, diesen beklagenswerthen Fehler
*) pag. 371. 378.
24 Erstes Kapitel.
bloßzulegen und auszumerzen, aber auch die Bedingun- gen zu entwickeln, aus denen er erwachsen konnte. — Daß Kant seiner ursprünglichen Lehre nicht durchgängig treu geblieben ist, wußte man schon länger. Allgemeiner beachtet worden ist die Thatsache, seit Arthur Schopenhauer genau die Differenz zwischen der ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft und allen folgenden nachgewiesen, Rosen- kranz in seiner synoptischen Ausgabe dieselbe dem Publikum vorgelegt, und Kuno Fischer in lichtvoller und schöner Weise auseinandergesetzt hat. *) Wenn aber in der veränderten Deduction der Kategorien und der, von der zweiten Ausgabe an hineingeflickten Kritik des Idealismus**) allerdings eine Untreue Kants gegen sich selbst liegt, so ist etwas viel Schlimmeres bisher fast übersehen worden, das schon in der ersten Ge- stalt der Kantischen Lehre verborgen liegt, wie der Wurm in der Frucht. Es ist hineingekommen, indem er der dogmatischen Philosophie Concessionen machte und dadurch die eigene Existenz seiner Philosophie in Frage stellte. Im Allgemeinen besteht diese Inconse- quenz darin : Während aus der transscendentalen Aesthe- tik und der, von Kant selbst hervorgehobenen und oft wiederholten Thatsache, daß der theoretische Intellect nur innerhalb seiner Erkenntnißformen oder mittelst seiner Functionen erkennen darf, und irgend Etwas, 27 was außer diesen und unab- 1 hängig von ihnen existi- ren sollte, ihm gar nicht in den Sinn kommen kann, nothwendig folgt, daß wir etwas Außerräumliches und Außerzeitliches durchaus nicht vorzustellen oder
*) Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vor- stellung. 3te Aufl. a.a.O. B. I. pag. 515. — Kuno Fischer: Ge- schichte d. neueren Philosophie. B. III. Vorrede pag. XIV. pag. 278. — Vgl. Dr. F. Ueberweg: De priore et posteriore forma Kant. crit. rat. pur. Commentatio Berol. 1861.
'^'*) Kants K. d. r. V. 2te Ausgabe pag. 274.
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 25
gar zu denken vermögen, läßt sich Kant von vorn- herein doch dazu herbei, ein solches, von den Erkennt- nißformen emancipirtes, also irrationales Object anzu- erkennen, d. i. etwas vorzustellen, was nicht vorstell- bar ist — ein hölzernes Eisen. Er thut dies gradatim in einer Stufenreihe, welche näher zu betrachten ebenso interessant, als für die Lösung unserer Aufgabe nütz- lich ist.
Zunächst nennt er die in Raum und Zeit gegebene Mannigfaltigkeit von Datis der inneren und äußeren Erfahrung: Erscheinungen. — Wie kommt er dar- auf? Was berechtigt ihn dazu? Die Welt darf und muß sich diesen Titel verbitten ; denn sie wird durch ihn ihrer Dignität, der ihr zugestandenen empirischen Rea- lität, d. i. Wirklichkeit, verlustig. In dem Titel „Er- scheinung'' würde offenbar das liegen, daß etwas vorausgesetzt werden solle, was erscheint — näm- lich als empirische Welt. Wenn aber alles in Raum und Zeit Gegebene „Erscheinung'' ist, so müßte das, was erscheint, das vorgebliche Substrat der Erscheinung, nicht in Raum und Zeit sein. Da nun Raum und Zeit nothwendige Formen des Intellectes sind, so wäre dies Etwas, was dieser, unser Intellect, gar nicht zu fassen vermöchte, wovon er also auch nicht reden könnte. Ein außerhalb von Raum und Zeit Liegendes ist ein für allemal — Unsinn. Selbst wenn also die räumlich- zeitliche Welt nur „Erscheinung" wäre, so würde sie es für den Intellect nicht sein, da dieser schlecht- hin nicht fähig ist, die Welt in Raum und Zeit mit irgend etwas Anderem zu vergleichen, weil diese eben Alles ist. Demnach darf sie nicht „Erschei- nung" betitelt werden.
Constatiren wir dies und gehen wir weiter ! II Schon in der transscendentalen Aesthetik finden 28 wir die weitere Consequenz dieses ttqmtov xpsvöog. Da stellt nämlich zur rechten Zeit ein „Ding an sich" sich ein,
26 Erstes Kapitel.
welches „den Erscheinungen zum Grunde liegen mag".*) Dies soll nun eben das außerräum- liche und außerzeitliche Substrat der Welt sein, dessen bevorstehende Ankunft uns schon in dem unberechtig- ten Titel „Erscheinung" leise angekündigt war.
Da seht, daß Ihr tiefsinnig erfaßt, Was in des Menschen Hirn nicht paßt.
Von diesem überflüssigen Anhängsel heißt es nun pag. 286 u. 290: „es sei problematisch, ja es sei etwas, von dem wir weder sagen kön- nen, es sei möglich, noch es sei unmögl ich." Nun möchte ich in der That wissen, wie man überhaupt von einer Sache reden kann, wenn man nicht einmal über ihre Möglichkeit oder Unmöglichkeit im Klaren ist. Dies ist deutlich gesprochen ein problematisches Etwas ohne Inhalt, von dem wir gar nichts wissen können, also nur eine dunkle Phrase für das einfache, ehrliche „Nichts".
Unbekümmert hierum spricht er pag. 358 von dem „Ding an sich" als von dem, welches „der Erscheinung zum Grunde liegt", und pag. 538 „zum Grunde liegen muß." — Wir sehen also, wie der, zuerst nur leise geduldete, Fremdling die Frechheit hat, aus der Sphäre des Problematischen durch die des Assertori- schen zu apodiktischer Gültigkeit sich vorzudrän- gen. **) Ein echter Parasit das ! || 29 In den Prolegomenis und den späteren Schriften ist
dieses nothwendige Dasein des „Dinges an sich" als eine bekannte, über allen Zweifel erhabene Thatsache
*) pag. 49. **) An dieser Stelle ist es nun auch (pag. 539), wo Kant in klaren Worten transscendent wird, indem er die Kategorie der Causalität, welche doch nach seiner eigenen, ganz richtigen Erklärung nur auf räumliche und zeitliche Objecte anwendbar ist, auf jenes un- vorstellbare, übersinnliche „Ding an sich" oder Noumenon anwendet. Dies ist der schlimme Präcedenzfall für manches folgende Unheil.
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 27
vorausgesetzt. (Prolegom. pag. 104. 141.) Um aber der Sache die Krone aufzusetzen, iwird es schließlich für „eine Ungereimtheit erklärt, wenn wir die Dinge an sich nicht einräumen wollen.*' (pag. 163.) — Dies ist nun das Aeußerste ; der Parasit ist unentbehrlich geworden. Honny soit qui mal y pense ! —
Damit ist denn aber auch in der That der K r i t i - cismus zu Grabe getragen, der Dogmatismus triumphirt. Nun bedenke man, daß derselbe Mann da- zwischen immer Aeußerungen fallen läßt, wie : „In dem bloßen Begriff eines Dinges kann gar kein Charakter seines Daseins angetroffen werden.*' *) (Aber etwa in dem Unbegriff?) Ferner: „Man kann doch außer „sich nicht empfinden, sondern nur in sich selbst, und ,,das ganze Selbstbewußtsein liefert daher nichts, als „lediglich unsere eigenen Bestimmungen.*'**) Ja solche Aussprüche bleiben in der zweiten und den folgenden Auflagen neben jenen, toto coelo entgegengesetzten ruhig stehen. — Man könnte dies mit ironischem Seiten- blicke „die Antinomie der Kantischen Vernunft" nen- nen. —
Damit ist die klare, nackte Inoonsequenz als That- sache an den Tag gelegt. Wären wir boshaft, oder Geg- ner Kants, so schloßen \vir mit „Sapienti sat!" hier die Acten und ließen den Karren im Sumpfe stecken. Da wir aber erstens das Große, Edle und Wahre in der Lehre des Meisters mit ungeheuchelter Ehrerbietung hochachten und anerkennen, da wir ferner diese ganze I! Untersuchung begonnen haben, nicht um ihn zu recen-30 siren, sondern, um aus seinen richtig verstandenen Prin- cipien und in reiner Consequenz entwickelten Gedanken die Systeme seiner Nachfolger zu begreifen und so den Weg zur weiteren Förderung der Wissenschaft zu fin-
*) pag. 225. II. edit. pag. 272. **) pag. 378.
28 Erstes Kapitel.
den, so können wir uns bei diesem Stand der Sache nicht begnügen, sondern richten zunächst folgende Frage an uns :
Was hat Kanten dazu veranlaßt, diesen so offenbaren Fehler zu begehen? Wie kommt er darauf, ein „Ding an sich" in seine Philosophie aufzunehmen, die für dasselbe doch gar keinen Platz offen läßt? Denn wir verlangen schlechterdings eine Erklärung, wie einem solchen Meister im Gebiete des speculativen Denkens ein (wie es scheint) so leicht vermeidlicher Fehler unter- schlüpfen konnte. Die Beantwortung dieser Frage wird eine Art von Deduction des Dings an sich sein ; nicht eine objective (in welcher die Gültig'keit dieses Begriffes nachgewiesen würde), sondern eine subjective (in der die Möglichkeit dargelegt wird, daß und wie ein solcher Gedanke in diesem Systeme vorkommen konnte). Eine solche Deduction, w^elche im Wesentlichen der astrono- mischen Erklärung einer Finsterniß durch Berechnung der obwaltenden Constellation gleicht, kann nun von verschiedenen Punkten ausgehen. Entweder nämlich sie verfährt psychologisch, indem sie die Bedingungen im menschlichen Geiste nachweist, unter denen er in den gedachten Irrthum gerathen konnte ; oder sie hebt, an den vorhergehenden Entwickelungsproceß der Philoso- phie anknüpfend, historisch diejenigen Lehren früherer Systeme hervor, welche als Präcedentien, Vorfahren oder Ahnen des „Dings an sich" erscheinen. Man könnte jenes eine Biographie, dieses eine Genealogie, oder auch jenes eine Deduction a priori, dieses eine a poste- riori des „Dinges an sich" nennen. — Es ist offenbar, 31 daß diese beiden Betrachtungen nicht || zusammenhangs- los nebeneinander stehen, sondern innerlich einander ergänzen, bedingen und erklären, daß die Deduction daher nur dann vollständig sein wird, wenn wir Beides in Erwägung ziehen ; und dies wird auch geschehen.
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 29
Wenn wir aber die beiden Betrachtungen, trotz ihrer Zusammenhörigkeit, trennen, die historische voraus- nehmen und erst nach weiteren Zwischenuntersuchungen die psychologische folgen lassen, so hat dies darin seinen Grund, weil nach unserer Ueberzeugung Kant selbst sich des Ersteren bewußt gewesen ist, des Letz- teren aber nicht, und weil diese letzte, tiefer gehende Betrachtung zugleich unser endgültiges, objectives Ur- theil über die ganze Angelegenheit enthalten wird. —
Indem wir nun an diese historische Deduction gehen, müssen wir uns gestatten, weiter auszuholen ; denn es liegt uns vor Allem daran, überzeugend zu sein, was im vorliegenden Falle ohne Ausführlichkeit nicht möglich ist.
Alle Philosophie ist ihrem Wesen nach Betrachtung der Welt als eines Ganzen, — der Welt nach ihrer materiellen und ihrer geistigen Seite; ihr Object ist der Kosmos, und zwar der Makrokosmos, den wir weit hinausdehnen über alle Fixsterne und Nebelflecke, und der Mikrokosmos im eigenen Ich, den wir verfolgen bis in die dunkle Region des Ahnens und Fühlens : „die Schwelle des Bewußtseins", wie es Herbart, die „petites percep- tions*', wie es Leibnitz genannt hat. So verschieden auch die nach- und nebeneinander auftretenden Systeme der Denker aller Völker und Zeiten in ihren Principien und Folgerungen, in der Idee und der Ausführung sein mögen, jenes Object behandeln alle. Die Philosophie will den Gegenstand des Erkennens und Vorstellens nicht passiv hinnehmen, sich octroyiren lassen, wie der gemeine Menschenverstand ; sie will ihn begreifen, sich mit ihm auseinandersetzen und dann erst als be- griffenen gelten || lassen. Und wie der allgemeine Zweck, 32 die Idee, so ist auch in gewissem Sinne das Mittel, das Organon, allen Philosophen gemeinsam. Welches ist nun dieses Mittel? Wie sucht die Philosophie ihren Zweck,
30 Erstes Kapitel.
die begreifende Reproduction des Kosmos zu erreichen ? Auch der Dichter, der Maler, der Componist dringen ein in die Tiefe der Natur und der Menschenseele und bei greifen beide, indem sie sie reproduciren. Wie unter- scheidet sich das Begreifen des Künstlers von dem des Philosophen ? Welches ist die specifische Differenz zwischen künstlerischer und philosophischer Reproduc- tion ? — Dieser Unterschied ist durchgreifend.
Der Künstler erfaßt sein Object in der Phan- tasie und reproducirt es als anschaulich Schö- nes; der Philosoph begreift es in der Vernunft und denkt es als abstract Wahres. — Wer bei der, uns octroyirten Vielheit von sinnlichen Einzeldingen als Vereinzelten nicht stehen zu bleiben vermag, sondern, vom Wissensdrange getrieben, die Einheit im Vielen, die Bedingung des Bedingten, den Kosmos in der Natur sucht, der philosophirt. Aber dies ist nur möglich durch Bildung von Gemeinvorstellungen. Indem ich diese bilde, muß ich von dem, v^as an einer Anzahl von Ob- jecten nicht gleichartig, also relativ gleichgültig ist, ab- sehen, abstrahiren. Abstractes Vorstellen ist das Mittel, das Organon der philosophischen Er- kenntniß im Gegensatz zu dem intuitiven des Künstlers.
So suchten nun also die verschiedenen Philosophen auf dem Wege des abstracten Denkens dem Wesen oder. Grunde der Welt näher zu kommen. Mochten sie als Empiristen von den materiellen, oder als Rationalisten von den geistigen Datis der Erfahrung ausgehen, sie verfolgten diesen Zw^eck mit diesem Mittel. Doch nicht allein Zweck und Mittel, sondern auch (was befremdender klingen mag) die Resultate aller ver- 33 schieden en Systeme kommen, trotz ihrer || scharfen Ver- schiedenheiten, in einer wesentlichen Bestim- mung überein ; und das gerade ist für uns von Be- deutung. — Mögen sie nämlich von noch so verschiede-
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 31
nen Principien aus, auf noch so verschiedenen Wegen den Grund der Welt suchen, schließlich langen sie alle an einem Punkte an, wo das Denken auf- hört; sie stoßen auf irgend ein sehr allgemeines Et- was, von geistiger oder materieller Natur, welches sie dann für nicht weiter erforschlich und damit für letzte Ursache oder innerstes Wesen der Welt erklären. Auf dieses letzte Wesen oder diesen Urgrund wird dann die ganze Mannigfaltigkeit der Welt in irgend welcher Weise reducirt, oder aus ihm deducirt ; und dann — fällt der Vorhang. Sei dieses Letzte und Höchste nun, wie Thaies meint, das flüssige Element, oder wie Spinoza behauptet, die Substanz, oder wie Hegel will, die Dialektik des absoluten Geistes, — dies ist eben Allen gemeinsam, daß sie bei einem solchen all- gemeinsten Etwas stehen bleiben, es nicht weiter zer- legen, und Alles nur aus diesem Einen erklären wollen. Auch diejenigen Philosophen, die wie Demo- krit, Leibnitz und Herbart nicht in einer Ein- heit, sondern einer Vielheit den Urgrund der Welt fin- den, stimmen mit jenen darin überein, daß sie hier bei einem solchen (aus einer Vielheit bestehenden) Ur- gründe aufhören. — Gesteht man ihnen nun ihren re- spectiven Urgrund zu, so mag sich Alles in der Welt aus ihm sehr streng und consequent erklären und ab- leiten lassen, auch das Ganze sich recht schön und erbaulich ausnehmen. Die Vernunft hat ihre Schuldig- keit gethan, die Vernunft kann — schlafen gehen. Aber damit ist es leider Nichts ! Denn es finden sich immer neugierige Frager, die gern noch mehr wissen möch- ten, die jenen Urgrund nicht als Letztes anerkennen wollen und wohl gar so boshaft sind, die schlafen ge- gangene Vernunft eine ratio ignava und den Urgrund ein asylum ignorantiae zu nennen.
Gewöhnlich finden sich dann auch sehr bald zu jenen Fragern || die betreffenden Antworter, welche das 34
32 Erstes Kapitel.
allgemeine Etwas, das zuletzt für den Urgrund gegol- ten hat, auf ein noch allgemeineres zurückführen, damit den tieferen Grund gefunden zu haben meinen und dann ebenfalles auf ihren Lorbeeren ausruhen. Dabei haben sie dann freilich zu bemerken vergessen, daß die Grenze nur weiter hinausgeschoben, nicht aber aufgehoben, daß also ihr Gewinn ein ganz relativer ist, und daß sich daher sehr bald derselbe bekannte Vorgang des Fragens und Antwortens wieder- holen muß. — Dies gilt, wie gesagt, gleicherweise von allen Richtungen der Philosophie, vom transscenden- talen Idealismus, wie vom Materialismus. Letzterer z. B. hält seine Lehre für sehr plausibel, weil er von der Materie, als der solidesten Basis ausgeht, die jeder mit Händen greifen kann. Nun braucht aber nur Jemand zu fragen: „Ja, was ist denn aber Materie?'' so ist es schon mit seiner Weisheit zu Ende ; denn es zeigt sich, daß er immer nur die Prädicate derselben, nämlich die sinnlichen Qualitäten kennt, während das Sub- ject: Materie, welches allen den bekannten Sinnes- empfindungen als sx/iiayslov zu Grunde liegen soll, in der That nichts als ein ganz unbekannter Urgrund, ein leerer, durchaus relativer Begriff ist, kurz eine taube Nuß. —
Indem sich nun dieser Proceß im Entwicklungs^ gange der Philosophie immer und immer wieder repro- ducirte, glich im Allgemeinen die menschliche Vernunft dem Kinde, das gern durch den Regenbogen hindurch- laufen möchte und sich darüber verwundert, daß ihm dies schlechterdings nicht gelingen will. Es gewann in der That (wie Jacobi richtig bemerkt) den An- schein, als ob „die Wahrheit, anstatt dem Menschen entgegenzukommen, ihn fliehe."*) Stutzig gemacht 35 durch diese Erscheinung treten dann ab II und zu Män-
*) F. H. Jacobi. David Hume etc. Ein Gespräch. 1787. pag. 79.
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 33
ner auf (Skeptiker), welche die Philosophie zur Ver- nunft bringen wollen, indem sie ihr sagen, sie werde doch nie zum Ziele kommen. Diese gleichen solchen, die jenem Kinde sagen: „Der Regenbogen ist zu weit!'' — Das Kind wird hierauf wohl zwar seine Bemühungen aufgeben, aber überzeugt von der Unausführbarkeit seines Vorhabens wird es nicht sein. Dies könnte es vielmehr erst dann, wenn ein Verständiger es belehrte, daß das bunte Phänomen nicht etwas Consistentes, kein an das Himmelsgewölbe gehefteter Bogen, sondern ein Reflex der Sonnenstrahlen in den ihnen gegenüber her- abfalleaden Regentropfen ist, daß es daher immer vor uns entfliehen muß, so lange die Regenwand vor den Augen schwebt, und die Sonne hinter uns am Him- mel steht, u. s. w. Auf diese Belehrung hin würde ein gescheidtes Kind seine fruchtlosen Bemühungen auf- geben, da es einsähe, daß dieselben thöricht und ohne Erfolg sind, und daß das Erstrebte etwas ganz Ande- res ist, als wofür es gehalten wurde, nämlich nichts Festes, Greifbares, sondern bloß ein sichtbares Ver- hältniß. — Ein solcher verständiger, belehrender Mann hat sich nun aber für den philosophirenden Menschen- geist gefunden ; leider freilich hat er ihn nicht voIN ständig, sondern nur zum Theil belehrt und daher die Thorheit nicht ganz vernichtet, -obgleich er von der reinen, echten Wahrheit ein gutes dankenswerthes Stück uns mitgetheilt hat. Dieser Mann ist Immanuel Kant. —
K a h t hatte es zunächst mit der L e i b n i t z - Wolfischen Philosophie zu thun. In dieser nun gibt es, wie in allen früheren, auch ein solches Letztes und Allgemeinstes, welches nicht weiter begründet wird. Sie behandelt dieses, unter Voraussetzung der Logik, in der „Ontologie" und nennt es „Ding'' (ens). In- dem sich Kant belehrend zunächst an die Leibnitz- Wolfianer wendete, mußte er natürlich, um ihnen
Neudrucke: Liebmann, Kant. 3
34 Erstes Kapitel.
36 verständlich sein zu können, ihre li Sprache reden, er mußte also auch (und zwar hauptsächlich) das ,,Ding^' behandeln. Da er aber, seinen Principien gemäß, alles und jedes Object der Erkenntniß für ein Correlat des Subjects erklären mußte, und die Wolfianer unter dem ,, Dinge*' nicht ein solches Correlat, sondern etwas schlechthin Unabhängiges, Allgemeines, aber auch ganz Leeres verstanden, so nannte er es, um diese vorgeb- liche Unabhängigkeit auch vom Subjecte der Erkennt- niß und dessen allgemeinen und nothwendigen Formen auszudrücken, das „Ding an sich." Im Anfange nun hat er dieses ,,Ding an sich** als einen, seiner Philo-- Sophie fremden, Lehrbegriff nur geduldet. Nachdem er aber im ersten Entwürfe seiner großen Gedanken alle jene Kühnheit des Denkens verbraucht hatte, die sich nicht scheut, paradox zu erscheinen, etwas zu sagen, was der allgemeinen Meinung in's Gesicht schlägt, um nachher doch zu triumphiren, läßt er das „Ding an sich** zunächst nur nebenher laufen, um dann (wie wir auf Seite 28 und 29 gesehen haben) ihm immer mehr Geltung zuzugestehen, anstatt es sofort zu ver- werfen und zu vergessen nach dem Satze des S e n e c a : Etiam oblivisci interdum expedit. Statt dessen verweist er es nur, mit steigender In- consequenz, aus den Formen unseres Intellects (Raum, Zeit und Kategorien) und verfällt so in den Wider- spruch, etwas Nichtvorstellbares vorzustellen. Der Be- griff oder vielmehr Unbegriff ist einmal durch das Wort fixirt, und nun wird, dem lieben, dogmatischen Schlen- drian zu Liebe, das hölzerne Eisen immer mehr in Gnaden aufgenommen, bis es endlich unentbehrlich ge- worden, apodiktische Gültigkeit erlangt hat. Damit hat Kant den letzten, äußersten Schritt gethan, den echten Kriticismus verleugnet, wie Galilei das Kopernicanische Weltsystem. — Denn es ist durch das „Ding an sich** nicht nur ein falscher, undenkbarer Begriff in seine
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 35
Lehre II aufgenommen, sondern die, in der transscen-37 dentalen Aesthetik erlangte Einsicht in die Allgemein- heit und Nothwendigkeit, d. i. Apriorität der Formen alles Anschauens, Raum und Zeit, welche gerade der epochemachende Gedanke seiner großartigen Weltan- schauung war, gänzlich in Frage gestellt. Er gibt seinen bedeutendsten Gedanken dadurch wieder auf und be- stätigt die Worte des Demosthenes: noXkaxL^ doxel ro (pvXd^at rdyadtt tov xryjaaoi^ai xaXsjiMxeQov eivai.*)
Alles, was er nun über den eingeschmuggelten Un- begriff sagt, ist dunkel Und widersprechend. Bald ist es „weder möglich, noch unmöglich", bald „muß es gedacht werden", bald ist es „ein X, von dem man gar nichts sagen kann", u. s. w. Schon aus dieser schwankenden, unklaren Sprechweise kann man schließen, daß Kant in diesem Punkte kein reines Gewissen hatte, denn :
Ce que Ton con^oit bien, s'enonce clairement.
Boileau.
Nun aber hat er es als dogmatischen Zopf zu tragen, der ihn immer belästigt und drückt, um den er immer herum disputirt, der sich aber nicht wegdispu- tiren läßt.
Er dreht sich rechts, er dreht sich hnks, Der Zopf der hängt ihm'hinten.
Und trotz alledem hat keiner von den Nachfolgern Kants eingesehen, daß dieses „Ding an sich" ein frem- der Tropfen Bluts im Kriticismus **) ist, der bei conse-
*) Dem. Olynth. I., 23. **) Schleiermacher in dem interessanten kleinen Aufsatze über das Spinozistische System (Gesch. d. Philos. Berl. 1839 pag. 283. ff.) kommt Dem, was hier von uns nachgewiesen ist, nahe, aber erreicht es nicht. Spinoza nämlich mit Kant vergleichend, gelangt er zu dem Resultate, daß das Noumenon oder Ding an sich nur durch .einen inconsequenten Rest des alten Dogmatismus" in der kritischen Philosophie entstanden sei. Aber dieser treffende, gerechte Tadel wird nicht weit genug verfolgt, um Veranlassung zu geben zur Bloß-
3*
36 Erstes Kapitel.
38quenter Entwicklung der gegebenen || Principien nicht einmal erwähnt worden wäre. Fichte z. B. streicht es in der Wissenschaftslehre scheinbar aus, während es nur an einen andern Ort verlegt wird. Schopen- hauer findet, daß es nur auf eine falsche Weise ein- geführt, daß es „eine richtige Conclusion aus falschen Prämissen'* sei *), während es gerade umgekehrt als eine falsche Conclusion aus zwei Prämissen erscheint, deren jede für sich genommen richtig ist. Der Schluß ist nämlich folgender:
Jedes Bedingte hängt mit etwas außer ihm als seiner Ursache nothwendig zusammen.
Nun ist die empirische Welt in Raum und Zeit be- dingt.
Also u. s. w.
Dieser Syllogismus ist, so lange man auf dog- matischem Standpunkte steht, ganz richtig. So wie man aber die transscendentale Einsicht gewonnen hat, daß Raum und Zeit als allgemeine und nothwendige Formen der Anschauung a priori gegeben sind, daß also außer ihnen Nichts besteht, sondern Alles in. ihnen, so bemerkt man den Trugschluß der fallacia falsi 39medii. || Die Welt in Raum und Zeit ist allerdings „be- dingt", aber nicht durch etwas außer ihr (denn außer
legung des wahren kritischen Grundgedankens und zur Verwerfung der grundfalschen verkehrten Auffassungen, welche leider, aus jenem Fehler Kants entspringend, den aufkeimenden Samen der Wahrheit als Unkraut üppig überwuchert haben und zu ersticken drohten. Schleiermacher scheut sich doch, die gefährliche Nessel mit be- herztem Griffe zu erdrücken, auszuraufen und wegzuwerfen, wie wir jetzt gethan haben; er begnügt sich damit, zu erklären „daß Kant in diesem Stücke mutatis mutandis Spinozist sei", womit freilich die nachhinkende Inconsequenz des Kriticismus getroffen, aber weder erklärt noch verworfen ist. So aber fehlt dem Angriffe die Wucht, der Waffe die Spitze.
*) A. Schopenhauer : Die Welt als Wille und Vorstellung. B. I. pag. 597.
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 37
ihr gibt es Nichts, sie ist Alles), sondern durch ihre immanenten Bedingungen und nothwendigen For- men, Raum, Zeit und Kategorien. Hätte man also das Prädicat ,, bedingt'' näher definirt, so würde man inne geworden sein, daß es in jeder der beiden Prämissen einen andern Sinn hat, daß also hier eine quaternio terminorum vorliegt. — Uebrigens hat Kant (wenn man von der bereits durch seinen Fehler beein- flußten Ausdrucksweise absieht) das selbst schon ausge- sprochen, wenn er sagt : „daß wir niemals berechtigt ,, seien, von einem Gliede der empirischen Reihen, wel- „ches es auch sei, einen Sprung außer dem Zusammen- „hange der Sinnlichkeit zu thun, gleich als wenn es „Dinge an sich selbst wären u. s. w.'' *) und „daß die „reinen Verstandesbegriffe niemals von transscen- „dentalem, sondern jederzeit nur von empiri- „schem Gebrauche sein können.**)" — —
Dies wäre denn die historische Deduction, wie wir es oben genannt haben. Daß hiermit das Räthsel noch nicht gelöst ist, daß wir uns also damit nicht be- gnügen können, fühlt wohl Jeder ; und wir verweisen in dieser Hinsicht auf die psychologische Deduc- tipn, welche uns den Schlüssel in die Hand geben, voll- kommen Einsicht gewähren soll in die wahre Ent- stehungsgeschichte jenes merkwürdigen Fehlers. — Be- vor wir aber an diese Betrachtung gehen, stellen wir uns noch eine Aufgabe, deren Lösung für unseren End- zweck vielleicht von wesentlicherer Bedeutung ist, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Es ist nämlich bekannt, daß nicht lange nach dem Auftreten der kritischen Philosophie eine Reihe von ge- fährlichen Angriffen 11 gegen die Kritik der reinen Ver-40 nunft unternommen wurden, welche durch schonungslose Bloßlegung der wirklichen und vorgeblichen Fehler
*) Kr. d. r. V. pag. 563. -^■) pag. 246.
38 Erstes Kapitel.
Kants, wenn auch nicht sein Ansehen vernichtet, doch die Entwicklung neuer Philosopheme gezeitigt und da- mit ein wirklich gründliches Eingehen auf dieses größ- artige System mit gehemmt haben. Einer der scharf- sinnigsten dieser Gegner Kants, G. E. Schulze, wendete sich im „A en es i d emu s*' *) gegen den Meister und seinen Apostel Rein hold zugleich, und indem er mit dem wirklichen, großen Fehler Kants noch Mehreres vernichtet zu haben meinte, was unwider- leglich ist, verschuldete er es mit, daß Kant zu vor- eilig für überwunden gehalten wurde. Das hat viel Unheil angerichtet !
Ich unternehme es nun, nachzuweisen, daß alle An- griffe des Aenesidemus nur soweit Bedeutung haben, als sie sich gegen die Consequenzen des „Dings an sich" wenden, daß sie aber gegen den reinen und echten Kriticismus in Nichts zerfallen. Möge man also den folgenden Abschnitt nicht für ein willkürliches Inter- mezzo halten. Er ist ein organisches Glied in unserer Betrachtung. —
Die in Betracht kommende Stelle steht: Aenesi- demus pag. 108 ff. Der Zweifler beginnt mit der „Darstellung des Humeschen Scepticis- mus.** Mit Recht! Denn Kant ist ja, wie er selbst ge- steht, durch H u m e „aus dem dogmatischen Schlummer geweckt worden.'* **)
Dort heißt es nun (pag. 108):
„Wenn es wahr ist, sagt Hume, daß unsere Vor-
41 „Stellungen || entweder unmittelbar oder mittelbar von
„der Wirksamkeit vorhandener Gegenstände auf unser
„Gemüth herrühren, oder gewissermaßen Abdrücke der
*) Aenesidemus oder über die Fundamente der von H. Prof. Reinhold in Jena gelieferten Elementar-Philosophie. Nebst einer Ver- theidigung des Scepticismus gegen die Anmaßungen der Vernunft- kritik. 1792.
**) Kants Prolegomena pag. 13.
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 39
„außer uns befindlichen Originalien dazu ausmachen, „und daß sich hierauf die Realität unserer Vorstellungen „gründe, so müssen auch die Begriffe Ursache, Wir- „kung u. s. w., um reell zu sein, aus den Impressionen „der außer unseren Vorstellungen vorhandenen Gegen- „stände auf uns mittelbar oder unmittelbar „entstanden sein/*
Die Form dieser Folgerung ist hypothetisch. Fällt die Voraussetzung weg, so bleibt die Folge min- destens zweifelhaft und ebenso unbehauptbar wie die Voraussetzung selbst. Was nun aber den Inhalt der- selben anlangt, so wissen wir (woran freilich Hume noch nicht dachte), daß äußere Gegenstände nur inso- fern da sind, als in der Anschauung durch die allge- meinen Verknüpfungsformen des Intellects (Kategorien) die gegebenen Empfindungen combinirt werden, über- haupt daß alles Object unzertrennliches Correlat des Subjects der Erkenntniß ist. Ferner aber ist die Ver- knüpfung von Ursache und Wirkung nicht die Vor- stellung eines Gegenstandes, sondern eines Verhältnisses von Gegenständen; da nun in der Voraussetzung nur von Abdrücken der Gegenstände in den Vorstellungen, nicht aber von ihren Verknüpfun- gen und Verhältnissen die Rede war, so gehört der Causalnexus gar nicht hierher. —
Nachdem nun (pag. 109) gefordert ist, daß zwei Dinge, die als Ursache und Wirkung zu einander ge- hören sollen, erstlich aneinander gränzen, sich einander berühren, zweitens aufeinander zeitlich folgen und drit- tens in nothwendiger Verbindung stehen sollen, heißt es (pag. 111) weiter; „Auch müßte uns, wenn wir Kennt- ,,niß von der Kraft eines Gegenstandes oder von dem- „jenigen hätten, wodurch er Ursache von gewissen Wir- ,,kungen ist, möglich sein, sogleich aus der Betrachtung „des Gegenstandes anzugeben und zu bestimmen, was „daraus folgen werde; denn die Kenntniß einer || Be-42
40 Erstes Kapitel.
„schaffenheit schließt auch die Kenntniß alles desjenigen „in sich, was nothwendig zu ihr gehört und einen Be- „standtheil davon ausmacht." — Hiergegen ist zu erin- nern, daß die Wirkung nicht „BestandtheiP' der Ursache, sondern durch sie „bedingt" ist. Der Causalnexus als reiner Begriff fordert nur, daß etwas erfolge ; um zu wissen, was erfolgen wird, müßten wir eine durchaus vollständige Kenntniß von allen obwaltenden Bedingun- gen haben. Obgleich aber Letzteres schwerlich je der Fall sein wird, so sind wir doch bei jeder wahrgenom- menen Constellation von empirischen Bedingungen über- zeugt, daß irgend Etwas daraus hervorgehen wird, eben- so wie, daß Etwas als Ursache vorangegangen ist. Diese unbedingte Ueberzeugung, welche wir immer hegen, mögen wir wollen oder nicht, verleiht gerade dem Causalnexus den Charakter der Kategorie. Darin, daß wir die Allgemeinheit und Nothwendigkeit jenes Ver- hältnisses immer und überall voraussetzen, obgleich wir nur die zeitliche Aufeinanderfolge, das post hoc, nicht aber die Nothwendigkeit der Aufeinanderfolge, das propter hoc, wahrnehmen, erkennen wir, daß der Causal- nexus aller Erfahrung vorausgeht und von ihr unab- hängig ist. — Gemäß der falschen Annahme unabhängig von unseren Vorstellungen existirender äußerer Gegen- stände heißt es nun (pag. 115): „Die nothwendige Ver- „knüpfung, die zum Wesen der Ursache und Wirkung „gehört, existirt daher durchaus nicht in den objectiven ,, Gegenständen ; sondern lediglich in der Folge u n s e - „rer Vorstellungen von ihnen." Dieser Gipfel- punkt des H um eschen Zweifels ist nun gerade der Ausgangspunkt für den Triumph des Kriticismus. Denn indem er nachweist, daß wir überhaupt nur von Gegenständen i n der Vorstellung, nie aber von welchen außer ihr wissen und reden können, restringirt er eben den Gebrauch der Kategorien auf unseren Vorstel- lungsbereich. — Bacon, der gewiß kein Idealist war,
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 41
sagt doch : Omnes per- 1| ceptiones, tarn Sensus quam 43 Mentis, sunt ex analogia Hominis, non ex analogia Universi. Estque Intellectus humanus instar speculi inae- qualis ad radios rerum, qui s u a m naturam Naturae rerum immiscet, eamque distorquet et inficit. *) Er er- kennt also wenigstens das Mitwirlcen unseres Intei- lects beim Zustandekommen der Vorstellungen von sinn- lichen Gegenständen an. Nun möcht^e ich aber den Mann erst noch kennen lernen, der jemals ,, Originale" zu dem vermeintlichen ,, Spiegelbilde'* in unserem Intellect ge- sehen hätte, der also bezeugen könnte, daß in der Vor- stellung und Erkenntniß uns wirklich bloße „C o p i e n" gegeben sind. Dies müßte er in der That durch eine übernatürliche Offenbarung in Erfahrung ge- bracht haben, oder es müßte ihm gelungen sein, in geistiger Hinsicht einen Act zu vollziehen, den man in populärer Redeweise : „Aus der Haut fahren" nennt. —
Mit Beziehung auf die pag. 117 — 122 gegebene Rechtfertigung der Humeschen Ansichten können wir nur wiederholen: Der Satz: „Die Kategorie der Causa- lität ist ein synthetisches Urtheil apriori" bedeutet ge- nau dasselbe, wie : „Es ist eine nothwendige Eigenthüm- lichkeit meines Intellects zu jeder Wirkung eine Ursache vorauszusetzen, und umgekehrt." Beide Sätze sind tauto- logisch. Und den Inhalt dieses letzteren Satzes wird schwerlich jemand bestreiten, der seinen Sinn begriffen hat. Wer unversehens eine Ohrfeige erhält, wendet sich an den vor ihm stehenden Geber derselben und gibt ihm die gebührende Antwort. Wie käme er hierzu, wenn er nicht gemäß der Kategorie der Causalität aus der räumlichen Nähe, den Geberden u. s. w. des neben ihm Stehenden in ihm die Ursache der empfundenen Schmach voraussetzte ? —
Nachdem nun von Seite 118—130 theils unterge- ordnete, II theils schon abgefertigte Gedanken vorge-44
*) Bacon. Nov. Organ. I, 41.
42 Erstes Kapitel.
bracht sind, beginnt pag. 130 die Erörterung der Haupt- frage: „Ist Humes Skepticismus durch die Vernunftkritik wirklich widerlegt wor- den?''
„Es wird, heißt es pag. 131, bei der Beantwortung „der eben aufgeworfenen Frage ganz vorzüglich darauf „ankommen, daß wir untersuchen : Ob die Gründe, wel- „che Herr Kant dafür beibringt, daß die nothwendigen „synthetischen Urtheile aus dem Gemüthe und dem „inneren Quell der Vorstellungen selbst herrühren müs- „sen, und die Form der Erfahrungserkenntniß aus- „machen, so beschaffen seien, daß sie auch David Hume „für zureichend und beweisend halten könnte?" — Wir erwidern : Nicht darauf kommt es an, ob David Hume durch Anerkennung der Argumente seines Nach- folgers sich für besiegt erklärt (das kann uns ziemn lieh gleichgültig sein), sondern darauf, ob Kant ihn soweit evident widerlegt hat, als er ihn überhaupt widerlegen will. Ferner hat Kant durch seinen Nachweis von synthetischen Urtheilen a priori nur dies sagen wollen, daß die ganze empirische Erkenntniß, oder Erfahrung (auch die innere, psychologische) durch gewisse allgemeine Verknüpfungen (Kategorien) zusam- mengehalten wird, welche aus der Erfahrung nicht selbst erklärlich sind ; es ist ihm aber nicht in den Sinn gekommen zu behaupten, daß das Gemüth (Subject) Ursache dieser Kategorien wäre, oder sie hervor- brächte, was erst Fichte gethan hat. Die Kategorien sind Functionen des Intellects, durch welche sowohl Subject als Object der Erkenntniß bedingt sind. Die Apriorität derselben läßt sich am einfachsten so dar- legen :
Daß wir Erfahrungen machen, ist eine Thatsache, und zwar (wie Aenesidemus pag. 122 ausdrücklich betont) unleugbare Thatsache. Nun wäre aber Er- fahrung unmöglich, ohne die Synthesen von Ursache
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 43
und Wirkung u. s. w. (Kategorien). Also ist das Da- sein der Kategorien mindestens auch eine u n - leug-||bare Thatsache. Diese Kategorien könnten 45 ferner entweder aus der (inneren oder äußeren) Er^ fahrung stammen, d. i. a posteriori gegeben sein, oder nicht aus ihr stammen, sondern von ihr als Bedingungen vorausgesetzt werden, d. i. a priori gegeben sein. Aus der Erfahrung aber stammen sie, wie H u m e ganz rich- tig behauptet und Aenesidemus pag. 110 ref erirt, nicht. Also sind die Kategorien a priori ge- geben, q. e. d.
Aenesidemus ist fortwährend von dem Irrthum be- fangen, daß „a priori gegeben sein^' soviel bedeute, als „vom Qemüth (Subject) hervorgebracht sein.'* Des- halb polemisirt er nun gegen Kant, weil dieser die menschliche Vernunft für „die Quelle oder den Real- grund" der nothwendigen synthetischen Urtheile in unserer Erkenntniß ausgebe, während „wir uns doch „das Vermögen der Vorstellungen als den Grund dieser „Urtheile nur denken, nicht aber hieraus schließen „könnten, daß es auch wirklich dieser Grund sei." Alle diese Angriffe sind Schläge in die Luft, weil die Voraussetzung, von der ausgegangen wird, ganz falsch, ein Mißverständniß der Kantischen Lehre ist. —
Kant nennt diejenigen Formen der Erkenntniß, die in allem Erkennen thatsächlich vorhanden sind, ohne deren Gegenwart und Vorhandensein alles Erkennen und Vorstellen überhaupt auseinanderfallen, ja vernichtet werden würde, die daher in allesr Erfahrung schon vor- ausgesetzt sind, ohne daß wir doch irgendwie wissen können, woher sie stammen — Erkenntnisse a pri- ori. Von ihrem Ursprung, oder Realgrund kann gar nicht die Rede sein. Denn so wie wir irgend Etwas vorstellen und Erkennen, sind sie schon da, ge- geben. Das intelligente Ich oder Subject der Erkennt- niß bewegt sich fortwährend in ihnen, als in seinem
44 Erstes Kapitel.
Elemente, wie der Fisch im Wasser. Wäre es nun über- haupt irgendwie möglich, daß dieses Subject der Er- 46 kenntniß einmal unerklärlicher Weise aus ü diesen In- tellectualformen (Raum, Zeit und Kategorien) heraus- kommen könnte, wie etwa ein Fisch aus dem Wasser in die Luft, so würde das, was irgendwie noch übrig bliebe, für es ganz fremd und unfaßbar sein, wie die von der Luft gebrochenen Lichtstrahlen für das Auge des Fisches. Aber omne simile Claudicat. Eine solche Metamorphose, ein solches Heraustreten des Subjects aus seinen Intellectualformen ist ein unmöglicher Fall, von dem wir gar nicht reden dürfen, weil er den that- sächlichen Gesetzen unserer Vernunft geradezu wider- spricht und in's Gesicht schlägt.
Indem nun aber Aenesidemus mit diesem seinem Mißverständniß tief unter dem Niveau der Kantischen Weltansicht steht, setzt er zugleich immer voraus, Kant wolle Humen durchweg widerlegen und fordert des- halb pag. 133, daß die Vernunftkritik entweder das Gegentheil von Humes Behauptungen beweisen, oder ihn ad absurdum führen solle. Daran wird sie aber gar nicht denken, da sie ja mit der vorzüglichsten Behaup- tung Humes ganz übereinstimmt. Hume nämlich sagt : ,,Der nothwendige Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung ist nicht aus der Erfahrung geschöpft." — Ganz richtig! erwidert Kant. — „Also, fährt jener fort, ist er ohne Bedeutung und muß im Object geleug- net werden." Mit Nichten ! wendet die Vernunftkritik ein ; nur wenn wir, wie du in deiner petitio principii angenommen hast, außer unsern Vorstellungen Gegen- stände zugeben müßten, wäre der Causalnexus etwas bloß Subjectives, ohne Anwendbarkeit auf jene Gegen- stände ; da es aber geradezu ein Widerspruch ist, von andern Gegenständen zu reden, als den i n unseren Vor- stellungen gegebenen, so fällt deine Folgerung hin- weg. —
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Wenn nun ferner Kanten im Allgemeinen ein Vor- wurf daraus gemacht wird, daß er bei seiner Entdeckung der Kategorien als solcher diese selbst schon in seinem Denken angewendet habe, so ist II dies eben so unge- 47 reimt, als ob man dem Optiker vorwerfen wollte, daß er bei seinen Untersuchungen sich selbst des Sehnervs, der Retina, der Pupille u. s. w. bedient habe. *) Ein solcher Vorwurf ist überhaupt nur dann möglich, wenn man die Kantische Lehre in empiristischer Weise miß- deutet, wenn man von ihrem transscendentalen Gesichtspunkte keine Ahnung hat. Und daß letzteres bei Aenesidemus in der That der Fall ist, zeigt sich sehr deutlich zunächst in dem pag. 140 als vorgebliche Summe der Vernunftkritik untergeschobenen Syllogis- mus, welcher gar nichts davon weiß, daß „empirisches sein'' und ,, Vorstellung sein*' bei Kant dasselbe ist, und daß die Erkenntnisse a priori Voraussetzungen bei allem Vorstellen sind. Fast komisch tritt dieselbe Unkenntniß hervor in der naiven Aeußerung (pag. 182), ,,daß sich ja Etwas, was auf der gegenwärtigen Stufe der Cultur nur auf diese eine Weise denken lasse (Aprio- rität der Kategorien), vielleicht auf einer ande- ren späteren auch anders werde erklären lassen."
Wie wenig Aenesidemus der Kantischen Tiefe ge- wachsen, ersieht man ferner aus folgendem Passus (pag. 143): „Es ist nämlich unrichtig, daß, wie in der Ver- „nunftkritik angenommen ist, das Bewußtsein der „Nothwendigkeit, welches gewisse synthetische „Sätze begleitet, ein unfehlbares Kennzeichen ihres
*) Ebendahin gehört die Hege Ische Vergleichung Kants mit einem Scholasticus, der „schwimmen zu lernen sich vorsetzt, ehe er sich ins Wasser wagt." Dieses ganz unzutreffende, falsche Gleichniß ist bereits von competenter Seite gebührend abgefertigt worden. — Hegels Encyclopädie d. philos. Wissensch. 1827. Einleit. §. 10. Vgl. Kuno Fischers Gesch. d. n. Philos. B. III. pag. 21.
46 Erstes Kapitel.
„Ursprunges a priori und aus dem Qemüth ausmache. „Mit den wirklichen Empfindungen der äußeren Sinne „z. B., welche auch nach der kritischen Philosophie in 48 „Ansehung ihrer Materialien insgesammt l! nicht aus „dem Qemüth, sondern von Dingen außer uns herstam- „men sollen, ist, ihres empirischen Ursprungs ohnge- „achtet, ein Bewußtsein der Nothwendigkeit verbunden. „Während dessen nämlich, daß eine Empfindung in uns »gegenwärtig ist, müssen wir sie als vorhanden er- „kennen/' — Vor allem wieder das gerügte Mißver- ständniß des ,,a priori''. Dann aber ist dieses ,,als vor- handen erkennen müssen'' der in uns gegenwärtigen Empfindung nicht der Ausdruck metaphysischer Noth- wendigkeit und Allgemeinheit, sondern des empirischen Gezwungenseins. Was zwingt uns denn nun dazu? Haben wir ein solches Zwingende wahrgenommen ? Nein ! Vielmehr setzen wir gemäß der Kategorie der Causalität einen Gegenstand voraus, der die Ursache der gegenwärtigen Empfindungen in uns ist, und kommen so erst zu der empirischen Nothwendigkeit des Ge-; zwungenseins. Wäre aber unser Vorstellen nicht von jener Kategorie beherrscht und geleitet, nähmen wir jene metaphysische Nothwendigkeit des nexus causalis hinweg, was bliebe dann von dem „müssen", von der empirischen Nothwendigkeit übrig? Nichts Anderes, als der Satz : „Solange eine Empfindung unserem Bewußt- „sein gegenwärtig ist, ist sie ihm gegenwärtig." Ein Satz, der seinem Inhalte nach eine leere, überflüssige Tautologie, seiner Form nach assertorisch, nicht aber apodiktisch ist. — Wenn der Mathematiker sagt: „Alle ebenen Dreiecke, die je existirt haben, „existiren und überhaupt existiren können, müssen die „Winkelsumme von zwei Rechten haben, und das Gegen- „theil ist undenkbar," oder der Philosoph: „Alle Ereig- „nisse der Welt müssen eine Ursache haben und wären „ohne diese unmöglich", so tragen sie bei ihren Sätzen
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants, 47
jene innige Ueberzeugung von der Nothwendigkeit der- selben in sich, die nicht aus der Erfahrung geschöpft ist, sondern a priori gegeben. Die jeweiligen Empfin- dungen aber, z. B. die des vor mir liegenden Papiers, könnten ganz gut wegfallen, oder mit an- il deren ver- 49 tauscht werden, ohne daß dadurch die Natur meines Bewußtseins und des Intellectes alterirt würde. Dies ist der Unterschied zwischen den Erkenntnissen a posteriori, deren Inhalt für die Gesetze des Er- kennens gleichgültig ist, und den Erkenntnissen a priori, welche nicht hinweggedacht werden können, ohne daß zugleich der Intellect vernichtet würde ; — ein Unterschied, den Kant entdeckt und Aenesi- demus nicht begriffen hat. —
Bis hierher hatte nun der Skeptiker durchweg Un- recht, weil er seine Angriffe gegen die unumstößlichen Wahrheiten der kritischen Philosophie richtete. Von nun an aber wendet er sich gegen das „Ding an sich," und was er gegen dieses sagt, ist so richtig und treffend, daß wir es geradezu unterschreiben können. „Wenn, „heißt es pag. 296, von Dingen an sich die Rede „ist, so versteht man allgemein darunter ein Etwas, so „außer unsern Vorstellungen realiter da sein soll, so „mit unseren Vorstellungen nicht erst entsteht, noch „auch mit denselben wieder untergeht, sondern das da „sein würde, wenn wir auch ganz und gar ;iicht da „wären. Fragt man z. B. ob der Vorstellung des Baumes, „den man wachend und im gesunden Zustande des Oe- „müths sieht, ein Ding an sich zum Grunde liegt, so „ist hierbei davon gar nicht die Rede, ob in der Vor- „Stellung des Baumes unter vielen anderen Merkmalen, „die zusammengenommen die Vorstellung desselben aus- „machen, nicht auch das Merkmal einer Beziehung und „eines Verhältnisses der Vorstellung zu einem außer „uns befindlichen Gegenstande enthalten sei, oder ob „wir uns nicht den Baum als etwas von uns selbst
48 Erstes Kapitel.
, Unabhängiges vorstellen müssen ; sondern ob etwas ,objectiv vorhanden sei, welches mit der Anschauung ,des Baumes in Verbindung stehe, und den Inhalt der- , selben bestimmt habe, so daß, wenn dieses Etwas , nicht eben so an sich und außer uns wirklich wäre, ,als wie die Vorstellung des Baumes in uns wirklich ,ist, und mit 11 unserem Gemüthe nicht in einer reellen , Verbindung stände, wir gar keiner Vorstellung des , Baumes theilhaftig geworden wären. Die kritische , Philosophie behauptet nun allerdings wohl, daß es , solche Dinge an sich objectiv gäbe, und daß die der jRealOrund des Inhalts unserer Erfahrungskenntnisse , seien : Allein, sie behauptet dies ohne allen , Grund, und hat durch ihre Lehren über die jNatur und Bestimmung der Grundsätze ,des reinen Verstandes und der reinen Ver- ,nunft alle Möglichkeit, jene Behauptun- ,gen zu erweisen, gänzlich zerstört. Denn ,wenn es wahr ist, wie die kritische Philosophie apo- jdiktisch erwiesen zu haben vorgibt, daß eine Erkennt- ,niß des Dinges an sich alle Fähigkeiten unseres Vor- , Stellungsvermögens gänzlich übersteige, und daß dieses ,Ding uns nach dem, was es objectiv ist, völlig unbe- ,kannt ist, so hat ihre Behauptung, dasselbe ,sei eine Bedingung, unter der wir allein , Erfahrungskenntnisse zu besitzen im , Stande sind, gar keinen Sinn, weil man, ,um behaupten zu können, Dinge an sich , liegen den Vorstellungen in unserem Ge- ,müth zum Grunde, doch zum wenigsten , dieses wissen muß, daß Dinge an sich rea- ,liter existiren und Ursache von etwas sein ,köxinen. Wenn man ferner annimmt, daß das Prin- ,cip der Causalität gar nicht auf Dinge an sich ange- ,wendet werden dürfe, sondern nur in Beziehung auf ,das, was als Erfahrung bloß subjectiv in uns da ist,
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 49
Gültigkeit habe (wie auch die kritische Philosophie völlig erwiesen zu haben vorgibt) ; so fällt dadurch wieder die Möglichkeit weg, den Zusammenhang ge- wisser Theile unserer Erkenntniß mit Dingen, die nicht zu dieser Erkenntniß gehören, darthun zu können, und ist das Princip der Causalität außer der Erfahrung ungültig, so ist es ein Miß- brauch der V er s tan d es ges e tz e, wenn man den Begriff Ursach, auf et- II was anwendet, 51 so außer unserer Erfahrung und gänzlich von derselben unabhängig da sein soll. Wenn also auch die kritische Philosophie gar nicht geradezu leugnet, daß es Dinge an sich, als Ursachen des Stoffes der empirischen Erkenntnisse gäbe, s o muß sie doch eigentlich, vermöge ihrer eigenen Principien, der Annahme einer solchen t r a n ss cen d en t a I en Ursache des Stoffes unserer empirischen Erkenntniß alle Realität und Wahrheit absprechen, und nach ihren eigenen Grundsätzen ist also nicht nur der Ursprung des Stoffes der empirischen Erkenntniß, sondern auch deren [transscendentale] Realität, oder deren wirkliche Beziehung auf etwas außer unseren Vorstellungen völlig unge- wiß und für uns = x," Die letzten Worte dieser ganzen Stelle (welche wir ihrem Gehalte nach durch- aus adoptiren, während wir sie ihrer Tendenz nach nicht billigen können) hätten schärfer gefaßt werden sollen, indem man statt „ungewiß und für uns = x'' hätte schreiben müssen „undenkbar und un- ger e i m t." —
Hiermit ist das geleistet, was diese Episode (wenn man es so nennen will) leisten sollte. Wir nehmen den Faden unserer früheren Betrachtung wieder auf. —
Neudrucke: Liebniann, Kant. 4
50 Erstes Kapitel.
Wenn es aus dem Bisherigen klar geworden ist, daß Kant mit der Annahme eines ,, Dings an sich'' außer- halb der Grenzen, d. i. der nothwendigen und allge- meinen Formen, unseres Intellects (Raum, Zeit und Kategorien) dem echten Geiste seiner eigenen Lehre widersprochen hat ; wenn wir ferner gesehen haben, welchen historischen Bedingungen, welchen Anteceden- tien in der Entwicklungsreihe der philosophischen Syste- me dieses „Ding an sich'* sein illegitimes Dasein ver- dankt ; wenn wir endlich zu der Ueberzeugung gekom- 52men ü sind, daß dieser Unbegriff vor Allem gegründete Ursache zu Angriffen gegen die Kantische Philosophie gegeben hat, und daß dieselbe, wenn jener entfernt wird, in ihren wesentlichen Hauptsätzen unwiderlegt und unwiderleglich ist, — so bleibt uns noch eine letzte Frage übrig, deren Beantwortung für uns von wesent- lichem Interesse sein muß und uns zugleich bei Ge- legenheit dieses ganzen Problemes einen tiefen Blick in unsere geistige Natur eröffnen wird. Diese Frage lautet:
Welches sind die subjectiven, psychi- schen Bedingungen, unter denen überhaupt Kant zur Annahme seines „Dings an sich" kommenkonnte?
Die Antwort hierauf wird jene oben (pag. 31 und 39) versprochene Deduction a priori des „Dings an sich" enthalten. —
Aus den, im Anfange dieses Kapitels entwickelten Grundsätzen der kritischen Philosophie waren wir zu folgendem allgemeinen Resultate gekommen:*) Subject und Object der Erkenntniß stehen in durchgängiger Re- lation zu einander, sind unzertrennliche Factoren, noth- wendige Correlate der Erkenntniß. Es existirt also weder etwas unabhängig Subjectives (Ich an sich), noch
*) Siehe oben pag. 23 und 24.
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 51
ein unabhängig Objectives (Ding an sich). Mit einander verbunden sind Subject und Object durch die allge- meinen und nothwendigen Formen des Vorstellens und Erkennens, Raum, Zeit und Kategorien ; innerhalb des Gebietes dieser Formen bewegt sich der Intellect, ent- wickelt sich die Welt, das All; ein anderes Gebiet ist uns nicht nur unbekannt, sondern geradezu u n - denkbar. Wie, fragen wir, ist nun dennoch die Mög- lichkeit gegeben, daß dieser so beschaffene Intellect aus seinen nothwendigen Formen hinauszugehen strebt, da er sich doch gar keine anderen vorstellen kann? Dies ist die Frage, oder vielmehr das Räthsel. Wir beginnen auch hier mit den allgemeinsten, ein- 1| fachsten und be- 53 kanntesten Thatsachen, wie es Kant und Sokrates zu thun pflegten. *) —
Wenn du mit einem Kinde in der freien Natur spa- zieren gehst, so wird es über allerlei ihm auffallende Gegenstände diese und jene Frage an dich richten. Denn ihm ist die weite, mannigfaltige Welt noch nicht, so wie dir, eine alte Bekannte, deren Eigenschaften man in langjährigem Umgange, wenn auch nicht alle ken- nen, so doch gleichgültig betrachten gelernt hat. Das Kind erblickt z. B. die dicht über dem Horizont stehen- de, große, rothglänzende Scheibe des Vollmondes. Da es diese Erscheinung noch nie wahrgenommen hat, so wird es fragen : ,,Was ist das ?*' Du wirst ihm ant- worten: „Das ist der Mond"; und mit kindlichem Er- staunen wird es diese Belehrung hinnehmen. — Oder es reitet Jemand auf steinigem Wege schnell an Euch vorüber, so daß der Hufschlag des Pferdes Funken von den Steinen aufsprühen läßt. Das Kind fragt: „Woher kommt das?" und du wirst antworten: „Das kommt daher, weil Eisen an Stein geschlagen glühende Stück-
*) onoze <fs aviög tl rw Adj/w die^ioi, Siu töüv ^aAtata ofxoXo- yovfieviov inoQeveto, vo^iQojv zavTriv tiqy aag)ci^eiay slvai Xoyov. Xeno- phont. memor. IV. 6.
4=f;
52 Erstes Kapitel.
chen verspritzt." — Auf diese Antworten hin ist in der Seele des Kindes Folgendes vorgegangen : Die niedrigstehende, größer als gew^öhnlich, und rothglän- zend erscheinende Mondscheibe ist durch die gemein- same Benennung mit der hochstehenden, kleineren, silberglänzenden indentificirt worden. Damit hat also „der Mond" für das Kind eine weitere Bedeutung er- halten, ist ihm zum gemeinsamen Inhaber des schon vorher bekannten und des jetzt wahrgenommenen Zu- standes, zum Subsistens geworden, welches verschiede- ner, wechselnder Inhärenzien theilhaftig oder fähig ist ; 54 kurz, in der Seele des Kindes ist auf den il Mond in Beziehung auf jene verschiedenen Erscheinungen oder Zustände die Kategorie der Substanzialität angewendet worden. — Im zweiten Falle hat es als allgemeine Regel gelernt, daß durch das Zusammen- treffen von Eisen und Stein die Funken entstehen, daß beides sich zu einander verhält, wie Ursache und Wir- kung, d. h. es ist in Beziehung auf dieses Ereigniß die Kategorie der Causalität zur Anwendung gekommen. Je geweckter nun das Kind ist, um so weniger wird es sich bei den ersten Antworten be- gnügen. Es wird z. B., befremdet über jene verschiede- nen Erscheinungsarten des Mondes, weiter fragen, wo- her diese rühren, oder auch, was denn der Mond eigent- lich sei. Oder im anderen Falle wird es wissen wollen, wie denn das Eisen dazu komme, glühende Stückchen vom Steine abzuschlagen, und was denn nun für Be- standtheile und Eigenschaften in Eisen und Stein ver- borgen liegen, u. s. w. — Indem du nun bei Gelegen- heit dieser geistigen Vorgänge in der Kindesseele einen Blick zurückwirfst in deine eigene intellectuelle Ver- gangenheit, auf die Genesis deiner geistigen Bildungs- stufe, wirst du inne werden, daß du die Höhe deiner gegenwärtigen Gesammtbildung er- reicht hast durch stufenweise aufsteigende
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 53
Abwechselung ineinandergreifender Fra- gen und Antworten. Freilich pflegt man bei unse- rem Culturzustande, je älter man wird, desto weniger seine (auf eigentliche Belehrung zielenden) Fragen an andere Menschen zu richten ; aber desto mehr an Bücher, an den eigenen Verstand oder an die unmittelbaren Objecte der Natur und der Kunst. Immer aber ist alle geistige Entwicke- lung ihrem innersten Kern nach nichts Anderes als jenes wechselnde Fragen und Antwortfinden;*) und je schnel- ler, beharrlicher, vielsei-lltiger und unermüdlicher dieses 55 Fragestellen und Antwortsuchen in einem Subjekte vor sich geht, für um so intelligenter ist es zu halten.
Es ist nun zu bemerken, daß nach Analogie der beiden obigen Fragen des Kindes (so lange es sich allein um objective Gewißheit, um eine theo- retische Erkenntniß handelt) immer nur dies Beides gefragt wird : „Was ist das ?" und : „Woher kommt das?" In philosophische Redeweise übersetzt, heißt dies: Der menschliche Intellect bewegt sich fortwährend in den Kategorien der S u b s t a n z i a 1 i t ä t und C a u s a 1 i t ä t. *"'^) Ich bin hier des Einwurfs gewärtig, daß man nothwendige und all- gemeine Verstandesfunctionen (synthetische Urtheile a priori) nicht so auf empirisch -inductivem Wege ein-
*) Man denke nur an den für alle Erkenntnißtheorie so wichtigen Theätet des Platon, der, so lange Menschen denken, nie veralten wird. Dort findet sich die merkwürdige Stelle:
-£ß. To Je &iayo£iaS-cei «p , öneo eyio, xaXeTs',
®EAI. TL xa'Awv;
a-yconfj. (ttg ye fii] eideis oot ctnoipaLvo^ai. rovzo yctq fiot iydäXXerai dicivoovniEvr], ovx nXlo ti rj diaXeyead-ac, avzri ectvTrjy SQOJTdiaa xcel anoxQivo^Evr] xz'A. Theaetet, 189. — conf. Sophistes, 263.
**) Eine dritte Frage ist das »Wozu?" Die Antwort darauf enthält den Zweckbegriff. Da dies aber eine in das praktische Gebiet gehörige Kategorie ist, so sehen wir hier von ihr ab.
54 Erstes Kapitel.
führen dürfe. Indessen liegt es hier auch gar nicht in unserer Absicht, eine Begründung der Katego- rienlehre zu geben. Die Kategorienfrage ist hier, wie sich zeigen wird, von secundärem Interesse, ist nur Mittel, um uns zur Beantwortung der Hauptfrage über- 56 zuführen.") Was uns hier in- II teressirt, ist eben nur dies, daß die Kategorien, als allgemeine synthetische Erkenntnißformen, nicht unmotivirt aus dem Subject in's Object hinübergreifen, sondern daß sie vielmehr erst durch das Bedürfniß nach Erkennen und Wissen, zuerst unbewußt, in Wirksamkeit gesetzt, allmählich dann durch üebung und Gewohnheit concret zum Bewußtsein gebracht werden, bis sie endlich als abstracte Begriffe aus dem lebendigen Vorstellen ausgesondert und erfaßt werden können ; daß sie, auf irgend welches Motiv in der Frage erstrebt werden, in der Antwort zu anschau- licher Geltung kommen ; überhaupt aber, daß das ab- stracte Erkennen nicht die erste Thatsache des Geistes ist, sondern aus dem Gebiete des unmittelbaren Vorstel- lens, der unsagbaren Empfindung erweckt und hervor- getrieben wird.
Die Frage also geht dem Akte des Erkennens vor- aus, der uns die Antwort gibt. Worin aber besteht jede
*) Eine Deduction oder Begründung der Kategorien liegt ganz außer dem Bereiche dieser Abhandlung, welche allein einen kritischen Zweck hat. Beiläufig nur Folgendes: Daß es die, unabhängig von aller Erfahrung gegebene Ueberzeugung von der Nothwendigkeit jener allgemeinsten Synthesen ist, was Kant unter Apriorität verstand, und was ihnen den Charakter der „Kategorie" verleiht, ist schon bemerkt worden. Alle Synthesis aber bezieht sich auf Anschauungen. Nun sind Raum und Zeit als allgemeine Formen aller Anschauung gegeben. Im Charakter des Raumes liegt das träge Nebeneinander, in dem der Zeit das rastlose, fließende Nacheinander. In ihrer Combination sind folgende Fälle die allgemeinsten: Entweder ich suche das nothwendig räumlich Beharrende im zeitlichen Wechsel — Substanzialität; oder ich suche das nothwendige zeitliche Aufeinanderfolgen am räum- lich Beharrenden — Causalität.
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 55
Frage? Wenn jemand über irgend welchen Punkt eine Frage an uns richtet, so müssen wir voraussetzen, daß er über denselben im Ungewissen ist, ferner, daß er diese Ungewißheit unangenehm fühlt und daher durch Gewißheit zu vertreiben wünscht ; formulirt er das Re- sultat dieser subjectiven Gefühle in abstracten Vorstel- lungen, in Worten, so entsteht die Frage, mit der er sich nun dahin wendet, wo er Antwort erwartet, sei dies ein Mensch, oder ein physikalisches Experi- 1| ment 57 oder sonst Etwas. Es kommt hierbei nicht darauf an, an welcherlei Adresse er sich wendet, sondern nur darauf, daß in allen Fällen der Erkenntniß eine Frage voran- geht, der dann das Erkennen als Antwort folgt und Ge- nüge thut. — Wenn wir nun diesen psychischen Vor- gang, der als unmittelbarer Grund der Erkenntniß an- zusehen ist, fixiren und begrifflich zerlegen, so ergeben sich in ihm folgende Bestandtheile :
1) Gefühl der Ungewißheil (Sokratische äyvoca).
2) Befremden hierüber (Platonisches d^avfid^stv).
3) Streben nach Beseitigung der Ursache des Be- fremdens durch Erlangung des Wissens {g)doßo(pta).
Hieraus entspringt die formulirte Frage. Dies ist der Quell alles Erkennen s.
Die Art der Erkenntniß nun, welche man ,, Philo- sophie'' zu nennen pflegt, hat das Eigenthümliche, daß das Object, wonach sie fragt, was sie zu erkennen strebt, allgemeinste Ideen, nicht aber relativ gleichgül- tige Einzelnheiten sind ; daß sie auf die innere Einheit des Weltganzen, den Kosmos zielt, daß daher jener psy- chische Proceß im großen Maßstabe vor sich geht. — Es ist das eine Wahrheit, welche ich keineswegs hier zum ersten Male dargelegt zu haben mir einbilde ; aber klar und bündig erfaßt, gedacht, ausgesprochen, in alle begrifflichen Einzelnheiten zerlegt hat sie wohl noch Niemand. Piaton sagt: {.idXa ydg (pi?.oa6(fov coito n)
56 Erstes Kapitel.
ndi^og, CO ^avfxd^eiv *) ; Kant legt der praktischen Vernunft „das Primat" bei im Verhältniß zur theore- tischen Vernunft oder dem Intellect ; Fichte, Schel- ling, Schopenhauer sehen den Intellect als etwas 58 Secundäres an. In alledem klingt die Wahrheit ü dunkel, einseitig und halb mit, wie ein unvollkommenes Echo ; nirgends aber ist sie bis auf den Grund verfolgt ; nir- gends ist nachgewiesen worden, wie denn eigentlich der Geist aus der unmittelbaren und stummen Ruhe des in- tuitiven Vorstellens zum Erkennen überhaupt, zum Ab- strahiren und Denken komme. Wir also haben gesehen, daß die Veranlassung hierzu durch jenen psychischen Vorgang gegeben wird, dessen unmittelbarer Ausdruck die Frage ist. Ohne vorhergehende Frage ist keine Antwort (d.i. Erkenntniß) denkbar; ohne sie würde die ganze Mannigfaltigkeit der inneren und äußeren Er- fahrung (Mikrokosmos und Makrokosmos) gleichgültig an uns vorübergehen, wie an dem todten Spiegel ; ja wir würden, was sich leicht einsehen läßt, gar nicht einmal zum Selbstbewußtsein kommen können. — Hier- auf gründet sich denn auch sowohl die iia/svzfxy) 'ctjvr^ des Sokrates in seinen philosophischen Gesprächen, als die ganze dialogische Darstellung des Piaton, insbeson- dere die metaphorische Behauptung, daß alles Lernen Erinnerung sei — i.idi)rfiic dvdf.iv7]<jig. Indem nämlich darauf gerechnet wird, daß jeder die Fragen, welche an ihn gerichtet werden, sich selbst in Gedanken mitstellt, übernimmt in jenen Dialogen der Weisere die Rolle des Fragers und befördert in dem Schüler den Denkproceß (der ja, wie gesagt, ein aus Fragen und Antworten zusammengeketteter Monolog ist) dadurch, daß er durch passende Aufeinanderfolge der Fragen ihn weder vor der Zeit ermüden, noch die Richtung verfehlen läßt, da-
*) Theaetet. 11, 155. D. a.a.O. conf.: Aristotel. Metaphys. I. 2. dia yaQ zu d-c(vaü'C,etf ol avd-Qumoi xai, vvf xcd to noMioy iiq^civto fpiXoGocpely. a. a. O.
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 57
mit zugleich Stumpfheit und Verworrenheit des Denkens beseitigt und dem Schüler ad oculos demonstrirt, wie er durch zweckmäßige und beharrliche Ausübung seines Denkmonologs Gedanken aus sich zu produciren im Stande ist, von denen er sonst Nichts ahnte. —
Sehen wir nun von den, relativ gleichgültigen, Fragen des täglichen Lebens ab, welche meistens nicht aus speculativen, son- 1| dern aus praktischen Motiven 59 hervorgehen und von ephemerem Interesse sind, be- trachten wir nur die, welche rein um des Erkennens und Wissens willen gestellt und in der Wissenschaft beantwortet werden, so findet es sich, daß es nur zwei allgemeinste (rein theoretische) Fragen gibt, welche schon oben in Einfalt ein kindlich Oemüth an uns rich- tete, nämlich :
1) Was ist das?
2) Woher kommt das ?
Indem die theoretische Vernunft diese Fragen voll- ständig zu beantworten sucht, wird sie von Stufe zu Stufe, vom Besondern zum Allgemeinen getrieben ; sie sucht ein immer höheres Was und ein immer tieferes Woher. Dies eben ist es, was Kant so ausdrückt : ,,Wenn „das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe „einander untergeordneter Bedingungen, die endlich „selbst unbedingt ist, gegeben," und „der eigenthüm- „liche Grundsatz der Vernunft überhaupt ist : zu dem „bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte „zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird.'**) Gerade hierin auch hat Schopenhauer die Kantische Philosophie weder verstanden, noch erklärt, noch verbessert, sondern ungerecht getadelt.**) H
''■) Kr. d. r. V. pag. 307. a. a. O.
**) Arthur Schopenhauer behauptet in seiner Kritik der kantischen Philosophie, Kant habe hierin Unrecht, und „der Satz vom zu- reichenden Grunde' fordere immer .nur die Vollständigkeit der
58 Erstes Kapitel.
60 Es ist aber das Eigenthümliche des theoretischen Intellects, daß er, wenn irgend ein Gebiet des Wissens durch abwechselndes Fragen und Antworten erforscht und erkannt ist, schließlich doch nie mit einer Antwort aufhört, sondern immer mit einer Frage. — Verfolgen wir dies an einem Beispiel. Ich habe einen Baum vor mir. Zunächst betrachte ich ihn eben als Ganzes seiner sinnlichen Theile und Eigen- schaften nach der Seite des „Was", und als aus lauter Anlagen und Keimen entwickelt nach der Seite des „Wo- her.'' Auf die Dauer aber wird mir dies schwerlich ge- nügen ; ich kann weiter fragen, tiefer forschen ; ich werde die physikalischen, chemischen, vegetabilischen Gesetze, Kräfte, Vorgänge, welche in diesem Natur- producte wirken und über das Samenkorn hinaus, aus dem es entstand, in unabsehbare Vergangenheit hinab gewirkt haben, verfolgen können. Wenn es nun aber auch gelänge, eine erschöpfende Einsicht in die Bestand- theile und das innere Getriebe zu gewinnen, als deren Product und Ganzes eben dieser Baum vor mir er- scheint ; — würde ich mich dabei beruhigen können ? Würde ich nicht vielmehr hier nach den langen, er- schöpfenden Untersuchungen der Wissenschaft doch ge- nächsten Bedingung, nie die Vollständigkeit einer Reihe'. D. Welt a. W. u. V. B. I. pag. 572. Diese Behauptung klingt ungefähr so, als wenn Jemand sagen wollte: .Um in dieser Höhe über dem .Erdboden fest zu ruhen, bedarf der Architrav nur des Kapitals." Das ist eine kurzsichtige, oder mindestens unvollständige Ausdrucksweise. Architrav und Kapital würden zusammen niederstürzen, wenn nicht Letzteres vom Säulenschaft, dieser vom Piedestal und dieses wiederum vom Erdboden getragen würde. Man könnte vielleicht den obigen Satz Kants am Besten so fassen: „Es ist ein Postulat der Vernunft, .daß sie bei einem regressus in indefinitum die Reihe einander be- „dingender Zustände, deren Resultat das Gegenwärtige ist, voll- , ständig finde, so weit sie auch zurückgreifen mag.' Wer sich abei nach Schopenhauerscher Methode immer mit der Vollständigkeit nur der nächsten Bedingungen begnügte, der, in der That, wäre un- glaublich beschränkt, ein wahres Monstrum von Bornirtheit
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 59
rade wiederum in jenes Gefühl der Ungewißheit, die äyvoia und das i^avfid^siv verfallen, welches der Quell der Frage, das subjective Motiv aller Erkenntniß ist? Hier hilft es Nichts, wenn man dem Geiste Stillstand gebietet ; es treibt ihn fort von Frage zu Antwort und er würde in der Frage stehen bleiben, selbst wenn er wüßte, daß eine Antwort nicht zu [| erwarten wäre. Denn 61 auch in dieser Hinsicht gilt der Ausspruch des Bacon : Incogitabile est, ut sit aliquid extremum aut extimum Mundi, sed quasi necessario occurrit, ut sit aliquid ul- terius. *) — Es ist offenbar, meine Untersuchung hört hier mit der Frage auf: „Ja, was ist denn nun aber der tiefere Grund, die höhere Einheit, die alle jene physi- kalischen, chemischen, vegetabilen Kräfte, Gesetze, Vor- gänge verbindet, dazu nöthig, zur Production dieses ein- zelnen Baumes sich zu vereinigen ? Wie kommt der Baum dazu, Früchte zu tragen, aus denen seines Glei- chen wieder entstehen können ? — Ja endlich — was ist und wie wirkt denn das Ganze, dessen unbedeuten- der Theil dieser einzelne Baum ist, die unendliche, er- habene Natur? Was vereint und bindet ihre Gesetze, was überhaupt treibt sie, in Wirksamkeit zu treten ?" — Hier muß nun der theoretische Intellect, wenn er gegen sich selbst ehrlich sein will, achselzuckend ge- stehen: „Non possumus ! Ich weiß keine Antwort!" — So ist es durchgängig in aller Geistesthätigkeit und speciell in allen Wissenschaften, So nehmen z. B. die Optiker als Erklärung der sichtbaren Empfindungsquali- täten, des Lichtes und der Farben, gewisse Undulationen des Aethers an. Hierbei ist zunächst zu bedenken, daß die Undulationen und der Aether, selbst wenn sie nach- gewiesen wären, nicht allein hinreichen würden, das Dasein jener Qualitäten in der Empfindung zu erklären, sondern daß hiezu als Correlat das Auge gehört, ohne
*) Nov. Organ. I, 48.
60 Erstes Kapitel.
welches die Aetherschwingungen nimmermehr „Farbe" hervorbringen würden. Erst aus dem Zusammenwirken von Auge und Aetherschwingung würden : „blau, roth, hell, dunkel u. s. w." entstehen, und wenn man entweder das Auge oder die hypothetische Aetherschwingung hin- wegnähme, würden jene Qualitäten z u Nichts ver- schwinden. Nun aber weiter ! Jene Schwingungen der 62 Aethertheilchen und der Aether selbst, welche !j man in den Lichterscheinungen als Correlat des subjectiven Organs, des Auges, annimmt, — habe ich sie wahr- genommen? Nein! Vielmehr habe ich sie hinzu- gedacht. Gesetzt aber auch, es würde auf irgend einer hohen Entwicklungsstufe der Wissenschaft mög- lich, die Undulationen des Aethers in der sinnlichen Wahrnehmung nachzuweisen, was wäre im Grunde ge- wonnen ? Sofort würde sich von Neuem die Frage nach dem „Was*' und „Woher'' einstellen, als deren mög- liche Antwort ich wiederum bemüht sein würde, ein neues hypothetisches Correlat zu suchen. Immer würde die Untersuchung mit einer Frage enden. Nun bedenke man ferner Folgendes : Hätten wir statt unseres Auges, welches Organ der Lichterscheinung ist, ein anderes Organ, das die Fähigkeit hätte, die mag- netischen Kräfte in unmittelbarer Empfindung wahrzunehmen, also statt des Lichtauges ein mag- netisches Auge, so würde die ganze sinnliche Welt eine andere. Die Licht- und Farben-Qualitäten wären verschwunden, und statt ihrer eine Reihe anderer Em- pfindungen und Qualitäten hervorgetreten, von deren Art wir jetzt gar keine Ahnung haben. So stehen wir am Ende immer wieder bei den Fragen, die wir im Anfang stellten : „Was ist das eigentlich ? Woher kommt dieses Alles?" So gräbt und sucht der Intellect nach immer tieferen Ursachen, allgemeineren Substraten, hilft sich mit Hypothesen und sucht sie zu befestigen, — und dann :
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 61
Encheiresin naturae nennt's die Chemie, Spottet ihrer selbst und weiß nicht wie.
Endlich aber, wenn wir nun mit Kant zu der tiefen Einsicht gekommen sind, daß Raum, Zeit und Katego- rien Functionen des Intellectes sind, daß die ganze Welt, diese empirisch-reale, nichts Unabhängiges, son- dern unzertrennliches Correlat des Subjects der Er- kenntniß ist, dann wird sich jene Ungewißheit, jenes Staunen am peinlichsten, die Frage am dringendsten einstellen. Es wird || uns dann diese bekannte Welt 63 durchweg als ein ungeheueres Räthsel erscheinen ; uns wird, wie Arthur Schopenhauer treffend sagt, zu Muthe sein, wie „Jemanden, der, er wüßte gar „nicht wie, in eine ihm gänzlich unbekannte Gesell- „schaft gerathen wäre, von deren Mitgliedern, der Reihe „nach, ihm immer eines das andere als seinen Freund „und Vetter präsentirte und so hinlänglich bekannt „machte, er selbst hätte unterdessen, indem er jedes- „mal sich über den Präsentirten zu freuen versicherte, „stets die Frage auf den Lippen : „Aber wie Teufel „komme ich denn zu der ganzen Gesellschaft?"*)
Kurz also, wir sehen : Unser Wissen kann nur mit einer unbeantworteten Frage auf- hören. Wir finden uns nach so vielem und langen Fragen, Forschen, Antworten, Erkennen, trotz aller er- worbenen Einsicht, am Ende immer wieder in Dem, womit wir begannen: in der ayvoia. oder, wie es der scharfsinnige theologische Skeptiker Nicolaus Cusa- n u s treffend bezeichnet, in der „docta ignorantia.'' Die Frage ist das Ende des Wissens, wie sie dessen Ursprung war.
Wenn wir nun aber nicht ehrlich gegen uns selbst sind, wenn wir unser Unvermögen zu einer endgültigen Antwort nicht eingestehen, sondern dem fragenden
*) A. Schopenhauer. Die Welt als W. u. V. Bd. I. pag. 117.
62 Erstes Kapitel.
Selbst vorspiegeln wollen, wir könnten ein positives Etwas als tiefsten Grund dieses in Raum und Zeit wirkenden und ausgebreiteten Kosmos angeben, dann fingirt sich unser Intellect ein x, das nicht räumlich, nicht zeitlich, nicht durch die Kategorien geordnet und erkennbar, also für uns überhaupt nicht vorstellbar ist, ein Ding, welches wir nicht als Ding erkennen — kurz ein „Ding an sich". —
Da haben wir es denn! Das „Ding an sich" ist gar nichts Anderes, als das Unding, welches der in 64 einer Frage endigende In-||tellect am letzten Ende sich als Antwort hinzuträumt, ein leeres, unvollendbares Haschen nach irgend einem Phantasiebild ohne Dauer und Gestalt, welches vor der Wißbegier des Menschen- geistes ewig zurückweicht, wie der Apfel vor dem Munde des Tantalus. *)
Im Allgemeinen kann man sich die Ungereimtheit dieses leeren Scheinbegriffes (um eine scherzhafte Ana- logie anzuwenden) daran anschaulich machen, daß der abstracte Intellect in dem Gedanken des „Dings an sich", als der Bedingung dessen, wodurch er selbst erst xaz' svkQysiav bedingt ist (der räumlich-zeitlichen Welt), als sein eigener Großvater auftritt. Gehen wir aber näher auf die begrifflichen Bestand- theile desselben ein, so frage ich : Wassoll man sich unter einem Etwas vorstellen, das weder räumliche Ausdehnung hat, noch sich an irgend einem Orte befindet, weder eine Zeit lang dauert, noch vergangen, gegen- wärtigoder zukünftigist, das weder Eigen- schaften hat, noch selbst Eigenschaft eines Andern ist, endlich weder Wirkung
*) Dieses ahnend sagt der Platonische Sokrates: zovto ^ev di} navTÜnaai ^eyaXonQsntag ^vysxtoQrjaa/xey, ovd iniaxeipccf^eyoi to advvuTov elvat, a Tis f^rj oide /j,r]dafj,wg, ravTcc sldevai a^üygyETTojs. Platon. Charmid; 175.
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 63
einer Ursache, noch Ursache einer Wir- kung ist? Ein solches Ding ist nichts Anderes, als ein Messer ohne Klinge, dem das Heftfehlt. Es ist also nicht nur ein leerer, sondern überhaupt gar kein Begriff. — Hätte Kant nur einigermaßen herzhaft diesen Pseudobegriff analysirt, anstatt immer scheu darum herumzutasten, so hätte er ihn wegwerfen müssen, wie wir hier gethan haben. Es bestätigt sich so an ihm das, was er selbst sagt: ,,Ich merke nur an, „daß es gar nichts ungewöhnliches sei, sowohl im ge- „meinen Gespräch, als in Schriften, durch die Verglei- „chung der Gedanken, welche ein Verfasser über seinen „Gegenstand || äußert, ihn sogar besser zu verstehen, 65 ,,als er sich selbst verstand, indem er seinen Be- „griff nicht genugsam bestimmte, und da- ,, durch bisweilen seiner eigenen Absicht „entgegen redete, oder auch dachte,''*) Das paßt ganz genau ! —
Uebrigens hat Kant das dunkle Bewußtsein, daß es hier mit seiner Lehre nicht ganz sicher ist. Deshalb fällt es ihm nicht ein, den kategorischen Impe- rativ aus dem „Ding an sich'' zu deduciren ; sondern er läßt ihn uneingeführt aus der Welt des Gefühls als deus ex machina in den Intellect hineinblitzen. Deshalb nennt er auch das ,,Ding an sich" einen negativen, einen Grenz- Begriff, und gibt sich zuerst das An- sehen, als wolle er es nur benutzen, „um die Anmas- „sungen der Sinnlichkeit einzuschränken." **) Aber ab- gesehen davon, daß dieser „negative" Begriff nachher eine sehr positive Bedeutung erhält, kann das letzte, äußerste Ziel unseres Intellects überhaupt kein Begriff sein, sondern nur eine unbe- antwortete Frage, ein ungelöstes Räthsel. Aus einem Besfriff kann man unter allen Umständen
*) Krit. d. r. V. pag. 341. **) Krit. d. r. V. pag. 255.
64 Erstes Kapitel.
noch in das jenseitige Gebiet weiter folgern ; aus einer Frage nicht. Ja, genau genommen, (so sollte man meinen) darf der Intellect hier, wo er an seinen ewigen Grenzen (Raum, Zeit und Kategorien) steht, gar nicht einmal eine Frage formuliren, weil er doch a priori überzeugt sein muß, daß es eine müßige, nicht zu be- antwortende ist; er muß in der äyvota und dem iyav^dL,ei,v stehen bleiben. Und in der That wird er dies auch. Es ist der große, unselige Fehler Kants, daß er an dieser entscheidenden Stelle der Natur des menschlichen In- tellects und seiner eigenen Lehre in's Gesicht geschlagen hat. —
Wie man sieht, treffen hier nun am Schlüsse die historische und die psychologische Deduction des großen Fehlers zusammen. Auf inductivem Wege 66 hatten wir in jener den immer weiter hin- il ausgescho- benen, und deshalb stets leeren Begriff des letzten, allgemeinsten Weltgrundes in allen Systemen gefunden, und hatten aus ihm deducirt, wie die kritische Philo-- Sophie, nachdem sie in den Erkenntnissen a priori die letzte und äußerste Grenze alles menschlichen Erkennens und Vorstellens richtig fixirt hatte, durch Annahme jenes leeren Begriffes in den transscendenten Un- begriff des „Dinges an sich" gerathen war. Auf in- ductivem Wege haben wir nun andererseits das letzte subjective Agens des Erkennens in dem psychischen Proceß der Frage gefunden, und aus ihr deducirt, wie der Intellect, wenn er sie in transscendenter Weise über die Grenzen seines Könnens hinausdehnt, als vor- gebliche Antwort eben jenen Unbegriff des „Dings an sich" sich vorspiegelt.
Hiermit wäre denn unsere Aufgabe gelöst. Es sind einerseits die Bedingungen vollständig entwickelt, unter denen Kant zu jener Inconsequenz gekommen ist; es ist damit andererseits der Grenzpunkt der eigent- lich consequenten kritischen Philosophie
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 65
dargelegt, und so der Maßstab für die Beurtheilung der Nachfolger uns in die Hand gegeben. Wir dürfen es uns jedoch nicht versagen, noch einige kurze Bemer-» kungen hinzuzufügen, welche unsere Untersuchung in- sofern vervollständigen, als sie gewissermaßen den me- taphysischen Ort des abstracten Intellects bestimmen.
Mit einer Frage beginnt die Erkenntniß und in einer Frage endigt sie. Für den abstracten Intellect ist nun allerdings eine Frage etwas Unbefriedigendes, Halbes, ja Negatives. Aber der menschliche Geist besteht so wenig nur aus abstractem Erkennen und Re- flectiren, daß diesem vielmehr ein Unmittelbares in der objectiven Empfindung und im subjectiven Gefühl vor- ausgehen muß, ehe es zum Fragen, Erkennen, abstracten Wissen kommen kann. Wenn nun der abstracte Intellect in der letzten, transscendenten Grenzfrage sich bankerott erklären muß, so ist dieses schmerzliche II Geständniß 67 dem Gefühl fremd. Denn da es zwar den Anlaß zur Frage, und auch zu der letzten, äußersten, gibt, aber doch selbst toto genere vom abstracten Erkennen ver- schieden ist, so kann es sich dort, wo das Denken daran verzweifeln muß, einen Begriff als Antwort zu finden, ein Surrogat, gleichsam eine gefühlte Antwort geben, welche in Begriffe zu fassen, zu denken, freilich unmöglich ist. — Das Denken sucht dort zu erfassen,
was die Welt Im Innersten zusammenhält.
Aber es findet, daß es in Raum, Zeit und Kategorien eingeschlossen ist. Das Gefühl hingegen findet hier in einem Positiven, Unsagbaren innere Beruhigung und Versöhnung, in Etwas, das sich nicht denken und aus- sprechen, sondern nur fühlen läßt. Hier tritt ihm gleichsam der d^eog ä^oT^tog der Gnostiker entgegen. Das, von dem gesagt wird :
Neudrucke: Liebmann, Kant. 5
66 . Erstes Kapitel.
Ich habe keinen Namen Dafür! Gefühl ist Alles.
Dies ist das Eigenste und Innerste der Menschen? natur, das Räthsel in unserer Brust, das Allerheiligste unserer Seele, das in Kunst und Religion seinen faß- baren, symbolischen Ausdruck findet. Es ist Dasselbe, was den abstracten Intellect nach begriffener Wahrheit streben und ringen läßt in der Philosophie, was anderer- seits in den herrlichsten und tiefsten Kunstwerken der größten Geister immer wiederkehrt. — Es ist das, was in Beethovens neunter Symphonie unser Innerstes durchwettert und durchbraust, und, — nachdem im letz- ten Satze der angestrengte, verzweifelte Kampf nach Versöhnung zur wilden, furchtbaren Dissonanz ausge- artet ist, — erst in leisen, tiefen Tönen ahnungsvoll uns durchdringt, dann steigend und anwachsend in immer volleren Accorden uns emporträgt, bis endlich die kämpfende Seele sieghaft mit titanischer Kraft !l 68 die irdische Last von sich schleudert und in schranken- losem, himmlischen, transscendenten Jubel einzieht zur Feier des ewigen Weltfriedens. — Es ist das, was Rafael in der sixtinischen Madonna, nachdem er vor den dürstenden Blicken der Menschheit den Vorhang gelüftet, aus der Glorie eines geahnten Jenseits, aus den heiligen, schüchternen Augen der Jungfrau uns ent- gegenleuchten läßt. — Es ist das, wonach Goethes Faust allüberall vergeblich sucht, was er weder im Reiche der Gedanken, noch in der niederen Sphäre der Sinnenlust zu finden vermag, und was ihm endlich nach langem Lebenskampfe beruhigend, versöhnend entgegen klingt:
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichniß ;
Das UnzugängUche
Hier wird's Ereigniß ;
Das Unbeschreibliche
Hier ist's gethan.
Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants. 67
Hier können wir das Gesuchte finden : nicht in Begriffen, nicht durch den abstracten In- te 11 ect. — Bei der Vertiefung in eines jener Meister- werke erscheint unserem inneren Blicke das erfreuliche, versöhnende Licht ; — dann erblaßt und verschwindet die hastige Neugier des Genießens vor dem tiefen, heiligen Ernste des Verstehens ; das ästhetische Ver- gnügen wird zur ethischen Arbeit. Denn wir fühlen, daß jenes tiefste Etwas ausgesprochen ist, wonach unser innerstes Wesen sich sehnt, was unsere Sehnsucht beruhigt und lindert, wonach aber der abstracte In- tellect vergeblich forscht und fragt, weil es etwas nur Gefühltes, nichts Sagbares oder gar Denkbares ist. Gerade deshalb fühlen wir uns nach dem Genüsse eines solchen Meisterwerkes gehoben, gleichsam besser, ge- läuterter, — und dann doch wieder gedrückt ; — eine Seelenstimmung, die seltsam aus Seligkeit und Trauer gemischt erscheint, weil wir einerseits in der That inner- lich befriedigt sind, anderer- il seits aber uns schmerzlich 69 gehemmt fühlen durch das Unvermögen, das Genossene zu erkennen, d. i. durch das medium des fragenden Intellects zu begreifen.
Der abstracte Intellect muß hier verstummen. Er steht rathlos da mit seiner Frage an den Weltgeist. Die Frage hat er freilich frei, aber was die Antwort an- geht, so spricht jener Weltgeist eine andere Sprache, als er. Sollte er ihm aber je verständlich antworten, so würde er sprechen :
Du gleichst dem Geist, den du begreifst, Nicht mir!
Wohl aber hüte man sich vor einer sogenannten
„Gefühlsphilosophie" älajacobi, Baader u. s. w.
Die Philosophie soll erkennen und wissen, das
Gefühl aber ist nicht Organon des Erkennens. Die Er-
kenntniß hat das zum ObjeT?>t^was abstract vorgestellt,
in Begriffe gefaßt, gedacht werden kann, also immer
5*
68 Erstes Kapitel.
ein Allgemeines. Das Gefühl wird befriedigt von dem Unsagbaren, Namenlosen, schlechthin Individuellen. Ein „erkennendes Gefühl" aber, oder eine „Gefühlsphilo- sophie" ist ganz analog einem „hörenden Auge" oder „sehenden Ohr." —
Das Kantische „Ding an sich" ist der verfehlte Versuch des abstracten Intellects, auf eine unbeant- wortliche Frage einen Begriff als transscendente Ant- wort zu finden, wo uns nur dadurch geholfen werden kann, daß durch anderweitige Befriedigung des Gefühls der Anlaß zur Frage hinwegfällt. Indem der Intellect jenen Versuch macht, jene undenkbare Idee zu realisiren meint, verfällt er in den Widerspruch, etwas Unvorstell- bares vorstellen, ein Undenkbares denken zu wollen, — begeht er die iieräßaaig dg älXo yevog im eminenten Sinne. —
Dies ist die Bedeutung und das Schicksal des Kanti- schen „Dings an sich."
Zweites Kapitel. 70
Die idealistische Richtung. Fichte, Schelling, Hegel.
Multo plus veritatis inveniri arbitrabar in iis ra- tiocinationlbus, quibus singuli homines ad sua negotia utantur, quam in iis, quas doctor aliquis otiosus in Musaeo sedens excogitavit circa entia rationis, — ex quibus nihil aliud exspectat, nisi forte, quod tanto plus inanis gloriae sit habiturus, quo illae a veritate ac sensu communi erunt remotiores ; quia nempe tanto plus ingenii atque industriae ad eas verisiniiles reddendas debuerit impendere.
Cartesii Dissertat. d. Method.
Nachdem wir im vorigen Abschnitte die K a n t i - sehe Lehre, mit ihrem immanenten Irrthume, als die leuchtende Sonne betrachtet haben, deren Strahlen sich nach verschiedenen Richtungen hin in die moderne deutsche Philosophie ergießen, wenden wir uns zunächst zu jener Richtung, welche man xax' 8ioxt\v die idea- listische nennen darf. Mit ihr gerade machen wir deshalb den Anfang, weil sie historisch Kanten am nächsten steht, besonders aber auch, weil sie auf jeder ihrer drei Entwicklungsstufen, die in ununterbrochener Reihe auseinander hervorgiengen, bei Eingeweihten und Laien sich das größeste Ansehen zu erringen gewußt hat. Bei dieser Betrachtung ist es dem in der Einleitung (pag. 14 — 16) entwickelten Plane gemäß nöthig, daß wir für's Erste von den letzten Resultaten des vor- hergehenden Kapitels absehen, d. h. die Kantische Lehre, ohne des nachgewiesenen Fehlers zu geden-
70 Zweites Kapitel.
71 ken, so hinnehmen, wie |i sie ist, und nun mit unpar- teiischem Blicke aus ihr sich die Gedankenreihe ent- wickeln lassen, welche direct zu Fichtes, Schel- lin g s und Hegels Systemen geführt hat. Unsere Kritik wird immer dann erst eingreifen, wenn nach Ab- lauf eines Gedankenkreises der immanente Widerspruch in seinen Folgen klar zu Tage getreten ist. — Zunächst also müssen wir uns die Entwicklung des Fichte- schen Standpunktes aus der Kantischen Lehre vergegenwärtigen. Der Gedankengang ist folgender :
Daß für mich eine empirische, objective Welt überhaupt existire, ist, wie Kant nachgewiesen hat, nothwendig bedingt durch meinen Intellect und die Gesetze desselben ; ohne diese würde ich weder von mir noch von der äußeren Welt irgend Etwas wissen. Aber nicht bloß daß, sondern auch was ich von ihr weiß, hängt nach Kant von der Art meines Erkenntnißvermögens, den Functionen meines Intel- lects ab, welche a priori, d. i. im Subject gegeben sind, und außerhalb derer nichts Empirisches existiren kann. Innerhalb jener subjectiven Erkenntnißformen tritt uns nun die sinnliche Mannigfaltigkeit ent- gegen, welche, durch die Kategorien zu räumlich-zeit- lichen Objecten vereinigt, uns als Welt erscheint und so in der Erfahrung als etwas ,, Gegebenes**, d. i. scheinbar ohne unser Zuthun Daseiendes, gegenüber- steht. Abgesehen aber davon, daß die nothw^endigen Grundformen dieser „gegebenen** Welt der Objecte nichts Anderes sind, als Functionen meines eige- nen, intelligenten Subjects, wird mir doch auch das sinnliche, empirische Material der Objecte nur durch meine Empfindung geliefert; es ist also nicht nur das, was a priori, sondern auch das, was a posterioriin den Bereich der Erkenntniß tritt, durch subjective Geistesvermögen ge- liefert; und darauf deutet schon Kant selbst hin,
Die idealistische Richtung. 71
indem er eine „ge- 1! meinsäme Wurzel der beiden 72 „Stämme menschlicher Erkenntniß, Sinnlichkeit und „Verstand*' erwähnt.*) Jene gemeinsame Wurzel liegt eben offenbar in meinem eigenen Subject, welches als Receptivität mir sinnliche Empfindungen lie- fert und als Spontaneität diese sinnlichen Em- pfindungen zu anschaulichen Gegenständen verknüpft. Ich bin mir freilich im Acte des sinnlichen Empfindens selbst immer eines Zwanges, eines Leidens bewußt, ohne die Ursache desselben zu kennen, so daß die Empfindungen von außen zu kommen, durch ein unabhängig von mir seiendes Etwas meiner Sinnlichkeit überliefert zu werden scheinen ; und jenes anticipirte unabhängige Etwas hat Kant ,,Ding an sich" genannt. Aber es liegt nicht im Sinne Kants, daß dasselbe wirklich unabhängig sei, sondern nur, daß es so gedacht, vom Subject gesetzt werde. Wenn also die Skepsis hierin eine Inconsequenz des Kriticismus findet, da dieser weder wisse, ob das, was er „Erscheinung** nennt, nicht ,,an sich** sei, noch auch die Kategorie der Causalität auf etw^as außerhalb der Formen des Intellects Stehendes anwen- den dürfe, so muß darauf hingewiesen werden, daß bei Kant selbst das Ding an sich nur ein theoretisches Postulat der Vernunft ist. Denn Kant behauptet nicht, daß es etwas vom Subject Unabhängiges gebe, son- dern daß wir ein Solches als intelligibelen Grund der Erscheinung anzunehmen gezwungen sin d.**) — Wir sehen also, daß Alles, was für uns ist, aus
*) Kr. d. r. V. pag. 15. **) Ueber den Begriff der Wissenschaftslehre von J. G. Fichte, edit. II. 1798. Vorrede: »Der Verfasser dieser Abhandlung wurde .durch das Lesen neuerer Skeptiker, besonders des Aenesidemus „und der vortrefflichen Maimon sehen Schriften überzeugt, daß die »Philosophie noch nicht zum Range einer evidenten Wissenschaft er- hoben sei." u. s. w.
72 Zweites Kapitel.
73 dem Sub-|ljecte stammt, und etwas Anderes, als was für uns ist, kennen wir nicht. Alles Objective erhält seine Dignität nur dadurch, ist nur deshalb real, weil ihm die Realität vom Subjecte beigelegt wird. Ich aber, das Subject, bin meiner mir bewußt als eines innerlich und wesentlich identischen, einen Ich 's, und diese Einheit des Selbstbewußtseins ist wiederum Bedingung alles Erkennens und Vorstellens. Auch dies hat Kant bereits erwähnt, indem er sagt : „daß Alles empirische Bewußtsein eine nothwen- „dige Beziehung habe auf ein transscendentales (vor „aller Erfahrung vorhergehendes) Bewußtsein, näm- „lich das Bewußtsein meiner Selbst, als die ursprüng- „liche Apperception", und daß „der synthetische Satz : ,, Alles verschiedene empirische Bewußtsein muß in „einem einigen Selbstbewußtsein verbunden sein, „schlechthin erster synthetischer Grün d- „satz unseresDenkens überhaupt sein müsse."*) Aber er hat das nur beiläufig erwähnt; er hat jenen Satz nicht bestimmt als Grundsatz aufgestellt;**) er hat weder das empirische Bewußtsein wirklich aus dem transscendentalen abgeleitet, noch die angedeu- tete gemeinsame Wurzel von Sinnlichkeit und Ver- stand klar beleuchtet, noch auch die Entstehung der Functionen unseres Intellects aus dem transscenden- talen Subjecte des Erkennens dargelegt und ent- wickelt. Trotzdem er aber alles dieses nicht selbst unternommen, sondern nur angedeutet hat, so findet sich doch in seiner Lehre der Punkt ganz genau be- zeichnet, von dem aus dies geschehen muß. — Wenn wir nämlich in der Betrachtung des eigenen Subjects noch höher steigen, so finden wir, daß Kant außer
74 dem, bisher nur in Betracht gezogenen, || theoreti-
*) Krit. d. r. V. pag. 117. Anmrkng.
**) Grundlage der gesatnmten Wissenschaftslehre von J. G. Fichte edit. II. 1802. pag. 14.
Die idealistische Richtung. 73
sehen Gebrauche der Vernunft, oder der Intelligenz, einen praktischen, oder ein freies Handeln kennt, welches uns unmittelbar im moralischen Pflichtgebote, im kategorischen Imperativ zum Bewußtsein kommt. Dieses freie Handeln führt das Primat über die Intelligenz*), es ist das Noumenon, wel- ches der Intelligenz als Phänomenon **), der intelli- gibele Charakter, welcher unserem empirischen zu Grunde liegt***); es ist als solches absolut, spontan, frei f ), den Gesetzen und Formen des theoretischen Intellects (Raum, Zeit und Kategorien) nicht unter- worfen, da diese vielmehr, wie überhaupt alle Er- kenntniß und alles Bewußtsein durch jenes bedingt werden ; kurz, es ist der eigentliche Kern, das trans- scendentale Wesen und Centrum des Subjects, — das absolute Ich. —
Aus diesem Allen geht nun hervor, daß Kant zwar sämmtliche Stücke geliefert hat zu dem System der, aus dem innerlich identischen, einen Subjecte durch dessen freie Thätigkeit sich entwickelnden, Mannigfaltigkeit von Objecten, daß er aber dieses System selbst aus dem gefundenen Material nicht wirklich aufgebaut, daß er (ich weiß nicht aus wel- chen Gründen) nicht Alles gesagt hat, was er wußte ; wie denn aus seinen eigenen Aussprüchen hervorgeht, daß er „in seinen Kritiken die W^issenschaft nicht, „sondern nur die Propädeutik derselben aufstellen „wollte." tt) Da nun das Subject, mein frei handeln-
*) Kritik d. praktischen Vnft. 1788. pag. 218. a. a. O. ■^*) Krit. d. r. V. pag. 546. •"**) Kr. d. r. V. pag. 551. t) Kr. d. pr. V. pag. 72. 84. tt) Grundlage d. g. W. pag. 142. Anmkng. Fichte bezieht sich an dieser Stelle unter Anderem auf das, was am Schlüsse der Kr. d. r. V. und in der Vorrede zu den Prolegomenen gesagt wird. Freilich ein Mißverständniß, wogegen sich Kant in einer öffentlichen Erklä- rung verwahrt. Siehe: Jenaische Allgem. Litteraturzeitung. 1799. In-
74 . ■ Zweites Kapitel .
75 des und II erkennendes Ich, wesentlich Einheit ist, so ist es ein Erforderniß, ein Postulat der Vernunft, dieses System des absoluten Ich auszu- führen. Und indem ich an die Aufstellung dieses Systems gehe, trete ich nur die Erbschaft der Kanti- schen Philosophie an. —
Damit hat Fichte einen festen Standpunkt zu einer neuen eigenthümlichen Speculation gewonnen. Er ist überzeugt, daß alle die Fäden, die in Kants Lehre noch nebeneinander laufen, in einem absoluten Ich sich vereinen und verknüpfen lassen müssen; und indem er alles Das, was (nach seiner Ansicht) Kant theils halb, theils dunkel, theils zusammenhang- los gibt, mit rücksichtsloser Energie des Gedankens hervorzieht und mit kräftigem Griffe zusammenfaßt, ist er in dem festen Glauben, nur im Geiste des Meisters zu handeln. — Wenn sich nun auch im Verlaufe unserer Betrachtung herausstellen sollte, daß Fichte trotz- dem geirrt hat, weil er Kants Lehre nicht sorgfältig genug prüfte, bevor er sie fortzubilden unternahm, daß er mit der stürmenden Gewalt seines Denkens die be- hutsame, sorgfältige Schärfe, welche gerade in der Auf- suchung der Principien nöthig ist, überrannt und zermalmt hat, so kann ich doch nicht umhin, hier aus- drücklich zu bekennen, daß ich ihm die aufrichtigste Hochachtung zolle, — nicht zwar wegen der Resul- 76 täte seines Denkens, aber wegen || dessen Tendenz; weil es ihm in der That Ernst war mit der Wahr- heit, weil aus jedem seiner Worte der Eifer eines Ehrenmannes, der echte, wirkliche Enthusiasmus des
telligenzblatt Nr. 109. Dort heißt es: „Hierbei muß ich bemerken, „daß die Anmaßung, mir die Absicht unterzuschieben: ich habe bloß „eine Propädeutik zur Transscendental-Philosophie, nicht das System „dieser Philosophie selbst liefern wollen, mir unbegreiflich ist. Es „hat eine solche Absicht mir nie in Gedanken kommen „ könn en u. s. w."
Die idealistische Richtung. 75
nach Gewißheit trachtenden und ringenden Geistes her- vorleuchtet.
He was a man, take him for all in all.
Beseelt von der innigen Ueberzeugung, nur im Geiste Kants, den er hoch verehrte, fortgearbeitet zu haben, schreitet er einher, wie der menschgewordene kategorische Imperativ selbst. Und wie ich daher ihm und seinem Streben meine Hochachtung widme, so mag ich andererseits nicht verhehlen, daß ich die, ihm von Schopenhauer widerfahrene Unbill, für durchaus unverzeihlich halte. — *)
Verfolgen wir nun zunächst, wie sich sein eigener Gedankengang aus dem, oben abgeleiteten, Prinzip ent- wickelt.
Das absolute Ich ist also der Punkt, von dem alles Erkennen ausgeht, aus dem alles Wissen entspringt und mit dem also die Wissenschaft des Wissens oder Wissenschaftslehre beginnen muß. Dieses ab- solute Ich ist nicht jenes im gewöhnlichen, empirischen Selbstbewußtsein vorkommende, welches jedem Kinde mit der Sprache und dem Denken zugleich aufgeht und es dann durch's Leben begleitet, nicht das bloße Sub- ject in allen Vorstellungen ; es ist vielmehr etwas viel tiefer Liegendes, das primum movens unserer ganzen, moralischen und intellectuellen Persönlichkeit, aus dem das empirische Selbstbewußtsein producirt wird, || aus 77 dem die Erkenntnißformen, welche wir als That- sachen vorzufinden meinen, Raum, Zeit und Katego-
*) Schopenhauer, der die eigenthümliche Manie hat, jedem der nachkantischen Philosophen, der nicht mit seinen Ansichten überein- stimmt, einen besonderen Spitznamen beizulegen, nennt Fichten einen „Windbeutel." Abgesehen davon, daß jene Manie etwas ganz Tactloses, Unpassendes, ja Unanständiges ist, kann dieser Beinamen nicht einmal eine treffende Persiflage genannt werden, er schlägt durchaus fehl. Viel eher hätte man Fichten einen „Polterer" nennen können. Doch — Scherz bei Seite!
76 Zweites Kapitel.
rien, erst als Thathandlungen entspringen. Das abso- lute Ich ist freies Handeln, reine Thätigkeit ; seine ursprünglichen Thathandlungen erzeugen in theo- retischer Hinsicht jene a priori erkannten Formen des Intellects, in praktischer das moralische Pflichtgebot, den kategorischen Imperativ. Es ist, wie gesagt, der intelligibele Charakter, der dem empirischen vorausgeht. Wir freilich werden uns unserer zunächst als einer em- pirischen, vergänglichen Erscheinung bewußt. Bevor dies aber möglich ist, muß das empirische Selbstbewußt- sein, welches zwar freilich in allem Vorstellen gegen- wärtig und mit sich identisch ist, doch selbst erst her- vorgebracht sein ; das absolute Ich, als tieferer Grund meiner eigenen Persönlichkeit, muß es aus sich er- zeugen. Daser ist der erste, schlechthin un- bedingte Grundsatz der Wi ss e n seh af ts- lehre: „Das Ich setzt das Ich, oder Ich = Ich," d.h. die Identität des Selbstbewußt- seins ist eine That des absoluten Ich.
Diese Identität des Selbstbewußtseins geht allem Erkennen und allen Formen des Erkennens, selbst den logischen Grundgesetzen, als Bedingung voraus. So er- hält namentlich auch der Satz der Einerleiheit A = A (unter den scheinbar jener oberste Grundsatz: Ich = Ich zu subsumiren ist) erst seine Berechtigung von jenem. Denn was ist es denn, das auch in dem ersten logischen Princip berechtigt, das Gleichheitszeichen zwi- schen die beiden A zu setzen ? Offenbar nur die Iden- tität des Selbstbewußtseins. Denn w^enn mein Ich in diesem Augenblicke nicht identisch wäre mit dem Ich im vorangegangenen und nächstfolgenden Zeitpunkte, so würde jene logische Identität gar nicht ausgedacht werden können, der Satz A = A würde, ehe er aus- gesprochen wäre, gewissermaßen mir auf den Lippen 78 ersterben. Kurz, die logische Identität ist nur J| eine formale, abstracte, und erhält als solche ihre
Die idealistische Richtung. 77
Berechtigung erst von der transscendentalen Identität des Ich, welche eine zugleich formale und m a t e r i a 1 e ist. Das Ich, welches durch und durch Leben, Thätigkeit ist, muß sich fortwährend als ein mit sich Identisches reproduciren, setzen. Ohne diese Reproduction und Selbstsetzung wäre es kein Ich; und es ist also dasselbe, ob ich sage ,,das Ich ist^' oder „das Ich setzt sich."
Aber es ist ferner offenbar, daß das intelligente Subject oder erkennende Ich nur insofern zu wirklicher Aeußerung seines Wesens kommen kann, als es ein Ob- ject seines Erkennens hat; denn ein Vorstellen ohne Vorgestelltes, ein Erkennen ohne Erkanntes wäre eine ganz leere, formelle Thätigkeit ohne Anhalt und In- halt. Wenn ich bloß die Formen des Erkennens hätte, ohne daß mir etwas gegeben wäre, worauf ich sie an- wenden könnte, so wäre sogar das Selbstbewußtsein unmöglich ; denn dieses besteht wesentlich in der Unter- scheidung des Ich, als Subject des Erkennens, von dem erkannten Object. Deshalb setzt sich das absolute Ich ein Verschiedenes, ein Nicht-Ich als Object gegenüber, und wir finden so als zweiten, seinem Gehalte nach bedingten Grundsatz: „Das Ich setzt sich schlechthin ein Nicht-Ich entgegen." — Auf diesem Satze beruht ebenso alle logische Ent- gegensetzung, wie auf dem ersten alle logische Iden- tität. —
Wenn es nun aber nothwendig ist, daß dem Ich, als intelligenten Subject, ein Nicht-Ich, als Object der Erkenntniß, gegenüber gestellt werde, so können doch beide nicht toto genere verschieden sein. Denn im wirk- lichen Acte des Erkennens sind sie ja identisch ; die Vorstellung ist die^ Einheit von Subject und Object. Da nun das Ich überhaupt das einzige Wirkliche ist, und ich außer seiner Sphäre durchaus gar nichts kenne, so ist es klar, daß das, dem erkennenden Subject als er-
78 Zweites Kapitel.
79kanntes Object gegenübergesetzte l! Nicht-Ich selbst in die Sphäre des absoluten Ichs hineinfallen muß : Das absolute Ich beschränkt innerhalb seiner Sphäre das in- telligente Ich, das Subject des Selbstbewußtseins, indem es ihm ein Nicht-Ich als Object entgegensetzt. So ge- winnen wir den dritten, seiner Form nach be- dingten Grundsatz: „Ich setze im Ich dem theilbaren Ich ein theilbares Nicht-Ich ent- gegen/* Auf ihm beruht alle logische Einschränkung oder Limitation.
So ist das Fundament des Systemes gelegt. Diese drei Grundsätze, die unmittelbar aus dem absoluten Ich hervorgehen, sind die Säulen, auf denen die ganze Welt ruht. Im ersten Satze ist als Thesis das Selbstbewußte sein gegeben, im zweiten als Antithesis die Selbst- unterscheidung, beide werden im dritten Satze der Selbstbeschränkung als Synthesis vereinigt. — Alle weitere Speculation besteht nun bloß darin, daß man aufweist, wie durch jene drei Grundsätze Alles bedingt ist, was in das Gebiet des Wissens und der Wissen-* Schaftslehre gehört. — *)
Wenn wir nun aber den bisherigen Gedankengang Fichtes betrachten, so muß uns Mehreres auffallen, was dem natürlichen Bewußtsein theils unbegreiflich, theils geradezu ^widersprechend erscheint. Zunächst setzt Fichte thatsächlich schon bei der Auffindung seines ersten Grundsatzes die Gültigkeit der logischen Ge- setze voraus, während doch ein schlechthin erster Grundsatz seinem Begriffe gemäß ohne alle Vor- aussetzung sein muß. Er gesteht dies auch offen ein, verspricht, die logischen Gesetze, welche er schon vorausgesetzt hat, später abzuleiten und erklärt dieses Verfahren für „einen noth wendigen Cirke 1." **)
80 — Aber || abgesehen von diesem formalen Bedenken,
*) Grundl. d. ges. W. L. pag. 1 — 51. **) ibid pag. 3.
Die idealistische Richtung. 79
muß uns folgendes materiale aufstoßen. Nach Fichte setzt das absolute Ich nicht bloß das Ich, sondern auch das Nicht-Ich ; oder mit anderen Worten : nicht allein unser Subject, sondern auch das Object ist eine That unseres eigenen intelligibeln Subjects. Nun wird zwar Jeder zugeben müssen, daß alles Existirende, Objective für uns ganz allein insofern da ist, als es in unser Be- wußtsein tritt ; schwerlich aber, daß alle in's Bewußt- sein tretende Vorstellungen von Gegenständen durch uns selbst producirt sind. Wenn ich den blauen Himmel sehe, so werde ich freilich bei einiger Ueberlegung inne, daß dieses Gewölbe und diese blaue Farbe, ohne die bestehende Einrichtung meines sinnlichen Erkenntniß- vermögens und ohne Aufnahme in mein Bewußtsein, verschwinden müßten, und daß daher in diesem Sinne mein Subject die Bedingung jenes Objectes ist; daß aber überhaupt meinem so beschaffenen In- tellect ein Object entgegentritt, welches ich als blauen Himmel vorstelle, dies werden wir nim- mer als unsere That anerkennen wollen; vielmehr werden wir überzeugt sein, daß jedes Ob- ject ohne unser Zuthun uns „gegeben wir d." Kurz, das „Was" aber nicht „Daß", das „o,ti", nicht aber das „oto" des Objects werden wir auf unsere Rechnung schreiben. —
Hierauf hat nun Fichte entgegnet: Dem gewöhn- lichen Bewußtsein erscheint freilich sowohl das logische Gesetz, als das Dasein eines uns gegenüberstehenden Objects als ohne unser Zuthun gegeben. Dies kommt aber allein daher, weil das gewöhnliche Bewußtsein selbst erst mit dem Dasein des Objects und den logi- schen Gesetzen durch freie Thätigkeit des absoluten Ich gesetzt wird und, da jene freie Thätigkeit ihm selbst vorausgeht, nun jenes scheinbar vom Subject Unabhän- gige vorfindet. Die Thätigkeit des absoluten Ich fällt eben nicht in die Sphäre des em- 1| pirischen Be- 81
80 Zweites Kapitel.
wußtseins, sondern bedingt dasselbe ; und deshalb weiß dieses nicht, daß mit ihm zugleich die Gesetze der In- telligenz und das Object von dem absoluten Ich gesetzt werden.
Wir sind also an das „absolute Ich" gewiesen und müssen es zur Rede stellen, wie es denn dazu kommt, ohne unser Wissen, gleichsam hinter unserem Rücken, Thathandlungen zu begehen, von denen wir keine Ahnung hatten. — Das absolute Ich ist kein ruhendes Sein, sondern reine, unendliche Thätigkeit, Production ; als solches ist es nicht „im wirklichen Be- „wußtsein gegeben, sondern für dasselbe unerreich- „bar.''*) Kant selbst soll, nach Fichtes Ueber- zeugung, unter anderen Prämissen auch vor Allem das absolute Ich „seinem kritischen Verfahren stillschwei- gend zu Grunde gelegt haben.'' **) Dafür sind die Lehren vom „intelligibelen Charakter'', vom „kategori- schen Imperativ" u. s. w. sprechende Zeugnisse. — Nur ein namhafter Unterschied zwischen der Kantischen und Fichtischen Theorie des Erkennens tritt hervor. Während nämlich Kant die Kategorien und Raum und Zeit als Voraussetzung alles Erkennens, Speculirens nachweist, deducirt Ficnxe die Kategorieen als Thathandlungen aus dem absoluten Ich und führt Raum und Zeit erst nachträglich ein, weil er „ihrer bedarf, um „die idealen Objccte unterbringen zu können", welche nämlich schon vorher von anderwärts (aus dem abso- luten Ich) gekommen sind.***) Da nun alle jene von Kant aufgewiesenen Functionen des Intellects, jene all- 82 gemeinen und nothwendigen Formen des Vor- 1! stellens
■■') pag. 272. **) pag. 249. Anmkng. ***) Grundriß d. Eigenthümlich. d. Wissenschaftsl. edit. II. 1802 pag. 81. ff. pag. 108. Schlußanmerkung. Vgl. Grundr. d. ges. Wissensch. pag. 141 u. 142. Anmkg.
Die idealistische Richtung. 81
(Raum, Zeit und Kategorien), welche immer bei jeder geistigen Handlung schon vorausgesetzt sind, von Fichte erst aus dem absoluten Ich abgeleitet wer- den, so muss offenbar das absolute Ich, als Producent derselben, ihnen vorausgehen, d. h. unabhängig von ihnen sein; seine Thathandlungen, durch die jene Func- tionen des Intellects erst hervorgebracht werden, kön- nen ihnen nicht untergeordnet sein, dürfen „gar nicht „Thatsachen des Bewußtseins werden," *) So steht also das absolute Ich gleichsam als unsichtbarer Schauspiel- direktor hinter den Coulissen des Weltalls und läßt an den unsichtbaren Fäden seiner absoluten Thätigkeit die bunten Marionetten auf dem theatrum mundi sich vor unseren Augen bewegen. Es selbst aber ist weder räumlich noch zeitlich, noch den Katego- rien unterworfen; es ist also ein Etwas, was sich nicht vorstellen läßt, weil es, von allen Formen des Vorstellens emancipirt, diese erst erzeugt; kurz, es ist ein alter Be- kannter, nämlich Niemand anders, als das Kantische „Ding an sich."
Fichte ist sich dessen auch sehr wohl bewußt und nennt deshalb sein absolutes Ich auch „Ich an sich", was eben nichts Anderes bedeutet, als dasjenige „Ding an sich", dessen Erscheinung Ich bin. Während er daher, von den gerechten Angriffen der Skeptiker auf die Kantische Inconsequenz angeregt, den An- sprüchen derselben dadurch zu genügen sucht, daß er dem „Ding an sich" auf der Seite des Objects sein selbständiges Dasein nimmt und es zu einem Producte des Ichs macht**), legt er unserem, in || Raum, Zeit und 83
*) pag. 2.
**) pag. 100. 141. 209. vgl. 277. „Dies, daß der endliche Geist
.nothwendig etwas absolutes außer sich setzen muß (ein Ding an sich)
,und dennoch von der anderen Seite anerkennen muß, daß dasselbe
.nur für ihn da sei (ein nothwendiges Noumen sei) ist derjenige
Neudrucke: Liebmann, Kant. 5
82 Zweites Kapitel.
Kategorieen sich bewegenden, intelligenten Subjecte selbst ein solches Ding an sich als absoluten Grund unter, welches den Intellect aus sich gebiert, wie Zeus die Pallas Athene, wendet dann hierauf ebenfalls die Kategorie der Causalität an und begeht also genau den- selben Fehler, den Aenesidemus an Kant gerügt hatte, und den er verbessern wollte. Wenn man über- haupt ein von den Gesetzen des Intellects unabhängiges ,,Ding an sich" gelten ließ, so lag es allerdings nahe, dasselbe in das eigene Subject zu verlegen, oder darin zu suchen. Denn mein eigenes Ich ist dasjenige, von dessen Existenz ich die sicherste Kunde zu haben glaube ; da nun die ganze Welt nur ,, Erscheinung" sein, durchgängig von meinem Subject abhängen soll, so muß wohl der Kern, das Wesen, das „Ding an sich", in, meinem intelligibelen Ich selbst liegen. — Aber man soll eben das bedenken (was wir im vorhergehenden Kapitel dargelegt haben), daß in unserem Vorstellen und Erkennen weder etwas unabhängig Subjectives, noch ein unabhängig Objectives, sondern immer nur Subject und Object als unzertrennliche Correlate ge- geben sind. — Dahingegen ist Fichte von der Kan- tischen Freiheitslehre, von dem Primat der prak- tischen Vernunft, (die in ihrer eigenthümlichen Fassung ohne die vorhergehende fehlerhafte An- nahme eines „Dings an sich" unmöglich gewesen wären) so ergriffen, daß ihm das „absolute Ich" über allen Zweifel erhaben dasteht. Wer nicht daian glaubt, gilt ihm für flach und kurzsichtig. In dieser Hinsicht bedient er sich bekanntlich des drastischen Ausdrucks, daß ,,die meisten Menschen eher dahin zu bringen sein „würden, sich für ein Stück Lava im Monde, als 84 „für ein „Ich" [scilicet ab-llsolutes] zu halten."*)
,CirkeI, den er in das Unendliche erweitern, aus welchem er aber nie herausgehen kann."
*) pag. 126. Anmkg.
Die idealistische Richtung. 83
Nehmen wir ihn beim Worte! Man kann sich mit eben so vielem, ja mit viel mehr Recht anheischig machen, ihm seine Kategorien aus der Lava im Monde, als aus dem „Ich an sich" zu deduciren. Denn jene Lava wäre doch wenigstens das Object einer möglichen Erkenntniß, das „Ich an sich" aber ist. ein außerhalb der Formen alles Vorstellens Angenom- menes, eine Vorstellung, die nicht vorgestellt werden kann, ein hölzernes Eisen; und was hieraus dedu- cirt werden mag, dessen speculativer Werth liegt be- deutend unter dem Nullpunkte. — Seiner Hauptidee, dem absoluten Ich, zu Liebe, läßt sich nebenbei Fichte gänzlich über das eigentliche Wesen der kritischen Philosophie verblenden, sucht er das charakteristische Merkmal derselben an einer ganz falschen Stelle. — Das Wesen des Kriticismus besteht nämlich in der Ein- sicht, daß wir, bevor an irgend welche Speculation ge- gangen wird, genau untersuchen und uns Rechenschaft darüber geben müssen, was wir überhaupt zu er- kennen vermögen, welches die Formen, Funktionen, Grenzen unseres Intellects sind; daß wir die Frage an uns richten : „W a s kann ich wissen?"*) Daß Kant bei der Beantwortung dieser Frage unter Anderem auch die Apriorität (nicht „den Ursprung aus dem Subject") gewisser all- gemeiner Vorstellungen findet, die man vor ihm für aus der Erfahrung geschöpft ansah, gibt unter allen Umständen seiner Philosophie nicht den kritischen, sondern den idealistischen Charakter. Weit ent- fernt davon, dies einzusehen, richtet Fichte jene Frage nicht an sich, sondern speculirt (ganz unkritisch) in's Blaue hinein, woraus sich nun alle seine Widersprüche, vor allem aber die enorme petitio principii, mit der er beginnt, erklären ; und dann behauptet || er noch obenein : 85
*) a. a. O. Kr. d. r. V. pag. 805.
84 Zweites Kapitel.
„Das Wesen der kritischen Philosophie bestehe da- „rin, daß ein absolutes Ich als schlechthin „unbedingt und durch nichts Höheres be- „s timmbar aufgestelltwerd e." *) Weit gefehlt ! — Dieser einzige Satz enthält den Keim des ganzen Fichteschen Irrthums. Aus ihm ersehen wir erstens, daß er nicht gewußt hat, weshalb Kant seine Lehre den Kriticismus nannte ; dann aber wird der Begriff an die Spitze der Philosophie gestellt, der allen Wahr- heiten des echten Kriticismus geradezu widerspricht, der von allen Gesetzen und nothwendigen Formen des Intellects emancipirt gedacht werden soll, und dann doch in demselben Intellect die Hauptrolle spielt, eine besondere Species der Gattung „Ding an sich."
Die ganze Wissenschaftslehre aber ist von vornherein ein hypothetisches Unternehmen; sie ist nämlich der versuchte Nachweis, wie das Selbstbewußtsein in allen seinen Be- stimmungen aus dem „Ich an sich'' zu dedu- ciren sein würde, wenn uns ein solches „Ich an sich" überhaupt bekannt wäre. Ein solches ist uns aber nicht nur nicht bekannt, sondern es ist eine sich widersprechende, also nichtige Vorstellung. Demnach fällt Alles, was auf diese Annahme gegründet war, d. i. die Wissenschaftslehre, hinweg. Schon früh hat Fichte sein Mißverständniß schwer gebüßt, indem Kant in jener, schon oben erwähnten, unmittelbar pro- vocirten Erklärung ihm geradezu sagt: „daß er seine Wissenschaftslehre für ein gänzlich unhaltbares System halte."
Hiernach sind wir vollkommen zur Anwendung un- seres (in der Einleitung pag. 14—16 aufgestellten) kri- tischen Verfahrens berechtigt. Das Resultat unserer Un- tersuchung lautet: 11
*) Grundl. d. ges. W. pag. 44.
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Fichte setzt die Kantische Philosophie86 voraus.
Er hat die Lehre vom „Ding an sich" ge- kannt und aus den skeptischen Angriffen gegen dieselbe gewußt, daß sie eine Incon- sequenz war.
Er hat aber durch dieAufsteilung eines „Ichs an sich" denselben Fehler begangen, also die Kantische Philosophie in diesem Punkte nicht corrigirt.
Also muß auf Kant zurückgegangen werden.
Was Fichte begonnen hat, setzt S c h e 1 1 i n g fort. Seine ganze Philosophie setzt das „Ding an sich" vor- aus, ja ist im Grunde nichts Anderes als Betrachtung desselben. Wir sagen dies schon hier, ohne, wie es in der Einleitung gefordert wurde, vorläufig die Maske des Nichtswissens vorzunehmen, weil es doch zu offen am Tage liegt, weil S c h e 1 1 i n g , der Anfangs ganz auf Fichteschem Standpunkte steht, trotz der nach- herigen Aenderung und Umbildung seiner Ansichten, ja mittelst derselben sich noch mehr von der Wahr- heit entfernt, d. h. immer größere Fortschritte in der Kenntniß des „Dings an sich" gemacht hat. In einigen seiner Schriften, namentlich im „System des transscen- dentalen Idealismus" kommt es fast auf jeder Seite vor. Wenn wir nichts desto weniger kurz auf seinen Gedankengang eingehen, so geschieht dies nicht allein der Vollständigkeit wegen, sondern besonders deshalb, weil Sehe Hing durch die Neuheit mancher Ansichten, durch die Form seiner Darstellung und durch die fort- während, theils verblümt, theils offen, gegebene Ver- sicherung „er sei ein Genie und stehe weit über dem Pöbel der gewöhnlichen Verstandesmenschen" einen ge-
•86 Zweites Kapitel.
wissen Enthusiasmus für sich zu erregen wußte, der freilich, als Strohfeuer, längst verflackert ist. —
Fichte hatte den ganzen Kosmos, sowohl den
87 Mikrokosmos ll des Geistes als den Makrokosmos der Natur, für ein Product oder eine That des uns inne- wohnenden intelligibelen Subjects oder absoluten Ichs erklärt. Dadurch war der Natur, welche in ihren zahl-
. losen Erscheinungen und ewigen Kräften unserem In- tellect als ein so überaus erhabener und mächtiger Gegenstand gegenübertritt, jene Selbständigkeit entzo- gen worden, welche jedes unbefangene Gemüth in ihr sucht und findet ; sie war zu etwas Secundärem, zu einem Erzeugniß desselben Subjects herabgesetzt, das doch mit staunender Ehrfurcht sie betrachten muß ; ihre Gestalten waren zu selbstlosen Marionetten in der Hand des einzig-realen absoluten Ichs geworden. Durch dieses Mißverständniß wurde Schelling stutzig gemacht, von dem ursprünglichen Fichteschen Standpunkte ab- gelenkt ; mit einer lebhaften, poetischen Auffassungs- gabe für das Leben und Weben der großen Natur aus- gestattet, suchte er dasjenige Verhältniß des einzelnen Subjects zur Welt, welches dem gesunden, natürlichen Gefühl als das richtige erscheint, in philosophischer Speculation aus höherem Gesichtspunkte wieder herzu- stellen. Da man aber, so lange die Kantische In- consequenz nicht aufgedeckt und entfert, das Fichte- sche Mißverständniß nicht durchschaut war, die Schran- ken des absoluten Ichs nicht durchbrechen konnte, so versuchte er es auf folgendem Wege.
Fichtes Lehre läßt sich in den Satz zusammenfassen : „Ich = Alles". Durch Conversion gewinnt Schelling hieraus das Urtheil : „A 1 1 e s = I eh. *) — Ohne uns
*) Siehe; „Darstellung meines Systems der Philosophie." 1801. In der Zeitschrift für speculative Physik. — F. W. J. v. Schellings sämmtl. Werke. 1. Abtheil. Band I. pag. 109. .Um diese Entgegen- , Setzung auf's verständlichste auszudrücken, so mußte der Idealismus
Die idealistische Richtung. 87
weiter darauf einzulassen^ '| ob eine solche Umkehrung J gestattet ist, sehen wir zu, was sich Schelling bei dem letzteren Satze denkt, und was er aus ihm gewinnt.
Das absolute Ich, welches nach Fichte Alles pro- ducirt oder dessen Erscheinung Alles ist, muß als Wesen und Grund sowohl des im empirischen Bewußtsein ge- gebenen Subjects, als des Objects angesehen werden ; das Object oder die Natur ist also ihrem inneren Sein nach mit dem Subject Ein und Dasselbe, nämlich Ich, absolutes Ich; in ihm sind Ideales und Reales, Natur und Qeist identisch. Es gibt daher weder irgend etwas rein Ideales, Subjectives, noch etwas bloß Reales, Objectives ; vielmehr erscheint es nur im empirischen Bewußtsein als different, während Beides im Abso- lutum indifferent ist. Denken und Sein sind identisch. So bilden Natur und Geist, welche dem gen meinen Verstände für Antipoden gelten, nicht, wie Spinoza will, zwei parallel laufende Reihen, son- dern eine einzige; und in diesem Sinne gilt also das : ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum. *) Wir können uns dessen schon im gewöhnlichen Selbstbewußtsein bei einiger Vertiefung anschaulich bewußt werden. In den niederen, dunklen, halb bewußtlosen Empfindungen, welche, außer dem Focus unserer Aufmerksamkeit liegend, von dem klaren Lichte des Denkens wenig oder gar nicht beleuchtet sind, fühlen wir uns verwachsen und Eins mit der scheinbar selbstlosen Natur, während wir auf der an- deren Seite uns als rein geistiges, intelligentes Subject wissen ; dennoch sind wir ein einiges, identisches Ich. Jener subjective und objective Pol des eigenen Ich,
,in subjectiver Bedeutung behaupten, das Ich sei Alles, der in der „objectiven Bedeutung umgekehrt: Alles sei = Ich, und es existire nichts als was = Ich sei."
*) B. Spinoza. Ethic. II. propos. 7. Vgl. Kuno Fischers Logik und Metaphysik. 2te Ausgabe 1852, §. 15.
Zweites Kapitel.
jene Duplicität ist aufgehoben, zerschmolzen in der Ein- heit des Selbstbewußtseins. Wie nun hier innerhalb 89 der II beschränkten Sphäre unseres endlichen Bewußt- seins das Bewußtlose und Bewußte in dem identischen Ich Eines, indifferent sind, so (in's Unendliche er- weitert) muß man sich die Indifferenz von Realem und Idealem, die Identität von Denken und Sein, die Einheit von Subject und Object in dem ewigen Welt-Ich oder dem Absolutum vorstellen. An jenem Beispiel im Klei- nen können wir es uns begreiflich machen, wie das Absolute, welches durch und durch Thätigkeit ist, als identisches Ich auf einer Reihe von Stufen sich ent- wickelt von dem starren, leblosen und bewußtlosen Mineral, dem scheinbar nur Objectiven, bis in den sub- jectiven Culminationspunkt, den erkennenden, denken- den Menschengeist. —
Nun kann man aber diese Selbstschaffung und Ent- wicklung des Absoluten von zwei verschiedenen Stand- punkten aus betrachten : „Entweder nämlich wird das „O b j e c t i V e zum Ersten gemacht und gefragt : Wie „ein Subjectives zu ihm hinzukomme, das mit ihm über- „einstimmt," oder „das Subjective wird zum Ersten „gemacht und die Aufgabe ist die: Wie ein Objectives „hinzukomme, das mit ihm übereinstimmt." *) Die Lö- sung des ersten Problems ist die „N a t u r p h i 1 o s o-« p h i e'*, die des zweiten „die Transscendental- p h i I o s o p h i e". Die erstere ist nun freilich gerade das, worin S c h e 1 1 i n g wirklich originell erscheint und wodurch er besonders seinem Zeitalter imponirt hat. Dennoch gestehen wir offen, daß, selbst wenn wir uns auf den Schellingschen Standpunkt stellen, die Transscendentalphilosophie von viel grösserer Bedeu- tung sein muß ; denn in ihr sollen ja erst die Beding-
*) System des transscendentalen Idealismus. 1800. Sämmtl. Werke Abth. I. B. III. pag. 340 u. 341.
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ungen entwickelt werden, unter denen für unser in- telligentes Subject überhaupt eine Natur da sein, also eine Naturphilosophie conslruirt !| werden kann. Wir 90 müssen daher die wesentlichen Sätze des transscenden- talen Idealismus betrachten.
Im Allgemeinen ist hier nur dasselbe zu leisten versucht, was Fichte in der Wissenschaftslehre gethan hat, nämlich aus dem Begriffe eines absoluten Ich alle Formen und Vermögen des Geistes, Empfindung, An- schauung, Reflexion u. s. w. zu deduciren. Alles dieses ist nur Erzeugniß der Thätigkeit des absoluten Ich ; es gilt nur „diese Thätigkeit, oder das, was in allem „anderen Denken, Wissen oder Handeln das Bewußtsein „flieht und absolut nicht-objectiv ist, zum Bewußtsein „zubringen, objectiv zu machen,*' wozu nach Schel- lin g eine besondere „transscendentale Kunst ge- hört ;'**) eine Kunst, die (wenn man das „transscenden- tale" Flittergold abstreift) schon der, nebst vielen an- deren bedeutenden Männern, von Schelling „verachtete" Locke kennt.**) Er nämlich sagt: The understanding, like the eye, whilst it makes us see, and perceive all other things, takes no notice of itself ; and it requires arts and pains to set it at a distance, and make it its own object. [ Intellectus, oculi instar, dum in causa est quod reliqua omina intueamur et percipiamus, haud aciem suam in se ipsum intendit : atque arte et solertia opus est, ut ipse ad distantiam aliquam a seipso sisti et sui ipsius objectum ita fieri possit. ] ***) Freilich ist das Selbstbewußtsein „der lichte Punkt im ganzen „Systeme des Wissens, der nur vorwärts, nicht rück- „wärts leuchtetet); aber da Schelling nicht, wie der
*) ibid. pag. 340 u. 341. §. 1, 4.
**) In einer philosophischen Unterhaltung mit Victor Cousin äußerte Schelling gegen diesen »Je meprise Locke.«
***) J. Locke. An Essay concern. Human Understanding. B. I. chap. I, 1.
t) S. W. I. III. pag. 357.
90 Zweites Kapitel.
91 ver- II achtete Empirist Locke auf dem Niveau gemeiner Wirklichkeit steht, sondern mit transscendentaler Kunst aus dem Reiche des Seins in das des ewigen Werdens sich geschwungen hat, aus der mechanischen Schale, welche dem bornirten Verstandespöbel als Grenze des Erkennbaren gilt, in das dynamische Herz der Welt [ Ding an sich ] gedrungen ist, so kann er wohl auch die Regionen untersuchen, wohin das Selbstbe-i wußtsein nicht leuchtet. „Jenseits des Selbstbewußt- „seins ist nun das Ich bloße Objectivität, — das Ein- „zige an sich, was es gibt*), und „das Ding an „sich'' ist nichts anderes als der Schatten der ideellen, „über die Grenze hinausgegangenen Thätigkeit, der dem „Ich durch die Anschauung zurückgeworfen wird, und „insofern selbst ein Product des Ichs,"**) Da nun aber die Philosophie nicht (wie Kants beschränkte Ansicht war) ,,die Intelligenz schon als fertig voraus- ,,setzt, sondern sie im Werden betrachtet, sie vor „ihren Augen entstehen läßt" ***), so muß es offenbar ein ganz besonderes Oeistesorgan für die Erkenntniß jenes in der Intelligenz vorausgehenden „An sich's" geben, in dessen Besitz nur so bevorzugte Geister, wie ||
92Schelling, sind. Denn wenn ein gewöhnlicher Ver-
*) pag. 390 vgl. „Darstell, mein. Syst. d. Phil.' S. W. I. IV. pag. 115. Dort ist die philosophische Erkenntniß .eine Erkenntniß „der Dinge, wie sie an sich, d. h. wie sie in der Vernunft sind." Raum und Zeit werden für Producte der Einbildungskraft, also gleichgültig in der Vernunfterkenntniß erklärt, und somit auf der einen Seite das, was wirklich wahr und unumstößlich in der Kantischen Philosophie ist (die transscendentale Aesthetik) umgestoßen und da- gegen der Hauptfehler (das „Ding an sich") für das einzig Wahre ge- nommen. Um hierüber ja keinen Zweifel zu lassen, sagt Seh. aus- drücklich: „Kant habe dadurch, daß er das »Ding an sich" ,in die Philosophie einführte, wenigstens den ersten An- „stoß gegeben, der die Philosophie über das gemeine Be- , wußtsein hinaus führen konnte." (!) B. III. pag. 461.
**) B. III. pag. 422. ***) pag. 427.
Die idealistische Richtung. 91
Standesmensch „ohne Voraussetzung der Intelligenz'* irgend etwas erkennen wollte, so würde man ihn für irrsinnig halten; und wenn er mittelst seiner Geistes- kräfte versuchen wollte, Das zu erfassen, was diese seine Geisteskräfte erst producirt, so würde er Dem- jenigen gleichen, der da versuchte, über seinen eigenen Schatten zu springen, und sehr bald gewahr werden, daß etwas Derartiges für Leute seines Schlags un- möglich ist; oder er wäre auch Demjenigen zu ver- gleichen, der, in frühster Kindheit auf einer wüsten Insel ausgesetzt, ohne Anblick irgend welcher leben- diger Wesen, auf den Gedanken käme, das Geheimniß seiner leiblichen Entstehung durch Nachgrübeln zu finden. — Schell in g also ist im Besitze dieses Organs, demnach muß er es kennen. Und er hat es nicht blos gekannt, sondern auch benannt ! — Anfangs freilich wußte er selbst nicht (oder wollte aus Beschei- denheit nicht wissen), wie sehr er vor den übrigen Menschen bevorzugt war, und gestand daher, daß man „nur durch Schlüsse" (also auf gewöhnlichem Wege) in jenes Gebiet gelangen könne.*) Nachdem er aber zu dem Bewußtsein gekommen ist, welches exquisite Kleinod in seinem Acker vergraben liegt, oder ein- gesehen hat, daß seine Bescheidenheit übel angebracht war bei dem besagten Verstandespöbel, mahnt er : ,,den i, Zugang zur Philosophie scharf abzuschneiden und nach „allen Seiten hin von dem gemeinen Wissen so zu „isoliren, daß kein Fußsteig zu ihr führe.''**) — Dieses außerordentliche Geistesorgan, dieses übersinnliche Auge der Transscendentalphilosophie ist: — die intellec- tuelle Anschaung. Diese also stempelt Schel- lingen zum bevorzugten Geiste, zum Clairvoyant. Eine genauere Beschreibung derselben findet man || in der 93
*) III. pag. 395 a. a. O. **) IV. pag. 362.
92 Zweites Kapitel.
Schrift: „Fernere Darstellungen aus dem System der Philosophie", welche 1802 in der Neuen Zeitschrift für speculative Physik zuerst erschienen ist. (Sämmtl. W. Abth. I. B. IV. pag. 333). Dort heißt es unter An- derem (§, 2) : „Die intellectuelle Anschauung sei das jVermögen überhaupt, das Allgemeine im Besonderen, ,das Unendliche im Endlichen, beide zur lebendigen , Einheit vereinigt zu sehen." An einer anderen Stelle wird sie „ein Wissen, das zugleich Produciren seines ,Obje^cts sei," genannt. „Von ihr muß beständig das jtransscendentale Philosophiren begleitet sein : Alles ,vorgebliche Mißverstehen jenes Philosophirens hat sei- ,nen Grund nicht in seiner eigenen Unverständlichkeit, , sondern in dem Mangel des Organs, mit ,dem es aufgefaßt werden muß."*) Wir wer- den belehrt, daß gar nicht einzusehen sei, „warum unter , dieser (intellectuellen) Anschauung etwas Mysteriöses , — ein besonderer nur von einigen vorgegebener Sinn ,verstanden worden ;" und daß dies allein daher komme, jWeil manche desselben wirklich entbehren, welches ,aber ohne Zweifel ebensowenig befremdend sei, als ,daß sie noch manches anderen Sinns entbehren, dessen .Realität ebensowenig in Zweifel gezogen werden , könne." **) — „Wer — möchte man mit Kant aus- , rufen — sieht hier nicht den Mystagogen, der nicht ,bloß für sich schwärmt, sondern zugleich , Clubbist ist, und indem er zu seinen Adep- ,ten, im Gegensatz von dem Volke (worun- ,ter alle Uneingeweihten verstanden wer- ,den) spricht, mit seiner vorgeblichen Phi- jlosophie vornehm thut ;"***) — Auf Grund dieser intellectuellen Anschauung fühlt sich nun Schel-
*) S. W. I., III., pag. 369. **) ibid. 370.
***) „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie" 1796. J. Kants Werke, edit. Rosenkranz. B. I. pag. 633.
Die idealistische Richtung. 93
ling zu dem || Ausspruche gemüßigt : daß dem Kriti- 94 cismus Kants „wenig [oder gar keine] An- „sprüche bleiben können, Philosophie, „oder auch nur Grundlage von Philosophie „zu sein"!*) Ja noch besser! Nach seiner Ansicht „hat die Kantische Lehre eine tiefe und „gründliche Gemeinheit der Vorstellungen „eingeführt!"**) —
Wir haben ihn ganz ausreden lassen. Nun aber können wir nicht umhin, die Sache genauer zu erörtern, damit man die ganze Tiefe, ja — Bodenlosigkeit jenes extraordinären Geistesorgans durchschaue, durch dessen Besitz sich Schelling berechtigt glaubt, einen Denker wie Kant, der doch zu den größten Geistern der Welt gehört, in der eben angeführten Weise zu schmähen.
Zunächst ist die „intellectuelle Anschauung" nicht von ihm erst entdeckt worden, sondern aus Kants schmutziger Wäsche hervorgesucht. Kant erwähnt sie nämlich unter Anderem Kr. d. r. V. 256. Kr. d. pr. V. 56. 178. 247. Prolegom. 107. 172. Er nennt sie dort bald eine „nichtsinnliche Anschauung", bald einen „an- schauenden Verstand", — Begriffe, die, wie man sieht, zu jenen contradictionibus in adjecto gehören, welche Kant hier und da gleichsam zum warnenden Beispiel aufstellt. Ziemlich ausführlich läßt er sich über diesen Gegenstand in der eben genannten Schrift: „lieber einen vornehmen Ton u, s. w." aus. Dort sagt er z. B. „Der discursive Verstand muß mittelst der Begriffe „viele Arbeit verwenden und viele Stufen mühsam be- „steigen, um im Erkenntniß Fortschritte zu thun, statt „dessen eine intellectuelle Anschauung den „Gegenstand unmittelbar, und auf einmal fassen und „darstellen würde. — Wer sich also im Besitz „der letztern zu sein dünkt, wird auf den
'') Schellings S. W. 1., IV., pag. 350. - **) ibid. pag. 365.
94 Zweites Kapitel.
95 „erstem mit Verach-||tung herabsehen; und „umgekehrt ist die Gemächlichkeit eines solchen Ver- „nunftgebrauchs eine starke Verleitung, ein derglei- „chen Anschauungsvermögen dreist anzu- „nehmen, ingleichen eine darauf gegrün- „dete Philosophie bestens zu empfehlen." — Diese Worte sind geschrieben, ehe Schelling an in- tellectuelle Anschauung gedacht hat, wenigstens ehe er sich unterstand, die oben angeführten Blasphemieen gegen Kant auszusprechen. — Fichte hat die intel- lectuelle Anschauung auch zu besitzen geglaubt ; da^ gegen wissen sehr viele bedeutende Denker von ihr gar nichts. So erklärt z. B. Schopenhauer „daß es „ihm gänzlich an ihr mangele,*' und ,,daß daher, es ,,sei seltsam zu erzählen, bei jenen Lehren tiefer Weis- „heit [ den Schellingschen Constructionen durch intellec- „tuelle Anschauung] ihm immer zu Muthe sei, als höre „er nichts als entsetzliche und noch obendrein höchst „langweilige Windbeuteleien."*) — Eine intellectuelle Anschauung, als besonderes Geistesorgan für die Er- kenntniß des „Dinges an sich" ausposaunt, ist minde- stens eine leere Fiction. Hierin stimmen wir mit Scho- penhauer überein, wenn auch aus ganz andern Gründen als er. Welche Combination, welches Zusammenwirken von geistigen Thätigkeiten und Vermögen aber Schel- ling in der That unter jenem Namen begriffen hat, das; wissen wir sehr gut, und es sei hier kurz mitgetheilt. Es hat damit folgende, ganz natürliche Bewandtniß.
Nachdem man den Grund alles Denkens und Seins in der übersinnlichen Thätigkeit eines Weltichs oder Absolutums gefunden zu haben meinte, welches — selbst außer den Formen des Intellects (Raum, Zeit und Kategorieen) liegend — diese vielmehr erst produ-
*) A. Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung. B. I pag. 30. u. 31.
Die idealistische Richtung. 95
ciren mußte, handelte es sich darum, ein subjectives || Correlat dieses Absolutums, [welcher Begriff freilich 95 undenkbar, aber Consequenz aus jener Inconsequenz ist ], d. h. ein bestimmtes Vermögen, womit man das Wesen und Treiben des Absoluten auffassen könnte, nachzuweisen. Nun fand sich aber natürlicher Weise, daß man jenen außerräumlichen und außerzeitlichen Unbegriff wenigstens nicht unmittelbar vorstellen oder erkennen könne, weil ja eben Vorstellen und Erkennen nur innerhalb Raum und Zeit vor sich gehen kann. Man schuf sich daher, willkürlich oder unwillkürlich, ein mittelbares, räumlich-zeitliches Schema des vor- geblichen .Weltichs in der Einbildungskraft, ein vages, unbestimmtes Phantasma, ohne bestimmte Dauer und Grenze. Für die absoluten Thätigkeiten u. s. w. dieses Weltichs bildete man sich dann die entsprechenden Schemata, etwa in der Form von gehemmten und sich äußernden Bewegungen und Kräften etc., und fragte dann : Wie muß ich nun diese Schemata sich geriren lassen, um ein Bild von dem [irrationalen] Processe zu bekommen, durch den das Absolutum den Intellect mit allen seinen Fähigkeiten und Functionen, und die Natur mit allen ihren Gesetzen und Kräften aus sich erzeuge? Indem man nun auf verständige Weise diese Frage be- antwortete, und sich nach den Gesetzen der Causalität u. s. w. ein dunkles, räumlich-zeitliches Phantasma jenes Processes bildete, bis das Schema einer Deduction des empirisch Gegebenen aus dem vorausgesetzten Intelli- gibilen fertig war, schob man heimlich das Bild für die Sache unter und suchte Anderen (und wohl auch sich selbst) einzureden, man habe das Absolutum angeschaut. So war unter der Hand ein X für ein U gemacht. Jenes Schema war das Absolutum, und dieses planvolle Zusammenwirken von Verstand und Phantasie war — die intellect u eile An- schauung.
96 Zweites Kapitel.
Das ist des Pudels Kern !
Wer sich daher durch Vorschützung einer intellec- 97 tuellen An- 1! schauung zu der Ueberzeugung vom Da- sein oder der unmittelbaren Erkennbarkeit eines Ab- solutums bereden läßt, der ist ungefähr ebenso dupirt wie Jemand, der das in dunkler Stube mittelst eines Holspiegels auf Dämpfe oder Milchglas gewor- . fene Bild eines lebendigen Menschen für eine über- irdische Oeistererscheinung hält. So wenig dies ein Gespenst, so wenig ist jenes ein Absolutum ; so wenig hier Zauberei, ebensowenig dort intellectuelle An- schauung. Es geht Beides mit natürlichen Dingen zu.
Demnach zeigt sich das vornehme Gebaren der Schellingschen Philosophie als „Sand in die Augen'' ; ihr bevorzugtes subjectives Organ zerfällt in die allbekannten, natürlichen Geistesgaben, die jeder gesunde Mensch in höherem oder niederem Grade hat, sie selbst aber in — Nichts ; denn ihr vorgeblicher Ge- genstand ist durchweg ein ,,Ding an sich.'' Man kann daher von Schelling in Beziehung auf Kant dasselbe sagen, was Epiktet von einem unverständigen Anhänger des Stoikers Chrysippos: ei fxi} daacpwg eysyQcicpsi ixsTvog [o XgvöiTiTiog], ovSsv äv ei^ev ovrog S(p' co as^.ivvv'ricaL. Nisi obscure scripsisset ille, nihil heberet hie, quo gloriaretur]. Epictet. Enchiridion cap. LXXIII. —
Was aber die oben citirten Verunglimpfungen an- langt, die Schelling seinem Herrn und Brodgeber ange- deihen läßt, so bleibt es dem Temperament, oder wenig- stens der Laune des Lesers überlassen, ob er sie von der ernsten oder von der komischen Seite auffassen, d. h. ob er sie für empörend oder für lächerlich erklären will. —
Nach allem Gesagten endlich können wir uns eine eingehende Kritik in bewußtem Sinne diesmal ersparen. Wir schließen einfach :
Also muß auf Kant zurückgegangen werden.
Die idealistische Richtung. 97
Daß Schelling in seiner Naturphilosophie eine ori- ginelle II Weltansicht aufgestellt habe, wurde sogar von 98 seinen Gegnern anerkannt ; *) daß man aber bei der Art ihrer philosophischen Begründung, nämlich dem „genia- len'' Construiren aus intellectueller Anschauung, sich nicht beruhigen könne, dies sahen auch solche ein, die zu seinen Anhängern gehörten. Denn hier fehlte ganz Das, was der Kantischen Philosophie so wohl an- stand, jene Keuschheit des Denkens, jene logische As- kese, die mit unerbittlicher Strenge jeden Schritt ihres Gedankenganges prüft und stets eine unangenehme Wahrheit selbst der schönsten Unwahrheit vorzieht. Man wurde inne, daß es gerade für den Philosophen höchst unpassend ist, sich auf sein ,, Genie" zu be- rufen. Denn selbst ein wirklich geniales Subject muß, qua Philosoph, die geniale Hülle abstreifen und bedäch- tigen Schrittes seinen Weg gehen. Genie nämlich besteht in der Gabe, den Gedankengang, der in gewöhnlichen Geistern langsam und träge von Statten geht und wohl gar abbricht, ehe überhaupt ein Resultat erreicht ist, mit blitzartiger Schnelle zu durchfliegen, die Wahrheit im Sturm zu erringen, so daß für gewöhnlich der Weg zu dem erreichten Ziele gar nicht im Bewußtsein haftet. Wenn es nun auch auf diese Weise gelungen ist, große und tiefe Ansichten, unumstößliche Wahrheiten zu er- fassen, so ist es nachher gerade die Aufgabe des philo- sophischen Denkens, durch genaue Darlegung und nüchterne Prüfung aller einschlagenden Gedankenver- knüpfungen, jedem die unumstößliche Ueberzeugung, die abstracte Gewißheit des vorher im Sturme errunge- nen Resultates aufzudrängen. — Hiervon war bei Schel- ling gar nicht die Rede ; alle stricte Begründung fehlte ; bei „der ersten Uebersicht seiner Schriften nahmen sich'', wie Fries treffend bemerkt, „diese aus, wie ein Proto-
*) Siehe u. A. I. F. Fries's Polem. Schriften. B. 1. 1824. pag. 127.
Neudrucke: Liebmann, Kant. 7
98 Zweites Kapitel.
99„koll aus der Rathsitzung der || Elohim, in welcher sie „sich über die Erschaffung der Welt berathschlagten".*) — Wir haben auf den letzten Seiten gesehen, daß hinter diesen Elohim ein Mann „wie andere auch** sich ver- steckt hatte. —
Daher war es denn auch gekommen, daß Schelling, nicht etwa bloß unbewußt, sondern eingeständlich in den vorkantischen Dogmatismus zurückgesunken war ; denn er hatte ganz offen und naiv erklärt, „daß der „leibnitzische Idealismus, gehörig verstanden, „vom transscendentalen [d. i. Schelling- „schen] in der That nicht verschieden „sei".**) — Das war also die Frucht der intellectu- ellen Anschauung, jenes Pseudophilosophirens ohne alle stricte Begründung. — jenen Mangel fühlte nun Hegel. Während er daher mit dem allgemeinen Re- sultate der Fichte-Schellingschen Speculation, nämlich der Idee des Kosmos als intelligibeler Entwickelung und Selbstproduction eines absoluten Weltichs, überein- stimmte, suchte er den festen Weg auf zu der abstrac- ten Gewißheit jener Weltansicht. Nicht, wie sein Vor- gänger, wollte er „ohne tiefere Arbeit gleich an den Genuß der Idee gehen;"***) denn so hatte jenes Philo- sophiren, das „sich zu gut für den Begriff und durch „dessen Mangel für ein anschauendes und poetisches „Denken hielt, willkürliche Combinationen einer durch „den Gedanken nur desorganisirten Einbildungskraft zu „Markte gebracht, — Gebilde, die weder Fisch noch „Fleisch, weder Poesie noch Philosophie waren." f) Während also Schelling auf dem steuerlosen Schiffe
*) ibid. pag. 91. **) Schellings S. W. Abth. I. Bd. III. pag. 453. ***) G. W. F. Hegels Encyclopädie d. philosophischen Wissen- schaften, edit. II. 1827. Vorrede, pag. XXXV.
t) Hegels Phänomenologie d. Geistes, edit. Schulze 1832. — pag. 54.
Die idealistische Richtung. 99
seiner inteüectuellen Anschauung den Ocean des Kos- mos als II Abenteurer durchirrt hatte und so endlich 100 an den dunklen Küsten des Mysticismus strandete, suchte Hegel den Ariadnefaden, an dem er sicher durch das Weltlabyrinth den Weg fände. Und diesen fand er in „der dialektischen Methode".
Die „dialektische Methode" war keine neue Erfin- dung Hegels, Ganz abgesehen von den sehr deut- lichen Antecedentien im Alterthum, hatte Fichte sie aufgestellt und angewendet in der „Wissenschafts- lehre*)", Schelling hatte sie ausdrücklich anerkannt im „transscendentalen Idealismus," ohne sie zum Orga- non seiner Naturphilosophie zu machen. **) Hegel aber macht Ernst mit ihr und theilt ihr die Hauptrolle zu. Um nun die tiefe, wesentliche Bedeutung zu begreifen, welche jenes trichotomische Fortschreiten des Gedan- kens in der Hegeischen Philosophie haben muß; um einzusehen, daß hierin weder (wie seine blinden Gegner glauben), ein ganz willkürliches, äußerliches Schema, noch (wie seine blindenAnhänger behaup- ten) das ewige Denkgesetz des absoluten Weltgeistes zu finden sei, dazu bedarf es eines Einblicks in die all- gemeine Idee, welche in diesem vielgerühmten und viel- geschmähten Systeme dargestellt wird, ihren Ausdruck findet. Wir schicken daher folgendes voraus.
Der großartige, ganz originelle und charakteristische Gedanke der Hegeischen Philosophie (dessen Kehrseite freilich zu- gleich ihr Grundfehler ist) ist der ernst- liche Versuch, den Kosmos als Makrokos- mos und Mikrokosmos, also Alles, in bloßes Denken aufzulösen, allein im abstracten Intellect zu erfassen. Sie erscheint hierin nur
*) Grundlag. d. g. W. a. a. O. pag. 37 ff. •=*) Schellings S. W. I. III. pag. 394. 412.
7*
100 Zweites Kapitel.
101 als die äußerste Spitze jener Qedankenrichtung, || die in dem Cartesianischen cogito ergo sum ihren Ursprung hat, die von der abstracten Selbstgewißheit ausgeht, deren ganze Tendenz es ist, alle Autorität zu entfernen, das Denken zu emancipiren, nur von seinen immanenten Gesetzen abhängen zu lassen. Es wäre interessant, näher zu verfolgen, wie jene Tendenz gradatim sich erweitert, wie ein Vorurtheil nach dem anderen gestürzt, eine Autorität nach der anderen angezweifelt und entfernt wird. Ihr natürliches Maximum hatte diese Gedanken- richtung bereits in Kant erreicht. Denn er hatte durch die Aufweisung der Erkenntnisse a priori die immanenten Bedingungen, also Schranken des menschlichen Geistes entdeckt und beiläufig da- durch, daß er die Empfindungseindrücke (ganz richtig) als „gegeben" ansah, die äußeren Gren- zen des Intellects anerkannt. Die nachkantischen Idea- listen suchten nun aber auch diese letzten, nothwendi- gen Autoritäten zu entfernen. Fichte und S c h e 1 1 i n g hatten alle Formen und Functionen des Intellects für etwas Secundäres, für Producte der absoluten Thätig- keiten des p,Ichs an sich" erklärt. Bei Hegel bleibt nun ganz allein das Denken als Wirkliches übrig. Empfindung, Anschauung, Reflexion gelten nun für nichts mehr als für überwundene Standpunkte des sich entwickelnden Denkens, — abgelegte Gestalten, die nur Bedeutung haben als Momente im dialectischen Fort- schritt des Geistes, ein „ewig Gestriges" für den Stand- punkt der absoluten Vernunft. Das reine, absolute Den- ken ist das wahre Wesen des Alls, der anschauliche Factor der Erkenntniß ist keine Autorität mehr und „das Unsagbare, Gefühl, Empfindung, ist nicht das „Vortrefflichste, Wahrste, sondern das Unbedeutendste, „Unwahrste ;" *) das „sinnliche Dieses" und „das Un-
*) Encyclopädie §. 20. pag. 31.
Die idealistische Richtung. 101
„aussprechliche*', welches „für die Sprache li u n e r - 102 „reich bar" ist, ist „unwahr."*) Damit hat Hegel den äußersten Schritt auf dem Pfade des Idealismus gethan. Es i s t nur Denken, Allgemeines; das Einzelne, Individuelle in Gefühl und Empfin- dung hat nur Bedeutung als überwundenes Moment des Allgemeinen, des absoluten Denkens. —
Indem also Hegel es ignorirt, daß dieser abstracte Intellect vielmehr selbst etwas SeCundäres und Be- schränktes ist, aus einer Frage entspringt und wieder- um mit einer Frage aufhört, daß das Unaussprechliche, Individuelle, das sinnliche Dieses, anstatt „unwahr" zu sein, vielmehr die Basis aller Wahrheit und alles Er- kennens ist, welches d a noch unmittelbare Gewißheit gibt, wo die Sprache und das Denken in ihrer Allge- meinheit nicht mehr im Stande sind, sich zu schmiegen, endlich, daß der abstracte Intellect alle Bedeutung, seine ganze Dignität verliert, wenn er nicht nachweis- bar sich fortwährend auf jenes „Unaussprechliche" be- zieht, — indem er, sage ich, Alles diese ignorirt (ab- sichtlich ignorirt), besteht seine ganze Philosophie in der Durchführung der Idee: Alles und Jedes als Moment in derEntwicklung des Denkens nachzuweisen. Es ist aber natürlich, daß bei diesem Unternehmen der abstracte Intellect fortwährend an seine, ihm gesetzten Schranken anstößt, an das subjeC- tive Gefühl, die objective Empfindung oder sinnliche Qualität und die reinen Erkenntnißformen a priori, Raum, Zeit und Kategorieen. Indem er nun diese Schranken zu erfassen, zu besiegen, zu begreifen strebt, ist jene Entwickelung durchweg ein peren- nirender (und nach HegelsAnsicht„s leg- re ich er") Kam pf des abstracten Intellects mitden unsagbaren, nichtdenkbarenFac-
*) Phänomenologie, pag. 83.
102 Zweites Kapitel.
toren des Kosmos. Und dieser Kampf ist eben die Dialektik. Ii 103 Nur wenn man diese allgemeine Grundidee der
Hegeischen Philosophie kennt, vermag man dieses System zu verstehen ; kennt oder versteht man sie nicht, so erscheint es als absurd. Wenn zum Beispiel Goethe von Hegel sagt :
,X hat sich nie des Wahren beflissen, Im Widerspruche fand er's; Nun glaubt er alles besser zu wissen, Und weiß es nur anders."*)
so sehen vi^ir hierin allein das Zeugniß dafür, daß seinem künstlerischen, auf unmittelbare Intuition gerichteten Genius jene Hegeische Allmacht des abstracten Intel- lects durchaus fremd und unverständlich sein mußte. — Wir hier haben es zunächst noch mit keiner Kritik jener Idee zu thun ; was uns jetzt nur interessirt, ist dieses: daß, wenn man die allgemeine Idee anerkennt. Alles andere sich sofort erklärt. Es erklärt sich, wie Hegel sagen konnte : „das Wesen des Geistes sei, Negation der Natur zu sein, und eben als sie aufhebend, ihre Wahrheit"; es erklärt sich der be- rühmte Ausspruch : „Was vernünftig ist, das ist wirk- lich, und was wirklich ist, das ist vernünftig" ; es er- klärt sich jenes diplomatische Sichanschmiegen des Ge- dankens an den unsagbaren Factor der Erkenntniß, wo- rin man immer nur Spitzfindigkeiten, Sophismata ge- sehen, was Schopenhauer ein „Verrenken des Geistes" genannt hat ; es erklärt sich, wie im Wider- spruche die Wahrheit gefunden wird. Dieser Wider- spruch ist im Grunde nicht der logische, der in dem unlösbaren Problem besteht, disjuncte Merkmale in dem- selben Begriffe zu verneinen, sondern der dialek- tische Widerspruch, den das Denken gleichsam im
*) Zahme Xenien. Abth. 11.
Die idealistische Richtung. 103
Streitgespräch {diaXsysod^ai) mit dem sich sträubenden unsagbaren Factor der Er- 1| kenntniß gegen dessen (wie 104 es meint) unbegründete Behauptungen erhebt. Der Vor- gang, der sich hierbei immer wiederholt, ist nun fol- gender :
Es tritt eine „gegebene" Vorstellung dem ab- stracten Intellect entgegen. (Thesis.)
Der Intellect, der sie erfassen muß, tritt in Gegensatz zu ihr (negirt sie) und erhebt gegen das Unsagbare „Gedankenlose" in ihr Widerspruch. (Anti- thesis.)
Der Intellect erfaßt die „gegebene" Vorstellung als Moment eines höheren Begriffes, in dessen Sphäre die Ansprüche des abstracten Denkens und der ge- gebenen Vorstellung ausgeglichen werden. Nun ist die Vorstellung gedacht, ist Moment des Denkens geworden, und der Widerspruch ist gehoben. (Syn- thesis.)
Indem sich nun in jeder neuen Synthesis auch ein neues Denkproblem findet, wiederholt sich derselbe, beschriebene Vorgang, spielt sich der Kampf des sich emancipirenden abstracten Intellects mit dem Unaus- sprechlichen fort, schreitet die Dialektik in trichoto- mischer Form weiter, bis endlich das Ziel erreicht, d. i. Alles gedacht, das „diamantene Netz der Begriffe" bloßgelegt ist, welches den Kosmos durchwebt. — Aus dieser allgemeinen Idee also läßt sich das Hegel'sche System als Ganzes und jeder seiner Schritte begreifen. Betrachten wir z. B. jene erste Trichotomie der Logik, welche, wie Hegel selbst sagt, „von dem Härtesten „ist, was das Denken sich zumuthet" und damit Man- chen gleich von der Schwelle dieses Systems zurück- schreckt, so wird sie sich verständlich folgender Maßen gestalten :
Als allgemeinster und erster Begriff ist dem ab- stracten Intellect der des Seins gegeben. Das Min-
104 Zweites Kapitel.
deste, was ich von irgend einem Objecte sagen kann, aber auch das Erste, was von ihm gesagt werden muß,
105 ist: das es ist. Nun versteht die gewöhn- 1| liehe Vor- stellung unter dem Sein die starre unabhängige Posi- tion. Da aber alles Sein seine Bedeutung nur gewinnt, indem es gedacht wird, da überhaupt „Sein" und „im abstracten Intellect sein'^ d. h. „Gedanke sein" das- selbe ist, und da dieser Intellect das gerade Gegen- theil jener starren Position, nämlich seinem Wesen nach lebendige Thätigkeit ist, so erklärt er dieses Sein für Nichts und hebt es auf im Begriffe des Werdens.*)
Und wie hier im Kleinen die Anfangsbegriffe sich gestalten, so gruppirt sich im Großen dieses ganze System. In der Logik ist der Geist an sich, als sub- jectiver Intellect betrachtet; in der Naturphiloso- phie wird er sich äußerliches Object, tritt er zu sich selbst in Gegensatz, ist er selbst in seinem Anderssein ;
106 indem || er sich selbst in der Natur erfaßt, hat er die
*) Hiermit stimmt die Interpretation Kuno Fischers überein, welche ich für die einzig mögliche, und deshalb richtige halte. Siehe K. F. Log. u. Metaph. 2. Ausg. §. 28 — 30. — Wie sich auch bei dieser Gelegenheit zeigt, ist es ein Hauptmangel der Hegeischen Philo- sophie, daß ihr Denken in einem Netze von Worten fixiert ist, deren Sinn nirgends durch genaue Definitionen hinreichend bestimmt wird. Daher kommt es denn, daß denselben Worten von verschiedenen An- hängern und Interpreten die verschiedensten Bedeutungen beigelegt werden. Obgleich man nun überzeugt sein muß, daß Hegel selbst sich bei jedem dieser Worte etwas ganz Bestimmtes gedacht habe, so wird doch seine Philosophie durch jenen Mangel der Willkür eines Jeden überlassen und erscheint daher als etwas ganz Unbestimmtes, Schwankendes, Vages. — In einer kürzlich erschienenen, höchst selt- samen Schrift wird trotzdem mit auffallendem Pathos verkündet: »die Hegeische Logik besitze drei große „Forcen". Eine dieser „Forcen* sei die Aufstellung der Kategorieen des Seins (Qualität — Quantität — Maaß) und des Wesens (Grund — Erscheinung — Wirklichkeit). Mit jenen drei „Forcen" gleiche sie einer „großartigen Felsenburg. " — Wozu der Lärm? — Hier kann doch höchstens eine Felsenburg von jener bekannten Sorte gemeint sein, welche der Franzose „des chäteaux en Espagne" nennt.
Die idealistische Richtung. 105
Schranken seiner Endlichkeit überwältigt, ist freie In- telligenz, absoluter Geist geworden. So ist der Cyc- lus geschlossen, der Kosmos ganz im abstracten Intel- lect erfaßt, Alles ist in Denken aufgelöst, und dem lebendigen Inhalt der sinnlichen Empfindungen, wel- cher, in tausend ursprünglichen Qualitäten und Kräften erscheinend, Stoff und Anlaß 201 allen Vorstellungen gibt, —
ist des Gedankens Blässe angekränkelt. Wie schon erwähnt, liegt nun gerade in der Haupt- idee der Hegel'schen Philosophie deren Haupt- fehler. Es ist nicht nur ein unmögliches Postulat, son- dern auch eine Umkehrung des natürlichen Verhält- nisses, die Welt bis in ihre anschaulichen, unsagbaren, nicht erklärlichen Elemente hinein, mit dem abstracten Intellect erfassen, als Moment des Denkens darstellen zu wollen. Der Gedanke, der abstracte Intellect, ist vielmehr bedeutungslos, fällt in Nichts, wenn er nicht nachweisbar sich fortwährend auf unmittelbar anschau- liche, nicht weiter erklärbare Data der Empfindung oder unvermittelten Vorstellung bezieht. Selbst die all- gemeinsten und reinsten Begriffe haben erst dann Gel- tung, Sinn, Bedeutung, wenn man überzeugt ist, daß sie auf irgend welche Objecte der (inneren oder äuße- ren) Erfahrung Anwendung erleiden. Es gibt nirgends Das, was Hamann „Jungfernkinder der Specu- lation" nennt. Kurz, der abstracte Intellect ist das Secundäre, die anschauliche Vorstellung das Primäre. — Bei Hegel sind nun von vornherein alle jene an- schaulichen, unmittelbaren Bedingungen jedes Vorstel- lens und Erkennens, Empfindung, Raum, Zeit etc. ver- nachlässigt. Er sagt z. B. : „Die Knospe verschwindet „im Hervorbrechen der Blüthe, und man könnte sagen, „daß jene von dieser widerlegt wird, ebenso wird durch „die Frucht die Blühte für ein falsches Dasein der „Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an
106 Zweites Kapitel.
107 „die Stelle || von dieser."*) Hier offenbart sich jener Grundirrthum klar. Nur bei gänzlicher Mißachtung des räumlichen Nebeneinander und zeitlichen Nacheinander, als Grundformen alles Vorstellens und Seins, ist es möglich, diese Veränderung und Entwickelung für ein „Widerlegtwerden" der vorangehenden Stufe durch die folgende zu halten. „Widerlegt" würde die Blühte nur dann durch die Frucht, wenn die Blühte ver- sprochen hätte, Blühte zu bleiben. Aber dies ist durchaus nicht der Fall. Die Natur spricht für einen von Raum und Zeit abhängigen Intellect immer nur die Wahrheit des Augenblicks, der momentanen Gegenwart aus und kann einem solchen gegenüber über die Zukunft auch nicht eines einzigen ihrer Producta sichere Auskunft geben oder garantiren. Geschieht in der Natur etwas Anderes, als der abstracte Intel- lect erwartet hatte, so hat die Natur nicht sich, son- dern i h n widerlegt. Ueberhaupt aber ist jede Entwicke- lung die, am Faden der Zeit sich fortpflanzende, un- unterbrochene Verknüpfung einander bedingender Zu- stände; sie kann nur in der Zeit stattfinden und würde ohne sie verschwinden. Dies gilt natürlich auch von der bedeutendsten aller Entwickelungen, näm- lich der des Geistes. Anstatt aber dies einzusehen, will Hegel in der Dialektik jene formalen Grundbe- dingungen alles Vorstellens und Denkens, Raum und Zeit, erst als Resultat einer langen, vorhergehenden Qedankenreihe erscheinen lassen, während sie doch allen Gedanken vorausgehen. Ja sie erscheinen nicht einmal in der Logik, sondern erst in der Naturphilo- sophie. — Wie, frage ich, kann man von „Sein", von „Qualität und Quantität", von „Innerem und Aeuße- rem" sprechen, ehe Raum und Zeit da sind, ohne daß sie vorausgesetzt sind ? — Diese Begriffe sind eben
*) Phänomenologie, pag. 4.
Die idealistische Richtung. 107
SO II gut, wie „rechts und links" sinnlos ohne vor- 108 ausgehende räumlich -zeitliche Anschauu n[g. Wer diese letztere, anstatt sie vorauszusetzen, als Re- sultat einer Gedankenreihe darstellen will, begeht, ge- linde gesagt, ein unmögliches vatsQov nQoxsQov.
Hierin liegt nun eigentlich schon das Urtheil über die Hegeische Philosophie; denn so kann sich nur Jemand täuschen, dem Raum und Zeit als für das Den- ken gleichgültig und unwesentlich gelten, dessen Den- ken außer ihnen liegt, also im Gebiete des „Dings an sich". — Aber, kann man einwenden, Hegel hat doch ausdrücklich das Kantische Ding an sich für ein „caput mortuum", für „das Negative der „Vorstellung, des Gefühls, des bestimmten Denkens" erklärt.*) Ganz richtig! Aber erstens gilt ihm dieser Unbegriff immer noch für einen „überwundenen Stand- punkt", der auf einer bestimmten Entwickelungsstufe der Philosophie nothwendig war, während er in der That nach den eigenen Principien Kants eine unmögliche Hülfshypothese zur Erklärung einer falschen Behaup- tung, eine unvorstellbare Vorstellung ist ; dann aber ist Hegel selbst wiederum in denselben Fehler gefallen. Lassen wir ihn mit seinen eigenen Worten reden. Im Anfange der Phänomenologie, welche bestimmt ist, uns auf den Standpunkt des absoluten Denkens zu erheben, sagt er : „Indem das Bewußtsein zu seiner wahren Exi- „stenz sich forttreibt, wird es einen Punkt erreichen, „auf welchem es seinen Schein ablegt, mit Fremdarti- „gen, das nur für es und als ein Andres ist, behaftet „zu sein, oder wo die Erscheinung dem Wesen gleich „wird, seine Darstellung hiemit mit eben diesem Punkte „der eigentlichen Wissenschaft zusammen fällt, und end- „lich, indem es selbst dies Wesen erfaßt, wird es die „Natur des absoluten Wissens selbst bezeichnen."**)
*) Encyclopädie §. 44. pag. 49. **) Phänomenologie pag. 72.
108 Zweites Kapitel.
109 Am Ende der Phäno- il menologie wird denn auch der versprochene Punkt, wo das Bewußtsein „das Fremd- artige, womit es behaftet ist", ablegt und sein eigenes Wesen erfassend in absolutes Wissen übergeht, deut- lich genug bezeichnet. Dort heißt es nämlich: „Der „Geist erscheine so lange in der Zeit, als „er nicht seinen reinen Begriff erfaßt, d.h. „die Zeit tilg t." *) Damit ist also klar und deut- lich gesagt, daß das Wesen des Geistes außer der Zeit sei. Somit haben wir gefunden, was wir suchen, nämlich das Verhältniß des Hegel'schen Systemes zum Kantischen „Ding an sich." — Das Unternehmen, den Kosmos als Aeußerung oder Erscheinung eines absoluten Geistes darzustellen, muß uns, in welcher Form auch ausgeführt, unbarmherzig in das Dilemma reißen :
Entweder es werden Raum und Zeit vorausge- setzt ; dann ist der Geist nicht absolut.
Oder er ist absolut, Raum und Zeit werden nicht vorausgesetzt; dann ist er außerräumlich, außerzeitlich, also eine Vorstellung, die nicht vor- stellbar ist, — „Ding an sich."
Hiermit sind wir zur Anwendung unseres kriti- schen Verfahrens berechtigt. Wir finden:
Hegel setzt nicht bloß mittelbar die Kantische Philosophie voraus, insofern er direct an die Fi ch te- Seh e 1 1 i n gsch e Speculation anknüpft, welche wiederum ohne Kant unmöglich gewesen wäre; son- dern auch unmittelbar, insofern der kriti- sche Dualismus ihm als nothwendige Vor- stufe im Ent Wickel ungsgan ge der Philo- sophie und als aufgehoben in der Identi- tätsphilosophie gilt. II
*) ibid. pag. 604.
Die idealistische Richtung. 109
Er hat ferner das Kantische „Ding anllO sich" sehr gut gekannt und genauer be- sprochen.
Trotzdem hat er es nicht nur nicht aus der Kantischen Philosophie hinausge- worfen, sondern ist selbst in denselben Fehler gerathen, da sein absoluter Geist, als außerräumlich und auß er zei tli ch, in die Sphäre des „Dings an sich" fällt. Er hat also die Kantische Philosophie in diesem Punkte nicht corrigirt.
Also muß auf Kant zurückgegangen werden. 11
111 Drittes Kapitel
Die realistische Richtung. Herbart.
Les creatures franches ou affranchies de la matiere, seraint detachees en meme tems de la liaison universelle, et corame les deserteurs de l'ordre general.
Leibnitz, Considerat. sur le princ. de vie. edit. Erdmann pag. 432.
Es ist ein nicht ganz unverdächtiger Ruhm der Kantischen Philosophie, so verschiedenartigen Richtungen als Ausgangspunkt und gemeinsame Grund- lage gedient zu haben. Wenn hiervon allerdings ihre Tiefe und Vielseitigkeit Mitursache ist, so darf man doch auf den Gedanken kommen, nur ihr immanenter Fehler könne daran schuld sein, daß zwei so diametral entgegengesetzte Weltanschauungen aus ihr entsprungen sind, wie die soeben betrachtete idealistische und die realistische, zu der wir jetzt übergehen. Freilich knüpfen beide an verschiedene Punkte der gemeinsamen Grund- lehre an, freilich erheben sie sehr bald in entgegenge- setzter Beziehung wider jene Widerspruch. Aber man kann so ziemlich a priori überzeugt sein, daß ein wirk- lich consequent durchgeführtes System derartige Diver- genz nicht nach sich gezogen haben würde. —
Doch schlagen wir uns für jetzt diese Gedanken aus dem Sinne ; knüpfen wir an die incorrecte Kantische Lehre an ; sehen wir zu, welcher Weg von ihr zum Herbartischen Realismus geführt hat. ||
Die realistische Richtung. 111
Erfahrung ist, wie Kant eingesteht, jene erste, 112 unleugbare Thatsache, welche uns vorliegt und vor- liegen muß, bevor wir zu irgend welchem Nachdenken Stoff, zum Philosophiren Veranlassung haben. Er- fahrung ist also dasjenige, woran unser Nachdenken anknüpfen, was es erklären und faßbar machen soll ; sie ist es, welche uns bei einigem Besinnen eine Menge von zu lösenden Problemen stellt ; welche einerseits als Thatsache, andererseits als Räthsel er- scheint und von jedem Denkenden Erklärung fordert. Lösung der Probleme in der Erfahrung durch Nach- denken ist Philosophie. Die Philosophie hat demnach im Allgemeinen die Frage zu beantworten : Welches sind die Bedingungen, unter denen Erfahrung zu Stande kommen konnte? oder: Wie ist Erfahrung möglich? Indem sie die Antwort auf diese Frage sucht, ist sie kritisch; und gerade an diese Seite der Kantischen Philosophie knüpft Herbart an.
In wiefern, müssen wir zunächst fragen, ist denn nun die Erfahrung ein Problem? In wiefern fordert sie uns also zum Nachdenken auf? Alles Nachdenken hat seinen Grund in vorhergehender Ungewißheit oder im Zweifel ; und wir müssen daher zusehen, welche Zweifel uns von den Thatsachen der Erfahrung auf- genöthigt werden. Diese sind nun mannigfacher Art. Sehr oft sind sie aufgezählt und zu beschwichtigen oder zu beantworten gesucht worden. Zuletzt ist uns die ganze empirische Welt in unsern Empfindungen als eine unendliche Menge von sinnlichen Qualitäten gegeben, die sich zu Dingen in der mannigfaltigsten Weise gruppiren und miteinander wechseln. Sinn- liche Dinge mit wechselnden oder sich verändernden Eigenschaften sind also der Inhalt unserer äußeren Erfahrung. Sie sind uns, wie sich Kant ausdrückt, „gegeben", dt h. von uns als eine Thatsache || vor- 113 gefunden, über deren Ursprung wir zunächst gar
112 Drittes Kapitel.
nichts wissen. Nun bemerken wir aber sehr leicht, daß die sinnlichen Eigenschaften der gegebenen Dinge nicht nur wechseln, sich ändern, entstehen und ver- gehen, sondern auch, daß sie, je nach den obwalten- den äußeren Umständen und Bedingungen, unter denen sie wahrgenommen werden, ganz verschieden erscheinen. Ein Körper hat diese Farbe, — aber nur im Lichte ; er klingt, — aber nur im Medium der Luft ; er ist schwer, — aber nur auf dem Planeten u, s. w. *) Kurz, jene „gegebenen" Eigenschaften sind nichts Absolutes, Selbständiges, sondern ein ganz Re- latives, Bedingtes. Demnach erkennen wir in den Empfindungen unserer Sinne zwar, daß uns etwas gegeben ist, aber ,jdas Was der Dinge :wird uns durch die Sinne nicht bekannt". **) Wir müssen uns daher gestehen, daß die empirische Sinnenwelt nur ein Schein ist von irgend etwas Unbekanntem, oder wie Kant sagt, daß nur Erscheinungen, nicht „Dinge an sich" gegeben sind.***) Soviel aber können wir von vornherein behaupten, daß, d a d e r Schein da ist, schlechterdings auch ein Etwas sein muß, was den Schein gibt, was scheint; mag der „Inhalt des Scheins uns vorgespiegelt sein", so ist doch das Vorspiegeln Thatsache ; der Inhalt des Scheins wird verneint, sein Dasein läßt sich nicht leugnen. Indem wir also den Schein nicht für 114 Nichts, sondern nur für das täuschende Product || eines seienden Etwas erklären, müssen wir be- haupten : „W ie viel Schein, soviel Hindeu- tung auf Sein".!)
*) Herbarts „Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie" §. 118.
— J. F. Herbarts Sämmtliche Werke. Herausg. v. Hartenstein. Band I.
**) Lehrb. zur Einleit. i. d Philosoph. §. 118. S. W. B. 1. pag. 177.
***) „Seit Kant darf der Satz uns wenigstens nicht befremden, daß
wir die Dinge an sich nicht erkennen". Hauptpunkte d. Metaphysik.
Vorrede. S. W. B. III. pag. 4. conf. pag. 20, Anmkg. pag. 34.
I t) ibid. pag. 14.
Die realistische Richtung. 113
Constatiren wir dies zunächst.
Betrachten wir nun die ganze Menge des ge- gebenen empirischen Scheins, so finden wir, daß die einzelnen Empfindungen nicht selbständig, isolirt, zu- sammenhanglos im Leeren schweben, nicht ein unge- ordnetes Chaos von Qualitäten bilden, sondern in Gruppen geordnet erscheinen. Sie sind Eigen- schaften von Dingen. Die Dinge sind das Sub- strat, welches bleibt, auch wenn die Eigenschaften wechseln. Im Allgemeinen sind also alle Data der Sinne synthetisch mit einander verknüpft, und — [hier beginnt die Abweichung von Kant] — so sind uns von der Erfahrung nicht bloß die JE m - pfindungen, sondern auch deren Synthesen, nicht nur (wie Kant meint) die Materie, sondern auch die Form der Objecte gegeben. Je nachdem man vor Allem die beharrliche Unterlage als Einheit im Verhältnisse zu der Vielheit von inhärirenden Eigenschaften, oder den Wechsel, die Veränderung der Eigenschaften und den Grund derselben in's Auge faßt, erhält man die Synthesen von Inhärenz und Subsistenz oder Gau sali tat und Dep en- den z, welche Kant Kategorieen nannte. Auch diese also sind uns gegeben, von der Erfahrung auf- gedrungen. Betrachten wir nun aber diese erfahrungs- mäßigen allgemeinen Synthesen genauer, so finden wir, daß sie Widersprüche enthalten. Was ist nämlich zunächst das Ding im Verhältniß zu seinen Eigenschaften? Es ist der Complex derselben; nähme ich alle Eigenschaften nach einander hinweg, so bliebe vom ,, Dinge" Nichts übrig. Dennoch aber halten wir das Ding nicht blos für eine Summe von [1 Eigenschaften, sondern für deren I n h a b e r ; 115 wir sagen: ,,es hat diese Eigenschaften, diese in- häriren ihm.*' Wir suchen also eine Einheit, welche uns doch nur als Vielheit erscheint. Im
Neudrucke: Lieb mann, Kant. 8
114 Drittes Kapitel.
Begriff des Dinges mit vielen Eigenschaften sind also Einheit und Vielheit identisch! Wie soll sich das zusammen reimen?
Ferner : Wenn sich ein Ding verändert, so ver- liert es einige seiner Eigenschaften und erhält da- für andere. Nun sahen wir aber, daß nur durch das Zusammenbestehen aller Eigenschaften das „Ding** gegeben war. Dennoch sage ich, auch nach der Ver- änderung, nach dem Wechsel eines Theils der Eigen- schaften, das Ding sei dasselbe! — Nehme ich z. B. d a s G o 1 d. Es ist gelb, elastisch, glatt, schwer, fest, klingend u. s. w. Nun werde es geschmolzen. Dann hat es einige seiner Eigenschaften verändert, gegen andere eingetauscht. Es klingt nicht mehr, ist nicht mehr fest, sondern flüssig u. s. w. Dennoch ist es noch dasselbe Gold, dasselbe Ding. — Während demnach einerseits eine innere Einheit vorausgesetzt wird, welche die Eigenschaften in sich vereint und trotz ihres Wechsels identisch bleibt, ist es doch andererseits Thatsache, daß diese Einheit selbst wesentlich mit der Vielheit zusammenfällt. Denn, wie gesagt, wenn man die Eigenschaften hinwegnähme, .was bliebe vom Ding übrig ? Nichts. Also ergibt sich : „Das Ding als Einheit ist mit der Vielheit „seiner Eigenschaften identisch und doch „nicht identisch." Ein baarer Widerspruch!
Ich finde also in den gegebenen Synthesen der Erfahrung Widersprüche. Bis jetzt hatten wir als solche gefunden :
1) Das Ding mit vielen Merkmalen.
2) Das Ding mit wechselnden Merk- malen.
Bei fernerer Analyse finden wir aber noch fol- gende: II 116 3) Den Begriff der im Raum ausge-
dehnten Materie.
Die realistische Richtung. 115
Die Materie ist ein räumliches Quantum, also begrenzt. Die Materie ist aber auch ein Conti- n u u m , also besteht sie aus unendlich vielen T h e i 1 e n. Ein Begrenztes also, das aus unend- lich vielen Theilen besteht!
4) Den Begriff des in der Zeit behar- renden Ichs.
Das Ich soll einerseits einfach, beharrlich, iden- tisch in der Zeit, Eins und dasselbe sein in allen seinen Aeußerungen, und doch finden wir es in jedem Augenblicke als ein Anderes. Es vereint also die beiden zuerst angeführten Widersprüche, des Dings mit vielen und mit wechselnden Merkmalen in sich. *)
Demnach finden wir: Von der Erfahrung sind uns Begriffe aufgedrungen, die wir daher denken müssen, die aber innerlich widersprechend, also logisch unmöglich sind, die wir also nicht denken können.
Constatiren wir dies ebenfalls.
Das Gesammtresultat der bisherigen Unter- suchung ist somit folgendes : Die Erfahrung ist uns als Thatsache gegeben. Sie besteht aus der ganzen Menge sinnlicher Empfindungen, welche synthetisch verknüpft sind. Aber die sinnlichen Eigenschaften sind Schein, und die verknüpfenden Synthesen sind sich selbst widersprechend. Dennoch ist Beides uns von der Erfahrung aufgenöthigt, existirt. Aller Schein in der Empfindung deutet nothwendig auf ein Sein, auf ein Reales, welches ihm zu Grunde liegt. Was aber sollen wir mit den begrifflichen Synthesen anfangen, welche uns auch gegeben sind, und doch sich widersprechen, welche wir denken müssen, und doch nicht denken
*) Lehrb. z. Einl. in d. Ph. §§. 116—124. a. a. O.
116 Drittes Kapitel.
können? — Wenn es die Aufgabe der Philosophie 117 ist, 11 dem wahrhaft Seienden, Realen auf den Grund zu kommen, dessen Existenz uns durch das Dasein des Scheines verbürgt ist, so wird sie sich vor allen Dingen mit den gegebenen und doch sich wider- sprechenden begrifflichen Synthesen auseinander setzen müssen. Hierbei ist nun besonders zu bemer- ken, daß „wenn ein Gegebenes nicht gedacht werden „kann, es deshalb noch nicht verurtheilt ist, wegge- „worfen zu werden, sondern daß es im Denken „anders gefaßt werden muß^'. *) Deshalb „kommen die ursprünglichen Aufgaben sämmtlich in „dem Charakter überein, daß Widersprüche aus „den Formen der Erfahrung hinwegzu- „schaffen sind. — Die Erfahrung gilt für Kennt- „niß des Realen ; jeder Widerspruch aber, der sich „darin findet, hebt diesen Anspruch auf, oder viel- ,,mehr er suspendirt ihn für solange, bis die Lösung „gefunden ist*'. **)
Wie entfernen wir nun diese Widersprüche? Offenbar dadurch, daß wir uns darüber klar machen, welches reale Verhältniß jenen Synthesen entspricht, d. h. indem wir die Frage aufwerfen und beant- worten : „Durch welche Gedankenoperation ist es möglich, jene Begriffe so zu fassen, daß sie an sich widerspruchslos, logisch richtig sind als existenzfähig und zugleich die erfahrungsmäßigen Widersprüche er- klären ?" — Da nun der Widerspruch in der Sphäre des Scheins, das in ihm uns aufgedrängte wahre Verhältniß aber in der widerspruchslosen Sphäre des Seins, des Realen liegt, so gilt es zunächst, die Ansprüche zu formuliren, die wir an ein wirklich Seiendes stellen müssen.
*) Allgemeine Metaphysik. §. 184. S. W. B. IV. pag. 47. **) ibid. §. 127. S. W. B. III. pag. 385.
Die realistische Richtung. 117
Das Reale, wirklich Seiende muß vor allem schlechthin unabhängig und noth- wendig existiren. Wäre es nicht, so wäre auch nicht der Schein, in welchem es sich || manifestirt. 118 Der Schein aber ist Thatsache. Demnach kommt dem Realen schlechthin unbedingte Existenz zu, das Sein des Realen ist absolute Position.
Aber dies kann uns nicht genügen. Denn die absolute Position ist nur noch ein leerer Be- griff, gleichsam ein unausgefülltes Functionszeichen, welches erst Bedeutung gewinnt, wenn man es mit irgend einem X ausfüllt. Es ist also irgend ein Was, dem wir durch die absolute Position schlechthin un- bedingte Existenz zusichern. Das Reale ist ein quäle, dem gewissermaßen der metaphysische Ort des un- bedingten Seins zukommt.
Wenn es nun aber absolut sein soll, so müssen seine Beschaffenheiten, seine Prädicate der Art sein, daß sie absolut gesetzt werden können, es darf ihnen von alledem Nichts beigelegt werden, was die Objecte der Erfahrung zum Scheine macht, was uns verhindert, diesen letzteren unbedingtes Sein zuzusprechen. Dar- aus ergibt sich denn : Das Reale muß sein
1) Schlechthin positiv und affirma- tiv; ohne Einmischung von Negationen.
2) Schlechthin einfach.
3) Allen Begriffen der Quantität schlechthin unzugänglich.
4) Wie viel es aber sei, bleibt durch den Begriff des Seins ganz unbestimmt.*)
Dies ist nun das Material, aus dem die Herbart- sche Welt erbaut ist, der charakteristische Hauptbegriff seines Systems, in dessen Mittelpunkt wir uns jetzt be- finden. Wir müssen aber noch einige Schritte mit ihm
*) Allgem. Methaphysik. §§.206, 207, 208. ff.
118 Drittes Kapitel.
weiter gehen, um seine Weltansicht soweit kennen zu lernen, daß wir ihre Stellung zu unserem kritischen Ge- sichtspunkte beurtheilen können. || 119 Die philosophische Untersuchung weiß nun, wie
der Begriff des an sich seienden Realen zu fassen ist, welches der Welt des Scheins zum Grunde liegen muß. Es bleibt zu untersuchen übrig, wie diese Scheinwelt aus dem Realen erklärlich ist; spezieller, wie jene synthetischen Begriffe, die uns als sich selbst widersprechend in der Erfahrung aufgedrungen sind, gedacht werden müssen im widerspruchslosen Gebiete der absoluten Position, so daß sie doch zu- gleich die Data der Erfahrung so zu produciren im Stande sind, wie wir diese vorfinden. — Innerhalb der Erfahrung, der Welt des Scheins, wäre es, wie gesagt, unmöglich, die Lösung jener Widersprüche zu finden, da diese selbst ja uns überall jene synthe- tischen Begriffe zugleich mit den immanenten Wider- sprüchen aufnöthigt. Wir müssen also auf die Realen, deren Begriff wir soeben gefunden haben, recurriren. Die Realen sind nun ohne alle jene empirischen Eigenschaften und Kräfte, auf welche die bewußten Synthesen im Gebiete der Erfahrung Anwendung er- leiden. Es fragt sich also: Wie werden jene Begriffe umgestaltet, umgedacht werden müssen, wenn man das Empirische aus ihnen gänzlich hinwegnimmt?
Wenden wir uns zunächst an den Begriff des Dings mit vielen Merkmalen, das Pro- blem der Inhären z. In diesem Begriffe, wie ihn uns die Erfahrung liefert, soll einerseits eine Vielheit von sinnlichen Eigenschaften gedacht werden, welche doch andererseits als Ding eine Einheit ist. Da, wie gesagt, jeder Schein auf ein Sein hindeutet, so müssen zur Erklärung der vielen Eigenschaften auch viele Reale da sein ; die Einheit hingegen, das Ding, das Subsistens der verschiedenen Inhärirenden ist keine
Die realistische Richtung. 119
sinnliche Eigensctiaft, ist aber doch in der Erfahrung gegeben, fordert also ebenfalls eine absolute Position. Daher thun wir den ersten Schritt nur zur Lösung des Wider- 1| spruchs, indem wir sagen : D a s j e n i g e , 120 was dem Schein eines Dings mit vielen Eigenschaften zum Grunde liegt, ist an sich eine Vielheit von Realen, die durch ihre Verhältnisse zu einander das her- vorbringen, was uns als reale sinnliche Eigenschaften erscheint. Damit ist aber das Problem noch nicht gelöst ; es bleibt noch zu erklären übrig, weshalb diese realen Eigenschaften zur Ein- heit verknüpft erscheinen. Nicht eine einzelne von den Eigenschaften bildet jenes unsichtbare Centrum, sondern irgend ein Etwas, das wir nicht wahrnehmen. Wir thun demnach den zweiten Schritt zum Ziele, indem wir sagen: Jenes Aggregat von vielen Realen producirt dadurch den Schein der Einheit, daß jedes der Realen nicht nur mit jedem der Uebrigen, sondern alle wiederum mit einem Bestimmten unterj ihnen in Beziehung stehen.*)
Damit ist nun freilich die endgültige Lösung des Widerspruchs noch immer suspendirt ; denn indem jene Vielheit von Realen sich durchweg auf Eines unter ihnen, als Centrum, bezieht, erscheint diese Eine als Grund oder Ursache des Zusammenseins und sich Be- ziehens der Vielen. Wir sind somit weiter verwiesen auf den Begriff der Causalität — Da es uns nun aber hier nur darauf ankommt, einen allgemeinen Ein- blick in das Verfahren zu gewinnen, mittelst dessen Herbart die Erfahrungsbegriffe denkbar macht, die Widersprüche entfernt, und so die Welt des Scheins
*) Hauptpunkte d. Metaphysik. §§. 3 u. 4. — Allgem. Metaphysik. 213—223.
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aus der Welt des Realen construirt, da es uns ferner zu weit führen würde, wenn wir sein Unternehmen bis in die genaueren Einzelheiten verfolgen wollten, 121 so müssen wir uns mit dem Bis- 1! herigen begnügen und zur Kritik dieser Gedankenreihe im bewußten Sinne übergehen. — Herbart ist ein sublimer Kopf; seine Philosophie umgibt sich gleichsam nach allen Seiten mit Nadelspitzen. Untersuchen wir, worin denn diese apices haften.
Natürlich haben wir es vor Allem mit dem Be- griffe des Realen zu thun, wie ihn Herbart gefaßt hat. Es wird aber schon aufgefallen sein, daß wir die Bedeutung, welche Raum und Zeit in der Herbart- sehen Speculation überhaupt, und zunächst zu dem Be- griffe des Realen einnehmen, nicht beachtet, vernach- lässigt haben. Dies ist (wir gestehen es offen) nicht unabsichtlich geschehen, und zwar aus folgendem Grunde :
Raum und Zeit, wie sie uns als stetige, end- lose Anschauungen und Formen des Anschauens gegeben sind, gehen nach Herbarts Ansicht nicht als Bedin- gungen a priori aller (inneren und äußeren) Erfahrung voraus, sondern sind, wie er meint, aus der Erfahrung abstrahirt ; sie sind nur nothwendig, weil sie das Wirkliche ermöglichen. Demnach sind sie em- pirisch und haben daher auf das an sich seiende Reale gar keine Anwendung. Diese, der Kanti- schen Grundwahrheit widersprechende, Ansicht haben wir bereits im ersten Kapitel (pag. 21. Anmk.) abge- fertigt und kommen daher nur nothgedrungen auf sie zurück. Wie wir schon an jener Stelle sahen, beruht diese irrige Ansicht nur darauf, daß Herbart den innersten und tiefsten Sinn dieser Kantischen Lehre nicht erfaßt hat. Bestätigt finden wir dies, wenn er z. B. sagt: ,,Zwar der Geometer und der Metaphysiker ,. haben diese unendlichen Größen (Raum und Zeit) im
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„Kopfe ; und sie erinnern sich vielleicht nicht mehr der „Zeit, da sie dieselben durch absichtliche und der „Wissenschaft angehörige Constructionen erzeugten. „Aber der gemeine Mann behilft sich mit so viel Raum „und so viel Zeit als hinreicht, um die bekannten Er- „fahrungsgegenstände damit zu il umhüllen und darin 122 „zu ordnen."*) Dies soll eine treffende argumentatio ad hominem sein ; ist es aber durchaus nicht. Qehen wir nur darauf ein ! — Der einfache Bauer, der selten über seine Dorfflur hinausgekommen sein mag und die Zeit nur nach dem Kalender berechnet, vi^eiß zunächst nur, daß N-heim hinter X-hausen liegt ; hätte er nun auch niemals N-heim gesehen, vi^äre er überdies noch so beschränkt (indoctus und indocilis), so würde er doch nimmermehr glauben, daß die Welt da aufhörte, wo seine Kenntniß der Oertlichkeiten ein Ende hat, sondern dort begönne vielmehr das „dahinter" ; ja, wenn er auch glaubte, daß irgendwo die Welt mit Brettern vernagelt sei, so würde eben hinter diesen Brettern nach seiner Meinung irgend etwas Anderes als die Welt sein; — Was? ist nicht gesagt, aber „irgend Etwas." Wenn er ferner auch irgendwie zu dem Glau- ben gekommen wäre, daß über's Jahr der Weltunter- gang bevorstände, so würde selbst in seinen kurzen Gedanken mit dieser Katastrophe nicht absolut Nichts bevorstehen, sondern er würde, ja müßte denken: „Nun dann — " doch wir lassen ihn gar nicht weiter reden. Jenes „dahinter" und dieses „dann" zeigt uns s;chon das, was wir meinen, nämlich : quasi neces- sario occurrit, ut sit aliquid ulterius. Philosophisch ausgedrückt heißt dies zunächst: Raum und Zeit sind in jedem Intellect unendlich (oder, wenn man lieber will: endlos). Dann aber: „Raum und Zeit sind nothwendige, wesentliche Functionen des Intel-
==■) Psychologie als Wissenschaft etc. §. 144. S. W. B. VI. pag. 307.
122 Drittes Kapitel.
lects ; außer ihnen kann er sich nicht regen ; sie sind in allem Vorstellen und Erkennen gegenwärtig ; es ist schlechterdings undenkbar, daß sich der Geist ihrer zu entschlagen vermöchte, weil er mit ihnen zugleich er- lischt, außer ihnen Nichts ist. Also nicht deshalb allein und vor Allem, weil sie Bedingungen der Möglich- 123 k e i t II des wirklichen Objects, sondern vornehm- lich, weil sie wesentliche Formen des Sub- jects sind, und bei dem Versuche sie hinwegzudenken der Intellect sich selbst mordet, — sind Raum und Zeit allgemeine und nothwendige Vorstel- lungen a prio r i."
Wie aber (darauf kommen wir zurück) verhält sich denn das „An sich Seiende", das Reale, zu Raum und Zeit. Da es schlechthin ist und ein Widerspruch sich mit der absoluten Position nicht verträgt, so kann es mit ihnen, ebenso wie mit allem andern empirischen Scheine, nichts gemein haben. Denn Raum und Zeit, als empirische Verknüpfungsbegriffe (wie Herbart meint), sind Continua; das Continuum aber ent- hält jenen, oben im Begriff der Materie gerügten, Widerspruch, den im Alterthume Zeno der Eleat in den Xoyoic, neuerdings Kant in der zweiten Antinomie der reinen (theoretischen) Vernunft behandelt hat.*) Mit dem stetigen Raum und der stetigen Zeit können also die Realen nichts zu thun haben; wohl aber müssen jene irgend wie (gleich allem andern Scheine) aus dem Realen erklärlich sein. Die Realen also sind nicht räumlich und sollen doch das Räumliche erklären, und sind doch Viele ; — eine fatale Lage ! — Was werden in dieser Bedrängniß und Verlegenheit die armen Realen anfangen? — O, sie sind schlau! Da sie keinen Raum haben, so construiren sie sich einen, und noch dazu einen intelligibelen! —
*) Kr. d. r. V. pag. 434. ff.
Die realistische Richtung. 123
Hier ist nun die Stelle, wo die Herbartsche Philosophie wirklich Unglaubliches leistet, wo sie recht augenscheinlich wirkliche und sehr grobe Wider- sprüche begeht, um vermeintliche zu entfer- nen; wo überhaupt ihre Glanz- und ihre Schattenseite am deutlichsten hervortritt, nämlich : Schneidender Scharfsinn bei künstlicher Kurzsichtig- keit. — II
In den §§ 245—266 des zweiten Theils der Meta- 124 physik ist nämlich alles Ernstes der ausführliche Ver- such gemacht, aus unräumlichen und außerräum- lichen Xen (Realen) den Raum zu construiren. Da nämlich das Continuum als Erfahrungsthat- sache unter allen Umständen einen Widerspruch ent- halten soll und muß, so wird mit Ausschluß des Begriffs der Bewegung und Fluxion, aus raumlosen Punkten zu erst eine starre Linie construirt u. s. w., wo dann der Raum als so etwas, wie eine punktirte Unendlichkeit erscheint. Auch führt man die Thatsache, daß der Raum gerade drei Dimensionen hat, auf die Natur der geo- metrischen Figuren zurück, während doch alle geome- trischen Figuren unmöglich sein würden, wenn nicht der Raum mit seinen drei Dimensionen als Schauplatz alles Vorstellens schon vorausgesetzt wäre.*) Dabei sind denn unräumliche Punkte aneinander, zu- sammen, ineinander (die unräumlichen!) — und Alles dieses ohne Voraussetzung des Rau- mes. Bei allem aufgewandten Scharfsinn ist nur das Eine vergessen, daß man überhaupt nichts construiren kann, ohne Platz zu haben, wohin man construirt; daß zu jener sehr ausführlichen Construction des in- telligibelen Raumes als Schauplatz schon der em- pirische Raum (wie ihn Herbart nennt) da sein muß, der durch jenen erst erklärt werden sollte. Dies ist
^■) Vgl. Hauptpunkte d. Metaphys. §. 7.
124 Drittes Kapitel.
kurz von der Hand gewiesen : „Spreche man nicht von ,, einem absoluten Raum, als Voraussetzung aller ge- „machten Constructionen !" (wobei der Name „abso- lut** für das gebraucht ist, was sonst „empirisch" genannt wird, um den Widerspruch nicht schon in den Worten hervortreten zu lassen).*) „Der Raum ist „nichts als Möglichkeit/* So! Nach der Meinung 125 aller Menschen |i ist er sehr wirklich. Der Unter- schied wird also wohl hier nur in der Abweichung der Herbartschen Terminologie von der allgemein üb- lichen liegen. Denn wenn er in der Bedeutung nur möglich wäre, in der man immer und überall dieses Wort versteht, so wären alle Thatsachen pro- blematisch, es gäbe dann überhaupt gar keine Wirklichkeit. — Uebrigens verstehen wir sehr gut, was sich Herbart bei diesem paradoxen Ausspruche denkt. Gleichwie man nämlich für den Satz: ,,die Form ,,des Gefäßes bedingt die Form der darin enthaltenen ,, Flüssigkeit", auch wohl sagen könnte: „das Gefäß „ist die Möglichkeit einer Form der Flüssigkeit", so findet Herbart im Räume die Möglichkeit des Wirklichen; so wenig man aber dort dem Gefäße die Wirklichkeit abspricht, so wenig kann man es hier dem Räume. — Wäre der Raum (im allgemeingültigen Sinne des Wortes) nicht wirklich, sondern nur abstracte Mög- lichkeit, so wäre zugleich Alles problematisch. Ich würde in diesem Augenblicke nicht sicher sein, ob ich denn meinen Arm rühren, ob ich nicht mich plötz- lich unfähig zu jeder Bewegung finden könnte, wie im Zustande der Katalepsie und Hallucination.
In Summa : Den nothwendigen, stetigen Raum er- klären zu wollen aus der unmöglichen Construction eines intelligibelen Raumes mittelst unräumlicher Punkte und ohne Anwendung, ja Voraussetzung der Stetigkeit, ist
0 Hauptpunkte d. Metaphysik §. 7. S. W. Bd. III. pag. 30.
Die realistische Richtung. 125
— mag man die Begriffe auch noch so sehr malträ- tiren — nonsense. Ein vermeintlicher Widerspruch wird durch einen wirklichen ä la Ballhorn ver- bessert. — Denn was soll denn der Widerspruch im Begriffe des Continuums sein? „Daß in einem be- grenzten Quantum unendlich viele Theile enthal- ten sind." Allein hierin liegt nur dann ein Widerspruch, wenn man den anschaulichen Erkenntnißfactor gänzlich ignorirt und sich einredet, man müsse Alles im Denken, oder im ab- i| stracten Intellect erfassen. 126 Dies ist freilich ein alter Irrthum, aber darum doch nur ein Irrthum; eine Spitzfindigkeit des naseweisen Verstandes, der die Anschauung d a Lügen strafen will, wo sie die alleinige Autorität ist. Wenn ich ein stetiges, begrenztes Quantum vor mir habe, so ist mir allerdings die Möglichkeit gegeben, es in so viele Theile zerlegt zu denken, als ich will. Also [wenn nicht Zeit und Ausdauer mangeln] schließlich auch in so viele, daß sie nach gewöhnlichen Begriffen nicht mehr zu zählen sind. Hierbei versteht es sich ganz von selbst, daß das be- grenzte anschauliche Quantum durch eben so viel Theile wiederhergestellt werden muß, als in wie viele es zer- legt worden war. Dafür bürgt die Anschauung. Wenn nun durch Anticipation die Zerlegung in zahllose oder unendlich viele Theile gedacht, und dann die Möglich- keit der Wiederherstellung des begrenzten Quan- tums durch Addition der unendlich vielen Theile ab- geschnitten scheint, so hat sich dies der Verstand selbst zuzuschreiben. Weshalb denkt oder anticipirt er eine Theilung in's Unendliche, ohne zu berücksichtigen, daß dieses mühsame Geschäft allein der Anschauung überlassen bleibt, daß „Quantum," „Theil" etc. Vorstel- lungen sind, welche allein durch anschauliche Er- kenntniß verstanden werden können. Wäre aber auch wirklich durch sehr viel Geduld und Ausdauer eine Zer- legung des begrenzten Quantums in zahllose Theile
126 Drittes Kapitel.
gelungen (was natürlich wiederum ein sehr relativer Begriff ist), so würde mir die Anschauung, die hier Autorität ist, dafür bürgen, daß mit einem entsprechenden Aufwand von Ge- duld und Ausdauer die Wiederherstellung des begrenzten Quantums durch Addition zahlloserTheile erfolgen müßte. — Von einem Widerspruch ist hier durchaus nicht die Rede. Aber das kommt von der Großmannssucht, dem Souveränitäts- 127 träume, der eingebildeten Allmacht des || abstracten In- tellects, die Herbart mit Hegel gemein hat. Man versuche einmal abstract zu fassen, zu definiren, was rechts, was links, was grün und süß, was Freude ist. Alle diese Definitionen würden sich vergeblich abmühen, das zu erreichen, was ein Blick des Auges, ein Schlag des Herzens uns lehrt. Ebenso weiß man nun endlich seit Kant, daß alle Definitionen von Raum und Zeit elende Diallelen sind. Nur das Allgemeine, Generelle faßt der Verstand ; das schlechthin Einzelne, Individu- elle, ist für ihn unnahbar. Dahin gehört Gefühl, Em- pfindung, räumlich-zeitliche Anschauungsform. An die- sen läuft (wie irgendwo schon treffend bemerkt worden ist) der abstracte Intellect immer hin, wie die Asymp- tote an der Curve, ohne sie je zu berühren. —
Doch wir kehren zu den Realen Herbarts zurück, welche wir in großer Verlegenheit verlassen hatten. Denn sie mußten nach der Intention ihres Schöpfers unräumlich und außerräumlich gedacht wer- den, da der unendliche, stetige Raum von ihnen nicht vorausgesetzt werden sollte ; konnten dies aber in der That nicht sein, da (abgesehen von allem Anderen) zur Construction eines intelligibelen Raumes (nach der Ansicht aller übrigen Menschen) Platz da sein, also der Raum vorausgesetzt werden muß. — Diese armen, in bedauernswerther Weise zwischen Raum und Nicht- Raum hin und her gestoßenen Realen, sollen also mit
Die realistische Richtung. 127
ihrem abstracten Schattendasein die lebendige Fülle der anschaulichen Welt erklären, meine unmittelbare Vor- stellung von dieser corrigiren ; denn sie waren an sich seiend, widerspruchslos, absolut gesetzt.
Sehen wir hier nun ganz davon ab, ob der Begriff der „absoluten Position", an welchem gemessen, oder mit dem verglichen die „Widersprüche" in den Er- fahrungsbegriffen hervortreten, irgend wie im Stande ist, uns Anleitung zur Erkenntniß eines || Ansich Seien- 128 den zu geben*), so behaupte ich, daß in der metaphy-^ sischen Ansicht Herbarts das Verhältniß von Anschau- ung und Denken umgekehrt, und damit die Welt auf den Kopf gestellt ist. — Wenn ich versuche, meine Erkenntniß dadurch zu verbessern, daß ich statt der unmittelbaren, sinnlichen Anschauung eine Menge von farblosen, nicht wahrnehmbaren Xen vorstelle, deren Complexionen und Verhältnisse Qrund der sinnlichen Mannigfaltigkeit sein sollen, so habe ich alle Anschau- lichkeit verloren und an Verständlichkeit Nichts ge- wonnen. Jene Realen nämlich sind nur dadurch zu Stande gekommen, daß man einen Begriff durch Ent- fernung alles Anschaulichen zu bilden sucht, sie sind also durchaus abstract. Da nun aber der abstracte Begriff nur insofern Bedeutung hat, als er sich auf Anschauliches bezieht, so ist mit jener Entfernung alles Anschaulichen der Begriff des Realen absolut leer, schlechthin arm, ja geradezu Nichts geworden. Diese Art von Erklärung macht daher im Ganzen den- selben Eindruck, als wenn Jemand uns eine hierogly- phische Bilderschrift (aus deren anschaulichen Zeichen man wenigstens im Allgemeinen einen Begriff des dar-
*) Siehe: A. Trendelenburgs Logische Untersuchungen 2te edit. 1862. Band I. pag. 173. ff. Vgl. Desselben: Ueber Herbarts Meta- physik etc. Monatsberichte d. Königl. Akad. d. Wissensch. zu Berlin. November 1853.
128 Drittes Kapitel.
gestellten Sinnes bekommen könnte) dadurch verdeut- lichen wollte, daß er darauf hinwiese, wie eine daneben stehende, (ihm, wie uns ganz unbekannte) Buchstaben- schrift offenbar dasselbe in Worten ausdrücken müsse, was jene in Bildern vorführt ; — oder auch, als wenn
man, um zu zeigen, daß y ' einen bestimmten Sinn habe, 2 = x.x setzen wollte, anstatt dies an dem anschau- lichen Verhältniß der Diagonale zur Seite des Quadrats ad oculos zu demonstriren. Damit ist uns auch nicht einen Schritt weiter geholfen ! Abstracte Gedanken ver- halten sich zu den anschaulichen Vorstellungen, wie die 11 129 Silhouette, die innerhalb ihrer Conturen Spielraum für die verschiedenartigsten individuellen Eigenthümlich- keiten läßt, zu dem wohlgetroffenen, farbigen Portrait. Sehen wir genau zu, was denn überhaupt der abstracte Intellect in dem ganzen Organismus des Erkenntnißver- mögens für eine Rolle spielt, so finden wir, daß er, ebenso wie die Sprache (an deren Uebung er thatsäch- lich sich erst ausbilden muß) ursprünglich nur dazu dient, dasjenige, was mir unmittelbar in der anschau- lichen Vorstellung gegeben ist, durch Zeichen oder Sym- bole (Begriffe, Geschriebenes und gesprochenes Wort) mittheilungsfähig für andere Vernunftwesen zu machen ; dann in weiterer Beziehung auch dazu, für den Monolog des Denkens das Gemeinsame einer Reihe von anschau- lichen Erkenntnissen aufzubewahren. Da wir nämlich nicht im Stande sind, die unendliche Mannigfaltigkeit der in Raum und Zeit gegebenen unmittelbar anschau- lichen Objecte im Gedächtniß aufzubewahren, so bilden wir Begriff und Worte, die nun dazu dienen müssen, eine gewisse Menge gleichartiger Vorstellungen in sich zu vereinen, damit der Intellect nachher je nach Bedürfniß die in sie hineingelegten Anschauungen wieder entfalte. Das abstracte Denken ist also nur ein unwillkürlicher mnemonischer Kunstgriff des Intellects oder eine gei- stige Stenographie. In dieser Rücksicht gleichen die Be-
Die realistische Richtung. 129
griffe den mathematischen Formeln. Habe ich z. B. die Gleichung:
' 1. 2. 3. ' ■••■ ' 1
so ist der Ausdruck links ein bloßes Mittel, um kurz den weitläufigen Ausdruck der rechten Seite darzustellen und aufzubewahren, er ist ein bloßes Symbol, welches wir sehr nützlich bei schnellen und beweglichen Ge- dankenoperationen verwenden, insofern wir mittelst 11 seiner im Stande sind, durch wenige Zeichen Viel zu 130 sagen und zu denken, anstatt den ganzen langen Troß von Vorstellungen in der Einbildungskraft mitzuschlepr pen ; welches aber alle Bedeutung verlieren würde, wenn wir nicht jederzeit das auf der rechten Seite Stehende, welches durch ihn zusammengefaßt ist, aus ihm wieder zu entwickeln fähig wären. Genau dieselbe Bewandtniß hat es mit dem abstracten Vorstellen über- haupt. Gesetzt, wir hätten folgenden langen Satz :
„Wenn ich bemerke, daß es in meinem Zimmer warm ist, und deshalb entweder am Thermometer nach der Wärme der äußeren Luft oder in meinem Ofen nach dem Feuer sehe etc. etc. ; — oder wenn ich merke, daß die Bäume junge, grüne Blätter her- vortreiben, und deshalb im Kalender nach Monat und Datum, oder an der Wetterfahne und den Wolken nach dem Winde sehe etc. etc. ; — so geschieht dies, indem ich ohne Weiteres voraus- setze, daß die Wärme meines Zimmers von der Temperatur der äußeren Luft oder des Ofens etc., oder das Grün der Bäume von der Jahreszeit oder irgend etwas anderem Vorausgegangenen abhänge, selbst wenn ich einen solchen vorausgegangenen Um- stand gar nicht wahrgenommen habe." —
Neudrucke: Lieb mann, Kant. 9
130 Drittes Kapitel.
Für diesen ganzen langen Satz sage ich kurz : „Die Causalität ist eine Synthesis a priori.*'
Das in diesem Satze dargestellte Urtheil und beide in ihm vereinigten Begriffe haben nun einen Sinn, und ich kann ihn zu allen möglichen Gedankencombi- nationen und Operationen, also auch zu speculativer Bearbeitung benutzen. Aber er würde allen Sinn, alle Bedeutung verlieren, wenn nicht wenigstens eine unmittelbar anschauliche Erkenntniß in ihn hineinge- legt wäre, die er stenographisch ausdrückt, und die sich aus ihm wieder muß entfalten lassen. „Begriffe ohne 131 Anschauungen sind leer*', sagt Kant; und Nihil || est in intellectu, quod non fuerit in sensu bedeutet, cum grano salis verstanden, Dasselbe. *) Demnach würde also ein Begriff, der nicht auf der Basis der Anschau- ung beruhte, ein Wort ohne Bedeutung — xsvogxovia — sein.
Nun nehme man aber die abstracten Begriffe, wel- che Herbart Realen nennt. Sie sollen nicht solche stenographischen Ausdrücke des Intellects sein, denn was sie enthalten mögen, ist nie in einer sinnlichen An- schauung wahrgenommen worden und kann nie in die Sphäre des Scheins, d. i. der Anschaulichkeit treten ; sie sollen als unabhängige Realgründe des Scheins der anschaulichen Welt zum Grunde liegen, ohne selbst je anschaulich werden zu können ; sie enthalten daher gar nichts von Dem, was wir unmittelbar vorstellen, sind geradezu qualitates occultae ; sie sind Begriffe, die nicht auf der Basis der Anschauung ruhen, Begriffe
*) Leibnitz fügt hinzu: excipe: nisi intellectus ipse. Siehe Nouveaux Essais etc. livre II. chapitre 1. edit. Erdmann pag. 223. Er sagt aber auch: ,Les sens nous fournissent la matiere aux reflexions et nous ne penserions pas meme ä la pensee, si nous ne pen- sions ä quelque autre chose, c'est ä dire aux particularites, que les sens fournissent. ibid. pag. 269.
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ohne Anschauungen, also Worte ohne Bedeutung — xevogxüviai. — Das Verhältniß des Abstracten zum Anschaulichen ist hier gerade umgekehrt : Das Abstracte soll die Anschauung produciren, also dieser voraus- gehen, während doch in der That im Gegentheil das Abstractum erst gebildet ist, um die vorhergehenden Anschauungen aufzubewahren. Ja noch mehr ! Gar nicht einmal sie selbst, die abstracten Realen, sind eigentlich das, was wir als sinnliche Mannigfaltigkeit wahrnehmen, sondern ihre Verhältnisse zu einander. Also die abstracten Beziehungen bedeutungs- leerer Abstracta sind das Erste, das wahr- haft Seiende; die bunte, tau- || sendfältigei32 Natur ist das Product, der Schein, das Un- wahre! Diese Art von Metaphysik kommt mir so vor, als wenn jemand calculiren wollte: „Das Ver- „hältniß dieses langhingestreckten Schattens hier vor „meinen Füßen zu dem Winkel, welchen der Stand der Sonne mit dem Horizont bildet, liegt Dem zu „Gründe, oder producirt Das, was ich anschaulich als „diesen Kirchthurm hier vor mir stehen sehe." ( ! ) Und wenn nun Herbart in der anschaulichen Welt fort- während Widersprüche entdeckt und durch ab- stracte Speculation zu entfernen sucht (Widersprüche übrigens, die nur für den Widersprüche wären, der da gar keine sinnliche Anschauung hätte, sondern aus lauter abstractem Denken bestünde) — so ist dies un- gefähr gerade so, als wenn der eben angeführte Sonder- ling, weil er mit seiner Rechnung nicht zu Stande käme, sagen wollte : „Da die Rechnung nicht stimmt, so steht „der Kirchthurm nicht vor mir !"
Das ist eben jene alte, klassische Verkehrtheit vieler Philosophieen, wodurch sie dem allgemeinen Bewußtsein gänzlich ungenießbar sind. — Und wenn du noch so scharf und genau bewiesen hast, daß der schnellfüßige Achilles die langsame Schildkröte, wenn er ihr
9*
Ii32 Drittes Kapitel.
einmal einen Vorsprung gelassen hat, nicht einholen könne, so wird dich doch jeder unbefangene, vernünftige Mensch auslachen. Weshalb? — Weil das abstracte Vorstellen (Denken), welches alle seine Gültigkeit nur dem anschaulichen ver- dankt, hier, wo die Anschauung einzige Au- torität ist, diese Lügen strafen will; und dies ist in der That lächerlich. Wir können Jedem, der in solche Lage kommt, nur mitO o e t h e den Rath geben :
Und wenn sie dir die Bewegung leugnen,
Geh' ihnen vor der Nas' herum.
Gänzliche Vernachlässigung, ja Mißachtung des an- schaulichen Erkenntnißfactors ist ein Grundfehler der Herbartschen Philosophie. II 133 Um nicht zu weitläufig zu werden, wollen wir
die Consequenzen hiervon nur an einem Beispiele zeigen. Im §. 217 der Allgemeinen Metaphysik*) heißt es: „Ein „Gegenstand Asei gegeben durch disparate Merkmale „(wie Ton, Farbe, Geschmack), die sich recht wohl mit „einander vertragen, und keineswegs entgegengesetzt „sind. Aber sie bilden eine Gruppe, sie können ein- „zeln nicht gesetzt werden außer so, daß aus ihrer „Verbindung die Bedingung ihrer Setzung entstehe ; die „absolute Position kann nur Eine für alle sein. Hier- „durch gerathen sie in Streit etc. — Die gewöhnliche „Schwachheit oder Sorglosigkeit der Menschen läßt hier „die Hälfte des Gedankens fahren über der anderen. „Die Accidenzen oder Attribute, sagt man, wohnen in „der Substanz. Wie soll das zugehen? Das wissen „wir nicht." — O, das wissen wir wohl ! Nur müssen wir uns nicht einbilden, daß der Gegenstand gedacht sei, statt daß er wahrgenommen ist. Zunächst ist es falsch, daß die disparaten Eigenschaften des Dings eine „Gruppe" bilden. Eine Gruppe ist eine anschau-
*) S. W. B. IV. pag. 105^106.
Die realistische Richtung. 133
liehe Mehrheit, die außereinander ist, hier aber finden wir eine Mehrheit (im metaphorischen Sinne) die ineinander ist. — „Ein Widerspruch!" — O Nein ! Nur Geduld ! — Wenn ich ein Stück Gold betrachte, so ist genau dieselbe Raumstelle gelb, die- selbe klingend, dieselbe fest u. s. w. ; und wenn ich das Gold in beliebig viele Theile zerlege, so hat jeder Theil dieselben Eigenschaften zusammen, nicht aber dieser diese und jener jene. Hier ist von einer „Gruppe" von Eigenschaften gar nicht die Rede ; nur wenn ich den anschaulichen Gegenstand abstract fasse, den Begriff „Gold" in seine Merkmale zerlege, so kann man die Vielheit dieser abstract gefaßten Merkmale eine „Gruppe" nennen; der anschauliche Gegen- stand: „Gold", der an diesem Orte, zu !l dieser Zeit 134 gegeben ist, besteht nicht aus einer ,, Gruppe" oder räumlichen Vielheit von Eigenschaften. Daß aber das- selbe Object in allen seinen Theilen, trotzdem es Ein- heit ist, doch einen mehrfachen Eindruck auf mich zu gleicher Zeit macht, kommt einfach daher, weil ich mit den Augen sehe, mit den Ohren höre, mit den Fingern taste u. s. w. Der vermeintliche „Widerspruch" also, der hier zwischen Einheit und Vielheit obwalten soll, erklärt sich einfach durch die Mehrheit meiner Sinne. Hätte ich bloß einen Sinn, so würde der Widerspruch verschwinden! — Weil diese Raumstelle zu dieser Zeit wegen der Verschiedenartigkeit meiner Sinne verschieden em- pfunden wird, erscheint hier eine (räumlich-zeitliche) Einheit, die, wenn man den anschaulichen Gegenstand abstract faßt, zugleich eine Vielheit (von Merkmalen) ist. Einheit und Vielheit kommen daher zwar deiti^ selben Gegenstande, aber in ganz verschiedener Hinsicht zu. Ein „Widerspruch" würde es aber nur sein, wenn Einheit und Vielheit in derselben Hinsicht dem Gegenstande zukämen, also wenn z. B. eine räum-
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lich-zeitliche Einheit zugleich eine räumlich- zeitliche Vielheit, oder wenn verschiedene Empfindungen eine Empfindung sein sollten. Daß aber von mir verschiedene Empfindungen an eine Raumstelle zu gleicher Zeit geknüpft werden, darin liegt kein Widerspruch. Dieser „Widerspruch" entsteht vielmehr erst dann, wenn man das anschau- liche Element ignorirt, und sich einredet, man müsse alles abstract vorstellen, denken; dann freilich verschwinden die individuellen Data, dann ver- gißt man, daß jene Einheit in ganz anderer Hinsicht stattfindet, als diese Vielheit; dann bleibt eben nur der nackte, abstracte Gedanke : Identität von Ein- heit und Vielheit übrig, und das findet man nun natürlich widersprechend. Wer demnach hier einen „W iderspruch" findet, der verstopft sich die Ohren, 135 hält sich die Augen zu, und ll spielt den Verstandes- idioten. Er würde es denn auch wohl für einen „Widerspruch'' halten, daß uns die Herbartsche Philosophie sehr scharfsinnig dünkt und doch eine Schrulle.
Sehen wir nun aber von aller dieser Einseitigkeit und Verkehrtheit ab, geben wir das absolute Dasein jener Realen zu, so fragt sich immer noch: Wie ver- halten sich denn die abstract en Realen zur räumlichen Anschauung? Da sie, wie gesagt, „durch Größenbegriffe nicht bestimmbar" oder (mit au- thentischen Worten) „allen Begriffen der Quantität schlechthin unzugänglich" sein sollen, so gleichen sie in dieser Beziehung den mathematischen Punkten, die, als unausgedehnte, reine Ortsbestimmung, objectiv bloße Negation der räumlichen Ausdehnung, subjectiv aber etwas sind, das da als Idee anticipirt werden muß, wo der Intellect es als anschauliches Correlat zu erfassen, sich vergeblich bemüht, also im Grunde ein nicht zu realisirender Gedanke, ein negatives Ideal. Außerdem
Die realistische Richtung. 135
also, daß die Realen, gleich wie die mathematischen Punkte, in keiner Erfahrung angetroffen werden können, haben sie mit diesen auch noch dies gemeinsam, daß sie etwas rein Negatives sind.*) Nun waren sie aber doch — (so lautete die erstere Forderung) — „schlecht- „hin positiv und affirmativ; ohne Einmischung von Nega- „tionen." **) — Wir kommen also zu dem interessanten Resultate: daß die schlechthin positiven Rea- len ein rein negatives Ideal sind! Also dies sind die widerspruchslosen, wahrhaft seienden Urgründe, welche meine Anschauung für eine Lügnerin erklären wollen ? — II
Endlich aber: mögen sie widerspruchslos 136 sein, ja mögen sie reell sein, mögen sie ihren intelli- gibelen Raum construiren und uns im empirischen Anti- chambre stehen lassen, so solle einmal — (diese eine Concession dürfen wir uns gegen jene vielen aus- bitten) — ein intelligibeler Mensch, ein Sonntagskind oder Hellseher sie belauschen. Offenbar müssen dann doch die Realen, wenn sie überhaupt etwas sind, auf seine Augen einen anderen Eindruck ausüben, als auf seine Ohren, Finger u. s. w. Sie sind demnach wiederum Dinge mit vielen Eigenschaften! Also der- selbe „Widerspruch'* ! — Nun, da wäre leicht zu helfen ! Man nehme für intelligibele Menschen Realen zwei- ter Ordnung an, die sich zu denen der ersten Ord- nung verhalten, wie der zweite Differentialquotient zum ersten. Für den weiteren Fortschritt des Subjects stünde dann immer ein weiterer Rückschritt des Objects zu Gebote ; und indem man außer den sieben Himmeln des Mohammed (wenn diese nicht ausreichen sollten)
*) Sehr treffend ist die Idealität mathematischer Begriffe z. B. ausgedrückt in I. H. van Swindens Elementen der Geometrie, übersetzt von C. F. A. Jacobi. Dort heißt es Buch I. Einleit. 2. Erklärung: „Da- her die Behauptung der Mathematiker: daß ein Punct keine Theile habe." **) Siehe oben pag. 118. — Herbarts S. W. Bd. IV. pag. 83. u. 87.
136 •■ 'Drittes Kapitel;
noch beliebig viele neue hinzunähme, entstünde ein re- gressus in indefinitum, eine unendliche Reihe, die sich ganz passend in eine mathematische Formel fassen ließe, etwa in die Taylorsche oder etwas dergleichen. Die Welt wäre diff erentiirt ; und dem Heben Gott bliebe es überlassen, sie zu integriren !
Die Moral aber ist: Anschauung ist das Erste, Abstraction das Secundäre. Eine speculative Bearbeitung unserer Begriffe mag ein sehr nützliches Unternehmen sein, als Kathartikon unseres subjectiven Denkens. Aber dadurch ein „an sich, un- abhängig vom Subjecte existirendes'' Reales finden zu '■wollen, ist — Chimäre.
Wiederholen zwar kann der Verstand, was da schon gewesen;
Was die Natur gebaut, bauet er wählend ihr nach. Ueber Natur hinaus baut die Vernunft, doch nur in das Leere. —
Schiller. II
137 ; Wir haben diese Betrachtung so weit gesponnen, weil sie geeignet ist^ uns genau vorzuführen, wie es eben so unmöglich ist, mittelst abstracten Denkens ein Unabhängig Objectives (Herbarts Realen) zu erkennen, als ein unabhängig Subjectives (das absolute Ich des Idealisten). Beides beruht auf jenem falschen Schlüsse aus vier Hauptbegriffen, den wir pag. 38 erwähnt haben, demzufolge man die „Bedingtheit" der empirischen Welt auf eine t r a n s s c en d en t e Ursache zurückführt, an- statt auf die immanenten Bedingungen. So sehr die idealistische und realistische Richtung zu einander in Gegensatz stehen, in diesem Puncte stimmen sie überein. Es ist eben der Idealismus und der Realis- mus, welche bereits Kant in der Kritik der reinen Ver- nunft (pag. 369) verglichen und gewürdigt hat. Beide haben übersehen, daß Subject und Object der Erkennt- niß nothwendige Correlate sind, die von einander gar nicht getrennt werden können ; was sich auch kurz aus- sprechen läßt :
Die realistische Richtung. 137
Kein Subject ohne Object und kein Object ohne Subject.*)
Wie aber erscheint die Herbartsche Lehre im Vergleich und Verhältniß zur incorrecten K a n - . tischen?
Daß Herbart an die Kantische Philosophie unmittel- bar anknüpft und von ihr abhängt, wissen wir aus seinen eigenen Worten. Daß er die Unterscheidung zwischen „Ding an sich'* und „Erscheinung" gekannt hat, ist ebenso außer Zweifel.**) In seiner eigenen Lehre bleibt auch die empirische Welt „Erscheinung", und es wird ein ihr zum Grunde liegendes „An sich seiendes" ge- 1| sucht. „Die Philosophie, sagt Herbart, muß anfäng- 138 „lieh die Frage, ob wir die Dinge an sich, oder nur „Erscheinungen erkennen können, unentschieden bei „Seite setzen." ***) — Vorher nämlich muß nebst den bekannten andern Problemen auch das idealisti- sche, der Begriff des Ichs, untersucht werden. Nach dieser Untersuchung aber „entscheidet das idealistische „Problem sich dahin : daß es wirklich eine Menge von „Wesen außer uns gibt, deren eigentliches und ein- „faches Was wir nicht erkennen." f) Dieses eigent- liche und einfache Was, die R e a 1 e n, sind sie identisch mit dem „Ding an sich"? — Bedenken müssen wir hierbei, daß wenn auch bei Herbart, gleich wie bei Kant, die Welt in Raum und Zeit „Erscheinung" oder „Schein" ist, doch Raum und Zeit selbst in ein ganz
*) Diese Formel ist sowohl von Schelling, als von Schopenhauer mehrfach gebraucht worden, ohne daß sie wirklich von ihnen befolgt würde.
**) „Seit Kant, sagt Herbart, darf der Satz unter uns wenigstens „nicht befremden, daß wir die Dinge an sich nicht erkennen." Haupt- punkte d. Metaphysik. Vorrede. — Sämmtl. W. Bd. III. pag. 4. a. a. O. ***) Lehrbuch zur Einleit. i. d. Philosophie §. 151. — Bd. I. pag. 262. t) ibid. §. 152.
138 Drittes Kapitel.
anderes Verhältniß zu diesen Schein treten, daß sie nämlich nicht reine Formen der Anschauung a priori, sondern Abstractionen, bloße Möglichkeiten sein sollen, also selbst mit dem Makel des Scheins behaftet sind. Daraus ergibt sich denn :
„Herbarts Realen müssen, da sie selbst un- räumlich und unzeitlich gedacht werden und nebst dem übrigen empirischen Scheine auch den stetigen Raum und die stetige Zeit ermöglichen sollen, — wenn man sich auf seinen Standpunkt stellt — auch außer- räumlich und a u ß e r zeitlich sein, also Dasselbe, was Kants „Ding an sich" ist; aber nach der consequent entwickelten Kantischen Lehre würden sie in Raum und Zeit liegen, da sie in intelligibelen räumlichen und zeitlichen Verhältnissen zu einander stehen ; sie wären also etwas Anderes als das „Ding an sich."
Aber selbst wenn man die Frage, ob Herbart in seinen Realen nur eine zweite, verbesserte Auflage der Kantischen „Dinge an sich" geben wollte oder nicht, 139 unentschieden läßt, so würden 1! wir doch, gemäß den in der Einleitung pag. 14 und 15 entwickelten Grund- sätzen berechtet sein zu schließen :
Da Herbart, obgleich selbst Kantianer, den bekannten Hauptfehler der Kantischen Philosophie nicht als eine Inconsequenz wider ihre eigenen Principien aufgefaßt, also in diesem Punkte den Kriticismus nicht corrigirt, nicht dargelegt hat, wie er bei consequenter Ent Wickelung erschienen sein würde, — so muß auf Kant zurückgegangen werden. ||
Viertes Kapitel. i39
Die empirische Richtung. Fries.
Interea temporis hoc mihi dubium habere haud immodestum erit, vereor quippe, ne consensus uni- versalis, praeter quem non alia afferiur, non sufficiens Sit nota ad nQoalQgmv meatn dirigendam, et princi- piorum ingenitorum fidem mihi firmandam.
J. Locke. De intellect. human. I, III, §. 27.
Der Punkt der Kantischen Philosophie, an welchen die idealistische Richtung anknüpfte, war die Apriorität der allgemeinen Erkenntnißformen und die transscenden- tale Appereception oder Einheit des Selbstbewußtseins. Im Gegensatz zu ihr hatte Herbart, mit Kant von der Erfahrung als Thatsache und Problem ausgehend, gleich diesem die Bedingungen ihrer Möglichkeit aufgesucht. Nicht weniger unmittelbar als jene beiden hängt nun Fries mit der Kantischen Lehre zusammen und von ihr ab ; mit nicht weniger Recht macht er demnach Anspruch darauf, für ihren directen Fortbildner zu gelten. Ver- setzen wir uns zunächst, wie in den vorigen beiden Fäl- len, auf den eigenen Standpunkt des vorliegenden Syste- mes. Lassen wir den Philosophen selbst reden.
Die epochemachende Forderung, welche Kant von vorn herein an alle Philosophie und speciell an die seinige stellt, welcher er dann in der Vernunft- kritik zu genügen sucht, ist die: „Vor jedem Versuche zur Aufstellung einer begründeten Weltansicht, d. i.
140 Viertes Kapitel.
vor aller positiven Speculation, muß eine negative 11 141 Propädeutik in Gestalt einer Untersuchung des Er- kenntnißvermögens vorausgehen.'' Gleichwie jeder vernünftige und besonnene Mann, bevor er sich auf ein Unternehmen einläßt, erst sein Vermögen über- schlägt, um sich darüber klar zu sein, ob er es durch- '■ zuführen im Stande ist, — oder wie der Architekt, wenn sein Plan nicht bloßes Hirngespinnst bleiben soll, gleich beim Entwürfe überlegen muß, ob fester Grund, nöthiges Baumaterial und Arbeitskräfte zur Aufführung des Gebäudes vorhanden sein werden, — so muß die Vernunft, ehe sie daran denken kann, den inneren Zusammenhang der objectiven Welt zu erfassen, sich genaue Rechenschaft darüber geben, wie weit die ihr inne wohnenden Fähigkeiten dazu hinreichen, — was überhaupt zu leisten ihr möglich ist. Gerade in der Stellung dieser propädeutischen Aufgabe besteht Kants größestes Verdienst und sein radicaler Gegensatz zu der vorangehenden dogmati- schen Philosophie, die auf's Gerathewohl nach ver- schiedenen Richtungen und Methoden in den Tag hinein speculirte. Zwar hatte Locke schon früher einen äußerlich ganz ähnlichen Versuch gemacht. Auch er hatte eingesehen, daß eine Untersuchung des Er- kenntnißvermögens die Einleitung jeder Philosophie bilden müsse. Indem er aber bei dieser Untersuchung von der Annahme ausgegangen war, der menschliche Geist sei ursprünglich eine tabula rasa und empfange alle seine Vorstellungen durch die sinnlichen Ein- drücke von äußeren Gegenständen, hatte er die All- gemeinheit und Noth wendigkeit jener Grundformen alles Erkennens nicht zu erklären vermocht, welche nachher Kant Erkenntnisse a priori genannt hat. Des- halb war Locke durch den Humeschen Skepticis- mus gründlich widerlegt worden, welcher im Allge- meinen nachwies, daß wir jene allgemeinen und
Die empirische Richtung. 141
nothwendigen Erkenntnißformen nicht aus sinnlichen Eindrücken schöpfen, überhaupt || nur assertorische, 142 nicht apodiktische Erkenntnisse durch die Wahrneh- mung erhalten können, daß somit die absolute Noth- wendigkeit und unbedingte Gewißheit der mathema- tischen und metaphysischen Grundsätze nur ein rein subjectiver Gedanke ohne objective Bedeutung sei. Hieran hatte Kant geknüpft. Er hatte nachgewiesen, daß die in der Mathematik und Metaphysik angenom- menen allgemeinen und nothwendigen Erkenntnisse gerade deshalb, weil sie nicht aus der Erfahrung stammen können, durch das Wesen des Intellects, d. i, a priori gegeben sein müssen ; und indem er diese Untersuchung aufs Genaueste verfolgt, bis in's Einzelnste ausgeführt hatte, war in der Vernunftkritik, wie er sich ausdrückt, das „Inventarium aller unserer Besitze durch reine Vernunft, systema- tisch geordnet," aufgefunden worden. *) Als solche hatte er denn die reinen Formen des Anschauens a priori, Raum und Zeit, und die reinen synthetischen Urtheile a priori, die Kategorieen, gefunden.
Soweit stimmt Fries vollkommen mit Kant über- ein. Die Resultate gibt er zu, aber die Begründung derselben erregt seinen Zweifel, und von hier aus weicht er nun ab.
Betrachten wir nämlich die Art, wie Kant zu den reinen Erkenntnissen a priori gelangt ! D a ß es solche gibt, hat er gegen H u m e , daß sie nicht aus der Erfahrung stammen können und doch da sind gegen Locke geltend gemacht. „Aber er leugnet Humes Voraussetzung: „Wenn ,,wir sie brauchen wollen, müssen wir sie erst be- ,, wiesen haben", nicht ab, „vielmehr versucht er selbst „einen solchen Beweis, den er den transscenden-
'>") Kants Krit. d. r. V. Vorrede.
142 Viertes Kapitel.
„talen nennt." ^) Hiergegen läßt sich im Allge- 1| 143 meinen einwenden, daß jene Erkenntnisse, die allem unseren Vorstellen und Erkennen zum Grunde liegen, gar nicht bewiesen werden können, weil jeder Be- weis sich schon auf sie stützen muß, also Das schon voraussetzt, was erst bewiesen werden soll. Betrach- ten wir aber, abgesehen hiervon, die Art jenes Kan- tischen Beweises, so soll dessen specifische Eigen- thümlichkeit in seinem transscendentalen Cha- rakter liegen. Was aber heißt transscendental? Hiervon gibt Kant die Nominaldefinition : „daß die- „jenigen Erkenntnisse a priori, dadurch wir erkennen, „daß und wie gewisse Vorstellungen lediglich a priori „angewendet werden, oder möglich seien, trans- „scendental heißen müssen.''**) Dies ist, wie ge- sagt, eine bloße Wo r t erklärung, welche kurz gefaßt so lautet: Transscendental ist die Erkenntniß von der Möglichkeit und Anwendbarkeit der Erkenntnisse a priori. ***) ,,Wer aber hier genau vergleichen will, „der wird bemerken, daß Kant mit seiner trans- „scendentalen Erkenntniß eigentlich die psy- „c h o 1 o g i s c h e, oder besser anthropologische „Erkenntniß meinte, wodurch wir einsehen, welche „Erkenntnisse a priori unsere Vernunft besitzt, und „wie sie in ihr entspringen. Z. B. der Grundsatz, „daß jede Veränderung eine Ursache habe, ist meta- „physisch, aber die Einsicht, daß sich dieser „Grundsatz in unserem Verstände finde, „und wie er angewendet werden müsse, „ist transscendental." t) Es ist nämlich klar, daß nur durch innere Erfahrung, Selbstbeobachtung die
•>•) Neue Kritik d. Vernunft von J. F. Fries. Heidelberg 1807. Bd. I Einleitung pag. XXXIV.
**) Kants Krit. d. r. V. pag. 56. 296. Prolegomena. pag. 204. a. a. O. ==^*-^=) Fries' Neue Krit. d. V. I. XXXV. t) ibid. pag. XXXVI.
Die empirische Richtung. 143
Erkenntnisse a priori aufgefunden, nicht aber bewiesen werden können. Jeder solcher Beweis schlösse im Cirkel. Der Begriff der transscen- dentalen Erkenntniß, wenn man || unter diesem 144 Namen selbst eine besondere Art von Erkenntniß a priori versteht, ist demnach nichtig, ein bloßes Vor- urtheil, und an seine Stelle muß innere Erfahrung, Psychologie treten. Insofern eine psychologi- sche Untersuchung, die für die transscenden- t a 1 e eintritt, weder die Kenntniß der Seele als Er- fahrungsgegenstand, noch eine metaphysische Specu- lation über die Natur derselben zum Endzweck hat, sondern allein dazu dient, uns darüber Gewißheit zu verschaffen, welche reinen Erkenntnisse, welche Fähigkeiten zur philosophischen Einsicht uns inne- wohnen, wollen wir sie, zum Unterschiede von jenen, philosophische Anthropologie nennen.
Die „philosophische Anthropologie" geht von der Ueberzeugung aus, daß, „wenn wir das Wesen der „Vernunft tief genug kennen lernten, wir daraus alle „Gesetze der Speculation und alle Philosophie müßten „beurtheilen können, da unsere Erkenntniß der Welt ,, als Erkenntniß immer nur eine Thätigkeit meiner Ver- „nunft ist, und als solche untersucht werden kann." *) Für den Weg, den die philosophische Anthropologie einzuschlagen hat, findet sich ein mustergültiges Vor- bild schon in der Physik, überhaupt der Naturwissen- schaft. Wie man dort nämlich durch Induction die all- gemeinen Grundsätze im Gebiete der äußeren Er- fahrung findet und dann aus diesen den einzelnen Fall beurtheilt, gerade so verfährt die philosophische Anthropologie auf dem Felde der inneren Er- fahrung. Sie ist „innere Naturlehre." Der Physiker lernt z. B. aus einzelnen Thatsachen die Phänomene
*) pag. XXXIX.
144 Viertes Kapitel,
der Elektricität kennen und führt sie auf ihre all- gemeinsten Gesetze zurück ; dann nimmt er diese Ge- setze als Grundgesetze einer Theorie der Elektricität 145 an und || erklärt aus ihnen wieder die Thatsachen, mit denen er anfieng. Hier geht also das Raisonnement vorbereitend den regressiven, dann erst den pro- gressiven Gang des Systemes. „Auf ganz ähnliche „Weise gehen wir von der Beobachtung unseres Er- „kennens aus, zeigen dadurch, wie die menschliche „Erkenntnißkraft beschaffen sei, erheben uns „zu einer Theorie derselben, zeigen, welche Prin- „cipien dieser Theorie gemäß in unserer Erkenntniß „liegen müssen, und leiten nun erst wieder die ein- „zelnen Erkenntnisse und Urtheile aus diesen Prin- „zipien ab."*)
So hat Fries den neuen Ausgangspunct fixirt, die neue Methode vorgezeichnet. Hier glaubt er den „einzigen Standpunkt der Evid^enz für speculative Dinge" gefunden zu haben;**) auf diesem Wege will er die Kantischen Untersuchungen, die „in vielen Theilen bis zur Vollendung gediehen sind, in anderen verbessern und in mehreren ihnen die fehlende Vollen- dung geben". ***) Der allgemeine Zweck seines Unter- nehmens ist: das „Vorurtheil des Transscen- dentalen" (wie er es zu nennen pflegt) zu entfernen und zu ersetzen durch das inductive Verfahren der „phi- losophischen Anthropologie".
Den Gang seiner Untersuchungen nun genau im Einzelnen zu verfolgen, ist für uns weder nöthig noch wünschenswerth. Genug, wenn wir die leitende Grund- idee kennen. Er geht von der Empfindung, als dem ursprünglichen Rohstoff der Vorstellung, aus, betrachtet die Thatsachen des inneren und äußeren Sinnes und ge- winnt daraus die erste Stufe seiner Theorie. Dann
") pag. XXXIII. - **) XLIV. — ***) XLIX.
Die empirische Richtung. 145
schreitet er zur Einbildungskraft fort, betraciitet den gedächtnißmäßigen oder unteren, und den logischen oder oberen Gedankenlauf, findet die bekannten Gesetze von der Association und Reproduction !| der Vorstellungen 146 und gibt die Theorie der Abstraction. Von hier geht er dann naturgemäß zur ausgebildeten Reflexion über und beendet sein inductives Verfahren mit der Theorie des Gefühls, welches nach ihm die „unmittelbare Selbst- thätigkeit der Urtheilskraft" ist. — Im Laufe seiner Be- trachtung ist er nun zunächst auf die Kantische Lehre von Raum und Zeit gekommen, und zwar bei der Lehre von der productiven Einbildungskraft. Er gelangt zu dem Resultate, daß „die Anschauungen von Raum „und Zeit nicht durch die Empfindungen und ihre „Sinnesanschauungen im Gemüthe entspringen, sondern „aus Grundbestimmungen des Gemüthes'', sowie, daß sie die einzigen „reinen Anschauungen*' sind.*) Dann wird er in der Theorie der Reflexion auf die Erkenntniß a priori und deren Wesen überhaupt ge- führt und stellt folgende Sätze auf :
„Alle Einheit und Verbindung, alle Anordnung und „Zusammenhang kommt erst durch apodiktische Erkennt- „niß in die Erfahrung.*' —
„Subjectiv allgemein gültig oder apodiktisch „ist die Erkenntniß desjenigen, was jedermann weiß, „und was für den einzelnen immer die gleiche Gültig- „keit hat". — „Erkenntniß a priori ist das Eigenthum ,,der ursprünglichen Selbstthätigkeit im Erkennen, wel- „ches durch die bloße Form der Erregbarkeit unserer ,, Vernunft bestimmt wird." — **)
Wie also alle Gesetze, die ganze Theorie des Er- kenntnißvermögens, so findet er auch die nothwendigen Erkenntnisse a priori durch psychologische Selbstbeob-
*) Neue Kritik d. V.|Band I. pag. 132. **) ibid. pag. 243—257.
Neudrucke: Lieb mann, Kant. 10
146 Viertes Kapitel.
achtung nach dem Platonischen Satze: ^d^riaig dvdiivriaig, alles Lernen ist Erinnerung. — II 147 Ueberblicken wir nun diesen Gedankengang, so muß
es uns befremden, wie in einer Propädeutik zu aller Philosophie jene nothwendigen Formen alles Vorstellens und Erkennens (Raum, Zeit und Kategorieen), die aller Erfahrung vorausgehen, die Subject und Object bedingen und unter einander verknüpfen, durch innere Er- fahrung, psychologische Untersuchung des empiri- schen Subjects gefunden werden sollen. Zugleich finden wir an der Spitze der Untersuchung den Satz: „Der „Standpunct der Natur zeigt uns das Wesen der Dinge ,,nur auf eine subjectiv beschränkte Weise, „über die wir uns nur durch Ideen erheben ,,kö n n e n.^' *) Dies klingt für den von der empirischen Thatsache durch Induction aufsteigenden schon ver- fänglich. — Aber weiter ! — Indem man zunächst die Empfindung betrachtet, ist ganz richtig bemerkt, daß die einfachen sinnlichen Qualitäten, wie Farbe und Schall, durch die bekannten Hypothesen der Natur- wissenschaft nur auf etwas Anderes, gleich unerklär- liches zurückgeführt sind, daß ,,in unseren physischen „Theorieen des Schalls wohl alles zum Phänomen ge- „hörige durch die Schwingungen erklärt wird, nur der „Schall selbst nicht, daß ebenso die Newtonsche, oder ,, welche andere Theorie des Lichts alles erklären mag, „nur die Farbe nicht, weil Schall und Farbe hier nach „ihrem Verhältniß zu meinem Inneren Qualitäten sind, „die gar keiner Erklärung unterworfen werden kön- ,,nen."**) Anstatt aber hierin zu erkennen, daß diese einfachen, sinnlichen Qualitäten die objective Grenze des Vorstellens und Erkennens sind, wird vielmehr be- hauptet: „daß die Empfindung ein passiver Zustand
*) ibid. pag. 4. •^*) pag. 68. -
Die empirische Richtung. 147
„des Gemüthes sei, in welchem es zum Anschauen ge- „nöthigt, zur Thätigkeit bestimmt werde", „daß aber „wohl zu unterscheiden sei, die bloße Bestimmung des „Sinnes, || der sinnliche Eindruck durch das Afficirende, 148 „durch welchen jenes Anschauen hervorgebracht „werde." *) Und was ist denn das Afficirende ? Was bestimmt denn zur Thätigkeit? Was nöthigt denn zum Anschauen? — Daß die Beantwortung dieser Fragen schwierig sei, wird zugestanden, zugleich aber werden wir bedeutet, daß es genüge, wenn wir für's Erste nur lernen, „wie wir die Gegenstände erken- nen", wenn auch davon nicht gleich die Rede sein könne „wie sie sind".**) Hiergegen müssen wir einwenden, daß es für eine empirische Untersuch- ung, die vom Gegebenen ausgehen will, ganz un- statthaft ist, von Dingen zu reden, die ihr nicht ge- geben sind. Wie kann sie, die ganz auf dem Wege der Erfahrung von der Empfindung zu den Erkenntnissen a priori fortzuschreiten vorhat, von einemden Sinn Af fi- el r enden reden? Wo hat sie denn in irgend welcher Erfahrung ein solches „Afficirende" gefunden, welches uns in der Empfindung „zur Anschauung nöthigt" ? Nirgends. Vielmehr denkt sie sich (trotz aller ge- gentheiligen Versicherungen) ein solches X bloß hinzu. Wie kann sie ferner, da doch in der Erfahrung nichts Anderes, als Complexionen von sinnlichen Em- pfindungen angetroffen werden , einen Unterschied machen zwischen Gegenständen, wie sie sind" und „wie wir sie erkennen"? Ist dieser Unterschied in der Erfahrung gegeben ? Nein. Und weshalb macht sie ihn? Weil sie ihn voraussetzt. — Wenn sie da- gegen wiederum erklärt „daß die Empfindung un- „m i 1 1 e 1 b a r die Anschauung gegenwärtiger Gegen-
*) pag. 51. **) pag. 58.
10*
148 Viertes Kapitel.
„stände in sich enthalte*'*), so frage ich: Kann von irgend weichen Gegenständen überhaupt die Rede sein, wenn die für sich vereinzelten Empfindungen nicht zu räumlichen Gegenständen combinirtll 149 sind, welche in zeitlicher Aufeinanderfolge sich gleich bleiben oder ändern, d. h. wenn nicht Raum und Zeit als nothwendige Anschauungsformen, Causa- lität und Substantialität als nothwendige Synthesen a priori vorausgesetzt sind ? — Schon beim ersten Schritt hätte die empirische Induction anhalten müssen. Denn wie in aller Welt will man von innerem und äußerem Sinn, von Empfindung, Anschauung, Einbildungskraft reden, ohne Nothwendigkeit von Raum und Zeit, welche man erst aufzusuchen strebt, schon lange zu haben ? Wie von logischem Gedankenlauf, von Reflexion u. s.w., ohne die Allgemeinheit von Causalität und Substantia- lität, welche nicht nur Bedingungen alles abstracten, sondern auch alles intuitiven Erkennens sind, bereits als gegeben zu betrachten? Wie überhaupt kann man versuchen, die Apriorität jener nothwendigen Erkennt- nißformen aus einer Betrachtung des erkennenden Sub- jects durch Induction nachzuweisen, da dieses Subject selbst sammt seinem unzertrennlichen Correlate, dem Object, ohne Voraussetzung von Raum, Zeit und Kate- gorieen, nicht nur nicht empfinden, vorstellen, erkennen könnte, sondern sogar überhaupt Nichts wäre? Die philosophische Anthropologie gleicht hier Jemandem, der durch Zusammenzählung aller Bäume das Dasein des Waldes nachweisen will ; sie sieht im Anfange ihres Unternehmens den Wald vor Bäumen nicht. — Auf dem Wege der empirischen Induction kann man immer nur zu einer comparativen Allge- meinheit und einer relativen Nothwendig- keit kommen; empirische Induction selbst aber ist, so
^') pag. 57.
Die empirische Richtung. 149
wie ihr Object, nur ermöglicht durch die absolute Nothwendigkeit und Allgemeinheit, d. i. Apriorität jener obersten Erkenntnißformen, Raum, Zeit und Kate- gorieen ; denn, wie Kant sagt: „Die Bedingungen „a priori einer möglichen Erfahrung überhaupt sind zu- „gleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände „der Erfah- || rung." *) Jene absolute Nothwendig- 150 keit und Allgemeinheit, d. i. Apriorität von Raum, Zeit und Kategorieen, liegt eben darin, daß ich bei dem Versuche, diese Grundbedingungen alles Vorstellens hin- wegzudenken, mich selbst sammt der Welt, Subject und Object der Erkenntniß hinwegdenken müßte, was schlechterdings unmöglich ist. Und gerade deshalb, weil ich sie mir nicht hinwegdenken kann, ohne doch einen directen, erfahrbaren Grund angeben zu können, wes- halb Subject und Object so unauflöslich mit der Exi- stenz der Erkenntnißformen a priori verknüpft sind, ist die Ueberzeugung von dieser absoluten Nothwendig- keit eine transscendentale (d.h. alle Erfahrung übersteigende, und doch in aller Erfahrung vorausge- setzte) Erkenntniß. Sie kann durch keine empirische Induction ersetzt werden. Denn, genauer betrachtet, liegt die transscendentale Natur des Nachweises von der Nothwendigkeit und Allgemeinheit oder Apriori- tät von Raum, Zeit und Kategorieen darin, daß in ihm auf keine Weise epagogisch das ozi, und das 6c6ti dieser Apriorität nachgewiesen werden kann, sondern nur apagogisch, das ort }iii des Gegentheils. Er ist der alleroberste apagogische Beweis, weil in ihm aus der allerobersten und allgemeinsten Ungereimtheit, näm- lich dem „Sich selbst und die Welt hinwegdenken müs- sen" die alleroberste und allgemeinste Wahrheit, näm- lich die unbedingte Gültigkeit der Erkenntnißformen a priori, ad contradictoriam gefolgert wird.
='0 Kants Kritik d. r. V. pag. 111.
150 Viertes Kapitel.
Der Versuch aber, den Fries macht, die K a n t i - sehe Philosophie hier, wo sie unangreifbar ist, zu corrigiren, ist keine Verbesserung, sondern ein Rück- fall in den Lockeschen Empirismus, von welchem Kant in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft sagt: „daß es zwar den Anschein 151 „gehabt |1 habe, als sollte diese Physiologie des „m enschlichen Verstandes allen dogmatischen „und skeptischen Streitigkeiten ein Ende machen, daß „aber, weil sie aus der Erfahrung abgeleitet „wurde, doch wieder alles in den alten, wurmstichigen „Dogmatismus und daraus in Geringschätzung verfallen „sei , daraus man die Wissenschaft habe ziehen „wollen,"*)
Alles in Allem ! Die eigentliche Tendenz der Kanti- schen Kritik für eine psychologische zu halten, ist das ärgste Mißverständniß, was ihr widerfahren kann. Uebrigens steht Fries mit diesem Mißverständ- niß nicht allein da. Lesen wir doch auch in einer sehr ausführlichen französischen Preisschrift: Dans ce Syste- me la Psychologie est presente partout, et toute la Philosophie de Kant repose sur eile.**)
Die Summe unseres Urtheils in diesem Punkte können wir mit Kuno Fischer in die kurzen Worte fassen :
Was a priori ist, kann nie a posteriori erkannt werden.***)
Allein wir sind noch nicht zu Ende. Vielmehr werden wir jetzt erst auf den kritischen Hauptpunkt hingedrängt. Wie wir nämlich sahen, war gleich im Anfange der ganzen Induction ungerechtfertigter Weise
*) Vgl. Kants Kr. d. r. V. pag. 86 unk 87. **) Histoire de la Philosophie Allemande depuis Kant jusqu'ä Hegel par J. Willm. Ouvrage couronne par l'Institut. Paris 1846. Tome I. pag. 74.
***) Kuno Fischers Akademische Reden pag. 99.
Die empirische Richtung. 151
die Rede von einem Unterschiede zwischen den Gegen- ständen „wie sie sind" und „wie wir sie erkennen/' auch von irgend einem, nicht näher specificirten Et- was, das uns in der Empfindung afficiren und zur Th^ätigkeit des Anschauens nöthi- gen soll. — Betrachten wir doch ein- 1| mal jenen 152 Unterschied näher ; sehen wir doch einmal nach, welcher Art dieses afficirende Etwas sein mag ! —
Wenn man diesen ganz unmotivirten Gedanken zu- nächst nur für sich nimmt, so ist er einzig und allein die Folge jenes großen und ursprünglichen Irrthums der „philosophischen Anthropologie," daß man eine Be- trachtung der empirischen, subjectiven Thätigkeit im Erkennen für eine Erkenntnißtheorie oder Kritik der Vernunft auszugeben sucht. In aller Erkenntniß findet man nur ein vom Object behaftetes Sub- j e c t und ein vom Subject abhängiges Object; beide sind unzertrennliche Factoren, nothwendige Corre- lata der Erkenntniß ; ein Causalverhältniß haben sie nicht zu einander. Davon weiß die „philosophische An- thropologie" (trotzdem sie an einigen Stellen etwas ähnlich Klingendes verlauten läßt) de facto auf ihrem empirischen Standpunkte nichts. Sie hat es zunächst nur mit dem empirischen Subject, d. h. mit dem Object der Psychologie, zu thun. Indem sie nun den einen Factor der Erkenntniß (das Subject) vereinzelt (d. h. gewaltsam aus der unlöslichen Verbindung mit dem Object losgerissen) zu haben meint und in dieser Vereinzelung einseitig als Producenten der Erkenntniß ansieht, muß sie jene unnatürliche Abstraction, jene arge Selbstüberhebung des empirischen Subjects da- durch büßen, daß sie sich fortwährend nach der ob- jectiven Seite hin gehemmt fühlt durch den Mangel des nothwendigen Complements aller subjectiven Thätig- keit in der Erkenntniß ; sie sucht daher, um sich jenen Mangel ein für alle Mal vom Halse zu schaffen, ein
152 Viertes Kapitel.
unbekanntes Etwas, wodurch der, einseitig losgerissene, subjective Factor der Erkenntniß zur Thätigkeit ge- nöthigt, z. B. in der Empfindung afficirt oder zur An- schauung bestimmt werden soll. Da nun aber alles Vorstellen bereits an die Thätigkeit des Intellects ver- geben war, alle nothwendigen Bedingungen des Vor- II 153 stellens, nämlich die reinen Formen der Erkenntniß a priori, erst durch Induction im Subject gefunden wer- den sollen, so muß offenbar jenes zur Anschauung Nöthigende, jenes zur Erkenntniß Bestim- mende, doch außer den Bedingungen und Formen der Erkenntniß, außer der Sphäre des Vorstellens liegen. — Dieser Gedanke, der wie gesagt, sich als Consequenz aus jenem primitiven Irrthume ergibt, ist verdächtig genug, um uns darauf dringen zu lassen, daß sich die Friesische Philosophie über ihr Ver- hältniß zum Kantischen „Ding an sich'' ausspreche. Und da machen wir denn die interessante Entdeckung, daß Fries bereits in einer früheren Schrift, welche ein Programm seiner Philosophie zu liefern bestimmt war, folgende Worte schrieb: „Bei so bewandten Um- „ständen ist es vielleicht nicht umsonst, jetzt die alte „verjährte Sache des ,,Dings an sich" wieder jjVorzunehmen und zu versuchen, ob man ihm nicht „endlich sein Recht könne widerfahren lassen."*) — Dies ist nicht etwa Ironie. Denn nachdem er die Frage aufgeworfen hat: „Weshalb denn gerade die Unter- „scheidung zwischen Erscheinung und ,,Ding an sich" „so wichtig sei?" — fährt er wörtlich so fort: „Das ist „leicht zu beantworten. Eben weil sie das Haupt- „dogma des transscendentalen Idealismus (d. h. der ,,K antischen Philosophie] vorbereitet, oder eigent- „lich schon ausspricht." — Jawohl! Haupt do gm a! — Beiläufig findet er dann für die Wörter „Erscheinung"
■) J. F. Fries: Wissen, Glaube und Ahnung. Jena 1805. pag. 7.
Die empirische Richtung. 153
und ,,Ding an sich'' die Scliellingschen Ausdrücke : „Endliches" und „Ewiges Sein" viel passender, besonders „weil sie im Katechismus oder wenigstens den meisten Gebetbüchern gewöhnlich vorkommen." — Da diese Worte vor Abfassung der „Neuen Kritik der Vernunft" geschrieben sind, so könnte man auf den Gedanken kommen, ob sich || unterdessen Fries 154 nicht eines Bessern besonnen habe. Und in der That scheint es so, wenn man in seinem Hauptwerke den Satz liest: „In der Kantischen Schule hat die Grenzbe- stimmung (von Erschein, u. D. a. s.) viele Worte und viele Schwierigkeiten veranlaßt, besonders durch den Streit über das ,,Ding an sich" und den transscen-^ dentalen Gegenstand. Dieses Ding an sich sollte das durchaus weder erkennbare, noch denkbare, noch vorstellbare sein; das Räthsel war nur, worin es sich dann vom Nichts unterscheide, und wie man doch im Stande sei, Worte darüber zu machen. Konnte man es selbst nicht fas- sen, so mußte sein Name doch wenigstens eine leere Stelle in unserer Erkenntniß- kraft bezeichnen, über die sich Niemand gehörig deutlich machte."*) Wäre er doch dabei geblieben ! Oder sollte er etwa, da er trotzdem immer noch vom ,,Ding an sich" weiß, unter diesem Namen etwas Anderes verstanden haben als Kant? Sollte es sich hier bloß um ein Homonymon handeln? — Darüber bleiben wir nicht lange in Zweifel. Denn nachdem er auf Seite 181 — 184 nach allen vier Titeln der Kantischen Kategorientafel bewiesen hat, daß die Welt in Raum und Zeit nicht an sich, sondern entweder Schein oder Erscheinung sein müsse, stellt er über das „Ding an sich" eine Reihe von Betrachtungen an und
*) Neue Krit. d. V. Bd. II. pag. 162.
154 Viertes Kapitel.
Sätzen auf, die nicht allein die vollkommene Identität des Friesischen Hirngespinnstes mit dem Kantischen klar an den Tag legen, sondern in dieser Hinsicht uns noch mit einigen neuen Fortschritten der transscen- denten Speculation überraschen. Wir citiren einige der betreffenden Stellen : „Wir haben bisher für unsere „Lehre von den Ideen den ersten Schritt gethan, indem 155 „wir gegen die Ansicht des gemeinen Lebens || zeigten: „der Natur der Dinge in Raum und Zeit komme kein „Sein an sich zu." (pag. 186) Ferner: „Wir dürfen „unsere natürliche Ansicht der Dinge nur als eine sub- „jectiv bedingte Erkenntnißweise ansehen, welche frei- „lich, verhindert durch die Beschränktheit unseres Sin- „nes, die Dinge nicht sehen läßt, wie sie an sich sind, „aber doch eine Erscheinung dieser Dinge enthält." (189) Vorher hatte er schon erwähnt, daß „unsere Ver- „nunft in Rücksicht der Dinge an sich über das einzige „Urtheil hinaus, daß sie sind, nur negative Urtheile „habe über das, was sie nicht sind." (185.) Als Complement hiezu finden wir dann pag. 194: „Gemein- „hin setzen wir den Erscheinungen (Phänomenen) „die Noumena oder Gedankendinge entgegen ; erstere „sind Gegenstände der Sinnesanschauung, Dinge in „Raum und Zeit, letztere sind Gegenstände in der „Idee, welche nur der Verstand denkt." — Ich möchte wohl eine Idee kennen, die außer Raum und Zeit gedacht werden könnte ! Der mathematische Punkt, gleichsam die schwindsüchtigste aller Ideen, bedarf doch erstens einer Zeit, in der er gedacht wird, zweitens wird er zwar ohne Ausdehnung gedacht, ist aber doch im Raum. — Nicht zufrieden hiermit behauptet Fries gar, daß der sinnlichen Vernunft, die ,,ihre unzuläng- „liche Ansicht der Dinge immer als Erscheinung an- „sehen werde, wenn sie die subjective Be- „schränktheit ihrer Ansicht (Raum, Zeit „und Kategorieen) aufgehoben denke, dann
Die empirische Richtung. 155
„die ewige Wahrheit vor Augen steh e." (195) — Ja, wenn die ewige Wahrheit eine absurde Um-n, Schreibung für Nichts ist, dann hat er Recht ! — Fußend aber auf diese letzte Behauptung stellt er fol- gende „modale Grundsätze unserer idealen Ansicht der Dinge" auf:
1) „Die Sinnenwelt unter Naturgesetzen ist nur Er- scheinung."
2) „Der Erscheinung liegt ein Sein der Dinge an sich zu Grunde."
3) „Die Sinnenwelt ist die Erscheinung der Welt der Dinge an sich." Ii
Der erste dieser Sätze soll das Prinzip des Wis-156 sens, der zweite das des Glaubens, der dritte das der Ahndung sein.*) Hierauf kann man nur er- wiedern : Jenes* Wissen ist unmöglich, weil sein Prin- cip ungereimt ist. Jenes Glauben ist unmöglich, weil sein Object ein Wort ohne Sinn ist. Jenes Ahnden ist unmöglich, weil sein Inhalt auf zwei falschen Prä- missen beruht.
Und nun soll gar noch der erwähnte Glaube ein speculativer Glaube sein! Im Gegentheil ! Es ist ein so durchaus undenkbarer, allen Vernunftgesetzen Hohn sprechender Glaube, daß gegen ihn jener andere, der sich das „Credo quia absurdum" zur Devise macht, noch wie reine, goldene Philosophie erscheint. Denn etwas nur Absurdes, wie z. B. ein viereckiger Kreis, ist doch eben bloß darum verwerflich, weil die von ihm verlangte Vereinigung zweier sich widersprechender Vor- stellungen in eine nicht vollzogen werden kann. Das „Ding an sich" aber, an welches jener sogenannte „speculative" Glaube glaubt, enthält die Zumuthung: Ein Unvorstellbares vorzustellen, — zwei Begriffe, deren Vereinigung nicht nur unmöglich
*) pag. 196.
156 Viertes Kapitel.
ist, sondern deren einer aliein, nämlicii das „Unvor- stellbare'', schon eine contradictio in adjecto ist. — Wir können mit gutem Gewissen schließen : Fries hat die Kantische Philosophie vorausgesetzt; er hat aber ihren bekannten Fehler nicht nur nicht entfernt, sondern sogar selbst adoptirt. Er hat demnach den Kriticismus in diesem Punkte nicht corri- girt.
Also muß auf Kant zurückgegangen werden. 11
Fünftes Kapitel. 157
Die transscendente Richtung. Schopenhauer.
Nego voluntatem latius se extendere, quam perceptiones, sive concipiendi facultatem; nee sane video, cur facultas volendi potius dicenda est infinita, quam sentiendi facultas.
Spinoz. Ethic. II, prop. XLIX. Schol.
Wenn es nach unserem kritischen Plane nothwen- dig ist, an jedes der in Betracht kommenden philoso- phischen Systeme vollkommen vorurtheilslos heranzu- treten, so wird uns in dem vorliegenden Falle unsere Arbeit in der That schwer gemacht. Schopenhauer gilt in seinem Fache gleichsam für den Helden des Tages ; seine Philosophie oder doch seine philosophi- schen Schriften sind en vogue ; aus langer Verborgeni heit sind sie strahlend auferstanden, wie einst die Spi- nozas; seine Lehre wird als etwas Neues angesehen, während sie, ebenso wie die bisher betrachteten nach- kantischen Systeme — mag man auch auf geistigem Gebiete die „Gegenwart" weiter ausdehnen als auf materiellem — nur von der Schwelle der Vergangenheit Uns nachblickt. Neben vielen blendenden und bedeuten- den Seiten hat diese Philosophie mindestens eben so viele Schwächen. Ueberdies umgibt sie sich mit dem üblen Dunstkreise einer beispiellos scandalösen Polemik und scheint daher, wenn sie nicht abschreckt, nach einem bekannten Sprüchworte eine gleiche gegen sich heraus-
158 Fünftes Kapitel.
zufordern. — Während Spinoza seiner Lehre wegen 158in's II Exil gestoßen, wie „ein todter Hund'' behandelt worden ist, hat sich Schopenhauer in eine frei- willige Verbannung, eine grollende, einsame, fruchtbare Muße zurückgezogen und von dort aus seine Collegen, in denen er nur Concurrenten sah, sehr lebendig ange- bellt, ja ihnen noch ins Grab nachgegeifert, — Alles in majorem „Veritatis" gloriam! Neuerdings haben seine Schüler und Freunde für seine Lehre und seine Person durch ausführliche Schriften Propaganda zu machen ge- sucht ; und erst kürzlich ist ihm in einer erschöpfenden Monographie strenge Würdigung geworden. *) Von alle- dem sollen und müssen wir abstrahiren. Wir dürfen uns weder an seiner Polemik stoßen, aus der seine Lehre herausgeschält werden muß, noch von seinen Glanzseiten blenden lassen ; wir dürfen ihn nicht als eine neue Erscheinung, sondern in höherem Sinne als Coätan der übrigen Epigonen ansehen ; wir haben es nicht mit seiner Person, sondern mit seiner Lehre zu thun. — Haben wir uns nun aber auch auf diesen un- parteiischen Standpunkt gestellt, so tritt uns sofort eine neue verhängnißvolle Analogie mit Spinoza entgegen. Das Signum reprobationis, welches Spinoza nach der Ansicht seines Biographen auf der leiblichen Stirn trug, trägt Schopenhauer auf der geistigen. Denn wir werden von seiner Philosophie mit dem Satze empfangen :
„Kants größtes Verdienst ist die Unter- „scheidung der Erscheinung vom Dinge an „sich".^-*)
Diese Worte, in gesperrter Schrift gedruckt, begin- nen seine berühmte Kritik der Kantischen Philosophie,
*) Arthur Schopenhauer von R. Haym. Besonders abgedruckt aus d. 14. Bd. der Preußischen Jahrbücher. Berlin 1864.
**) Die Welt als Wille und Vorstellung v. Arthur Schopenhauer. 3. Auflage 1859. Band I, pag. 494.
Die transscendente Richtung. 159
welche er nicht nur als Epilog, sondern zunächst als Prolog seiner Lehre angesehen || wissen will. Also der 159 Punkt in dem Systeme jenes großen Mannes, der ge- radezu Unsinn ist, gilt ihm für die Hauptwahrheit. Aber auch Dies darf uns weder abschrecken, noch bestechen. Hat doch schon Schell ing so viel vom Dinge an sich „intellectuell angeschaut" und Fries daran „spe- culativ geglaubt'^ Weg also mit diesen Gedanken ! Geben wir ihm Charte blanche. Wir haben vor uns nur den Schüler und Nachfolger Kants, der die erste Grundlage seiner Gedankenrichtung im Jahre des Heils 1813, seine ausgeführte Weltansicht 1819 veröffent- lichte. — *)
Zwischen der Schopenhauerschen Lehre und denjenigen nachkantischen Systemen, die wir bisher untersucht haben (ausgenommen etwa Fries), besteht neben vielen anderen auch der Unterschied, daß ihr eigener Gedankengang der einen Hälfte nach im Wesentlichen von Kant nicht abweicht, nur in Nebenpunkten ihn corrigirt und ergänzt, dann aber mit einem Male den neuen originellen Satz als andere Hälfte hinstellt, der sie nun specifisch unterscheidet. Sie läßt sich daher nicht, wie alle übrigen Sprößlinge des Kriti- cismus, gleichsam als von dem gemeinsamen Centrum ausgehender Radius verfolgen, sondern lehnt sich mit der einen Seite an jenen an, während sie mit der ande-- ren frei hantirt. Ihr erstes Geschäft ist, jenen groß- artigen Bau in ihrer Weise zu stützen und auszubessern ; die „Kritik der Kantischen Philosophie" ist die Einleitung in die Schopenhauersche. Denn wenn auch die kleine Schrift „Ueber die vierfache Wur- zel des Satzes vom Grunde" der Zeit und dem Ge- danken nach vorausgeht und von dem Philosophen selbst
*) Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde v. A. Schopenhauer. Rudolstadt 1813.
160 Fünftes Kapitel.
„die Propädeutik seines Hauptwerks'' genannt wird, so ruht doch gerade der Schwerpunkt seiner Lehre viel- mehr auf jener zweiten, als auf dieser ersten Einleitung. 160 Zudem gesteht er selbst, || daß er bei der Abfassung der ersten, welche in der Hauptsache schon eine Be-» stätigung, Einschränkung und Verbesserung der Kanti- schen Grundansichten enthält, noch zu sehr in den Be- griffen des Meisters befangen gewesen sei. —
Indem wir, unserem vorgezeichneten und bisher be- folgten Verfahren gemäß, den inneren Gedankenzusam- menhang zwischen der Kantischen Philosophie und dem vorliegenden Systeme darzustellen unternehmen, er- scheint es nach dem Gesagten dieses Mal für die Ver- ständlichkeit vortheilhafter, den Philosophen nicht als in ununterbrochener Rede denkend einzuführen, sondern häufig mit erklärenden und verknüpfenden Bemerkungen einzufallen, da wir es nicht mit einem gleichmäßig sich fortspinnenden Gedankenfaden, sondern mit einer Sum- me von einzelnen Urtheilen zu thun haben. —
Diejenigen Sätze der kritischen Lehre zunächst, die Schopenhauer billigt und demgemäß adoptirt, sind fol- gende :
Raum und Zeit sind reine Anschauungen a priori, nothv^endige, allgemeine Formen der empirischen Welt. Wir erkennen sie unabhängig von der Erfah- rung ; sie sind Bedingungen des Vorstellens, Func- tionen des [subjectiven ] Intellects. Demnach ist die räumlich-zeitliche Welt nicht an sich (vom Subject un- abhängig), sondern Erscheinung. Kant vervollstän- digt hierin also die Lockesche Unterscheidung zwischen Dem, was für uns, und was ohne uns ist ; aber er steht auf einem viel höheren Standpunkte als jener ; die Lockesche Lehre verhält sich zur Kanti- schen gleichsam nur wie ein jugendliches Vorspiel. Locke nämlich glaubte, daß nur die secundären Eigen- schaften der empirischen Objecte, die Affectionen der
Die transscendente Richtung. 161
Sinne, wie Klang, Farbe, Geruch u. s. w., auf Rech- nung unseres subjectiven Erkenntnißvermögens zu schreiben wären, während er die räumlichen und zeit- lichen Prädicate der Dinge und ihren Causal- 1| zusam- 161 menhang für an sich seiende Eigenschaften dersel- ben, für „qualitates primarias" hielt. Indem nun Kant nachwies, daß auch diese letzteren, als Erkenntnisse a priori, [nach Schopenhauers Auffassung] subjec- tiven Ursprungs seien, also den Dingen nur in ihrem Zusammentreffen mit dem Subject, d. i. sofern wir sie erkennen, zukämen, erfaßte er erst wirklich den Unterschied zwischen Erscheinung und Ding an sich, die gänzliche Diversität von Idealem und Realem. Zugleich fixirte er die Unterscheidung von Erkenntniß a priori und a posteriori, unter welcher letzteren er die empirischen Sinnesaffectionen, also die qualitates secundarias verstand, welche wir aus der Erfahrung kennen, während er unter jenem Namen die allge- meinen und nothwendigen Formen und Bedingungen aller Erfahrung (Raum, Zeit und Kategorieen) zusammen- faßte.
Die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich war im Grunde nichts Neues. Schon P 1 a t o n hatte erkannt, daß die materielle Welt, die vXif], nur ein dXrjd^ivov ipevdoc sei, ein bestandloser Wahn, ein ewig Werdendes und Vergehendes, nie aber wahrhaft Seiendes: del ytyvoiievov /tei' xal dnoXXviiivov, ovtwc Je ovdinors oV; was er in dem berühmten Mythos von den Männern, die in dunkler Hole sitzend nur die Schatten der vorbeigetragenen wirklichen Dinge an der gegenüberstehenden Wand sehen, anschaulich ge- macht hat. Noch früher aber schon ist in den heiligen Büchern der Inder derselbe Gedanke von der Nich- tigkeit der empirischen Welt gelehrt, indem sie ein vergänglicher, wesenloser Schein, ein Trugbild, das „Gewebe der Maja" genannt wird. — Neu also ist
Neudrucke: Liebmann, Kant. 11
162 Fünftes Kapitel.
diese Wahrheit nicht. Aber es ist [nach Schopen- hauer] Kants unsterbliches Verdienst [sie!], daß er jene Unterscheidung von Ding an sich und Erschei- nung auf dem Wege ganz nüchterner Darstellung zur 162 er- II wiesenen, unbestreitbaren, philosophischen Wahr- heit gemacht hat [??], während jene früheren Ein- kleidungen derselben Einsicht nur mythisch und poe- tisch waren. *) Diese Gedanken sind, wie wir sehen, ganz echt (incorrect) Kantisch. Was er innerhalb dieser Sphäre gedanklich zu bessern hat, bezieht sich nur auf unter- geordnete Einzelheiten. Indem er nun aber bei fernerer Betrachtung und Kritik des Kantischen Gedankenganges theils auf mangelnde Unterscheidungen, theils auf be- griffliche Lücken, theils auf überflüssige Begriffe u. s. w. hinweist, alle seine Einwendungen zusammenfaßt und erörtert, bildet sich ihm eine neue Theorie des Vor- stellens und Erkennens, welche er, auf jener Kritischen Grundlage fußend, theils in der Abhandlung über den Satz vom Grunde, theils in seinem Hauptwerke ent- wickelt. Wir müssen diese neue Erkenntnißtheorie, die neben vielen Irrthümern doch reich an treffenden, schönen, unwiderleglichen Gedanken ist, genauer be- trachten.
Daß alle Erfahrung, alle Erkenntniß überhaupt innerhalb unseres Bewußtseins vor sich geht, ist an- erkannte Thatsache. Wenn wir nun auf die Bestand- theile, auf die verschiedenen geistigen Functionen und begrifflichen Elemente, die im Bewußtsein zu- sammenwirken, näher eingehen, so ergibt sich fol- gendes allgemeine, alle unsere Vorstellungen beherr- schende Gesetz: „Unser Bewußtsein, so weit es als „Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft erscheint, zer- „fällt in Subject und Object und enthält (bis dahin)
*) Kritik d. Kantisch. Philos. Die Welt a. W. u. V. B. I. pag. 494. ff.
Die transscendente Richtung. 163
„nichts außerdem. Object für das Subject sein, und „unsere Vorstellung sein, ist dasselbe. Alle unsere „Vorstellungen sind Objecte des Subjects, und alle „Objecte des Subjects sind unsere Vorstellungen. „Aber — so müssen wir fortfahren — nichts || für 163 „sich Bestehendes und Unabhängiges, auch nichts Ein- „zelnes und Abgerissenes, kann Object für uns wer- „den, sondern alle Vorstellungen stehen in „einer gesetzmäßigen und der Form nach „a priori bestimmbaren Verbindung."*)
Diese gesetzmäßige, der Form nach a priori be- stimmbare Verbindung von Vorstellungen ist nun der Satz vom Grunde, oder genauer „die Wurzel des „Satzes vom zureichenden Grunde." Um dieses allgemeine Gesetz eingehend zu specificiren, müssen wir erst eine Untersuchung darüber anstel- len, in welcherlei verschiedene Klassen alle unsere Vorstellungen zerfallen ; und indem wir hierbei rein auf die Thatsachen unserer inneren Erfahrung, also auf Beobachtung unseres Bewußtseins angewiesen sind, finden wir durch Induction folgende vier.
Erstens die Klasse der anschaulichen realen Objecte, d.i. der vollständigen, das ganze einer Erfahrung ausmachenden Vorstellungen, die das Materiale und Formale der sinnlichen Erfahrung zugleich befassen, die ob- jective, reale Welt. Solche Vorstellungen haben ver- nünftige und unvernünftige Wesen, Menschen und Thiere gemeinsam.
Als zweite Klasse ergeben sich die Vorstellungen von Vorstellungen, oder Begriffe, welche das Denken oder abstracte Vor- stellen ermöglichen. Sie sind das, wodurch die Sprache bedingt, wodurch der Mensch vom Thiere
*) Siehe: Satz vom Grunde §.16.
11*
164 Fünftes Kapitel.
unterschieden, vernünftiges von unvernünftigem Vor- stellen getrennt wird.
Die dritte Klasse wird gebildet durch die a priori gegebenen Anschauungen der Formen des äußeren und inneren Sin- 164 nes, Raum und Zeit. Sie sind || nicht nur der Schauplatz der reinen Größenbetrachtung oder Mathe- matik, sondern zugleich die formalen Bedingungen alles Vorstellens.
Als vierte Klasse ergibt sich nur ein ein- ziges Object, welches sich aber von allen bis- her in Betracht gezogenen Vorstellungen toto genere unterscheidet; das ist nämlich das Subject des Willens, welches allein in der Zeit Object des erkennenden Subjects ist. Als „erkennendes" kann das Subject nie sich selbst zum Object werden, weil es eben im Akte des Erkennens immer die Stelle des Subjects einnehmen muß, also ,, erkennen- des, nie erkanntes*' ist, und, da zu jeder Vorstellung außer dem Subject noch ein Object gehört, etwas außer sich sich gegenüber haben muß. Obgleich nun das Subject des Erkennens und das des Wollens unmittelbar als identisch gegeben sind, kann doch thatsächlich das Subject in der Function des Wollens sich selbst als dem Erkennen- den zum Objecte werden. Freilich ist diese Identität des Erkennenden mit dem wollenden Erkannten, also des Subjects mit dem Objecte nur gegeben, nicht aber erklärlich; sie ist unbegreiflich und kann das Wunder xar' i^oxrjv genannt werden. —
In jeder dieser vier Klassen gestaltet sich nun, je nach ihrer Eigenthümlichkeit, der Satz vom zureichenden Grunde, jenes der Form nach a priori bestimmbare Gesetz der Verbindung, in welcher alle Vorstellungen untereinander stehen, auf eine beson- dere Art. — So erscheint er in der Klasse der an-
Die transscendente Richtung. 165
schaulichen realen Objecte als zureichen- der Grund des Werdens oder Causalität. In dieser Gestaltung fordert er, daß jedem Zustande des realen Objects, welcher mir durch Vermittelung des Leibes oder unmittelbaren Objects zum Bewußt- sein kommt, etwas Anderes als Ursache vorausge-< gangen sei. Das || Erkenntnißvermögen, sofern es ge- 165 maß dem Gesetze der Causalität die realen Objecte vorstellt, heißt Verstand.
In der Klasse der Vorstellungen von Vor- stellungen oder Begriffe herrscht der Satz vom Grunde als zureichender Grund des Er- kenn ens, Erkenntnißgrund oder Grund im enge- ren Sinne. Er verlangt hier, daß jedem Urtheil etwas als Grund vorausgeht, auf welches bezogen es als wahr gilt, und im Verhältniß zu welchem es Folge genannt wird. Sofern das Erkenntnißvermögen diesem Gesetze gemäß Begriffe mit einander verknüpft, also denkt, heißt es Vernunft.
In der dritten Klasse, den reinen Anschauungen a priori, Raum und Zeit tritt er auf als zu- reichender Grund des Seins. Er fordert hier, daß die Theile des Raums sich gegenseitig ihrer Lage nach, die der Zeit ihrer Folge nach bestimmen. Ersteres wird in der Geometrie, letzteres in der Arith- metik untersucht. Die diesem Gesetze gemäß vor- stellende Erkenntnißweise ist die mathematische und heißt reine Sinnlichkeit.
Endlich in Beziehung auf das Object, welches die vierte Klasse bildet, also auf das Subject des Willens gestaltet sich der Satz vom Grunde als zureichender Grund des Handelns oder Gesetz der Motivation und verlangt: daß je- dem Entschlüsse, jedem Willensakte eine Vorstel- lung als Motiv vorangegangen sei. Insofern das Subject dem Gesetze der Motivation unterworfen
166 Fünftes Kapitel.
ist, heißt es Wille. — Zu bemerken ist hierbei aber ausdrücklich, daß der Wille durch das Ge- setz der Motivation keineswegs so durchweg er- klärt und durchschaut ist, wie die vorher aufge- führten Klassen von Vorstellungen durch Causalität, Erkenntniß- und Seins-Grund ; daß vielmehr, trotz unserer Kenntniß des Motivs zu einem Entschlüsse, 166 noch immer gleichsam ein unerklärlicher Rest übrig bleibt. Denn || wenn wir auch alle Vorstellungen kennen, die das wollende Subject zu dem Ent- schlüsse geführt und bestimmt haben könnten, wenn wir ferner auch wissen, daß nur eine, und welche Vorstellung nun wirklich das Wollen zum Entschluß, zum Willensakte veranlaßt, also Motiv geworden ist, so bleibt damit noch immer unerklärt, weshalb gerade diese bestimmte, eine Motiv wer- den, den Entschluß hervorrufen mußte. Der Zu- stand des wollenden Subjectes, welcher vor dem wirklichen, motivirten Entschlüsse immer schon vor- ausgehen muß, ist gar nicht wahrnehmbar, nicht Ob- ject des inneren Sinnes, also nichts in der Zeit. Jeder ist sich bei, oder vielmehr nach jedem seiner Entschlüsse wohl bewußt, daß er auf eine ganz an- dere Art hätte handeln können, wenn nicht irgend ein unerklärliches Etwas, das außer dem Be- reiche seiner Erfahrung liegt, ihn bestimmt hätte, gerade diese Vorstellung zum Motiv zu erheben, gerade diesen Entschluß zu fassen, gerade auf diese Weise zu handeln. Hierauf deutete schon die tiefsinnige Lehre Kants vom empirischen und intelligibelen Charakter hin. *) Der e m - pirische Charakter ist das Subject des Wollens, so weit es durch Vorstellungen, Motive, Entschlüsse, Willensakte und Handlungen erkennbar ist. Der in-
'>=) Kr. d. reinen Vernunft pag. 542. ff. — Vgl. Satz v. Grunde §§. 43-46.
Die transscendente Richtung. 167
telligibele Charakter hingegen ist jenes uner- klärliche Etwas, welches bei allen einzelnen Ent- schlüssen zur Wahl eines bestimmenden Motivs unter mehreren getrieben hat, welches also der tiefere Grund des empirischen Charakters ist. Das ist gleichsam der permanente Zustand des Subjects des Willens; aber auch nur „gleich- sam**, denn in der That ist es außerzeitlich ; besser, aber auch bildlich, ausgedrückt, ist es ein außer der Zeit liegender universaler il Willensakt; an 167 sich vollkommen unerkennbar und unerklärlich, sollte man es eigentlich nicht den intelligibelen, sondern den „inintelligibelen Charakter" nennen.*) • —
Ueberblicken wir dieses allgemeine Ergebniß der grundlegenden Schrift unseres Philosophen, so stimmt es im Großen und Ganzen mit den Sätzen der Vernunft- kritik überein. Indessen wir bemerken doch schon ein- zelne Abweichungen, welche als Fortschritte und Rück- schritte zu bezeichnen hier noch nicht am Platze sein würde. Hervorheben aber müssen wir sie doch sogleich, um der ferneren Entwicklung des Systems folgen zu können.
Zunächst führt Schopenhauer als erste Classe von Vorstellungen die realen anschaulichen Obj ecte auf und betont damit etwas, was in der Kritik der reinen Vernunft nirgends eingehend betrachtet, ja fast mit Stillschweigen übergangen ist. Das Verhältniß, in wel- ches er diese realen Obj ecte zu dem Subject der Er- kenntniß stellt, ist der Kantischen Ansicht vollkommen fremd. Unter den vielen realen Objecten nämlich, welche vom Subjecte erkannt werden, ist zwar auch der eigene Leib mit begriffen, aber nur dieses eine Object, unser Leib, ist nach Schopenhauer uns unmittelbar ge-^
*) Satz V. Gr. pag. 119.
168 Fünftes Kapitel.
geben. Durch dieses unmittelbare Object sind uns mittelst der sinnlichen Vorstellungen alle übrigen Objecte als vermittelte gegeben. Was ist es nun, das uns in diesen sinnlichen Vorstellungen außer uns stehende reale Gegenstände suchen und fin- den läßt? Dies ist, sagte er, allein die Kategorie der Causalität; die Veränderungen im Auge, Ohr und den anderen Sinnesorganen sind uns allein unmittelbar gegeben ; erst durch Anwendung der Kategorie der Causalität schließen wir auf eine Ursache im Raum, auf einen wirklichen, realen Gegenstand außer uns und 168 wenden || dann auf diesen die übrigen Kategorieen, als Subsistenz etc. an. „Die Kategorie der Causalität ist „also der eigentliche Uebergangspunkt, „folglich Bedingung aller Erfahrung, und „als solche ihr vorausgehend, nicht erst aus ihr ge- „schöpft."*) Er nennt jenen Schluß, der aus einer Em- pfindung, ohne Minor, gemäß dem Gesetze der Causa- lität unmittelbar auf den äußeren Gegenstand geht, den Verstandesschluß im Gegensatze zu den Ver- nunftschlüssen, die immer Verknüpfungen von U r - theilen sind. — Constatiren wir vorläufig, daß die Lehre vom unmittelbaren Obj ect (unserem Leibe) und (was damit zusammenhängt) die Rolle, welche von der Kategorie der Causalität gespielt wird, nicht Kan- tisch , sondern ein selbständiger Schritt Schopen- hauers ist.
Bemerken wollen wir ferner, daß die Ausdrücke ,, Verstand'' und ,, Vernunft'' eine andere Bedeutung an- nehmen, als sie bei Kant hatten, indem der Verstand als das subjective Organ für die Klasse der anschau- lichen, realen Objecte, die Vernunft dagegen als das für die Begriffe bezeichnet wird, — eine Abweichung von der Kantischen Terminologie, die wir später genauer ausgeführt finden werden.
*) ibid. pag. 54.
Die transscendente Richtung. 169
Neu ist ferner die Ansicht, daß das Subject als Erkennendes nicht selbst erkannt werden könne, weil es in aller Erkenntniß immer das Active, nicht aber das Passive (Object) sei, daß es vielmehr nur aus den Gegenständen, den Objecten der Erkenntniß, d.i. den Vorstellungen mittelbar erkannt werde, daß es aber als wollendes gar wohl Object des lEr- kennens sei, wobei freilich jene Identität des wollenden mit dem erkennenden Subject unbegreiflich bleibe, — Wunder xax^ s^oxriv.
Neu endlich ist etwas, was hieraus unmittelbar folgt, — daß II nämlich der intelligibele Charak-169 t e r , der in der Kantischen Philosophie als über dem empirischen denkbar zugelassen wurde, nun bei Scho- penhauer eine positive Bedeutung erhält, insofern er für Willen oder für einen universalen, außer- zeitlichen Willensakt erklärt wird. —
Die Auseinandersetzung mit Kant, welche Scho- penhauer in der Abhandlung über den Satz vom Grunde begonnen hat, wird nun fortgeführt und voll- endet in der „Kritik der Kantischen Philosophie". Diese ist in der That eine höchst verdienstvolle, ebenso gründ- liche, als großentheils treffende Arbeit ; sie findet manche Schwäche auf, die, weil sie entweder verborgen lag, oder in dunklen Worten auftrat, vorher für Tiefe des Gedankens galt ; füllt manche Lücke, die bis dahin nur als Mangel gefühlt wurde. Aber freilich nur so weit können wir sie billigen, als sie Kritik bleibt und nicht zur Polemik wird, d. h. die eigenen philosophi- schen oder vielmehr unphilosophischen Gedanken des Kritikers zum Maßstabe der Beurtheilung macht. Wir gehen jetzt näher auf sie ein, und knüpfen an die, in den obigen Sätzen ausgesprochene, Anerkennung der Kantischen Grundprincipien an.
Alles also, was Kant in der transscendentalen Aesthetik vorgetragen hat, nämlich die Lehre von der
170 Fünftes Kapitel.
transscendentalen Idealität der reinen Anschauungen a priori, Raum und Zeit, ist durchaus richtig und treffend ; die angeführten Beweise sind vollkommen überzeugend, und das Bewiesene daher unumstößliche Wahrheit, Hiervon also läßt sich Nichts hinweg- nehmen, höchstens Einiges hinzusetzen. — Anstatt nun aber, nachdem die allgemeinen Formen der Anschauung dargelegt und erörtert sind, auf deren Inhalt, also auf die empirisch-reale, anschauliche Welt, einzugehen, fertigt Kant dieses ganze, lebens- volle Material unserer Erkenntniß kurz ab mit dem 170 Ausdrucke: „es ist gegeben" und i| springt ex ab- rupto über zur „transscendentalen Logik'' oder der Lehre von den Formen des reinen Denkens (Kategorieen). Dies kommt allein daher, weil er von vornherein die falsche Voraussetzung gemacht hat, daß uns durch die „Receptivität der Ein- drücke" die Gegenstände „gegeben" seien, die dann durch die „Spontaneität der Be- griffe" gedacht werden sollen. Wie wir aus der Abhandlung über den Satz vom Grunde wissen, ist dies eine ganz falsche und schiefe Auffassung. Nicht Gegenstände, sondern allein Empfindungen werden uns durch die Sinnesorgane überliefert ; und diese werden dadurch allererst zu Gegenständen, daß der Verstand auf sie das Gesetz der Causalität an- wendet. — Indem nun aber Kant, — anstatt einzu- sehen, daß es die alleinige Function des Verstandes ist, durch Anwendung des Gesetzes der Causalität auf die sinnlichen Empfindungen die empirischen An- schauungen von realen Objecten außer uns hervorzu- bringen, — den Verstand mit seinen Kategorieen ein Denken (also abstractes Vorstellen) nennt, ver- mischt und verwirrt er gänzlich das Verhältniß des abstracten Vorstellens zu dem anschau- lichen. So mischt er unbefugter Weise zuerst das
Die transscendente Richtung. 171
Denken in die Anschauung, sofern er die an- schaulichen Gegenstände gedacht werden läßt ; dann aber wieder das Anschauen in das Denken, indem der abstracte Intellect, der seinem Wesen nach nur allgemeine Begriffe enthält, das einzelne, reale Ding zum Object haben soll. — Da wir oben den wahren Hergang eingesehen haben, so brauchen wir uns mit dieser falschen Ansicht nicht weiter zu beschäftigen. Bemerken aber müssen wir, daß die unrichtige Annahme, es würden uns die Gegen- stände durch die Sinne gegeben und durch den Verstand darauf gedacht, zu der ganz absurden und dem Geiste der Kantischen Philosophie wider- il sprechenden Ansicht führt, daß die anschauliche Welt 171 auch da sein würde, wenn wir gar keinen Verstand hätten, oder daß irgend ein Unterschied zwischen der „Vorstellung von dem Gegenstande" und dem „Gegen- stande der Vorstellung" zu machen wäre ; während doch nur die durch das unmittelbare Object (unseren Leib) uns gegebenen Empfindungen durch die Func- tion des Verstandes (Gesetz der Causalität) auf äußer- liche, reale Objecte bezogen werden, und so allererst anschauliche Gegenstände entstehen, also außer der Anschauung von einem Gegenstande gar nicht die Rede ist.
Mit der Verbesserung der Kantischen Er- kenntnißtheorie in diesem Punkte fällt zugleich eine Menge von ganz überflüssigen Hülfsbegriffen hin- weg, welche nur jener heillosen Verwirrung von an- schaulichem und abstractem Vorstellen, verbunden mit Kants Vorliebe für Symmetrie, ihre Entstehung ver- dankt haben. So vor allem die ganze Lehre von den Kategorieen [welche Schopenhauer in seiner früheren Abhandlung noch nicht verworfen hatte], und die „Lehre vom Schematismus der reinen „Verstandesbegriffe". Die Kategorieen nämlich soll-
172 Fünftes Kapitel.
ten nach Kant jene Formen des „reinen Verstandes" sein, durch welche „die Verbindung des Mannigfal-^ „tigen in der Anschauung" vollzogen wird. Diese Verbindung des Mannigfaltigen wird aber am an- schaulichen Gegenstande dadurch gänzlich über- flüssig, daß sie uns schon in den reinen Formen alles Anschauens, Raum und Zeit, fertig entgegentritt ; der Verstand hat weiter nichts zu thun, als die räum- lich und zeitlich verbundene Mannigfaltigkeit auf ein reales Object als Ursache zu beziehen. Jene „reinen Verstandsbegriffe oder Kategorieen," welche sich nur auf den obenerwähnten , .gedachten Gegenstand" beziehen sollen, müssen zusammt diesem erträumten, überflüssigen Hirngespinnst über Bord geworfen || 172 werden. Es gibt nur anschauliche Gegen- stände und gedachte Begriffe. Außerdem und zwischen beiden aber gar nichts Anderes. — Ebenso, und in Folge dessen, zeigt sich der ganze „Schema- „tismus der reinen Verstandesbegriffe," — eine Lehre, die von jeher als sehr dunkel berühmt gewesen ist, — als leerer, überflüssiger Wortkram. Nachdem näm- lich Kant über dem empirischen Anschauen die reinen Anschauungen a priori gefunden, und dann als Analogon oder Pendant ein reines Denken über dem empirischen e r f unden hatte (in Gestalt der Kate- gorieenlehre), fiel ihm ein, wie unseren empirischen Begriffen zuweilen dunkle, anschauliche Vorstellun- gen, vage Phantasmata auftauchen, durch welche die Summe der anschaulichen Objecte, die sie unter sich begreifen, vorgestellt werden soll, — gewissermaßen intuitive Repräsentanten der dem Begriffe unterge- ordneten Anschauungen. So werden wir uns z. B. bei den Begriffen Hund, Farbe u. s. w. ganz unarti- culirte Bilder in der Einbildungskraft vergegenwärti- gen. Diese nannte er (empirische) Schemata. Nun sollten auch zwischen dem „reinen" Denken (durch
Die transscendente Richtung. 173
Kategorieen) und den reinen Anschauungen (Raum und Zeit) solche „Schemata" oder „Monogramme der Einbildungskraft" schwebend gedacht werden. *) Da aber erstens der Zweck und die Veranlassung jener empirischen Schemata (nämlich den Zusammenhang zwischen Begriff und Anschauung gegenwärtig zu halten) bei Vorstellungen a priori, die sich immer nur i n der Erfahrung, nie aber außer ihr mani- festiren, hinwegfällt, da ferner die ganze Kategorieen- lehre, sammt dem „gedachten" Gegenstande, zu ver- werfen ist, so zeigt sich auch dieser vorgebliche „Schematismus der Kategorieen" als ein überflüssi- ges, bedeu- ll tungsloses Wortgeflecht und muß daher 173 ebenfalls gestrichen werden. —
Schopenhauer führt nun seine Kritik weiter, indem er die Kategorieentafel einer ausführlichen Erörterung unterwirft, und im Einzelnen darlegt, mit welcher Ge- waltsamkeit Kant seine Kategorieen aus den Urtheils- formen ableitet. Obgleich diese Untersuchung des Rich- tigen und Schönen sehr viel enthält, können wir doch nicht näher darauf eingehen, da sie im Vergleich zur ganzen Idee nur von untergeordnetem Interesse ist. Als allgemeines Resultat findet Schopenhauer, daß die ganze transscendentale Analytik aus einem gründlichen Miß- verständniß der anschaulichen Erkenntniß hervorgegan- gen ist. Wir können diese mit seinen eigenen Worten so zusammenfassen : „Kanten ist die Philosophie eine „Wissenschaft aus Begriffen, mir eine Wissenschaft in „Begriffen, aus der anschaulichen Erkenntniß, der all- „einigen Quelle aller Evidenz, geschöpft und in allge- „meine Begriffe gefaßt und fixirt." **) [ Sehr richtig ! — Aber — es soll leider noch anders kommen ! ]
Hieran knüpft sich unmittelbar die Verwerfung der Kantischen Definitionen von Verstand und V e r -
*) Kants Kritik d. r. V. pag. 137—147. **) Die Welt als W. u. V. Bd. I. pag. 537.
174 Fünftes Kapitel.
nunft, an deren Stelle Schopenhauer „andere, feste, „scharfe, bestimmte, einfache und mit dem Sprachge- „brauch aller Völker und Zeiten stets übereinkommende „Erklärungen jener zwei Erkenntnißvermögen auf- „stellt." *) Diese, wie wir wissen, schon in der Ab- handlung über den Satz vom Grunde klar hervortreten- den Definitionen können wir so fassen:
Der Verstand ist das Vermögen der Er- kenntniß anschaulicher Gegenstände in 174 Raum und Zeit durch Be-|| Ziehung der Sin- nesempfindung als Wirkung auf ein äuße- res Object als Ursache.**)
Die Vernunft ist das Vermögen der ab- stracten Erkenntniß durch Begriffe. ***)
Außerdem resultirt für die eigene Lehre Schopen- hauers aus dieser Kritik der Kantischen Philo- sophie die Einsicht, daß das Ding an sich (wie Aenesidemus nachgewiesen hatte) durch den unerlaubten, i n co n s eq u en t en , trans- scendenten Gebrauch der Kategorie der Causalität von Kant erschlichen, auf fal- sche Weise abgeleitet seif) und daher
auf anderem Wege eingeführt werden müs- se; (in Beziehung auf welche neue Ableitung bereits in der Abhandlung über den Satz vom Grunde bedeu- tungsvolle Winke gegeben sind durch den Sinn, der dort dem „intelligibelen Charakter" Kants beigelegt wurde).
Dies ist denn nun im wesentlichen das Fundament und das Material zur Aufbauung einer neuen Weltan-
*) ibid. pag. 513.
**) Satz V. Gr. §.51. — D. W. a. W. u. V. I. §. 4; II, 1. c. 2. a. a. O.
***) Satz V. Gr. §.51. — D. W. a. W. u. V. I. §. 8. II, 1, c. 6. a. a. O.
t) Die W. a. W. u. V. I. pag. 499. 599.
Die transscendente Richtung. 175
sieht, gewonnen durch Bestätigung, Widerlegung, Ver- besserung und Vervollständigung der Kantischen Philo- sophie. Da wir es uns hier versagen müssen, dieses ganze, originelle System darzulegen und zu beurtheilen (was übrigens trotz der vielen bereits vorhandenen Kriti- ken nicht überflüssig sein würde), da wir nur auf einen, ganz bestimmten Punkt desselben zielen, so ist es jetzt an uns, die leitende Idee des Ganzen bis zu diesem Punkte in großen Strichen hinzuzeichnen.
„Die Welt ist meine Vorstellung" — dieser un- widerlegliche Satz, der schon in dem Cartesiani- schen Princip keimte, den dann Berkeley ent- schieden aussprach, und der aus den || richtig (d. i. 175 ä la Schopenhauer) verstandenen Principien der Kan- tischen Philosophie sich zur vollkommensten Gewiß- heit und Deutlichkeit entwickelt, ist — wie wir schon aus der einleitenden Abhandlung wissen — die erste Grundüberzeugung, von der alle wahre Philosophie ausgehen muß. Das erkennende, nie erkannte Subject ist Träger dieser ganzen, unendlichen Welt, Bedingung allen Objectes. Object für das Subject, d. h. Vorstellung, ist alles Erfahrene mit Einschluß des eigenen Leibes, des unmittelbaren Objects. Betrachten wir nun den Complex aller unserer Vor- stellungen, d. i. die Welt, so ergibt sich in diesem ganzen Gebiete als Hauptunterschied der des Intui- tiven und Abstracten. Die intuitiven Vor- stellungen zunächst umfassen alles Sichtbare, Wahr- nehmbare in Raum und Zeit nebst diesen letzteren, den allgemeinsten Formen und Bedingungen der Mög- lichkeit des Anschauens selbst. Das in Raum und Zeit gegebene anschauliche äußere Object ist die Mate- rie, und diese ist durch und durch Causalität. Ebenso wie der, welcher den Satz vom Grunde des Seins erfaßt hat, einsieht, daß die Zeit durchaus nur Folge, der Raum nur Lage ist, so findet der.
176 Fünftes Kapitel.
welcher den Satz vom Grunde des Werdens begriffen hat, daß das ganze Wesen der Materie nur Causalität ist. Ihr Sein ist Wirken in Raum und Zeit, weßhalb auch im Deutschen der In- begriff alles Materiellen sehr treffend Wirklich- keit genannt wird. — Das subjective Correlat aber der Materie ist der Verstand, welcher durch seine einzige Function, Anwendung des Gesetzes der Causalität, mit einem Schlage die dumpfe, nichts- sagende Empfindung in lebendige Anschauung, den in seiner Vereinzelung bedeutungslosen sinnlichen Eindruck zur realen Welt umwandelt. Die Anschau- ung ist demgemäß nicht bloß sensual, sondern intel- 176 lectual, il d. h. Verstandeserkenntniß der Ursache aus der Wirkung. — Man darf jedoch nicht in den großen Irrthum verfallen, zwischen Subject und Object das Verhältniß von Ursache und Wirkung finden zu wollen, und also entweder aus dem Object Alles mit Einschluß des erkennenden Subjects, oder umgekehrt aus dem Subject die ganze reale Welt abzuleiten. Jenes hat der Materialismus, dieses der Fichtische Idealismus unternommen. Beides ist gleich ungereimt. Denn Subject und Object sind a tempo mit einander gesetzt ; Vorstellung sein heißt nichts Anderes, als Object für das Subject sein. Ein Causalverhältniß aber findet überhaupt nur zwischen Objecten satt, und für uns zunächst zwischen dem unmittelbaren Object (unserem Leibe) und allen übrigen, vermittel- ten Objecten. Jene Unzertrennlichkeit von Subject und Object in jeder Vorstellung, also überhaupt der ganzen anschaulichen Welt, tritt besonders scharf und schlagend zu Tage, wenn man den unbezweifelbaren Satz ausspricht: „Die Welt als Vorstellung hebt erst „mit dem Aufschlagen des ersten Auges an, ohne „welches Medium der Erkenntniß sie nicht sein kann, „also auch nicht vorher war. — Ohne jenes Auge,
Die transscendente Richtung. 177
„d. h. außer der Erkenntniß, gab es auch kein Vor- „her, keine Zeit."*) Raum, Zeit und Causalität, diese a priori erkannten Formen des Vorstellens sind es, durch welche die wirkliche materielle Welt bedingt und zu einer endlosen Vielheit von realen, einzelnen Gegenständen gestaltet wird. Wir können deshalb jene Formen des Vorstellens mit einem scholastischen Ausdrucke das principium individuationis nennen. Denn sie spalten das All in die Vielheit und fixiren das Einzelne. Weil nun Raum, Zeit und Cau- salität in der That die li alleinigen Bedingungen der 177 Wirklichkeit sind, so läßt sich von der wachenden Erkenntniß der Traum, in welchem sie ebenfalls herr- schen, gar nicht anders als durch das ganz empiri- sche Kriterium des Erwachens unterscheiden ; wes- halb die Welt als Vorstellung ihm wesentlich gleich ist, und — wenn man es nur von dieser Seite he-* trachtet — das Leben wirklich nichts ist als ein langer Traum. Daher sagt Pindar: axiäg ovuq ävd^Qeonoi^ und Shakespeare :
We are such stuff
As dreams are made of, and our little life
Is rounded with a sleep. — **)
Ebenso nannten die Veden und Puranas die Welt „das Gewebe der Maja" und verglichen es so häufig mit dem Traume. —
Aus der anschaulichen Welt, welche vom Ver^ Stande gestaltet wird, bildet sich nun unmittelbar durch Reflexion die zweite Hauptart von V o r s t e 1 -> lungen, nämlich die der abstracten oder der Begriffe. Als abstract vorstellend oder den- kend ist unser Intellect: Vernunft. Die Be- griffe verhalten sich zu den anschaulichen
*) ibid. pag. 36.
**) ibid. pag. 20. — Vgl. Pindar. Pyth. VIII. 136. — Shakespeares Sturm, 4ter. Act, 1. Scene.
Neudrucke: Liebmann, Kant. 12
178 Fünftes Kapitel.
Vorstellungen, wie der geborgte Wiederschein des Mondes zu dem unmittelbaren Lichte der Sonne, wes- halb auch die Erkenntnißthätigkeit, mittelst deren sie aus den anschaulichen Vorstellungen gezogen sind, sehr passend Reflexion genannt worden ist. Die abstracte Erkenntniß, welche allein durch ihre Be- ziehung auf anschauliche Vorstellungen Bedeutung er- hält und ohne dieselbe gar nicht sein würde, ist nun dasjenige, was den Menschen vom Thiere unter- scheidet, ihn zur Sprache befähigt. Sie hat den un- ermeßlichen Vortheil, daß der mit ihr begabte, ver- 178 nünftige Mensch nicht an || der sinnlichen Gegen- wart haftet, wie seine ,, unvernünftigen Brüder,'' son- dern Vergangenheit und Zukunft zugleich umfaßt. Durch sie ist es uns möglich, unser Leben planvoll und besonnen einzurichten und gleichsam neben und über dem sinnlichen, noch ein besonderes abstractes Leben zu führen. Zugleich aber ist es auch die ab- stracte Erkenntniß, welche den Menschen um vieles unglücklicher als das Thier macht ; denn abgesehen davon, daß durch sie erst der abstracte Irrthum, und damit eine Menge von Unheil möglich wird, das ganze Völker und Jahrtausende bedrückt hat, ver- danken wir es auch ihr, daß wir außer den gegen- wärtigen Schmerzen und Leiden, die allein das Thier kennt, alle zukünftigen mit zu erdulden haben, vor allem, daß wir den sicheren Tod vor uns erblicken, von welchem das Thier keine Ahnung hat. — Nachdem nun Schopenhauer das Wesen des abstrac- ten Vorstellens näher entwickelt, nachdem er darauf hin- gewiesen hat, daß in diesem Gebiete der Erkennt- niß grün d herrsche, wie im anschaulichen Vorstellen die Causalität, nachdem dann die Gesetze des begriff- lichen Denkens, die Logik u. s. w. besprochen sind, fertigt er (was uns speciell interessirt) das Gefühl mit der ganz ungenügenden, einseitigen Erklärung ab :
Die transscendente Richtung. 179
„Dieser Begriff habe nur einen negativen Inhalt, „nämlich diesen, daß etwas, das im Bewußtsein ist, „nicht Begriff, nicht abstracte Erkenntniß „der Vernunft sei; daher auch habe er eine so „unmäßig weite Sphäre, daß er unter sich die hetero- „gensten Dinge begreife, wie z. B. Wollust und reli- „giöses Gefühl'' u. s, w. *) —
Das wesentliche Resultat dieser ganzen Theorie ist, daß die Welt als Vorstellung ein bestandloser, unwesen- hafter Traum (Er- 1| scheinung) sei, und daß wir den 179 eigentlichen, tieferen Kern, das „Ding an sich", dessen Erscheinung sie sei, nicht im Gebiete der Vorstellungen, sondern anderwärts suchen müssen. Da nun aber das Object zunächst nur in Vorstellungen besteht, so sind wir mit der Frage nach dem „Ding an sich" an das Subject gewiesen; und hier im Subject findet sich denn in der That ein, schon in der einleitenden Ab- handlung, hervorgehobener Punkt, der uns die ge- wünschte Auskunft geben kann.
Das Subject nämlich ist nicht allein Vorstellung, nicht rein erkennend (ein „geflügelter Engelskopf ohne Leib")**), sondern es ist zugleich „Wille". Dieses Wort läßt sich nicht weiter erklären, sondern jeder ist sich unmittelbar Dessen bewußt, was darunter ver- standen wird. Jeder eigentliche Willensact, d. i. Ent- schluß zum Handeln, erscheint sofort als Bewegung unseres Leibes ; und zwar stehen hier der Wille und die körperliche Handlung nicht im Verhältniß von Ur- sach und Wirkung zu einander, sondern sie sind E i n und Dasselbe, nur auf zwei gänzlich ver- schiedene Weisen gegeben. Was ich innerlich als Willen finde, das ist zugleich in äußerlicher Erschei- nung Action des Leibes ; mit anderen Worten : D i e A c -
*) ibid. pag. 61. §.11. **) pag. 118.
12='
180 Fünftes Kapitel.
tion des Leibes ist der objectivirte, d. h. in die Anschauung getretene Act des Willens. Weiter aber sind auch Schmerz, Lust u. s. vv. nicht Vorstellungen, sondern unmittelbare Affectionen des Willens. Ja, so weit ich meinen Willen überhaupt kenne, ist er vom Leibe nicht zu trennen ; jeder Willensact ist leibliche Bewegung, und der ganze Leib in allen seinen Handlungen und Aeußerungen ist anschaulich geworde- ner Wille. Wenn wir diese Wahrheit ausdrücken wollen, so müssen wir sagen : Der Leib ist nur der sicht- 180 bare, a poste-llriori erkannte Wille, oder: der Leib (das unmittelbare Object) ist die O b j e c t i t ä t des Willens.^)
So also hat dieses unmittelbare Object, welches wir gleich allen übrigen Objecten der räumlich-zeitlichen Welt nur mit innerem Widerstreben für bloße Vorstel- lung erklärten, eine tiefere Bedeutung gewonnen, in- dem wir inne geworden sind, daß es noch auf eine andere Weise, nämlich als Wille, im Bewußtsein vor- kommt. Der Wille ist toto genere von der Vorstellung verschieden; er ist der Leib, sofern er nicht Vorstel- lung, d. h. soweit er „an sich'' ist. — Wollen wir nun nicht, in einem absurden theoretischen Ego- ismus beharrend, allein unserem Leibe wirkliche Rea- lität zugestehen, alle übrigen Objecte aber für bloße, wesenlose Vorstellungen gelten lassen, so müssen wir die gewonnene Einsicht als „Schlüssel zum Wesen jeder Erscheinung in der Natur" gebrauchen und „daher an- nehmen", daß die Welt gleich unserem Leibe, wie sie auf der einen Seite Vorstellung war, andererseits an sich Dasselbe sei, was wir an uns Wille nennen. Der Wille ist das Ding an sich, dessen Er- scheinung die Welt als Vorstellung ist,**)
Im Willen also haben wir nun jenes unbekannte, räthselhafte „An sich" gefunden, welches in der anorga-
*) pag. 120. — **) pag. 123. ff.
Die transscendente Richtung. 181
nischen Welt auf Ursachen, in der Pflanze auf Reize, in der thierischen auf Motive handelt, das sich auf einer Reihe immer vollkommener werdender Stufen objecti- virt, und nachdem es lange blind gewaltet, sich endi lieh das Licht der Erkenntniß anzündet, indem es sich in der animalischen Welt das Gehirn schafft, dessen Function der Intellect ist. Nun mit einem Male ist durch den Intellect die Spaltung in Subject und Object da, die Welt als Vorstellung vorhanden; der Wille er- kennt sich selbst a posteriori. — — II
Dies ist der entscheidende Punkt, bis zu dem wir 181 dieses eigenthümliche System verfolgen mußten. Es ist nun an uns, es einer gewissenhaften Kritik zu unter- werfen. —
Zunächst also ist ohne Weiteres der Kantische Satz adoptirt :
„Die empirische Welt in Raum und Zeit ist Erscheinun g."
Dieser Satz, von welchem die ganze Weltansicht Schopenhauers abhängt, ist, wie wir wissen, falsch, erschlichen durch die öfter erwähnte quaternio terminorum. *) Indessen Schopenhauer bringt scheinbar neue Argumente dafür bei, daß die anschauliche Er- kenntniß nicht das „an sich Seiende" erfasse ; und diese müssen wir jedenfalls beachten. Es sind folgende:
1) „daß das Gesetz der Causalität subjectiven Ur- sprungs sei, so gut wie die Sinnesempfindung, von der die Anschauung ausgeht ;
2) „daß ebenfalls Zeit und Raum, in denen das Object sich darstellt, subjectiven Ursprungs seien ;
3) „daß, wenn das Sein des Objects in seinem Wirken besteht, dies besage, daß es bloß in den Ver-f änderungen, die es in Andern hervorbringt, bestehe, mithin an sich gar nichts sei." **)
*) Siehe oben pag. 38. 137. **) Die Welt als W. u. V. Band II. pag. 215.
182 Fünftes Kapitel.
Nehmen wir den letzten Passus zuerst. Er beruht darauf, daß nach Schopenhauers Ansicht die Materie durchaus nur Causalität ist, und sonst Nichts.*) Diese Behauptung ist durchaus ungereimt. Ein Wirken ohne vorhergehendes Sein, welches wirkt, eine Verände- rung ohne Verändertes, ein Werden ohne Werdendes ist ein Prädikat ohne Subject, — sinnlos. Wir verweisen hier auf jenen alten Satz, den Schopenhauer selbst in anderer Beziehung oft citirt : operari sequitur esse. 182 Allgemein ausgedrückt: || Causalität ohne Substantiali- tät ist objectiv unmöglich. Wer die materielle Welt ein- seitig bloß mit der Kategorie der Causalität zu erklären sucht, gleicht Jemandem, der in die leere Luft steigen will, ohne sich auf die Sprossen einer Leiter oder etwas Derartiges zu stützen. Schopenhauer selbst erklärt, daß in der materiellen Welt das Verhältniß von Ursache und Wirkung nur zwischen aufeinander folgenden „Zustän- den des Stoffes" stattfinde. Kann ich nun wohl irgend- wie von einem „Zustande'' reden, ohne etwas vor- auszusetzen, was sich in dem Zustande befin- det? — Uebrigens fühlt Schopenhauer die Ungereimt- heit seiner Behauptung sehr gut, sucht sie zu ver- tuschen, und verwickelt sich dadurch in sehr komische Widersprüche. Während er nämlich an den citirten Stellen (überhaupt fast immer) Materie^Causali- tät setzt, erklärt er dagegen an anderen Orten wieder Materie und Substanz für identisch.**) So heißt es z. B. auf Seite 12 des ersten Bandes: „Materie und Substanz sind Eins" und auf der nächst- folgenden Seite 13 „Materie und Causalität sind Eins."***) Da also hier die Materie nicht etwa in ande- rer Hinsicht der Causalität, in anderer der Substantiali-
*) ibid. Band I. pag. 10. 11. 13. 41. 48. 528. 561. a. a. O. **) ibid. pag. 12. 560. a. a. O. *** ) Ebenso stehen die beiden mit einander streitenden Ansichten recht hübsch auf pag. 560 u. 561 des ersten Bandes zusammen.
Die transscendente Richtung. 183
tat gleich gesetzt, sondern nacheinander mit beiden ge- radezu identificirt, für Ein und Dasselbe mit ihnen er- klärt wird, so folgt, daß nach Schopenhauers Ansicht Substantialität mit Causalität identisch sein mußj — eine Ansicht, die vollkommen ebenso sinnlos ist, als wenn man Raum und Zeit für Ein und Das- selbe erklären wollte; diese Formen, wie jene Syn- thesen der Anschauung sind unzertrennlich, aber sie fassen jede eine verschiedene Seite des realen Gegenstandes, sind nicht identisch, sondern Comple- mente. — Daß übrigens der Causalität jene allein- 1| ge- 183 bietende Rolle im Gebiete der anschaulichen Objecte zugetheilt wird, kommt im Grunde nur daher, weil in der einleitenden Abhandlung der Satz vom Grunde, der doch nur eines von den allgemeinsten Grundgesetzen des Vorstellens ist, als alleiniges dasteht. Der Cau- salität, als einer Gestaltung jenes Satzes mußte infolge dessen das ihr entsprechende Gebiet vollkommen als Satrapie unterworfen werden. — Wäre diese Ansicht richtig, dann allerdings müßte die materielle Welt wie ein wesenloses, gespensterhaftes Luftbild, Erschei- nung, an uns vorüberziehen. Dies ist aber nicht der Fall, weil ein Werden ohne Werdendes, eine Causalität ohne Substantialität, Nichts sein würde als ein unab- hängig vom Subject für sich seiendes, losgerissen in der Luft schwebendes Prädicat, was eben begrifflich sich selbst widerspricht und realiter ein Unding ist. — Also es ist nicht wahr, daß das Sein des Objects in seinem Wirken besteht, sondern ,,operari sequitur esse." — Was nun aber die, unter 1) und 2) angeführte Be- hauptung anlangt, „daß Raum und Zeit und Causalität „subjediven Ursprunges seien," so ist dies schon, wenn man es ebenso allgemein denkt, wie es hier gefaßt ist, eine unrichtige und unmögliche Auffassung des Kanti- schen „a priori.*' Raum, Zeit und Causalität entsprin- gen nicht aus dem Subject, sondern gehen aller Er-
184 Fünftes Kapitel.
fahrung, also auch der inneren, d. i. : dem empirisch erkannten Subjecte, ebenso wie dem Objecte, voraus als Bedingungen alles Vorstellens. Mithin kann man von irgend einem Ursprünge dieser allgemeinen und nothwendigen Formen alles Erkennens und Vorstellens gar nicht reden ; denn ein „Ursprung** setzt immer schon einen vorhergehenden Zustand (also Zeit) vor- aus, ferner muß er irgendwo vor sich gehen (also im Raum) und endlich fordert er, wie jedes Geschehen, eine Ursache (also C au s a 1 i tä t). Für Raum, Zeit und 184 Causalität ist demnach gar kein Ursprung II denk- bar. Dies nur im Allgemeinen. Gehen wir nun aber näher auf die Art des „subjectiven Ursprungs,*' ein, welchem nach Schopenhauer jene Erkenntnißformen a priori ihr Dasein verdanken sollen, so finden wir, daß es ein recht empirischer, materieller ist. Sie sollen näm- lich ,,G eh i r nf uncti onen** sein.*) Der Wille, welcher nicht länger im Dunkeln tappen mag, schafft sich im animalischen Leben das Gehirn, und nun ist der Intellect mitsammt jenen nothwendigen Bedingun- gen alles Vorstellens und Seins da. „Es entsteht, als „eine Function des Gehirns, das Bewußtsein und in ihm „die objective Welt, deren Formen, Zeit, Raum, Causa- „lität, die Art sind, wie diese Function vollzogen „wird."-^") — Mir ist es in der That nicht erklärlich, daß ein so geistreicher, scharfsinniger Mann, wie Scho- penhauer, solches Zeug hinschreiben, eine so schreiende, monströse Ungereimtheit überhaupt in Gedanken zu Stande bringen konnte. — Raum, Zeit und Causalität, Gehirnfunctionen ! — Zunächst hat Niemand sein eige- nes Gehirn gesehen, sondern immer nur die von Ande-
*) W. a. W. u. V. I, 495. II, 23. 29. 214. Parerga und Para- lipomena 1851. Bd. I, 82. a. a. O.
**) Ueber den Willen in der Natur. 1836. pag. 73. — W. als W. u. V. I, 179.
Die transscendente Richtung. 185
ren ; dann waren diese Gehirne nicht lebendig, sondern todt, und es bedurfte einer langen Oedankenope- ration, um sich zu vergegenwärtigen, welcher Art ihre Thätigkeit während des Lebens gewesen sein mag ; endlich aber, wenn man auch ein lebendiges Gehirn ge- sehen hätte, so würde man es nicht haben „vorstellen, erkennen, denken'' sehen (denn das sind nur Objecte der inneren Erfahrung) ; sondern es würde eines weit- läufigen, auf empirische Forschung gestützten, Raison- nements bedurft haben, um sich zu überzeugen, daß an diesem räumlich-zeitlichen Dinge, Gehirn ge- nannt, gewisse ma-||terielle Veränderungen, a 1 s 185 Objecte der äußeren Erfahrung, vor sich gehen, während zugleich (in der Zeit) gewisse an- dere, ganz heterogene Veränderungen als Objecte der inneren Erfahrung dem Bewußtsein gegen- wärtig sind. Und nun ! — dieses Gehirn, dieses mate- rielle Ding in Raum und Zeit, welches ohne Raum und Zeit nicht da wäre, von diesen, als den Bedingungen a priori, wie die ganze übrige Welt ermöglicht wird, — diese Erscheinungsoll dem Raum, der Zeit und der Causalität das Dasein schenken? Die Erkenntnisse a priori sind Functionen einer „Erscheinung"; Raum und Zeit sind aus einem räumlich-zeitlichen Dinge ent- sprungen! Horribile dictu ! — Zuerst sind Raum und Zeit da, damit das Gehirn da sein könne ; (denn irgendwo im Raum und irgendwann in der Zeit ist doch wohl das Gehirn?) — und dann entsprinngen Raum und Zeit aus diesem selbigen Gehirne ! — Ein tiefer Blick in die Natur ! — — Ich kann nicht umhin, unserem Philosophen eine sehr schöne, treffende Stelle aus einem sehr geistvollen Buche vorzulegen: „Er sucht", heißt es dort, „den ersten einfachsten Zustand der Materie zu „finden, und dann aus ihm alle anderen zu entwickeln, „aufsteigend vom bloßen Mechanismus zum Chemismus,
186 Fünftes Kapitel.
„zur Polarität, Vegetation, Animalität : und gesetzt dies „gelänge, so wäre das letzte Glied der Kette die „thierische Sensibilität, das Erkennen: „w elches folglich jetzt als eine bloße ,,M o d i f i ca t i on der Materie, ein durch Cau- „salität herbeigeführter Zustand dersel- „b e n , aufträte. Auf diesem Gipfel angelangt, „würden wir eine plötzliche Anwandlung des unaus- „löschlichen Lachens der Olympier spüren, indem wir, ,,wie aus einem Traum erwachend, mit einem Male inne „würden, daß sein letztes, mühsam herbei- „geführtes Resultat, das Erkennen [in Raum „und Zeit], schon beim allerersten Aus-l| 186„gangspunkte, der bloßen Materie [also auch ,,dem Gehirn ] als unumgängliche Bedingung „V orausgesetzt war. — So enthüllt sich uner- „wartet die enorme petitio principii : denn plötzlich „zeigt sich das letzte Glied als den Anhaltspunkt, an ,, welchem schon das erste hing, die Kette als Kreis ; „und der — Philosoph — gliche dem Feldherrn von „Münchhausen, der, zu Pferde im Wasser schwimmend, „mit den Beinen das Pferd, sich selbst aber an seinem „nach Vorne übergeschlagenen Zopf in die Höhe zieht." — Diese schlagenden Worte hat auch ein Philosoph, auch ein Idealist geschrieben ; und zwar einer der be- rühmtesten, nämlich — Risum teneatis ! — Arthur Schopenhauer. Siehe die Welt als Wille und Vor- stellung. Band I. pag. 32, —
Es ist ein gut Ding um die Consequenz!
Dies waren denn nun also die neuen, triftigen Ar- gumente dafür, daß die Welt in Raum und Zeit nicht „an sich," sondern ,, Erscheinung" sei. — Seid Ihr nun überzeugt ? — —
Nach dem bekannten Satze : Sublato conditionato tollitur conditio wäre es nun eigentlich überflüssig, jenes „Ding an sich", jenen ,,Willen" näher zu betrachten,
Die transscendente Richtung. 187
der das eigentliche Wesen „der Welt als Vorstellung'^ (unpassender und deshalb besser von Kant „Erschei- nung" genannt) ausmachen soll. Da es uns aber erstens wohl interessiren kann, welche neuen Entdeckungen in diesem mysteriösen, für uns aber nicht mehr unge- wohnten Gebiete gemacht worden sind, da außerdem unser Philosoph manches wirklich Vortreffliche und Schöne bietet, das nur durch den Makel seiner illegi- timen Abkunft oder üblen Verwandschaft und bösen Sippe als compromittirt erscheint, so wollen wir es uns nicht versagen, einen Blick auf die dunkle Schattenhälfte seines globus intellectualis zu werfen. —
Der Wille also, jene ,,an sich" unbekannte Macht, die in H unserem vom Intellect erleuchteten Ich auf Mo- 187 tive handelt, ist Dasselbe, was der ganzen, empirischen Welt als Natura naturans zu Grunde liegt.*) Er objec- tivirt sich in einer aufsteigenden xkljua'^ von Vollkom- menheit. Jede Objectivationsstufe ist gleichsam ein er- neuter, angestrengterer Versuch und Ansatz desselben dunklen Weltstrebens, seinem Wesen, dem Willen zum Dasein oder Leben, den deutlichsten, adäquatesten Aus- druck zu geben. Endlich findet er das höchste Ziel seines Strebens, indem er in der animalischen Welt und speciell im Menschen zur klaren Erkenntniß durch- bricht ; nun ist das an sich ununterschiedene Einerlei in die Form der Vorstellung getreten, in S u b j e c t und O b j e c t zerfallen, durch Raum, Zeit und C a u - sali tat mit einem Schlage in eine ausgedehnte, dau- ernde und sich verändernde Vielheit von realen Objec- ten gespalten ; die empirische, materielle Welt steht da. —
Was zunächst die von Schopenhauer immer und überall gerühmte, von Anderen oft bezweifelte Ori-
*) Die Welt a. W. u. V. Bd. II, pag. 367. vgl Parerga und Para- lipomena Band I, pag. 109.
188 Fünftes Kapitel.
ginalität und Neuheit dieser Ansicht anlangt, so lese man folgende Sätze. *) :
„Es gibt in letzter und höchster Instanz gar kein „anderes Sein als Wollen. Wollen ist Ursein, „und auf dieses allein passen alle Prädikate desselben, „Grundlosigkeit, Unabhängigkeit von der „Zeit, Selbstbejahung.**
„Die Natura naturans ist für sich betrachtet auch ,,Wille, aber Wille in dem kein Verstand ist." — „Er ist die unbegreifliche Basis der Realität, der nie 188 „aufgehende Rest, das, was sich || mit der größesten An- ,, strengung nicht im Verstände auflösen läßt, sondern „ewig im Grunde bleibt.**
Diese Sätze hat nicht Schopenhauer geschrie- ben, sondern Schell ing, in den 1809 erschienenen „Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit ",'^'^) — einer Schrift, von der Schopenhauer wiederum sagt : „sie ist fast nur eine Umarbeitung von Jacob Böhmes Mysterium magnum, in welchem fast jeder Satz und jeder Ausdruck sich nachweisen läßt.*****)
Ich gestehe nun wohl ein, daß selbst der originell- ste Geist von seinen Vorgängern nicht nur einzelne Ge- danken, sondern ganze Gedankenreihen und Grundan- sichten aufnehmen muß, es sei denn, daß er vom Wasser der Lethe tränke, wo dann freilich mit der Gefahr durch unwillkürliche Reminiscenzen als Plagiator zu erschei- nen zugleich alles Gedächtniß, also alle Basis des Wis- sens verschwinden würde. Wenn man aber über Das, was man selbst für die Hauptidee seiner Lehre angibt, mit einem früheren Philosophen, den man sehr gut
*) Siehe Herbarts S. W. Bd. XII. pag. 382. 385. — Trendelen- burgs Logische Untersuchungen Bd. II. pag. 101. — Hayms A. Seh. pag. 82—84.
**) Vgl. S c h e 1 1 i n g s Transscendental. Idealism. Einleitung §. 3. C. D. ***) „Aus Arthur Schopenhauers handschriftlichem Nachlasse." Herausgegeben v. J. Frauenstädt, 1864. pag. 261.
Die transscendente Richtung. 189
kennt, so augenscheinlich einverstanden ist, wie Scho- penhauer über den Inhalt der obigen Sätze mit Schelling, dann ist es von der Redlichkeit, oder doch der Bescheidenheit geboten, dies einzugestehen. Das ist von Alters her stillschweigendes Uebereinkom- men zwischen allen hervorragenden Schriftstellern ge- wesen. Schon P 1 i n i u s sagt in seiner Praefatio ad di- vum Vespasianum zur Historia mundi : „Est enim benig- num et plenum ingenui pudoris fateri, per quos pr of ecer is**.
Schopenhauer nun fühlt sich erst sehr spät veranlaßt, sich über diesen bedenklichen Punkt zu er- klären. Und wie thut er es ? || Er nennt die von S c h e 1 - 189 1 i n g ausdrücklich, von Fichte nur nicht geradezu aus- gesprochene Hauptidee seiner Philosophie „einen bloßen Vorspuk seiner Lehre" und ruft ihnen entgegen :
„Pereant, qui ante nos nostra dixerunt". *) In der That eine eigenthümliche Art von Entschuldi- gung ! Es wird schwer halten, hierin Etwas von dem pudor ingenuus zu entdecken. — Vielleicht aber hält er seine nähere Ausführung jener Idee für so besonders verdienstvoll, daß dagegen der Werth der Idee iselbst zurücktritt. Und wirklich, wenn wir den Inhalt seiner Philosophie im Ganzen überblicken, so müssen wir offen gestehen, daß es ein ganz besonderes, immerhin aber nicht beneidenswerthes Verdienst war, durch stricte Durchführung jener in sich nichtigen Idee zu zeigen, in welche speculativen und ethischen Absurditäten man von ihr getrieben werden kann, wie z. B. „Die Er- kenntnisse a priori sind Qehirnfunction'' oder „Nach „Verneinung des Willens zum Leben besteht die Erschei- „nung noch fort" u. s. w. Doch dies nur beiläufig !
Gehen wir nun aber auf seinen Gedanken ein, sehen wir vor Allem davon ab, daß die Welt nicht
*■) Parerga und Paralipomena. Bd. I, pag. 124 u. 125.
190 Fünftes Kapitel.
„Erscheinung'' ist und also zu ihrer Erklärung gar keines „Dings an sich'' bedarf, und daß ferner, selbst wenn sie es wäre, ein „Ding an sich" immer uner- kennbar sein müßte ; so fragt sich zunächst, was ist Wille? Wille ist (so wird jeder Unbefangene ant- worten), eines von den nachweisbaren Objecten der inneren Erfahrung, eines von den drei Grundvermögen, die von der empirischen Psychologie jederzeit ange- nommen worden sind ; näher gekennzeichnet ist er nach der Kantischen Definition „das Vermögen der Zwecke" **) oder : „das Begehrungsvermögen, sofern es 190 „nur durch Begriffe, d. i. der Vorstellung 1! eines „Zweckes gemäß zu handeln, bestimmbar ist." **) Wie diese treffende Erklärung ausdrückt, kennt man daher einen Willen nur da, wo Zwecke und Motive möglich sind, d. h. in einem vernünftigen, des ab- stracten Denkens, oder (wenn man den Begriff sehr erweitert, nämlich auch auf unvernünftige Intelligenzen, d.i. Thiere, ausdehnt) wenigstens des Vorstellens fähigen Geschöpfe, „Wenn ein Mensch will, sagt „Schopenhauer selbst, so will er auch Etwas: sein „Willenact ist allemal auf einen Gegenstand gerichtet „und läßt sich nur in Beziehung auf einen solchen den- „ken" ; und ferner: „Hieraus ist schon klar, daß der ,,Willensact ohne Motiv nicht eintreten könnte, da es „ihm sowohl an Anlaß, als an Stoff fehlen würde."***) Dem stimmen wir vollkommen bei. Wir finden hier die, durch den allgemeinen Sprachgebrauch sanctionirte Be- deutung des Wortes Wille; er ist das Vermögen, einen motivirten Entschluß zu einer zweck- mäßigen Handlung zu fassen. — Zweck oder wenigstens Motiv ist also überall, wo man von Willen redet; ein Willensact ohne Motiv, ohne vor-
*) Kants Kritik d. Urtheilskraft pag. 133. **) ibid. pag. 33. •■•"•"■=) Die beiden Grundprobleme der Ethik. 1841. pag. 14.
Die transscendente Richtung. 191
ausgesetzte Vorstellung, ein Wille ohne Intellect kommt in keiner Erfahrung vor. Wenn man daher das Motiv vom Willensact, den Intellect vom Willen ab- ziehen wollte, so bliebe — Gott weiß was, übrig ; w i r jedenfalls wissen es nicht. Weil ein Wille ohne Intel- lect undenkbar ist, nennt man auch jede Handlung oder Bewegung, die von einem mit Bewußtsein begabten Wesen ohne bewußtes Motiv (vom Zwecke ganz zu schweigen) vollzogen wird, eine unwillkür- liche oder willenlose. Diejenigen Bewegungen und Handlungen aber, welche von einem vorstellenden Wesen ohne bewußtes Motiv ausgeführt werden und dennoch, wie wir aus der Erfahrung sehen, zweckmäßigen ll Erfolg haben, schreiben wir 191 dem Trieb oder I n s t i n c t zu. Alle übrigen leiblichen Veränderungen der animalischen Geschöpfe endlich sind durchaus nur physiologische Probleme. —
Nun aber soll — wie uns oben Schopenhauer gelehrt hat — mein materieller, sichtbarer Leib die Objectität des Willens oder a posteriori erkannter Wille sein. — Wer will denn hier? Und welches Motiv veranlaßt ihn meinen Leib zu wollen ? Es muß mir in der That höchst inter- essant sein, diese Fragen beantwortet zu sehen. — Schopenhauer würde antworten: „Du selbst, dein eigener Wille zum Leben." — Nun muß ich aber offen gestehen, daß ich mich nicht erinnere, je mein Dasein gewollt zu haben, sondern als ich zum ersten Male wollte, da war ich bereits im Dasein, hatte schon meinen Leib u. s. f. Kurz, Schopenhauer spricht hier schon von Etwas, was er gar nicht kennt. Mein Wille soll das ,,Ding an sich" sein, dessen ,, Erscheinung" ich bin (sowohl mein Leib als mein Geist). Das müßte aber ein Wille ohne Motiv, ohne Intellect, d. h. ein Wille sein, der nach allgemein gültigem Sprachgebrauch gar kein Wille ist. Schopenhauer begreift also
192 Fünftes Kapitel.
jedenfalls hier unter diesem Namen schon unendlich viel mehr, als jeder andere Mensch ; er versteht darunter nicht bloß Trieb, Instinct, sondern sogar „Kraft'', durch welche Subsumtion das logische Verhältniß der Begriffe geradezu umgekehrt, auf den Kopf gestellt wird. Jedenfalls aber wird die Sphäre des Begriffes „Wille'' unmäßig und unbegründeter Weise erweitert, so daß eigentlich nur das Wort identisch bleibt und weiter gar nichts. Wie — so müssen wir hier fragen — kann es derselbe Mann mit seinem specula- tiven Gewissen vereinigen, diesen Begriff so zu genera- lisiren, der gegen den Kantischen Begriff der „Ver- nunft" den consensus universalis, den „Sprachge- 192 brauch aller Völker und Zeiten || geltend macht*) ; — der den allgemein recipirten Begriff „Ge- fühl" verwirft, weil — „dessen unmäßig weite Sphäre die heterogensten Dinge begrei- fe?"**) — Einen Willen ohne Motiv, ohne Vorstel- lungsvermögen, einen blinden Willen kennt Niemand ; also soll man auch nicht davon reden. —
Aber wir wollen uns nicht auf Worte steifen. Mag die Benennung ungerechtfertigt sein, so wird sich doch Schopenhauer irgend etwas Bestimmtes dabei gedacht haben. Offenbar versteht er unter jenem all- gemeinen Willen zum Leben, dessen Erscheinung die Welt in Raum und Zeit ist, jenen dunklen Rest, der übrig bleibt, wenn man vom Willensacte das Motiv sich hinwegdenkt. — Gut! Aber was bleibt denn übrig, wenn ich diese begriffliche Trennung vornehme ? Was ist denn jener Rest? Wer hat in irgend welcher Erfahrung die Differenz von Wille und Motiv kennen gelernt? Niemand ! — Es ist eine unvollziehbare Vorstellung. — Die Frage: „Was bleibt nach Abzug des Intellects vom
*) Die W. a. W. u. V. a. a. O. Band I, pag. 513. *"*) ibid. pag. 61. Satz v. Gr. pag. 129-132.
Die transscendente Richtung. 193
Willen übrig?** ist eine ebenso müßige, nicht zu beant- wortende, und damit ungereimte, als die: „Was bleibt in dem losgetrennten Rumpfe eines Enthaupteten von der individuellen Persönlichkeit übrig?" — Ja, jene Frage ist noch viel sinnloser, weil wir gar nicht wissen, ob eine reale Trennung des Motivs vom Willen über- haupt möglich ist. Wenn wir dagegen hier auch genau wissen, daß der Delinquent uns weder vor, noch nach der Hinrichtung eine Antwort geben kann, so ist doch das Factum, worauf wir mit unserer Frage fußen, näm- lich die Trennung des Kopfes vom Rumpfe, wirklich vorhanden, was dort nicht der Fall ist. — Wir stehen hier rathlos, mit der Aussicht gleichsam in : ll
The undiscover'd country, from whose bourn 193
No traveller returns. —
Ueberspringen wir aber auch hier mit Schopen- hauer alle Erfahrung, lassen wir es uns gefallen, daß ein blinder, intellectloser Wille nur für etwas Unerklärliches und Dunkles genommen wird, während er in der That die nie vollzogene Differenz des Motivs und des in der inneren Erfahrung gegebenen Entschließungsvermögens ist, geben wir ihm also die (schlechthin problematische) Existenz eines solchen „Willens" zu, und lassen nur die Essenz desselben als Problem stehen, — so werden wir sofort wieder von der Frage gefesselt: „Wer will denn hier?" Darauf gibt uns Schopenhauer gar keine Antwort ; viel- mehr ist sein Wille zum Leben, ebenso wie sein Wir-» ken der Materie ohne Wirkendes, seine Causalität ohne Substantialität, wiederum eine Thätigkeit ohne Thuen- des, ein Prädicat ohne Subject, — Nichts. Conniviren wir ihm endlich auch hierin noch, reden wir uns mit ihm ein, wir nähmen wirklich in der inneren Erfahi rung, am eigenen Ich Das wahr, was Schopenhauer unter „Wille" versteht, so stehen wir vor einem neuen Räthsel : Wie nämlich soll ich denn Das, was mir schon
Neudrucke: Liebmann, Kant. 13
194 Fünftes Kapitel.
in meinem eigenen Bewußtsein (gelind ausge- drückt), so dunkel und räthselhaft ist, in anderen Geschöpfen, organischen und anorganischen, in Thieren, Pflanzen, ja in Steinen wiederfinden? Die Berechtigung hierzu decretirt er sich selbst in den Worten: „Wir „werden demzufolge die nunmehr zur Deut lieh - „keit[??] erhobene doppelte, auf zwei völlig hete- „rogene Weisen gegebene Erkenntniß, welche wir vom „Wesen und Wirken unseres eigenen Leibes haben, „weiterhin als einen Schlüssel zum Wesen „jeder Erscheinung in der Natur gebrauchen „ — und daher annehmen, daß wie sie einer- „seits, ganz so wie er Vorstellung — auch 194 „andererseits dasselbe sein muß, als || was „wir an uns „Wille" nennen."") — „Wir werden annehmen, daß sein muß." — Eine problematisch- apodiktische Zwitterüberzeugung! Eine Ueberzeugung, die uns nicht einmal für die empirische Wahrheit, für das „Wissen, das X ist", viel weniger aber für die metaphysische Noth wendigkeit, für das „Gewiß sein, daß X sein muß" zu bürgen im Stande ist. — Und das ist nun das Fundament, auf welchem stehend Schopenhauer jener tiefen, furchtbaren „Wahrheit" irrationales Me- dusenantlitz der erstaunten Welt entgegenhält ! — Ich könnte es Niemand verdenken, wenn er, anstatt vor der Furchtbarkeit dieser „Wahrheit" in Entsetzen zu gerathen, vielmehr „eine Anwandlung des unaus- löschlichen Gelächters der Olympier" spürte. — Sind denn jemals die einfachsten Grundbedingungen des spe- culativen Denkens von einem Philosophen mit solcher — nonchalance mißachtet, ist jemals ein so leichtferti- ger Seiltänzersprung über eine metaphysische Kluft von einem „Denker" gethan worden?
Und darauf hin soll ich das eigenste innerste Wesen meines mit Vernunft begabten Subjects in jedem Feuer-
') D. Welt a. W. u. V. Bd. I., pag. 125.
Die transscendente Richtung. 195
stein wieder finden ! — Daß wir in anderen beseel- ten Wesen durch das Medium des Intellects ihre Gleichartigkeit mit uns erkennen, ist natürlich ; daß wir nach Analogie unserer eigenen inneren Erfahrung uns durch die Einbildungskraft in die Seele Anderer ver- setzen, und so sympathisch ihre Freude und ihren Schmerz mitfühlen können, ist erklärlich ; und daß die hieraus entspringende dydnrj, die werkthätige Nächsten- liebe, zu einem ethischen Princip gemacht wird, ist eine der annehmbarsten, gemüthvollsten und beherzi- genswerthesten Lehren Schopenhauers. — Aber, daß ich in einem Chausseesteine sympathisch mein geisti- ges und gemüthliches Wesen wieder finden || soll, — 195 das heißt denn doch die dydnrj zu weit treiben. Man spricht wohl davon, daß sich Steine über uns er- barmen möchten, wie aber w i r uns über sie, das wird schwerlich jemand verstehen.
Und doch! — Seien wir billig! In gewisser Be- ziehung sind freilich der blinde, unmotivirte Wille, den ich in mir selbst wahrnehmen soll, und jener, der das „An sich" des Steines bilden mag, identisch, wie Schopenhauer behauptet. Identisch nämlich sind beide, insofern sie in keiner Erfahrung, keinem Bewußtsein je vorkommen, iden- tisch sofern sieunnöthige Hypothesen zur Erklärung einer unwahren Voraussetzung ( W elt = Erscheinung) sind, identisch sind sie, sofern ich von beiden Nichts sagen kann, also von ihnen auch nicht reden soll- te; identisch endlich, sofern sie beide et- was Nichtvorstellbares — Chimäre sind. — Das ist ihre Identität!
Gut also! Das „Ding an sich" hätten wir. Nun kommt es bloß noch darauf an, zu untersuchen, wie es sich objectivirt, in Erscheinungen oder Vorstel- lungen zu Tage tritt. Freilich hat uns Schopenhauer
13*
196 Fünftes Kapitel.
selbst gelehrt: „daß die Dinge an sich durch unsere „Erkenntnißformen sich nicht fassen lassen ; daß da- „her die wirkliche, positive Lösung des Räthsels der „Welt etwas sein müsse, das der menschliche Intellect „zu fassen und zu denken unfähig ist; so daß, wenn „ein Wesen höherer Art käme und sich alle Mühe „gäbe, es uns beizubringen, wir von seinen Eröffnung „gen durchaus nichts würden verstehen können." *) Wahrscheinlich ist er aber selbst ein solches Wesen höherer Art ; denn er erzählt uns in der That viel Un- verständliches und Unverständiges über das „Ding an sich'* und den „Willen". Er lehrt uns, daß Dasselbe, was in uns als (blinder) Wille zum Leben erkannt, 196 oder vielmehr nicht II erkannt wird, in den Mineralien, überhaupt der anorganischen Natur auf Ursachen, in den Pflanzen auf Reize, in den Thieren auf Motive in Be- wegung gesetzt werde. Er weist darauf hin, daß die Naturwissenschaft „dieses ihr Unzugängliche und Un- „bekannte, bei dem ihre Forschungen enden und wel- „ches nachher ihre Erklärungen als das Gegebene vor- „aussetzen, mit Ausdrücken wie Naturkraft, Lebenskraft, „Bildungstrieb zu bezeichnen pflege, welche nichts „mehr sagen als X. Y. Z."**) Sein Wille nämlich, so können wir fortfahren, ist das X + Y + Z; also das Additionszeichen scheidet die Metaphysik von der Phy- sik ! Und gerade die Berechtigung zur Setzung dieses Additionszeichens, welche uns den unerklärlichen Welt- willen als Urgrund erschließt, so weit er erkennbar ist, — sie ist erschlichen durch das „Annehmen, daß sein muß" — mit grenzenloser Leichtfertigkeit er- schlichen. —
Aus dem universalen Pseudo-Willen, welchen Scho- penhauer als intimen Bekannten behandelt, soll nun eine
*) Die W. a. W. u. V. Bd. II. pag. 206. **) Ueber den Willen in der Natur, pag. 5.
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Thatsache erklärt werden, die von jeher allen besonne- nen, tiefen Menschen aufgefallen ist und Stoff zum an- gestrengtesten Nachdenken gegeben hat, nämlich : die durchgängige, großartige Zweckmäßigkeit in der Natur, von den Bewegungen der Sonnensysteme, bis zu den Organen des Infusoriums. Schopenhauer gibt selbst eine ergreifende Schilderung dieser Zweckmäßigkeit, wie er denn überhaupt in der Darstellung der zu er- klärenden Facta groß, in deren Sichtung und der Auffindung der Principien durch vorgefaßte Meinung verblendet und durchaus unzuverlässig ist. „Angemessen, sagt er, ist jede Pflanze ihrem Boden „und Himmelsstrich, jedes Thier seinem Element und „der Beute, die seine Nahrung werden soll, ist auch „irgendwie einigermaßen geschützt gegen seinen natür- „lichen Verfolger ; angemessen II ist das Auge dem Licht 197 „und seiner Brechbarkeit, die Lunge und das Blut der „Luft, die Schwimmblase dem Wasser, das Auge des „Seehundes dem Wechsel des Mediums, die wasserhal- „tigen Zellen im Magen des Kameeis der Dürre Afrika- „nischer Wüsten, das Segel des Nautilus dem Winde, „der sein Schiffchen treiben soll, und so bis auf die „speciellsten und erstaunlichsten äußeren Zweckmäßig- „keiten herab."*) Sehr schön! Sehr richtig! Und wenn man nun diese großartige, imposante, durchgängige Zweckmäßigkeit in der Natur sich zu erklären sucht, ohne sich weiter darum zu kümmern, ob, wie und wo- her uns hierüber überhaupt Aufschluß gegeben werden kann, — worauf wird man dann nothwendig geführt? Ich denke mit Kant auf die Idee einer „absichtlich- wirkenden obersten Ursache dieser Welt."**) Aber
*) Die Welt a. W. u. V. Band I., pag. 190. **) Kants Kritik d. Urtheilskraft §.75 ff. Kant legt hier dar, daß, wenn wir auch nicht nachweisen können, daß eine solche ab- sichtlich-wirkende Weltursache sei, wir doch nach der Einrichtung unseres Intellects nur durch die Annahme einer solchen uns die Welt
198 Fünftes Kapitel.
nein! Der blinde, erkenntnißlose, aller Mo- tive, Zwecke, Absichten, baare Wille ist es nach Schopenhauer, der jene Zweckmäßigkeit hervorruft ! Also deshalb wurde uns die Zumuthung gemacht, über so viele gewaltsame Gedankenzerreißun- gen und Verknüpfungen, Widersprüche, Erschleichungen 198 u. s. w, uns hinwegzusetzen, um uns am Ende II mit einer solchen „Erklärung" des Welträthsels abzu- speisen? Deshalb haben wir uns gefallen lassen sollen, daß mit einer Art transscendenter Alchymie aus der im Willensact gegebenen unlöslichen Verbindung von Motiv und Entschluß, Intelligenz und Handlung, ein utopischer, blinder Wille heraussublimirt, und uns dann vorgeschwatzt wurde, wir nähmen diesen in uns selbst auf ganz besondere Weise wahr? — Deshalb? — O Pfui ! — Das ist muthwillig ! —
Nein! Wäre dieser Wille blind, dann würde statt der erhabenen Weltsymphonie, deren gewaltiger Strom in herrlichen, wunderbaren Harmonien an uns vorüber- rauscht, ein wirres, entsetzliches Gekreisch unser Ohr treffen und — zerreißen ; — die Partitur (d. i. die Meta- physik) wäre ein absoluter Tintenklex ; und der Capell- meister — wäre abhanden gekommen !
Auf seine sogenannte Ethik brauchen wir gar nicht einzugehen. Die darin herrschende Grundstim- mung ist jene Mischung von Blasirtheit, moralischem Katzenjammer und Hochmuth, die selbst mit der Reue
teleologisch zu erklären vermögen. Schopenhauer aber fällt erstens in den Dogmatismus zurück, indem er das Medium des Intellects be- seitigt, „durchschaut", und dann ist sein Erklärungsprincip, derblinde Wille, noch obenein gar nicht einmal fähig, eine Erklärung zu geben. Da gehen wir doch heber zum Dogmatismus des Reimarus zurück. Der erklärt wenigstens das, was er erklären will, wenn er auch nicht darnach fragt, ob er es darf. Oder die Philosophie kann nur gleich wieder ancilla theologiae werden. Vgl. „Die vornehmsten Wahrheiten der natürlichen Religion* von Herrmann Samuel Reimarus. 1766. Abhandlung IV.
Die transscendente Richtung. 199
noch kokettirt, — „Weltschmerz" genannt, oder „the joy of grief" : „der Charakter zeigt sich sanft, traurig, „edel, resignirt." *) — Wohl getroffen ! — Es ist die- selbe Stimmung, in der Armand de Rance, der alte Roue, nachdem er des Lebens Genüsse bis zur Hefe ausge- kostet, sich vom Papste die Erlaubniß einholte, in den Trappistenorden [den Schopenhauer auch besonders ins Herz geschlossen hat ] die alte, unnatürliche Askese einzuführen. — Aber weshalb wird wohl in der Welt im Allgemeinen viel mehr gelacht, als geweint? Bloß weil die meisten Menschen (wie Schopenhauer meint) flachköpfige „Fabrikwaare der Natur" sind? Ich denke, es hat noch einen anderen Grund. — Indessen : II || n'est 199 pas si diable que noir ! Findet er doch auch in seiner Philosophie ein Plätzchen, um uns eine „Eudämonolo- gie" zu geben, Unterricht zu ertheilen in der Kunst glücklich zu leben.*"^) —
Schopenhauer nennt seine Philosophie „im- manenten Dogmatismus" **^") im Gegensatze zu dem transscendenten der vorkantischen Systeme. Ob- gleich wir nun im Widerspruch hiermit gerade seine Auffassung und Fortbildung der Kantischen Lehre die „transscendente" nennen müssen, so wissen wir doch recht gut, weshalb er jenen entgegengesetzten Titel in Anspruch genommen hat ; wir kennen Das, was er meint ganz ebenso genau wie er und wie jeder Mensch, der einiger Maaßen fähig ist, sich in sich selbst und in die Natur zu versenken. Das ist aber eben jenes, von ihm mißkannte, Gefühl, jener un- sagbare und unmittelbare Kern des eigenen Ich, in dem alles Das mündet, was auf def Peripherie, d. i. im ab- stracten Intellecte, verschieden ist; das Gefühl, von
*) Die Welt als W. u. V. Band I. pag. 469. **) Parerga und Paralipomena. Band I. pag. 299. ff. ***) ibid. I. pag. 121.
200 Fünftes Kapitel.
dem Schleiermacher sagt, daß in ihm Denken und Wollen identisch seien.*) Das Gefühl ist auf der einen Seite auch jenes in Freude und Schmerz, in Handeln und Leiden, immer identisch Erscheinende, was uns alle an das Leben fesselt, das uns die Gefähr- dung unseres 'Daseins unwillkürlich und absichtsvoll vermeiden und die Erhaltung desselben bezwecken läßt, in welcher Hinsicht es z. B, Cicero in seiner Schrift de officiis I, 4. schon geschildert hat mit den Worten : Principio generi animantium omni est a natura tribu- tum, ut se, vitam corpusque tueatur, declinet ea, quae nocitura videantur, omniaque, quae sint ad vivendum 200 necessaria, aquirat et paret, ut pastum, ut latibula, II ut alia generis ejusdem. — Aber das Unsagbare, in un- mittelbarer Auffassung Gegebene äußert sich nur inso- fern als Wille, als es auf wirkliche, bewußte Motive hin zum Entschlüsse treibt. Anderwärts, im ästhetischen Genüsse, in der religiösen Andacht finden wir es immer wieder als Ein und Dasselbe, nur in seinen Aeußerun- gen Verschiedenes, welches die subjective Grenze des Intellects, d. i. der Welt bildet. Das ist — Gefühl. Diesem kann keine trockene Skepsis, keine Ver- standeskritik beikommen, weil es vom abstracten Intellect gar nicht gefaßt werden kann. Der geht immer um es herum, wie (sit venia verbo !) die Katze um den heißen Brei ; er möchte es gern begreifen und denken ; aber das gelingt ihm nicht. So ist er hier in derselben Lage, wie das Auge, das die Lerche, wel- che unser Ohr in der Luft tiriliren hört, nicht zu ent- decken vermag. Der Unterschied ist nur der, daß das Auge sich wohl eigensinnig vorreden kann „Ich habe sie doch gesehen" ; der abstracte Intellect kann dies aber nicht, weil er sonst gegen seine eigenen Gesetze
') Schleiermachers Dialektik, herausgegeben von L. Jonas. 1839. § 215. pag. 151.
Die transscendente Richtung. 201
verstößt. Das schlechthin Individuelle läßt sich einmal nicht Allgemein fassen ; es kann nur gefühlt und em- pfunden w^erden ; und deshalb, so oft auch der abstracte Intellect glaubte hier sein Ziel erreicht zu haben, so oft er auch sein triumphirendes pvQrjxal ausrief, — sofort war es ihm vi^ieder aus den Händen verschwunden, wie das Wasser aus dem Siebe der Danaiden, und sah plötzlich aus weiter Ferne mit stillem Hohne auf ihn herab. Dies eben drückt Schiller paradox und gerade deshalb treffend so aus :
Spricht die Seele, so spricht ach! schon die Seele nicht mehr.*)
Daher auch nennt Kant, nachdem er einmal durch die Aufstellung des falschen Begriffs eines „Dings an sich" transscendent || geworden war, und ihm doch im- 201 mer die Unstatthaftigkeit desselben dunkel verschwebte, das Noumenon einen „Grenzbegriff" und von „nega- tiver Bedeutung". Ebenso ist die Lehre vom „empi- rischen und intelligibelen Character", wenn man sie vom reinen und echten kritischen Standpunkte aus be- trachtet, nicht (wie Schopenhauer meint) eine Art von Einlaßkarte oder Paß in's Außerräumliche und Außer- zeitliche, sondern der allerdings höchst tiefsinnige, mit überwältigender Besonnenheit geführte Nachweis, daß wir mit unserem abstracten Intellect nicht einmal Das, was uns am nächsten liegt, nämlich uns selbst, ganz zu erfassen vermögen, und daher diesen Intellect auch hierin zur Resignation verweisen müssen. — Glaubt man aber jene immanenten Schranken des Intellects übersprungen zu haben, wie Schopenhauer, dann geräth man in's Faseln, dann denkt man Undenkbares, dann begeht man die {xerdßaatg elg alXo ysvog im eminenten Sinne, was um so unverzeihlicher ist, wenn man, wie er, die Philosophie für eine „Wissenschaft in Begriffen"
*) Schiller's Epigramm: .die Sprache". S. W. Band I. pag. 382.
202 Fünftes Kapitel.
erklärt hat. Denn der Wille Schopenhauers ist ein aus der individuellsten Thatsache durch unberechtigte Ge- dankenoperationen zu Recht gebrachtes irrationales Verstandesgespenst. Deshalb sagt auch Schopenhauer zuweilen, er „lasse sich eigentlich nicht erkennen." Ja, ja ! Wir kennen das. Dem Weltgeist hat noch Nie- mand in die Karten geguckt. Sogar Schelling nicht. —
Eine wahrhaft bedeutende Qedankenthat haben wir Schopenhauer wirklich zu verdanken, eine That, die ihn zum großen Denker macht und die seiner Lehre nachhaltige Wirkung in gewisser Hinsicht sichert: nämlich die, daß er, als die Philosophie meinte auf den Flügeln der Abstraction aus den Schranken irdischer, menschlicher Individualität sich hinausgeschwungen zu haben, auf die Wichtigkeit der unmittelbaren, sinnlichen Anschauung hinwies, ohne welche 202 alle Abstraction Hirngespinnst, Seifenblase — li Nichts ist. Daher ist auch seine Kunstphilosophie, die er im dritten Buche des ersten Bandes der Welt als Wille und Vorstellung mittheilt, das Glänzendste, was er ge- schrieben hat. Hier leistet die Sprache (die doch mit wenigen Ausnahmen nur Ausdruck des abstracten Vorstellens ist) ihr Aeußerstes in dem Vermögen, sich an das Unsagbare, rein Unmittelbare anzuschmiegen, dem Individuellen nahe zu kommen. Die Darstellung erhebt sich hier an manchen Stellen zu ergreifender, hinreißender Wahrheit, zu reiner, ungetrübter Schön- heit. —
So bildet endlich sein System unter den übrigen nachkantischen den entgegengesetzten Pol der He gel- schen Philosophie. Jeder der beiden Antipoden hat eine von den Hauptideen der Kantischen Lehre zum äußersten Extrem, zur Carricatur ausgebildet. — Die theoretische Vernunft, welche in der transscen- dentalen Einheit des Selbstbewußtseins gipfelt und a
Die transscendente Richtung. 203
priori die allgemeinsten Formen alles Vorstellens ent- deckt, konnte als Autonomie des Denkens er- scheinen, wie die praktische Vernunft im sitt- lichen Pflichtgebote als Autonomie des Willens auftrat. Aber es liegt nahe, den Begriff der Autono- mie, oder Selbständigkeit, zu dem der Auto- kratie, oder Allmacht, zu steigern. So finden wir in Hegel die Autokratie des Denkens, in Schopenhauer die Autokratie des Willens. Beide stehen einander fremd gegenüber ; zwischen ihnen ist Feindschaft gesetzt. Aber beide leiden auch an ein- seitiger Selbstüberhebung, vß^ig; und so fallen sie beide in tragisches Schicksal.*) — Während die Hegeische Philosophie mit stolzer Selbstverblendung sich im Aether || des absoluten Denkens über die Häupter der 203 sterblichen Menschen weit erhoben zu haben meint, und dabei vergißt, daß alle Abstraction erst von der An- schauung ihre Bedeutung erhält, daß sie Product eines menschlichen Individui ist; — eilt Schopenhauer (um mit Piatos herrlichem Mythos zu reden)**) — auf geflügeltem Gespann durch den Kosmos, die gestalt- lose Wesenheit der Dinge zu schauen {enrriQcofisvog fisrewQonoQsl xal nnavTa tov xoüfxov dioixst), und, indem er die Zügel schießen läßt, wird das bessere Roß (der d^vfiog) durch das schlimmere (die intifvfiia, Begierde) mit hinfortgerissen, und Roß und Lenker stürzen von der Sonnenbahn hinab in die Nacht des Nichts, — die Verneinung des Willens zum Leben. Wir sind am Ende. Unser Urtheil lautet: Schopenhauer hängt von der Kanti- schen Philosophie ab. Er hat das „Ding an
*) — fj.riö' vßQiy og)eX'/.e,
vßgtg yäg ze xaxfi deikm ßgotw. Hesiodi i'gya xal rmegai. 196. **) Platon. Ptedr. 244. ff.
204 Fünftes Kapitel.
sich'' gekannt, auch gewußt, daß es durch fehlerhafte Ableitung eingeführt war. Trotzdem hat er es, statt es zu verwerfen, beibehalten, also die Kantische Lehre in diesem Punkte nicht corrigirt.
Also muß auf Kant zurückgegangen w e r d e n. y
Schluß. 204
Da die Metaphysik vor Kurzem unbeerbt abg;ieng, Werden die „Dinge an sich" jetzo sub hasta verkauft.
Wenn diese Einladung heute erfolgte, so glaube ich wohl, daß es am Subhastationstermine sehr an Käu- fern mangeln würde. Denn der ausgebotene Verkaufs- artikel hat nach dem Gesagten nicht nur seinen reellen, sondern auch selbst allen ideellen Werth verloren, und überdies seinen bisherigen Besitzern nur Verlegenheiten bereitet. Er wird also wohl zu anderem verrosteten, unbrauchbaren Geräth in die Polterkammer geworfen werden. Wunderbar ist es nur, daß die Untauglichkeit desselben bisher so verborgen geblieben, oder vielmehr, obgleich offen daliegend, durch den historischen Nim- bus seiner Abkunft paralysirt worden ist. Nun, wir hoffen, daß durch unser beharrliches und oft wieder- kehrendes Ceterum censeo künftiger Schaden verhütet sein wird.
Fortlage bemerkt in seiner Geschichte der neu- sten Philosophie: „Eine vergleichende Anatomie der „philosophischen Systeme wäre kein leerer und phan- „tastischer Gedanke, sondern in der Natur der Dinge „vollkommen begründet." *) Vortrefflich ! — Wir nun haben an den nachkantischen eine genaue Section vor- genommen und bei der, nach einer strengen, wissen- schaftlichen Norm angestellten Vergleichung gefunden, daß sie alle an demselben Herzfehler gelitten haben
*) Genetische Geschichte der Philosophie seit Kant, von C. Fort- lage. Leipzig 1852. pag. 478.
206 Schluß.
und gestorben sind. — Das „Ding an sich" spukte 11 205 in den Köpfen aller Epigonen. Den Idealisten war es „absolutes Ich, Weltich, Absolutum, absoluter Geist" und wurde durch intellectuelle Anschauung er- kannt oder entwickelte sich in dialektischen Trichoto- mieen ; bei Herbart erschien es in einer Vielheit von raumlosen Realen, und wurde durch Bearbeitung der Er- fahrungsbegriffe gefunden; bei Fries war es Object eines „speculativen Glaubens"; bei Schopenhauer der transscendente Wille, für den es eine ganz aparte Erkenntnißart gibt ; — in der That endlich ist es ein dogmatisches Hirngespinnst, welches nicht einmal ein Scheindasein im Worte zu führen berechtigt ist. Von Kant war es ursprünglich als transscendente Vogel- scheuche benutzt worden, um den naschhaften Intellect von den intelligibelen Früchten einer außerräumlichen und außerzeitlichen Welt abzuschrecken; — eine Vor- sorge, die nicht nur überflüssig war, da es sich hier für den gesunden Verstand um Trauben handelte, die er gar nicht einmal sauer zu schelten braucht, weil sie gar nichts sind, selbst nicht, wie die des Apelles, ge- malt ; — sondern noch obendrein schädlich, weil man die Warnungstafel für den Wegweiser in's irrationale Jenseits hielt. Also weg! — Das ist ein fremder Trop- fen Bluts im Kriticismus.
Aber wir haben uns nicht damit begnügt, nur die Verwerflichkeit jenes Unbegriffs darzuthun, sondern es sind auch die Keime nachgewiesen worden, aus denen er erwachsen konnte. Er war objectiv die letzte Consequenz jenes Suchens nach dem Urgründe, das von Kant mit Recht als ein müßiges aus dem Intellect ver- wiesen, dann aber irrthümlich als außerintellectuelle Position einer transscendenten Bedingung der empiri- schen Welt wieder eingeschmuggelt worden war. Er war subjectiv der Irrthum des abstracten Intellects, da, wo die immanenten Schranken alles Erkennens
Schluß. 207
und Vorstellens, das Gefühl des Beschränktseins II in 206 uns hervorrufen, nach einem transscendenten Grunde dieses Beschränktseins zu fragen, und sich eine Scheinantwort zu geben, während eigentlich nicht ein- mal die Frage gestellt werden durfte, sondern das hier zu Grund liegende Gefühl auf eine ganz andere Weise befriedigt wurde. Thatsache bleibt diese immanente Be- schränkung des Intellects und das damit verknüpfte Ge- fühl der Abhängigkeit immer ; es ist ein Mißverständniß, eine Mißdeutung, wenn man das Gefühlte abstract zu fassen sucht. Dann wird man transscendent. In dieser Hinsicht hat jener Vers von H a 1 1 e r eine gewisse Be- rühmtheit erlangt:
In's Innere der Natur dringt kein erschaff ner Geist; Glückselig, wem sie nur die äußre Schale weist.
Kant, — der echte Kant antwortet hierauf: „Ins „Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliede- „rung der Objecte, und man kann nicht wissen, wie „weit dieses mit der Zeit gehen werde";*) aber der inconsequente fügt hinzu, daß, wenn man unter dem „Inneren" die „Dinge an sich" verstehe, jener Vers allerdings Recht habe ; dann sei aber auch die Frage nach ihm ganz unbillig und unvernünftig. Darauf erwiedert wiederum Goethe:
Natur hat weder Kern noch Schale; Alles ist sie mit einem Male.**)
Und Hegel setzt hinzu: „Es hätte heißen müssen, „eben dann, wenn dem Geiste das Wesen der Natur „als Inneres bestimmt ist, weiß er nur die äußere „Schale".***) Aber freilich befand sich Hegel, wie wir wissen, selbst in jenem vermeintlichen transscenden-
*) Kants Kritik d. reinen Vernunft, pag. 278. **) Goethe's sämmtl. W. Band IL, pag. 304. ***) Hegel's Encyclopädie pag. 140.
208 Schluß.
ten Inneren, in dem „absoluten Wissen", welches „die 207 Zeit II getilgt" hat. — *) Dieses Alles beweist uns nur, daß bis jetzt Niemand sich klar gemacht hat, wie denn die kritische Philosophie in consequenter Entwick- lung sich ausgenommen haben würde. Sie, deren erste, bedeutungsvolle Arbeit es war, die ewigen, immanenten Bedingungen und Formen des Intellects mit überwälti- gender Klarheit, Tiefe und Kraft des Gedankens nach- zuweisen, konnte, ihren Principien getreu, nimmer trans- scendent werden. Ihr Resultat wäre gewesen: „Der Intellect kann sich nur in seinen Schranken, d. i. im Felde der äußeren und inneren Erfahrung, bewegen, und es ist unvernünftig, ja im Grunde unmöglich, von irgend etwas Anderem zu reden ; denn in der That fin- den wir in allen Vorstellungen, seien es auch die fein- sten, sublimsten, abstractesten, immer Raum, Zeit und Kategorieen wieder, wie denn das nicht anders sein kann. Der wahrhaft Vernünftige und Besonnene, der jene ewigen, immanenten Bedingungen des Erkennens sich als solche zum klaren Bewußtsein gebracht hat, wird demnach hier nichts Außerräumliches und Außer- zeitliches zu denken, d. i. Unvorstellbares vorzustellen, Unmögliches möglich zu machen sich einbilden, sondern, im Gegensatze zu aller sich selbst und Andere täuschen- den, transscendenten Scheinphilosophie, jenes resignirte, aber beruhigende Geständniß ablegen, um dessentwillen Sokrates von dem delphischen Gotte für den Weise- sten der Hellenen erklärt ward: „daß er wenigstens in „sofern weiser denn die Anderen sei, als er nicht etwas „zu wissen vorgebe, was er nicht wisse, und — setzen „wir hinzu — was überhaupt Niemand wissen kann." [eoixa yovv tovtov ye dfiixQw rivi avrw tovtcu aoifwtSQoi; etvai, oxi a iii] olöa ovSe citofim iiöivat. Piaton. Apolog. Socratis. 21.] Aber — es gibt ein Gebiet im menschlichen Geiste,
*) Siehe oben pag. 109.
Schluß. 209
wohin der abstracte || Intellect nicht reicht, wo das 208 schlechthin Individuelle herrscht, während er nur das Universelle zu erfassen versteht, und dort finden wir vielleicht Aufschluß über Manches, was wir in dun*klen, irrationalen Fernen vergeblich suchen würden. —
Und wozu sollen wir auch in einem unmög- lichen Gebiete Probleme suchen, da uns auf dem wirklichen zahllose fesseln? Immanente Pro- bleme finden sich überall und vermehren sich fort- während, mit jedem Schritte, den die Forschung der Erkenntniß gewinnt. Je größer der Inhalt, desto weiter die Grenze. Und das gilt nicht etwa bloß für die Em- pirie; nein, für die Speculation, die Philoso- phie. Wozu wollen wir also weiter schweifen, da das Gute so nahe liegt?
Die Wissenschaft hat nach Raum und Zeit, den beiden reinen Formen alles Anschauens, die Welt un- endlich über den beschränkten Horizont der gewöhn- lichen Meinung ausgedehnt, und damit den Menschen zugleich verkleinert und erhöht. Wenn mit der Ge-> schichte unseres Planeten auch die Vergangenheit des Menschengeschlechts sich proportional in ungeahnte Weiten hinausgestreckt hat, weit über die Spanne Zeit, die man sich nach den üblichen Traditionen vorzustellen pflegt ; so erscheint hiermit allerdings der Weg zu der gegenwärtigen geistigen Culturstufe viel länger und mühsamer. Demnach wird zunächst unsere egoisti- sche Meinung von der Leistungsfähigkeit des Ge- schlechts „Mensch" fallen, unser staunendes Ur- theil über die unermeßliche Größe des Weltalls steigen. — Wenn ferner unsere Mutter Erde, das vermeintliche Centrum des Weltraumes, auf eine der zahllosen Peripherieen um zahllose Mittelpuncte ver- setzt worden ist, wenn damit unsere Aussicht in die unerschöpfliche Fülle entdeckter und unentdeckter Welt- systeme sich ganz enorm erweitert hat, — zu welch
Neudrucke: Lieb mann, Kant. 14
210 Schluß.
verschwindender Kleinheit muß da nicht das Menschen- 209 geschlecht, oder gar das einzelne, armselige II Indivi- duum sich degradirt fühlen ! — Und doch ! Wem ver- danken diese entdeckten und geahnten Unendlichkeiten das Prädicat: Dasein? Den Formen unseres Intel- lects, der Thätigkeit, wunderbaren Feinheit, Schärfe und Kraft unseres Geistes. Oder wem sonst? — Wo liegen sie? In Raum und Zeit, den Formen alles Anschauens und aller Anschauung, in denen immer Subject und Object vereinigt, die ohne diese beiden Correlate bedeutungslos sind. — Muß dadurch unsere Achtung vor uns selbst nicht unglaublich hoch steigen? — Und wie vereinigen sich diese beiden scheinbar entgegen- gesetzten Bedeutungen unseres Ich im Vergleiche zur Welt mit einander?
Hier sind immanente Probleme! Probleme für eine Dialektik, die ihren Gegenstand nicht im irratio- nalen Gebiete zu suchen braucht.
Aber steigen wir hinab aus jenen extensiven Un- endlichkeiten in die Umgebung, die unser sinnlicher Blick überschaut. Geh' nur hinaus und schaue Dich um ! Da draußen, im blühenden Schooße der lebendigen Natur, dort schlafen tausend ungelöste Räthsel ; dort harrt Alles, seine Fragen an Dich zu richten. — Das lebendige, naive Grün des Waldes, der nach langem Winterschlafe zu neuem Schaffen erwacht ist-; das Rau- schen des Wildbaches, der von jäher Felsenzinne sich herabstürzt und durch uraltes Gestein schäumend hin- durch sich den Pfad erkämpft, — ist es erklärt? Hilft es meiner Erkenntniß von der Stelle, wenn ich jenes Grün auf Undulationen eines Aethers, den ich nicht kenne, dieses Rauschen auf Schwingungen der Luft, die ich nicht wahrnehme, — glücklich zurückgeführt habe? — Diese physikalischen Theorieen sind ja un- zweifelhaft sehr nützlich, insofern sie es ermöglichen, daß das in der Empfindung unmittelbar bloß quali-
Schluß. 211
tativ Vorgestellte der mathematischen Messung und Berechnung, d.i. quantitativer Erkenntniß, unter- worfen werden kann ; damit fördern sie aber auch nur die Einsicht in Das, was || meß- und berechenbar ist, 210 d. h. in die Form, das „Wie", während sie das „Was" so wenig durchschauen, daß sie vielmehr fortwährend mit einer unbekannten Größe, einem X rechnen. — Nein ! Diese bunten Monogramme der lebendigen Natur spotten in sprachloser Objectivität meines abstracten Intellects. Sie sind und bleiben für ihn fremd, räthsel- haft ! — Und doch wiederum, — der frische Maien- morgen, der dich mit zahllosen, duftenden Blühten liebevoll umfängt und aus der Stimme der Nachtigall so vernehmbar innig zu dir spricht, ist er dir fremd, unverständlich ? Weiß er nicht dein Herz im Tiefsten zu liebkosen? — Und dann, — nach schwüler Mittags- hitze das schwer und drohend heranziehende Gewitter, das erst mit fernem Wetterleuchten, mit Sturm und rauschenden Regenströmen sich ankündigt und einführt, jetzt mit grell zuckendem Blitze dich blendet, mit furcht- barem Donnerschlag und lang nachhallendem Grollen dich durchschüttert, läßt es dich unberührt? Erfüllt es dich nicht ganz mit dem Schauer seiner mächtigen Gegenwart? — Gehen alle diese freundlichen und feind- lichen Phänomene der Natur an Sinn und Seele kalt vorüber, wie an dem theilnahmlosen Spiegel ? Nehmen wir hier bloß die Qualitäten: hell, dunkel, grün, schwarz, laut, leise wahr? Sind wir hier nur miroir actif, — oder betrachten wir alles Dieses mit jenem klaren und kalten Blicke, der das subjective Ideal des Mathematikers ist, wie der ausdehnungslose Punkt das objective? Oder gar — ist uns geholfen, wenn wir diesen lebendig uns ansprechenden Gestaltungen und Ereignissen ein undenkbares „Ding an sich", ein er- träumtes „absolutes Ich", eine Vielheit von färb- und gestalt-losen Realen, überhaupt irgend eines, von den
14*
212 Schluß.
krankhaften Erzeugnissen des künstlich herausgerissenen abstracten Intellects zu Grunde legen? — Nein; es ist uns Alles dieses nicht fremd ! Wir fühlen uns von ihm 211 angesprochen, selbst als einen Theil der || Natur, als Erdgeboren (y>;yev%, yiyag). — Dann aber wiederum die klare Einsicht: Was wäre die Maienblühte und der aus schwarzer Wolke zuckende Blitz, was der reizvolle Schlag der Nachtigall und das schwere Grollen des Donners — ohne mein sehendes Auge, ohne mein hörendes Ohr, ohne das Licht meines Bewußt- seins? Nichts wären sie! Es gehört Geist, Erkennt- niß dazu, um ihnen Existenz zu verleihen ; Welt und Geist, Subject und Object sind unzertrennliche Fac- toren, nothwendige Correlata in der Thatsache. So sehen wir uns als geistiges Complement der räthsel- haften Natur — als Wesen, mit göttlicher Erkenntniß begabt, denkend, und besonnen (fitj^ofjiai,, Ugofirjd^evg). — Da sind Probleme, immanente Probleme, die sich zugipfeln zu dem großen Räthsel, wie wir als Mittel- reich der Natur uns von ihr abhängig fühlen und sie von uns bedingt sehen ; — ein Geschlecht promethe- ischer Giganten. Das ist es, was von je im Philoso- phen das d^avind^eiv hervorgerufen, im Dichter den schaffen- den Genius geweckt hat, was P i n d a r uns sagt in den Worten :
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TOI g)vaiu, a&avazoig. Kai TiEQ ig)«fiEQittP Ovx sldoTsg ovds fiexa NvxTag afjLUE nöxfxog «v —
Tiy eyQaxpE dgccfislv tiotl aTÜd-ftaf.*) — ||
*) Pindar. Nem. VI., 1—13.
Schluß. 213
Doch still! Dieser dithyrambische Schwung paßt 212 nicht für den Philosophen. So fühlt nur Der, der erst Philosoph werden will, weil ihm dies die Welt und sein eigenes Ich aufgibt. —
Hier sind wirkliche Probleme, die, weil sie innerhalb unserer Erkenntnißformen liegen, zugleich möglich und zugleich nothwendig sind, Da sie uns fesseln, da wir mit ihnen uns auseinandersetzen müs- sen, — was soll uns doch eine transscendente Dialektik, die sich Schwierigkeiten schafft, wo keine sind, und Räthsel löst, die sie selbst erfunden hat?
Ein Hauptpunkt ist die Fixirung des Verhältnisses zwischen abstracter und unmittelbarer Erkenntniß. Wenn man unter Wissen, die abstracte und allgemeine Ge- wißheit, unter Kennen, die concrete, individuelle ver- steht, so kennt man zwar Alles, was man weiß, nicht aber weiß man Alles, was man kennt. Daß bei weitem nicht Alles abstract zu erfassen ist, sehen wir ja an uns selbst, am eigenen Ich. Wie vieles gibt es in uns, von dem wir sagen müssen, wir kennen es, wir wissen davon, aber wir wissen nicht, was es ist. Lust und Schmerz kennt Jeder; aber er vermag sich durchaus keinen Begriff davon zu machen. Wer sie nie gefühlt hätte, dem würde man sie nimmer ein- demonstriren. Wir können ja wohl, gleich Spino- za, die Gefühle und Leidenschaften des Menschen wie Linien, Flächen und Körper betrachten;*) wir können es, — ja ; aber was nützte es uns ? Gar nichts. Sie sind eben keine mathematischen Figuren, die nur Allgemeines darstellen ; sie sind schlechthin Individu- elles, werden sehr wohl gekannt, aber durchaus nicht begriffen. Deshalb sagt auch || Platon h fisv äQa2i3
*) Spinoza. Ethic. III. praefatio: > Humanas actiones, atque appe- titus considerabo perinde, ac si quaestio de lineis, planis, aut de cor- poribus esset.«
214 Schluß.
ToTg nad^Tjfiaifiv ovx evi inioriqfi'ri*') In diesem Sinne auch gilt das Horazische:
Nee scire fas est omnia oder, wie Dr. Martin Luther sagt:
Was wir nicht wissen sollen,
Das sollen wir nicht wissen wollen.
Hier also eine Fundgrube von immanenten Pro- blemen !
Aber um sie mit fester Hand erfassen, mit siche- rem Blicke betrachten zu können, müssen wir uns selbst erst auf festen Grund stellen, auf daß wir nicht unser Schwanken für das ihrige halten. Und deshalb allein haben wir es immer und immer wiederholt: „Es muß auf Kant zurückgegangen werden." — In der Kritik der reinen Vernunft sind für die Bestrebungen ganzer Jahrhunderte Normen von gleicher Wichtigkeit aufgestellt, wie im O r g a n o n des Aristoteles. Und in beiden finden wir Vieles, was schwerlich je Wird umgestoßen werden können. Freilich will der große Kritiker, der Feind alles unselbständigen Dogma- tismus, auch kritisch betrachtet sein, nicht dogma- tisch. Freilich dürfen wir uns nicht scheuen, ihn da anzugreifen, wo er nach unserem besten Wissen Un- recht hat ; müssen wir ihn nach seinem Geiste ver- stehen, nicht an seinem Buchstaben hängen; und so Wird denn Manches zu schärfen, zu sichten, zu ergänzen sein, z. B. der Begriff „a priori," die Kategorieenlehre, die Genesis der Anschauung u. s. w. Das Echte wird sich schon am Probirstein der zur Ueberzeugung ge- reiften Meinung erweisen ; und das Unechte kann nicht 214 früh genug verworfen wer- 1| den. Den kleinen ephe- meren Kopf mag der Nachweis seiner Fehler nicht nur
*) Piaton. Theaetet. 186.
Schluß. 215
kränken, sondern auch wirklich verdunkeln; aber Kant gehört zu jenen einzigen, den Horizont ihres Zeitalters weit überstrahlenden Geistern, deren Irrthümer so wenig der Apologie bedürfen, als ihre Verdienste des Pane- gyrikus. —
Und nun noch einmal : Was die Berichtigungen an- langt, die Zeitgenossen ihren Meinungen gegenseitig an- gedeihen lassen müssen, — so mögen sie scharf, tref- fend, rücksichtslos sein, aber ohne Haß, Neid und Gift. Nehmen wir uns ein ewig warnendes Beispiel an Arthur Schopenhauer, der nicht allein von der, unter gesitte- ten Leuten üblichen, Courtoisie keine Ahnung hat, son^ dern sogar, um sich als genialen Heißsporn zu zeigen, kühn jene Fesseln durchbricht, welche von der gebil-^ deten Gesellschaft „die Schranken des Anstandes" ge- nannt werden. Wie wohlthätig klingt dagegen das Wort eines anderen Philosophen, der wahrlich an Schärfe des Denkens und Umfang des Wissens, wie an attischer Feinheit ihm Nichts nachgibt, das Wort Herbarlts: ,Wir treten hinein — sagte er — in die Werkstätte ,eigentlicher Wissenschaft. Sie ward eröffnet, ehe es ,eine Gelehrsamkeit gab. In ihr wird die Arbeit nicht ,ruhen, so lange das Selbstgefühl des Geistes dauert." „Ihr fragt nach dem Werke dieser Werkstätte? , Schadenfroh vielleicht, wenn, eilig, jeder Arbeiter sein jProduct vorwiese, und dann der Tadel aller übrigen ,auf jeden zusammenträfe? — Nicht also! Unser , gemeinschaftliches Werk ist das Wachsen ,in der Erkenntniß der Probleme, welche ,Natur und Bewußtsein, Euch, wie Uns, jSeit allen Zeiten vorlegten, und erneu- ,ert und vermehrt vorzulegen nimmer er- ,niüden."*) ||
*) Herbart: lieber philosophisches Studium. II. S. W. Bd. L pag. 400.
216 Schluß.
215 Da zeigt sich doch jener echte esprit de corps, der unter den Philosophen, die ja ein corps d'esprit sein wollen, nicht nur wünschenswerth, sondern unbedingt nothwendig ist.
Spreche jeder seine Ueberzeugung aus ; aber auch nur sie ; dann ist uns geholfen. Und hier ist die meinige:
Es muß auf Kant zurückgegangen we r de n. II
Nachwort. 216
Wenn etwa dem geneigten Leser der Mangel einer Vorrede aufgefallen ist, so bitte ich ihn dieses Nachwort liicht zu überschlagen, da es ihm wohl den Ersatz für jene bieten wird. Ich setze die Worte, welche ich der vorstehenden Abhandlung als Geleitschreiben mitgeben möchte, nicht ohne Grund an das Ende. Derartige Geleitschreiben nämlich sind immer, ein Versuch des Schreibers, zwischen dem Leser und dem Gegenstande zu vermitteln ; man sucht darin seine Waare, wenn auch nicht aufzudrängen und aufzubettein, so doch als an- nehmbar und beachtenswerth darzustellen ; der Schrei- ber tritt hier persönlich für seine Schrift auf und legt sich daher in dieser Hinsicht immer eine gewisse Auto- rität bei, weshalb er auch gewöhnlich seinen Eigen- namen oder doch ein Surrogat desselben daruntersetzt. Nun ist aber bei einer ersten Schrift die Autorität des Verfassers gegenüber dem Publicum, begriffsmäßig und meistens auch in der That, eine persönliche Anti- cipation, die erst durch die Wichtigkeit und den Gehalt seiner Gedanken als berechtigt erscheinen kann. Ich habe es daher vorgezogen, den Gegenstand für sich selbst reden zu lassen, ohne meine Autorität zwischen den Leser und ihn zu stellen ; und wer dem Inhalte dieser Abhandlung irgendwie hat beistimmen oder Ge- schmack abgewinnen können, der wird wohl gern auch dem, nun nicht mehr unbekannten, Verfasser einige Se- cunden länger zuhören.
Der Inhalt dieser Abhandlung hat von vornherein versprochen, im Wesentlichen negativ zu sein. Es han- delte sich nicht sowohl darum, das Fundament zu einem neuen Gebäude zu legen, als 11 das eines alten zu unter- 217
218 Nachwort.
suchen. Hiebei ist es denn geschehen, daß einige Pfeiler, welche (dieser von diesem, jener von jenem) für un- erschütterlich feststehend gehalten wurden, als auf unterminirtem Boden ruhend für unsicher erklärt wur- den. Der Nachweis hievon ist, wie wohl aus der Schrift selbst hervorgegangen sein wird, durchaus nur in wohl- wollender Absicht unternommen und nach bestem Wis- sen durchgeführt worden, nach der Sokratischen Vor- schrift ,,OTfc TTUVTCOg OV TOVTO OX€7TTE0V, Og TIC ttVTO sl/TEV,
dXXd noTSQov dXrji^eg Xiyerai, ij or."*) Wie hätte es auch sonst der Verfasser wagen können, sich gegen so viele berühmte Denker in Opposition zu setzen ? Nur seine innerste Ueberzeugung hat ihn zu diesem gefährlichen Unternehmen veranlassen können ; diese Ueberzeugung hat er ganz ausgesprochen, aber auch nicht mehr als sie. Daß ihm hiebei im Einzelnen Irrthümer unterge- laufen sind, davon kann er a priori überzeugt sein und wird jedem, der ihn auf solche aufmerksam macht, Dank wissen. — Was aber den Hauptpunkt anlangt, um den sich diese ganze Abhandlung dreht, nämlich die Kritik und Verwerfung des transscendenten Unbegriffs der Kantischen Philosophie, so sieht er durchaus nicht die Möglichkeit einer Widerlegung seiner Ansicht. Und da nun weiter die Abhängigkeit alle hier in Betracht gezogenen nachkantischen Philosophen von den Kan- tischen Grundansichten unbezweif elt ist, trotzdem aber keiner von ihnen die hier gegebene Kritik jenes Unbegriffs unternommen hat, so glaubt er den Vortheil zu haben, daß die von ihm vertretene Idee nur im Ganzen angenommen und nur in gleichgültigen Punk- ten corrigirt werden kann. —
Es werden nun aber auch, außer den rein kritischen
Gedanken, einige selbständige, positive, philosophische
218 Grundideen des || Verfassers nicht nur zwischen, son-
*) Platon. Charmid. 161.
Nachwort. 219
dern auch in den Zeilen hervorgeschaut haben. Das ließ sich nicht vermeiden. Um aber diese der Beurtheilung, v^^ie es sich gehört, nicht zu entziehen, mögen sie hier am Schlüsse kurz und pointirt zusammengefaßt w^erden.
Zunächst was das Formale anlangt, so habe ich mich durchweg bemüht, deutlich, d. h. so zu reden, daß der Leser durch meine Worte selbst gezwungen würde, möglichst genau Dasselbe sich bei ihnen zu denken, was ich gedacht habe. Denn im Gegensatze zu der^be- kannten Ansicht des Fürsten Talleyrand halte ich die Sprache für das Mittel, seine Gedanken, nicht zu ver- hüllen, sondern mitzutheilen. Außerdem habe ich mir für alle philosophischen Untersuchungen zwei Maximen gebildet und (nach Kräften) befolgt, welche in allge- meinster Fassung so lauten :
„Du sollst der Meinung nie mehr überlassen, als du ihr nicht entziehen zu dürfen gewiß bist."
Und: „Du sollst dem Wissen nur Das gönnen, was ihm abzusprechen die Grundgesetze des Wissens selbst verbieten." —
Das, was dem Inhalte nach selbständige Zuthat oder Voraussetzung des Verfassers ist, läßt sich kurz und bündig so aussprechen :
„Das berühmte Cartesianische Princip : Cogito (ergo) sum, auf welchem der ganze moderne Idealis- mus ruht, ist richtig, aber unvollständig ; was sich am deutlichsten zeigt, wenn man die passive Form wählt, also schreibt: Cogitatur etc."
Damit ist das Ende dieser Untersuchung zugleich der Anfang einer neuen, über welche ich noch Nichts verrathen kann, da sie noch nicht ausgeführt ist. In- dessen hoffe ich für diese durch Widerlegungen meiner Irrthümer noch Viel zu gewinnen.
Tübingen, den 30. März 1865.
Der Verfasser.
Anhang.
Otto Liebmann/)
„Als die bis dahin herrsclienden spekulativ-idealisti- schen Schulen, durch innere Zwistigkeiten aufgelöst, in Verfall gerieten, als, durch den Streit der bisherigen Olympier verwirrt, sowie durch harte Enttäuschungen auf praktisch-politischem Gebiete erheblich verstimmt, die öffentliche Meinung den Glauben an die Hegemonie der Vernunft eingebüßt hatte, als die zünftige Gelehrten- welt, von spekulativen Phantasmagorien ernüchtert, sich einem äußerst prosaischen Realitätshunger hinzugeben begann, als die Naturwissenschaft auf der einen, die Geschichtsforschung auf der anderen Seite eine weniger begeisternde, aber solide und nahrhafte Kost versprach, damals sah es bei uns einen Moment lang so aus, als sei die Philosophie entweder ganz in den Boden der SpezialWissenschaft eingesickert, oder nur noch als der Vergangenheit überlassenes Gut historiographischer Dar- stellung vorhanden."
Mit diesen Worten Liebmanns könnte man fast die Lage der Philosophie im Zeitpunkte seiner Geburt charakterisieren. Kant war über, Fichte fast ein Menschen-
1) Die folgenden Ausführungen lagen zum Teil einer Ansprache zu Grunde, die der Herausgeber in der für Otto Liebmann veran. stalteten Gedächtnisfeier der philosophischen Gesellschaft zu Jena hielt. Die wichtigsten biographischen Daten verdankt er der gütigen Mitteilung der Familie des teuren Toten, insbesondere Frau Geheim- rat Liebmann in Jena und Herrn Professor Liebmann in München, denen er dafür auch hier nochmals von Herzen seinen aufrichtigen Dank ausspricht.
224 Anhang.
alter und Hegel beinahe ein Jahrzehnt tot. Schelling lebte noch. Aber er hatte auch längst Baader seinen Freund genannt. Dieser Baader, der übrigens in seinem letzten Lebensjahre stand, als Liebmann geboren wurde, war ja gewiß ein begabter Kopf. Aber er hatte sich durch nachgiebige Schwachheit der kathohschen Kirche gegenüber seine intellektuellen Fähigkeiten verkümmern lassen. Schellings Beziehungen zu ihm waren aber doch auch für Schelling in gewisser Weise symptomatisch. Hatte sich dieser doch einer geistigen Umgebung, die auf den wahrhaftig nicht unfrommen Jacobi gerade- zu niederdrückend wirkte, so gut angepaßt, daß er David Friedrich Strauß haßte und Bauer die Hundsstaupe auf den Hals wünschte, wenngleich, wie er sich taktvoll ver- wahrte, nicht im physischen Sinne. Schopenhauer aber lebte noch grollend in seiner Verborgenheit.
Die Signatur der Zeit war also recht trübe, als Otto Liebmann am 25. Februar 1840, also jetzt gerade vor 72 Jahren zu Löwenberg in Schlesien als Sohn eines Kammergerichtsassessors geboren wurde. Der Mann, der eine neue Bewegung einleiten sollte, Kuno Fischer, war damals noch nicht 16 Jahre alt. Und als Liebmann selbst die phüosophische Zeitlage so charakterisierte, wie wir es mit seinen Worten angegeben haben, da konnte er jenen Zustand schon als „vorübergegangen" bezeichnen. Wenn er aber auch sagen durfte: „Wir leben heute in einem der philosophisch erregtesten und thätigsten Zeit- alter", so gebührte ihm selbst bereits an dieser Erregung und Bewegung ein ganz hervorragender Anteil.
Die Jugend Otto Liebmanns war eine recht bewegte. Seinen Geburtsort verließ er im Alter von 6 Jahren, als sein Vater nach Perleberg versetzt wurde. Hier begann vermutlich für den Knaben der Schulbesuch.^ Schon nach zwei Jahren ging sein Vater in die Frankfurter Nationalversammlung, und die Familie siedelte nach Frankfurt am Main über. Noch im selben Jahre (1848)
Anhang. 225
verlor Otto seine Mutter, deren frühen Tod er sein Leben lang beklagte; tiefbewegt führte er als gereifter Mann noch seinen Sohn an ihr Grab. Bereits 1849 wurde Liebmanns Vater als Stadtgerichtsrat nach Berlin berufen. Hier besuchte Otto das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium, dessen damaliger Direktor Ranke der Bruder unseres großen Historikers war. Seine letzte Vorbildung für das Universitätsstudium erhielt er in Schulpforta und in der alten Schulstadt Halle.
Legte die eigentliche Schulzeit die ersten elementaren Grundlagen zu seiner intellektuellen Ausbildung, so brachten die Ferien Gelegenheit, eine andere Anlage seines Wesens zu fördern und seine innige Liebe zur Kunst, namentlich zur Dichtung und Musik, zu nähren. Es war besonders Dresden, das ihm vieles bot. Hier lebte seine Großmutter, eine einfache, aber sinnig an- gelegte Frau. Sie lud den Enkel in seiner Ferienzeit zu sich und bot ihm vielfach Gelegenheit zum Theater- und Konzert-Besuch. Ihr verdankte er wohl auch seine ersten Ausgaben unserer Klassiker. In seiner Bibliothek findet sich noch die eine mit dem Eintrag des Sechzehnjährigen : „Von meiner guten Großmutter. 1856".
Im Jahre 1859 begann Liebmann sein Studium. Diesem widmete er sich auf den Universitäten Jena, Leipzig und Halle. Seinen exakt gerichteten Geist zogen vor allem zunächst die Mathematik und die Naturwissen- schaften an, denen er ja stets seine Liebe und Treue gehalten hat. Freilich übten die mathematischen Vor- lesungen, die er als Student hörte, keine besondere Wirkung auf ihn aus. Dagegen hat er des Physikers Snell, des Schwiegervaters von Ernst Abbe, stets mit Dankbarkeit gedacht, trotzdem er dessen schroffe Ab- lehnung der neuen von Darwin ins Leben gerufenen Entwickelungslehre wohl schon damals nicht zu teilen vermochte. In mathematischer Hinsicht waren aber für ihn von entscheidender Bedeutung die Vorlesungen Karl
Neudrucke: Liebmann, Kant. 15
226 Anhang.
Neumanns geworden, die er, als er selbst schon in Tübingen Privatdozent war, hörte, und deren Klarheit und begriffliche Schärfe für Liebmann selbst geradezu vorbildlich und mustergültig waren. Wie wenig übrigens auch schon der Studiosus Liebmann zu fachmännischen Einseitigkeiten neigte, das beweist am besten vielleicht der Umstand, daß er sich durch die Vorlesungen des selbst noch jugendlichen Treitschke zu wahrhafter Be- geisterung auch für die Geschichte hinreißen ließ. Und die Rede, die Treitschke gelegentlich des deutschen Turn- festes vom Balkon des Leipziger Rathauses aus hielt, hat Liebmann zu den eindrucksvollsten Erinnerungen seines Lebens gezählt.
Als aber Liebmann zu studieren anfing, war auch die Philosophie schon in ein neues Stadium eingetreten. Ihr ward er von Kuno Fischer gewonnen. Er und Treitschke waren ohne Zweifel die wuchtigsten und kraft- vollsten Persönlichkeiten unter Liebmanns Lehrern. Von Fischer sagt Liebmann selbst: „Mitten in einer Zeit der Erschlaffung des öffentlichen Interesses an philosophischen Dingen, vermochte es dieser bedeutende Mann wie als Schriftsteller durch seine Werke, so innerhalb des aka- demischen Hörsaals durch das lebendige Wort warmen Eifer und echtes Verständnis für seinen idealen Gegen- stand zu erwecken". Obwohl Fischer, wie auch Fortlage, der zweite philosophische Lehrer Liebmanns in Jena, wesentlich bereits in der Lehre der Nachfolger Kants wurzelten, so ward Liebmann von Kuno Fischer doch gerade Kant besonders nahegebracht. In Kants an Mathematik und Naturwissenschaft orientiertem Denken fand er die seiner eigenen Geistesart entsprechende An- knüpfung für seine weitere Entwickelung. Und wenn auch nicht gerade in philosophischer Hinsicht, so wirkte doch wohl auch der Einfluß seiner Leipziger Lehrer, Fechner und Drobisch, auf die mathematisch -natur- wissenschaftliche Denkweise Liebmanns mit bestimmend
Anhang. 227
ein. Selbst philosophisch und mathematisch-naturwissen- schaftlich gerichtet, in Jena hauptsächlich von Kuno Fischer idealistisch bestimmt und auf die Kantische Form des Idealismus verwiesen, von dem mathematisch-natur- wissenschaftlichen Denken der Leipziger Philosophen Fechner und Drobisch, wenn auch nicht von ihrer Philosophie, beeinflußt — das ist wohl die Einstellung, von der der junge Liebmann seinen wissenschaftlichen Ausgang genommen hat.
Alle diese Momente wirkten gewiß zusammen, wenn auch vielleicht am bedeutsamsten die Wirkung Kuno Fischers dabei sein mochte, daß die Schrift, durch die Liebmann selbst zum ersten Male als Fünfundzwanzig- jähriger in die philosophische Bewegung entscheidend eingriff, eine Auseinandersetzung mit Kant und seinen großen Nachfolgern war. Als Liebmann im Jahre 1864 nach Tübingen übergesiedelt war, benutzte er ein Jahr, das er still als Privatgelehrter verbrachte, zur Abfassung seiner Schrift über „Kant und die Epigonen". Sie erschien 1865, im Jahre seiner Habilitation.
Der junge Privatdozent hatte als Lehrer einen eben- sogroßen Erfolg, wie als Schriftsteller mit seinem Erst- lingswerke. Daneben gewann er in Tübingen wertvolle persönliche Beziehungen. Vielleicht durch Kuno Fischers Vermittelung, mit dem er ja bis zu Fischers Tode persönlich verbunden blieb, wie er auch mit Fechner und Drobisch in Beziehung blieb, trat er in Tübingen besonders Fr. Th. Vischer nahe. Auch dieses persönliche Verhältnis dauerte fort, noch als Vischer nach Stuttgart und Liebmann später nach Straßburg übergesiedelt war; und erst Vischers Tod löste es.
In der wissenschaftlichen Welt aber hatte sich der junge Privatdozent seine Stellung mit einem Schlage durch sein Werk erobert. Es war eine Auseinandersetzung mit „Kant und den Epigonen" zu Gunsten Kants. Aber man mißversteht das Werk durchaus, wenn man in ihm
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228 Anhang.
blos eine negative Tendenz gegen die Epigonen sieht, als habe es namentlich Fichte, Schelling und Hegel aus der philosophischen Entwickelung nach Schopenhauers Muster ausgeschaltet wissen wollen. So energisch Lieb- mann auch gegen den Dogmatismus des Epigonentums für den Kritizismus eintritt, so hat er es doch stets, wie hier, so auch später, mit ausdrücklichen Worten bezeugt, daß diese Männer „mit der Fackel ihres Geistes Deutschland und die ganze gebildete Welt erleuchtet haben", und er hat die Überzeugung ausgesprochen, daß „das wirklich Große in den Spekulationen jener Denker der Zukunft un verloren bleiben werde". Die Grundabsicht des Werkes aber war eine positive, systematische.
Freilich trägt es systematisch noch das Gepräge der eben erst beginnenden Wiederentdeckung Kants. Der Begriff des Transzendentalen tritt noch in der Färbung auf, die ihm bei Kant selbst noch, wenn auch mäßig, an- haftete. Kant läßt in den rein logisch-kritischen Charakter des Transzendentalen teilweise eine noch psychologische Denkweise hineinschillern, in der es auch ein großer Teil des Kantianismus — F. A. Lange ist dafür typisch — noch ließ, und von der es auch der 25 jährige Otto Liebmann nicht gleich vollkommen zu reinigen, Kantisch gesprochen, nicht in seiner „Reinheit" darzustellen ver- mochte. Wie sehr aber Liebmann trotzdem auch hier schon auf die Erfassung des Transzendentalen dringt und um diese Erfassung ringt, das beweist am besten einmal seine Ablehnung der anthropologisch -psychologischen Interpretation der Vernunftkritik bei Fries und dann seine energische Kritik des Kantischen Begriffs vom „Ding an sich". Indem Liebmann zeigt, daß dieser vermeintliche Begriff eben kein Begriff, sondern ein Unbegriff ist, hat er eigentlich schon den logisch-notwendigen Vorposten gefaßt. Denn dieses fatale „Ding an sich" ist in der Tat bei Kant und allen Kantianern, die es festhalten, ein Residuum dogmatischer Metaphysik, das den tiefsten und
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besten Sinn der Kantischen Vernunftkritik trübt und die „reine Vernunft" zu verunreinigen droht. Das um so mehr, als hinter diesem fatalen Ding an sich ein nicht minder fataler Psychologismus steckt. Der energische Bruch mit dieser ins verkappt Psychologische gewendeten Metaphysik und diesem ins verkappt Metaphysische ge- wendeten Psychologismus zeigt Liebmann aber bereits auf dem Wege, die psychologisch-metaphysischen Residuen dogmatischer Observanz vom transzendentalen Idealismus auszustoßen und diesen eben transzendentalkritisch zu fassen. Er bereitete damit seine eigentliche systematische Leistung einer logischen Grundlegung der Wissenschaft vor, indem er Subjekt und Objekt lediglich als Korrelations- momente der Erkenntnisfunktion bestimmt.
Der Art nun, wie er seine allereigenste philosophische Aufgabe der transzendentallogischen Grundlegung der Wissenschaft gefaßt hatte, entsprach es, daß er sich auch an ganz speziellen Problemen der Einzelwissenschaft ver- suchte und sie zugleich philosophisch zu behandeln unternahm. In diesem Sinne liegt sein im Jahre 1869 erschienenes Buch „Über den objektiven Anblick" durch- aus auf dem Wege kontinuierlicher Entwickelung von seiner Arbeit über „Kant und die Epigonen" zu seinen' späteren Werken, besonders zu seinen grundlegenden Hauptwerken. Der Fortschritt und der Übergang von jener zu diesen dokumentiert sich darin, daß hier jene Subjekts-Objekts- Korrelation ausdrücklich der psychologischen Sphäre letzt- linig entrückt und ins Überempirische, aber doch nicht Metaphysische, sondern ins Bereich logischer Notwendig- keit gerückt wird. Das aber so, daß der Zusammenhang mit der Erfahrung, auf deren logische Grundlegung es in der Transzendentalphilosophie eben abgesehen ist, gewahrt wird. Denn das Verständnis der Transzendental- philosophie hängt von vornherein davon ab, daß man zum mindesten folgendes begreift: Was begründen soll und was begründet werden soll, kann nicht zusammenfallen.
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und ihre logische Ordnung kann nicht umgekehrt werden. Aber beides steht doch in dem engsten Zusammenhange, den die Wissenschaft überhaupt kennt, eben im Zusammen- hange des logischen Bedingen s und des logischen Bedingtseins, die auch nicht zusammenfallen können, und die in ihrem Ordnungsverhältnis auch nicht umgekehrt werden können. Wäre die Preisgabe dieses Zusammen- hanges ein Verstoß gegen das Gesetz vom Grunde, so wäre die Umkehrung der Begründungsordnung eine petitio principii.
Das nun ist der transzendentale Gesichtspunkt, unter dem das erste Hauptwerk Otto Liebmanns, die „Analysis der Wirklichkeit", steht. Es erschien zum ersten Male im Jahre 1876, vier Jahre nachdem Otto Liebmann an die junge Reichs-Universität Straßburg berufen worden war, die während der beiden ersten Jahrzehnte ihres Bestehens eine ganze Manigfaltigkeit erleuchteter Geister an sich zu ziehen verstand. Die „Analysis der Wirklichkeit" in ihrem systematischen Werte historisch würdigen wird freilich immer nur ein Historiker können, der selbst ein syste- matischer Denker ist. Es ist daher kein Zufall, daß gerade Windelband von diesem Werke eine Charakteristik gegeben hat, die sich an Präzision und Klarkeit nicht überbieten läßt und die ich darum hier anführen will: „Es ist eines der eigenartigsten Werke, in denen je ein Philosoph seine Weltanschauung dargelegt hat. Da ist, so scheint es, keine Spur von lehrhafter Gesamtdarstellung: jede Ab- handlung stellt ihr Sonderproblem und diskutiert es durch die ganze Fülle seiner historischen Dialektik hindurch, um schHeßlich an den Punkt zu führen, an dem sich übersehen läßt, welche Fragen davon beantwortet sind, welche beantwortbar bleiben und welche niemals beant- wortet werden können: und höchstens will sich beim ersten Anblick aus diesen Einzelbetrachtungen schließlich so etwas wie ein Ganzes summieren. Wer aber genauer zuschaut, der findet, daß alle diese Besonderheiten Teile
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eines organischen Ganzen sind, die sich gegenseitig ver- langen und bedingen und ein einheitliches Leben des Gedankens darstellen."
In der That, wer sich bei jenem ersten Blick beruhigt, wer nie unter die Oberfläche zu dringen vermag, der könnte meinen, hier nichts als eine Sammlung von Ab- handlungen vor sich zu haben, in denen einm.al das Raumproblem, das andere Mal das Zeitproblem, bald das Problem der Bewegung, bald das der Kausalität, dann der mathematische Wert der Naturwissenschaft, weiter das Atom, endlich Probleme der Biologie behandelt werden und denen ebenso lose, wie sie es selbst unter einander sind, noch ästhetische und ethische Erörterungen ange- reiht werden. Aber wie nach Leibniz nur der streng logisch und methodologisch geschulte Mathematiker sehen kann, aber auch sehen muß, wie die analystische Geometrie und die Infinitesimalmethode in der dem Laien verborgenen tiefsten Problemstruktur der analystischen Methode zu- sammenhängen, so vermag freilich auch nur der durch die strenge Methode logischer Grundlegung Bewährte zu sehen, aber er muß auch sehen, wie in der Mannigfaltig- keit der hier erwähnten Probleme logischer Einheits- zusammenhang organisch waltet. ^) Ja, so innig, organisch und logisch-kontinuierlich ist dieser Zusammenhang, daß auf der anderen Seite derselbe philosophische Laie, der etwa in der „Analysis der Wirklichkeit" den Zusammen- hang vermissen möchte, in den „Gedanken undThatsachen", die in den Jahren 1899 bis 1904 erschienen sind, leicht nur teilweise Wiederholungen aus der „Analysis der Wirlickkeit" sehen möchte. Das wäre freilich so, als ob man in der Analysis des Unendlichen nur eine Wieder- holung der analystischen Geometrie sähe, weil die Logik
1) Diesen betonte jetzt auch Dr. Arno Neumann in seinem Nekrolog „Zum Totenopfer für Otto Liebmann", der in der Beilage zur Jenaischen Zeitung erschien und eine ganz vortreffliche Darstellung gerade der „Analysis der Wirklichkeit" gab-
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beider das Problem des Verhältnisses von Anschauung und Begriff enthält, ohne daß man die veränderte Problem- lage durchschaute.
In Wahrheit sind die neuen Ergebnisse der „Gedanken und Thatsachen" erst vorbereitet durch die Schrift über die „Klimax der Theorien", die im Jahre 1884 erschien, zwei Jahre nachdem Liebmann von Straßburg an die Universität Jena berufen worden war, der er gerade dreißig Jahre bis zu seinem Tode angehört hat. Diese, trotz ihrer einzigartigen Klarheit und begrifflichen Schärfe verhältnismäßig viel zu wenig gewürdigte „Klimax der Theorien" aber hebt sich von der „Analysis der Wirk- lichkeit" einerseits und den „Gedanken und Thatsachen" andererseits so deutlich ab, vermittelt aber auch so be- stimmt zwischen beiden, wie etwa eine Zahl in der natür- lichen Zahlenreihe sich von dem ihr in der Reihe voran- gehenden und dem ihr in der Reihe folgenden Gliede abhebt und doch erst zwischen ihnen den vermittelnden Durchgang bildet.
Vom Ganzen des Inhaltes der Liebmannschen Werke kann hier natürlich keine Darstellung gegeben werden. Es muß genügen, die Grundposition wenigstens allgemein zu bezeichnen. Transzendentalphilosophie, — das ist der Begriff, aus dem sich die konkrete Leistung Liebmanns selbst begreifen läßt. Und die Aufgabe der Transzenden- talphilosophie könnte man am besten vielleicht mit den Worten Goethes bezeichnen: „Das Höchste wäre zu be- greifen, daß alles Faktische schon Theorie ist". Aber freilich, weil das das Höchste ist, darum begreift es mancher nie, darum wird die Transzendentalphilosophie nur von ganz wenigen begriffen und wird immer nur von ganz wenigen begriffen werden; von wenigen auch unter denen, die über sie urteilen zu dürfen glauben, die dann aber im Gros, um mit Kant zu reden, „ein Urteil, welches der Prüfung vorhergeht", abgeben. „Prüfung" aber bezeichnet auch gerade den Sinn der Transzenden-
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talphilosophie. Sie ist, wie Kant sagt, Prüfung nach „Gültigkeit und Wert" und hat, auch das sind Kants Worte, „den Probierstein des Wertes oder Unwertes aller Erkenntnisse a priori abzugeben", damit das Erkennen selbst „nach seinem Werte oder Unwerte beurteilt und unter richtige Schätzung gebracht zu werden" vermag. Dieser schlichten deutlichen Erklärung der Transzenden- talphilosophie als Kritik oder als „Gültigkeits"- und „Wert" -Philosophie gegenüber, wie sie Kant hier mit einfachen Worten gegeben hat, macht man sich aller- hand Vorstellungen über sie, nur kommt man nicht zu ihrem Begriff trotz der Kantischen Präzision. Man ver- wechselt wohl gar seine eigene Vorstellung mit dem Be- griffe selbst, bis man sich schließlich genau das Gegen- teil von alledem vorstellt, was der Begriff eigentlich bedeutet. „Begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist", das heißt dann der naiven Vorstellung soviel, wie die Tatsachen verachten oder gar leugnen. Dann aber ist glücklich der Sinn der Transzendentalphilosophie auf den Kopf gestellt und in Unsinn umgedeutet. Ich habe mit Absicht an das bekannte Wort Goethes angeknüpft. Denn daß dieser auf das Gegenständliche, Konkrete, Tatsächliche gerichtete Geist die Tatsachen verachtet oder geleugnet haben sollte, das dürfte jedem ohne weiteres als absurd erscheinen. Darum sollte es nun ebenso ohne weiteres jedem als absurd erscheinen, wenn man meinte: „Begreifen, daß alles Faktische schon Theorie ist", falle zusammen mit einer Leugnung der Tatsachen. Und wenn wir nun einen Transzendentalphilosophen wie Otto Liebmann an der konkreten, lebendigen Arbeit sehen und ihn wirklich verstehen, so verstehen wir auch das Folgende: Er verachtet und leugnet nicht die Tatsachen, das tut nach ausdrücklicher Erklärung des Transzendental- philosophen nur der Narr. Er nascht und nippt auch nicht blos von den Tatsachen, um dann darüber reden zu können, das tut nach der Ansicht des Transzendental-
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Philosophen nur der Schwätzer. Er gibt sich auch an die Tatsachen nicht blos hin als an ein totes und starres Absolutum, um dieses mystisch zu erleben und in mystischem Erlebnis blos in seiner eigenen lieben Sub- jektivität widerzuspiegeln. Das tut nach der bestimmten und unzweideutigen Erklärung des Transzendentalphilo- sophen nur der schöngeistige Phantast und Schwärmer, der wissenschaftlichen Ernst, wissenschaftliche Arbeit, wissenschaftliche Energie nicht kennt. Alledem gegen- über achtet der Transzendentalphilosoph die Tatsachen viel zu hoch, er weiß aber auch, warum er sie respektiert, und führt den Respekt vor den Tatsachen nicht blos im Munde. Denn der Respekt, den er ihnen erweist, ist der höchste Respekt, der sich ihnen erweisen läßt, er gründet sich auf den Begriff der Wissenschaft selbst, und zwar im doppelten Sinne: er sucht die Tatsachen zu begreifen, und er sucht ihre Begreiflichkeit selbst zu begreifen. Es ist vor allem die für die theoretische Transzendental- philosophie bedeutsamste Tatsache, es ist die Tatsache der Wissenschaft selbst, an die er mit liebevoller Achtung anknüpft, indem er durch logische Analysis die Be- dingungen ihrer MögUchkeit zu ermitteln sucht. Darum gerade tritt uns in den Werken Liebmanns die wissen- schaftliche Tatsächlichkeit in so reicher Fülle und Breite entgegen. Darum machte sich Liebmann nicht nur das Platonische: „Mrjöeig c?yea)^wer(»ijTog eLaoTco^'"] auch für seine eigene philosophiche Arbeit zu eigen. Er leuchtete auch in die logischen Bedingungen der Mechanik und Dynamik ebenso hinein, wie in die der Biologie.
Nun verstehen wir aber: Die „Theorie", von der Goethe hier spricht, ist darum nicht jene „graue Theorie", die er mit Recht verachtet. Sie ist der del^ooog Xoyog selbst, um den alten von Heraklit glücklich geprägten Namen in neuer Bedeutung aufzunehmen und auf sie anzuwenden. Mit diesem Namen bezeichnet auch Liebmann selbst den höchsten Begriff seiner eigenen Philosophie. Er ist ihm
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sogar zu hoch und heilig, als daß er ihn besonders oft nennen möchte. Aber wann und wo er ihn nennt, dann und da nennt er ihn mit Ehrfucht, ja mit Andacht. Der Aoyog bedeute ihm darum freilich nicht blos etwas Psycho- logisches. Aber er kann ihm auch nur eine Bedeutung haben, die die Kantischen Vernunftkritiken nicht rück- gängig machen will. Er ist nicht metaphysisch-transzen- dent, sondern metakosmisch-transzendental, um Liebmanns feiner Unterscheidung auch seinen plastischen Ausdruck zu geben. Der Aoyog ist eben logisch : Begriff. Er ist der Begriff der Begriffe, der Inbegriff transzendentallogischer Geltungsbedingung. Die Theorie in dem hier in Rede stehenden Goetheschen Sinne ist darum nicht tote Ab- straktion, und es konnte keiner die transzendentalphilo- sophische Theorie schärfer in Gegensatz zur toten Ab- straktion setzen, als Kant es tat, indem er die Begriffe ausdrücklich als „non abstracti" bezeichnete. Diesen deC^mog Xoyog, den ewiglebendigen „Geist der Transzen- dentalphilosophie", den, wie ja jeder weiß, also keines- wegs erst Kant entdeckt, vertrat und verfocht nun Liebmann mit der lebendigen Klarheit und Schärfe seines Geistes.
Liebmann begriff, und ebendarum war er Transzen- dentalphilosoph, dass die wissenschaftliche Reflexion auf die Tatsachen diese gar nicht auch nur als Tatsachen be- greifen könnte, wenn sie nicht eben als Tatsachen schon durch den Begriff konstituiert wären. Der Begriff hinkt also den Tatsachen nicht nach, das tut nur das Begreifen. Der Begriff und das Begreifen sind aber streng zu unter- scheiden. Denn damit das reflexive Begreifen der Tat- sache überhaupt möglich ist, dazu muß der Begriff als konstitutive Möglichkeitsbedingung der Tatsachen selbst schon vorausgesetzt sein. In dieser Bedeutung erfaßte Liebmann das konstitutive Wesen der Kantischen Kate- gorie. In diesem Sinne aber erklärte er auch den Glauben an sogenannte rohe und begriffslose Thatsachen
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als eine blosse „doktrinäre Fiktion", Damit haben wir auch den tiefsten Sinn dessen bezeichnet, was er die „Logik der Tatsachen" genannt hat. Sie ist freilich ge- rade das Gegenteil von dem, was das noch nicht auf den Standpunkt wissenschaftlicher Philosophie gelangte Denken darunter verstehen mag, wonach die eben erwähnte „doktrinäre Fiktion" von sogenannten rohen und begriffs- losen Tatsachen, so etwas wie eine Logik haben sollten. Dahingegen bedeutet nach Liebmann die „Logik der Tat- sachen", daß die Tatsachen erst Tatsachen sein können auf Grund ihrer transzendentallogischen Konstituiertheit. Damit vollzieht Liebmann auch für seinen Teil die Kopernikanische Wendung Kants und er akzeptiert den Kantischen Satz, daß der Verstand die Gesetze nicht aus der Natur schöpft, sondern sie dieser vorschreibt. Das ist freilich nicht ein subjektiver Verstand von Hinz oder Kunz; der kann immer erst die Gesetze aus der Natur schöpfen. Der Verstand, der hier in Rede steht, ist weder ein Ding oder Wesen noch eine Fähigkeit oder Ver- mögen oder Tätigkeit, sondern der Inbegriff logischer Gesetzmässigkeit, auf Grund dessen Liebmann die Natur selbst als „objektive Welt-Logik" bezeichnen kann und in dem das bestimmt ist, was die Wissenschaft von der Natur als das „Prinzip der Begreiflichkeit der Natur" bezeichnet, ohne das die Natur und die Wissenschaft von der Natur nicht möglich wäre. Darum hört für den Transzendentalphilosophen auch die Natur auf, jenes mystische Absolutum und Allwesen zu sein, das sie für die dogmatische Naturspekulation der Renaissance war und für den Naturalismus bis auf den heutigen Tag ge- blieben ist. Als „objektive Weltlogik" ist sie in jenem nüchternen wissenschaftlichen Sinne zu fassen, in dem Kant sie als „Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung" oder als „das Dasein, sofern es nach allgemeinen Gesetzen be- stimmt ist", gefasst hatte. Aus diesem Grunde hatte sich schon der jugendliche Liebmann jene beiden Er-
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widerungen zu eigen gemacht, die auf die Sentimentalität von Hallers:
„Ins Innere der Natur dringt kein erschaffner Geist;
Glückselig, wem sie nur die äußre Schale weist", erteilt worden waren. Einmal die naturfreudige Erwiderung des lebensmutigen Künstlers, die Goethe gegeben hatte: „Natur hat weder Kern noch Schale; Alles ist sie mit einem Male." Sodann die wissensfreudige Erwiderung des nüchternen Denkers und Forschers, die Kant gegeben hatte: „Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Objekte". Zwei Erwiderungen, die in der Form so entgegengesetzt sind, wie phantasievolle Kunst und be- grifflich strenge, prosaisch nüchterne Wissenschaft, die sich aber in ihrem Inhalte nicht nur vereinigen lassen, sondern sich geradezu fordern und decken. Denn es ist im Sinne Kants und Goethes, zu sagen: Nur wenn das Ttdvra xard rov loyov yCveTau Heraklits wahr ist, kann die yiveaiQ selbst sein und kann die Wissenschaft in der ysveaiq den loyog entdecken, also wahrhaft Wissen- schaft sein, so wenig der Uyog ebendarum auch in der yiveaLg aufgehen kann. Was der eigentliche Transzen- dentalphilosoph unter den Heroen deutscher Kunst gesagt, das unterschreibt auch Otto Liebmann:
„Was sich nie und nirgends hat begeben, Das allein veraltet nicht." Ebendarum aber ist auch die Sphäre des loyog nicht ausgemessen durch die Konstituierung der Natur. Und wenn äußerlich im Rahmen der Philosophie Liebmanns die theoretische Philosophie einen breiteren Raum einnimmt, als Ethik und Ästhetik, so hat [er doch der praktischen Philosophie ausdrücklich den logischen Vorrang vor der theoretischen zuerkannt, wie ich im Sinne Liebmanns lieber sagen möchte, anstatt mit Kant vom Primat der praktischen Vernunft gegenüber der theoretischen zu sprechen. Im Geiste Kants und im Geiste Liebmanns
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dürfte es aber sein, wenn ich von der umfassenderen Sphäre des Reiches der Zwecke gegenüber der der Wissen- schaft spreche, der in jenem der allgemeine loyog ihre bestimmte Stelle anweist. Darum faßte Liebmann, wie auch Windelband, dem er sich unter allen lebenden Denkern am nächsten wußte, die Philosophie als Selbst- verständigung des allgemeinen Kulturbewußtseins. Er erkannte den allgemeinen Kulturzusammenhang als den notwendigen Mutterboden der Kultur des Einzelnen. Er begriff, daß der Einzelne, der sich in die Kontinuität der Geschichte nicht einordnet oder von ihr loslöst, für alle Kultur verloren ist, daß er Nichts ist, wenn er nicht ein Glied der Kulturgemeinschaft ist. Und so wenig er als kritischer Philosoph dem Wahne anhängen konnte, daß die Philosophie eine Universalwissenschaft sei, die alle besonderen Kulturinhalte zu den ihrigen zu machen habe, so wies er ihr doch die Kulturmission einer Verständigung über die Kulturprinzipien und ihren allgemeinen Zusammen- hang im loyog zu. Denn er erkannte, daß eine Kultur, die sich selbst in ihrer inneren Einheit nicht versteht, aus- einanderklaffen muß in ein Aggregat von bloßen Fertig- keiten und äußeren Techniken, damit aber aufhört, Kultur zu sein. In diesem Sinne ist sein Wort zu verstehen: „ein Zeitalter ohne Philosophie war ein Zeitalter ohne Kultur." Diese Überzeugung von der Aufgabe einer durch den loyoq getragenen und geeinten Kulturgemein- schaft aber war seine Religion. Keinem konnte tiefer als Liebmann das Wort Goethes aus der Seele ge- sprochen sein:
„Und so lang du das nicht hast.
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunkeln Erde." Das bedeutet: Das Individuum wird nur, indem es dem erstirbt, was blos Individuum ist. Das Individuum wird zur Individualität nur, wenn es, sei es im Großen
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oder im Kleinen, wie Schiller sagt, „Ewiges in die un- endliche Zeit zu werfen" sucht. Nur durch Hingabe seiner Subjektivität an das objektive Gesetz und die objektive Ordnung der allgemeinen Aufgabe, die in der Kultur zur Darstellung gelangt, erreicht es seine Lebensbe- stimmung. Denn, um wieder mit Goethe zu reden: „Nach seinem Sinne leben ist gemein. Der Edle strebt nach Ordnung und Gesetz." Nach Ordnung und Gesetz in tätiger Liebe für die Gemeinschaft und in der Gemeinschaft der Kultur zu wirken und zu arbeiten, das ist darum der Sinn des Lebens, wie ihn der Philosoph zu fassen hat, und wie ihn auch Liebmann faßte. Der ewige Aoyog und die ^Ayanri, die tätige Liebe der Arbeit für die Idee der Ge- meinschaft, waren daher die göttlichen Leitsterne der Lebensordnung dieses Edlen. In ihrem Dienste wirkte er als philosophischer Schriftsteller, als philosophischer Lehrer, wie als Mensch. Und als schwere Krank- heit ihn gezwungen hatte, seiner öffentlichen Tätigkeit schmerzvoll zu entsagen, da hielt er, in unerschütterter innerer Geisteskraft, den Blick zu jener seiner Bestimmung und seinem Gesetze empor, die seinem Leben Inhalt und Fülle gegeben hatten und gaben, bis es in der Nacht zum 14. Januar 1912 erlosch. Sein ganzes Sein und Wirken aber, als Denker und Forscher, als Lehrer und als Persön- lichkeit bezeichnet am besten sein eigenes schönes Wort: „Wenn ich Altäre zu errichten hätte, so würde ich dem Aoyog und der ^Aydni]^ der Vernunft und der Liebe, Altäre errichten."
Druck von C. A. Kaemmerer 8c Co.. Halle a. S.
219 Inhalt.
pag.
Vorwort des Herausgebers V
Vorwort des Verfassers zum Neudruck XIII
Einleitung 3
Erstes Kapitel: Die Hauptlehre und der Hauptfehler Kants . 20 Zweites Kapitel: Die idealistische Richtung. Fichte, Schelling,
Hegel 70
Drittes Kapitel: Die realistische Richtung. Herbart .... 111
Viertes Kapitel: Die empirische Richtung. Fries 140
Fünftes Kapitel: Die transscendente Richtung. Schopenhauer 157
Schluß 205
Nachwort 217
Anhang: Otto Liebmann 223
Neudrucke seltener philosophischer Werke.
Herausg. von der Kautgeseüschaft.
Mit der Veröffentlichung von „Neudrucken" seltener pfiilosophischer Werl^e erweitert die Kantgesellschaft den Kreis ihrer Aufgaben und ihrer literarischen Unter- nehmungen. Diese auf eine Anregung von Prof. Dr. M e n z e r in Halle zurückgehende Veranstaltung erstreckt sich auf solche Schriften, die in die Entwicklung des Geistes- lebens der beiden letzten Jahrhunderte in bedeutsamer Weise eingegriffen haben und die trotz ihrer Unentbehr- lichkeit aus dem Buchhandel verschwunden sind. Eine besondere, aber doch nicht einseitige Berücksichtigung sollen dabei Werke, Kommentare und Kritiken erfahren, die zur Philosophie Kants in Beziehung stehen.
Da diese Neudrucke nach Möglichkeit von jeder Modernisierung absehen und ein möglichst getreues Bild der Originiale bieten sollen, so werden sie auch, abgesehen von ihrem Wert für die Philosophie, einen bedeutenden kulturgeschichtlichen Reiz besitzen und ferner für die Sprachforschung von Belang sein, da sie dieser eine Reihe interessanter Quellen leicht zugänglich machen.
Geplant ist die allmähliche Veröffentlichung von etwa 25 Bänden. Erschienen ist bis jetzt ausser dem vorliegen- den Band II:
Band I: G. E. Schulze's Aenesidemus. Besorgt von Dr. A. Liebert. Mk. 5.—, geb. Mk. 6.— ; als Band III wird erscheinen Salomon Maimons Versuch einer neuen Logik, herausg. von Dr. Bernh. Carl Engel; als Band IV/ V voraussichtlich JohannNicolausTetens' Philo- sophische Versuche (erschienen 1777).
Den einzelnen Bänden werden am Schlüsse An- merkungen beigegeben, die neben anderen eine kurze Übersicht über das Leben, den Bildungsgang und die Schriften des Autors bringen.
Die Jahres-Mitglieder der Kantgesellschaft erhalten diese Neudruck-Bände kostenfrei.
Bestellungen auf diese wichtige Serie werden von jeder Buchhandlung angenommen und ausgeführt.
Berlin W. 35, im März 1912.
Reuther & Reichard.
Vorstand: Meyer, Geh. Oberreg.-Rat, Kurator der Universität Halle. Menzer, Dr., Professor an der Universität Halle. Krueger, Dr., Professor an der Universität Halle. Stammler, Dr. jur. et phil. (h. c), Professor, Geh. Justizrat. Gerhard, Dr., Direktor d. Univ.-Bibliothek, Geh. Reg.-Rat. Kern, Dr. med. et phil. (h. c), Professor, Obergeneralarzt. Lehmann, Dr. (h. c), Geh. Kommerzienrat. Vaihinger, Dr., Professor, Geh. Reg.-Rat, Geschäftsführer. Liebert, Dr., stellvertretender Geschäftsführer.
Übrig Mitglieder des Ver waltungs
Aus- schusses
:{
Die Kantgesellschaft ist gelegentlich der hundertsten Wiederkehr des Todestages Immanuel Kants (12. Februar 1904) von dem Unter- zeichneten begründet worden und verfolgt den Zweck, durch das Studium der Kantischen Philosophie die Weiterentwicklung der Philo- sophie überhaupt zu fördern. Ohne ihre Mitglieder irgendwie zur Gefolgschaft gegenüber der Kantischen Philosophie zu verpflichten, hat die Kantgesellschaft keine andere Tendenz als die von Kant selbst ausgesprochene, durch das Studium seiner Philosophie philo- sophieren zu lehren.
Ihren Zweck sucht die Kantgesellschaft in erster Linie zu ver- wirklichen durch Unterstützung der „Kantstudien". Die Mitglieder der Kantgesellschaft erhalten diese philosophische Zeitschrift (jährlich 4 Hefte im Umfang von ca. 30 Bogen = 500 Seiten) gratis und franko zugesandt; dasselbe ist der Fall mit den Ergänzungsheften der „Kant- studien", welche jedesmal eine grössere geschlossene Abhandlung enthalten und von denen gewöhnlich ebenfalls vier im Jahre erscheinen (im Gesamt-Umfang von ca. 25 bis 33 Bogen = 450—550 Seiten).
Das Geschäftsjahr der Kantgesellschaft ist das Kalenderjahr; der Eintritt kann aber jederzeit erfolgen. Die bis dahin erschienenen Publikationen des betr. Jahrganges werden den Neueintretenden nach- geliefert.
Der Jahresbeitrag zur Kantgesellschaft (20 Mk.) wird erbeten an das Bankhaus H. F. Lehmann in Halle a. S., oder direkt an den stellvertretenden Geschäftsführer Dr. A. Liebert, Berlin W. 15, Fasanenstrasse 48.
Statuten, Jahresberichte, Mitgliederverzeichnisse u. s. w. sind durch den genannten Dr. Liebert gratis und franko zu beziehen.
Beitrittserklärungen nimmt Ebenderselbe jederzeit entgegen.
Halle a. S., im März 1912. Relchardtstr. 15.
Der Geschäftsführer:
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Verlag von Reulher & Reichard, Berlin W. 35. Vaihinger, H., Die Philosophie in der Staatsprüfung. Winke
für Examinatoren und Examinanden. Zugleich ein Beitrag zur Frage der ptiilosophischen Propaedeutik. Nebst 340 Thematen zu Prüfungsarbeiten. M. 2, — .
Vaibingcr, f)., jVietzfchc als pbUofopb. ©ritte, butd)ge= fef)enc unt) eint>eitevte "-^luflage. 'J!)l. 1,—, geb. 9!)c. 1,60.
Spranger, E., Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft.
Eineerkenntnistfieoretisch-psyctiologischeUntersuchung. M. 3,—.
Eucken, R., Hauptprobleme der Religionsphilosopbie der Gegenwart. Vierte u. fünfte verbesserte u. erweiterte Auflage. M. 3—, geb. M. 4,—.
Kaftan, J,, Kantt der phUofopb dss protcftantismus.
9)?. —50.
Troeitsch, E., Das historische in Kants Religionsphilosophie.
Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte M. 3, — .
Bauch, B., Luther und Kant. M. 4,—.
Adickes, E., Kant COntra Haeckel. Für den Entwicklungs- gedanken — gegen naturwissenschaftlichen Dogmatis- mus. Zweite, vermehrte und verbesserte Auflage. M, 2,40, geb. M. 3,—.
paulfcn, f., pbUofopbiainiUtatis. @cgen5?terifaliömu^ unb 9^aturaligmuö. "Jünf ^t)t)anb(ungen. ©ritte unb vierte oermef)rte «Jluflage <=m. 2-, geb. m. 3,-.
Koppelmann, W., Die Ethik Kants. Entwurf zu einem Neu- bau auf Grund einerKritik des Kantischen Moralprinzips. M. 2,80.
Koppelmann, W., Kritik des sittlicben BewUSStseins vom philo- sophischen und historischen Standpunkt. M. 6, — , geb. M. 7,—.
Pöhlmann, H., Rudolf Euckens Theologie. Mit ihren philo- sophischen Grundlagen dargestellt. M. 1,50.
Verlag von Reuther &Reichard in Berlin W. 35.
Hans Vaihinger: Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fik- tionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Herausgegeben von H. V. Mk. 16. — , in Halbfranz gebunden Mk. 18. — „Ein philosophisches Ereignis". (Tägl. Rundschau.)
»Diese Schrift ist in mehrfacher Beziehung eine fast einzig- artige Erscheinung". (Lit. Zentralblatt.)
Eduard Spranger: Wilhelm von Humboldt und die
Humanitätsidee. Mk. 8.50, geb. Mk. lo.— .
„ darf zu den bedeutsamsten Erscheinnngen der letzten Jahre
auf dem Gebiete der deutschen Geistesgeschichte gerechnet werden."
(Pädag. Archiv.)
Fritz Medicus : J. G. Fichte. Dreizehn Vorlesungen.
Mk. 3.—, geb. Mk. 3.80. „ — Durchweg getragen von einem grossen Ernst des Wahrheitsstrebens, von einer mannhaften, offenen und ehrlichen Gesinnung — "
(R. Eucken, Kantstudien.)
Wilhelm Münch: Jean Paul, der Verfasser der Levana
Mk. 3.—, geb. Mk. 3.60. „Mit zu dem Besten, was über Jean Paul geschrieben worden
ist, gehört das Buch von Münch". (Lit. Handweiser.)
Otto Willmann: Aristoteles als Pädagog und Didak- tiker. Mk. 3.— geb. Mk. 3.60. „Niemand, der sich ernsthaft mit der geschichtlichen Entwicklung der pädag. Prinzipien beschäftigt, wird in Zukunft vor Willmanns meister- haftem Buche vorübergehen dürfen." (A. Buchenau, Frankf. Zeitg.)
Alfred Heubaum: J.H.Pestalozzi. Mk. 4.—, geb. Mk. 4.80.. „Dem Buche gebührt unbestritten der Platz an der Spitze der heutigen, fürwahr nicht kleinen Pestalozziliteratur." (Lit. Handweiser.)
Eduard Spranger: Wilhelm von Humboldt und die
Reform des Bildungswesens. Mk. 3.—, geb. Mk. 3.70. , — gehört nach seinen wissenschaftlichen und formalen Vorzügen zu den hervorragendsten Erscheinungen der neueren pädag. Literatur." (Deutsche Schule.)
(Die letzten 4 Werke bilden Band I — IV der von Rud. Lehmann herausgegebenen Sammlung: Die grossen Erzieher.)
Neuer Verlag von Reuther & Reichard in Berlin W. 35.
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