ÖeSß LIBRARY
l ERNST UND AUGUST HORNEFFER
DAS
, KLASSISCHE IDEAL
REDEN UND AUFSÄTZE
VERLAG JULIUS ZEITLER • LEIPZIG • 1906
DEM ANDENKEN EINES ZU FRÜH GESTORBENEN
VORREDE.
' Dies Buch ist kein geschichtliches. Es will der Gegenwart dienen. Es geht von der Überzeugung aus, daß eine Erneuerung der deutschen Bildung sich vollzieht, und will hinweisen auf das klassische Ideal als das Mittel und die Losung dieser Erneuerung. Den reinsten Ausdruck hat das klassische Ideal im griechischen und römischen Altertum gefunden; darum kehren zu ihm die nachfolgenden Darlegungen am häufigsten zurück. Es war ein Irrtum zu meinen, daß das Altertum wohl künstlerisch, aber nicht moralisch und religiös zum Vor- bild dienen könne. Der Irrtum hatte zur Folge, daß man sich auch in der Kunst vom Altertum abwandte und es heute für abgetan hält. Nur eine verirrte Zeit konnte dahin kommen. Wir glauben im Gegenteil, daß die Wirkung des griechischen Geistes eine noch tiefere v/erden wird als früher; wir wünschen, daß das Altertum auch in Religion und Moral vorbildlich werden und so die deutsche Kultur zu einer Einheitlichkeit führen möge, die ihr bis jetzt gefehlt hat.
Das Buch zerfällt in zwei selbständige Teile, einen vorwiegend ästhetischen und einen ethisch-religiösen. Um der Überzeugung Ausdruck zu geben, daß dieselben allgem-einen Grundsätze auf beiden Gebieten bestimmend sein müssen, damit eine echte und dauernde Bildung zustande kommt, haben wir die Teile in einem Bande vereinigt. Wir bitten aber ausdrücklich, jeden Verfasser nur für seine eigenen Arbeiten verantwortlich zu machen. Verfasser des ersten Teils ist August Horneffer, des zweiten Ernst Horneffer.
INHALT.
ERSTER TEIL von August Horneffer. Seite
L Vorbilder ii
IL Die deutsche Musik 28
III. Die deutsche Prosa 47
IV. Die Kunst des Vortrags 70
V. Cicero und die Gegenwart 94
VI. Zur antiken Lyrik 130
VIL Krankheiten des Willens. Versuch über das moderne
Problem 149
ZWEITER TEIL von Ernst Horneffer.
I. Der Stil des Lebens 201
II. Die künftige Religion.
1. Nietzsche und die Staatsphilosophen als Erzieher. . 219
2. Kirchliche oder persönliche Religion 265
3. Der Mensch als Schöpfer, die Religion des neuen Heidentums 314
ERSTER TEIL.
Horneffer, Das klassische Ideal.
I.
VORBILDER.
Unsere Zeit bemüht sich ernstlicher um die Kunst, als es in Deutschland seit langem der Fall war. Darum muß sie als eine ihrer wichtigsten Aufgaben ansehen, ihr Verhältnis zu früheren Kunstepochen richtig zu gestalten. Die Vergangenheit ist das große Hilfsmittel der Kultur. Sie liegt heute bereit da. Das Studium der Geschichte und aller ihrer Abzweigungen ist hoch entwickelt. Wir können frühere Lebens- und Kulturformen neu durchleben, wir können Vergleiche anstellen, Grundsätze bilden und verwerten. Aber die Vergangenheit ist auch die große Gefahr für die Kultur. Das zeigt sich heute nicht minder, und Nietzsche hat uns am besten darüber aufgeklärt in seiner Betrachtung über den Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Seitdem sie geschrieben ist, hat sich freilich vieles ver- ändert. Er kannte noch nichts von den starken Gegenkräften, die sich aufgemacht haben und die Herrschaft der Historie zu beseitigen sich anschicken. Aber trotzdem bleibt das, was er sagt, auch für uns noch zu Recht bestehen. Nach wie vor sind die Gelehrten auch in der Kunst und in der Philosophie mächtig; nur daß ihnen jetzt diejenigen, die von der Gegenwart allein leben wollen, den Rang streitig machen. Und diese sind vielleicht noch weiter vom rechten Wege entfernt als jene.
II I*
Erster Teil.
Weshalb braucht ein Künstler die Vergangenheit? Weil er Vorbilder braucht, die die Gegenwart nicht geben kann. Die Vergangenheit soll erziehen. Wie kann sie es? Was ist und was leistet überhaupt Erziehung zur Kunst? Man kann doch einwenden und hört es heute von vielen Seiten tun, daß Kunst nicht anerzogen werden kann; sie muß da sein; man erzieht höchstens Künstelei, Klassizismus u. dgl. Aber das Problem ist kein anderes als das allgemeine pädagogische. Jede Erziehung hat das Ziel, zu unterstützen, zu stärken, Richtung zu geben, zu beschleunigen. Vorausgesetzt ist immer ein Schatz von Natur und Begabung bei dem zu Erziehenden. Ohne ihn wäre die Mühe umsonst. Die Furcht aber, die so vielfach vor der Ver- gangenheit gehegt wird, ist nicht begründeter als die des Zög- lings vor dem Lehrer. Wenn die Zeit schwach ist und den Antrieb zur Kultur nicht aus eignem Wollen schöpft, wird sie der Ver- gangenheit unterliegen und entweder zur Tatlosigkeit oder auf Irrwege geführt werden. Ohne Zweifel findet sich beides heut- zutage. Aber ebenso sicher ist, daß viele der Gegenwart unter- liegen, daß sie nicht imstande sind, über deren Beschränkung sich hinauszuheben, weil ihnen die Unterstützung durch die Ver- gangenheit fehlt. Die Vergangenheit lehrt hervorzusuchen, was in der Gegenwart und in dem einzelnen an höherem Streben lebt, sie befestigt Neigungen, die der Zeittendenz zuwiderlaufen. Es ist klar, daß ihre Gefahr um so geringer wird, je größere ursprüng- liche Kraft der Lernende zur Verfügung hat. Niemand aber kann verkennen, daß heute viel Kraft, teils latent, teils offen, vor- handen ist, reichlich genug, um die Schäden, die das Lernen der Vergangenheit bringen kann, auszugleichen und dessen unge- heure Vorteile sich zunutze zu machen.
Alles Lernen, so unentbehrlich es für menschliche Entwick- lung ist, hat eine Schwierigkeit und einen Übelstand: es veranlaßt zur Nachahmung des Vorbilds, und verführt dadurch nicht selten zur Unnatur und Unehrlichkeit, die mit der Kultur unverträg- lich sind. Das Nachahmen ist nicht an sich verwerflich, vielmehr in der Ordnung und die Quelle alles menschlichen Fortschritts. Das Kind käme nicht in ein paar Jahren über zahllose Kultur- stufen hinweg, wenn es nicht mechanisch nachahmte, was es
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Vorbilder.
von den Eltern hört und sieht. Das Verständnis kommt erst allmählich hinzu und mit ihm gewinnt das Lernen an Schwierig- keit. Eine Beeinflussung von außen hat jetzt mit dem selb- ständigen Fühlen und Handeln des Lernenden zu kämpfen. Er will sich natürlich und von innen heraus entwickeln, muß sich also gegen Dinge, die über und wider seine Entwicklung gehen, zur Wehre setzen. Daher der Widerstand, den jedes Geschöpf seinem Erzieher bereitet und desto heftiger, je kräftiger und wertvoller es ist; die schwächeren Naturen biegen sich leichter, haben oft einen stärkeren Nachahmungstrieb und freuen sich, wenn ihnen von außen Halt und Richtung gegeben wird. Ebenso ist es mit der Erziehung einer ganzen Zeit. Der Zweck: abzu- kürzen, zu verhüten, daß die Wege des Lernens und Probierens, welche die Vergangenheit gemacht hat, noch einmal gegangen werden müssen, kämpft mit der Schwierigkeit, fremde Erfah- rungen als eigne ansehen zu lernen, sie sich zu eigen zu machen. Diese Aneignung wird im ersten Stadium Kennen und Wissen sein, muß sich aber in Können und Handeln umsetzen; denn das Wissen hat an sich keinen Wert und verleiht auch keine Kraft, es zehrt sogar, wie Goethe schon sah, an der Kraft. Die Aufgabe ist, zu erwerben was man ererbt, das Gelernte mit dem Eignen, Gewollten und Gelebten zu eins zu machen, sich in dem Vorbild wiederzuerkennen, und hieraus muß sich allmählich eine neue Selbständigkeit entwickeln. Geschieht dies nicht, unterliegt eine Zeit der Vergangenheit, so ist die mangelnde Kraft be- wiesen. Das Epigonentum ist eine Erscheinung, die sich nicht machen und nicht wegschaffen läßt. Sind wir Epigonen, so hilft uns kein Suchen nach Originalität und kein Verleugnen der Vergangenheit davor. Aber mir scheint, die heutige Zeit ist es nicht, wenigstens nicht ihrer Grundströmung nach, so schwierig und kompliziert auch ihr Verhältnis zur Vergangenheit ist. Je größer, geschlossener und reifer die Vergangenheit, desto schwerer wird ein unreifes, in der Entwicklung begriffenes Volk wie die Deutschen mit ihr fertig werden. Die Griechen z, B. hatten es leichter oder doch einfacher, da die fremden Einflüsse von künst- lerisch untergeordneter Seite zu ihnen kamen und die Richtung der griechischen Kultur nicht bestimmen konnten. So nähert
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Erster Teil.
sich der Gang ihrer Kultur einer einheitlichen Linie. Aber weil sie alles aus sich herausziehen mußten, kamen sie auch schneller zu Ende. Es fehlten ihnen Bereicherungen und Befruchtungen durch fremde Kulturen, die erneuernd, freilich auch zeitweise ablenkend und retardierend wirkten. Die neuere Zeit ist voll solcher Einflüsse und dadurch ungleich reicher und, wie ich meine, dauerhafter, aber auch komplizierter und unharmonischer. Wir haben keine Möglichkeit dies zu ändern, auch wenn wir es wollten, und zu antiker Gradlinigkeit zurückzukehren, etwa indem wir vor der Übermacht der Vergangenheit davonlaufen statt sie zu überwinden. Der einzige Weg zur Zukunft geht durch die Vergangenheit. Das einzige Mittel aber, auf ihm vor- wärts zu kommen, ist, tiefe und feste Wurzeln in die Gegenwart zu schlagen. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, wenn man meint zur Kultur und Kunst zu kommen, indem man sich los- löst und die tiefen Probleme und mannigfachen Schwierigkeiten abwirft, deren Schauplatz und Kampfplatz die moderne Seele ist. Ja die Erziehung durch die Gegenwart ist Grundlage der höheren durch die Vergangenheit. Man muß auf seinen Füßen stehen und Glied seiner Zeit sein, um der Früchte reiferer Epochen teilhaftig werden zu können. Die Romantik, oder wie man sonst jene Richtung nennen mag, die in einer blauen Ferne vor uns oder hinter uns nach Schönheit sucht, wird niemals das leisten, was die Kunst leisten soll: hindurch und hinüber führen, aber nicht herum und vorbei. Sie ist von vornherein dadurch verurteilt, daß sie es nicht aufnimmt mit den schwersten Rätseln und Wehen ihrer Zeit. Sie speist sich aus Quellen, deren Wasser erborgt ist, und sieht nicht, daß alle Schönheit unfruchtbar ist, die nicht aus uns geboren und von unserer Zeit gepflegt und genährt wird. Man kommt um keinen Schritt weiter, wenn man sich und seine Zeit häßlich findet; denn man kann sich doch nicht aus der Realität retten und erreicht nicht mehr als der Vogel Strauß, der den Kopf in den Sand steckt, um seinen Ver- folgern zu entgehen. Es liegt etwas Negatives und nicht selten Verläumderisches in den Produktionen der Romantiker, welcher Art sie auch sein mögen, während doch die Kunst ihrem Wesen nach positiv ist und verherrlichen soll. Schönheit und Feinheit
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Vorbilder.
der Form aber, so dankbar man auch gerade in Deutschland
für sie sein muß, hat wenig Wert, wenn sie an einen erborgten Gehalt sich anlehnt und selber erborgt ist; denn es ist leicht, Mäßigung und Übersicht zu bewahren, wo man gar nicht oder nur mit einem Bruchstück seiner Seele beteiligt ist, aber es ist schwer, schön zu sein, wenn man sich ganz einsetzt, wie es jeder wahre Künstler tut. Auf ebenso falschem Wege sind jene mit den Romantikern verwandten Einsiedler, die sich absondern und auf Verständnis und Publikum verzichten. Sie vergessen, daß das Publikum unentbehrlich ist, wenn auch nur als korrigierendes und moderierendes Element, damit ein Künstler gedeihen kann. Der Künstler darf nicht exklusiv sein, er muß seine Wirkung und die Gegenwirkung der Empfänger fühlen, wenn er nicht ins Extrem geraten will. Gewiß fehlt ein deutsches Kunstpublikum; aber daraus folgt nicht es zu entbehren, sondern es zu schaffen. Der Naturalismus ist die andere Hauptform unseres viel- gestaltigen Strebens und Irrens. Er will der Vorbilder entraten und glaubt alles aus sich selbst schaffen zu können, kann aber ebenfalls nie zur Kunst kommen. Er bleibt freiwillig vor ihrer Tür stehen ohne einzutreten, wie oft genug dargelegt worden ist. Er hat die Ehrlichkeit vor den Romantikern voraus, muß aber durch seine Unbildung und Barbarei hinter ihnen zurück- stehen. In Zusammenhang mit ihm steht die von Zeit zu Zeit wieder Luft schöpfende Richtung, die sich für originales Deutsch- tum (oder auch Germanentum) begeistert. Der Einwand gegen sie ist schon öfter gemacht worden: es ist ein Unding und weder möglich noch wünschenswert im Sinne der Kultur, mit autoch- thonen Faseleien der Kunst zu Hilfe zu kommen. Wir sind deutsch, und sind wir es nicht, so hat die Mahnung, deutsche Art zu wahren und zu zeigen, nur den Erfolg, uns in die Romantik und Affektation hineinzutreiben. Man unterschätzt die Kraft, die heute vorhanden ist, wenn man fremdländische Einflüsse scheut. Man frage sich nur, was es in Deutschland Gutes gäbe, in der Dichtkunst, der bildenden Kunst und in der Musik, ohne das Schülerverhältnis zum Ausland, besonders zu Griechen- land und zu den romanischen Völkern. Dies Schülerverhältnis soll nicht aufhören, sondern es soll noch stärker werden.
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Erster Teil.
Welche Vergangenheit wird erzieherisch wirken? Nicht jede natüriich, sondern die, welche vollkommener ist als unsere Zeit. Der Erzieher muß zwei Eigenschaften haben, erstens muß er seinem Zögling verwandt sein, dem gleichen Ziele zustreben, und zweitens muß er weiter sein als dieser. Die natürlichen Erzieher sind die Eltern. Es ist falsch, alle möglichen Zeiten und Völker aufzusuchen und zu glauben, daß Bildungselemente desto wertvoller seien, je besonderer fremdartiger und in desto jüngerer Zeit sie entdeckt sind. Es mag Früchte tragen, sich mit vielen Kulturen und deren Schicksalen bekannt zu machen, aber nicht für die Erziehung zur Kunst. Das Fremdartige ist schwer zu assimilieren und das Primitive kann nichts helfen. Eine vergangene Zeit oder ein Mensch einer früheren Epoche wird dann vorbildlich wirken, wenn in ihr oder in ihm die Schwierig- keiten überwunden und gelöst erscheinen, denen die Gegenwart unterliegt. Sie müssen auch dort vorhanden und ein Kampf muß sichtbar sein; aber der Kampf hat zum Siege geführt. Die gesunden ausheilenden Eigenschaften waren stärker als die kranken zerstörenden.
Sehen wir uns nach Epochen der Vergangenheit um, die reife und uns verwandte Kunst und Kultur ihr eigen nannten, so finden wir im höchsten Sinne nur das griechische Altertum. Man hat heute den Glauben an die erziehende Kraft der Griechen viel- fach verloren, man ist des Altertums müde, weil man verlernt oder nie gelernt hat, es richtig zu benutzen. Daran mögen die Philologen einen großen Teil der Schuld tragen. Sie, die Träger und Vermittler des Altertums sein sollten, haben es uns, durch den Schulbetrieb und den Wissenschaftsbetrieb, am meisten und gründ- lichsten verleidet. Aber man lasse sich nicht irre machen: das Altertum lebt und ist stärker als je; es hat seine erziehende Kraft hundertfältig bewiesen und wird sie auch an uns beweisen. Was in Europa seit dem Mittelalter in der Kunst versucht worden ist, verdankt den besten Teil seiner Erziehung dem Altertum. Hiervon ist selbst die Musik nicht ganz auszunehmen. Die Be- mühungen der deutschen Poesie und bildenden Kunst seit 150 Jahren sind vom Altertum geleitet worden, wenn auch viel- fach nur indirekt und unter dem steten Widerstand von mehreren
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Vorbilder.
Seiten aus. Man wehrte sich, wenn man gegen das Altertum focht, entweder gegen die falsche (lähmende oder irreleitende) Benutzung desselben, das war ein berechtigter Kampf; oder man wehrte sich gegen das Ausländische und pries einheimische Vor- bilder, das war Unverstand; oder man wollte von Vorbildern überhaupt nichts wissen, das war Barbarei. Der Kampf dauert heute noch fort. Wir wollen ihn mit frischer Kraft aufnehmen! Die Hauptfrage ist meiner Meinung nach die, worin man das Vorbildliche sucht. Man hat fast immer den Irrtum be- gangen, es im Gehalt zu suchen, während es allein auf formalen Dingen beruht. Das, was gelernt werden muß, ja was allein gelernt werden kann, ist die Form. Hieran müssen wir fest- halten. Daß ein Künstler sich Stoffe aus der Vergangenheit sucht und darum Geschichts- und Sagenstudien macht, mag gut und nützlich sein; mit dem vorbildlichen Wert der Vergangenheit hat es nichts zu tun. Das Vorbildliche liegt nicht in den Stoffen, sondern in der Form. Es gibt keine tiefgehendere Frage in der Kunst als die nach der Form. In Deutschland sind freilich wenige und waren immer wenige, die dies zugeben. Es fehlt das Interesse und der Sinn für die Probleme der Form. Man begreift nicht, wie etwas Äußerliches so ernst genommen werden kann, und unter tüchtigen Männern ist die Ansicht verbreitet, daß ein starkes Hervorheben des formalen Elements Degeneration verrate. Das ist gleich falsch für die Kultur im allgemeinen wie für die Kunst im besonderen und verrät einen durchaus unklaren Begriff von Kultur und Kunst, sowie eine mangelhafte Einsicht in die Geschichte. Man darf ihnen die Frage vorlegen, was sie von dem Forminteresse der Griechen halten? Jeder weiß, wie groß es von Anfang der griechischen Kultur an war. Bereits Homer zeigt die größte Liebe für das Technische und die höchste Delikatesse in der Form und seine Epen, die man für Naturpoesie halten konnte, sind kunstreicher als die künst- lichsten Produkte deutscher Dichtung. Noch weiter gehen die Lyriker und Tragiker; es ist ein fortlaufender Kultus des For- malen. Und doch wird niemand diese Poesie, welche die große griechische Zeit hervorbrachte und verherrlichte, degeneriert nennen wollen. Man kann auch das Mittelalter anführen und
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Erster Teil.
die Verächter der Form fragen, ob sie in der gotischen Archi- tektur keinen Formenthusiasmus finden? Man baute Dome mit endlosem Zierat, und es war Höhe, nicht Tiefstand oder Rückgang menschhcher Kraft und Kunst, daß der Stifter sein Geld hingab für nutzlose Formenpracht und der Baumeister sich nicht genug tun konnte in nutzloser Formenschönheit. Das mangelnde Verständnis und mangelnde Gefühl dagegen für die Form zeigt einen Tiefstand der Kultur, der in Deutschland leider fast allgemein ist, so viel einzelne Männer von jeher dagegen gekämpft haben. Man schätzt und liebt die Kunstwerke nur, indem man sie vergewaltigt, das stoffliche Element herausnimmt und das formale übersieht. Und die Künstler sind nicht imstande oder nicht willens, dem zu steuern. Welch anderes Bild zeigt eine Kulturepoche wie das Altertum! Jeder Künstler fand die natürliche und unerbittliche Forderung vor, die Formen, die Regeln, die Gesetze, welche die Tradition und der Lehrer ihm gaben, mit allem Fleiß und Geist erfüllen und handhaben zu lernen, um Meisterschaft und Ehre zu gewinnen. Keiner kam auf den Gedanken, stofflich wirken zu wollen, weil das Publikum Kunstwirkung, nicht Stoffwirkung verlangte. Und gerade darum war man im wahren Sinne original und autonom. Autonomie des Künstlers hieß damals: viel lernen und schwere Gesetze in Freiheit befolgen und beherrschen, heute heißt Autonomie: sich willkürlich und anarchisch geberden. Dem Publikum geht natürlich das Verständnis für die künstlerischen Erfordernisse noch mehr ab als dem Künstler. Es schätzt an ihm nur die Eigenschaften, die mit der Kunst nichts zu tun haben. Seine Kunst läßt man bestenfalls gelten, ignoriert sie oder befehdet sie auch. So geht man mit gegenwärtigen und ebenso mit ver- gangenen Kunstwerken um. Manchmal ist der Gesichtspunkt, aus dem die Erzeugnisse großer Kunstepochen der Vergangenheit beurteilt und geschätzt werden, ein solcher, daß man an den praktischen Geist jener Erben griechischen und römischen Bodens gemahnt wird, die den Bildsäulen die Extremitäten abschlugen und den Rumpf als Mauersteine verwendeten. Dies Verfahren ist für den gegenwärtigen Künstler, auf den es uns ja ankommt, betrüblicher als für den vergangenen. Denn den Kunstwerken,
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Vorbilder.
die den Unbilden der Zeit widerstanden haben und auf uns ge- kommen sind, tut es keinen Schaden mehr, wenn man sie falsch versteht und falsch benutzt. Wie eine Landschaft frisch und unberührt bleibt, so viele unwürdige Augen auch auf ihren Schönheiten geruht haben, so ist das Altertum jung und ewig neu geblieben, trotzdem die Jahrhunderte an ihm ihre Liebe, Bewunderung und Nachahmung geübt, es geliebkost und gemiß- handelt und schließlich den Kindern als Spielwerk und Abc-Buch in die Hände gegeben haben, damit sie ja, wenn sie erwachsen sind, es beiseite werfen. Der gegenwärtige Künstler aber, der wirk- lich Künstler sein möchte, leidet darunter, daß ihm das Publikum keine Stütze, kein Ansporn ist, sondern ihn zwingt, im Gegensatz zu ihm sich zu entwickeln, wobei er die Überzeugung nicht los wird, daß er in dem entscheidenden Punkte seines Strebens un- verstanden bleibt. Man denke nur an Goethe.
Andererseits wird niemand leugnen, daß es falsch und be- denklich ist, die Form einseitig und zu Ungunsten des Gehaltes zu pflegen. Die künstlerische Technik darf nicht vergessen, daß sie Mittel ist, nicht Zweck, in demselben Sinne wie der Stoff Mittel ist, nicht Zweck. Das Kunstwerk als Ganzes ist Zweck. Aber selbst wo die Form überwuchert, kann man nicht unter allen Umständen von sinkender, degenerierter Kunst reden. Die Frage, ob eine Kunstepoche eine steigende oder eine fallende ist, entscheidet sich meiner Meinung nach daran, ob genug Kraft da ist, der Kunstmittel Herr zu werden, d. h. sie als Mittel zu erkennen und zu benutzen. Jede erwachende Kunstblüte wird ein großes, ja mitunter ein übermäßiges Forminteresse haben, denn jedesmal will etwas Neues ans Licht, und um dies Neue aussprechen zu können, werden neue Ausdrucksmittel ge- sucht. Hierbei kommen Fehlgriffe vor, und nicht selten geht das Bewußtsein verloren, daß es nur Mittel sind, die man sucht; man nimmt ,,die Studie" als Endpunkt der Kunst, wie es heute zuweilen geschieht, oder man verfällt in Torheiten und Ge- schmacklosigkeiten, von denen die Kunstgeschichte, aber auch das heutige Kunstleben nicht wenig Beispiele zeigt. Ebenso hat jede entartende Kunst die Neigung, das Technische zu über- treiben und entweder raffiniert oder flach zu werden, weil der
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Erster Teil.
Gehalt nicht mehr stark genug ist, die Form zu tragen. Es sind große Kunstmittel da, die große Kraft zu ihrer Handhabung er- fordern. Diese fängt an zu fehlen; da aber Gewohnheit und überkommene Verehrung gerade schwache Naturen in einer fest- getretenen Bahn halten, so bedient man sich der Formen weiter, bildet sie noch mehr aus, bewegt sich freier, wie man es nennt, weil man nicht nach innerer Nötigung formt, sondern willkürlich wie der Bäcker den Honigkuchen in diese oder jene Form bringt, und merkt am Ende nicht, wie unpassend und hohl sich solche formvollendete Kunstwerke ausnehmen. Ist man klüger, so schneidet man sich die großen Formen nach seiner Figur zurecht und sucht dem Stückwerk ein neues selbständiges Leben ein- zuhauchen; ist man ehrlicher, so legt man sie beiseite, und das Chaos beginnt von neuem.
Wann aber werden wir von klassischer Kunst reden? Wo- durch kennzeichnen sich Höhepunkte der Kunstentwicklung? Die Definitionen des Klassischen, die man hier und da gegeben hat, will ich nicht wiederholen, sondern nur versuchen, ein er- klärendes Moment anzuführen, das in Zusammenhang mit dem eben Gesagten steht und uns Deutschen die Lage unserer Kunst vielleicht erklären hilft. Die beiden Elemente, die das Kunst- werk ausmachen, sind Gehalt und Form, wie jedermann weiß. Der Gehalt betrifft die ethische Seite des Kunstwerks und hängt von dem schaffenden Individuum und seiner Zeit ab. Das Kunst- werk redet von der Seele des Künstlers; es offenbart uns ein Gefühl oder ein Verlangen oder eine sinnliche Erfahrung, eine geistige Regung, eine Idee, oder wie man immer das, was wir Gehalt nennen, umschreiben mag. Und da der Künstler einer be- stimmten Zeit angehört, die ihn hervorbringt und umgibt und deren Seele er in sich hat, so redet er zugleich als Mundstück seiner Zeit. Es mag hier das Verhältnis von Individuum und Milieu unerörtert bleiben, welches von beiden das Bestimmende und welches das Bestimmte, welches Erzeugnis und welches Schöpfer ist; womit auch die Frage der Objektivität oder Sub- jektivität des Kunstwerks zusammenhängt, die Goethe und Schiller so sehr beschäftigte. Es steht fest, daß beides, Subjekt und Objekt, Individuum und Allgemeinheit wirkend ist. — Das
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Vorbilder.
zweite Element ist das ästhetische und hängt von der Tradition ab. Der Künstler braucht zu dem Was ein Wie, er braucht eine Form, in die er seine Seele und die seiner Zeit hineingießen kann. Diese Form ist bis zu einem hohen Grade unabhängig vom Gehalt und ist bleibend, während der Gehalt wechselnd ist. Der Wein im Kruge wird ausgetrunken und muß immer erneuert werden, der Krug bleibt derselbe. Als künstlerische Formen im weitesten Sinne kann man die musikalischen Töne, die Farben und Linien, die Sprache bezeichnen. Es sind die allgemeinsten dauerndsten Mittel der Kunst. Gewöhnlich brauchen wir den Ausdruck im prägnanten Sinne und verstehen darunter bestimmte, auf der Tradition beruhende Kunstformen, z. B. die Suite, das Sonett, die Radierung, die aber ebenso wie jene allgemeinen durch Regeln umschrieben sind und einen erlernbaren, für jeden zur Benutzung daliegenden Bestand bilden. Natürlich sind diese Formen auch wandelbar, sie erwachsen und verwelken, sie sind abhängig von äußeren Umständen, vom Material, vom äußeren Zweck der Kunst, von technischen Erfindungen usw. Aber gegenüber dem einmaligen Gehalt, mit dem sie erfüllt werden, sind sie das Dauernde. — Stehen in einem Kunstwerk Gehalt und Form im richtigen Verhältnis zueinander, so nennen wir es klassisch. Nicht nur darauf kommt es an, daß beide gleich ent- wickelt und gleich stark sind, sondern auch darauf, daß eins das andere stützt und fördert und nicht hemmt und stört. Beide müssen zueinander passen, ineinander sich fügen, durcheinander verständlich, wirkungsvoll, schön werden. Für sich allein sind sie niemals schön, sind sie überhaupt nicht Kunst, erst ihre Ver- einigung, wenn sie glücklich und günstig ist, bringt die Schönheit hervor. Nehmen wir als vornehmstes Beispiel klassischer Kunst das griechische Altertum. Es kann uns am besten belehren, wenigstens so weit es uns direkt, als Original zugänglich ist. Denn Kopien, auf die wir leider vielfach angewiesen sind, versagen gerade in dem wichtigsten Punkte. Sie sind blaß und abstrakt oder erzählen vom Kopisten. Uns aber muß es darauf ankommen, den Schöpfer zu hören, wenn wir erfahren wollen, wie Gehalt und Form sich zueinander verhalten. Studiert man die griechi- schen Originale, so entdeckt man mit immer neuem Staunen
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Erster Teil.
eine Einheit und Ganzheit der künstlerischen Gebilde, von der spätere künstlerische Epochen nur einen schwachen Nachhall geben. Individuum und Tradition wird zu eins, der Gehalt macht die Form lebendig und sinnvoll, und wird von ihr gehoben, gereinigt und verewigt. Welch eine Höhe und Macht der Formen war nötig, um dies zu ermöglichen, und welch eine Beschrän- kung und Mäßigung der schaffenden Naturen und ihrer Zeit! Und es waren keine schwachen Naturen, sondern starke leiden- schaftliche Temperamente, die sich so zu mäßigen und zu be- schränken wußten; und die Zeit, die in ihnen zu Worte kam, war nicht gering, sondern voll unbändigen Lebens; und doch entäußerten sie sich so weit, daß sie Stoffe aus längst vergangenen Zeiten bevorzugten, Stoffe, die auf der Tradition ruhten und gleichsam zur Form, zum Gefäß wurden. Gleich die ersten Werke, die wir besitzen, die homerischen Epen, lösen die Probleme der Kunst in vollkommener Freiheit und Schönheit. Sie zeigen uns das scheinbar Unversöhnliche miteinander verbunden: Naivetät und Konvention, produktive Kraft und Mangel an Erfindung, Realität und Stilisierung. Der Bau im ganzen, so wie er ursprüng- lich angelegt ist, erfüllt die Forderungen, die an ein Kunstwerk und im besonderen an ein Epos zu stellen sind, in so hoher Weise, daß selbst die späteren Zutaten und Änderungen ihm nichts anhaben konnten; wobei freilich hinzukommt, daß die ein- schiebenden Rhapsoden meist von großer künstlerischer Einsicht waren und die Höhe des künstlerischen Niveaus jener Zeit deut- lich ins Licht setzen. Die Ilias und noch klarer die Odyssee sind trotz aller Unebenheiten ganze Kunstwerke im großen und ebenso im kleinen. Die Detailarbeit ist bewundernswert, die jeden Vers mit gleicher Sorgfalt, jede Nebensache mit gleicher Liebe be- handelt. Das Problem des Erzählens, an dem so viele Heutige scheitern, ist auf das glücklichste gelöst. Nie verliert Homer die Übersicht; nie schweigt er, nie schildert er an unrechter Stelle; nie wird er geschwätzig, nie ist er wortarm. Situation und Cha- rakter, Handlung und Beschreibung hat er gleich fest in der Hand. Und Homer ist nicht unpersönlich, nicht verkörperte Tra- dition, wie man uns glauben machen will, sondern er ist original, man hat das sichere Gefühl schöpferischer Unmittelbarkeit.
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Vorbilder.
Daß diese sehr objektiv ist, spricht nicht gegen sie. Was ist denn künstlerische Objektivität anders als das Resultat einer großen und umfassenden produktiven Kraft! Der Schaffende scheint zu verschwinden, weil er sein Subjekt nicht in Gegensatz zu den Objekten stellt, sondern sich mit ihnen eins fühlt. Er ist selber klingende Natur. — Es ist von Wichtigkeit, daß wir bei unserer Schätzung Homers uns in Übereinstimmung mit dem Altertum befinden und nicht wie bei einigen Werken der Skulptur etwas als höchste Offenbarung griechischer Kunst zu nehmen verführt sind, von dem man im Altertum gar kein Aufhebens machte. Homer galt als der Künstler an sich, er wurde die Grundlage der gesamten griechischen Bildung, jeder schöpfte aus ihm, jeder trug ihn auf der Zunge, und erst das sinkende Altertum lehnte sich hie und da gegen ihn auf. Daß wir Homer haben^ ist vielleicht die bedeutendste Kulturhilfe, die uns über- haupt die Vergangenheit bieten konnte.
Man kann die gegenwärtige Epoche als typisches Beispiel einer nichtklassischen Kunst nehmen. Sie ist unharmonisch und zwieträchtig bis in ihre tiefsten Wurzeln. Und weil sie zugleich sehr reich an Kräften ist, so entsteht ein Durcheinander und Gegeneinander, das in der Geschichte kaum seinesgleichen hat. Die Kräfte reiben sich gegenseitig auf und suchen sich Boden und Nahrung zu entziehen, statt sich zu unterstützen und mit- einander zu wirken. Die Mittel und die Ziele gehen ins Grenzen- lose auseinander; jedes Mittel möchte Ziel sein und jedes Ziel läßt sich als Mittel mißbrauchen. Die beiden Elemente, Form und Gehalt, kämpfen um die moderne Seele, statt ihr gemeinsam zu dienen und sie zur Vereinheitlichung, Schönheit und wahren Stärke zu führen. Wenn wir Deutschen nach dem klassischen Ideal streben, so ist das große Hindernis unsere vielfältige schwer organisierbare Natur. Wir bringen es mit größerer Mühe zur formalen Beherrschung und kühlen Vollendung als glücklichere leichtere Völker; darum ist für uns die Bildung durch solche besonders nötig. Aber freilich müssen wir immer festhalten, daß wir ein Recht auf das klassische Ideal nur dann haben, wenn es aus uns, aus der Gegenwart heraus geboren wird. Das Ab-
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Erster Teil.
sehen von uns selber, das Übertönen unserer Disharmonien kann uns den Weg nicht bereiten, sondern nur erschweren.
Darum können uns ebensowenig wie die Romantiker auch jene Bescheidenen helfen, die in einem kleinen Kreise sich halten und ihren kleinen Bedürfnissen wirklich gerecht werden, ohne aber für die großen Dinge, die heute auf dem Spiele stehen, Sinn zu haben. Sie bringen es mitunter fertig, ihre Werke zu organisieren, manchmal auch, ihrem Leben Stil zu geben, und sind ein schöner, freundlicher Anblick, bei dem das unruhige Auge des diskorden modernen Menschen gern verweilt. Aber sie sind zu leicht fertig mit sich, mit der Zeit und mit den Dingen; ihre Zufriedenheit ist Genügsamkeit, ihre Genügsamkeit ist Ärm- lichkeit. Sie vergessen bei ihrer schnellen Verurteilung großer moderner Naturen, die nicht zum Ziel gekommen sind, z. B. Nietzsches, daß es leicht ist, eine kleine gerade Natur zu organi- sieren, aber schwer, eine große vaste zu organisieren, und daß es von größerem Wert im Sinne der Kultur sein kann, wenn ein Held unterliegt, als wenn ein kleiner Mann davon- kommt. Unsere Hoffnung hängt an den Großen, die schwer zu tragen haben und um ihr Bestes ringen müssen, nicht an den Kleinen, die mit ihrem geringen Gepäck leicht von der Stelle kommen. Am höchsten ist derjenige gestiegen, der die größte Natur als Werkzeug und als Material hat und trotzdem mit ihr fertig wird. Diesem Ziel ist unter den Deutschen Goethe am nächsten gekommen. Er ist deshalb der Grundstein deutscher Kultur, kein Gipfel, sondern ein Anfang, aber ein Anfang, dessen Fortsetzung Gutes verspricht. Goethe ist ein merkwürdiges Geschiebe von Kräften und Gegenkräften, von Handeln und Betrachten , Streben und Passivität. Man entdeckt immer neue Seiten an ihm und, wie man den Standort wechselt, gewinnt seine unbegrenzte Natur ein stets verändertes Aussehen. Die Tiefe und Umfänglichkeit seines Wesens war es, die es ihm so schwer machte, zum Abschließen und zur Reife zu gelangen. Und doch hatte kein Deutscher eine solche Kraft und Liebe zum Abschließen. Wie hat er nach Beschränkung gestrebt und wie- viel Reife und Übersicht lag von Kindheit an in ihm! Aber immer wieder wurde ihm die Beschränkung zu einem neuen
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Antrieb, die Gegenkräfte ließen ihn nicht ruhen, er blieb diskord bis zum letzten Tage seines Lebens und hätte sich ins Unendliche weiter entwickelt, wenn nicht der Tod dem Kampf ein Ziel gesetzt hätte. Das Problem des Lernens hat keiner so tief genommen wie er. Er wurde sein Leben lang nicht müde zu lernen, und immer war es sein ganzes Wesen, das er dabei einsetzte. Er wußte, daß man größer und reicher wird durch das Lernen und hätte nie jene Schwachen begriffen, die meinen, ihre Originalität vor erziehenden Einflüssen bewahren zu müssen. Gewiß litt seine Originalität zeitweise, er lehnte sich hier an und lehnte sich da an, aber er sagte ganz richtig: man kann einer Sache nur dadurch Herr werden, daß man ihr eine Zeitlang dient. Sein sicherer Instinkt ließ ihn keinen Moment vor dem Nachahmen zurückschrecken; er fühlte, daß er nur durch die Tat etwas Frem- des sich zu eigen machen konnte, und vertraute auf seine un- besiegliche Natur, die ihn immer wieder zu sich selber zurück- führte. Er rang nach Vereinheitlichung, weil er sah, daß sie die notwendige Vorbedingung der Künstlerschaft ist, und suchte eine Tradition, eine feste vererbbare Form zu schaffen, auf der die deutsche Kunst fortbauen könnte. Hierin ihm zu folgen soll unsere vornehmste Aufgabe sein. Es gilt anzuknüpfen an Goethe und diejenigen, welche in seinem Sinne gestrebt haben, nicht immer von neuem anzufangen. Sich zu binden, zu be- schränken und zu organisieren ist für die Deutschen, die Kraft in sich fühlen, noch auf lange Zeit die Losung. Den Schwachen mag man gestatten, Freiheit und Fessellosigkeit zu predigen. Aber selbst diese, die auf Grund einer geringen oder krankhaften Individualität zu wirklichen Künstlern werden wollen, können, meine ich, dies Ziel eher erreichen, wenn die Tradition mächtig und die Form hoch entwickelt ist, als in Zeiten wie die heutige. Eine gewisse äußere Leichtigkeit und Geschicklichkeit hat von jeher den Musen zahlreiche Bewerber zugeführt, aber wenige von ihnen haben Gnade vor den Augen der Unsterblichen gefunden. Es waren solche, die sich im ganzen zu bilden und ihre Natur auf- zubauen wußten. Dies aber ist fast nur möglich, wenn die Bil- dungselemente in Fülle vorhanden sind und dem Strebenden von allen Seiten, der Kunst und des Lebens Förderung zuteil wird;
Horneffer, Das klassische Ideal.
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Erster Teil.
findet er Widerstand oder wird er durch eine unreife Zeit gebildet, so bleibt er Handwerker oder gerät auf Irrwege und künstelt. Schlimmer ist, daß die tiefen und originalen Naturen unter dem Mangel einer Tradition leiden und oft zugrunde gehen. Sie sind meist schwerfällig, formales Geschick geht ihnen, wenn sie Deutsche sind, fast immer ab, weil in Deutschland stets zu wenig Wert auf die Form gelegt wurde. So suchen sie nach einer ihnen gemäßen Form, finden sie nicht, müssen sie sich selber schaffen und verbringen Leben und Kraft, ohne sie zu bewältigen. Wie groß ist die Zahl solcher, deren Schöpfungen in keinem Ver- hältnis zu der Kraft ihrer Natur stehen! Was sie selber freilich oft nicht merken und nicht zugeben, da sie sich nach dem Maß ihrer Kraft, nach ihrem großen Wollen einschätzen; aber die Welt schätzt nur Leistungen und tut ganz recht, geringeren Naturen, die mit sich und ihrer Form ins Reine kamen, mehr Anerkennung und Ruhm zu schenken als ihnen. Und wenn auch die Zeitgenossen von dem Gehalt gepackt werden und sich voll Freude und Dankbarkeit in einem Suchenden wieder- erkennen, — die nächsten Generationen schon begreifen ihn nicht mehr, weil er nicht vermocht hat, sich und sein Werk zu wirk- licher ewiger Kunst zu erheben. Auch die größte Idee dauert nur, wenn sie künstlerisch gestaltet wird; deshalb sucht eine Idee, die sich durchsetzen und behaupten will, die Kunst als Bundes- genossin zu gewinnen, was man z. B. an religiösen Ideen aller Zeiten verfolgen kann. Ein Kunstwerk erliegt nur schwer und langsam der Zeit, es zeigt jeder Generation ein neues Gesicht und bietet immer neue Angriffspunkte. Wer aber nur ungefähr herausstolpert, was er zu sagen hat, ohne sich um das Wie Sorge zu machen, pufft es in die Luft und erzielt höchstens eine augen- blickliche Wirkung. Die mächtigste Menschenstimme, die nicht gebildet ist zu tragen und auszuhalten, erliegt im großen Raum. Es ist ungeheuer kostspielig, daß uns auf diese Weise gerade die Besten verloren gehen, während Geringere sich durchsetzen. Im Altertum war dies unmöglich; jede Natur, die nicht ein un- heilbares formales Manko hatte, gelangte zur vollkommenen Reife, und was sie von sich gab, war wirklich das Höchste und Beste, das sie zu geben hatte. Heute bleibt fast stets das Ver-
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Vorbilder.
mögen hinter dem Wollen zurück. Die künstlerische Erkenntnis mag noch so groß sein, das Können entspricht ihr in keiner Weise. Goethe ist darum so weit gekommen, weil er sein Leben lang nicht ruhte, dies Mißverhältnis auszugleichen. Dabei kam ihm seine angeborene formale Begabung zugute, aber das beste tat sein unermüdliches Streben, sich zu binden und sich Zügel anzulegen. Wir sollten stark genug sein, ihm zu folgen und das Bekenntnis, das er in seinem Gedicht ,, Natur und Kunst" abgelegt hat, zu dem unsrigen zu machen suchen:
Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen Und haben sich, eh' man es denkt, gefunden. Der Widerwille ist auch mir verschwunden Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.
Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen, Und wenn wir erst in abgemess'nen Stunden Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden, Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.
So ist's mit aller Bildung auch beschaffen: Vergebens werden ungebundne Geister Nach der Vollendung reiner Höhe streben.
Wer Großes will, muß sich zusammenraffen. In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
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IL
DIE DEUTSCHE MUSIK.
Nicht nur ein Franzose, sondern auch ein Deutscher ist mit- unter geneigt zu zweifeln, ob die Deutschen überhaupt einer klassischen Kunst fähig sind. Man sieht überall Anstrengungen und Anfänge, aber immer werden sie wieder abgebrochen oder abgelenkt; es geht allenthalben vorwärts, aber selten aufwärts, es wird anders, aber selten besser. Gründe dafür sind mancherlei gesucht und gefunden worden, innere und äußere, in dem Cha- rakter und in den Schicksalen der Deutschen. Mir scheint aber, man hat bei solchen Erklärungen eins nicht genügend oder gar nicht in Rechnung gezogen, das ist die deutsche Musik. Nur wenige wissen von ihrer Geschichte und beachten, welch ein wichtiger, ja zentraler Faktor sie ist. Sie muß jedem Zwei- felnden das Vertrauen geben, daß die Deutschen imstande sind, eine Kunst voll und reif auszubilden, wenn sie auch den Beweis schuldig bleibt, daß sie die gewonnene Höhe festhalten können. Die Deutschen sind am ehrlichsten und aufrichtigsten in ihrer Musik und geben in ihr am reinsten ihr Wesen zu erkennen; zu- gleich aber ist es gerade sie, die zu einer so hohen rein ästhe- tischen Vollendung sich aufschwingen konnte, daß man mit Fug und Recht von klassischen Musikern der Deutschen reden kann, während man ohne Fug und Recht von klassischen Dichtern
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Die deutsche Musik.
redet. Die Musik und in früherer Zeit die Baukunst verraten die Richtung der künstlerischen Seele des Deutschen. Auf die Verwandtschaft beider Künste ist oft hingewiesen worden: bei ihnen sind Form und Gehalt so verbunden, daß man den letzteren zuweilen gar nicht entdeckt und deshalb geleugnet hat; beide arbeiten mit Symbolen, sind begrifflich schwer zu fassen und scheinen der Prägnanz und Deutlichkeit zu ermangeln. Die Dichtkunst, die in erster Linie Begriffe und andere Zweige der bildenden Kunst, die in erster Linie sinnliche Bilder benutzen, fallen den Deutschen viel schwerer; sie suchen an ihnen die Seiten hervorzukehren, die sich dem Symbolischen (dem Musi- kalischen oder Dekorativen) nähern; wie denn z. B. die Lyrik der bei weitem entwickeltste Zweig der deutschen Poesie ist. Die meisten Arten der Kunst fristen bei uns ein nur geduldetes Leben, sie erscheinen als Eindringlinge, die äußere Zwecke nötig haben, um ihr Dasein zu rechtfertigen. Die Musik bedarf keiner Recht- fertigung, sie ist von selber da und wird von dem tiefsten Volks- empfinden getragen. Dies gilt sowohl von der Vokalmusik, von dem Lied, das der feste Urbestand der deutschen Kunstbetätigung ist, als auch von der Instrumentalmusik, die als Tanz und Marsch dem Deutschen von jeher vertraut und unentbehrlich war.
Man gestatte mir, mit wenigen Strichen den Weg zu bezeich- nen, den die deutsche Musik in den letzten vier Jahrhunderten genommen hat. Die Entwicklung ist eine ununterbrochene und sehr reiche. Sie kann uns viel lehren.
Als Hauptmoment ist die Einwirkung der Kirche zu betonen, der die abendländische Musik ebensoviel oder noch mehr verdankt als die bildende Kunst. Sie gab ihr eine Aufgabe und eine Form. Seit Regelung des römischen Kultus durch Gregor hatte die Musik einen festen Platz im Gottesdienst und wurde ein wichtiges Glied, ja in gewissem Sinne der Mittelpunkt des kirchlichen Einflusses auf das abendländische Leben. Die Messe war die Form, welche die musikalische Entwicklung trug und geleitete; später kam noch die Motette hinzu. Die gelehrten Mönche des Mittelalters waren fast sämtlich Musiker, praktische und theoretische; sie bemühten sich, wie um antike Philosophie, so auch um griechische Musik, aber mit noch geringerem Erfolge, hatten dagegen das Verdienst
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Erster Teil.
der beiden großen Entdeckungen, die Himmel und Erde in der Musik verwandelten und die Zukunft in eine unendliche Bahn wiesen. Diese Entdeckungen hießen Mehrstimmigkeit und Men- suralmusik. Es kam dann die glückliche Zeit des Versuchens, die jeder großen Entdeckung folgt. Man wollte die Tragweite und den Wert der neuen Kunstmittel feststellen. Man verwen- dete sie auf alle mögliche, passende und unpassende Weise, spannte sie aufs äußerste an, theoretisierte und tüftelte, und da man dies alles mit Hingabe und Aufrichtigkeit trieb, wurde es ein Fundament, auf dem die erste große Blütezeit der mehr- stimmigen Musik sich erhob. Sie hat ihre Heimat in den Nieder- landen. Ganz mit Unrecht ist diese altniederländische Musik gescholten und vernachlässigt worden; die technischen Aus- artungen muß man gerecht beurteilen und einer aufstrebenden Zeit zugute halten; bewundernswert bleibt die künstlerische Kraft, die mit und trotz ihnen sich offenbart. Es waltet derselbe Geist in diesen Musikern wie in den altniederländischen Malern, was sich im einzelnen dartun ließe. Wie kann man glauben, daß die Engel des Genter Altars schlechte und absurde Musik machen! Vielmehr exekutieren sie eine kunstreiche dreistimmige Messe, die ebenso herb und subtil ist wie sie selber. Bedenkt man, was uns die Namen van Eyck, van der Goes, van der Weyden usw. bedeuten, so kann man ermessen, welch hohe künstlerische Ge- nüsse aus den zierlichen und seltsamen Notenhandschriften sich gewinnen ließen, von denen kaum einer unter uns die wenigen zugänglich gemachten Proben kennt.
Die Niederländer wurden die Lehrer des musikalischen Europa. Jedes Land nahm ihre hochentwickelte Form und Technik auf und füllte sie mit seinem eigentümlichen Gehalt. So kam es, daß in Italien etwas anderes entstand als in Deutschland. In beiden Völkern lebte ein starkes Musikempfinden, so verschieden gerichtet wie ihr Naturell. Deutschland war weiter als Italien und hatte bereits eine ansehnliche künstlerische Höhe selbständig erreicht; doch war noch lange Zeit nötig, bis seine Schwerfälligkeit mit einheimischen und fremden Einflüssen fertig wurde und die führende Stellung in der europäischen Musik den Deutschen zuerkannt werden konnte. Die italienische Musik schoß unter
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Die deutsche Musik.
niederländischem Einfluß schnell empor und war bald ihren Lehrern über den Kopf gewachsen. Im i6. Jahrhundert, als die niederländische Musik zum Gemeingut geworden war, kam diese erste neuere Musikepoche, die man die polyphone nennt, auf ihren Gipfel, etwas später als die bildende Kunst. Die Blüte war voll und schön und erfüllte alles, was die Anstrengungen der Vorfahren hatten hoffen lassen. Aus dem mühsam erarbeiteten Können entfaltete sich die hohe Kunst, die durch drei Männer, zwei Niederländer und einen Italiener repräsentiert wird. Josquin haftet noch ein Rest von Mühe und Schwere an, der vielleicht auch durch sein strenges nordisches Naturell bedingt ist. Palestrina ließ die südliche Sonne in das ernste Bild hineinscheinen; sein Ernst ist leuchtender, als die Schwerblütigkeit den Germanen zu gestatten pflegt, Lassus war der expansive Nordländer, der ins Volle, Gewaltige strebte und neue ungekannte Kräfte ahnen ließ, denen die kontrapunktische Kammermusik nicht gewachsen war. Diese drei großen Künstler erfüllten und erschöpften zugleich die Kunst des vokalen Satzes. Sie waren die Erben eines könig- lichen Vermögens, das sie noch zu vermehren und königlich zu verwalten und zu benutzen wußten. Gleich nach ihnen aber kamen die Verschwender, die es vertaten, zerrissen und in alle Winde verstreuten. Es waren hinreißende Naturen, die so ver- fuhren, keine traurigen Epigonen; sie zerstörten, aber sie brachten auch neue Schönheiten. Man hatte wieder neue Kunstmittel entdeckt und sah, daß sich mit ihnen Wirkungen erzielen und Seelenregungen ausdrücken ließen, gegen die alles Bisherige eng und arm erschien. Man probierte wieder, verirrte sich, machte ungeheure Aufschwünge, die ohne Unterstützung und Nach- eiferung, deshalb ohne dauernde Folgen blieben, man rechnete und theoretisierte, und da man alles dies ebenso wie vor zwei Jahrhunderten mit Hingabe und aufrichtigem Ernst trieb, so brach eines Tages eine neue Blüte auf, die deutsche Blüte, die durch Bach und Händel, Mozart und Beethoven bezeichnet wird. Die Entdeckungen hießen der Akkord, die Mehrchörigkeit, der Sologesang, die Instrumente Orgel und Klavier. Der Ursprung dieser Entdeckungen war Italien, das die Zügel der Entwicklung ergriffen hatte; die Zeit war das ausgehende i6. und das be-
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Erster Teil.
ginnende 17. Jahrhundert; der gelehrigste und erfolgreichste Schüler Italiens wurde Deutschland, dem es vorbehalten blieb, im 18. Jahrhundert die Früchte des italienischen Strebens zur Reife zu bringen.
Für die deutsche Musik war es entscheidend gewesen, daß Luther ihr Freund und Kenner war, so daß die große Schätzung fortdauerte, welche die Musik in der Kirche bisher genossen hatte. Die Reformation, die auf die bildende Kunst und im Grunde auch auf die Poesie in Deutschland verheerend wirkte, ging ohne Schaden über die Musik hin; die Musiker blieben ein Zubehör der Geistlichkeit und behielten ihr festes Amt beim Gottesdienst. Ja die mächtige Bewegung der deutschen Seele schlug sogar zum Heile der Musik aus und gab ihr ein neues Verhältnis zum Volke, das unter dem Einfluß der kunstvollen niederländischen Musik loser geworden war. Ebenso überdauerte die deutsche Musik hundert Jahre später den dreißigjährigen Krieg ohne schwere Verluste. Solange er wütete, lag natürlich auch das musikalische Leben darnieder; kein Hof und keine Gemeinde hatte Geld, die Musiker zu besolden, und Interesse, ihre Kompositionen anzu- hören. Als aber Ruhe und Sicherheit wiederkehrte, fuhr man genau an der Stelle fort, wo man unterbrochen worden war. Die Musik war fest gewurzelt und hing so eng mit der Erhebung und Erholung des deutschen Geistes zusammen, daß sie nur durch seine Vernichtung hätte ausgerottet werden können.
Es war gerade damals die Zeit des emsigsten Bemühens um die italienische Musik. Giovanni Gabrieli, der prunkvolle Vene- tianer, zog die einen an, die neuentstandene Oper die andern. Man war jenseits der Alpen unter Einwirkung der oben genannten neuen Kunstmittel erheblich lockerer geworden als zur Zeit Palestrinas. Noch überwog die Solidität und die Künstlerschaft; aber man kam doch schon den Geheimnissen der Wirkung auf die Spur, die durch das Beiwerk der Kunst erzeugt wird. Der Dilettantismus, der sofort zur Stelle ist, wenn sinnliche Reiz- mittel, namentlich die der Bühne, in den Vordergrund treten, begann sich in die Musik einzudrängen. Eitelkeit und Gewinn- sucht taten das übrige. Die Deutschen lauschten den verführe- rischen Klängen, zogen über die Alpen und brachten heim, soviel
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Die deutsche Musik.
sie nur konnten. So trieben sie es mehrere Generationen hindurch, bis weit ins i8. Jahrhundert hinein. Sie hielten sich mehr an das SoHde, und auch das Lockere bekam unter ihren Händen ein braveres, freilich auch ungeschickteres Aussehen. Lange Zeit hindurch blieb die Schwerfälligkeit ein kaum überwindliches Hindernis; Musiker und Publikum fühlten gar sehr den Abstand zwischen Lehrern und Schülern. Überall zog man den deutschen Kapellmeistern und Sängern die italienischen vor, die in Scharen nach Norden kamen. Aber unsere trefflichen Vorfahren ließen nicht nach. Mit einer Selbstverleugnung, die Ehrfurcht erwecken muß, sang man immer wieder den wälschen Gesangsmeistern nach, was sie vorsangen, bis man sich ihre Kunst zu eigen gemacht hatte. Man lernte so gründlich und unentwegt, wie man in den anderen Künsten niemals gelernt hat; und man kam gerade darum zu einer wahrhaft originalen deutschen Kunst, weil man sich ohne Vorbehalt der fremden überlegenen hingab. Freilich trieben auch schlechte Regungen zum Lernen, und die Begleiterschei- nungen, die deutsche Abhängigkeit vom Ausland zu haben pflegt, traten auch hier auf; die Musiker sahen auf deutsches Wesen herab, wenn sie von der pflichtmäßigen italienischen Reise zurück- kamen, schrieben ihren Vornamen und die Titel ihrer Werke italienisch und hätten sich am liebsten selber für Italiener aus- gegeben. Aber sollte nicht auch diese schlechte Eigenschaft des Deutschen manchmal eine verkappte gute sein? Das schmerzliche Gefühl der eignen Barbarei, die quälende Gewißheit, ewig unge- schlacht und sich selber lächerlich zu sein, bringt vielleicht öfter als man denkt die sklavische Verehrung des Ausländischen hervor. Dies Gefühl aber und diese Gewißheit sind doch der Boden, auf dem eine deutsche Kultur allein erwachsen kann.
Die Musik stand im 17. Jahrhundert, wie ersichtlich ist, in hohem Ansehen. Die Musiker waren geehrt und geliebt, bei Hoch und Niedrig, bei der Geistlichkeit und der Weltlichkeit; sie verdienten in der Regel auch die bevorzugte Stellung, die sie namentlich an den Höfen einnahmen. Sie stammten häufig aus guten Familien, erwarben sich eine große wissenschaftliche Bil- dung neben der technischen Fachbildung, machten weite Reisen und waren gar kühne, großartige, mitunter auch abenteuerliche
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Erster Teil.
Gesellen. Das vornehmste Beispiel dieser Gattung ist Heinrich Schütz, der gleich hoch an Charakter wie an Genie stand und in einem langen ehrenvollen Leben mehr für die deutsche Musik geleistet hat, als sich ein gebildeter Musiker von heute träumen läßt. Doch gab es auch bescheidenere und engere Existenzen. Man kann jenen glänzenden weltmännischen Mu- sikern des 17. und 18. Jahrhunderts, die Kapellmeister und später meist Opernkomponisten waren, die schlichten Organisten, Kammermusiker und Kantoren entgegenstellen, deren Rang und Ansehen viel geringer, deren Tüchtigkeit und Bedeutung keines- wegs geringer war. Sie traten nicht aus dem einfachen bürger- lichen Leben heraus wie jene, sondern trieben ihr musikalisches Gewerbe ebenso ehrbar und unauffällig, wie früher die deutschen Kupferstecher, Maler und Erzgießer das ihrige. Sie kamen selten nach Italien und mußten sich begnügen, aus zweiter Hand zu empfangen. Handwerker in der großen Weise, der Deutschland so viel verdankt, saßen sie auf ihrer Orgelbank, mühten sich mit den dickköpfigen Chorknaben und komponierten. Das musi- kalische Leben war so reich, daß auch die kleinste Stadt ihre Kapelle und ihren Organisten hatte, der immer auch zugleich Komponist war. Man lebte damals nicht wie heute von den Kompositionen weniger Musiker, die von Hand zu Hand gingen, sondern jeder sorgte für sich selbst. Und da die Herren Patroni sehr häufig, mindestens an jedem höheren Festtag eine neue Komposition ihres Kantors oder Kapellmeisters hören wollten, so hieß es fleißig zu sein, um jedesmal rechtzeitig etwas fertig zu stellen. Die Unzahl von Kompositionen, die auf diese Weise entstanden, war natürlich nicht immer von hohem Wert und oft rein schematisch gearbeitet; aber es entwickelte sich eine große Leichtigkeit und Freiheit des Schaffens, ein Reichtum an Er- findung im Kleinen und an Ausdruck, eine souveräne Beherr- schung der Kunstmittel und ein ununterbrochenes Arbeiten an ihrer Vertiefung und Weiterbildung, kurz alles das, was einen Sebastian Bach ermöglichte. Die Orgel war recht ein Feld für deutschen Handwerkerfleiß und geradezu geschaffen für Naturen, die nach außen sich bescheiden mußten und nach innen sich aus- breiten und als Herren fühlen durften. Man hatte aus einem
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Die deutsche Musik.
kleinen diatonischen Instrument, das bequem in der Hand zu tragen war, allmählich das umfassendste Mittel musikalischen Ausdrucks gemacht. Ihre Vorbilder fanden die deutschen Orgel- komponisten ebenfalls im Ausland; aber noch eifriger als in den anderen Zweigen bildeten sie fort, was sie namentlich von Fresco- baldi und Sweelingk gelernt hatten. Die Orgel gab dem Virtuosen große Aufgaben, und da der Deutsche mit den Fingern geschickter ist als mit der Kehle, brachte er es im Orgelspiel und etwas später auf dem verwandten Klavier weiter als mit dem Gesang; auch verlangte die Orgel keinen Apparat von Mitwirkenden, wie ihn der Kapellmeister und der Sänger zum Vortrag der Vokalwerke nötig hatte, und schließlich war sie jener komplizierten Seelenverfassung und merkwürdigen Geistesrichtung, die in Bach ihren größten Fürsprecher fand, ganz besonders genehm. Die Oper wurde der Brennpunkt der entgegengesetzten Richtung und riß, unterstützt durch kirchliche Gesangswerke, die ihrem Wesen nach kaum etwas anderes waren als Opern, fast das ganze Interesse der musi- kalischen Welt an sich. Die stillen Kantoren mußten viel Zähig- keit und Sicherheit haben, um sich und ihre Musik dagegen aufrecht zu erhalten. Die Oper behielt lange einen fremdartigen Charakter und verführte gerade dadurch, sowie durch das Gepränge, das sie entfaltete, das große und das vornehme Publikum. Man versuchte in Hamburg eine deutsche Oper zu begründen, konnte aber auf die Dauer gegen die italienische und französische nicht aufkommen. Erst in der zweiten Hälfte des i8. Jahrhunderts gelang es Mozart, die Oper bei uns wirklich heimisch zu machen und ihr die natürliche, wenn auch immer noch bedenkenerregende Stellung zu geben, die sie seitdem behauptet hat.
Schneller kam die Kantorenmusik zur Blüte. Sie hatte ihr Zentrum in Mitteldeutschland, wo die Einflüsse von Süden und Norden zusammentrafen und am intensivsten verarbeitet wurden. Man hatte wenig Geld in den thüringischen Staaten und konnte in der Oper mit Dresden, München und anderen Höfen nicht wetteifern; der musikalische Sinn aber war hochentwickelt und selbständiger als irgendwo anders. Bach stammte, wie bekannt, aus einer Familie, in der seit langem die Organisten- und Kan- torenstellen sich forterbten. Mehrere Vorfahren waren bedeu-
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tende Musiker gewesen; er sah und hörte von Kindheit an nichts als Musik und ergriff natürhch auch das musikahsche Handwerk. Er lernte Orgelspielen, Singen, Violinespielen, wie andere Kinder das Laufen und Sprechen, er wurde nacheinander Organist, Violinist, Kapellmeister und mit 38 Jahren Kantor in Leipzig, wo er gleichmäßig und still bis zu seinem Tode lebte. Seine Zeit rechnete ihn unter die ersten Orgelvirtuosen, aber als Komponist brachte er es zu keiner Berühmtheit. Man fand wohl, daß er sehr gut setze, aber jeder hatte mit sich selbst zu tun und dachte, daß er auch seine Sache gelernt habe und nicht weniger seine Pflicht tue als der Leipziger Orgelspieler, der so unvergleichlich zu improvisieren wußte. Bach selber, glaube ich, wenn man ihn gefragt hätte, würde sich keinen höheren Rang als seinen Freun- den und Kollegen zugewiesen haben; höchstens hätte er seine größere technische Vollkommenheit gelten lassen, aber gewiß nicht begriffen, wie ihn die Folgezeit den größten aller deutschen Musiker nennen konnte. Man kann Bachs Kunst nur verstehen, wenn man ihn zunächst als einen Meister nimmt, der sein Hand- werk von Grund aus gelernt hat, es recht und schlecht ausübt und seinen Lehrlingen so viel übermittelt, als sie nur annehmen wollen. Wenn Bach ans Komponieren ging, tat er es in der Absicht, ein bestimmtes Musikstück zu einem bestimmten Zweck herzustellen, nicht um eine unbestimmte Empfindung irgendwie loszuwerden. Das Primäre ist die Form: er will etwa ein Übungsstück für Klavier in D dur in Gestalt eines Präludiums und einer Fuge schreiben oder eine Kantate über einen bestimmten Choral für Sopran- und Tenorsolo, vierstimmigen Chor und bestimmte In- strumente setzen, wobei ihm eine vorgeschriebene musikalische Ausdrucksweise zu Gebote steht. Das Sekundäre ist der Gehalt: unwillkürlich fließt eine Empfindung, die durch dies oder jenes, bei Vokalwerken durch den Text angeregt ist, in die Form hinein. Manchmal ist die Empfindung gering und kaum zu entdecken in dem Reichtum formaler Gestaltung, so namentlich bei früheren Werken Bachs. Erst allmählich wird er freier und, wie wir sagen, gehaltvoller; die Formen locken gleichsam seine Seele heraus, so daß sie immer offener ihre Schönheit und Kraft und Wunder- lichkeit vor uns ausbreitet. So kommt es, daß der Gehalt bei
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Die deutsche Musik.
Bach mit der Form untrennbar verwachsen ist und sich auf keine Weise von ihr abstrahieren läßt. Seine Seele schwingt in musikalischen Rhythmen und Intervallen, seine Kunst ist seelen- voll gemachte Form. In schlechten Zeiten der Kunst ist es anders. Das Primäre ist der Gehalt: eine Seelenregung (Gefühl oder Ge- danke) entsteht im Künstler und verlangt nach Aussprache, aber diese Seelenregung entsteht nicht in einer künstlerischen Form, nicht als künstlerisches Gebilde; der Künstler sucht erst hinterher eine Form, um sie auszusprechen. Er wählt, vergreift sich vielleicht und kann, auch wenn er richtig wählt, niemals das notwendige Verhältnis zwischen Form und Gehalt herstellen, das dem klassischen Kunstwerk eigen ist. Nur bei einem unvoll- kommenen Stande der Kunst hat der Kritiker recht, wenn er sagt, der Künstler habe dies und jenes zum Ausdruck bringen wollen, und wenn Goethe selber etwa sagt, er habe im Egmont das Dämonische darstellen wollen, so ist das hoffentlich ein Irrtum. Man muß wünschen, daß er gar nichts als gewisse Begeben- heiten hat darstellen, daß er ein Drama über einen bestimmten Stoff hat schreiben wollen, in dem dann vielleicht das Dämonische zum Ausdruck gekommen ist. Mindestens sollte man Bach mit derartigen Zumutungen verschonen; er hat keine Titanenkämpfe oder Engelreigen oder moralische und religiöse Gefühle kompo- nieren wollen, sondern Tokkaten, Konzerte, Kantaten usw. Wie viel höher der Künstler Bach steht als der Künstler Goethe, liegt ja freilich auf der Hand. Nicht daß dies Goethes Schuld wäre und es ihm an künstlerischen Qualitäten mangelte: er hatte sie im höchsten Maße; er hatte spezielle, z. B. ein angeborenes Erzähler- und Verstalent, und er hatte die grundlegende schöpferische Fähigkeit, d. h. sein Erleben verdichtete und gestaltete sich von selbst zu künstlerischen Gebilden. Aber diese Eigenschaften konnten nicht rein zur Erscheinung kommen, sich nicht auf natürliche Weise miteinander verbinden, weil die unmittelbare Sicherheit der Form fehlte; wogegen Bachs künstlerische Per- sönlichkeit ohne Mühe und Zwang auf dem festen Grunde formaler Meisterschaft sich entfaltete. Die Mittel, wie er sie übernahm und fortbildete, versagten ihm niemals den Dienst; sie gewährten ihm die Möglichkeit, bis an die Grenzen seiner
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Erster Teil.
Natur zu gehen, so wie später Beethovens Formen standhielten und stark genug waren, auch die unmäßigsten Ergießungen in feste Kunstwerke zu bannen. FreiHch sind sie bei Beethoven nahe daran zu zerspringen, und die Nachfolger haben sich mit logischem Instinkt an die Zerstörung dessen gemacht, was er zum Wanken brachte. Schon Bach, das muß gesagt werden, neigt sich dem Extrem zu. Bei ihm liegt die Gefahr nicht im Gewalt- samen wie bei Beethoven, nicht im Barocken wie bei Schumann, sondern in der Wollust der Nuance, wenn man mir den Ausdruck gestattet. Er liebt ein bodenloses Versinken in die überreiche, überzarte Welt seiner ungeheuer verästelten Natur; deshalb neigt er zum Raffinement, einem gefährlichen Gegner klassischer Kunst. Vielleicht ist er niemals wirklich raffiniert, sondern nur delikat, aber er streift nicht selten die Grenze. Manchmal findet jedoch seine Delikatesse auch wieder die naivsten Töne, wie sie nur aus einer geraden, starken Seele kommen können, und man darf nie aus dem Auge verlieren, daß die künstlerische Erscheinung Bachs im ganzen eine vollkommen intakte war. Er ist das höchste Ge- bilde deutscher Kunst und viel zu gut dazu, als Leckerspeise für überreizte moderne Gaumen zu dienen. Man muß gegen den Bachkultus der Gegenwart protestieren, soweit er durch krank- hafte und unkünstlerische Empfindungen veranlaßt ist, seien diese nun christlicher Art oder richten sie sich z. B. auf das fremdartige und scheinbar Raffinierte seiner künstlerischen Ausdrucksweise.
Händel ist die ergänzende Natur zu Bach, in allem entgegen- gesetzt gerichtet, aber wie er die Frucht der langen Bemühungen des deutschen Kunstfleißes. Man schätzt ihn heute gering, nur zum Teil mit Grund, wie mir scheint; den nervösen Bachschwär- mern fehlt in der Regel der Sinn gerade für die großen Eigen- schaften Händeis. Man kann Händel einen Abkömmling der oben beschriebenen weltmännischen Musiker nennen. Er war Opernkomponist, hatte ein reiches, wechselvolles Leben, war mehrere Jahre in Italien und lebte dann dauernd in England, wo er in hochgeachteter Stellung als weltberühmter Komponist starb. Die engen Verhältnisse, in denen Bach lebte, wären für ihn Qual und Tod gewesen; er strebte ins Weite und brauchte, um zu
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Die deutsche Musik.
gedeihen, eine an Anregungen und Erfolgen reiche Existenz. Man kann nicht sagen, daß seine Abhängigkeit vom Ausland viel größer gewesen wäre als die Bachs. Bach war in Berührung mit Italien und Frankreich und ohne jede autochthone Beschränktheit und Dünkelhaftigkeit. Er ließ mit Freude auf sich wirken, was zu ihm drang, da er nicht selbst an der Quelle studieren konnte. Händel schrieb zwar italienische Opern und Kantaten, hielt sich in ihnen wie in seinen Instrumentalwerken direkt an italienische Vorbilder, bewahrte aber durchaus seinen deutschen Charakter. Seine Natur war bei großer Stärke und Konsequenz von einer Beweglichkeit, die Bach abging, jeder Lage und Anforderung sofort gewachsen, als Künstler leicht und frei sich gebend, sprudelnd von Erfindung, unaufhaltsam in der Durchführung, ein Dramatiker, kein Lyriker wie Bach. Seine dramatische Rich- tung geht auf das Sinnenfällige; er liebt die schöne Linie, ist festlich und rauschend. Es fehlt ihm alle Neigung, durch Er- schrecken und Betäuben zu wirken wie Wagner etwa; seine Tragik ist nicht lastend und durch festbannende Ausführlichkeit quälend. Sein frischer, ins Helle strebender Geist weht über Tiefen des Schmerzes hin, ohne sie kennen und ermessen zu wollen. Er hat Kraft und Reichtum der Charakteristik, vermeidet aber auch dabei jede nicht unbedingt gebotene Nuancierung und Vertiefung. Er ist oberflächlich, sagt man; ich glaube, er ist lucid. Seine kristallene Klarheit zu beurteilen sind wir vielleicht nicht im- stande. Daß er oft nicht auf seiner Höhe ist, muß man zugeben; seine Natur hatte wohl bei aller Großheit irgendwo einen Bruch, ähnlich wie Mozarts Natur. Es scheint, daß diese Art Mensch in Deutschland nicht gelingt. Ihnen fehlt etwas, das luciden Naturen des Südens, wie Sophokles oder Raffael nicht fehlt; ihre Klassizität versagt an irgendeinem Punkte, den festzustellen ich hier nicht versuchen will. Vielleicht gibt man dies bei Mozart nicht zu; mir scheint aber, was ihn uns zugänglicher und liebens- würdiger macht als Händel, ist einerseits seine uns näherliegende Form, andererseits seine Biegsamkeit und Nachgiebigkeit. Er nimmt vieles auf und macht es zu Musik, was ihm im Grunde fremd ist, während der männlichere Händel den ausschließenden Konsequenzen seiner Natur keinen Fuß breit weicht. — Es gibt
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Erster Teil.
noch einen anderen rein künstlerischen Grund, der Händel hinter Bach zurückstellt. Händel beherrscht wie Bach die Technik voll- kommen und ist in allen Zweigen der damaligen Musik Meister; aber er ist mehr Virtuose als Handwerker. Er benutzt die Mittel, weil er wirken will, nicht weil er sie liebt; er versenkt sich nicht in sie mit der Verehrung, die Bach den Formen widmet. Bach hat fast sämtliche musikalischen Formen weitergebildet und allen technischen Fragen die größte Aufmerksamkeit geschenkt; man denke an die Temperierung des Klaviers oder an die Erfindung einer neuen Violenart. Händel hat nichts Wesentliches zur Ver- vollkommnung der Formen und anderen Kunstmittel getan; auch sein Oratorium ist formal nichts Epochemachendes. Bach war der größte Lehrer seiner Zeit und hinterließ fast die ganze jüngere Generation als seine Schüler. Von Händel ist keine Schule aus- gegangen; er hatte weniger Interesse für das, was nach ihm kam. Wie es aber auch mit der Bedeutung beider Männer stehen mag, sie gehören zueinander und schließen eine große musikalische Entwicklung ab, in derselben Weise wie Josquin, Palestrina und Orlandus Lassus die vorangegangene Epoche krönten. Die wich- tigste Form, die durch sie zur Blüte kam, ist das kirchliche Gesang- werk, dessen Stil durch ein Zusammenwirken der Motette und der Oper gebildet worden war; eine zweite Form ist das instru- mentale Konzert, das mit einigen geringeren Formen zusammen die Instrumentalmusik zu einem ersten Höhepunkt führte. Es lag in beiden Naturen, wie wir sahen, neben der großen konstruk- tiven Fähigkeit und Neigung etwas Destruktives, das vorwärts, aber auch abwärts wies. Sie ließen es jedoch nicht mächtig wer- den; die Kraft und Sicherheit ihrer organisierenden und erhalten- den Instinkte blieb ausschlaggebend. Ihre Nachfolger gingen einen Schritt weiter. Auch sie sind noch keine Revolutionäre, die von Freiheit reden und Zerstörung wollen, aber ihr Naturell drängt sie unmerklich von der Beschränktheit und Gehaltenheit ab und nähert sie dem Unbegrenzten und damit der Desorgani- sierung. Sie sind den großen Neuerern des 17. Jahrhunderts zu vergleichen; sie schauen vorwärts, nicht rückwärts, und sind im Begriff, das alte sichere Land preiszugeben, um ungewisser Ent- deckungen und Eroberungen willen. ,
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Die deutsche Musik.
Mozart und Beethoven, wenn ich ihre Vorläufer Gluck und Haydn hier beiseite lassen darf, sind das zweite große Paar unserer musikalischen Blütezeit. Sie haben hinreißender und verführe- rischer vielleicht, eindringlicher auf jeden Fall als Bach und Händel die deutsche Seele in Musik gesetzt. Bekanntlich gingen sie nicht von diesen aus, wenn sie auch indirekt von ihnen abhängen. Die Musik trieb damals so viele Schößlinge nebeneinander, daß auch die größten zusammenfassenden Naturen nicht alles um- spannen konnten, sondern je nach dem Ausgangspunkt auf ver- schiedene Wege und zu verschiedenen Zielen kamen. Mozart fand die italienische Oper, die Scarlatti in die Bahn des bei canto geleitet hatte, zu virtuosischer Oberflächlichkeit ausgeartet vor und sah die französische Oper und ihren Fürsprecher Gluck nach der entgegengesetzten Richtung gehen, die auch zur Einseitigkeit führen mußte. Er brachte beide zu einer Einheit, die den höchsten Punkt darstellt, den die Oper als künstlerisches Gebilde bis dahin (und auch bis heute, wie mir scheint) erreicht hatte. Dadurch schloß er eine zweihundertjährige Entwicklung ab. Zugleich aber barg seine Oper Elemente in sich, die ihre feste schöne Form zersetzen und einer neuen Entwicklung zum Anstoß dienen mußten. In dieser Entwicklung stehen wir noch heute, ohne daß ein Ende abzusehen wäre. Die psychologische Vertiefung der Oper war das Zersetzende. Mozart fand Anfänge charak- terisierender Musik vor, wurde aber der erste, der sie methodisch verwertete. Die Handlung, die Charaktere und die Situationen durch die Musik zu erklären und psychologisch auszuschöpfen war sein Ziel. Damit aber ließ sich die Gestaltung der Oper als eine Aneinanderfädelung von in sich geschlossenen Gesangs- nummern nicht in Einklang bringen. Der Konflikt, der ent- stand, blieb bei ihm noch latent; er liebte zu sehr die gerundete Form und war zu fein und gründlich gebildet, als daß er dem neuen Prinzip ohne weiteres das Kunstwerk hätte opfern wollen. Aber seine Erben kannten diese Bedenken nicht mehr. Wir sind heute nicht gewöhnt, Mozart als Charakteristiker zu nehmen, sehen in ihm vielmehr den reinen Musiker, dessen Natur der psycho- logischen Vielseitigkeit und Verinnerlichung widerstrebt. Das liegt aber daran, daß wir auf seiner Bahn beständig fortgeschritten
Horneffer, Das klassische Ideal.
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Erster Teil.
sind. Weil wir ihn überboten haben, erscheint uns, was seine Stärke ist, eher als seine Schwäche, während wir Einfachheit und leichte Formenbeherrschung, da sie uns fremd und abhanden gekommen sind, als sein eigentliches Wesen empfinden. Deshalb treten für uns diese Eigenschaften in den Vordergrund. Sie gehörten aber nicht Mozart besonders an, waren vielmehr seinem ganzen Kreise eigentümlich, über dessen Geschmack er durch seine Bestrebungen sich erhob. Man frage nur seine Zeitgenossen über Figaros Hochzeit und Don Juan. Da war niemand, der von Tändelei und dankbaren Arien sprach, sondern man war erstaunt, ja zum Teil unwillig über den Charakteristiker, der die Kunstmittel auf so neue kühne Weise benutzte, dramatisches Feuer nament- lich in die Ensemblesätze brachte und das Orchester durch Ver- stärkung und ausgiebige Verwendung zu einem so wichtigen Faktor machte, wie er in der Oper noch nie gewesen war. Überdies muß man im Auge behalten, daß Mozart nicht zum vollen Ausleben gekommen ist. Als er seinen Vorbildern über den Kopf gewachsen war und immer selbstgewisser seinen eignen Weg ging, hatte er nur noch zehn Jahre zum Leben übrig. Er nutzte sie aus, so gut er konnte; aber wer will sagen, wie weit er gekommen wäre, wenn er noch 30 Jahre länger Zeit gehabt hätte, seine Natur zu erweitern und zu vertiefen und seine beste Kraft in den Dienst des Dramas zu stellen?
Beethoven, auf Haydn und Mozart gestützt, brachte eine andere Entwicklung zum Höhepunkt und zu einem scheinbaren Abschluß: die selbständige Instrumentalmusik. Er vereinigte alles, was Italien und Deutschland auf den Gebieten der Kammer- und Orchestermusik geleistet hatte. Das Klavier hatte durch Änderung der Anschlagsmechanik und durch Vergrößerung einen neuen Charakter bekommen; die Streichinstrumente waren in den letzten hundert Jahren erstaunlich fortgeschritten; für das Orchester wuchsen Interesse und Verständnis. Die Deutschen hatten für Instrumentalmusik, absolute Musik, wie man sie auch nennt, eine besondere Vorliebe bekommen; sie fühlten ganz richtig, daß die intensivste Musik die ist, der kein begriffliches Moment zu Hilfe kommt; auch fanden sie bei den Instrumenten reiche Gelegenheit, ihrer Neigung zum Erfinden, Probieren und Ver-
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Die deutsche Musik.
bessern nachzuhängen; der Instrumentenbau wurde zu einem bestimmenden Teil der musikalischen Entwicklung. Dazu kam, daß die Instrumentalmusik große Freiheit und unbegrenzten Reichtum in der Form ermöglichte; es gab keine Schranke als die Leistungsfähigkeit des Instruments und des Spielers, die beständig vergrößert wurden; wogegen die Vokalmusik immer den Text einerseits und die menschliche Stimme in ihrem beschränkten, nie zu erweiternden Umfang andererseits zu berücksichtigen hatte. Es war die kompliziertere umfänglichere Seele, die sich instru- mental aussprechen wollte, und es war die Form der Sonate, in der sie das vollkommenste Ausdrucksmittel fand. Die Sonate war vermutlich aus dem Konzert erwachsen, wurde durch Haydn und Mozart fertig ausgebildet und von Beethoven in aller ihrer Tiefe ausgeschöpft und, wie es scheint, auch verbraucht. Nach ihm hat sie zwar noch vielen guten Kompositionen zum Dasein ver- helfen, ist aber nicht mehr weiterentwickelt worden. Die moder- nen Symphonien oder gar die symphonischen Dichtungen kann ich als Fortbildungen nicht gelten lassen. — Die Sonate ist, wie ich meine, die größte formale Leistung der deutschen Musik. Sie steht noch höher als die Fuge, weil sie reichhaltiger und um- fänglicher ist. Das Prinzip ist ein uraltes: Verarbeitung eines Themas durch Imitation, Umformung und Kontrapungierung. So waren im Grunde schon die altniederländischen Kompositionen gebildet; doch machte jede Zeit etwas anderes aus dem Prinzip, das seiner Natur nach unerschöpfliche Variationen zuließ. Bald war man strenger, bald loser; bald legte man das Gewicht auf das Thema, bald auf seine Behandlung, und beides, Thema und Be- handlung, konnte auf das mannigfachste gestaltet werden. Die Fuge war eine besonders strenge Form und stellte an Fähigkeit und Übung des Musikers die höchsten Anforderungen; die Sonate war freier und ließ dem Naturell mehr Raum. Ein genauerer Vergleich beider Formen, der viel Licht bringen könnte, würde uns hier zu weit führen. Was die Fuge leisten konnte, zeigt etwa das Kyrie in Bachs Hmoll- Messe; wie hoch die Sonate getrieben werden konnte, kann man am ersten Satz der neunten Symphonie sehen. Dort das ernste geschlossene, hier das reich- haltige, die mannigfachsten Bildungen zulassende Bauwerk. Die
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erster Teil.
Sonate bedeutete für Beethoven viel mehr als für Haydn und Mozart, und auch mehr als die Fuge für Bach oder Händel. Er verdankt ihr, daß er ein großer Künstler geworden ist und kein wüster Geselle, der zwischen Himmelsstürmerei, Gefühlsüber- schwang und Hoffnungslosigkeit sein resultatloses Leben ver- zehrt. Es ist wundervoll zu sehen, wie der unbändige Strom in dem Bett dieser Form gehalten wird, die ihm Richtung und ge- sammelte Kraft gibt; ohne sie würde er über das Feld sich ergießen, sich verlieren, sich aufreiben. Man sieht bei Beethoven, was Formen bewirken können; sie heben alles in die Höhe reiner Kunst und streifen doch kein Atom von dem Blütenstäube der verletz- lichsten Natur ab. Die Sonate — ich darf die anderen Formen übergehen — ließ ihm das Maß der Freiheit, das er zur Entfaltung seiner Kraft nötig hatte. Sie ermöglichte ihm, von einem festen Punkte aus einen weiten Umkreis zu durchstreifen, ohne sich zu verirren; sie holte die Schätze aus den verborgensten Winkeln seiner scheuen Seele hervor; sie ließ ihn das Problem lösen, das niemand für lösbar gehalten hätte: das Streben ins Unbegrenzte künstlerisch, d. h. in freiwilliger Begrenzung, auszudrücken. — Das Zersetzende der Beethovenschen Musik lag außer in dem Gehalt, der zur Revolution aufzufordern schien, im instrumentalen Stil. Soviel Beethoven zu seiner Vervollkommnung beitrug, brachte er ihn doch nicht entfernt auf die überhaupt erreichbare Höhe, sondern wurde wie Mozart nur der Anfang einer neuen Ent- wicklung. Deren Ziel ist vielleicht nie zu verwirklichen, und ist in jedem Fall ein unkünstlerisches. Seine erste Etappe ist, die Individualität jedes Instrum.ents kennen zu lernen und zur Cha- rakteristik schrankenlos zu verwenden.
Mit Mozart und Beethoven ging die klassische deutsche Musik zu Grabe. Ob sie wieder auferstehen wird, kann heute niemand sagen. Wir stehen, rein musikalisch betrachtet, unter dem zwie- fachen Zeichen des ererbten Besitzes: der erhalten und gestützt wird, der vertan und ruiniert wird. Einige kleinere Formen, darunter der moderne Tanz und das Sanglied, wurden noch ge- bildet. Beide gingen aus der sogenannten Liedform hervor, die ebenso alt ist wie das Prinzip der Fuge und Sonate, aber nicht wie jene eine konstruktive Kraft im großen Sinne besitzt. Ersterer
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Die deutsche Musik.
brachte mancherlei Gutes hervor, konnte aber seiner Natur nach keine große Bedeutung gewinnen und hatte die Neigung, in eine zu tiefe Sphäre herabzusinken. Letzteres suchte die Arie und das Sanglied des i8. Jahrhunderts zu vereinigen, ließ aber die Form, die das da-capo-Prinzip der Arie und Strophe und Vers dem Sanglied gegeben hatten, fahren, ohne einen Ersatz zu finden. Das Lied von Schubert an bis heute schwebt als Kunstform in der Luft, soweit es nicht strophisch gebaut ist. Die Musik wird weder durch den Text gebunden, was bei strophischer Lyrik das Natür- liche v/äre, noch durch ein musikalisches Prinzip, sowie man die Liedform verläßt. So kam das Sanglied auf dasselbe hinaus wie die Oper: auf einen Ruin der Musik als Kunst. Sie gibt sich selber preis, mißachtet die Gesetze, die sie selbständig gebildet und entwickelt hatte, und wird eine Magd außermusikalischer Ten- denzen. Dies war bekanntlich das ungewollte Ziel der Wagner- schen Oper. Wagner, über den ich nur sage, was in unserem Zusammenhang nötig ist, hat das große Verdienst, die deutsche Musik aus einem kleinlichen Epigonentum herausgerissen zu haben, in das sie zu versinken drohte. Er brachte eine scheinbare Erneuerung der deutschen Musik, wollte ihr eine neue Aufgabe und eine neue Form geben, die, wie er träumte, nicht nur die gesamte Musik, sondern auch die anderen Künste in sich auf- nehmen sollte. Er erfüllte aber keine dieser Verheißungen, und erschwerte, als sich die Welt aus seinem. Bann zu befreien anfing, die Würdigung seiner wahren Leistungen, die in einer Beschleu- nigung und Vertiefung der musikalischen Entwicklung bestehen. Diese Entwicklung hat er nicht geschaffen, sondern fand sie vor, erhob sie aber zu einer ungeahnten Ausdehnung und Macht. Seine Drama ist keine Form, sondern, als m.usikalisches Gebilde, die Auflösung jeglicher Form; seine Technik hat die Ausdrucks- mittel ungeheuer bereichert; sein Gehalt ist, wie Nietzsche sah, die moderne Seele, womit denn freilich die Tendenz zum Klassischen schwer vereinbar ist. Seine Stellung zur Musik als Handwerk und als Kunst ließe sich der Stellung Bachs als eine genau anti- podische gegenüberstellen.
Was seit Wagner musiziert wird, klingt einem als ein arges Durcheinander ins Ohr, aus dem man hin und wieder ein paar
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Erster Teil.
verheißungsvolle Töne, als Grundton aber leider einen Kultus der Wüstheit heraushört. Man will bis ans Ende des einmal eingeschlagenen Weges gehen. Darin zeigt sich Konsequenz und ein viel tieferes Verhältnis zur Musik, als der häufige Geschmacks- wechsel, den wir in den literarischen Moden erleben, zur Poesie verrät. Die große Gefahr, der diese Konsequenz uns aussetzt, ist jedoch, daß die deutsche Musik im Sande der Virtuosität und im Meere der Gestaltlosigkeit ein Ende nimmt. Anzeichen gibt es dafür. Andererseits hat aber die Musik bei uns viel größere Hilfskräfte zur Verfügung als die anderen Künste, namentlich dadurch, daß die Vorbilder ihr unmittelbar vor Augen stehen. Es bedarf nur einer Sammlung des unzv/eifelhaft noch immer vorhandenen konstruktiven Künstlersinnes. Vielleicht kommt von außen ein Anstoß; vielleicht muß Deutschland noch einmal in die Schule gehen und sich von seinen eigenen Schülern, die es jetzt im Norden und Süden, im Osten und Westen hat, einen Aus- weg aus der Sackgasse zeigen lassen, in die es sich verrannt hat. Doch wer will sagen, was die Zukunft uns bringt!
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III.
DIE DEUTSCHE PROSA.
Die Musik ist eins der hellsten Kapitel der deutschen Kunst- geschichte, die Prosa eins der dunkelsten. Dort ist durch unermüdliches Streben etwas erreicht worden, auf das wir mit Freude und Stolz zurückschauen dürfen; hier sieht man nur ein- zelne Versuche, die mit Mühe gegen Torheit und Gleichgültig- keit ankämpfen, so daß kaum die ersten Schritte getan sind. Es ist merkwürdig, wie unabhängig die verschiedenen Zweige der Kunst voneinander sind. Man sollte meinen, echtes künst- lerisches Gefühl müßte, wenn es überhaupt vorhanden ist, sich in allen Betätigungen eines Menschen verraten, da es doch nur von einer künstlerischen, d. h. organisierten Natur ausgehen kann. Offenbar ist es nicht so; offenbar kann man teilweise Künstler und teilweise Barbar sein. Man kann in der Musik oder auch in der bildenden Kunst feines Verständnis für alle ästhetischen Erfordernisse besitzen und, wenn man schreibt, redet oder liest, nicht nur eines entwickelten Geschmacks er- mangeln, was bei einseitiger Ausbildung erklärlich wäre, sondern den Sinn für künstlerische Wertung überhaupt vermissen lassen. Es scheint, man hat bei uns noch nicht entdeckt, daß Schreiben und Reden ein Teil der Kunst ist. Und doch gehört es zu ihren primitivsten Zweigen; es ist geknüpft an die ursprünglichste
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Erster Teil.
und allgemeinste geistige Verrichtung des Menschen, das Spre- chen. Wie die Schmückung des Körpers und der Gerätschaften doch wohl der Anfang der bildenden Kunst ist, so die geschmückte Rede die Grundlage oder wenigstens eine Grundlage der Poesie; die andere wird man auf lyrisch-musikalischem Gebiet suchen. Bei den Griechen sieht man die Redekunst von Anfang an blühen und gedeihen, jeden Höherstrebenden sich um sie bemühen, jeden im Klaren sowohl über ihren Wert wie über ihre Ziele. Das Schreiben, zunächst ein Mittel, der Rede weitere und dauerndere Wirksamkeit zu geben, wurde allmählich ihr gefährlicher Kon- kurrent. Das Altertum ließ beide friedlich und zu gegenseitigem Nutzen nebeneinander wirken; die neuere Zeit aber entzog der Redekunst fast allen Boden, ohne jedoch, wenigstens in Deutsch- land, der Kunst des Schreibens zu geben, was sie jener nahm. In Frankreich verlernte man das Reden nie ganz und bildete das Schreiben zu hoher Vollkommenheit aus; in Deutschland aber blieb das Reden, trotzdem die Kanzel Gelegenheit gab es zu üben, eine fremde Kunst, der nur Vereinzelte sich zu nähern suchten, und der Prosa erging es wenig besser, obgleich un- zählige Schriftsteller unzählige Prosaschriften zu Markte brachten und noch bringen.
Seit einiger Zeit ist das Interesse für sprachliche und stilisti- sche Fragen allgemeiner geworden. Nicht nur den Dichtern, die sich der Prosa bedienen, sondern auch anderen Schriftstellern, gelehrten und ungelehrten, kommen Gedanken über die Form prosaischer Schriften, über die Vorbedingungen eines würdigen Stils, über Natur und Bedeutung der sprachlichen Ausdrucks- mittel. Das ist erfreulich, kann aber nur Segen bringen, wenn sich zu den Gedanken das persönliche Streben nach ihrer Ver- wirklichung gesellt. Mit Theorien ist wenig getan; wir sind mit Betrachtungen über Dinge, die vorwiegend theoretisch sind — ausschließlich sind es hoffentlich keine — , derart überladen, daß man Grund hat, wo es auf die Praxis ankommt, die Theorie soviel wie möglich ruhen zu lassen. Ein Buch über die Gesetze der Sprache und des Stils hat vom Gesichtspunkt der Kultur aus weniger Wert, als eine gut geschriebene Seite über einen be- liebigen Gegenstand. Denn Kultur ist doch Können, ist doch
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Die deutsche Prosa.
Umsetzen des geistigen Erwerbs in die Tat, nicht endloses Ver- mehren von Kenntnissen und Erkenntnissen. Nur soweit es für die Praxis unbedingt nötig ist, sollte man daher über das Schreiben theoretisieren. Die kleinen Beobachtungen, die ich hier mitzuteilen versuche, haben lediglich praktischen, keinen theoretischen oder historischen Zweck. Sie wollen Verständigung mit denen suchen, die in derselben Lage sind wie ich: nach Stil strebend und über den Weg zu ihm Klarheit suchend.
Es gibt zwei Arten von Schriftstellern (die Redner lasse ich jetzt außer Betracht): solche, die sich mit der Form Mühe geben, und solche, die sich keine Mühe geben. Die letzteren tun dies mit oder ohne Prinzip. Im zweiten Falle ist über sie kein Wort nötig, man soll sie in ihrer Unschuld gewähren lassen. Tun sie es mit Prinzip, so pflegen sie der irrtümlichen Meinung zu sein, daß man genau so schreiben müsse, wie man spricht, damit man natürlich bleibe. Der Ausdruck müsse von selber kommen und ebenso, wie er sich einstelle, aufs Papier gebracht werden; wer lange überlege und wähle, verliere die Sicherheit und Ursprüng- lichkeit im Ausdruck. Jedes Schriftstück habe das Ziel, den Eindruck einer im Moment entstehenden Auslassung zu machen, so daß selbst mißglückte Wendungen, Unklarheiten und übereilte Gedanken nicht immer zu tilgen seien; denn sie vermehren den Eindruck des Improvisierten und erhöhen den Reiz des Nieder- geschriebenen. Hierhin gehören die Causeurs, die sich besonders unter Kritikern und Romanschreibern finden, aber nicht die ge- bildeten unter ihnen, sondern die groben. Ein feiner Causeur, wie Heine etwa, berechnet die Effekte seines scheinbar nachlässigen Stils aufs genaueste, weiß aber die Spuren der abwägenden Sorg- falt zu verwischen. Heines Leichtigkeit und Grazie, in Prosa wie in Versen, beruht weniger auf Improvisation als der um- ständliche Ernst mancher Periodenbauer. Man verwechselt wieder einmal Natürlichkeit und Naturalismus. Wie es nun einmal mit der deutschen Prosa steht, ist Natürlichkeit nur durch höchste Kunst als Resultat langer Übung erreichbar. Außerdem soll der Schriftsteller keineswegs danach streben, überall als Improvisator zu erscheinen; er soll etwas Fertiges hinstellen, das nur in ganz seltenen Fällen vielleicht den Ein-
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Erster Teil.
druck des Unvorbereiteten, Unfertigen machen darf. Die Mühe, die er aufgewendet hat, darf niemals sichtbar sein; tilgt er aber Unvollkommenheiten nicht, um unmittelbarer zu wirken, so kann er höchstens von Barbaren Lob ernten. Etwas anderes ist es, wenn jemand, um die Lebhaftigkeit der Darstellung zu erhöhen, sich den Anschein gibt, als ob sein Gedanke und dessen sprachliche Fassung während des Schreibens erst entstünde und sich entwickelte, so daß er etwa Fragen stellt, auf die er zunächst keine oder falsche und ungenügende Antworten gibt und erst allmählich, durch allerhand Einwände und Weiterbildungen zu dem scheinbar unbeabsichtigten Resultat gelangt. Nietzsche meinte freilich, man solle seine Gedanken, nicht das Denken der Gedanken mitteilen, was als allgemeine Regel auch gewiß richtig ist; aber Ausnahmen sind gestattet und langweiligen Schrift- stellern sogar zu empfehlen.
Nun ist den Naturalisten des Stils wie anderen Naturalisten eines zuzugestehen: das Streben nach Aufrichtigkeit. Wer ein- fach empfindet, schaut und denkt, und ebenso einfach eine Be- gebenheit schildern, einen Gedanken oder eine Empfindung aus- sprechen will, findet in der deutschen Schriftsprache große Schwierigkeiten. Sie rühren, wie schon öfter betont worden ist, zum großen Teil daher, daß die Deutschen nicht die Sprache sprechen, die sie schreiben, daß ihnen das Schriftdeutsch nicht die Muttersprache, sondern eine fremde Sprache ist, in die sie erst übersetzen müssen, was sie sagen wollen. Man spricht in Süddeutschland Dialekte und in Norddeutschland allerhand Jar- gons, die von der Schriftsprache noch weiter entfernt sind als der Schlafrock vom Frack. Wer aber den Frack anzieht, um Dinge auszusprechen, die im Schlafrock entstanden sind, setzt unvermeidlich eine feierliche oder eine unglückliche Miene auf; er wird unaufrichtig oder fängt an zu stammeln oder benimmt sich so, wie es für das Hauskleid, aber nicht für das Staatskleid paßt. Daher der Protest der von Zeit zu Zeit auftauchenden Dialektdichter und Schriftsteller im Straßenjargon; ihr kräftiges Naturell will den unmittelbaren Erfahrungen treu bleiben und das Künstlerische, das aus jedem Stoff, also auch aus dem nächstliegenden zu gewinnen ist, herausholen. Sie fühlen aber,
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Die deutsche Prosa.
daß durch eine Übersetzung das Beste verloren geht, und wollen lieber Barbaren als affektiert sein. Wäre die Schriftsprache ein ebenso natürlicher Erwerb ihrer Seele wie die Erfahrungen, die sie ausdrücken wollen, so könnte weder von Dialektdichtungen, noch von rohen hochdeutschen Produkten die Rede sein; denn die Erfahrungen würden sich von Haus aus in der Schriftsprache kristallisieren und durch die Aufzeichnung nichts von ihrer Ursprünglichkeit einbüßen. Sie hätten nur Vorteil vom Nieder- schreiben, nämlich den, in die Sphäre der Kunst gehoben zu werden, von der sie nun ein für allemal ausgeschlossen sind. Was die Dialekte von der Schriftsprache unterscheidet und ihre Verderblichkeit für den hochdeutschen Stil ausmacht, sind nicht so sehr die Satzkonstruktionen, die ja nur im Alemannischen bedeutend abweichen, als namentlich der Klang und Gang der Sprache, der für den Schriftsteller das Wesentlichste ist. Auf die paar Phrasen und Worte, die man beim Sprechen, aber nicht in der Schriftsprache braucht, kommt gar nichts an. Der Sprechende wird sich immer etwas gehen lassen; das ist natürlich und in der Ordnung, war auch im Altertum nicht anders und ist in Frankreich nicht anders. Wer schreibt, nimmt sich mehr zu- sammen und hebt sich über die gewöhnliche Sprechweise hinaus. Aber welch ein Unterschied im Verhältnis zur Volkssprache dort und hier! Wie nahe stehen Cicero oder Voltaire dem mündlichen Ausdruck , wie fern ein deutscher Romanschreiber oder gar Gelehrter!
Es gibt aber Leute, die uns Deutsche deshalb preisen und es für keinen Schaden, vielmehr für einen Gewinn halten, daß der Schreibende ein künstlich angeeignetes Material unter den Händen hat; denn dadurch sei er gezwungen, auf sich Acht zu geben, seinen Stoff gut zu beherrschen und dem Ausdruck eine Sorgfalt zu widmen, die er doch sonst nicht nötig hätte. Leider kann man nicht leugnen, daß dies vielfach zutrifft: die Schriftsteller würden sich keine Mühe geben, wenn ihnen die Sprache nicht Schwierig- keiten machte. Das beweist aber, glaube ich, ein ähnliches Ver- hältnis zur Kunst, wie es ein Hund zur Reinlichkeit hat, den man ins Wasser wirft. Schopenhauer beklagt in demselben Sinne den Rückgang des Lateinschreibens : es habe das Interesse für
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Erster Teil.
Stil überhaupt aufrecht erhalten. Traurig, daß er nicht ganz unrecht hat, daß in der Tat die eigene Sprache nur ernst genommen wird, weil man eine andere ernst nehmen muß. Aber es geschieht auch dann nicht einmal; denn wer schreibt ein grausigeres Deutsch als unsere Lateiner? Ich meine, man soll das Interesse direkt auf die deutsche Schriftsprache richten, von Kindheit an einen möglichst großen und sicheren Fonds von Sprachfähigkeit sam- meln und nicht wie die Kinder verachten, v/as einem vertraut ist. Es spukt in deutschen Köpfen eine seltsame Anschauung von der Kunst. Man möchte ihr einen recht fernen Platz von der Alltäglichkeit geben; man empfiehlt, sich nur selten mit ihr abzugeben, weil man dadurch ein besserer, ehrlicherer Künstler werde; man findet es aus dem Grunde opportun, Fresken oben an der Decke anzubringen, weil die Mühe, sie zu beschauen, ihre Wirkung vertiefe. Wie weit dies für den Liebhaber richtig ist, will ich nicht untersuchen; er mag recht tun und ist in der Regel auch gezwungen, die Kunst auf den Sonntag zu verlegen. Daß es für den Künstler falsch ist, bedarf keines Bev/eises. Wer nicht Tag und Nacht mit seiner Kunst lebt, bleibt Dilettant. Gegen die künstlerische Tätigkeit als eine berufsmäßige zu eifern, scheint mir ganz verfehlt. Es mag als seltene Ausnahme vorkom- men, daß jemand ein wirklicher Schauspieler ist, wenn er zum erstenmal die Bühne betritt; aber auch ihm ist dann seine Kunst nicht vom Himmel gefallen, sondern er hat sie unbewußt geübt; sein Leben ist, ohne daß er es merkte, seine Bühne gewesen. Und ähnlich steht es mit anderen Kunstfächern.
Niemand wird leugnen, daß die Kenntnis fremder Sprachen großen Wert für den Stil in der Muttersprache hat. Sie dienen der Klärung, Vertiefung und Bereicherung des Begriffsschatzes, wie Schopenhauer sah, da keine Sprache einen eigenen Ausdruck für jeden Begriff hat und die Beziehungen der Begriffe unter- einander verschieden empfunden und ausgedrückt werden. Außerdem verfeinern die griechische und die lateinische Sprache durch ihre logische Exaktheit und ihren Reichtum an grammati- schen Formen das Sprachgefühl. Schließlich muß ein deutscher Prosaiker fremde, antike oder wenigstens französische, Autoren in der Ursprache lesen, um seinen Geschmack und sein Urteil
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zu bilden. Zu vermeiden aber ist, was in Deutschland nicht immer vermieden wird, daß man über den fremden Sprachen die eigene versäumt. Der normale Gymnasiast beherrscht wohl die lateinische, aber oft nicht die deutsche Grammatik; Stileigen- tümlichkeiten fremder Sprachen v/erden der eigenen aufgezwun- gen. Wir alle haben die verheerenden Wirkungen des soge- nannten Übersetzungsdeutsch am eigenen Leibe erfahren. Der Knabe wird in einer Zeit, v/o alles darauf ankäme, ihn in der Muttersprache heimisch und sicher zu machen, durch ein Gewirr fremdländischer Stile geführt, das ihn in die vollkommenste Unsicherheit bringen muß. Er, der noch nicht imstande ist, das Einfachste und ihm am nächsten Liegende klar und an- gemessen auszudrücken, soll die verschiedensten Autoren, pro- saische und poetische, in seine Sprache übersetzen, die er nicht beherrscht, soll etwas Unverstandenes oder wenigstens Fremd- artiges mit fremden unbeherrschten Mitteln reproduzieren. Der Lehrer, der zuweilen nicht weniger steuerlos ist als der Schüler, pflegt ihm die unlösliche Aufgabe entweder dadurch zu erleichtern, daß er ihn zur Nachbildung der fremden Stile, d. h. zur Ver- gewaltigung des deutschen Stils veranlaßt, oder dadurch, daß er Anleitung zum wirklichen Übersetzen gibt, worunter die Wieder- gabe in gutem Deutsch zu verstehen ist. Letzteres ist richtig gedacht, aber unmöglich durchzuführen, weil es eine Geschick- lichkeit und geistige Reife voraussetzt, die kein Knabe haben kann. So wird denn beides, der Autor und die deutsche Sprache, gemißhandelt und ein unzulänglicher und falscher Begriff von beiden gepflanzt. Die Folgen für den deutschen Stil sind traurige; das natürliche Sprachgefühl hat sich nicht entwickeln können, sondern ist erstickt und irre geleitet; der Glaube an Schwulst und Geziertheit als die Kennzeichen des guten Stils ist an seine Stelle getreten. Daß dazu gerade die antiken Schriftsteller helfen müssen, die das Muster von Einfachheit und Natürlichkeit sind, ist wunderlich genug. Aber der Schüler kommt gar nicht zum Verständnis der Originale; er denkt nicht in der fremden Sprache, sondern in der Übersetzung, die stets unnatürlich klingt.
Hier liegt eine Wurzel der perversen Vorstellung, daß es
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vornehm sei, sich ungewöhnlich und geschraubt auszudrücken. Diese Meinung ist weiter verbreitet als man ahnt; sie wird durch die allgemeine Unbildung in Dingen des Stils genährt. Der Gymnasiast und die höhere Tochter, sowie ein großer Teil derer, die eins von beiden waren, sind einig in der Bewunderung des unnatürlichen oder, wie man es nennt, des schönen Stils. Man denkt sich unter einem guten Schriftsteller einen solchen, der alles recht hochtrabend darstellt, blumige Phrasen anwendet und lange Perioden bildet. Einfach sagen, was man zu sagen hat, gilt nichts. Daß Voltaire oder Merimee große Schriftsteller sein sollen, scheint unbegreiflich; denn bei ihnen geht alles natürlich und prosaisch zu; sie spreizen sich nicht, zieren sich nicht, scheinen im Gegenteil einen Abscheu vor dem Auffälligen, dem Besonderen, kurz dem Vornehmen zu haben. Wo ist nur die Schönheit und die Vornehmheit bei ihnen, die man bei gewissen deutschen Autoren doch mit Händen greifen kann? Auf diese Frage wird man die Antwort schuldig bleiben müssen. Denn wie will man durch Gründe nachweisen, daß ein großtuerisches und affektiertes Betragen nicht vornehm ist?
Der Geschmack an der Periode weist deutlich auf die Alten zurück. Man findet ihn heute etwas seltener als früher, was ohne Zweifel erfreulich ist. Nicht, daß die Periode an sich zu verwerfen wäre, auch dann nicht, wie ich meine, wenn sie den Leser nötigt, stehen zu bleiben und einen Satz zweimal zu lesen, um ihn logisch und ästhetisch zu verstehen. Aber die Periode muß natürlich sein und natürlich wirken; der Schriftsteller muß sie schaffen, nicht künstlich zurechtmachen. Bei den Alten sind die Perioden der Ausdruck vollendeter Herrschaft über Sprache und Gedanken; sie bauen mit künstlerischer Freiheit Satzgefüge, die ihre ästhetische Rechtfertigung haben. Bei den deutschen Schriftstellern ist leider das Umgekehrte die Regel; sie machen Perioden, wenn sie ihre Gedanken und deren Aus- druck nicht beherrschen, wenn Simplizität ihnen unmöglich ist, oder auch wenn ihr schlechter Geschmack die Simplizität ver- schmäht. Ja wenn es architektonisch gedachte Gestaltungen wären, die doch dem Sinn des Deutschen entsprechen müßten! Aber es sind oft nichts als zusammengekehrte Worthaufen.
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Die deutsche Prosa.
Gewöhnlich kommt eine Periode so zustande: der Autor schreibt einen leidlich durchsichtigen, aber unzulänglichen Satz hin und schachtelt dann allerhand hinein, um die Mängel auszugleichen: hier einen Nebensatz, dort ein paar Epitheta, dort eine Parenthese. Er fragt nicht, wie dies im ganzen wirkt, ob sich alles natürlich zusammenschließt, oder ob es nur äußerlich aneinander geleimt ist. Ein Satz aber muß vorsichtig behandelt werden; wie er geboren ist, soll er in der Hauptsache bleiben; ist er mißlungen, so möge man ihn wegstreichen und durch einen anderen ersetzen. Denn ein mißgestaltetes oder verkrüppeltes Wesen ist noch nie dadurch schöner geworden, daß man ihm mit einem künstlichen Fuß oder einem Glasauge oder einer Perücke nachgeholfen hat. Die Prophylaxe ist auch beim Schreiben der beste Arzt. Man sorge für sorgfältige gesunde Ausbildung, so wird man schlechten und kranken Produkten vorbeugen.
Die deutsche Sprache ist ein wunderbares Material, aber schwer zu handhaben und noch unfertig. Sie hat viel Ausdrucks- fähigkeit, viel Klang, wie wir an der Lyrik sehen, die mit den einfachsten rhythmischen Mitteln große unmittelbare Wirkungen erzielt. Ihr fehlt die trockene Prägnanz der romanischen Sprachen; sie paßt zu dem langsamen, vielfältigen Charakter des Deutschen. Man sollte aber ihre natürliche Schwerfällig- keit nicht noch durch die Satzbildung erhöhen, sondern, wie es namentlich Nietzsches Streben war, möglichste Klarheit und Schärfe anstreben, auf die Gefahr hin, einigen korrekten Um- ständlichkeiten entsagen zu müssen. Der Periode geht am besten jeder aus dem Wege, der auch nur ein wenig Neigung zur Un- klarheit und Weitschweifigkeit hat und nicht leicht mit sich zu Ende kommt. Ein deutscher Nebensatz, das bedenke man, ist in der Regel schwerfälliger als ein französischer oder lateinischer; er gefährdet den ruhigen, geraden Gang des Gedankens, hält auf, unterbricht, während die kleinen Sätzchen oder gar die In- finitiv- und Partizipialkonstruktionen des Griechischen und Lateinischen ohne weiteres mit unterfließen. Die deutschen Worte sind lang und konsonantenreich, sie haben etwas Haftendes und Zögerndes an sich, das man nicht durch unnötige Häufung noch steigern sollte. Mehrere Adjektiva zu einem Substantiv stellen,
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mehrere Substantiva oder mehrere Verba hintereinander setzen, ist nicht ratsam, da eins das andere beeinträchtigt und Begriffs- und Bilderklumpen entstehen, die den Leser ungebührlich be- schweren. Manchmal freilich ist dergleichen nicht zu vermeiden, weil es den deutschen Worten an Bestimmtheit fehlt. Wir haben zu wenig eindeutige erschöpfende Ausdrücke, an denen andere Sprachen so reich sind. Will man mit vollkommener Klarheit etwas aussprechen, so muß man einen Köcher voll Wortpfeilen verschießen, von denen jeder ungefähr, keiner ganz trifft. An bildlichen Wendungen, die die Dinge veranschaulichen und um- schreiben, sind wir überreich, aber an direkten Ausdrücken, die sie nennen, arm. Man legt den Finger auf einen Punkt, um ihn zu bezeichnen; wir ziehen einen Kreis herum, und lassen ihn den Leser innerhalb des Kreises suchen. Ich fürchte, die Bildlichkeit der Wendungen nimmt noch zu. Man kann be- obachten, wie einfache Stammworte mehr und mehr durch Um- schreibungen, die freilich volltönender sind, ersetzt werden. Sollte auch hier die Meinung zu gründe liegen, daß Phrasen und Wülste den Stil vornehmer machen? Man will die Dinge nicht bei ihren kurzen Namen nennen, sondern durch schöne Worte aufputzen, vielleicht, wie Schopenhauer meint, um die Hohlheit und Unwichtigkeit dessen, was man sagt, zu verdecken, vielleicht, wie Nietzsche meinen würde, um die häßliche Wirk- lichkeit zu idealisieren.
Schopenhauer weist noch auf einen anderen Fehler: daß der Deutsche ungern nacheinander sagt, was er zu sagen hat, sondern alles auf einmal herausbringen möchte. Dieser Unart verdankt ebenfalls ein Teil der Perioden seine Entstehung. Da der Leser immer nur einen Gedanken auffassen kann, wird er die anderen überhören, wenn man mehrere sich kreuzende in einen Satz zwängt, oder er wird ermüden bei der Arbeit, sie auseinander häkeln zu müssen, um jedem gerecht zu werden. Der Autor kann ohne Furcht, langweilig zu werden oder der Logik zu nahe zu treten, die Gedanken aufeinander folgen lassen, auch wenn sie nicht alle gleich wichtig sind und einer vom andern abhängt. Er kann auch die Seitengedanken, die die Entwicklung nicht fördern, sondern zur Erklärung, Begründung oder Erweiterung
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Die deutsche Prosa.
der Hauptgedanken dienen, grammatisch gleichordnen; der Leser wird sie ohne Mühe im richtigen Verhältnis zueinander und zu den führenden Gedanken empfinden. Straffheit des Stils und Straffheit der Gedanken ist sehr wohl vereinbar mit einer gelassenen Ausführung und ungezwungenen Satzbildung, was am besten die antiken Schriftsteller beweisen. Freilich ist hierbei eins erforderlich, was die Alten besaßen und wir Modernen häufig nicht besitzen: der sichere Blick für das Wesentliche und die unbedingte Rücksichtslosigkeit im Abstoßen des Überflüssigen, Ablenkenden. Man darf nicht alles geben wollen, was man hat, sondern muß auswählen. Das gilt für den Erzähler ebenso wie für den Denker und Beschreiber. Ein paar Worte charakteri- sieren oft besser als die genaueste Ausführung; denn auf die An- regung und Lenkung der Phantasie und Denkfähigkeit des Lesers kommt doch alles an. Man soll ihn mitschaffen lassen, nicht jede Einzelheit eines Bildes, jedes Beispiel, jede Nuance eines Gedankens ihm vorwegnehmen. Solche überladenen Darstel- lungen haben nicht nur etwas Schleppendes; sie gefährden auch die Einheitlichkeit des Dargestellten. Der Leser wird verwirrt, wenn man ihn zwingt, eine Masse von kleinen Zügen in ein Bild aufzunehmen und sie miteinander zu verknüpfen, oder wenn man ihm jeden Ausblick zeigen will, den ein Gedanke gewährt: auf seine Herkunft und seine Folge, seine Ergänzungen und Begrenzungen, seine Feinde und Freunde. Die Alten gaben ruhige, eindrucksvolle Bilder und verzichteten auf Nuancen und Seitenblicke, die es stören konnten. Sie liebten nicht das Hin- und Herhüpfen, das uns zur zweiten Natur geworden ist, gewiß nicht, weil wir reicher, sondern weil wir unsicherer und un- ruhiger sind.
Hiermit hängt das Zitieren zusammen, das nachgerade zu einer Krankheit geworden ist. Wir können kaum noch einen Gedanken direkt sagen, ohne Beziehung auf irgend jemand, der denselben oder einen ähnlichen oder den entgegengesetzten ausgesprochen hat. Der Autor läßt seinen Blick nach allen Rich- tungen umherschweifen, während er spricht, statt ihn fest auf seine Sache zu richten, und zwingt den Leser, ein Gleiches zu tun. Dessen Interesse ist notwendig geteilt zwischen dem Reden-
Horneffer, Das klassische Ideal.
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Erster Teil.
den und demjenigen, auf den sich jener beruft. Er will beide verstehen, einen durch den anderen kontrollieren, ihr Verhältnis richtig abschätzen und vergißt darüber die Beurteilung der Sache selber, um die es sich handelt. Auch Bilder und Wendungen werden bevorzugt, die irgend wann schon gebraucht sind. Sogar die Büchertitel sind oft Zitate, z. B. Nietzsches ,, Götzendämme- rung". Brocken aus allen Sprachen werden hineingemischt. Dichterworte schwirren durch die Luft, bald direkt zitiert, bald nur angedeutet, bald im eigentlichen Sinne gebraucht, bald auf den Kopf gestellt. Das nennt man heute den geistreichen Stil. Er ist so beliebt, daß er dem oben beschriebenen schönen Stil den Rang abzulaufen droht. Wie mag er entstanden sein? Gewiß hat die Gelehrsamkeit, die bei allem, was sie sagt, die ganze Vergangenheit übersieht und den neuen Ausspruch in die historische Reihe einordnen will, großen Anteil daran, auch die Abneigung sich mit fremden Federn zu schmücken, auch die Neigung mit seinen Kenntnissen zu prahlen; aber die Ausartung des Zitaten- wesens haben wohl nicht die Gelehrten, sondern die Journalisten verschuldet, die sich interessant machen wollen. Bei Schopenhauer wirken die Zitate oft vorzüglich, sie klären und vertiefen wie Gleichnisse, die er ebenfalls mit so viel Glück gebraucht. Auch hat der Autor Kraft genug, den Leser nicht loszulassen; die Auf- merksamkeit ist im Moment wieder bei der Sache und hat nichts von ihrer Intensität eingebüßt. Mit den letzten Werken Nietzsches steht es schon bedenklicher; er agaciert und irritiert den Leser gern durch überraschende Seitensprünge, Anspielungen und rapide Wendungen des Ausdrucks und des Gedankens. Doch ist sein Stil von so überlegener Kunst, daß er, wenn auch nicht vor- bildlich, doch aufs höchste zu bewundern ist. Aber man ahmt ihn allenthalben nach und hält sich, wie es zu geschehen pflegt, an seine Schwächen, nicht an seine Stärken. Jeder beliebige glaubt ein Recht auf dieselben und auf noch größere Kühnheiten zu haben, als Nietzsche sich erlaubte. Leute, die auf Anstand halten sollten, geberden sich wie Betrunkene oder wie journalistische Harlekins, denen man im Ernst nicht gram sein kann. Denn es ist ja das Ge- werbe des Journalisten, zu unterhalten und zu fesseln, durch welche Bagatelle es auch sei; da kann er in den Mitteln nicht wählerisch
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Die deutsche Prosa.
sein und muß nach allem greifen, was seinem Geschreibsel einen angenehm prickelnden Geschmack von Geist und Überlegenheit verleihen kann. Aber was soll man sagen, wenn wirkliche Schriftsteller darauf auszugehen scheinen, die Nerven des Lesers zu reizen. Flimmern vor seinen Augen, Unruhe in seinen Gliedern zu erregen! Muß wirklich alles, was dem Autor einfällt, in seinem Elaborat vorkommen? Muß das Thema unter bunt- scheckigem Beiwerk und gehäuften Anspielungen begraben werden.? Und wäre es noch ein Barockstil von der respektablen Art, wie er früher zuweilen geschrieben wurde! Aber das ist er nicht. Er ist einfach Unverständnis oder ist verwerfliche Zucht- losigkeit. Diese Geistreichen lieben in der Regel die Periode nicht, vielmehr das Gegenteil. Sie gefallen sich in kurzen, achtlos hingeworfenen Sätzen, in Satztrümmern, in einzelnen Worten, ja in Gedankenstrichen, Punkten und Ausrufungszeichen. Die Grammatik wird mit derselben Geringschätzung behandelt wie der Gedankengang. Das Traurige aber an dem allen ist nicht nur, daß begabte Männer durch ein falsches Ideal verleitet schlechte Schriften produzieren, sondern daß durch dies Treiben dem deutschen Stil überhaupt Verderb und Ruin droht, ehe er sich noch hat entfalten können.
Man muß sich einmal die Frage vorlegen: was will der Schrei- bende? Zu welchem Zweck schreibt er? Offenbar um etwas mitzuteilen, sei es eine Begebenheit oder eine Situation, einen Gedanken oder ein Gefühl. Der Lesende soll etwas erfahren, muß also vor allen Dingen verstehen, was der Schreibende sagt. Der Vorgang ist ein wesentlich intellektualer. V^ill der Autor Gefühle in dem Leser erwecken, so kann er dies auch nur durch das Medium des Intellekts tun, nicht direkt. Der Redner und der Schauspieler sind besser daran als er; sie wirken nicht bloß durch den Inhalt ihres Vortrags, sondern auch unmittelbar durch Klang und Modulierung des Organs, durch Geberden und Gesten, also durch Hilfsmittel, die dem Schriftsteller versagt sind. Freilich ist das Schriftstück ursprünglich dazu bestimmt, laut gelesen zu werden. Aber erstens stehen dem Vorleser jene Mittel in viel geringerem Grade zu Gebote, denn Vorlesen ist abgeschwächtes Vortragen; zweitens ist das Lautlesen heute fast ganz abgeschafft.
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Erster Teil.
Der Schriftsteller wirkt nur noch durch tote Buchstaben, die vom Auge und vom kombinierenden Verstand aufgefaßt und in Begriffe, Bilder und schließlich in Gefühle umgesetzt werden. Nietzsche hat den Verfall des Rezitierens, das im Altertum die Regel war, sehr beklagt und den Mangel an Stilgefühl haupt- sächlich daher geleitet, daß nur noch für das Auge, nicht mehr für das Ohr geschrieben würde. Man wird ihm nicht ganz Unrecht geben können und wird der Kunst des Vorlesens und Vorlesenhörens allen möglichen Vorschub leisten. Doch ist im ganzen wohl nicht viel zu ändern. Wir müssen uns mit der Tatsache abfinden, daß der heutige Leser mit den Augen und den geistigen Ohren liest, und darauf vertrauen, daß der innere Gehörsinn ebenfalls ästhetisch ausgebildet werden kann. In der Tat urteilen wir heute schon viel sicherer über den künstlerischen Wert eines Prosawerkes, vielleicht auch eines lyrischen, eines dramatischen oder musikalischen Erzeugnisses, wenn wir es für uns lesen, als wenn wir es vortragen hören. Gewohnheit ist eben doch eine große künstlerische Bildnerin. Mir scheint, die Anforderungen an den guten Schriftsteller sind höhere, wenn er nicht auf die Unterstützung des Vortragenden rechnen kann. Er muß noch fester die erste und oberste Pflicht, die sein Hand- werk ihm auferlegt, im Auge behalten: absolute Deutlichkeit und Verständlichkeit. Der Leser hat zwar die Möglichkeit, einer unklaren Stelle mehr Aufmerksamkeit zu widmen und das Tempo der Lektüre beliebig zu variieren, während der Hörer ohne Aufenthalt vorwärts geführt wird; aber der Leser wandelt doch nur unter Schatten, die er sich selber zu plastischen Gestalten beleben soll. Er muß den Vortrag mitdenken, muß den Ton, das Tempo, die Schwere jedes Satzes, jedes Trennungszeichens richtig empfinden, um das Gelesene zu verstehen. Er braucht daher eine energischere Unterstützung durch den Autor, als wenn ein Vortragender vermittelnd zwischen beide tritt.
Der Autor will etwas mitteilen, sagten wir. Tut er dies in an- gemessener Weise, so ist er Künstler. Der ästhetische Wert einer prosaischen Aufzeichnung liegt in der sachlichen Vollkommenheit des Ausdrucks. Wer sich so ausdrückt, daß er erstens alles, was er sagen will, klar und restlos sagt und sich nicht mit Stammeln
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Die deutsche Prosa.
und Andeuten begnügt, wer zweitens das zeitliche, logische und Wertverhältnis der einzelnen Teile seiner Äußerung zueinander richtig darstellt und aufzeigt, hat Anspruch auf den Titel eines guten Schriftstellers. Hierbei ist von selbst eingeschlossen, was man gewöhnlich für die ästhetische Beurteilung allein in Rech- nung bringt, ob der Autor die beste, für den Leser zugänglichste Form gewählt oder es ihm schwer gemacht hat, also ob er die be- zeichnendsten Ausdrücke gefunden und die vollkommensten Sätze gebildet hat. Ja, wenn man den Begriff der sachlichen Vollendung tief genug nimmt, sind auch jene rein formalen Mittel eingeschlos- sen, über deren Wert die Alten so gut Bescheid wußten : die Auf- merksamkeit auf klangliche Wirkungen, die Wahl der Worte in Rücksicht auf ihre Dynamik, auf Abstufung der Vokale, auf Hiatus usw.; ferner die Einheitlichkeit in Ton und Tempo durch harmonische Bildung der Sätze, durch geschickte Nacheinander- ordnung usw.; schließlich die Belebung durch Fragen, Antithesen und andere rhetorische Figuren. Sie alle dienen, richtig benutzt, der Sache, die der Autor mitteilt. Wie weit der gute Schrift- steller im Gebrauch derartiger Mittel geht, hängt von Geschmack und Neigung seiner Zeit und seiner selbst ab. Hat er ein Publikum wie das griechische im dritten und vierten Jahrhundert vor sich, so muß er den höchsten Ansprüchen an die Kunst der Darstel- lung genügen, um den Namen eines guten Schriftstellers zu verdienen, wobei es wenig ausmachte, ob sein Thema ein künstle- risches oder wissenschaftliches oder praktisches war. Schreibt er heute, so muß er sich klar darüber sein, daß seinen Lesern ein auch nur mäßiger Grad formaler Kunst überflüssig er- scheint und Zweifel an seinem Ernst und seiner Gründlichkeit rege macht. Die Meinung geht dahin, daß wohl ein Roman- schreiber ein wenig Acht auf seinen Stil zu geben habe, daß für einen anderen Schriftsteller aber, der etwa eine fachmännische Arbeit veröffentliche, eine gute Darstellung belanglos oder gar hinderlich sei. Denn wozu ? Ein Fachmann ist doch kein Vir- tuose! Nein, gewiß nicht; aber man irrt sich, wenn man meint, es sei eine klare und erfreuliche Darstellung ohne formale Qua- litäten denkbar.
Erinnern wir uns, um uns das Muster eines guten Prosaikers
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Erster Teil.
vor Augen zu führen, etwa an Julius Caesar; ich meine jenen Caesar, den man, da er für Tertia geschrieben hat, als Sekun- daner und Primaner bereits unter sich sieht. Caesars Kommen- tare haben, wie jedermann weiß, einen rein sachlichen Zweck. Es sind kurze Notierungen seiner Taten und Erlebnisse, nieder- geschrieben einmal aus politischen Gründen, zweitens in der aus- gesprochenen Absicht, die Einzelheiten nur eben festzuhalten und einer späteren ausführlicheren Beschreibung seiner Kriege die Unterlage zu geben. Die Bedingungen also für ein formal reizvolles Buch sind so ungünstig wie möglich. Und doch ist ein ästhetisches Meisterwerk entstanden; warum? Weil der künstlerische Takt, den der Schriftsteller und seine Zeit besaßen, von selber dazu führte, einen vollkommen beherrschten Stoff auf angemessene Weise zur Darstellung zu bringen. So erreicht Caesar bei aller Knappheit eine Anschaulichkeit der Schilderung, die man an blühenden Berichten neuerer Historiker nicht selten vermißt. Er weiß das Wesentliche und Unwesentliche gegen- einander abzuwägen, Licht und Schatten zu verteilen, die ein- zelnen Figuren seiner Bilder richtig zu gruppieren; weshalb modernen Erzählern zu empfehlen wäre, ihn unablässig zu stu- dieren. Er beherrscht die Kunst, das Interesse wach zu halten, durch Abwechslung und Steigerung, durch rasche Fortführung und geschickte Zögerungen. Und er bleibt bei alledem natürlich und sachlich. Ebenso könnte man die Meisterschaft im sprach- lichen Ausdruck nachweisen. Jeder Satz ist kristallen im Bau, sicher im Ton, bei aller Kürze ohne Manier. Man sucht ver- gebens nach Härten, über die man bei neueren Prosaikern zu stolpern gewohnt ist; man findet nichts, was herausfällt, was zu lang oder zu kurz ist. Man hat den reinsten Genuß und verliert doch keinen Augenblick das Bewußtsein, Kriegsnotizen zu lesen, die sich so anspruchslos geben, wie es für Notizen sich gehört. — Einen modernen Autor zum Vergleich heranzuziehen, wird nicht nötig sein. Jeder von uns mag seine eignen Schriften einer Musterung unterziehen, um über ihre Vorzüge oder Schwächen im Verhältnis zu dem Tertianerschriftsteller ins klare zu kommen. So nötig und förderlich aber das Studium großer Stilisten des Altertums und Frankreichs (gewiß auch Englands) ist, eine
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Die deutsche Prosa.
genaue Kenntnis der deutschen Prosa wird dadurch nicht ent- behrlich. Denn fremdländischen Werken lassen sich wohl die allgemeinen Gesetze des Stils entnehmen; aber sie können nicht über Einzelheiten der Schreibweise in einer anderen Sprache, über Satzbildung, Wortschatz usw. belehren. Der Schriftsteller muß sein Material kennen lernen und in die Tradition als Glied eintreten. Es kann nur zu dilettantischer Unnatur führen, wenn man die bisherige Entwicklung der deutschen Prosa verleugnen und gleichsam neu anfangen wollte. Man kann auch nicht einzelne Stadien einer Entwicklung überspringen; nur natür- liches Vorwärtsgehen kann uns wirklich vorwärts bringen. Es gilt deshalb, die Tradition fest und stetig zu machen, nicht sie abzubrechen. Je sicherer sie ist und je tiefer sie geht, desto weiter kann der einzelne, auf sie sich stützend, kommen, während heute nur hervorragende Begabung für Prosa mit Hilfe glücklicher Bildungsumstände die Hindernisse bewältigen kann. Es nützt uns nicht viel, daß in anderthalb Jahrhunderten vier, fünf Deut- sche zu einem leidlichen Stil gelangt sind, wenn das Niveau der deutschen Schriftsteller hinter den geringsten Ansprüchen zurückbleibt, die man an die Ausdrucksweise stellen muß. Ge- rade diejenigen, die durch ihren Stoff und ihre Persönlichkeit wenig einnehmen können, sollten anständig und gefällig schreiben lernen, sowie man in der Gesellschaft von einseitigen oder hohlen Menschen besonders gute äußere Formen erwartet, die das innere Manko ausgleichen können.
Ich bin deshalb der Meinung, daß allen, die auf ihre Bildung bedacht sind, Gelegenheit geboten werden müßte, Schreibunter- richt zu nehmen. Es wird heute so vieles gelernt, was nur die Kenntnisse und die Einbildung vermehrt; warum nicht lieber etwas, das der Zucht des Geistes zugute kommt, das ihm Herr- schaft über sich selbst und Sicherheit nach außen und innen gibt! Eine geistige Schulung, die der leiblichen des Soldaten entspricht, fehlt uns vollständig. Daß sie nötig ist, kann niemandem zweifel- haft sein, der einen klaren Begriff von Kultur hat. Das Schreiben- lernen wäre aber ein wichtiges Moment dieser Schulung und würde ähnliche Früchte tragen, wie das Studium der Redekunst im Altertum getragen hat. Man wird mir nicht einwenden wollen,
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Erster Teil.
daß auf unseren Gymnasien, Realgymnasien und anderen Schulen die Kunst deutsch zu schreiben hinreichend gelehrt würde. Erstens ist das Prinzip, das dort für die Stilübungen meist be- stimmend ist, ein falsches, worauf Nietzsche schon vor 30 Jahren hingewiesen hat. Es handelt sich nicht darum, die Schüler ,, anzuregen" und unreife Gedanken über Gegenstände aus ihnen heraus zu locken, die in der Regel weit über ihren Horizont hinaus gehen; wodurch nur der allgemeine literarische Dünkel größer wird, der unserem Zeitalter eigen ist. Sondern es handelt sich darum, daß die Schüler lernen, einfache gegebene Dinge, die sie vollständig beherrschen, richtig und anständig auszudrücken. Man tut, als wolle man Journalisten ausbilden und nicht Men- schen, die gute Manieren haben, weil sie in geistiger Zucht gewesen sind, und Bescheidenheit haben, weil sie von den Schwie- rigkeiten der Kunst des Schreibens einen Begriff bekommen haben. Auch wenn aber die Stilanleitung auf den Schulen eine bessere werden sollte, kann sie doch nur den Boden bereiten für den Unterricht im reiferen Lebensalter. Sie ist Elementar- unterricht, der unentbehrlich, aber nicht ausreichend ist. Erst der Erwachsene ist imstande, sich wirkliche Bildung anzueignen, formale wie materiale, geistige wie leibliche. Ich meine, es müßten an jeder Universität und anderen Hochschule Schreib- übungen (und dazu auch rhetorische Übungen) abgehalten werden. Dieselben sollen nicht ästhetische Ergüsse der Lernenden zutage fördern, sondern jeden geschickt machen, an seiner Stelle als Kulturmensch zu leben und zu wirken. Demnach würde das Ziel sein, das der Schüler anzustreben hätte: eine künstle- rische Persönlichkeit in seinen schriftlichen Mitteilungen auf natürliche Weise zur Erscheinung zu bringen, mögen diese Mit- teilungen ihrem Stoff nach sein, welche sie wollen. Man sieht leicht ein, daß dies nicht durch Theorie oder durch das bloße Studium guter Schriftsteller erreicht werden kann, sondern daß ein wirklicher Unterricht wünschenswert ist. Die Regeln kennen ist wenig; sie anwenden ist alles. Darum ist sowohl Übung wie Unterstützung durch einen Lehrer nötig. Er sieht Fehler des ein- zelnen und zerstört rechtzeitig Irrtümer, die beim Selbststudium so leicht sich festsetzen. Sein Verdienst wird wie bei jedem höheren
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Die deutsche Prosa.
Unterricht in der Hauptsache ein negatives sein; denn das Po- sitive muß der Lernende geben. Außerdem kennzeichnet sich ja der gute Stil wie das gute Betragen mehr dadurch, was man vermeidet als was man tut, weshalb Bücher über das Schreiben und Reden oft so viel Theoretisches und so wenig Besonderes zu sagen wissen, das für die Praxis wertvoll und dem Lernenden gerade in schwierigen Fällen hilfreich wäre.
Die Unterrichtswege, die bei solchen Übungen etwa einzu- schlagen sind, und die Unterrichtsmittel, die für sie etwa zur Verfügung stehen, will ich ein andermal zu beschreiben versuchen. Die Schwierigkeit liegt, wie jeder sieht, nicht in ihnen, sondern in dem Mangel an Lehrern. Wir haben zwar Sprachgelehrte und Literarhistoriker, aber Sprech- und Schreiblehrer zu ent- decken wird schwer halten. Vielleicht richtet man zunächst einmal einige Aufmerksamkeit auf die Verbreitung dieser Art Mensch und sucht ihre Wachstumsbedingungen zu erleichtern, die äußerlich und innerlich recht ungünstige sind. Weshalb äußerlich, ist ohnehin klar; innerlich aber deshalb, weil sie sich ihr Bildungsmaterial mit großer Mühe zusammensuchen und einen ungewöhnlich sicheren Takt haben müssen, um nicht alle die Fehler zu begehen, denen Weg- und Richtungsuchende zu erliegen pflegen. Wir sehen ja, auf wie falschen Wegen manche heutigen Schriftsteller gehen, die es sehr ernst nehmen, wie sie geistreich sein wollen statt wahr und anständig, wie sie an Äußerlichkeiten hängen bleiben, statt auf die Sache selber zu kommen. Hierfür erlaube man mir noch einige Beispiele anzu- führen. Mir scheint, daß man die Forderungen des Stils hier und da ganz verkehrt auffaßt und ihre Verwirklichung auf falschem Wege sucht.
Die Sprache ist das Material des Schriftstellers, das er be- herrschen muß, um mit ihm frei schalten zu können. Er muß ihr daher Sorgfalt und Studium widmen, wie jeder Künstler seinem Material zu widmen hat. Aber er darf darüber nicht zum Sprachphilologen und zum Schulmeister werden. Gewiß soll man korrekt schreiben und die sprachlichen und gramma- tischen Gesetze respektieren, aber man soll nicht meinen, durch Korrektheit eine deutsche Prosa erzeugen oder auch nur etwas
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Erster Teil.
Wesentliches für sie tun zu können. Ich kenne Leute, die un- geheuer korrekt und doch jedem Sprachgefühl hohnsprechend, also im eigentlichen Sinne falsch schreiben. Überdies, wo ist der Kanon? Die deutsche Grammatik und der deutsche Wort- schatz sind nicht fest und fertig, sondern in beständigem Flusse begriffen. Das mag man beklagen und die Lateiner oder Fran- zosen um ihre im ganzen unveränderliche Sprache beneiden, aber ändern wird man nichts daran. Machtsprüche, die Sprache solle so bleiben, wie sie jetzt ist, oder wie sie Goethe fixiert hat, haben wohl kaum Erfolg. So will man denn wenigstens die Fortentwicklung zugunsten der Logik und des grammatischen Formenreichtums beeinflussen. Man ist ungehalten, daß Nach- lässigkeiten, Mißverständnisse und andere wenig einsichtige Mächte sich mit einem so herrlichen, fein erdachten Dinge wie die Sprache zu tun machen. Aber es war nie anders, wie die Geschichte der deutschen Sprache auf den ersten Blick zeigt. Von jeher sind Formen und Wendungen ungebräuchlich geworden, falsche Analogien gebildet worden und wichtige Wortendungen durch Nachlässigkeit verloren gegangen, nicht erst, wie Schopen- hauer zu meinen scheint, in seinem geschmähten Zeitalter. Goethes Sprache ist doch nur eine Stufe der Entwicklung, nichts Gegebenes und Endgültiges. Manche seiner Spracheigentüm- lichkeiten sind heute schon veraltet; sie erhalten zu wollen scheint mir nichts anderes als eine schulmeisterliche Schrulle zu sein, die man einem großen Manne gern nachsieht, ohne sie jedoch mitzumachen. Je mehr das Verständnis für die Sprache wächst und allgemeiner wird, desto geringer mag ja der Einfluß der Dummheit und des Zufalls auf ihre Weiterentwicklung werden. Wir wollen es wünschen, und jeder mag an seinem Teile mit- wirken, daß Sprachfehler unterbleiben oder sich nicht durchsetzen. Ähnlich steht es mit der Bildung neuer Worte, wofür die Deutschen eine besondere Vorliebe haben. Es ist ohne Zweifel anmaßend und lächerlich, daß jeder sich das Recht nimmt, Worte zu erfinden oder neu zusammenzusetzen, während er viele vorhandene nicht kennt und sie voll auszunutzen nicht imstande ist. Nur wenn er etwas so Neues zu sagen hat, daß der Wortschatz nicht ausreicht, darf er Neubildungen versuchen
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und wird dies instinktiv als ein wirklicher Sprachschöpfer tun. Andererseits ist man, fürchte ich, im Irrtum, wenn man meint, die Worte, die sich darbieten, daraufhin prüfen zu müssen, wann, von wem und ob sie logisch und wohllautend gebildet sind. Nietzsche ereiferte sich z. B. über das Wort ,, selbstverständlich". Nachdem es sich aber eingebürgert hat, kann ich nur Pedanterie darin sehen, wenn jemand es grundsätzlich vermeidet. Daß Journalisten viele moderne und häßliche Worte auf dem Ge- wissen haben, ist wohl richtig. Das einzig wirksame Mittel aber, dem zu steuern, scheint mir zu sein, daß man für eine bessere allgemeine Stilbildung sorgt. Warum lassen sich auch höher gebildete Kreise vom Pöbel ins Schlepptau nehmen und wenden selber ihr Interesse, wenn sie es überhaupt für den Stil haben, Nebensachen zu, statt Verständnis für die wichtigen Fragen zu bekunden! Zu den wichtigen Fragen aber gehört es, wie die Dinge liegen, nicht, ob man irgend ein Wort brauchen oder vermeiden soll, auch nicht, ob man Lücken in der Schriftsprache durch neue oder aus den Dialekten herübergenommene Worte ausfüllen oder die Sprache möglichst rein erhalten soll. Über Verfeinerung und Bereicherung des Materials nachzudenken, und am besten nur auf Grund eines sachgemäßen Studiums nachzudenken, hat allein der ein Recht, der das Vorhandene zu verwerten weiß. Auch ist es kein Geheimnis, daß man mit einem reichen Material ein Stümper und mit einem geringen ein Künstler sein kann.
Dann kommt der Purist mit seinen Forderungen, von deren Erfüllung alles Heil abhängen soll. Es kann aber jemand, der allen Fremdworten aus dem Wege geht, trotzdem einen elenden Stil schreiben. Gewiß ist es nicht gut, deutsche Ausdrücke zugunsten fremder zu vergessen, wenn die letzteren nur den Vorzug haben, großartiger zu klingen. Unsere Sprache ist aber immer noch arm an Ausdrücken, die höheren Bedürfnissen dienen; unsere Vor- eltern haben für sie zu wenig und für fremde Sprachen zu viel getan. Wir sind jetzt auf einem besseren Wege und man wird das Streben begrüßen, ausländische Worte allmählich ent- behrlich zu machen, indem man sie durch deutsche ersetzt. Das wird unter Umständen sogar die Kraft des Ausdrucks günstig beein- flussen. Schädlich aber werden die Übertreibungen des Purismus;
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Erster Teil.
sie gehen heute mitunter bis zur Tollheit. Schopenhauer weist mit Recht auf die üblen Folgen hin, die das Verdeutschen der technischen Ausdrücke für die Klarheit und Einfachheit haben kann. Die deutsche Sprache neigt an sich zur Unklarheit und macht Schwierigkeiten, wenn man unzweideutige Begriffe in ihr ausdrücken will. Tilgt man nun noch, ohne Vorsicht und Maß, die seit langem geprägten, oft allgemein europäischen Kunstausdrücke und setzt neugebildete deutsche Worte unserer Sprachreiniger an ihre Stelle, so entsteht ein Dunstmeer, in dem der Leser rettungslos umhertappt. Man hüte sich vor dem schlüpfrigen wenn auch verlockenden Gebiet der Wortbildnerei und strebe im Gegenteil danach, seine Sache mit den bekanntesten Worten in ihrer üblichen Bedeutung vorzutragen, mögen diese Worte nun stammen, woher sie wollen. Man wird erstaunen, wie klar, wie vollständig, wie original man sich trotzdem oder vielmehr infolgedessen ausdrücken kann. Manches mag ja unscheinbar klingen und Ungebildeten alltäglich vorkommen, auch wenn es durchaus nicht alltäglich ist. Besser aber, seines guten Geschmacks wegen übersehen, als seines Ungeschmacks wegen gerühmt zu werden.
Und schließlich will man gar unserer Prosa von der Seite der Orthographie und Interpunktion her zu Hilfe kommen. Man streitet, verhandelt und denkt über diese Fragen nach, als ob es Kernfragen wären. Welch schiefe Bildung, welch Unverständnis für das, was not tut, verrät sich darin! Eine ge- wisse relative Bedeutung mögen ja auch diese Dinge haben, aber man kann doch mit dergleichen Lappalien nicht den Anfang machen wollen. Man spricht von der Logik und Konsequenz, die unserer Orthographie und Interpunktion fehlten und die man ihnen verschaffen müßte, sieht aber nicht, daß, wenn sie von Logik strotzen, der Stil trotzdem von Barbarei strotzen kann; wofür wir doch Beispiele haben, die abschreckend wirken sollten, aber auf Dilettanten besondere Anziehung auszuüben scheinen. Wie gleichgültig ist es im Grunde, ob man ein Wort so oder so schreibt, wenn man es richtig anwendet! Wie nebensächlich, ob man diese oder jene Interpunktionszeichen bevorzugt, wenn man seine Sätze richtig bildet! Für die Interpunktion im ganzen
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Die deutsche Prosa.
läßt sich ja dies und jenes anführen. Sie kann die Klarheit des Inhalts heben und ist ja eingeführt worden, um dem Leser die Übersicht über die Beziehungen der Sätze und Satzteile zuein- ander zu erleichtern. Man soll aber nicht zu weit gehen und verlangen, daß das Verhältnis der Sätze bis zur feinsten Nuance in der Interpunktion zum Ausdruck komme. Gewiß hat ein Komma an der einen Stelle eine wesentlich andere Bedeutung als an einer anderen; es verbindet hier, trennt dort, ist dort nach- drücklich, hier ganz leicht. Ebenso variiert die Schwere des Punktes erheblich. Aber will man noch mehr Zeichen einführen, oder soll das Lieblingszeichen der geistreichen Schriftsteller, der Gedankenstrich, für die Lücken einstehen? Das Streben geht heute dahin, dem Empfangenden oder Reproduzierenden so wenig Freiheit wie möglich zu lassen. Dem Schauspieler möchte man Vorschriften für jedes Wort, für jeden Schritt machen; ebenso nehmen in der Musik die Vortragsbezeichnungen über- hand. Ich glaube, der Verfasser setzt zu wenig Verständnis voraus, oder aber er will die Mängel seiner Schöpfung verdecken und nachträglich gut machen, indem er durch äußere Hinweise dem Verständnis nachhilft. Ist seine Schöpfung gelungen, in sich fertig und ist sie außerdem das Produkt einer geraden, richtig empfindenden Seele, so braucht er sich um den Vortrag nicht viel Sorge zu machen. Die Alten lasen ganz ohne Interpunktion; sie hatten sie nicht nötig, weil sie natürlich schrieben und ihre Leser natürlich dachten und fühlten. Wenn der Leser nicht lesen kann und der Autor hinkt, Gliederverrenkungen macht oder das Versteckspielen liebt, so sind allerdings wegweisende Zeichen unentbehrlich. Man wird aber auch hier am besten tun, sich an das Überlieferte und Eingebürgerte zu halten. Die übliche Interpunktion ist für jeden Schriftsteller ausreichend und, wie ich meine, sehr fein und logisch erdacht. Sollte jedoch einer den Drang in sich fühlen, die Interpunktion für seinen Gebrauch zurechtzustutzen und etwa mit Gedankenstrichen Aufwand treiben, und sollte ein anderer durch Einschränkung oder Ver- zichtleistung auf Interpunktion seinem Herzen Luft machen wollen, so mag er in Gottes Namen tun, was ihm Freude macht. Nur soll er nicht meinen, der deutschen Prosa einen Dienst damit zu leisten.
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IV.
DIE KUNST DES VORTRAGS.
I.
Die bildenden Künste sind im Vorteil vor den redenden, weil sie einer Vermittlung zwischen Schöpf er und Genießenden nicht bedürfen. Die Tätigkeit des Schaffenden macht das Werk ohne weiteres zugänglich; sobald sie beendet ist, steht es da, ganz und sicher für alle Zeiten. Die Erzeugnisse der Musik und Poesie werden nur durch einen besonderen Akt und nur auf Augenblicke lebendig. Wenn der Schöpfer sie aus der Hand gibt, sind sie noch nicht fertig; erst dem Vortragenden verdanken sie Existenz und Wirkung. In primitiven Zeiten fiel in der Regel der Akt des Schaffens mit dem des Vortragens zusammen; der Sänger fand Musik und Dichtung, während er sang. Stoff und Kunstmittel hatte er im Gedächtnis, der Augenblick schuf aus ihnen das Lied. Und er nahm es wieder hinweg; es konnte nicht wiedererzeugt werden; bei einem neuen Vortrag wurde aus demselben Thema ein anderes Lied. Doch die Übung bringt Stetigkeit hervor, das Gedächtnis gewinnt den Vorrang vor der momentanen schöpfe- rischen Kraft, weil es gleichmäßiger und zuverlässiger ist, und der Sänger lernt wählen und festhalten, was den Beifall seiner Zuhörer, und ausscheiden, was ihr Mißfallen erregt. Die Kunst
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Die Kunst des Vortrags.
des Improvisierens wird geringer, wenn die Tradition sicherer wird, und verschwindet fast ganz, wenn schriftliche Aufzeichnung der künstlerischen Erzeugnisse an die Stelle mündlicher Überlieferung tritt. Bei uns gibt es in der Musik noch eine Art Improvisations- kunst. Sie wurde zu den Zeiten der großen Musiker fleißig geübt und unter die unentbehrlichen Stücke der musikalischen Bildung gerechnet. Mit dem Verfall der kontrapunktischen Technik aber verfiel auch sie. Das sogenannte Phantasieren ist übrig geblieben, ein Herumturnen auf dem Klavier oder einem anderen Instrument, das als Übung des Spielers nützlich, als Ergießung des Kompo- nisten selten wertvoll, meist bedenklich ist und im ganzen wenig mit der Musik als Kunst zu tun und gar keinen Einfluß auf sie hat. In der Redekunst ist das Improvisieren ebenfalls noch im Gebrauch und wird zu allen Zeiten wichtig und notwendig bleiben, wo rednerische Kämpfe auszufechten sind. Der Lehrende, der Festredner und der Kanzelredner können in Ruhe vorbereiten, was sie sagen wollen; wer aber einem Gegner antworten und über Gegenstände reden soll, die ihm kurz vor dem Auftreten erst bekannt werden, braucht Fähigkeit und Übung in der Impro- visationskunst. Abgesehen von diesen Fällen ist heute die Kunst, aus dem Stegreif zu schaffen, erloschen. Das Produzieren und das Vortragen sind zwei getrennte Tätigkeiten geworden. Diese Trennung ist an und für sich nötig bei Kunstwerken, die nicht von einer, sondern von mehreren Personen vorgeführt werden. Der Sänger, der Redner, der Instrumentalvirtuose können in ihrer Person den Schöpfer und den Ausübenden vereinigen ; beim Drama aber, beim Chortanz, beim mehrstimmigen Gesang oder Orchester- spiel sind eine Anzahl Menschen beteiligt, die ein fremdes Werk vortragen, das sie selber in der Regel nicht hervorbringen könn- ten und oft nicht einmal übersehen und abschätzen können. Um dies möglich zu machen, muß das Werk zunächst geschaffen und dann einstudiert und vorgetragen werden. Eine seltene Aus- nahme bildet jener orientalische und altchristliche Brauch, ein- fache Sakralgesänge so vorzuführen, daß der Dirigent durch Handbewegungen Rhythmus und Tonhöhen angibt und der Chor dieselben aus dem Stegreif nachbildet. Doch wird es sich auch hier um bekannte Weisen gehandelt haben.
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Erster Teil.
Menschen also und menschliche Fähigkeiten sind die unent- behrlichen Hilfsmittel, um ein poetisches und musikalisches Er- zeugnis lebendig zu machen. Man kann sie das Material des Dich- ters und Musikers in dem Sinne nennen, wie Steine oder Leinwand die Mittel sind, mit deren Hilfe der bildende Künstler sein Werk herstellt. Das Material des bildenden Künstlers ist berechenbar und beständig, das der redenden Künstler variabel und unbe- rechenbar. Sie haben es nicht völlig in der Gewalt; die aus- führenden Individuen bewahren eine gewisse Selbständigkeit ihnen gegenüber. Doch könnte man die großen Werke bildender Kunst zum Vergleich heranziehen, bei denen ebenfalls eine Anzahl Individuen einem nicht von ihnen ausgegangenen Plane dienstbar gemacht werden und also ihre Persönlichkeit neben der des Meisters zur Geltung bringen. Auch bei handwerksmäßiger Aus- führung von Modellen oder Zeichnungen ist des Handwerkers Individualität nicht völlig auszuschalten, wenn sie sich auch nur in größerer oder geringerer Geschicklichkeit äußert.
Die Werke des Musikers und Dichters sind unzählige Male vorhanden, die des bildenden Künstlers nur einmal. Man kann auch ein Gemälde reproduzieren, aber die Vervielfältigungen sind dem Original nicht gleichwertig. Kopien, Kupferstiche usw. ändern stets ihre Vorlage; mechanische Nachbildungen können, auch wenn alle technischen Hilfsmittel in höchster Vollkommen- heit gedacht werden, nur für einige Gattungen gleichen Rang mit dem Original beanspruchen. Und sollte es selbst gelingen, eine Statue, ein Bauwerk in mehreren gleichen Exemplaren herzu- stellen, so sind es doch immer nur eine beschränkte Anzahl, nicht beliebig viele. Bei einem musikalischen oder dichterischen Werk gibt es dagegen überhaupt kein Original; auch seine erste Auf- führung durch den Schöpfer oder unter seiner Mitwirkung ist nicht Original gegenüber späteren, die etwa als Kopien zu bezeich- nen wären. Der Schöpfer verwendet unvollkommene Individuen zur Vorführung, die ihre Eigenschaften in das Werk hineintragen, und ist, auch wenn er es selber vorträgt, von allerhand Zufällig- keiten abhängig. Eine andere Aufführung kann sich seinen Absichten mehr nähern als die erste und einen absoluten Maßstab gibt es überhaupt nicht. Wohl wird der Vortrag vom Künstler
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Die Kunst des Vortrags.
mitgeschaffen und ist nicht der Willkür des Vortragenden preis- gegeben, aber diesen Vortragenden selber schafft er nicht mit; seine Macht reicht nicht so weit, seinen Willen ganz durchzu- führen oder auch nur bis ins einzelne deutlich auszusprechen. Der Vortragende also steht zwischen Urheber und Empfänger dichterischer oder musikalischer Werke. Seine Aufgabe ist eine wichtige und dazu eine sehr eigentümliche. Er muß Künstler sein, denn er soll ein Kunstwerk vorführen und es dem Genießen- den unmittelbar verständlich und eindrücklich machen. Und doch darf er die Hauptfähigkeit des Künstlers, die schöpferische, nicht besitzen oder während seiner Tätigkeit mindestens nicht anwenden, da er einem fremden Willen zu gehorchen und etwas Angelerntes wiederzugeben hat. Man sollte daher glauben, das reproduktive Talent fände sich selten. Das ist aber keineswegs der Fall. Begabung zur Vortragskunst ist sehr häufig, wenn auch oft nicht in dem Grade, der zur Ausübung des Schauspieler- oder Virtuosenberufs erforderlich ist, und wenn auch in vielen Fällen andre Eigenschaften mit dieser Begabung verbunden sind, die ihrer gedeihlichen Entwicklung im Wege stehen. Die Haupt- tugend des reproduktiven Künstlers ist wohl eine ursprüngliche menschliche Fähigkeit, die bei ihm einseitig ausgebildet und anders gerichtet ist. Es ist die Angleichung, die zunächst mit künstlerischen Absichten nichts gemein hat, vielmehr der Er- haltung und dem Fortkommen schwächerer Individuen dient. Ein Wesen, das sich nicht selbst bestimmen und für sich selbst eintreten kanrr, wird nach solchen suchen, denen es sich unter- ordnen kann; es wird, nach Art gewisser Tiere, in fremde Ge- stalten Lebens- und Empfindungsarten eingehen. Die schau- spielerische Fähigkeit ist daher seltener in herrschenden Klassen als in dienenden, bei Männern seltener als bei Frauen. Anderer- seits gehört der Vortragende in jene abseits stehende Menschen- klasse, die sich im Gegensatz zum normalen Menschen fühlt und von jeher einen Ausschuß menschlichen Seins und Wollens gebildet hat. Der Zauberer, der Gelehrte, der Priester sind ur- sprünglich Typen derselben Menschenklasse, doch erscheinen sie verehrungswürdig oder furchtbar, während jenem etwas Lächer- liches oder Verächtliches anhaftet. Der Künstler hat von allem
Horneffer, Das klassische Ideal.
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Erster Teil.
etwas, bald neigt er sich mehr auf die eine, bald auf die andere Seite und zieht jedesmal seinen Gehilfen, den nachbildenden Künstler, mit sich hinauf oder hinab. Die Achtung, die der Künstler genießt, ist eine wechselnde, die des Vortragenden richtet sich danach, ist aber fast stets eine geringere als die des Schaffenden. Hohe Ehrungen sind ihnen zuteil geworden und tiefe Erniedrigungen haben sie erfahren. Der Schauspieler und Virtuose unserer Tage kann seine Abstammung von den jocula- tores, dem fahrenden Volk des Mittelalters nicht verleugnen; bei den ehrbaren Leuten ist das Gefühl davon noch nicht ganz erstorben, wie aus manchen Anzeichen erkennbar ist. Neben aller Hochschätzung, die sie heute genießen, und aller Beliebtheit, die sie stets besessen haben, findet sich noch immer der Nachhall jener Anschauung, daß ihr Gewerbe unehrlich und die es treiben vogelfrei seien. Doch müßte über alle diese Dinge ausführlicher gesprochen werden, als es hier möglich ist. Die Psychologie des Schauspielers ist ein ungemein lohnendes und interessantes Gebiet, was unter anderen Nietzsche betont und auch dargetan hat.
Die beiden Hauptfragen für uns sind der Unterschied des reproduktiven vom produktiven Künstler und die Stellung beider zueinander. Der Vortragende empfindet nach und bildet nach, was der Schaffende ihm vorlegt; aber auch dieser schafft nicht ohne Vorlage, sondern ahmt nach, was die Natur oder seelische Vorgänge ihm darbieten. Ein Objektives ist gegeben; der Künstler nimmt es auf und trägt seine Individualität hinein. Ebenso ver- fährt der Vortragende; Beobachtung und Erinnerung einerseits, persönliche Qualitäten andererseits sind für beide das Rüstzeug ihrer Tätigkeit. Wodurch also unterscheiden sie sich? Durch die Vorlage, wie mir scheint. Der Schaffende hat Rohstoff unter den Händen und verwandelt ihn in einen Organismus. Stücke und Einzelheiten fügt er künstlerisch zusammen und macht sie auf eine neue Art lebendig. Der Vortragende findet das Kunst- werk fertig vor; er hat es als solches darzustellen und zu beleben. Würde aber nicht damit der Vokalmusiker in die Reihe der Vor- tragenden gestellt? und ebenso der Arrangeur, der Übersetzer, der Kupferstecher, Kopist usw.? Auch ihnen dienen fertige Kunstwerke zur Vorlage. Aber sie stehen doch anders zu ihr;
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sie übertragen das Kunstwerk in eine andere Sphäre; sie wenden künstlerische Mittel an, die nicht in der Absicht des Schaffenden lagen, also ihnen allein angehören; während der Vortragende das natürliche Instrument des Schaffenden ist. Überdies muß man bedenken, daß bei der Vokalmusik in den meisten Fällen die künstlerische Form der Vorlage zerstört und diese nur als Roh- stoff verwendet wird. Die neuere Kunstmusik hat das Verhältnis zwischen Poesie und Musik, wie es zu andern Zeiten bestand, nahezu aufgehoben. Verse und Reime werden bei der Kompo- sition ignoriert, der grammatische und gedankliche Zusammen- hang zerrissen. Schwere und Leichtigkeit der Silben nach musi- kalischen Rücksichten verändert. Im Rezitativ ist man acht- samer, in ariosen Partien macht man, was man will. Das dich- terische Kunstwerk, das als Vorlage dient, gibt nur Stoff, Stim- mung, Gelegenheit und Anstoß; das musikalische wird ein voll- kommen anderes. An diesem Verhältnis ändert auch der Fall nichts, daß der Komponist seinen Text selber dichtet; Richard Wagners Bestrebungen, von wie richtigem Standpunkt sie auch ausgingen, haben keine Lösung der Schwierigkeit gebracht. Die sogenannte Programmusik steht ihrem dichterischen Vorwurf noch ferner. Denn wenn über ein lyrisches Gedicht oder ein Drama oder gar über ein Gemälde musiziert wird, ist doch die künstlerische Gestaltung desselben für das Musikstück völlig belanglos. Von den Fällen, wo natürliche Laute durch Instru- mente nachgeahmt werden. Wind, Regen, Tiergeschrei, Geschütz- feuer usw., sehe ich hier ab. Sie gehören in ein anderes Gebiet, haben außerdem in Zeiten guter Kunst ganz geringe, meist scherzhafte Bedeutung.
Der Kritiker nimmt eine besondere Stellung ein. Wenn er seine Aufgabe hoch genug nimmt, ist auch er Künstler und muß in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Er reproduziert Kunst- werke durch Erklärung und Beschreibung, urteilt, rückt an ihnen, wendet also schriftstellerische Mittel an, die ihrem Zweck nach außerhalb der Kunst stehen, aber durch die Art ihrer Ver- wendung in die Sphäre der Kunst gehoben werden können. Oscar Wilde hat fein und paradox über Begriff und Tätigkeit des Kritikers gesprochen.
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Erster Teil.
Eine weitere Stufe nach der Aufgabe des Vortragenden hin bilden die oben erwähnten Fälle, wo ein Kunstwerk auf ein anderes Gebiet übertragen, also verwandelt wird, aber bei der Verwandlung erhalten bleibt, z. B. wenn ein Musiker ein Klavierstück für Orchester umschreibt, oder der Radierer aus einem Gemälde ein graphisches Kunstwerk macht. Er steht um so höher, je selb- ständiger er zu Werke gehen muß, je weiter sich seine Tätigkeit von der des Kopisten entfernt. Der Nachbildner mit mechanischen Mitteln hat mit der Kunst fast nichts zu tun.
Dem Vortragenden, um uns nun auf ihn zu beschränken, ist mit den letztgenannten Typen gemeinsam, daß er ein wirkliches Kunstwerk hervorbringt, aber mit Hilfe eines fremden, schon bestehenden, dem er Gehalt und in allen wesentlichen Punkten auch die Form entlehnt. Das Schwierige und sogar Wider- spruchsvolle seiner Aufgabe ist die Verleugnung und zugleich die Beteiligung seiner Persönlichkeit. Je kräftiger seine Persönlich- keit ist, um so lebendiger und wirksamer wird sein Vortrag sein, aber um so freier und ungenauer wird er auch sein, um so mehr wird er hinzutun und hinwegnehmen. Vollkommene Treue ist unvereinbar mit lebensvoller Gestaltung. Will der Vortragende Künstler bleiben, so darf er nicht völlig von sich absehen. Er kann es überdies nicht. Auch bei der größten Biegsamkeit seines Naturells behält er einen Rest von Unveränderlichkeit, der dem Eingehen in fremde Formen widerstrebt. Man kann beobachten, wie sich die Vortragenden von zwei Seiten aus dem unerreichbaren Ideal ihrer Kunst zu nähern suchen; die einen haben ein mecha- nisches Nachahmungstalent und durchdringen es mit seelischem Gehalt, die anderen haben individuelle Qualitäten und schöpfe- rische Neigungen, beugen sie aber unter fremde Formen und Gesetze. Je nachdem sie sich auf die Seite des Persönlichen oder des Unpersönlichen neigen, lassen sich demnach die Vortragenden in zwei Klassen teilen; natürlich schließt weder das eine noch das andere ohne weiteres einen Tadel oder ein Lob ein. Die Persön- lichen sind die Einseitigeren; sie können nur Autoren und Cha- raktere wiedergeben, die mit ihnen eine gewisse Verwandtschaft haben. Wo ihre Persönlichkeit nicht stark mitklingt, versagen sie. Sie pflegen Schwierigkeit mit der Aneignung der künst-
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lerischen Technik zu haben, wollen alles mit ihrer Seele, nicht mit Gewohnheit, Übung und technischen Kniffen machen und neigen deshalb zum Dilettantismus. Sind sie Bühnenkünstler, so rui- nieren sie sich in der Regel schnell, weil sie mit ihrer Kraft nicht haushalten. Doch sind sie oft hinreißender als die eigentlichen Mimen, die rein berufsmäßig spielen. Ist ihre Einseitigkeit so groß, daß sie nur wenige Vorlagen mit sich identifizieren können, so sind sie ungeeignet zum Beruf des Vortragenden. Diesen Fall findet man bei manchen produktiven Künstlern, die ihre eignen und fremde sehr verwandte Sachen ausgezeichnet, alle andern aber schlecht vortragen. Auch gibt es eine große Zahl begabter junger Leute beiderlei Geschlechts, die sich für das Theater geschaffen glauben, weil sie den starken Drang haben, sich selber und ihren inneren Reichtum der Welt vorzuführen. Sie miß- brauchen aber die Bühne und sich selbst, wenn sie ihre Seele nackt und unkünstlerisch darauf ausstellen. Goethes Wilhelm Meister ist über diese Dinge nachzulesen.
Die Unpersönlichen sind vielseitiger, oft allseitig. Sind sie Schauspieler, so pflegt der Ursprung ihrer Bühnenneigung in einer angeborenen Nachahmungsgabe zu liegen, die sie instinktiv ausbilden; sie kopieren, was sie sehen, rein äußerlich wie die Affen, ohne Interesse für Sinn und Bedeutung des Kopierten. Sie kommen technisch in der Regel v/eiter als die Persönlichen und wissen, wenn sie geschickt genug sind, auch den Geist ihrer Rollen bis zu einem hohen Grade wiederzugeben. Meist sind sie auf den Brettern groß geworden und können sich kein Leben und kein Glück vorstellen, das nicht mit Theaterlampen, schönen Kostümen und Ovationen zusammenhängt. Das Talent zum Karikieren, also zum Komischen, findet sich ebenfalls häufiger bei ihnen als bei den Darstellern mit ausgeprägter Individualität. Vom Tech- nischen pflegen auch die vielseitigen Sänger und Virtuosen aus- zugehen. Sie widmen sich diesen Berufen nicht, weil sie Ver- ständnis und Begeisterung für einzelne Komponisten oder Werke besitzen, sondern weil sie geschickte Finger, einen langen Atem, eine laute Stimme haben. Oft sind sie unmusikalisch und bringen es trotzdem erstaunlich weit. Sie kopieren, wenn sie kein Ver- hältnis zu den Werken selbst finden, den Vortrag anderer Virtuo-
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sen, deren technische Eigentümlichkeiten sowohl wie deren Persönlichkeit, wodurch manchmal wunderliche Dinge, manchmal gar nicht üble Leistungen entstehen. Man hört öfter behaupten, sie gäben, weil sie in ihren Vorlagen völlig aufgingen, die Werke reiner wieder als die Obengenannten; das ist aber nur selten und in beschränktem Grade richtig. Denn absolut reine Wiedergabe existiert überhaupt nicht.
Wir kommen damit zur zweiten Frage, die die Stellung zum Schaffenden betrifft. Wie weit geht die Selbständigkeit des Vor- tragenden gegenüber seiner Vorlage? Er empfängt die Anwei- sungen des Autors, direkt oder indirekt, und hat sich soweit an sie zu halten, als nicht zwingende Gründe zur Abweichung vor- liegen. Der Autor bestimmt den Vortrag im ganzen. Von Hause aus ist er ja selber der Vortragende oder der Hauptteilnehmer an der Aufführung; er kann also auch, was er schafft, selber aus- führen. Sappho dichtete nicht nur, sondern vermochte ihre Sachen auch zu singen und zu spielen; ebenso Aischylos. Doch ergibt sich leicht, daß dem Schaffenden die natürlichen Fähig- keiten zum Vortrag abgehen, und allmählich entwickelt sich der heutige Zustand, wo der Dichter und Komponist nur wenig von dem ausführen kann, was er seinen Dienern vorschreibt. Das ist unbedenklich, solange es sich um zufällige Naturgaben, Organ, Gestalt usw. handelt, aber bedenklich, wenn ihm das technische Können oder gar die geistige Beherrschung der Vortragsmittel fehlt. Der Dichter muß wissen, wie der menschliche Atem be- schaffen ist, wie er seine Sätze zu bilden hat, damit der Vortragende richtig betonen, absetzen und sein Organ entfalten kann. Der Dramatiker muß die Bühne vor Augen haben und die Situationen, die Dekorationen und die handelnden Figuren der Möglichkeit und der günstigen Wirkung entsprechend verwenden können. Der Vokal- und Instrumentalkomponist muß Umfang, Charakter, Stärken und Schwächen der menschlichen Stimme in ihren ver- schiedenen Lagen und sämtliche Instrumente, die er benutzt, kennen. Ist das nicht der Fall, weiß der Autor nicht genau, wie das, was er hinschreibt, beim Vortrag sich ausnehmen wird, so bringt er sich um die Wirkung, fordert Eigenmächtigkeit und Gutdünken der Vortragenden heraus und darf sich nicht
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wundern, daß er ihre Verachtung und ihren Spott erntet. Man weiß, daß die reproduktiven Künstler zur Selbstüberschätzung neigen. Ohne sie ist das Werk nichts, sie machen es lebendig, stehen für seinen Erfolg und Mißerfolg ein und fühlen sich daher dem Schaffenden gegenüber leicht als Patron und Gönner. Auch denken wenige Schauspieler, wenn sie sich vor klatschenden Zuschauern verbeugen, daran, daß sie den Beifall mindestens zur Hälfte dem Dichter verdanken, der vielleicht längst tot ist oder der bei den Proben sich lästig gemacht hat. Sie vergessen gern, daß sie von ihm leben und ohne ihn überflüssig und unmöglich wären. So kehrt sich manchmal das natürliche Verhältnis um; der Darsteller wird Zweck. Für ihn arbeitet der Dichter ebenso, wie der Theaterschneider sich für ihn bemüht. Beispiele eines solchen Zustandes bietet namentlich die italienische Oper des i8. Jahrhunderts, wo der Komponist gehorsamer Diener des Kastraten und der Primadonna war. Doch finden sich auch heute Spuren davon, wenn sie auch seltener und weniger sichtbar sind. Wagner hat großen Anteil daran, daß der Darsteller auf der Opern- bühne bescheidener geworden ist. Meistenteils ist in Deutschland der Instrumental- und auch der Opernkomponist Herr seiner Kunstmittel; er lebt dem Vortragenden so nahe, wie es nötig ist. Weniger gilt dies für den Dichter, der sich nur zu oft bedenkliche Blößen gibt, weil er nicht genug Zusammenhang mit den Vor- tragenden hat. Er unterschätzt in dilettantischem Unverstand die Wichtigkeit des Vortrags.
Andererseits tut der Schaffende Unrecht, die freie Bewegung des Ausführenden einzuschränken. Er muß ihm soviel Raum geben, als mit seinen dichterischen Absichten irgend vereinbar ist. Denn es ist nun einmal nicht anders: er überläßt das Werk Individuen, die bei seiner Vorführung ihre persönlichen Tugenden entfalten und ihre Schwächen verdecken wollen und sollen. Was er ihnen daher an berechtigter Selbständigkeit entzieht, das ent- zieht er seinem Werk an Leben und Kraft. Bekanntlich ging man in früheren Zeiten freier mit den Vorlagen um als heute; die Gewissenhaftigkeit, ein Erzeugnis unserer historischen Bildung und vielleicht auch unserer geringen schöpferischen Kraft, war noch nicht entdeckt. Man kopierte und übersetzte ohne Streben
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nach Treue, und Darsteller und Leiter einer Aufführung zweifelten nicht an ihrem guten Recht, das Werk ihren Mitteln und Absich- ten anzupassen. Man änderte, strich weg und fügte hinzu, man änderte auch wohl den Namen des Verfassers und setzte den eignen an seine Stelle. Man machte aus einem geistlichen Lied ein weltliches und der Kandwerksbursch dichtete ein Lied für sein Gewerbe um. Das Lokale hatte eine viel größere Bedeutung als heute; das Publikum wollte seine örtlichen Zustände und beson- deren Verhältnisse berücksichtigt sehen. Der Rhapsode sang das Epos in Athen anders als in Theben; die lustige Person schöpfte ihre Spaße aus lokalen und persönlichen Anlässen. Auch der Spieler und Sänger war dem Komponisten gegenüber selbstän- diger. Er legte, um seine Virtuosität zu zeigen, Koloraturen und Kadenzen ein, die in der Partitur nicht enthalten waren, und suchte bei einer anderen Vorführung oder wenn sein Stück da capo verlangt wurde, nach neuen Verzierungen, die er im Ge- dächtnis hatte oder improvisierte. Dies alles kann den Werken natürlich nur dann zum Vorteil gereichen, wenn die reproduktiven Künstler Bildung und Verständnis besitzen, wenn sie Einsicht in die Ökonomie der Werke haben und selber produktiv sind. Ist dies der Fall und zielen die Freiheiten darauf, das Werk leben- diger und wirkungsvoller zu machen, so sind sie berechtigt. Macht man es für besondere Anlässe zurecht und stehen etwa ungenügende Mittel zur Verfügung, so ist auch eine solche Auf- führung mindestens entschuldbar, falls eine künstlerische Wir- kung erstrebt wird und zustande kommt. Vom Übel ist nur, wenn Geldgier und Dummheit den Rotstift führen und ändern, wodurch aus Freiheiten Unverschämtheiten werden. Im allgemeinen muß man sagen, daß der ausführende Künstler früher höher und dem schaffenden näher stand als heute; daher denn die Kunst in den zahlreicheren Fällen nicht darunter litt, daß der Vortragende eher dem Schüler glich, der vom Meister eine Zeichnung zur Aus- führung eines Fresko erhält, als dem Steinmetzen, an den Hand- werksarbeiten vergeben werden. Ebenso kommt es der heutigen Kunst nur selten zugute, daß man historische Rücksichten hoch und gar über die künstlerischen stellt. Man will treu und authen- tisch sein und fragt: wie hat der Dichter dies gemeint, wie hat
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der Sänger zur Zeit des Komponisten dies gesungen? Statt vor allem andern zu fragen: wie können wir als heutige und lebendige Menschen uns das Werk gegenwärtig und zu eigen machen? Es ist Philologie, nicht Kunst, wenn man Echtheit der Kostüme verlangt und jeden Meister in seinem Stil vortragen möchte. Eine unproduktive Zeit verfährt so; sie will frühere Epochen hervor- zaubern und in ihnen untergehen. Die produktive benutzt die Vergangenheit zur Reinigung und Stärkung, nicht zur Knechtung und Verleugnung ihres Strebens.
Ebenso wie ein Werk den größten Vorteil davon hat, wenn der Künstler es für einen bestimmten Zweck arbeitet, der attische Tragiker für die Dionysien, der Kirchenkomponist für das Weih- nachts- oder Osterfest, so unterstützt ihn auch die Rücksicht auf Ort und Verhältnisse, auf Personal und Instrumente. Wie traurig ist der Bildhauer daran, der nicht weiß, wo seine Statue stehen wird! Wie unsinnig ist gar der Auftrag an den Baumeister, ein Haus zu entwerfen, während er Ort, Zweck und Mittel dazu nicht kennt! Nicht viel vernünftiger erschienen ursprünglich der Dich- ter und der Komponist, die ein Werk ohne Rücksicht auf die Bedingungen der Aufführung, rein aufs Geratewohl machten. Weil heute an vielen Orten ungefähr gleiche Bedingungen vor- handen sind, ist es nicht mehr von so großem Einfluß, ob ein Werk nach einem Auftrag und auf einen Zweck hin verfaßt wird oder nicht. Aber fördern wird es den Schaffenden auch heute noch wesentlich, wenn er für eine bestimmte Bühne, für einen be- stimmten Sänger oder Spieler schreiben kann. Man erinnere sich, was Haydn seinem Orchester, Shakespeare seinem Theater, Chopin seinem Klavierspiel verdankten. Wer freilich ein Werk auf seltene oder zufällige Eigenschaften der Vortragenden, etwa auf den riesenhaften Wuchs eines Darstellers basiert oder wer so schwierige Hornstücke schreibt, daß nur ein Wunder von einem Hornisten sie spielen kann, der ist ungeschickt und beschränkt mutwillig sein Werk auf einen geringen Wirkungskreis.
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Ich versuche die Vortragskunst, wie sie heute in Deutschland geübt wird, kurz zu charakterisieren. Obwohl man unsere Zeit als die des Virtuosentums bezeichnen kann, ist doch die künst- lerische Virtuosität nur auf einigen Gebieten groß und dort wie- derum so einseitig gerichtet, daß sie viel von ihrem Wert verliert. Es fehlt überall an künstlerischer Einsicht. Reden wir zunächst vom poetischen und dann vom musikalischen Vortrag. Bei beiden ist ein Unterschied zu machen zwischen Bühnendarstellung und einfachem Vortrag. Der letztere setzt nur ein körperliches Organ, oft mit Zuhilfenahme eines Instruments, in Tätigkeit; bei der ersteren ist der ganze Körper Instrument.
Die Schauspielkunst war von Hause aus mit der Tanz- kunst verknüpft und oft identisch. Die Wiedergabe von indivi- duellen Seelenzuständen dagegen durch Geberden, Mienenspiel und unrhythmische Bewegungen ist erst allmählich in Aufnahme gekommen. Der heutige Schauspieler will in erster Linie einen natürlichen Menschen darstellen. Er bemüht sich, sein Kostüm, sein Gesicht, jede seiner körperlichen Äußerungen individuell zu gestalten und zum Bilde einer bestimmten einheitlichen Figur zusammenzufügen. Durch die großen Schauspieler der neueren Zeit ist dies Ziel bis zu einem hohen Grade erreicht worden; sie wandeln als Persönlichkeiten von erstaunlicher Lebenswahrheit auf der Szene. Ein Grieche, wenn er sie sehen könnte, würde staunen über diese Höhe charakterisierender Kunst, würde aber die Verwandtschaft dieser mit antiker Schauspielkunst durchaus in Abrede stellen und die Aufführung griechischer Dramen auf diese Art eine Mißhandlung nennen. Mir scheint aber, dies Urteil würde nicht nur für antike Dramen, sondern auch für den größeren Teil der neueren Theaterstücke richtig sein. Nur wo der Dichter die Charaktere in ihren direkten Äußerungen hat vorführen und menschliche Zustände als lebende Bilder hat zeichnen wollen, ist eine Darstellung seines Stücks am Platze, die alle Lebensäußerungen des Menschen ihrer natürlichen Be- deutung und ihrer natürlichen Gestalt gemäß zu verkörpern sucht. Man muß doch zugeben, daß der dramatische Dichter in der
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Regel eine Lebensäußerung weit über Gebühr bevorzugt, das ist die Sprache. In einem Stück wird vor allem gesprochen, und durch Gespräche wird der Charakter der Personen und die Hand- lung des Stücks dargelegt. Wenn die Personen so wenig sprächen, im Vergleich zu dem, was sie tun, als es im Leben der Fall ist, so würde das Drama einer Pantomime ähnlicher sehen als einem gesprochenen Theaterstück. Auf die Pantomime steuert in der Tat die Schauspielkunst los. Der Darsteller nimmt heute sein Auftreten im ganzen und, wenn er spricht, den charakteristischen Ton, Rhythmus usw. seiner Äußerungen viel wichtiger als den dichterischen Gehalt und die dichterische Form dessen, was er sagt. Er bringt mimische Nuancen an, wo er kann; er sucht die Aufmerksamkeit der Zuschauer zu fesseln, auch während er stumm ist, durch pantomimische Kunst, durch Bewegungen und Aktionen, die seinem Charakter entsprechen, aber für das Stück weder förderlich, noch von ihm aus geboten sind. Ich sehe dabei von den Auswüchsen naturalistischer Bühnenkunst noch ganz ab; die Bevorzugung des mimischen Details und die Vernach- lässigung der gesprochenen Dichtung ist, wenigstens in Deutsch- land, eine allgemeine. Das Mimische hat doch allein Berechti- gung, insofern es die Rede unterstützt; es soll nie führen, sondern nur begleiten. Auch an solchen Stellen, wo auf der Bühne starke und wichtige Handlungen vor sich gehen, bleibt meines Erachtens das, was die beteiligten Personen sagen, das Wesentliche. Die Schlußszene des Othello z. B. ist ein Gespräch, und die Aktionen, die darin vorkommen, müssen, so bedeutend sie sind, innerhalb des Gesprächs belassen und gleichsam wie Interpunktionszeichen markiert werden. Wenn man sie in den Mittelpunkt rückt und der Held durch weit ausgeführte pantomimische Aktionen das Interesse fesselt, statt durch Worte, verschiebt er Sinn und Absicht des Kunstwerks. Ich leugne nicht, daß diese Mord- und Selbst- mordszene ergreifender wird durch Betonung der Vorgänge und ihres psychologischen Gehalts, glaube aber, daß die Aufführungen unserer großen dramatischen Dichtungen, wenn man auf dieser Bahn fortschreitet, ihren künstlerischen Gehalt immer weniger erschöpfen und zu vollkommenen Karikaturen herabsinken wer- den. Hier und da werden Stimmen laut, die auf die Gefahr
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aufmerksam machen, aber durchgedrungen ist bis jetzt noch keine.
Am merkbarsten ist der Verfall, wo es sich um Stücke handelt, die in Versen geschrieben sind. Der deutsche Schauspieler spricht keine Verse, er weiß auch nicht mehr, was Verse sind; macht man ihn auf seinen Fehler aufmerksam, so versteht er kaum, was man will. Er verwertet die Dichtung als Text, als Programm einer Pantomime; ihre rhythmische Gestaltung beachtet er nicht und zerstört sie, wo sie ihm hinderlich ist. Der Dichter aber hat doch die Verse gebildet, damit sie vorgetragen werden; und vortragen heißt künstlerische Einheiten als solche darstellen, ihre Schönheit und Eigenheit so klar als möglich aufzeigen. Der Vers hat, um nur einiges hervorzuheben, ein rhythmisches Gerippe, das man nicht zerbrechen darf; er bekommt durch die Wortfolge einen bestimmten Gang, eine Linie, die fällt oder steigt, gerade oder gekrümmt ist und auf keinen Fall zerrissen werden darf, sei es durch falsche oder zu starke Betonung, durch Willkür oder Un- gleichheit im Tempo. Wechselt das Versmaß, wie in der Goethe- schen Iphigenie, so muß der Wechsel dem Hörer deutlich gemacht werden. Sind die Verse mit Endreim versehen, so dürfen die Reime nicht ignoriert, sondern müssen zum Bewußtsein gebracht werden. Treten Gruppen von Versen zusammen, so muß ihre Zusammengehörigkeit markiert werden. Aber auch Prosastücke sind keineswegs dem Gutdünken des Sprechers überlassen; auch für den prosaischen Vortrag gibt es bestimmte Gesetze, die er zu beobachten und seinen schauspielerischen Aktionen über- zuordnen hat. In diesen Punkten fehlt es bei uns so sehr an Verständnis und Urteil, daß man Mühe hat, ohne praktische Beispiele deutlich zu machen, um was es sich handelt.
Das Rezitieren außerhalb des Theaters, in Frankreich eine hochstehende und viel geübte Kunst, kann sich bei uns nur eines kümmerlichen Scheinlebens erfreuen. Man ist allen Ernstes der Meinung, daß zum Vortrag von Gedichten genüge, ihren Inhalt zu verstehen; ein hübsches Organ soll dann das übrige tun. Von technischer Ausbildung im Sprechen und Förderung des prosodi- schen Verständnisses hört man nichts. Balladen, Lieder, betrach- tende Gedichte und was für Gattungen die Poesie noch sonst hat,
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jede fordert einen anderen Vortrag; die Balladen einen lebhaften wechselvollen, der dem dramatischen Vortrag ähnlich ist, ohne daß er aber Gesten zu Hilfe nehmen dürfte; betrachtende und berichtende Gedichte aller Art einen ruhigen, der Prosa ange- näherten; rein lyrische Gedichte einen musikalischen, das klang- liche Element bevorzugenden usw. Für alle gilt in gleicher Weise, daß der seelische Ausdruck das künstlerische Gewebe nicht zer- reißen und daß einzelne Momente nicht über das Ganze domi- nieren dürfen. Dichtungen in Versen wurden von Hause aus gesungen, nicht gesprochen; der Vortrag bewegte sich also In festen Maßen und war in hohem Grade stilisiert. Die Lieder hatten wohl überall musikalisch wertvolle Melodien, die für die einzelnen Strophen gleich waren, so daß der Wechsel in Stimmung und Inhalt nur in beschränktem Maße zum Ausdruck gebracht werden konnte. Die übrigen Gedichte wurden meist rezitatorisch vorgetragen, wobei gewisse Phrasen und Kadenzen sich regel- mäßig wiederholten. Instrumentalbegleitung war üblich. Alles dies zeigt, wie sehr der Ausdruck zurückstand hinter der künst- lerischen Stilisierung. Wenn wir nun heute auch die Musik weglassen und durch den Sprechton von selbst zu einer stärkeren Hervorhebung des Sinns und des Affekts geführt werden, so bleibt doch immer noch die Rücksicht auf den Vers, den Reim, die Strophe bestehen. Solange Verse geschrieben werden und auch solange die Prosa künstlerisch gestaltet wird, sind die Forderun- gen des Rhythmus und die der rhythmischen Betonung für den Vortrag maßgebend. Kein Temperament, kein Affekt kann für ihre Vernachlässigung entschädigen.
Mit dem musikalischen Vortrag steht es besser als mit dem poetischen. Eine entwickelte Kunst schafft sich eine gemäße Vortragsweise, denn ohne eine solche könnte sie nicht existieren. Wenn Sänger und Spieler fehlen, sterben auch die Komponisten aus. Die deutsche Musik zeigt an mehreren Punkten, wie großen Einfluß die Vortragstechnik und die Vortragsmittel auf die Rich- tung des musikalischen Schaffens haben; sie zeigt auch das Um- gekehrte, daß Kompositionen reproduktive Künstler erzeugen, die jene vortragen können, wie z. B. Wagner ein neues Sänger- geschlecht ins Leben gerufen hat. Auch in der deutschen Poesie
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findet man Spuren der gegenseitigen Einwirkung, freilich mehr nach der negativen als nach der positiven Seite; so sehen wir z. B. dramatische wie auch lyrische Versuche wirkungslos und ver- einzelt bleiben, weil man sie nicht vortragen kann oder nur ein kleiner Kreis sich findet, der ihnen auf kurze Zeit Leben verschafft. Das mangelhafte Verständnis der Deutschen für französische Poesie wird denselben Grund haben.
Die deutsche Musik ist vorwiegend instrumental; deshalb steht auch der Spieler hoch über dem Sänger. Die Vokalmusik hat außerdem eine Richtung eingeschlagen, die der Gesangskunst ungünstig ist. Um die Kompositionen der letzten loo Jahre vor- zutragen, sind virtuosische Qualitäten des Sängers kaum noch erforderlich. Dagegen werden andere Tugenden immer wichtiger: Leidenschaft, deutliche Aussprache, Kraft und Ausdauer des Organs. So ist denn auch die Kunst des Singens auf einen geringen Stand herabgesunken, und da die deutsche Musik be- stimmenden Einfluß in Europa hat, verlernen auch andere Na- tionen die alte große Kunst. Früher bildete man seine Stimme fünf, sechs Jahre lang aus und wartete mit dem Auftreten, bis man sie zum gefügigen Werkzeug gemacht, ihre Mängel ausgeglichen und ihre Stärken und Schönheiten auf das Vollkommenste ent- wickelt hatte. Heute treibt man keine Stimmbildung oder läßt sein Material durch unfähige Lehrer ruinieren. Der Prozentsatz derer, die sich schnell absingen oder schon während der Vor- bereitung ihre Stimme einbüßen, ist sehr groß, trotzdem es Lehr- prinzipien und Lehrmethoden genug gibt, und unsere Dilettanten über die physiologischen Bedingungen guten Singens besser Bescheid wissen als Farinelli und Faustina. Es fehlt am Können. Die Ausnahmen, deren Vorhandensein ich gern zugebe, machen die Not nur deutlicher und empfindlicher. Man würde nun über die technischen Mängel vielleicht hinwegsehen, würde sich am Ende auch den Klang ungebildeter oder verbildeter Stimmen, der selten schön ist, gefallen lassen, wenn der Vortrag unserer Sänger künstlerisch vollendet wäre und durch gute Wiedergabe der musikalischen Schönheiten des Kunstwerks jene Mängel ver- gessen machte. Aber dies ist nicht allzu häufig der Fall. Man nimmt aus der Oper oder dem Gesangskonzert nicht oft reine
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ästhetische Eindrücke mit nach Hause. Das Übel ist, daß die mo- dernen Kompositionen sie an und für sich nicht hervorrufen und der Vortragende nichts anderes tun kann, als dem Komponisten folgen. Wie will er ein Lied, das keine künstlerische Einheit ist, einheitlich vortragen? Und ist er einmal an programmatisches Stückwerk gewöhnt und weiß, durch welche Mittel er die größten Wirkungen erzielen kann, so darf man sich nicht wundern, daß er gute Kunstwerke ebenfalls auf unkünstlerische Art vorträgt, daß er die Linien der Melodie zerreißt und den Affekt bis zur Tollheit steigert. Außerdem hat sich die Aufgabe des Sängers im Lauf der Zeit nicht nur insofern geändert, als er keine Virtuosität mehr zu zeigen hat; er ist auch nicht mehr der ausschließliche Träger der Melodie. Der Instrumentalpart ist immer wichtiger ge- worden; er beschränkte sich früher auf Begleitung und Ausführung von Vor-, Zwischen- und Nachspielen; heute bildet er einen gleich- wertigen Faktor, ähnlich wie in der Sonate für Violine und Klavier oder in den meisten Konzerten für ein Instrument und Orchester. Vom künstlerischen Standpunkt aus ist dagegen nichts einzu- wenden, solange der Gesangspart in das musikalische Bild ein- gewoben ist, eben wie es in Violinsonaten, in Konzerten oder auch in älteren Kirchenkompositionen der Fall ist, die keinen Unter- schied zwischen instrumentalen und vokalen Stimmen machen. Bedenklich ist es dagegen, wenn der Gesangspart außerhalb des Bildes steht und für den Gang der Musik keine Bedeutung hat. So findet man es häufig bei Wagner: die Musik liegt im Orchester; der Sänger singt Töne hinein, die ebensogut fehlen könnten; nur der Text und vielleicht der Klang der Stimme hat Einfluß und Wert für den musikalischen Verlauf. Es ist klar, daß hierunter die künstlerische Fähigkeit des Sängers leidet. Er verlernt den fließenden Gesang und richtet sich in der Schattierung durch dynamische und Temponuancen nur noch nach seinem Text, nicht mehr nach musikalischen Forderungen. Wendet er auch diese schlechte Manier bei allen Kompositionen gleichmäßig an, so vernichtet er notwendig die künstlerische Wirkung eines Liedes, einer Opernszene. Eine Phrase wird etwa von der Klarinette gebracht, die Streicher nehmen sie auf, der Sänger soll sie wieder- holen oder fortsetzen. Die ersteren werden ihre Schuldigkeit tun,
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der Sänger aber wird täppisch zufahren, aus dem Rahmen treten und das Bild zerstören. Wie oft kann man dergleichen erleben! Auch Ensemblepartien mißglücken öfter als billig ist, sowohl wenn es Frage und Antwort gilt, als wenn mehrstimmige Sätze gesungen werden sollen. Die Kunst, sich einzuordnen und mit dem Ganzen zu fühlen und zu gehen, erstirbt. Natürlich gibt es immer noch Sänger, die solche Dinge können, aber man müßte erwarten, daß niemand auf das Podium und die Bühne träte, der hierin Schüler oder Pfuscher wäre. Wie übel würde es einem Orchesterspieler ergehen, der seine Sache so wenig verstände!
Der Konzertsänger pflegt dem Opernsänger überlegen zu sein; er beherrscht seine Lieder eher und sündigt in der Regel nur durch Übertreibung im Ausdruck. Zu ihr aber wird er, wie gesagt, durch die modernen Komponisten verführt, die ihm eine unkünst- lerische Aufgabe stellen und die überdies zu arm an Musik sind, um einen schmucklosen Vortrag aushalten zu können. Man hat immer Ursache, eine Verarmung an Kunst festzustellen, wenn den Erzeugnissen nicht durch die einfachste Wiedergabe genug geschieht, sondern besondere Erklärungen und Anstrengungen des Schaffenden nötig sind, um dem Vortragenden eine neue und wunderbare Vortragsweise einzuprägen. Ein zweistimmiges Crucifixus von Josquin wird man verstehen, auch wenn es auf der Drehorgel gespielt wird; es ist ungemischter musikalischer Wein. Eine moderne Komposition aber ist abhängig von einem seelenvollen Vortrag, von Zutaten, die den Gaumen reizen und täuschen, und macht erst, wenn alles beieinander ist, seine Wir- kung. Auch Kompositionen, die vor Wagner und unabhängig von ihm entstanden sind, leiden schon an dieser Betonung des unkünstlerischen Beiwerks. Musik scheint ein seltener Artikel zu werden.
Hiermit hängt es gewiß zusammen, daß die Manier, Lieder mit Gesten zu singen, Anklang findet und daß der Opernsänger immer mehr zum Schauspieler wird. Für den singenden Dar- steller gilt in noch höherem Grade als für den redenden, was ich oben von der Schauspielkunst sagte. Nicht was er tut, nicht sein Mienen- und Geberdenspiel, sondern sein Gesang ist das Wesentliche. Mit seinen Partnern und dem Orchester ein musi-
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kaiisches Werk zu Gehör bringen, ist seine Aufgabe; soweit seine Gesten ihn dabei fördern, sind sie berechtigt, nicht weiter. Je weniger er sie nötig hat, um seine dramatische Figur einleuch- tend und glaubhaft zu machen, um so besser ist es für ihn; denn um so größere Sorgfalt kann er auf seinen Gesang verwenden, der wiederum seine Figur heben und unterstützen wird. Psy- chische Erregungen (Schmerz, Überraschung, Wut usw.) sollte er also zunächst mit der Kehle auszudrücken versuchen und nur, wo das nicht geht, zu mimischen Hilfsmitteln greifen. Sein Spiel muß stilisierter sein als das des Schauspielers, so wie der Vortrag des Liedersängers stilisierter ist als der des Rezitators. Die Musik duldet keinen Naturalismus; sie tritt jedesmal ab, sobald er sich zeigt, wenn auch die Darsteller oft genug nichts davon merken und glauben, die Musik leide keinen Schaden, wenn sie schau- spielerischen Effekten vom übelsten Naturalismus nachgehen. Auch das Publikum sieht nicht, wie eins das andere aufhebt. Wagner urteilte hierüber ganz richtig; seine Praxis zeigt sogar, daß auch stilisierte Schauspielkunst sich kaum mit guter Musik verträgt. Er wollte, daß das Bühnenbild dem musikalischen Bild konform sei, wonach man bis dahin nicht gestrebt hatte, mußte aber, um dies Ziel zu erreichen, die Musik so naturalistisch wie möglich und die Darstellung so ideal wie möglich machen. Man frage sich, was aus der Musik wird, wenn sie sich alltäglichen Bildern und naturalistischem Spiel anbequemen will. Es scheint, daß einige unserer Komponisten dies ausprobieren möchten. Doch muß die Musik noch viel tiefer heruntergebracht werden, ehe sie dazu geeignet wird.
Unter allen reproduktiven Künstlern ist heute der Orchester- spieler die verehrungswürdigste Figur. Er hat eine unscheinbare, aber sehr schwierige Aufgabe, die große männliche und künst- lerische Tugenden verlangt; und er wird dieser Aufgabe in voll- kommener Weise gerecht. In ihm lebt noch der Geist, der die deutsche Musik groß gemacht hat; er ist deshalb ein Damm gegen die Fluten modernen Dilettanten- und Virtuosentums und hat bis jetzt tapfer standgehalten, so viel Mühe sich auch die destruk- tiven Elemente geben, dies kostbare künstlerische Instrument zu ruinieren und zu Verblasen. Er ist ja ein Dienender und verliert
Horneffer, Das klassische Ideal.
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Erster Teil.
dies Bewußtsein nicht, wehrt sich also gegen keinen Auftrag, auch gegen keine unwürdige Zumutung, die der moderne Komponist oder Kapellmeister an ihn stellt. Er freut sich vielleicht gar, auch zu Leistungen imstande zu sein und benutzt zu werden, die mit seinem Handwerk kaum etwas zu tun haben, und ist, wie Paganini auf seine Verbeugungen, stolz auf die Kunststückchen und Kindereien, die man ihn ausführen läßt. Aber im Grunde bleibt er der Kunst getreu, er läßt sich durch nichts davon über- zeugen, daß geistreicher Tand gute Musik sei, und ist durch seine Praxis die beste Kritik des virtuosen Solospielers und Kapell- meisters. Das technische Können unserer Spieler ist tadellos und ihre Übung im Zusammenspielen hat einen bewunderungs- würdigen Grad erreicht. Nicht nur die ersten Orchester großer Städte, sondern auch kleine und geringe Kapellen bieten in der Regel Leistungen von guter musikalischer Solidität, gegen die der Bühnen- oder Konzertgesang manchmal in fast grotesker Weise absticht. Auch den Wert der Militärkapellen als Pflanz- stätten darf man nicht zu gering anschlagen.
Mit den Orchesterspielern verwandt und oft aus ihrem Kreise herausgewachsen sind die guten Solospieler, die sich deren Be- scheidenheit und Aufopferungsfähigkeit erhalten haben. Sie bleiben Mitglieder eines Orchesters oder suchen auf andere Weise den Zusammenhang mit dem Handwerk zu bewahren und haben bisher verhindert, daß der große Stil der deutschen Kammermusik in Vergessenheit geraten ist. Ohne die Mithilfe eines Publikums, in dem aufrichtige Begeisterung für die Musik als Kunst lebt, wäre dies, wie sich von selbst versteht, nicht möglich gewesen. Man würdigt die Tatsache nicht genug, daß es unter dem sehr großen, sehr gemischten musikalischen Publikum eine beträchtliche Zahl Menschen gibt, die in Konzerte gehen, wo ihnen keine Virtuosität, keine Pikanterien, nur gute Kammer- oder Orchestermusik vor- gesetzt wird. Wie leicht wird es durch dies Entgegenkommen den Komponisten gemacht, wie offen steht ihnen der Weg zur Kunst! Aber sie benutzen ihn selten und arbeiten vielmehr daran, Publi- kum und Vortragende herabzuziehen. Bei diesem Bemühen pflegen sie von dem geistreichen Kapellmeister unterstützt zu wer- den, der einen mit Nuancen überladenen Barockvortrag anstrebt.
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Die Kunst des Vortrags.
Das Konzertleben der Gegenwart ist eine merkwürdige Er- scheinung. Man fragt sich mitunter, ob sein Hasten und Lärmen wirklich der Kunst zugute kommt, ob nicht Emotionssucht, Eitelkeit und Geldgier, da sie die treibenden Kräfte sind, auch den Hauptgewinn davontragen. Wohl kann die Konkurrenz dem Wachstum oder der Erhaltung einer Kunst wertvolle Dienste leisten, da sie für eine strenge Auslese sorgt; aber dazu ist nötig, daß die Auslese nach künstlerischen und nicht nach anderen Gesichtspunkten erfolgt. Entfernt man sich einmal von dem ruhelosen Treiben des musikalischen Marktes, was jedem Musiker nicht dringend genug empfohlen werden kann, und schaut ihm aus der Perspektive zu, so gewahrt man zunächst etwas sehr Erfreuliches, nämlich einen hohen Stand der Vortragstechnik. Talent und großer Fleiß sind die Erfordernisse, um als Virtuose sein Glück zu machen. Die Ansprüche an das Können sind viel- leicht noch im Wachsen; jedenfalls ist nur Ware von tadelloser Arbeit konkurrenzfähig; Schleuderware hat nur unter ganz besonderen Umständen Aussicht auf Erfolg. Die zahlreichen singenden Pfuscher nehme ich hier aus. Sucht man nach fer- neren Kennzeichen der bevorzugten Virtuosen, so findet man wohl künstlerische Eigenschaften im höheren Sinne, diese aber in der Regel nicht nach dem Gesichtspunkt der Vortrefflichkeit, sondern der Auffälligkeit abgewogen. Das Publikum wird unter den Bewerbern um seine Gunst stets diejenigen auswählen, welche seinem künstlerischen Geschmack am meisten zusagen. Ist der Geschmack ein hoher und gereinigter, so kann man nichts mehr wünschen, als daß die Konkurrenz eine möglichst heftige ist, da dann das Allerbeste sich durchsetzen wird. Geht aber die Nei- gung des Publikums, wie es heute im ganzen der Fall ist, auf das Ungewohnte, das Extreme, das Aufregende, so wird ein Vortragsideal aufkommen und allmählich herrschend werden, das guter Kunst entgegengesetzt ist. Man wird beständig nach neuen Effekten suchen und vor allem andern danach streben, zu überraschen, anders vorzutragen als die übrigen. Schließlich beherrscht dann den Virtuosen das Sehnen, etwas noch nie Da- gewesenes zu finden, einen Effekt, der alles Bisherige in den Schatten stellt und das Publikum einfach umwirft. Ein großer
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Erster Teil.
Teil des heutigen Publikums braucht nur noch ein paar Schritte weiter abwärts zu tun, um bei der Kuriosität, beim Panoptikum anzulangen und Virtuosen zu bevorzugen, die m.it den Füßen oder in der Hypnose spielen. Der gute reproduktive, ebenso wie der gute produktive Künstler strebt aber bekanntlich danach, seine Effekte nur aus dem Allbekannten zu nehmen, nur nach künstlerischen Rücksichten zu bestimmen und nur, so weit sie sich von selber aus der Vorlage ergeben, zu benutzen. Auch nicht die Effektlosigkeit erstrebt er; er will nicht etwa eintönig und leblos sein, was ja auch nur ein unkünstlerisches Extrem wäre. Vielmehr ist er natürlich und seine Besonderheit, durch die er Anteil und Aufmerksamkeit erregt, kommt aus der unge- wollten Einzigartigkeit seiner Natur; diese aber besteht nicht in einer extremen Wunderlichkeit, sondern in der Schönheit und Höhe. Ich muß wiederholen, was ich oben schon angedeutet habe. Der Ausdruck darf nie dominieren. Alle Vortragsnuancen sind nur berechtigt, soweit sie durch das Kunstwerk geboten sind oder wenigstens innerhalb des künstlerischen Bildes bleiben. Je weniger der Vortragende sie nötig hat, je mehr er Einzeleffekte verschmähen darf, um so höher steht sein Vortrag. Der klassische Vortrag kennzeichnet sich dadurch, daß er auf die einfachste Weise, bei vollkommener Gebundenheit und Einheitlichkeit, alles das gibt, was der nichtklassische durch Übertreibungen im Ausdruck, durch schroffe Gegensätze, reiche Abwechslung, durch Überladung mit dynamischen und Temponuancen geben möchte aber nicht geben kann. Es gibt Kompositionen, die mit Rücksicht auf einen extremen Vortrag geschrieben sind und durch ihn gewinnen; sie mag man daher in solcher Weise vortragen. Aber bessere Komponisten verlieren durch ihn und haben Anspruch auf etwas mehr Respekt, als ihnen manchmal zuteil wird. Wie oft wird Bach z. B. gemißhandelt! Man zerrt hervor und treibt heraus, was er wohlweislich im Hintergrunde gelassen hat; jede Schönheit wird dem Hörer ins Ohr geschrien, als ob er taub sei; das musikalische Bild wird zugunsten von Stimmung und Affekt ruiniert und eine interessante Karikatur aus dem großen, schlich- ten Meister gemacht. Ein Fehler ist es aber, wie mir scheint, wenn man hiergegen historische und nicht vor allem künstlerische
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Die Kunst des Vortrags.
Gründe ins Feld führt. Gewiß hat Bach nicht wie ein Hysteriker gespielt und konnte auf seinem Kielflügel feinere dynamische Nuancen, cresc. und decresc, überhaupt nicht hervorbringen; aber daß wir seine Kompositionen klassisch spielen sollen, ist in erster Linie eine Forderung des künstlerischen Geschmacks und nicht der historischen Gerechtigkeit.
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V.
CICERO UND DIE GEGENWART.
Rom, 9. Januar.
Sie wissen, verehrter Freund, daß mehr als ein Wunsch mich nach Italien geführt hat. Der lebhafteste unter ihnen war, daß es mir gelingen möchte, der römischen Literatur näher zu kommen. Sie erinnern sich unseres letzten Zusammentreffens und des Gespräches, das wir über die lateinischen Schriftsteller hatten. Ich bekannte Ihnen, daß ich sie von jeher geliebt hätte, aber meine Neigung nicht recht verteidigen und begründen könnte. Sie äußerten sich scharf über den Unwert der römischen Kunst überhaupt, über ihren Mangel an Kraft und Originalität, über den unbegreiflichen Geschmack unserer Vorfahren, die Virgil und Ovid neben Homer, die römischen Lyriker, Dramatiker, Prosaiker neben oder wohl gar über die griechischen stellten. Ich wußte Ihnen nur entgegenzusetzen, daß mir der Geschmack unserer Zeit auch nicht gerade vertrauenswürdig erschiene und ich mich lieber auf das Urteil früherer Jahrhunderte als auf das unserer Zeitgenossen verlassen würde. Doch gab ich Ihnen zu, daß die hohe Schätzung römischer Autoren auch mir ein Rätsel sei, dessen Auflösung ich nur von dem italienischen Lokal er- hoffte. Wir einigten uns dahin, daß es mit Cicero am schlimm-
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Cicero und die Gegenwart.
sten stände; während zugunsten der übrigen sich doch manches anführen ließe, sei er, wie Sie sich ausdrückten, absolut nicht zu retten: ein lächerlicher Schwätzer, ein Phrasenmacher. Ich schämte mich, auch ihn bisweilen gern gelesen zu haben, hoffte, daß der südliche Himmel mich zur Vernunft bringen würde, und versprach, Ihnen über den Erfolg meines römischen Aufent- haltes zu berichten.
Seitdem ist mancher Tag verflossen und jeder hat mir künst- lerische Erlebnisse gebracht. Doch erlassen Sie mir deren Schil- derung, die nur wiederholen würde, was hundert andere besser gesagt haben. Mir kommt es immer anmaßend und dumm vor, wenn die heutigen Reisenden sich den Anschein geben, als ob sie die ersten wären, die an diesen Stätten lernen und glücklich sind, oder wenigstens die ersten seit Goethe, dessen Spuren sie deshalb folgen und dessen Reise sie kommentieren müßten. Ich will Ihnen nur erzählen, daß es mir mit den römischen Schrift- stellern sehr gut, wenn auch ganz anders gegangen ist, als wir beide erwartet hatten. Einer nach dem andern ist mir lebendig geworden und am lebendigsten M. Tullius Cicero. Noch bin ich mit keinem ganz im Reinen, habe auch keinen ganz durchgelesen; aber ein paar Sätze, ein paar Verse sagen mir hier mehr als im Norden ein ganzes Buch. Doch lassen wir die andern! Lassen wir den delikaten Horaz, den leidenschaftlichen Properz, den liebenswürdigen Ovid, und reden wir von Cicero. Catull führte mich zu ihm, der freie, reine Catull, den man heute noch am günstigsten beurteilt. Sie kennen ja sein Verschen auf Cicero:
Disertissime Romuli nepotum, quot sunt quotque fuere Marce Tulli quotque post aliis erunt in annis, gratias tibi maximas Catullus agit pessimus omnium poeta, tanto pessimus omnium poeta quanto tu optimus omnium patronus.
Wie reizend ist das gesagt! Mit wieviel Grazie, feinem Humor und überlegenem Sinn ! Wie hoch stellt es den Dichter sowohl als auch den Mann, dem er die scherzhafte Verbeugung macht!
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Erster Teil.
Als ich es las, dachte ich sofort, wir müßten Cicero Unrecht tun; denn Catull macht doch auf einen elenden Advokaten kein Ge- dicht, zumal kein so aufrichtiges, in dem Bewunderung und Ironie einander die Hand reichen. Ich nahm also Ciceros Reden vor, las die eine und die andere mit wachsendem Entzücken, zuerst Gerichtsreden, dann Staatsreden, frühe und späte, be- kannte und unbekannte. Ich gab mir Mühe sie schlecht zu finden, ich hielt Cäsar und Tacitus dagegen, aber meine Freude nahm nicht ab. Wie einen köstlichen Trank schlürfe ich die hohe Schönheit und finde in Cicero denselben Geist, dieselbe Welt, dieselbe Kunst wie in den andern. Ja, ganz offen gesagt, er hat mir das Verständnis für die andern erst eröffnet und den Schleier von den römischen Herrlichkeiten weggezogen. Ich nenne ihn ein Prunkportal, durch das man in das alte Rom hineinschreitet. Vielleicht gibt es noch andere Wege hinein; aber er ist die Haupt- pforte, und wenn man den rechten Eindruck von einem Bauwerk gewinnen will, soll man nicht Seitentore benutzen, sondern von vorn kommen. Wie glücklich sind wir, daß es für uns stehen geblieben und seine Pracht und sein Schmuck unversehrt ge- blieben ist, während im Innern die Vernichtung so arg gehaust hat! Ein Weltreich wie das römische brauchte eine solche Triumphpforte, so reich an Formen, so festlich in ihrem Schmuck. Sie deutet alles an, was man drinnen findet; sie verrät die Gier nach Macht, die Härte und Barbarei, die Hohlheit und Vergäng- lichkeit; aber sie verrät auch, daß ein unvergängliches Kleinod drinnen verwahrt wird, das Kleinod Hellas, mit dem Rom sich schmückte wie eine stolze Frau mit Perlen und Edelsteinen. Es verwendete wie alle großen Gewalten die Kunst als Dekora- tion. Es war der Meinung, daß sie keine schönere Aufgabe hätte als seinen Reichtum in Szene zu setzen, den Glanz seiner Siegesfeste zu erhöhen.
Keine würdige Verwendung, sagen Sie? Aber hat sich die Kunst je schlecht dabei befunden? Doch nur dann, wenn die Gewalten unechte Perlen bevorzugten, weil sie nicht reich genug waren, mit echten sich schmücken zu können oder nicht groß genug waren, sie von echten unterscheiden zu können. Rom besaß das Kostbarste und wußte oder lernte doch es zu schätzen.
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Cicero und die Gegenwart.
Keine Macht, von der wir wissen, ist in schönerem Schmuck zu strahlenderen Festen gegangen. Cicero aber und die anderen römischen Künstler sind die größten Dekorateure, von denen wir wissen. Sie verfügten über die reichsten und feinsten Mittel und ihr Geschmack war den Mitteln gleichwertig. Sie sind Dolmetscher und haben doch Originalität. Ich finde es von Tag zu Tag ungerechter, daß man Cicero künstlerische Unselb- ständigkeit vorwirft, denn er hat ebenso wie die andern alles, was er übernahm, zu seinem wirklichen Eigentum gemacht. Er blieb Römer in seinem Wesen und seiner Kunst, obwohl er von den Griechen lebte und sich nährte. Denken Sie auch an Catulls Übersetzung der sapphischen Ode. Ist sie nicht ein neues Gedicht geworden? Ausdrücke und Begriffe entlehnt er, aber Empfindung und Geist sind sein eigen, und auf diese, nicht auf jene kommt es doch an. Meiner Meinung nach verlieren die römischen Erzeugnisse nichts dadurch, daß sie griechische Vor- lagen haben, denn sie sind eigne Organismen geworden, bestehen durch sich selbst und leben ihr Leben unabhängig von Mutter und Amme.
Also Dekoration, nichts als Dekoration, höre ich Sie sagen. Aber darf man einen Dekorateur verachten? Ist er notwendig etwas Überflüssiges und auch nur Oberflächliches? Ich denke doch, der Wert einer Dekoration bemißt sich danach, ob sie gut oder schlecht, nicht ob sie Dekoration ist. Der eine wählt auf- fallende Farben, groteske Formen und schmückt die Fassade für einen Tag mit Holz und Pappe; der andere nimmt das edelste Material und baut mit hohem Kunstsinn. Auch seine Dekora- tion kann reich und prunkend sein; ob sie es ist, hängt wesentlich vom Zweck des Ganzen und von der Natur des Auftraggebers und des Ausführenden ab. Daß man aber überhaupt keine Prachtfassade machen, sondern sich mit einer glatten Wand und einer Öffnung zum Hineinschlüpfen begnügen soll, werden Sie nicht verlangen. Bisher haben Kulturmenschen den Schmuck niemals entbehren wollen; sobald Fundament, Pfeiler, Dach und anderes Notwendige da war, kam die Freude am Leben und an sich selber und wollte die Notdurft mit Schmuck und Schönheit umkleiden. Wenn man über Ciceros Reden ein Kunsturteil
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Erster Teil.
fällen will, muß man fragen, mit welchem Geschmack sie geschaf- fen sind, auf welcher Höhe der künstlerischen Tradition einer- seits und der künstlerischen Persönlichkeit andererseits sie stehen. Ich mache Schritt für Schritt die Gründe meines Wohlgefallens an ihm ausfindig und begreife immer weniger, wie wir Barbaren ihn schelten können. Jedes seiner Worte ist künstlerisch gerecht- fertigt; von Wortschwall, der wüst und ungeordnet hervorspru- delte, von Phrasen, die ins Blaue hinein geredet würden, finde ich keine Spur. Alles ist zwar reich bemessen, aber die Lieder Pindars und der griechischen Tragiker sind auch nicht karg mit Worten, setzen mehrere volltönende Ausdrücke, wo es ein einfacher täte, und sparen die Superlative nicht. Wie fein ist bei Cicero alles berechnet, wie ebenmäßig geht es dahin! 0 dieser Advokat verstand sich auf Musik! Auf Melodie und Rhythmus der Sprache! Er hatte freilich ein herrliches Material unter den Händen; aber, wenn ich mich recht erinnere, hat er die lateinische Kunstprosa erst geschaffen, mindestens sie zur Voll- endung gebracht.
Die Freiheit der Wortstellung im Lateinischen ist doch etwas Wunderbares. Der Redner kann den Satz durchaus nach ästhe- tischen Rücksichten bauen, kann fast jedes Wort dahin setzen, wo es am schönsten klingt. Bewundern Sie den Gebrauch, den Cicero von dieser Freiheit macht! Und auch das Publikum muß man bewundern, das für solche Dinge Ohren hatte. Wie märchenhaft klingt es uns, wenn wir in Ciceros Dialog über den Redner lesen, daß ein Schauspieler ausgezischt wurde, weil er eine Silbe mit falscher Quantität ausgesprochen hatte! Überhaupt gibt diese theoretische Schrift einen Begriff von der Höhe der antiken Rhetorik. Die rhetorischen Figuren lernte man in der Schule wie wir die grammatischen Regeln. Die Satz- gliederung wird ebenso wichtig genommen wie die Versgliede- rung in der Poesie. Cicero spricht von den Versfüßen, die der Redner meiden und die er bevorzugen solle, namentlich am Anfang und Ende der Sätze und Abschnitte; er erwähnt die be- zeichnende Theorie des Theophrast, daß der Dithyramb mit seinen freien Rhythmen ohne Strophenbildung der Vater der Rede sei, und betont wieder und wieder, daß man die Wortfolge
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Cicero und die Gegenwart.
nach rhythmischen Gesichtspunkten regeln müsse, damit die Rede nicht schweife und irre. Aber Sie wissen ja dies alles besser als ich. Denken Sie an das zweite Buch des Werkes, wo er Vor- schriften über den Bau der Rede im ganzen, über Materialsamm- lung und Verarbeitung gibt, immer aus der Praxis heraus und für die Praxis bestimmt. Seine theoretische Einsicht ist eine vollkommene (gleichviel ob er die meisten Untersuchungen von sich aus anstellt oder sie Aristoteles und anderen Rhetorikern entlehnt) und ebenso vollkommen ist die Handhabung und An- wendung des ganzen Systems in seinen eignen Reden. Man könnte aus ihnen die Rhetorik ohne Schwierigkeit entwickeln und doch haben sie nichts Gekünsteltes oder Schematisches, wie sonst Musterbeispiele pflegen. Er hat die jahrhundertelange Tradition und seine eigne theoretische Neigung bewältigt als Künstler.
Was mich am meisten erfreut, ist der Fluß seines Stils. Seine Rede steigt und fällt, zögert und eilt, bricht aber niemals ab. Auch wo ein Einschnitt ist, wird der Faden nicht zerrissen, es ist ein Gebilde vom ersten bis zum letzten Wort. Sehen Sie dagegen unsere heutige Schreibweise! Wir bringen bestenfalls ein paar gute Sätze zustande, aber kein Ganzes. Es ist alles Stückwerk, was wir machen, namentlich wenn wir, wie z. B. ich, von Nietzsche ausgehen. Mit seinem Sentenzenstil hat er uns ganz verdorben; er hat uns gelehrt sprunghaft zu denken, Zwi- schenglieder auszulassen, und sprunghaft zu schreiben, die for- male Einheit preiszugeben. Da steht dann ein voller Satz neben einem mageren, das Tempo wechselt unvermittelt und ohne Anlaß, der Leser bekommt Ohrfeigen und Stöße, die manchmal geistreich sein mögen, aber ermüden und auf alle Fälle unschick- lich sind. Welch ein hoher, reiner Geschmack dagegen bei Cicero, der keinen Einfall bringt, der nicht ins Ganze eingeordnet und aus dem Ganzen geboren wäre! Man vermißt deshalb auch die Einzelgedanken nicht, an deren Überwucherung wir kranken, wenn wir uns mit allerhand unpassenden, ablenkenden Details aufputzen. Alle seine lumina, sachlicher und formaler Schmuck der Rede, sind dem Totaleindruck angepaßt. Ich wollte, man läse nordwärts der Alpen recht viel Cicero und versuchte ihm etwas von seiner Kunst abzulauschen, statt auf ihn zu schmähen!
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Erster Teil.
Rom, 24. Januar.
Das Mißfallen, das Sie mir über meinen Cicerokult zu er- kennen geben, betrübt mich sehr. Sie prophezeien, meine Ge- schmacksverirrung werde von kurzer Dauer sein, und wollen dazu beitragen, mich möglichst schnell zu heilen. Ich bin Ihnen für die freundliche Absicht dankbar und wehre mich durchaus nicht, doch muß ich Ihnen gestehen, daß Ihre Einwände mich nicht überzeugt haben. Sie sagen, die antike Rhetorik sei eine unnatürliche Erscheinung, eine Erfindung, die der Sophisten würdig war und die vor Ciceros Zeiten bereits in Theorien und Spielereien verkommen war. Ist das wirklich so? Ist nicht Cicero selber der lebendige Gegenbeweis? Bedenken Sie, wie energisch Cicero den Satz des Aristoteles und Plato verficht, daß es beim Reden auf die Sache ankomme, daß man genau wissen müsse, was und in welcher Reihenfolge man es sagen wolle, ehe man sich um die Form und den oratorischen Schmuck bemühen dürfe. Er wird nicht müde, auf die Notwendigkeit einer gründlichen, umfassenden sachlichen Bildung hinzuweisen. Formales Können, Beherrschung der rhetorischen Technik mache noch keinen Redner. Freilich, daß er nötig hat, dies mehrfach zu betonen, beweist, wie jene Zeit davon durchdrungen war, daß überhaupt technische Schulung erforderlich sei, und beweist außerdem, was ich nicht bestreite, daß die Rhetorik ausgeartet war und den Anspruch machte, alles zu leisten. Die schema- tischen Spitzfindigkeiten der Stoiker verachtet aber doch Cicero! Wie kurz und von oben herab behandelt er z. B. die ganze Lehre von den lumina!
Mir scheint, die Redekunst konnte damals schon deshalb nicht zu bloßer Künstelei und Theorie herabsinken, weil sie noch praktischen Wert und praktische Ziele hatte. Die Reden vor Gericht, vor dem Senat und vor dem Volke dienten bestimmten Zwecken, die erreicht werden sollten. Cicero will etwas, wenn er spricht, und stellt alle Kunst in den Dienst dieses Willens. Das Reden ist bei ihm wie bei den andern ein Mittel, eine Waffe, eine Macht. Wie kann man jemanden einen reinen Virtuosen nennen, der sachlich wirkt! Der praktische Redner, ob er nun
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Cicero und die Gegenwart,
Anwalt oder Staatsmann war, nahm sich aus dem Wust von Theoremen das Gute und Lebenskräftige heraus und führte dem erstarrenden Organismus beständig neues Leben zu.
Wenn Sie aber meinen, daß Ciceros Reden trotzdem eher ins Theater gehören als an ernste Orte, so müssen Sie, glaube ich, den südlichen Nationen, nicht ihm, diesen Vorwurf machen. Der Römer, und erst recht der Grieche, ging in die Versammlung beinahe wie ins Theater. Er verlangte vom Redner erstens, daß er ihn mehr überredete als überzeugte (commovere und con- ciliare wichtiger als docere), und zweitens, daß er ihn erfreute (delectare). Es trug also zum Erfolg seiner Sache bei, wenn der Redner schön sprach und mehr auf Gemütswirkung als auf Ver- standeswirkung bedacht war. Daher die pathetischen Suaden, daher die Rücksicht auf Mitleid, Abscheu, Angst und andere Stimmungen der Zuhörer. Der Angeklagte brachte, wie man sich doch schon aus Piatos Apologie erinnert, seine Familie mit vor Gericht, um das Herz der Richter mild zu stimmen, wenn die Gründe versagten. Außerdem hatte man Freude an rein künstlerischen Zutaten; man wollte eine schöne Gestalt und schöne Gesten auf der Tribüne sehen und ein klangvolles, gut ausgebildetes Organ hören. Ich glaube, man hörte auch Reden gern, deren Inhalt man nicht billigte. Wenigstens hatte man Geduld und blieb aufmerksam, auch wenn ein Gegner sprach. Heute hört man allerdings nur zu, wenn einem nach dem Munde geredet wird; bei feindlichen Rednern langweilt man sich oder macht Lärm und läßt sie nicht zu Ende kommen. Es war aber darum den Leuten jener Zeit nicht weniger Ernst als uns. Denken Sie doch nur daran, wie oft es sich um Fragen von größter Wichtigkeit handelte, wie oft über Leben und Tod, Herrschaft, Knechtschaft, Verbannung und dergleichen verhandelt wurde; von Scherz und Spiel war wahrhaftig nicht die Rede. Denken Sie an die Parteikämpfe in den griechischen Städten. Alles stand auf dem Spiele, und doch hatte man Muße, lange, wohl- gefügte Reden herüber und hinüber anzuhören; und dies nicht erst in den späteren gesunkenen Zeiten, es war von jeher so. Die trojanischen Helden schon begegnen einander in schönen ach- tungsvollen Reden, ehe sie aufeinander loshauen, und der Grieche,
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Erster Teil.
der diese Schilderungen las, fand doch nichts Unnatürliches darin. Es sind eben Völker, die es lieben, gut zu reden und gut reden zu hören. Homer zeigt dies so deutlich wie irgend ein später Autor. Odysseus als Heros sagt schon genug.
Ich will Ihnen gern zugeben, daß bei dieser Naturanlage die Gefahr immer nahe liegt, in Spielereien zu verfallen, wie wir sie an den Rhetoren kennen. Auch leugne ich nicht, daß bei Cicero manches eine solche Entartung begünstigt; so die angeborene Fähigkeit zum Ausdruck, die Lust zur Amplifikation ohne das Gegengewicht einer starken Persönlichkeit; aber so ungeheuer mächtig die Technik bei ihm ist, ich finde doch, er hat sie bewältigt. Er ist sachlich, selbst einfach. Lesen Sie aufmerk- sam eine Stelle, wo er berichtet. Wie klar erzählt er! Wort für Wort trifft, keins ist zuviel. Die Satzbildung kann in historischen Partien nicht einfacher, die Darstellung nicht präziser sein. Freilich ist nicht alles wahr, was er sagt; er färbt, verschleiert, verschweigt, soviel ihm gut dünkt. Aber unabsichtlich wird keine Unklarheit stehen bleiben. Ist es an pathetischen Stellen wirklich anders? Ich bewundere gerade die Sicherheit, die er auch hier in der Wahl der Effektmittel und ihrer durchaus künst- lerischen Handhabung zeigt. Ich finde ihn nicht schwatzhaft wie Sie, denn er verweilt nie länger bei einem Gegenstand, als seinem Zweck entspricht. Er hat seine Zuhörer nie gelangweilt, sondern sie von Anfang bis zu Ende in Spannung erhalten, so wie er mich in Spannung erhält. Die Formenfreude, die ihm eigen ist, die Lebenswonne, die ihn erfüllt, das stolze Bewußtsein römischer Größe und Herrlichkeit, das ihn schwellt, rauben ihm nirgends die Besonnenheit, die er als Redner nötig hat; und auch wo er mit übertreibenden Worten Kleinigkeiten aufbauscht oder einen Stimmungsdunst erzeugt, tut er es mit künstlerischem Takt und sachlicher Beherrschung.
Schließlich hören Sie noch dies. Wer den Gehalt seiner Reden in ihrem Stoff und zufälligen Anlaß sucht, kann meiner Meinung nach den Redner nicht richtig beurteilen. Der Gehalt und der Wert liegen anderswo. Es gibt zwei Arten von Künstlern und überhaupt von Wirkenden; die einen gehen von bestimmten Absichten, die sie verwirklichen, Ideen, die sie verkörpern wollen,
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Cicero und die Gegenwart.
aus und suchen nach Darstellungs- und Verwirklichungsmitteln, nach dem Weg, dem Wie; die andern haben von der Natur einen unbestimmten Tatendrang, eine Kraft überhaupt darzustellen und in Szene zu setzen mitbekommen und suchen nach Aufgaben, nach Anlässen zur Betätigung, also nach dem Was. Wer all- gemeine Entgegensetzungen liebt, mag die ersten männlich, die zweiten weiblich nennen; jene gleichen dem Samen, der ein Erd- reich sucht, diese dem Erdreich, dessen Kräfte erst die Befruch- tung auslöst. Der Wert der ersten liegt in dem, was sie tun, der zweiten darin, wie sie tun. Ich glaube, man hält in Deutsch- land die letzteren für degeneriert; Sie, verehrter Freund, hoffent- lich nicht; denn es gibt keine beschränktere Anschauung. Klar ist, daß Cicero zu der zweiten Gattung gehört. Er will sich aus- geben und ausleben als Redner und benutzt die Gelegenheiten, die ihm sein juristischer und staatsmännischer Beruf bietet. Der Ernst, den Cicero stets hat und deshalb auch vom Beurteiler verlangen kann, liegt nicht im Anlaß der Rede, sondern in dem Aufwand von Persönlichkeit und Kunst, den er macht, so wie einem Gemälde, das ein Künstler schafft, nicht sein Stoff, sondern sein Schöpfer den Wert gibt. Der reale Inhalt in Ciceros Reden bedeutet wenig gegenüber dem eigentlichen Inhalt, und dieser ist der Rhythmus seiner Natur. Bei andern äußert sich derselbe in Musik oder in dekorativen Linien oder sonstwie, bei Cicero in schönen Tiraden. Er sucht nach Stoffen, in denen sein Fonds von tönenden Rhythmen Wort werden kann, und hat ein wunderbares Geschick sie zu finden. Ob sie gering sind, was geht es uns an! Sie werden interessant, groß, ewig unter seiner Hand. Ob Dejotarus ein edler Mann war und was für Händel Milo mit Clodius hatte, ist uns gleichgültig, so gleichgültig, wie die Gefühle, die eine Frau auf Lesbos vor 25 Jahrhunderten hatte, wenn sie eine andere aus der Ferne sah, oder die Besprechung, die dieselbe Frau auf Lesbos einmal mit Aphrodite hatte. Der Lyriker wirkt mit einem dünnen vergänglichen Stoff in alle Ewigkeit; ebenso kann es jeder andere Künstler und überhaupt jeder Mensch. Cicero benutzte doch selbst Catilina und M. An- tonius nur als Material zur Inszenesetzung seiner Natur. Hierbei lief ihm freilich ein kleiner Irrtum unter, den er mit manchen
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Erster Teil.
anderen Männern gemein hat. Er hatte recht, diese Personen und die Ereignisse, die sich an sie knüpften, als Anlaß seiner Kunstbetätigung zu gebrauchen und schöne Reden aus ihnen zu machen, aber unrecht, seine reale Wirksamkeit als Staats- mann mit diesen Objekten zu dekorieren. Der Staatsmann Cicero ist gleichgültig, weil der Wert seiner Persönlichkeit in ihm nicht zur Erscheinung kam. Er konnte auch ihn als Thema verwerten und dadurch bedeutend machen, wie er es etwa in der Rede für Sestius tut, aber er durfte nicht meinen, daß z. B. an der cati- linarischen Verschwörung das eigentlich Interessante der Konsul Cicero sei. Der Redner Cicero war es, nicht der Konsul. Der Mann wird komisch durch diesen Irrtum; ich finde es in der Ordnung, daß Sie über ihn lachen, und lache mit. Aber kann das meiner Bewunderung für den Künstler Eintrag tun?
Rom, 23. Februar.
Meine Argumente haben keinen Eindruck auf Sie gemacht, verehrter Freund. Vielleicht liegt das zum Teil daran, daß ich zu wenig von Ciceros Ausdrucksfähigkeit habe. Sie mißverstehen mich, wenn Sie meinen, ich nennte Cicero in dem Sinne einfach wie Cäsar. Alles Gute, was Sie über den Schriftsteller Cäsar sagen, billige ich vollkommen, nur kann ich den Schluß nicht zugeben, daß man Cicero verachten müsse, wenn man Cäsar lobt. Können sie nicht nebeneinander bestehen? Wie schief und einseitig ist Ihre Entgegenstellung: Cäsar ist einfach, Cicero schwülstig, Cäsar ehrlich, Cicero gesinnungslos, Cäsar tief, Cicero oberflächlich! Wen nennen Sie einfach? Doch den, der nicht mehr Worte macht, als er braucht, der sein Ziel auf dem geraden Wege erreicht. Ich meine aber, dies gilt für Cicero wie für Cäsar. Das Ziel ist bei beiden ein verschiedenes, und die Per- sönlichkeiten, die es sich stellen, sind verschiedene. Cäsar gehört zu den großen Naturen, die den Schmuck verschmähen dürfen, die befehlen, wo sie zu überreden scheinen. Solche Naturen
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Cicero und die Gegenwart.
werden nie pathetisch, höchstens haben sie das Pathos des Pe- sante; an ihren Fassaden bewundert man nicht Pracht und Reichtum, sondern sie wirken durch wenige große Linien, rein architektonisch. Aber wer dazu nicht imstande ist, darf noch nicht überladen und pomphaft im schlechten Sinne genannt wer- den. Cicero ist nicht Asianismus, obwohl ihm allerdings das Lapidarische, das Befehlende versagt ist, versagt nicht durch seinen Geschmack, sondern seine Natur. Er ist nicht stark genug; er muß seine Lunge anstrengen, sich viel bewegen und einen großen Apparat in Tätigkeit setzen, um dasselbe zu erreichen, was der großen Persönlichkeit von selbst in den Schoß fällt. Hierdurch erklärt sich auch, daß er unbedeutende Stoffe wählt, was Sie so sehr tadeln. Er hatte den Takt, zu begreifen, daß die kleine Natur sich nicht an zu große Dinge heranwagen darf; denn die- selben verlangen eine große Vortragsweise, d. h. eine gedämpfte, jede Amplifikation vermeidende. Geringe Stoffe dagegen haben Verstärkung und Aufputz nötig. Es ist wie mit den musikalischen Virtuosen; nur ganz wenige versuchen sich mit Glück an den größten Kompositionen und treffen die schmucklose zurück- haltende Vortragsweise, die doch nicht langweilig werden darf. Vortragende von schwächerer Persönlichkeit bevorzugen, wenn sie klug sind, unbedeutendere Kompositionen, da dieselben ihnen Raum und Anlaß zur Entfaltung ihres dekorativen Talents geben. So hebt Cicero durch den Einfluß seines Talents die Stoffe und Sie müssen zugeben, daß er einem jeden ein Relief von Glanz und Schönheit zu geben wußte, daß er Wasser selbst aus dem Felsen schlug und durch die absurdesten und fragwürdigsten Geschichten uns in Spannung versetzt. Er verewigt seine Stoffe, ich bleibe dabei. So wie die Mücke durch den erkaltenden Bern- stein, der sie umschließt, zwar getötet, aber auch unvergänglich wird, so verewigt Cicero uninteressante, zeitlich bedingte Kleinig- keiten.
Also ein Virtuose, ein Schauspieler, kein echter und auf- richtiger Mensch! Folgt das in der Tat daraus? Sie erinnern an Mommsen, der Cicero mit Recht einen Mann ohne Einsicht, Ansicht und Absicht nenne. Ich widerspreche durchaus, trotz Mommsen, dessen Urteil über Cicero mir nicht mehr deutlich
Horneffer, Das klassische Ideal.
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Erster Teil.
in der Erinnerung ist; ich werde ihn wieder lesen. Das Verhältnis eines Künstlers zur Aufrichtigkeit und Gesinnungstreue ist ein heikles Kapitel, das man nur vor Leuten ohne Vorurteile ab- handeln sollte. Nur moralische Menschen sind der Meinung (und sollen es sein), daß Ansichten, die in einem Kunstwerk ausgesprochen, Leidenschaften, die in demselben dargestellt wer- den, dem Urheber zugerechnet werden müssen. Sie identifizieren den Künstler mit seinem Stoff. Fast jeder aber tut dies beim Redner. Wenn es nicht seine Sache ist, die er dort mit Leiden- schaft vertritt, seine innersten heiligsten Gefühle sind, die er voll Ergriffenheit mitteilt, was sei er dann anderes als ein Betrüger und Komödiant! Ich zweifle aber gar nicht, daß jeder Redner so gut wie jeder Künstler in der Tat ein wenig Betrüger und Komödiant ist, der eine weniger, der andere mehr. Jeder ist außerdem noch ehrlich, er muß es sein, aber er benutzt die Ehr- lichkeit, möchte ich sagen, als künstlerisches Mittel, sowie er die Unehrlichkeit und alles andere, was er hat und ist, für sein Werk benutzt. Er muß Herr seiner sämtlichen Eigenschaften bleiben, sie immer, wenn er sie braucht, zur Verfügung haben und sie setzen und schieben können wie Schachfiguren. Wenn er sich von irgendeiner gefangen nehmen läßt, ist er als Künstler verloren (wenn auch als moralischer Mensch vielleicht gestiegen) . Es mag ihm zeitweise geschehen und vielleicht wünscht er, daß es immer so wäre; denn er trägt oft schwer an seinem Beruf, der ihn zur Unehrlichkeit nötigt, er haßt den kühlen Kunsttrieb in sich, der all sein Leben, Lieben, Leiden sich Untertan macht, für sich arbeiten läßt und das Eingebrachte hübsch geordnet in Schaukästen stellt. Entgehen aber wird er, falls er wirklich Künstler ist, der Unehrlichkeit, Lüge, Heuchelei, Untreue nicht. Cicero, um zu ihm zurückzukehren, war eine leichte, glücklich veranlagte Natur und hat gewiß keine moralischen Skrupel dieser Art gehabt. Daß er aber in Ihrem Sinne gewissen- und gesin- nungslos gewesen wäre, scheint mir keineswegs richtig. Seine besten Reden verraten deutlich den starken Anteil des Redners an der Sache. Ich bin überzeugt, daß er fast alles glaubt, was er vorbringt, und fast nie gefühllos bleibt, wo er Gefühle äußert. Er empfiehlt dies auch in seiner theoretischen Schrift; der Redner
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Cicero und die Gegenwart.
solle alle Stimmungen, die er ausdrückt und seinen Zuhörern mitteilt, selber haben; das erhöhe die Wirkung, da eine Über- tragung der Erregung stattfände. Natürlich kann ein solcher Rat nur nützlich werden für sensible Naturen, die sich leicht für dies und jenes begeistern können und deren Flamme schnell wieder verraucht. So war Cicero, und darum nennen Sie ihn oberflächlich. Mag sein; gegen die stetige Leidenschaft Cäsars gehalten, ist er es wohl. Doch ist ein so beweglicher Mensch nicht auch etwas Schönes? Ich freue mich an seiner Lust, bald dies, bald jenes in Szene zu setzen und zu illuminieren.
Übrigens, was Sie von der ,, tiefen Leidenschaft aller echten Künstler" sagen, bedarf doch gar sehr der Einschränkung. Er- wägen Sie, wie viel verschiedene Leidenschaften z. B. ein Dra- matiker im Laufe seines Lebens darstellt, und unter diesen ist mehr als eine so gewaltig, daß sie ein ganzes Menschenleben bestimmt, erfüllt, ja zugrunde richtet. Glauben Sie wirklich, daß der Künstler diese alle mit ebensolcher Kraft und Tiefe durchlebt und besitzt wie der einfache reale Mensch, der an einer von ihnen übergenug hat? Wenn es so wäre, käme er recht schnell ans Ende seiner Kraft und Kunst und behielte weder Zeit noch Lust, seine Leidenschaften zu beobachten und künst- lerisch zurechtzustutzen. Der beste Beweis sind ja die allzu ehrlichen, allzu tiefen Naturen, die sich einbilden Künstler zu sein und vergeblich abmühen es zu werden. Die Versuche, ihre großen Leidenschaften in Kunstwerke zu bannen, können nicht gelingen und was sie produzieren, ist entweder oberflächlich, weil es gar nichts von der Leidenschaft des Autors enthält, oder formlos, weil es sie unbearbeitet und unbewältigt enthält. Der Künstler muß viele Seelen in sich vereinigen, viele Leidenschaften in sich erklingen lassen können, leise, laut, wie er es bedarf; er muß auch aus fremden Naturen heraus leben, sich freuen und leiden können. So empfindet Cicero mit seinen Klienten ganz ehrlich, wenn ihm deren Sache im Grunde auch fern liegt. Er würde in die Sache des Gegners sich ebensogut einleben können. Es ist dasselbe wie mit dem Dichter, der aus Kreons und Antigenes, aus Klytämnestras und Elektras Seele denkt und spricht. Das höchste Interesse bei allem, was der Künstler er-
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Erster Teil.
lebt, — davon gehe ich nicht ab — muß immer sein : wie ist es in Szene zu setzen? Wie ist aus dem Erlebnis ein künstlerisches Gebilde zu machen?
Nehmen Sie selbst den ehrlichsten Redner, der lediglich seine Sache ausspricht. Auch er braucht so viel Schauspielerei, wie das Auftreten selber mit sich bringt. Er muß zu einer bestimmten Zeit reden, wo seine Stimmung vielleicht nicht zu der Rede paßt, muß konträre und ablenkende Gefühle unterdrücken, muß über- legen, mit welchen Worten, in welcher Folge und Ausdehnung er am wirkungsvollsten spricht. Dazu kommt, daß er dies und jenes verschweigen muß, was er sagen möchte, aber seinem Publikum aus Klugheit vorenthalten muß; er muß die Gefühle der Anwesenden und vielleicht auch der Abwesenden in Rücksicht ziehen und danach seine Rede modeln, kurz, er muß seine Sache den Umständen anpassen und sie für den Vortrag zurechtmachen. Der Unterschied zwischen dem, was in den Gedanken des Redners lebt, und dem, was er in einer heutigen Rede vor einem bestimmten Publikum sagt, ist manchmal ein so großer, daß der natürliche Mensch kaum eine Ähnlichkeit entdecken würde. Denken Sie etwa an die Reden, die Bismarck im Laufe seines Lebens gehalten hat. Was ist ihnen gemeinsam außer der Grundrichtung der Persönlichkeit? Und wenn man die Reden kennte, die er seinem Souverän, seinen Kollegen, ausländischen Personen usw. über dieselben Angelegenheiten hielt, über die er in den Kammern sprach, so würde man über das Maß von Schauspielerei erstaunen, das ein so grundehrlicher Mann aufwendete, um seine Absichten durchzusetzen. Er wußte eben wie Cicero, daß die Redekunst die buva|Luc ist, -rrepi eKacTiov toO Oewpr[(Sa\. t6 evbex6)aevov Tri9av6v, und daß dies TTiGavov in jedem Falle ein verschiedenes sein kann. Nun dürfen Sie aber nicht sagen, ich stellte Cicero Bis- marck gleich , ebensowenig wie ich ihn Demosthenes an die Seite stelle. Diese beiden haben eine Gewalt, Konsequenz, Charaktergröße, die der biegsame Römer nicht hat; aber eine Konsequenz der Persönlichkeit finde ich doch auch bei ihm. Sie leugnen dies und sagen in Ihrem Brief, er habe die Liebe zur guten alten Zeit, die in seinen Reden neben seiner Eitelkeit der einzige rote Faden sei, von Demosthenes einfach übernommen,
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Cicero und die Gegenwart.
v/eil sich darüber gut schwatzen läßt. Ich kann Ihnen nicht zustimmen. Die Begeisterung für die Tugend der Vorfahren ist vielleicht übertrieben und, wenn Sie wollen, komisch bei ihm, aber ohne Zweifel ehrlich, sowie eine Reihe anderer ethischer und politischer Grundsätze, die er immer wieder verficht. Ob dieselben Wert haben, ob wir sie ernst nehmen sollen, lasse ich dahingestellt. Genug, daß sie ihm ernst waren. Auch haben Sie gewiß recht, daß er wohl wußte, welchen Glanz das Eintreten für edle und ehrwürdige Dinge ihrem Anwalt verleiht. Es gibt kein dankbareres Thema für schöne Reden, als die Größe der Vergangenheit. Ob aber Demosthenes dies nicht auch gewußt hat? Und, nichts für ungut, hat nicht auch Demosthenes etwas Komisches an sich? Er redet und redet und seine feinen Athener hören zu, freuen sich an dem Redner, tun aber nichts. Man möchte ihm zurufen, abzustehen und einzusehen, daß sein Mühen zwecklos und sein Wollen eine Unmöglichkeit ist. Wenn jemand auf spielende Kinder einredet, sie müßten gegen den Feind ziehen, so ist er bei aller Vortrefflichkeit und guten Absicht doch ein Tor. Trotzdem bleibt er der größte Redner, den wir kennen, ich denke nicht daran, ihm dies zu bestreiten. Wie können Sie glauben, daß ich Cicero ihm vorzöge! Meinen Plan, seine und andere griechische Reden durch eine freie Übertragung den Deutschen zugänglicher zu machen, hat Cicero nicht im mindesten erschüt- tert. Ob man Cicero übersetzen kann, scheint mir vor der Hand noch fraglich. Ich möchte mich nicht daran wagen.
Über Ciceros Oberflächlichkeit hätte ich noch ein Wort zu sagen. Sollten Sie nicht den Fehler so vieler Nordländer machen und Oberflächlichkeit mit Durchsichtigkeit verwechseln? Cicero sagt alles, behält nichts zurück, und sagt alles auf die deutlichste Weise. Er vermeidet dunkle inkommensurable Gegenstände und Einfälle, bringt nur Melodien, die natürlich zu Ende gehen und die im Forte sich verwenden lassen. Er ist laut, wenn Sie wollen. Was nicht zu tönender Schönheit gemacht werden kann, was den Eindruck des Festlichen stören könnte, läßt er fallen. Er hat nie Geheimnisse, die nur durch Winke und Gestammel an- gedeutet werden können, er läßt nirgends einen Rest unaus- gesprochener Persönlichkeit, die einiges zu geben, anderes zurück-
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Erster Teil.
zubehalten scheint. Man hat z. B. bei Cäsar, auch bei Tacitus und anderen das Gefühl, daß sie mehr wissen, als sie sagen, bei Cicero, daß er sich ganz aufdeckt und ausleert. Wenn das Ober- flächlichkeit ist, sind alle durchsichtigen Geister oberflächlich, auch Horaz, auch Catull, auch Homer
Rom, 2. März.
Mommsen hat mich bestärkt, nicht erschüttert. Ich ver- sichere Sie, er ist kein großer Historiker, obwohl Sie ihn so nennen und ich ihn früher dafür hielt. Ein solcher könnte einen Mann wie Cicero nicht auf so barbarische Weise mißhandeln. Was mich am meisten überrascht hat, ist der Eindruck des Ver- alteten, des Toten, den seine Beurteilung macht. Der Mann, der 2000 Jahre alt ist, erscheint jung neben ihm. Und er meinte Cicero den Garaus machen zu können! Er, der nach wenigen Jahrzehnten schon altmodisch geworden ist! Ich muß mir Mühe geben, ihn nicht rein historisch zu nehmen und mit dem in- direkten Interesse zu lesen wie einen gleichgültigen Gelehrten. An Cicero denkt man, wenn man durch die Trümmer des alten Rom geht, sieht ihn auf dem Forum stehen und hört seine wunder- vollen Sätze dahinrauschen. Mommsen wird mir nur bei anti- quarischen Details lebendig oder wenn ich Reisende sehe, die dumpfe Stubenluft aus dem Norden mitbringen. Hätte er nur mehr von der Kunst Ciceros besessen, die er so verachtet und so verkennt! Dann wäre all das Gute, das er hat, seine trefflichen Ideen, seine energische Natur, weniger vergänglich gewesen! Er hätte ein großes Werk geschrieben statt eines vielleicht ge- lehrten, vorzüglichen, aber schnell überlebten. Es ist gut und nötig, daß der Geschichtsschreiber seine Persönlichkeit und seine Zeit wiederspiegelt und in seinem Werk zur Geltung bringt; aber es ist traurig, wenn die Persönlichkeit ihrer Zeit Untertan und die Zeit eine armselige ist. Die vergangene Generation, das ist
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Cicero und die Gegenwart.
der eigentliche Inhalt seiner Geschichte; die Generation, die wir fast schon vergessen haben, obwohl viele unserer Zeitgenossen dem Geiste nach zu ihr gehören. Es waren kleine brave selbst- zufriedene Leute, nicht exzentrisch, nicht romantisch, nur mittel- mäßig; sie wagten sich an die größten Dinge heran und sprachen viel von Kraft und Größe. Darunter waren tüchtige Gelehrte, freundliche Dichter, liebe Historienmaler, verschollene Musiker, lauter ,, Kapazitäten", deren Person sich einem absolut nicht einprägen will. Jeden Abend gingen sie mit der Befriedigung zu Bett: wie haben wir es herrlich weit gebracht! wie gut haben es einmal unsere Nachkommen, da wir ihnen keine Schwierig- keiten mehr zu lösen, keine Aufgaben zu erfüllen übrig lassen! Wir Heutigen leiden zwar auch an Selbstüberschätzung, aber es verbindet sich mit ihr doch Kraft und Unbefriedigung, sie weist in die Zukunft. Es ist Luft in das dumpfe kleinbürgerliche Zimmer gekommen. Nietzsche, Dühring, Böcklin, Wagner, Hugo Wolf, Stefan George und andere Größere und Geringere, sie haben das Gemeinsame, daß ihr Schwerpunkt zwar auch nicht in ihnen selbst, aber doch vor ihnen, nicht hinter ihnen liegt. Sie wissen und können unendlich viel mehr als jene kleinen Praktiker und großen Theoretiker mit ihrer Harmlosigkeit, Liebenswürdig- keit und Selbstzufriedenheit. Welch ein Irrtum aber, daß Momm- sens und David Straußens Generation von Cicero nichts hören mag! Sie sollten in seinem Geist den ihrigen wiedererkennen. Auch Cicero hatte eine behagliche Selbstzufriedenheit und das unerschütterliche Bewußtsein, den Gipfel der Menschheit zu repräsentieren. Freilich, welch ein Unterschied! Er der Enkel des griechischen und römischen Wesens, das Resultat unge- heurer Kulturarbeit, darum fruchtbar und ewig fortwirkend; sie die Erben einer kaum begonnenen Kultur, am Vormittag ausruhend, darum steril durch und durch. Nur ihre fleißige Sammelarbeit kommt uns zugute. Was sie an Saft haben, lohnt nicht die Mühe des Auspressens. Vor allem fehlt ihnen der Be- griff der Form, daher auch die Mißachtung Ciceros. Bei Momm- sen kommt dieser Grundmangel auf die naivste Weise zum Vor- schein; so z. B. wenn er vom Stilisten Cicero redet im Gegensatz zum Schriftsteller, den ersteren lobt, den anderen beseitigt. Was
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Erster Teil.
mag ein Stilist für ein Wesen sein? Jemand, der gutes Latein in ,,wohlkadenzierten Perioden" schreibt, sollte doch kaum ,, durch- aus Pfuscher" zu nennen sein, und ein Historiker Roms sollte die kindliche Vorstellung überwunden haben, daß gute Perioden sich von der schriftstellerischen Persönlichkeit und der Stil von der Persönlichkeit überhaupt trennen lasse. Ist z. B. Mommsen auch ein Stilist? Sagen Sie es mir, und sagen Sie mir auch, ob Sie ihn ,, gehaltvoller" finden als sein armes Opfer. Meiner Mei- nung nach ist Cicero reich an Inhalt. In seinen Reden wird jedesmal ein großer, vorzüglich bewältigter Stoff vorgetragen. Das ganze römische Leben seiner Zeit geht an den Augen des Lesers vorüber, Krieg Frieden, Hauptstadt Provinzen, Gauner ehrliche Leute, Charaktere Schicksale, häusliches öffentliches. Reise- Beamtenleben, alles scharf charakterisiert, leuchtend dargestellt. Das kleinliche Gestrüpp einer sich vordrängenden Reflexion fehlt, man wird nicht wie bei Mommsen durch be- ständiges Heranziehen moderner Begriffe und Verhältnisse zwi- schen zwei Stühle gesetzt. Mit Mommsen ist es wie mit den Ergänzungen antiker Statuen, die eine spätere Zeit vorgenommen hat. Der Torso ist schöner und auch vollständiger als das mit Ungeschmack oder doch zeitlich bedingtem Geschmack ergänzte V\^erk. Wer kein philologisches Interesse hat, sollte daher rö- mische Geschichte bei Cicero studieren, nicht bei Mommsen. Daß Cicero färbt und lügt, tut wenig zur Sache. Farbe gehört ins Bild. Im ganzen ist er wahr, da er es nicht anders sein kann. Wie vermöchte er seine Zeit zu verleugnen! Er gehört ja selber in sein Bild hinein. Ein moderner Historiker ist, wo er urteilt und interpretiert, viel unwahrer, was am besten Mommsen durch das Zerrbild beweist, das er von Cicero entwirft. Es cha- rakterisiert richtiger und gründlicher den Beurteiler und seine Zeit als sein Objekt. Der Unterschied aber, daß Cicero bewußt lüge und ein Historiker unbewußt, ist in der Praxis ein geringer, zumal es bei beiden auf das künstlerische Moment der Lüge ankommt.
Wie ratlos Mommsen dem Autor Cicero gegenüber ist, zeigt auch die Bevorzugung der theoretischen Schriften. Wenn man von Cicero spricht, kann man doch nur den Redner und Briefschreiber
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Cicero und die Gegenwart.
meinen, nicht den Verfasser von Dialogen. Auch diese gehören ihm wirklich an, sie sind der Abglanz der gleichen Schönheit, wie denn ein Mann von so reifer Kultur in keinem Wort sich verleugnen kann. Aber zur Vollendung konnte er es hier nicht bringen, weil er kein Philosoph war. Demosthenes erdrückt ihn nicht, aber Plato und Aristoteles lassen ihn nicht bestehen. Nicht das Triviale vieler Gedankengänge möchte ich vor allem geltend machen. Oft scheinen sie uns nur trivial, weil die besprochenen Probleme uns in Fleisch und Blut übergegangen sind, wie doch auch die Werke jener griechischen Philosophen recht häufig auf umständliche Weise Fragen diskutieren, über die man heute kein Wort mehr verlieren würde. Daß uns umgekehrt Ciceros Rhetorik nicht flach erscheint, wird den entsprechenden Grund haben. Der Stoff, der darin abgehandelt wird, ist uns neu. Dazu kommt allerdings, daß der Autor über die Redekunst besser Bescheid weiß, als über andere Dinge. Eine große Praxis stand ihm zu Gebote; aus ihr stammt die Fülle feiner Beobachtungen und treffender Ratschläge.
Aber Mommsen ist ja der Meinung, daß es zwar vernünftig sei, theoretische Schriften zu veröffentlichen, nicht aber Ge- richtsreden! Die Plaidoyerliteratur, wie er nach seiner Art sich ausdrückt, bedeute Unnatur und Verfall. Wenn Sie einen Moment überlegen, werden Sie mir zugeben, daß mit dem- selben Rechte die Erhaltung und Verbreitung von Gelegenheits- gedichten verurteilt werden kann. Wenn z. B. König Hiero in Delphi einen Wagensieg errang und einem Dichter aus Theben den Auftrag gab, ein Gedicht auf dies Ereignis zu machen, so gehört dasselbe auch nicht in die Literatur, sondern hat mit dem festlichen Vortrag seinen Zweck erfüllt. Der Dichter aber dachte nicht so; er nahm die gut laufenden Pferde, ganz wie Cicero seine Prozesse, als willkommenen Anlaß, sich selber in einem Kunst- werk vorzuführen, und hielt das Kunstwerk für würdig, ewig zu leben und seinen zufälligen Anlaß mit zu verewigen.
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Erster Teil.
Rom, 19. März.
Ihre Sendung hat mir viel Freude gemacht. Zwar ist Ihnen meine formahstische Anschauung, wie Sie durchaus irrtümlich sagen, zuwider, auch klagen Sie mich fälschlich der Inkonsequenz an; aber trotzdem gönnen Sie mir einige Anerkennung. Sie geben zu, daß Mommsen zu weit gehe, und schicken mir das treffliche Büchlein von Zielinski über Ciceros Wandel durch die Jahrhunderte. Die Schrift ist sehr lehrreich und versöhnt einen Liebhaber antiker Kunst wieder mit den Philologen, denen man keineswegs wegen ihrer Leistungen, aber wegen ihrer Stellung zum Altertum oft genug gram wird. Denn wenn es schon schlimm ist, daß heute außer ihnen kaum jemand um das Altertum sich bekümmert (während ihre Arbeit doch nur Sinn hat, wenn Leute da sind, die sie benutzen), so wird es verzweifelt, wenn man genötigt ist, das Altertum gegen diese Philologen selber zu ver- teidigen. Ob Zielinskis Urteile überall richtig sind, kann ich und will ich nicht untersuchen, nur die Tatsachen, die er anführt, interessieren mich. Es ist doch erstaunlich, wie wenig man noch von der Wirkung des Altertums auf die neuere Zeit weiß, so hoch man sie im allgemeinen auch anschlägt; man weiß nicht genug, welche Personen besonders und nach welcher Richtung jede einzelne gewirkt hat. Wie wenige haben sich klar gemacht, daß Cicero mehr sachlichen als formalen Einfluß ausgeübt hat! Kaum einer seiner berühmten Verehrer, die Zielinski erwähnt, hebt den ,, Stilisten" hervor, es ist immer vom Stoff und von der Persönlichkeit des Autors die Rede. Freilich haben Sie recht, daß oft nicht er selber, sondern die hinter ihm stehenden Griechen gemeint sind. Aber wenn er schon ein Vermittler ist: in so hohem Sinne es zu sein, ist nichts Geringes. Unsere Philologen wollen auch Vermittler der Griechen sein; aber wird ihnen jemand deren Verdienste zuschreiben oder deren Geist in ihnen finden?
Sie sagen selber, daß Mommsens Urteil sich nicht gut aus- nimmt, wenn man den Triumphzug Ciceros durch zwei Jahr- tausende dagegen hält. Man muß Respekt haben vor solcher Wirkung, gleichviel ob man sie für berechtigt hält oder nicht. Kann aber eine Wirkung unberechtigt sein ? Können so ver-
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Cicero und die Gegenwart.
schiedenartige Menschen und Zeiten ohne zureichenden Grund für eine Person eintreten? Wenn jemandem Wasser als Nahrung gereicht wird, so wehrt er sich, und wenn nicht, so zeigt er recht bald die Folgen der gehaltlosen Kost. Glauben Sie nicht, daß die Leerheit und Nichtswürdigkeit Ciceros, wenn man ihn um Nah- rung ansprach, ebenso sicher hätte an den Tag kommen müssen? Daß Mommsen und seine Generation keine Kraft aus ihm zieht und ihn deshalb mit Recht abweist, will ich nicht bestreiten. Vielleicht ist dies aber für dieselben kein gutes und für Cicero kein schlechtes Zeichen. Den Wert eines Klaviers sehen manche nicht ein; verliert es ihn dadurch?
Mommsen hätte die römische Kunst und als ihren Haupt- vertreter Cicero in Parallele stellen sollen zur politischen Tat jener Zeit, also zu Cäsar. Ich glaube nicht, daß die künstlerische Leistung, nach ihrer Wirkung bemessen, geringer war als die staatsmännische. Wir leben in demselben Sinne von Cicero und seinen Gefährten, namentlich Virgil und Ovid, vielleicht auch Terenz, wie wir von Cäsar leben. Man mag bedauern, daß die Kunst des späten Altertums mehr gewirkt hat als die der eigentlich fruchtbaren, frühgriechischen Zeit; aber die Tatsache steht fest, Sie können sie nicht wegbringen. Die Renaissance verstand unter dem Altertum in erster Linie das römische, sie lernte römische Architektur, Plastik usw. Bis auf den heutigen Tag bezeichnet der Ausdruck ,, Antike" etwas Römisches und Spät- griechisches. Goethe dachte, wenn er von alter bildender Kunst sprach, an Laokoon, den Heraklestorso, den Apoll von Belvedere, an Vitruv, somit an späte Epochen, die nur ein Nachhall der früheren sind. Ist dies in der Tat so unverständlich? Haben wir das Recht, die Überschätzung der Laokoongruppe, der Ovidschen, der Anakreontischen Verse, oder auch die Überschätzung der Erzeugnisse der Spätrenaissance zu belächeln? Ich meine, was die Nachwelt von ihnen wollte, zog sie auch aus ihnen. Das Irrige der künstlerischen Wertung ist gleichgültig; der Nutzen war nicht irrtümlich und war in den Werken begründet. Was aber suchte und fand man? Diese Späten haben die ganze Schönheit, die von ihren Vorfahren erkämpft und erreicht wor- den war, in sich aufgesogen. Ein aufgehäufter Schatz von Kunst
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Erster Teil.
steht ihnen zu Gebote, und sie verstehen diesen Reichtum zu benutzen; ihre Bedürfnisse sind sehr verfeinert, sie lernen unter schönen Dingen das Schönste zu wählen. Das Niveau der Künst- ler ist in solchen Zeiten bewunderungswürdig hoch. Jeder Hand- werker, jeder Kopist hat Teil an dem allgemeinen Reichtum und spiegelt die Schönheit der Vergangenheit wieder. Es ist Süßigkeit in all diesen Werken; sie überreden und schmeicheln, während erwerbende Epochen herb und schwer zugänglich sind. Zur Liebenswürdigkeit haben sie keine Zeit. Wir Deutschen kennen nur die herbe Schönheit; wo man als Reicher zu leben versuchte und anmutig sein wollte, wurde man jedesmal platt oder geziert. Vielleicht macht Wieland eine Ausnahme und sicher die Nachläufer unserer klassischen Musik. Brahms hat oft wirkliche Reife und die rührende Schönheit, die aus dem Glück über ein vollendetes Tagewerk entspringt. Sind Sie nicht im Irrtum, solche Leute degeneriert zu nennen? Cicero mindestens stellt eine erstaunlich gesunde Art von Degeneration dar. Er ist vollkommen auf seiner Höhe; er erreicht alles, was seine Natur ihm vergönnt, und weiß nichts von Schwäche und Leistungsunfähigkeit. Wir sind daran gewöhnt, daß feine Menschen krank und künstlerische Eigen- schaften mit Abnormitäten verbunden sind. Muß es aber so sein? Menschen wie Cicero lehren, daß es möglich ist, eine schier er- drückende Fülle von Kultur sich zu assimilieren und doch nicht unproduktiv, müde, krank zu werden, sondern seine spezifische Begabung auszuleben und seine Schaffensfreude auf natürliche Weise zu befriedigen. Ja, er ist nicht einmal extrem in seinem Schaffen und seinem Geschmack, wie neuere Individuen von reifer Kultur zu sein pflegen. Er will sich hervortun und verlangt einen Platz neben den großen Vorgängern, aber er wählt nicht wie die Neueren den Weg, durch Besonderheiten, durch Manier, durch Barock sich hervorzutun, was nicht schwer ist, sondern er ringt mit seinen Vorgängern um dasselbe Ziel der klassischen Schönheit; er erstrebt und erreicht die reine Vollendung als künstlerischer Mensch. Dies letztere ist näher zu erläutern.
Sie verteidigen Mommsen damit, daß er zwar mit seinem ästhetischen Urteil vielleicht Unrecht habe, doch aber das Haupt- gewicht auf die menschlichen und staatsmännischen Eigenschaften
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Cicero und die Gegenwart.
Ciceros lege; und daß diese minderwertig seien, stände außer Zweifel. Darauf wäre einmal zu erwidern, daß es bedenklich ist, wenn ein Historiker die künstlerischen Dinge leichter nimmt als moralische und politische; zweitens erlaube ich mir, zwar nicht über den Staatsmann und den Philosophen, jedoch über den Menschen Cicero etwas anderer Meinung zu sein. Wenn ich ledig- lich nach dem Eindruck urteile, den ich aus den Schriften über den Verfasser gewinne, stellt sich mir Ciceros Natur etwa folgender- maßen dar. Er war ein kleiner Mensch, wie ich schon sagte, nicht genial in unserem Sinne. Er verstand die Kunst, bis an sein Lebensende fleißig zu lernen, war aufmerksam auf alles, unermüdlich und unbeirrbar, ein wenig Pedant, ein wenig Muster- mensch, geriet nie auf Abwege, blieb immer gesittet, willig und emsig. Es fehlte ihm an Leichtsinn. Er liebte die Tugend auf engherzige V/eise und hatte sogar eine wenig Verwandtschaft mit dem Kleinbürger, der sich gegen alles Ungewöhnliche auflehnt. Seine zuchtlosen und sittenlosen Zeitgenossen hatten mehr Temperament und Kraft als er; sie waren genialer. Aber sie kamen zu nichts (ganz wenige ausgenommen, die eben nicht durchaus zuchtlos waren); sie verstanden nicht sich festzuhalten und sich zu bilden. Cicero hatte sein Ziel fest im Auge. Dies Ziel war: so hoch zu kommen als möglich, angesehen, berühmt und den großen Vorbildern der Vergangenheit gleich zu werden. Er war ehrgeizig und eitel; er liebte den Weihrauch, ohne viel zu fragen woher er kam. Seine Selbstgefälligkeit entstammte einer glücklichen Naturanlage und war keine Hemmung und Gefahr für seine Entwicklung; sie förderte ihn sogar. Cicero ist einer jener interessanten Menschen, die nicht umhin können, sich vollkommen zu finden. Denn alles, was sie sehen und be- greifen, vermögen sie sich anzueignen; sie bewältigen es. So bewältigte Cicero die Gesamtbildung, die seiner Zeit zugänglich war. Schwierigkeiten und Widerstände, denen er nicht gewachsen war, sah er gar nicht; sein Horizont schloß genau dort ab, wo seine Kraft zu Ende war; er wurde das, was ihm versagt war, die einfache Größe, nie gewahr. Einsicht und Können deckten sich. Solch Typus ist unerträglich, wenn sein Können besonders gering ist. Er hat dann eine bornierte Aufgeblasenheit.
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Erster Teil.
Andernfalls ist diese Begrenzung eine Kraftquelle. Das Glücks- gefühl, unter dem solch ein Mensch schafft, teilt sich seinen Schöpfungen mit und macht sie sicher rein rund. Auch dem entgegengesetzten Typus begegnet man zuweilen; seine Eigentüm- lichkeit ist, immer seine Ohnmacht zu fühlen, an seine Gren- zen zu stoßen, mit seinen Leistungen unzufrieden zu sein, weil er das Höhere sieht, das ihm für jetzt oder für immer unerreichbar ist. Auch er kann durch die Eigenschaft gefördert und zum Vorwärtsstreben angetrieben werden; häufiger lähmt sie die Tatenlust und macht hoffnungslos.
Also Cicero fehlte es an Bescheidenheit und, wie ich oben sagte, an einer gewissen Großzügigkeit. Wo wir moralisch zu sein lieben und erstreben, versagt er, und wo wir der Unmoral das Wort reden möchten, ist er moralisch. Unter unseren heu- tigen Verhältnissen könnte ein solcher Mann nimmermehr ein Künstler werden. Er scheint dem Begriff des Künstlers zu wider- sprechen und widerspricht jedenfalls der modernen deutschen Auffassung von Kunst. Dies auch der tiefste Grund, weshalb man ihm bei uns nicht gerecht wird, während man z. B. in Frank- reich über die Hochschätzung einer solchen Veranlagung keinen Augenblick im Zweifel ist, da dort ähnliche Typen Hohes erreicht haben. Drei Momente, die uns fremd sind, ebneten ihm den Weg zur Kunst: die große Tradition, das klare Bild von Vollkommenheit das er in sich trug, die konsequente Arbeit an sich, durch die er es zur Erscheinung brachte. Die beiden letzteren sind ihm selber zuzurechnen. Dieser kurzsichtige, kurzwollende Mann brachte es nicht nur fertig, Kunstwerke zu schaffen, sondern auch sich selber zu einem Kunstwerk zu gestalten. Er ist ein Form ge- wordenes Individuum, ein vollendeter Spieler auf dem Instru- ment seiner Seele. Vielleicht ein gar zu virtuosischer Spieler; aber ist ein solcher nicht mehr wert als unsere elenden Stümper und Stammler? Vielleicht sind es auch nicht viele Stücke, die er spielen kann, sein Instrument ist nicht groß und nicht aus- giebig; aber ist es nicht besser, weniges gut zu machen, als vieles halb und schlecht?
Durch alles dies kann Cicero meiner Meinung nach für unsere heutige Zeit sehr wertvoll und fruchtbar werden. Zielinski
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Cicero und die Gegenwart.
erzählt, was Cicero früheren Epochen war, wie man eins nach dem andern an ihm entdeckte und von ihm zu lernen suchte. Ich tue hinzu, was wir von ihm lernen können, wie wir ihn nehmen sollten. Cicero als organisierter Mensch, als beseelte Form, als fleischgewordene Bildung, die deshalb nicht epigonen- haft ist, weil sie Natur geworden ist, so empfehle ich ihn unseren Zeitgenossen. Und gerade ihn vor manchen andern! Sie wun- dern sich, verehrter Freund, daß ich mich auf Cicero versteife, da man von anderen Alten dasselbe besser lernen könnte. Mir scheint aber Cicero ein besonders lehrreiches Beispiel zu sein, weil er unseren Vorurteilen so sehr zuwiderläuft. Aus den Griechen der älteren Zeit, von Homer bis etwa 400, nimmt man sich gar zu gern das heraus, was wir selber auch haben, und bestärkt sich in den Irrtümern, statt sie los zu werden, Aischylos schmeckt man wie einen modernen Autor und übersieht die Kluft künstlerischer Anschauung und Absicht, die ihn von uns Bar- baren trennt. Bei Cicero ist das bedeutend schwerer; er läßt sich nur fassen, wenn man ihn mit Fingern der Kunst angreift. ,, Jeder Unbefangene", wie Mommsen so hübsch sagt, wird mit Cicero bald im Reinen sein. Ganz recht; wessen Sinne nicht unter Einfluß von Kultur und Kunst ihren Urzustand verändert haben, wird die Fragen gar nicht zu Gesicht bekommen, um die es sich bei Cicero und dem ,,Ciceronianismus** handelt. Er wird nur Phrasen hören und Torheit sehen. Und so ist es in der Ordnung.
Deshalb ist der Vorwurf der Inkonsequenz, den Sie mir machen, unbegründet. Kraft, Einheitlichkeit, moralische und religiöse Befestigung scheinen mir nach wie vor die Bedingungen einer gründlichen Besserung unserer künstlerischen Verhältnisse zu sein. Die älteren Griechen sind die größten Muster dafür und deshalb unentbehrlich für uns. Sie wissen, wie viel ich ihnen für mich selber verdanke. Aber man muß heute nach zwei Fronten kämpfen. Sowie man sich gegen Virtuosentum, Leerheit, Künstelei richtet, denken die Unmäßigen und die Braven, man rede ihrer Barbarei das Wort. Wer heute auf Aischylos oder Pindar weist, sollte immer zugleich auf Cicero und Horaz weisen. Dann erst sind Mißverständnisse ausgeschlossen und das Gleich-
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Erster Teil.
gewicht hergestellt. Ich meine also keineswegs, daß wir Cicero gleich werden sollen. Wir könnten es auch nicht; die Befürchtung ist grundlos, Verehrtester! Aber es ist von größtem Nutzen, sich einen solchen Mann recht deutlich vor Augen zu stellen, gerade weil er uns fremd und konträr ist. Ist es nicht eine Haupt- leistung der Geschichte, daß sie uns mit anders gearteten Dingen bekannt macht und unserer Einseitigkeit steuert?
Rom, 15. April.
Meine Meinung über Ciceros Briefe will ich Ihnen nicht vorenthalten, obwohl es nicht schwer ist, sie zu erraten. Was ich über die Persönlichkeit schrieb, ist ja noch mehr aus den Briefen als aus den Reden geschöpft und bestimmt den Wert der ersteren vollkommen. Wohl sind alle Lebensäußerungen soviel wert wie der, der sie tut; am einleuchtendsten aber ist dies bei solchen, die vorwiegend oder ausschließlich subjektive Bedeutung haben. Der Brief gehört zu den subjektivsten künstlerischen Erzeugnissen. Was ist ein Brief? Was macht ihn gut oder schlecht? Warum sind fremde Briefe lesenswert und eine Brief- literatur kein Unding? Es fehlt, glaube ich, an Untersuchungen über diese Fragen, wenigstens bei uns in Deutschland. Ich will Ihnen die Gedanken mitteilen, die mir bei der Lektüre von Ciceros Briefen über Ästhetik des Briefes gekommen sind.
Wenn man Kunstformen bestimmen und voneinander sondern will, sollte man den Brief nicht vergessen, so wenig wie die Rede. Denn beides sind Kunstformen. Man muß freilich den Begriff weiter ziehen als es üblich ist oder doch bis vor kurzer Zeit üblich war. Neuerdings beginnt man einzusehen, daß es ein Gewinn für die Kunst ist, wenn man Erzeugnisse in sie hinein- bezieht, die aus einfachen Lebensbedürfnissen entspringen und im praktischen Leben unmittelbar Verwendung finden. Die Trennung von Kunst und Leben ist für beide schädlich, macht das eine häß-
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Cicero und die Gegenwart.
lieh und die andere unnatürlich. Der Aufschwung des Kunst- gewerbes in der letzten Zeit hat solche Betrachtungen aufgeregt und man ist heute ziemlich einig über den unbegrenzten Vorteil, den alle Zweige der bildenden Kunst von einer möglichst engen Verbindung mit praktischem Bedürfnis und Zweck haben können. Daß es in der Poesie ebenso ist, erscheint dagegen noch als eine Paradoxie, obgleich es nicht weniger richtig ist. Dramen, Ge- dichte, Romane halten viele für die einzigen Arten der Dichtkunst. Ich meine aber, jede Äußerung in Worten gehört zu ihr, sofern sie die einfachsten Kunstgesetze erfüllt. Wir wollen über Be- zeichnungen nicht streiten; wollen Sie mündliche oder schriftliche Äußerungen ohne bestimmte Form nicht als Teile der Dichtkunst, sondern nur als ihre Unterlage, als ihren Vorhof gelten lassen, so bin ich auch damit einverstanden; aber diese Unterlage ist ungeheuer wichtig als Stütze für den Oberbau jener eigentlichen Kunstgebilde. So wie Gefäße, Kleidungs- und Schmuckstücke sich zur bildenden Kunst verhalten, so verhält sich ein Bericht, ein mündlicher oder schriftlicher Austausch zur Dichtkunst. Man hat alle Ursache, diese einfachen Dinge zu pflegen und zu heben, so wie es die Alten getan; dann wird es mit unseren Dichtungen, namentlich denen in Prosa, ebenfalls besser werden. Ich kann nicht eindringlich genug empfehlen, jede Gelegenheit zur Übung in Rede, Abhandlung, Brief zu ergreifen, und begrüße es mit Freude, daß ein tieferes Interesse für diese Grundlagen der Poesie sich zu regen anfängt und die Ansprüche wachsen, die man an sie stellt. Die Unterschiede von Rede, Abhandlung, Brief gegenüber Roman, Gedicht, Drama sind erstens formal, wie ich schon sagte, und zweitens stofflich. Alle zusammen haben ur- sprünglich den gleichen Zweck: etwas Reales mitzuteilen. Homer und Aischylos wollen Historiker sein, keine Erfinder; auch die Lyrik steht auf realem Boden. Doch entfernt sich erstens der Inhalt von den nächstliegenden Dingen, von der Notdurft des Lebens, und zweitens wird die Mitteilung stilisiert. Warum man beides tut, geht uns hier nichts an; der Erfolg ist, daß für die Dichtungen in höherem Sinne nur gewisse Stoffe in gewisser stofflicher Verarbeitung benutzt, die anderen ausgeschlossen werden, und daß feste Formen sich bilden. Beides fehlt in der
Horneffer Das klassische Ideal. T2I
Erster Teil.
Regel bei Rede, Abhandlung, Brief. Doch ist ihre Entfernung von den strengen Kunstgebilden in den verschiedenen Zeiten eine verschiedene. Das Altertum hat für die Rede, d. h. größere münd- liche Äußerungen, fast ebenso zahlreiche Gesetze aufgestellt, wie etwa für das Drama. Darum sind antike Reden Kunstwerke fast in dem gleichen Sinne. Doch bleibt die Form etwas lockerer. Die Vorschriften über den Aufbau und die Bildung im einzelnen, so eingehend sie sind, lassen doch einen größeren Spielraum. Außerdem ist das Stoffgebiet ein sehr mannigfaltiges und nicht abgegrenztes. Eine Theorie des Briefschreibens gab es, soviel ich weiß, nicht, obwohl viel Briefe geschrieben und veröffentlicht wurden. Hat die Altertumsforschung etwas für die Beurteilung der alten Brief literatur getan? Bitte schreiben Sie mir, was Sie darüber wissen; meine philologischen Kenntnisse sind zu gering. Auch habe ich außer Ciceros Briefen nur die platonischen gelesen, und diese erklären nicht viel, so wertvoll sie auch sind.
Die Hauptsache beim Brief ist wohl, daß er an eine bestimmte Person sich richtet. Dadurch erhält er die Unmittelbarkeit, die ihm eigen ist, und unterscheidet sich von den meisten anderen schriftlichen Äußerungen. Es besteht eine direkte Wechselwirkung; der Schreiber richtet Inhalt, Ton usw. seines Briefes nach dem Empfänger; er gibt sich ihm wie im mündlichen Verkehr. Er redet also nicht wie der Verfasser einer Abhandlung ins Unbe- kannte, ins Blaue hinein, für gleichgültige Menschen, die sich aus seinem Schriftstück heraussuchen und aneignen mögen was sie können; sondern er weiß genau, zu wem er spricht, und hat die Möglichkeit, sich persönlich verständlich zu machen, sich anzupassen und das Bestimmte, das er im Auge hat, zu erreichen. Auch bei Briefen, die an mehrere Personen gerichtet sind, ist es kaum anders. Die Personen sind dem Schreiber bekannt und werden von ihm als ein Individuum zusammengefaßt. Er wendet sich an das, was sie gemeinsam haben. So etwa, wenn jemand an eine Körperschaft, eine Gemeinde schreibt. Hier tritt die Verwandtschaft mit der Rede hervor. Auch diese berücksichtigt in der Regel ein bestimmtes Publikum, dessen Anschauung und Stimmung der Redner kennt. Dies Publikum wird selten von einem einzelnen gebildet (Cicero vor Cäsar), gewöhnlich von
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Cicero und die Gegenwart.
Versammlungen, deren Zusammensetzung und Zweck dem Redner bekannt sind (Gericht, Parlament), und auch wenn er vor einer bunten zufälligen Menge spricht, weiß oder fühlt der Redner, welche Mittel er anzuwenden hat, um gerade diese, heute aus einem solchen Anlaß vereinigte Zuhörerschaft zu fesseln und zu überzeugen; er spricht vorsichtiger, begeisterter, ernster, heiterer, je nach der Stimmung, die er findet.
Das zweite ist, daß der Brief Schreiber in der Regel auf eine Antwort rechnet oder eine solche gibt. Wer eine Abhandlung schreibt, ein Gedicht macht, verlangt keine Gegenäußerung, er will nur sich ausdrücken. Der Unterschied ist ein großer. Der Brief fragt oft nur, befriedigt nicht ganz, nimmt Bezug auf einen früheren Brief des Empfängers, entlehnt ihm Inhalt und Ton. Wiederum ist die Rede verwandt. Der Verteidiger vor Gericht entgegnet dem Ankläger, der Versammlungsredner spricht mit Rücksicht auf die Einwände und Erwiderungen, die er erwartet oder die ihm geworden sind.
Die Folge beider Eigentümlichkeiten ist eine große Lebendig- keit und Bestimmtheit des Briefes (und der Rede) einerseits und eine Einseitigkeit und Kurzlebigkeit andererseits. Schreibe ich für die Öffentlichkeit, so denke ich fast nur an mich und an meine Sache, denn das undefinierbare Lesepublikum, dem ich mein Produkt überliefern will, kann mich nicht anregen, nicht beein- flussen. Es hat beinahe etwas Widersinniges, zu sprechen, ohne zu wissen, mit wem man spricht. Jedenfalls erhält meine Äuße- rung etwas Starres, schwer Zugängliches, oder auch Unsicheres. Sie verfehlt leicht ihre Wirkung. Viele Deutschen unterschätzen die Bedeutung des Wiederhalls für den Schriftsteller und über- haupt den Künstler. Die Alten waren anders, sie erhielten sich bis zuletzt das Gefühl für den großen Wert, den ein bestimmtes und bekanntes Publikum, an das man sich richtet, für den Autor hat. Die Schattenseiten (Einseitigkeit, Kurzlebigkeit) sind um so geringer, je bedeutender das persönliche Moment bei dem Er- zeugnis ist. Ein Gelegenheitsgedicht z. B. wird nicht im geringsten einseitig und vergänglich durch die genauste Rücksicht auf seinen Adressaten (Goethe an Lilli); auch die direkte Antwort eines großen Redners auf eine Gegenrede wird es nicht (Bismarck an
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Erster Teil.
die Parlamentsredner). Ich sprach schon von der Verewigung kleiner Anlässe durch die künstlerische Persönlichkeit, die sie benutzt. Dies wird gerade bei derartigen, wesentlich subjektiven Erzeugnissen der Fall sein. Auf der anderen Seite stehen solche, bei denen das Sachliche fast ausschließlich interessiert, z. B. wissenschaftliche Berichte, die Beschreibung eines Insekts, die Untersuchung eines logischen Problems, Die Persönlich- keit des Verfassers tritt zurück, man wünscht nur zwei ihrer Eigenschaften zu sehen: Klarheit und Anstand. Was er außer- dem ist, geht uns nichts an. Je mehr die Persönlichkeit in den Vordergrund tritt, desto geringer wird das sachliche Interesse. Man kann drei Haupttypen unterscheiden, zwischen denen sich sämtliche Kunsterzeugnisse bewegen, erstens die wissenschaftliche und die Handwerksarbeit, wo das Subjektive fast ganz verschwin- det, zweitens das Kunstwerk höchsten Ranges, wo Subjektives und Objektives (Sache und Persönlichkeit) sich die Wage halten, drittens die Wiedergabe von individuellen Zuständen und Stim- mungen, wo fast alles auf die Persönlichkeit, auf das Wie an- kommt. Man wird verlangen, daß das Verhältnis von Was und Wie jedesmal das richtige, von selber sich ergebende ist. So wie Wasser und ein Gegenstand, den man hineintut, sich ihrer natür- lichen Schwere gemäß miteinander einrichten, oder wie die Be- ziehung zweier Menschen zueinander sich unweigerlich so gestal- tet, wie es ihre Gewichtsverhältnisse vorschreiben, so muß bei einem Kunstwerk das Objektive oben schwimmen, sich verteilen oder untersinken, das Subjektive herrschen, stützen oder dienen, je nach dem Gewichts- und Kraftverhältnis der Sache zu der Persönlichkeit des Autors. Manche Kunstformen begünstigen das eine, manche das andere. Der Brief neigt augenscheinlich zur Bevorzugung des subjektiven Moments. Je objektiver er ist, desto mehr nähert er sich der Abhandlung. Ein Schriftstück, das mit den Worten ,,Sehr geehrter Herr" anfängt und mit einer Unterschrift schließt, sich im übrigen aber von der Abhandlung in nichts unterscheidet, ist kaum noch ein Brief zu nennen. Die Abhandlung hat ein bestimmtes Thema, dessen Bearbeitung ihre Einheitlichkeit verbürgt; der Brief hält sich entweder nicht an einen einzelnen Gegenstand oder behandelt ihn anders, nämlich mit Rück-
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Cicero und die Gegenwart,
sieht auf den Schreiber und Empfänger. Er erschöpft ihn nicht, ordnet nicht so sehr nach logischen Grundsätzen als nach persön- licher Neigung, die durch das Verhältnis des Schreibers und Emp- fängers zu dem Gegenstand bestimmt wird. Was z. B. in der Abhandlung Hauptpunkt werden müßte (etwa bei Wiedergabe künstlerischer Eindrücke) , wird im Brief kaum berührt, weil Schrei- ber und Empfänger darüber einig sind, usw. Der Brief kann mehrere lose oder gar nicht zusammenhängende Gegenstände behandeln; es ist falsch dies zu schelten und den künstlerischen Wert von der sachlichen Einheitlichkeit abhängig zu machen; für die Abhand- lung gilt dies, nicht für den Brief. Man muß bei der Ableitung formaler Gesetze stets nach dem Zweck fragen. Derselbe ist maßgebend für die Gestaltung. Zweck der Abhandlung ist Be- lehrung, Zweck des Briefes ist Verkehr, d. h. Vermittlung von persönlichen Zuständen. So erhalten objektive Nachrichten, die ein Brief enthält, nur Wert durch die Beziehung, die sie zum Schreiber und Empfänger haben. Wir lesen Bismarcks Briefe an seine Frau verständigerweise nicht deshalb, weil sie historisch wichtige Details bringen, sondern weil sie das Verhältnis Bis- marcks zu den Ereignissen (objektiv bedeutenden oder unbedeu- tenden) aus dem Moment heraus wiedergeben und zugleich seine Beziehungen zur Empfängerin in Augenblicksbildern darlegen. Was einen Brief zusammenhält und zu einem künstlerischen Ganzen macht, ist also nicht die Einheitlichkeit des Themas, sondern etwas Subjektives: Persönlichkeit, Stimmung, Verhältnis des Schreibers und Empfängers. Die Grundforderungen, die man mit Recht an jedes künstlerische Gebilde stellt, einen Anfang, Steigerungen, Höhepunkte und einen Abschluß zu haben, erfüllt auch der Brief; aber anders erfüllt er sie, als etwa die Abhandlung. Doch will ich Sie nicht länger mit allgemeinen Erörterungen langweilen, die überdies arg unmethodisch sind. Nur über die Veröffentlichung von Briefen noch ein Wort. Es ist klar, wann sie berechtigt ist. Nicht dann, wenn die Briefe interessante Stoffe auf unpersönliche Art behandeln, sondern wenn eine interessante Persönlichkeit in ihnen sich spiegelt. Durchaus nicht alle Briefe bedeutender Menschen sind wertvoll und durch- aus nicht alle Briefe von Personen, die wenig geleistet haben, sind
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Erster Teil.
von geringem Wert. Derjenige wird gute Briefe schreiben, der seine Persönlichkeit in sie hineinzulegen weiß, ebenso wie der- jenige ein guter Gesellschafter ist, der sich im Verkehr rein und ganz zu geben versteht. Nietzsche z. B. schreibt nicht häufig gute Briefe; nur wenige Saiten seines Instruments erklingen in der Regel in ihnen, vieles und gerade das Beste schweigt. Ähnlich ist es bei Schopenhauer. Ich will nicht sagen, daß man deren Briefe nicht trotzdem gern läse, aber die kleinsten Billette Goethes oder Ciceros haben höheren Kunstwert. Hierbei wirkt noch folgendes mit. Der Brief sowie die mündliche Unterhaltung sind Kinder des Moments. Sie entstehen und nähren sich durch Ge- schenke, die der Zufall dem Augenblick macht. Nur Menschen, die stark mit der Gegenwart leben und immer ganz bei der Sache sind, auch wenn es sich um Kleinigkeiten handelt, werden daher gute Briefe schreiben und gute Gespräche führen können. Wer dagegen sich zurückhält und mit Gedanken beschäftigt ist, die ihm den einfachen Anteil an den Dingen nehmen, ist für münd- liche und schriftliche Geselligkeit ungeeignet. Er kann vielleicht Vorträge halten, Aufsätze schreiben, auch Kunstwerke gestalten, obgleich diese Art Mensch in der Regel philosophisch, die erstere künstlerisch veranlagt ist; aber er kann nicht dem Augenblick geben, was ihm gebührt. Seine Briefe und Gespräche sind ent- weder langweilig weil unpersönlich, oder es sind keine Briefe und Gespräche.
Cicero gehört zu den besten Briefschreibern die ich kenne, nicht wegen der trefflichen und ausführlichen Berichte, die seine Briefe hier und da enthalten, sondern wegen alles dessen, was sie trotz dieser Berichte sind. Mommsen hat glücklich wieder die Wahrheit auf den Kopf gestellt, wenn er die zeitungsartigen Briefe gelten läßt und die rein persönlichen Verlautbarungen, die Cicero z. B. aus der Verbannung nach Rom schickt, schlecht und leer findet. Cicero hat durch seine Briefe so gut wie durch seine Reden gezeigt, was er kann und ist. Ja die Briefe sind eine noch schärfere Probe seiner Echtheit. Denn hier steht er nicht auf dem Kothurn, nichts Begeisterndes, Herz und Lunge Schwellendes unterstützt ihn; er hat zu beweisen, was seine künstlerische Menschlichkeit wert ist. Bewundern Sie, wie richtig er Wesen
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Cicero und die Gegenwart.
und Zweck des Briefes einsieht. Er denkt nicht daran, Redner und Theoretiker in seinen Briefen zu sein. Pose und Steifheit fehlen. Er ist bei sich zu Hause, bequem und Hebenswürdig; er scherzt und klagt, wie es ihm gerade zu Mute ist, wählt Aus- drücke und Wendungen der Umgangssprache und zeigt sich als feingebildeter Weltmann. Ich würde gern ein paar Briefe über- setzen, um einen Begriff von seiner Art zu geben; aber ich fürchte, gerade das, worauf es ankommt, geht durch die Übersetzung ver- loren. Bei Ciceros Schreibart ist alles wichtig und einzig; jeder Vokal gehört ins Bild. Einen kleinen Versuch will ich Ihnen jedoch mitteilen; sagen Sie mir, ob irgendetwas von dem Reiz des Originals erhalten geblieben ist. Ich wähle einen Brief an seine Frau und Kinder aus der Verbannung im Jahre 58 (ad fam. XIV 3). Er zeigt unseren Freund auf dem tiefsten Stande seiner seelischen Kraft, ist nichts weniger als gefaßt und eines Philo- sophen würdig.
,,Aristocritus [ein Sklave] hat mir Eure drei Briefe gebracht, die ich durch viele Tränen fast zerstört habe. Ich verzehre mich in Gram, liebe Terentia, und mein Elend quält mich nicht mehr als Deines und Eures. Aber ich bin noch elender als Du Arme; denn das Unglück tragen wir beide, die Schuld trage ich allein. Ich hätte durch die Stelle als Legat die Gefahr abwenden oder mit Klugheit und Gewalt widerstreben oder tapfer fallen sollen, das war meine Pflicht! So ist es elender, schmachvoller, un- würdiger als alles. Darum verzehrt mich noch mehr Scham als Schmerz. Ja ich schäme mich, meiner guten Gattin, meinen geliebten Kindern nicht Mannheit und Ausdauer gezeigt zu haben. Tag und Nacht steht mir Euer Gram und Eure Trübsal vor Augen und dazu Deine schwache Gesundheit. Hoffnung aber ist kaum zu sehen. Feinde sind viele, Neider fast alle. Mich verbannen war schwer, mich fern halten ist leicht. Doch solange Ihr hofft, will ich das Meine tun, damit nicht alles durch meine Schuld verloren scheint. Du sorgst Dich um meine Sicherheit; die ist jetzt das Geringste. Meine Feinde selber wollen ja, daß ich so elend weiter lebe. Doch will ich tun, was Du wünschest.
Den Freunden, denen Du wolltest, habe ich gedankt und die
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Erster Teil.
Briefe an Dexippus [ein Sklave] gegeben, habe auch geschrieben, daß ich durch Dich von ihren Bemühungen wüßte. Unser Piso ist wunderbar in seinem Eifer, ich sehe es wohl, und alle loben ihn. Die Götter geben, daß ich vereint mit Dir und unseren Kindern solchen Schwiegersohn genießen darf!
Jetzt kommt es auf die neuen Volkstribunen und deren erste Tage an; wenn die vorübergehen, ist es aus. Ich habe deshalb Aristocritus gleich an Dich gesandt, damit Du mir sofort über Einleitung und Plan der ganzen Angelegenheit schreiben kannst. Dexippus habe ich freilich ebenfalls aufgetragen, sofort zurück- zukommen, und habe an meinen Bruder geschrieben, er solle oft Nachricht schicken. Ich bin nämlich darum gegenwärtig in Dyrrhachium, damit ich recht schnell erfahre, was vorgeht, bin auch sicher hier; die Bürgerschaft habe ich immer geschützt. Wenn meine Feinde in Aussicht sind, gehe ich nach Epirus. Du schreibst, wenn ich wollte, würdest Du kommen. Da dort soviel von Dir abhängt, bleibe lieber da. Wenn Ihr durch- setzt, was Ihr vorhabt, komme ich ja zu Euch, wenn nicht
doch wozu den Satz endigen! Aus Deinem ersten oder vielmehr zweiten Brief konnte ich entnehmen, was ich tun soll; schreibe nur bitte alles recht genau, obwohl ich ja die Sache selber, keinen Brief darüber erwarten müßte. Sorge für Deine Ge- sundheit und sei überzeugt, daß Du mein Liebstes bist und immer gewesen bist. Leb' wohl, liebe Terentia! Ich sehe Dich so deutlich vor mir und darüber weine ich mich krank. Leb' wohl!"
Das ist ein Beispiel für die ,, gräßliche Gedankenöde", die nach Mommsen ,, jeden Leser von Herz und Verstand" empören muß. Empört Sie dieselbe auch? Ich gestehe, daß ich sie hier so wenig wie in den Reden fühle, daß ich nicht einmal einsehe, welchen Wert Gedanken, sichtbare herauszu- klaubende Gedanken, in einem solchen Brief hätten. Sie könnten doch nur stören, so wie sie in Goethes Briefen mit rein persön- lichem Inhalt stören würden, wenn er so töricht wäre, welche hineinzustecken. Ich will noch einen Brief hersetzen, aber lateinisch, weil er die Übersetzung kaum vertragen würde. Es ist ein Billett aus einer ganz anderen Stimmung, gerichtet an
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Cicero und die Gegenwart.
seinen Freigelassenen und Freund Tiro, zu dem er ein so reizendes Verhältnis hatte. Cicero kehrte, wie Sie wissen, im Herbst 50 aus seiner Provinz Cilicien zurück. Tiro wurde unterwegs krank, mußte zurückbleiben und erhielt von dem vorausreisenden Cicero mehrere besorgte und beruhigende Billette, unter denen ich am meisten das folgende liebe (ad fam. XVI 6):
,,Tertiam ad te hanc epistulam scripsi eodem die, magis in- stituti mei tenendi causa, quia nactus eram cui darem, quam quo haberem, quod scriberem. Igitur illa: quantum me diligis, tantum adhibe in te diligentiae; ad tua innumeralia in me officia adde hoc, quod mihi erit gratissimum omnium. Cum valetudinis rationem, ut spero, habueris, habeto etiam navigationis. In Italiam euntibus omnibus ad me litteras dabis, ut ego euntem Patras neminem praetermitto. Cura, cura te, mi Tiro: quoniam non contigit, ut simul navigares, nihil est, quod festines, nee quicquam eures, nisi ut valeas. Etiam atque etiam vale. VII. Idus Nov. Actio vesperi."
Ist das nicht den besten Erzeugnissen der neueren Briefliteratur gleichwertig? Reife und Sicherheit des Geschmacks paart sich mit anmutiger Nachlässigkeit. Im Rahmen der einfachsten Mit- teilung wird der ganze Mensch sichtbar, nicht aufdringlich, nicht irgendwie drapiert, sondern natürlich, frei, schön. — Lesen Sie Ciceros Briefe, verehrter Freund ! Lesen Sie sie wieder und wie- der! Sie werden immer mehr in ihnen entdecken und werden schließlich aufhören zu widersprechen, wenn ich sage, daß Cicero eine Blüte menschlicher Kultur ist, keine stark duftende, vielleicht auch keine, die Früchte ansetzt, aber doch eine seltene, kostbare.
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VI.
ZUR ANTIKEN LYRIK.
Bei den Griechen ist die Lyrik ein früh gepflegter und hoch ent- wickelter Kunstzweig. Leider ist wenig von ihr erhalten und das Wenige wird in Deutschland nicht mehr gelesen. Das starke in die Kunst getauchte Leben, das Griechenlands Geheimnis und ewig wirkender Zauber ist, kommt in der Lyrik rein zur Erschei- nung. Das Gelegenheitsgedicht im Goetheschen Sinne ist ge- funden; Trinklieder, Liebeslieder, Spottgedichte werden ebensogut getroffen wie Gesänge im hohen Ton und didaktische Gedichte. Die Beziehungen zum Epos, zum Drama, zur Prosa sind voll- kommen durchsichtig und geben der Ästhetik ein wertvolles Material zur vergleichenden Charakteristik der poetischen Gat- tungen. Griechenland hat wie auf fast allen anderen Gebieten der Kultur, so auch in der Lyrik den ganzen Kreis dessen durch- laufen, was spätere Zeiten erstrebt haben. Als eine Einheit, eine Art Extrakt bietet uns dies Volk dasselbe dar, was wir zerstreut und widerspruchsvoll aus uns zu entwickeln suchen. Die neuere Zeit hat die Kultur erweitert, aber auch verdünnt, bereichert, aber auch verwirrt.
Die Römer leben im Anblick, im Genuß und in der Aneignung des Hellenischen. Das macht ihren Kulturwert aus. Ihre Lyrik ist der Gegenwart etwas vertrauter als die griechische. Es gibt
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Zur antiken Lyrik.
einige, wenn auch nicht viele Menschen, die hin und wieder einen lateinischen Lyriker in die Kand nehmen. Von denen, die es pflichtgemäß als Schüler und des Berufs v/egen als Lehrer und Sprachforscher tun, sehe ich ab.
Für die erklärende Arbeit der Philologen kann man nicht dankbar genug sein. Doch erstreckt sie sich zuweilen weiter als man wünschen möchte, und bleibt hinter dem zurück, was man erwarten dürfte. Wie wäre es, wenn mehr Leute von künstlerischer Bildung als bisher daran gingen, rein künstlerische Erzeugnisse zu edieren und zu kommentieren, die als solche selbst in Einzelheiten nur vom künstlerischen Gesichtspunkt aus ver- ständlich werden? In berühmten Ausgaben findet man mitunter Erklärungen und Urteile, die nur in der Unbildung ihres Autors Erklärung finden.
Die fragmentarischen Anmerkungen, die ich hier über drei antike Lyriker machen will, sollen nur dazu beitragen, den Kreis ihrer Verehrer unter den Kunstfreunden zu erweitern.
SAPPHO.
Sappho lebte im 7. Jahrhundert vor Chr., ist also über hundert Jahre älter als Aischylos. Sie hat neun Bücher Liebes- und Hochzeitslieder gedichtet und komponiert. Sie war eine ange- sehene Bürgerin der lesbischen Stadt Mytilene und Leiterin einer Schule, in der junge Mädchen das Dichten und Komponieren erlernten. Nur zwei vollständige Gedichte und ein paar Frag- mente sind uns von ihr erhalten geblieben. Beide sind in der nach ihr benannten und vielleicht von ihr zuerst angewendeten sapphischen Strophe verfaßt. Das eine hat 7, das andere 4 vier- zeilige Strophen. Beides sind erotische Gedichte. Das längere enthält ein Gebet an Aphrodite um Beistand in einer Liebes- angelegenheit. Schon früher habe sie ihr geholfen und spröde Mädchen, die sie liebte, ihr geneigt gemacht; dasselbe möge sie
Erster Teil.
jetzt wieder tun. Das zweite hat ebenfalls die Leidenschaft zu einem Mädchen als Gegenstand, ist aber direkt an dasselbe ge- richtet. Es schildert die Fassungslosigkeit, in die die Liebende gerät, wenn sie die Geliebte erblickt.
Sie zeigen, künstlerisch betrachtet, einen hohen Grad von Vollkommenheit und können als Muster der sogenannten indivi- duellen, der Stimmungslyrik dienen. Ohne weiteres ist sicher, daß eine lange Entwicklung diesen Produkten vorausgeht, eine Entwicklung, die sowohl auf Klangschönheit, wie auf Sicher- heit in Versmaß und Rhythmus, wie auf Einheitlichkeit der Darstellung, wie endlich auf die schärfste gedankliche und sprachliche Präzisierung von Gefühlen hinzielte. Schon bei Homer ist dies alles in gewissem Sinne vorhanden; doch treten beim Epos wie billig die Gefühle zurück. Homer deutet nur mit einem oder wenig Worten die Gefühle wie auch den Charakter seiner Personen an und rückt immer die Ereignisse in den Vorder- grund. Die Lyrik hatte die Aufgabe auszubilden, was er mit großem Takt und feiner Kenntnis menschlicher Gemütszustände begründet hatte. So entwickelte das Drama die Charakterzeich- nung und andere Gattungen griechischer Poesie anderes, was bei Homer im Keim vorhanden ist. Ich kann denen nicht zustimmen, die deshalb das Drama oder einen anderen Zweig der Dichtkunst als Vollendung und Höhepunkt gegenüber Homer bezeichnen. Homer ist nicht nur Vater und Anreger, sondern selber Höhepunkt. Die griechische Poesie formte sich um und betonte Verschiedenes nacheinander, aber höher als Homer ist sie nicht gekommen.
Die Lyrik, wie Sappho, ihr Stammes- und Zeitgenosse Alkaios und der Jonier Anakreon sie vertreten, bringt, wie gesagt, Gemüts- zustände zum Ausdruck, vorzugsweise solche des Dichters. Auf welche Weise tut sie dies? Halten wir uns an Sappho, so finden wir sie zur Aphrodite um Beistand flehen. Wie würde ein Dichter von geringerer Künstlerschaft dabei verfahren? Er würde wie Sappho einsehen, daß die einfache Bitte in zwei, drei Worten ausgesprochen werden kann und kein Gedicht füllt. Er würde sie daher in verschiedenen Wendungen wiederholen, sie steigern, eindringlicher machen oder dgl.; außerdem würde er die Stärke seines Gefühls durch Ausrufe, Klagen usw. deutlich machen;
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Zur antiken Lyrik.
alles in allem, er würde in dem Verlangen, möglichst stark und eindrucksvoll zu reden, unklar, mindestens unplastisch reden. Was tut Sappho? Sie erzählt einen Vorgang; sie berichtet mit homerischer Anschaulichkeit über die Art, wie Aphrodite sich der Betenden annehmen wird. Die erste Strophe enthält Anrede und Bitte, dann folgt fünf Strophen hindurch eine rein objektive Darstellung, die siebente faßt zusammen und schließt. Die Er- zählung ist so eingekleidet, daß die Göttin von der Betenden an ihre frühere Hilfeleistung erinnert wird. Dabei beschreibt sie, wie es damals gewesen: Aphrodite hört von fern die Stimme, verläßt das goldene olympische Haus, schirrt den Wagen an, wird von Sperlingen herabgeführt, kommt an, fragt teilnehmend, er- bietet sich ihrer Dienerin Peitho die Angelegenheit zu übergeben, versichert, dieselbe würde das Herz der Spröden ihr zuwenden. Dies alles wird so kurz und doch so klar und erschöpfend gesagt, daß man Mühe hätte, auf einem doppelt so großen Raum als ihn das Gedicht einnimmt, den Inhalt vollständig wiederzugeben. Das Wunderbare ist nun aber, daß der Zweck des Gedichts, den Gemütszustand der Dichterin zu schildern, durchaus erreicht ist. Er wird nicht nur geschildert, sondern mit eindringlicher Kraft dem Hörer des Gedichts gleichsam aufgezwungen. Die Glut der Empfindung ist voll zum Ausdruck gekommen; das Subjektive des Gegenstandes hat dadurch, daß es ins Objektive gewendet ist, nichts verloren, sondern nur etwas Unschätzbares gewonnen, nämlich die Möglichkeit, einem vollendeten Gedicht als Unterlage zu dienen. Unter allen lyrischen Produkten alter und neuer Zeit kenne ich nichts Vortrefflicheres als diese einfache Ode der Sappho. Das zweite Gedicht ist vielleicht noch lehrreicher. Sappho will die vernichtende Stärke ihrer Leidenschaft dem Hörer, zu- nächst der Geliebten selber, mitteilen. Um dies zu erreichen, greift sie wiederum nicht zu wilden Ausrufen, zu Seufzern und Gejammer, sondern sie beschreibt Stück für Stück die Wirkung, die der Anblick ihrer Geliebten auf sie hat. Wer es ertrage, diesem Mädchen nahe zu sein, müsse ein göttliches Wesen sein; sie ver- möge es nicht. Wenn sie das Mädchen nur einen Augenblick sehe, versage ihre Stimme, die Zunge sei gelähmt, ein Feuer laufe unter ihrer Haut, ihre Augen sehen nichts, ihre Ohren
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Erster Teil.
brausen, der Schweiß rinne ihr herab, sie zittere, werde grüner als Gras, sei beinahe tot und gleiche einer Irren. Diese einfache Beschreibung wirkt gewaltig und drückt das Gefühl mit über- zeugender Wucht aus. Der künstlerische Sinn der Griechen, der immer auf das Sinnliche, auf Anschauung und Greifbarkeit ge- richtet ist und unsinnliche, deshalb unkünstlerische Dinge, wie Begriff und Gefühl, sinnlich zu fassen und darzustellen sucht, zeigt sich hier aufs Glänzendste. Wir Deutschen leiden umgekehrt daran, sogar das Sinnlichste unsinnlich machen und auffassen zu wollen.
Über den Gehalt der beiden Gedichte wäre noch einiges zu sagen. Leidenschaften künstlerisch zu bewältigen ist an sich eine schwere Aufgabe; viel leichter, näherliegend und normaler ist es, äußere Gegenstände und Ereignisse künstlerisch darzu- stellen als Vorgänge in der eignen Brust. Hierzu kommt bei Sappho noch die Schwierigkeit, daß es sich um eine unnatürliche Leidenschaft handelt. Normale Gefühle, zu denen auch die Liebe zum andern Geschlecht gehört, werden in der Regel durch die anderen Regungen des Menschen unterstützt; sie wachsen und gedeihen, da sie ein passendes, vorbereitetes Erdreich finden. Die Widerstände, denen sie begegnen, kommen nur ausnahms- weise von innen, sonst von außen; sie werden daher bei starken Naturen oder wenigstens starken Gefühlen eher fördernd als hemmend wirken und ihnen jedenfalls nicht die natürliche Basis entziehen, die sie schön und künstlerisch verwendbar macht. Anders bei perversen Gefühlen. Wie erstaunlich, daß es einer so frühen, in der frischesten Bewegung erstarkten Epoche gelingt, die Homosexualität soweit zu verfeinern, daß sie zum künst- lerischen Vorwurf gemacht werden kann! Bei Sappho tritt sie mit der Sicherheit und unschuldigen Offenheit eines Naturtriebes ans Tageslicht. Sie weiß nichts von den inneren Konflikten, die sie manchmal intensiver machen kann, sie aber stets unharmo- nischer und häßlicher machen wird. Die allgemeineren Fragen lasse ich hier außer Betracht; ich zeige nur auf das künstlerische Phänomen hin, das Sappho bietet. Man sage nicht, daß bei ihr von Freundschaft die Rede sei; mit grimmigen Schmerzen des Verlangens kämpft die Dichterin und wendet sich, wie jeder andere
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Zur antiken Lyrik.
Liebhaber, an Aphrodite um Hilfe. Sie ist der Berechtigung, der Reinheit ihres Verlangens vollkommen sicher. Sie erhöht und verarbeitet dasselbe sogar in dem Grade, daß sie reife Früchte der Kunst aus ihm zu ziehen vermag.
PINDAR.
Die Chorlyrik der Griechen gehört fast ausschließlich der älteren Zeit an. Pindar, der in dem Zeitalter der Perserkriege lebte, steht schon am Ende ihrer Entwicklung. Die Form wurde durch Stesichoros um 600 geregelt. Es sind komplizierte poetische Gebilde, die in Strophe, Antistrophe und Epode zerfallen. Die verschiedensten Versmaße werden kunstvoll miteinander ver- einigt und im Gegensatz zum epischen und tragischen Vers das Hauptgewicht auf Mannigfaltigkeit des Rhythmus gelegt. Unge- heuer fein entwickelt sich dadurch das rhythmische Gefühl, etwa ebenso fein wie das polyphone durch die neuere Musik. Wir sind ungebildet in bezug auf Rhythmik, wir begnügen uns in unseren Dichtungen wie auch in einem gewissen Grade in unserer Musik mit einfachen, gleichmäßig wiederkehrenden Zeitverhältnissen. Daher versagt unser Geschmack und unser künstlerisches Urteil gegenüber den Erzeugnissen der griechischen Chorlyrik. Der Grieche empfand ein vielleicht 150 Silben umfassendes System, das nicht etwa periodisch gegliedert ist, als eine Einheit; er über- schaute es mit einem Blick und wußte seine Schönheit und Origi- nalität instinktiv zu beurteilen, so gut wie er die formale Kom- position einer Statue beurteilte. Wir können wohl nachrechnen, wie das System aufgebaut ist, haben auch Wohlgefallen daran, wenn wir es vortragen hören, aber von einer sicheren Empfindung für die künstlerische Notwendigkeit gerade dieser Bildung im Gegensatz zu einer nur wenig veränderten ist keine Rede. Wenn der musikalisch Gebildete unserer Tage ein gutes Musikstück hört, so empfängt er den Eindruck eines lebendigen Körpers,
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Erster Teil.
dessen Glieder zusammengewachsen sind und von einem einheit- lichen Willen bewegt werden. Eine Veränderung, die nicht bedeutend zu sein braucht, zerstört diesen Eindruck, nimmt dem Kunstwerk Sinn und Leben. Eine einzige andere Note in der Melodie, ein anderer Akkord, kann die Wirkung aufheben, min- destens stören, so wie ein falscher Buchstabe unter Umständen einen ganzen Satz sinnlos macht. Ebenso empfand der antike Hörer, wenn ein Chorlied von Pindar, Simonides usw. vorgetragen wurde. Er genoß Rhythmik als ausgebildete Kunst.
Musik und Tanz, erstere stets, letzterer meist mitwirkend, bildeten wichtige Hilfsmittel, den künstlerischen Eindruck zu vervollständigen, doch waren sie augenscheinlich der rhyth- mischen Komposition untergeordnet. Diese war das Zentrum; Musik und Tanz machten sie klarer und ausdrucksvoller. So erscheint es mir wenigstens; ein sicheres Urteil ist nicht möglich, da wir zu wenig von antiker Musik und Tanzkunst wissen. Gewiß war auch das melodiöse Empfinden hoch entwickelt; aber daß es sich in moderner Weise vom rhythmischen, und sogar dem poetisch rhythmischen, emanzipiert hätte, will mir nicht einleuchten.
Die Chorlyrik hatte, wie es in ihrem Wesen liegt, meist öffent- lichen und religiösen Charakter. Anlässe kamen nicht durch die Dichter, sondern wurden von außen gegeben. Von Pindar sind uns fast nur Epinikien erhalten, d. h. Lobgedichte auf die Sieger in den öffentlichen Wettspielen, die auf Bestellung und gegen Bezahlung angefertigt wurden. Das Thema war gegeben, und der Dichter mochte sehen, wie er ein Gedicht darüber zustande brachte. Es ist nichts Leichtes, jemanden auf geschmackvolle und originelle Art zu loben, zumal wegen einer Leistung, die in jedem Jahre sehr oft und immer in der gleichen Weise vollführt wird. Das Besondere mußte sorgfältig hervorgesucht und der knappe Stoff künstlich erweitert werden. Da auch dieser Dichter wußte, daß Dichten Darstellen sei, so kam es darauf an, Dar- stellungsobjekte zu finden; und da er ein Grieche war, so ergab sich von selbst, woher er dieselben nahm: aus dem Mythos. Die Schwierigkeit war, das Thema mit den mythischen Erzählungen zu verknüpfen. Pindar versucht dies auf verschiedene Weise,
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Zur antiken Lyrik.
z. B. so, daß er auf die mythischen Vorfahren des Siegers zu sprechen kommt und die Geschichte seines Heimatsortes und dessen Merkwürdigkeiten erzählt. Doch kann man nicht sagen, daß er es mit dem Zusammenhang allzu genau nimmt. Offenbar war niemand peinlich in diesem Punkte, und jeder sah die Schwierigkeit der Aufgabe, die sich steigert, je größer die Zahl solcher Lieder wird. Pindar hat etwas Unerschöpfliches in seiner Art. Man glaubt ohne weiteres, daß er hunderte machen konnte, und jedes anders, jedes schön und reizvoll.
Wie stellt Pindar dar? In einer Weise, die den künstlerischen Takt der Griechen wiederum in helles Licht stellt. Man erinnert sich an den Reigen, den die Phäakenjünglinge vor Odysseus auf- führen. Der Sänger begleitet den Tanz mit dem Vortrag eines Liedes, dessen Inhalt jener bekannte Liebeshandel zwischen Ares und Aphrodite ist. Homer erzählt die Geschichte, wie er alles andere erzählt; er behält den epischen Ton bei. Der Lyriker aber muß anders verfahren, wenn sein Lied zum Reigen stimmen, ihn wirklich begleiten und unterstützen will. Dies aus zwei Gründen. Erstens darf die Erzählung nicht durch ihren Stoff, durch die geschilderten und ins Detail ausgemalten Vorgänge zu stark das Interesse in Anspruch nehmen und von dem ge- schauten Tanz ablenken; zweitens muß die rhythmische Gestaltung mit der Bewegung der Tanzenden übereinkommen. Der erste Grund berührt eine der tiefsten Fragen der Ästhetik, nämlich die Zusammenwirkung verschiedener Kunstarten. Wir Neueren sind hauptsächlich durch die Oper auf diese Frage aufmerksam geworden. Können Dichtung und Musik nebeneinander be- stehen? Achtet man in der Oper auf Text, Schauspiel und Musik zu gleicher Zeit oder abwechselnd? Sollen Operntexte von hohem stofflichen und künstlerischen Wert sein, oder hindern sie in diesem Falle die reine musikalische Wirkung? Ich glaube, daß man aus der Praxis der Griechen die Antwort auf diese Fragen entnehmen kann, soweit wenigstens, als die Antwort überhaupt möglich ist. Ein ungelöster Rest wird wohl immer bleiben. Der Gesang vereinigt von Natur beides, Dichtung und Musik. Wäh- rend das Instrument sich ausschließlich musikalisch betätigt und nur Töne von sich gibt, keine begrifflichen Vorstellungen erweckt,
Horneffer, Das klassische Ideal.
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Erster Teil.
bringt der Sänger außer Tönen auch einen Text, d. h. etwas nicht unmittelbar sinnlich, sondern erst durch logische Prozeduren Verständliches zu Gehör. Er verlangt sehr viel und im Grunde doch wohl etwas Unmögliches von dem Hörer, der sich nicht zerteilen kann und als Empfänger eines künstlerischen Eindrucks seine Einheitlichkeit ganz besonders zu wahren hat. Auf ver- schiedene Weise hat man versucht, aus der Schwierigkeit heraus- zukommen. Bald wurde der Text in den Hintergrund gedrängt und fast nur lautlich genommen (ein großer Teil der Kirchenmusik, manche Opernarien), bald dominierte er und machte die Musik zur Dienerin (das Rezitativ in seinen verschiedenen Formen). Wagner hatte die richtige Idee, man müsse von beiden Seiten aus gleichmäßig vorgehen und Text und Musik einander annähern, in der Weise, daß man die Dichtung musikalisch und die Musik poetisch behandle. Dann würden sie sich treffen und eine Einheit bilden, meinte er. Weshalb die praktischen Versuche, die er machte, so lehrreich und in mehrfacher Hinsicht wertvoll sie sind, doch mißlangen, kann hier nicht erörtert werden. Sicher ist, daß beides litt und sowohl Poesie wie Musik vergewaltigt wurde. Die Kunst als Kunst hat selten bei so reichen Mitteln einen solchen Tiefstand gehabt wie in Wagners Opern. Ein Moment, das meiner Meinung nach den Ausschlag gibt und bei den Alten auch den Ausschlag gab, ließ Wagner unberücksichtigt, das ist der Rhythmus. Der Rhythmus bildet die Brücke zwischen den beiden Künsten Poesie und Musik. Er gehört beiden an; er ist, was so sehr wichtig ist, eins der wenigen unmittelbar sinn- lichen Mittel der Poesie und hat in der Musik die Bedeutung des Festigenden, Formgebenden. Die Griechen mit ihrer instinktiven ästhetischen Einsicht kamen ganz von selbst dazu, den Rhyth- mus als Bindeglied zu gebrauchen, ja ihn in den Mittelpunkt zu stellen, wo es galt, Poesie und Musik miteinander in Wirksamkeit treten zu lassen. In Schöpfungen, wie sie etwa Pindar uns hinterlassen hat, ist weder die Musik noch die Poesie Haupt- sache, obgleich beide mit größter Sorgfalt zu hoher Vollendung gebracht sind, sondern, wie schon oben gesagt, der Rhythmus ist Hauptsache. Und unter seinem Schutze gleichsam konnte ein friedliches Einvernehmen hergestellt werden und 'konnte, erfolg-
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Zur antiken Lyrik.
reicher als bei Wagner, sogar die Dichtung musikalischen und die Komposition poetischen Gesetzen sich fügen oder doch sich anzupassen suchen.
Auf diese Weise, glaube ich, muß man Pindars Darstellung erklären. Die Art, wie er einen Vorgang erzählt, wie er philo- sophische Betrachtungen anstellt, ethische Maximen ausspricht, weicht ungeheuer von der Art des Epikers, des philosophischen Dichters, des gnomischen Elegikers ab. Bei diesen allen ist zwar die Musik wohl nicht ganz ohne Anteil, aber sie räumt der Dich- tung die erste Stelle ein. Schon die Gestaltung des Rhythmus spricht dies deutlich aus. Der Tanz fehlt ganz. Selbst in der Einzellyrik Anakreons oder Sapphos bleibt die Musik meiner Meinung nach in der zweiten Stelle. Die Dichtung folgt ihren Gesetzen und nimmt keine Rücksicht auf einen selbständigen, gleich starken Bundesgenossen. Ich finde schon in dem herr- lichen Parthenion von Alkman, dem ältesten uns bekannten Chorlyriker, dieselbe Tendenz, die bei Pindar zum Siege kommt. Natürlich bildete sie der Einzelne seinem Naturell entsprechend aus und die Unterschiede zwischen Pindars und seines einfacheren helleren Zeitgenossen Bakchylides Darstellungsweise sind er- heblich; aber die Grundlage ist, soweit ich wenigstens sehe, die gleiche.
Von Pindar weiß der gebildete Deutsche unserer Tage nur, daß seine Sachen sehr erhaben und sehr schwer zu übersetzen sind. Beides ist richtig, erschöpft aber seine Bedeutung wohl nicht ganz. Leider vernachlässigt man auch die Chorlyrik in den griechischen Tagödien; man vergißt über dem Drama, das nur ein Bestandteil der alten Tragödie ist, die großen lyrischen Ge- sänge, die es einschließen und gliedern und die bekanntlich Ursprung und Ausgangspunkt der Tragödie sind. Ob sie eng oder lose mit dem Drama zusammenhängen, ist eine andere Frage; ich meine nur, wer einen Agamemnon, eine Elektra usw. richtig schätzen und ganz genießen will, muß die Chöre ebenso wichtig nehmen wie die Handlung. Sonst ist er nur halb eingedrungen. Diese Chöre sind in derselben Weise gebildet und von der gleichen ästhetischen Anschauung getragen wie die Lieder Pindars. Was von seiner Darstellungsweise und deren Absicht gilt, kann
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Erster Teil.
man ohne weiteres auf Aischylos, Sophokles, Euripides über- tragen.
Das Hauptkennzeichen ist Mangel an Einfachheit. Pindar ist nicht einfach, wenn er darstellt; er unterbricht sich, er belädt die Schilderung mit Zutaten, die der Epiker grundsätzlich ver- meidet, er zeigt auf das Deutlichste, daß ihn nicht der Vorgang an sich interessiert, sondern etwas anderes. Dies scheint auf den ersten Blick die Empfindung der handelnden oder leidenden Personen zu sein. Aber es ist wohl mehr die Empfindung über- haupt. Die starken Beiworte, das Verweilen bei erregenden Geschehnissen soll den Hörer in eine erhöhte Stimmung bringen, die ihn für rhythmische Eindrücke empfänglich macht. Es ist ein mächtiger Gefühlsstrom, der das Dargestellte wie einen Kahn trägt, führt, wohl auch in seinen Wellen begräbt. Immer sind es Bilder, die er erweckt, nicht abstrakte Ideen natürlich; dazu ist er viel zu sehr Grieche. Aber er wählt solche Bilder und bringt eine solche Fülle einander drängender und ablösender Bilder, daß der Hörer nicht plastisch, sondern musikalisch angeregt wird. Er sieht nicht wie bei Homer deutliche Gestalten und Situationen vor dem geistigen Auge, erfährt auch nicht wie bei Sappho sehr eindringlich die Gefühle bestimmter Personen; er wird in eine plastisch unklare und wirre, aber rhythmisch sichere und ge- ordnete Welt geführt. Pindar ist Ausschweifung, Übermaß, wenn man ihn rein poetisch nimmt; aber man tut ihm Unrecht, ihn so zu nehmen. Freilich, er geht immer auf Stelzen, er um- schreibt fast jeden Begriff durch eine kühne Metapher, er wählt, wo er nur kann, uneigentliche Ausdrücke und sucht diese in möglichst fernliegenden Gebieten auf. Wenn er einem Herrscher die Mahnung zuruft, aufrichtig zu sein, so sagt er: schmiede deine Zunge auf einem nicht trügenden Ambos. Er nennt den Anker den Zügel des Schiffes, und den Ruhm das schönste Heil- mittel der Tapferkeit. Er bildet lange, überladene Perioden und mehr als eine Stelle bietet dem Erklärer große Schwierigkeiten. Bei alledem verliert doch der Hörer nicht den festen Boden, wie es ihm bei dunklen Produkten deutscher Stümper so oft geschieht. Das Dunkle in der Ausdrucksweise Pindars sowie der tragischen Chöre hat künstlerische Gründe und ist vollständig gerechtfertigt.
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Zur antiken Lyrik.
Man braucht nur den Ton und Stil zu prüfen, den die Tragiker im Dialog haben. Er ist ein ganz anderer, viel einfacher und immer auf Anschauung gerichtet. Wie plastisch berichtet etwa ein Bote von den Ereignissen hinter der Szene! Und kurz darauf singt der Chor, schildert vielleicht ein änliches Ereignis aus der Vorzeit, umkleidet aber seine Darstellung mit einem verhüllenden Mantel von farbenreichen Gleichnissen, von philosophischen Be- trachtungen, von Attributen und Partizipien. Ich glaube, der Hörer hat oft dem Text der Lieder nicht bis ins einzelne folgen können, sondern sich begnügt, im allgemeinen zu verstehen, um was es sich handelte. Es ist nicht denkbar, daß er bei einma- ligem Hören alles entwirren und in die richtige logische Beziehung setzen konnte. Oder wir müßten einem beliebigen athenischen oder syrakusischen Bürger eine Auffassungsgabe zutrauen, wie sie heute niemand mehr hat.
So ist Pindar. Keine Frage, daß er und seine Verwandten für uns Deutsche etwas gefährlich sind. Wir neigen an und für sich zu Unklarheit und Überschwang in Worten, Bildern, Gedanken, Gefühlen und übersehen leicht den Unterschied in Kunst und Absicht, der zwischen der griechischen Chorlyrik und Produkten wie etwa Goethes hymnenartigen Jugendgedichten in freiem Versmaß besteht. Dieselben stehen bekanntlich unter Pindars Einfluß und sind gewiß das Hervorragendste, was wir in dieser Art besitzen. Niemand wird den einzigen Wert so großartiger Versuche anzweifeln wollen. Aber mit den geschlos- senen, formal sicheren und aufs feinste ausgestatteten griechischen Gesängen halten sie den Vergleich in künstlerischer Hinsicht nicht aus, was Goethe selber am bereitwilligsten zugeben würde. Die deutsche Literatur hat nicht wenig Erzeugnisse in einem ähnlichen Stil. Zu den besten gehört Heines Nordsee, Neuer- dings hat Nietzsche in seinem Zarathustra Versuche in einer verwandten Richtung gemacht. Er nimmt ein Moment zu Hilfe, das den Deutschen und ihm zumal nahe liegt und das in der Tat für diese Art Lyrik gut verwertet werden kann; ich meine die religiöse Rhetorik, die Kanzelberedsamkeit. Auch Pindar ist durchaus rhetorisch und erregt hohe volle Stimmungen wie der Kanzelredner. Andächtig zu machen ist sein Ziel; durch
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Erster Teil.
welchen Stoff, ist von geringerem Belang. Diese Beredsamkeit mit philosophischen Absichten zu verbinden, ist, wie mir scheint, Nietzsche gut gelungen. Aber an der künstlerischen Form fehlt es völlig.
HORAZ.
Was andere römische Lyriker auch vor Horaz voraus haben mögen, es wird doch wohl dabei bleiben, daß er am höchsten zu stellen ist. Keiner ist als Künstler so weit gekommen, keiner stellt uns mit so viel Reife und griechischem Sinn eine ganz geschlossene Persönlichkeit vor Augen. Er gehört der Zeit nach in die erste Hälfte der Alleinherrschaft des Augustus. Seine Dichtungen zerfallen der Hauptsache nach in strophisch gebildete Lieder verschiedenen Maßes und in losere, der Prosa näher- stehende Gedichte im Hexameter. Didaktisch hat sich Horaz mit großem Glück versucht. Seine ars poetica ist ein vorzüg- liches Beispiel für die Art, wie die Alten zu theoretisieren ver- standen. In der Form eines Briefes wird ungezwungen eine Fülle von ästhetischen Fragen erörtert und von ästhetischen Gesetzen aufgestellt. Alles ist von einer reichen Praxis und einer sicheren Beobachtung aus gesagt, ist also derart, daß es unmittelbar ver- wertet werden kann; auch wendet sich der Briefschreiber nicht an Ästhetiker sondern, wie es sich gehört, an Künstler. Wir werden auf eine freie Höhe von Kunst- und Lebensweisheit geführt, mit schmucklosen Worten über Dinge aufgeklärt, die kein neuerer Ästhetiker sagt, und empfangen den lebendigen Eindruck eines aus dem Vollen schöpfenden Zeitalters.
Man stützte sich damals hauptsächlich auf alexandrinische Lyriker und ahmte sie nach, die ihrerseits von den frühgriechi- schen zehrten. Horaz ging über die Alexandriner hinweg direkt zu den Alten, so wie Cicero als Redner auf die beste Quelle, nämlich Demosthenes, zurückging. Die Form meistert er un-
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Zur antiken Lyrik.
vergleichlich; nicht bloß in der Verskunst, sondern in der Er- füllung höherer formaler Anforderungen, die schwieriger sind und heute oft ganz übersehen werden, kann wohl weder Catull noch Properz mit ihm wetteifern; die hauptsächlichsten sind Einheitlichkeit und Anmut im Goetheschen Sinne. Seine Ge- schicklichkeit geht so weit wie die Ciceros und führt ihn wie diesen immer bis an den Punkt, wo der künstlerische Ernst sich in Spielerei verwandelt. Doch verfallen beide nie wirklich in diesen Fehler. Sich auszudrücken wurde ihnen sehr leicht, sie hatten nicht so viel zu sagen, als sie in Worte hätten kleiden mögen; darin liegt ihre Stärke und ihre Gefahr. Trotzdem glaube ich nicht, daß Horaz schnell gedichtet und immer gleich die beste Form gefunden hat. Es fließt ihm nicht so vom Munde wie z. B. wohl dem charmanten Ovid. Er arbeitet mit abwägender Sorgfalt, feilt und bessert und ist hierin wie in mehreren anderen Punkten mit Heine zu vergleichen. Ihn aber mit Heine zu iden- tifizieren, was hier und da geschieht, geht wiederum durchaus nicht an. Der fundamentale Unterschied zwischen beiden ist, daß Horaz Ehrfurcht vor der Kunst und Verständnis für ihre rigorosesten Gesetze und zweitens einen antiken Lebens- und Kunstgeschmack hatte; beides fehlt dem Neueren.
Horaz steht den Griechen vielleicht noch näher als Cicero, auch suchen und finden sie etwas Verschiedenes bei diesen ihren Lehrern. Cicero fühlte sich als Römer, er war stolz auf die Tugenden und die Größe seines Volkes und sah die Griechen in politischen Dingen nicht nur sondern auch in manchen Zweigen der Kunst und Wissenschaft tief unter sich. Ihm entging es, daß die echten Römertugenden zu seiner Zeit bereits im Aussterben waren und daß man die Graeculi nicht mit den Hellenen der älteren Epochen zusammenwerfen dürfe. Horaz stellte sich ganz auf die Seite der Griechen und trat in schroffen Gegensatz zu dem spezifisch römischen Wesen. Dessen aggressive Grund- triebe: Herrschsucht, Härte, Habsucht verstand er nicht und haßte sie. Er spricht seine Abneigung in zahlreichen Gedichten aus und kommt immer wieder auf die verwunderte Frage: wozu nur dies ganze wilde Treiben! wie kann es nur glücklich machen? Die Stammesgemeinschaft und die politische Gemeinschaft waren
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Erster Teil.
für Cicero und überhaupt für den normalen antiken Menschen der Brennpunkt des Denkens und Sorgens, die Quelle des Glücks und des Unglücks. Man hatte also in erster Linie äußere, ma- terielle Interessen, um einen modernen Ausdruck zu brauchen. Alles Ideelle, so energisch es verfolgt und so hingebend es gepflegt wurde, bezog man auf den Staat, auf das Gemeinwohl; der per- sönliche Ehrgeiz, innerhalb des Ganzen etwas zu bedeuten und womöglich der Erste zu sein, erfüllte fast jede hervorragende antike Persönlichkeit, die wir kennen. Das sind bekannte Dinge. Horaz jedoch folgt den spätgriechischen Stimmen, die alles dies verwerfen, die Ruhe, stille Freude und Sorglosigkeit pre- digen und deshalb Enthaltung von Politik und öffentlicher Wirk- samkeit empfehlen. Man kehre sich ab von allem Aufregenden, allem Kampf und Zank, allem äußeren Ehrgeiz, allem Aus- schweifenden, Wüsten, Gemeinen! Diese Lebensanschauung hat Horaz am schönsten und reinsten zum Ausdruck gebracht und seine Vorgänger, soweit sie wenigstens uns noch zugänglich sind, weit überholt. Auch für die alexandrinische Gedicht- sammlung gilt dies, wie mir scheint, die unter dem Namen Anakreontica bekannt ist. Sehr geschickt, auch recht frisch zum Teil sind diese Sächelchen, aber sie fallen mitunter doch ins Tändelnde, was bei Horaz ausgeschlossen ist. Sonst wissen wir von hellenistischer Poesie und von den griechischen Philo- sophen der schönen Lebensfreude und sorglosen Genügsamkeit fast nur aus zweiter Hand.
Viel wichtiger als bei anderen römischen Dichtern ist bei Horaz seine Lebensanschauung und praktische Philosophie. Er dichtete aus der Tiefe natürlicher Weisheit heraus und geht auch in dem kleinsten Gedicht bis an die Grenzen, die mensch- licher Erkenntnis in praktischen Dingen gestellt sind. Man muß ihn einen philosophischen Dichter nennen, dies Wort im guten Sinne verstanden. Denn er hat viel zu viel Takt, um die Philosophie anders als künstlerisch zur Geltung zu bringen. Außerdem hat er eine solche Anspruchslosigkeit und Leichtigkeit, daß der unsorgfältige Leser nichts von Weisheit spüren, den Dichter im Gegenteil gefällig aber oberflächlich nennen wird.
Züge des Niederganges sind nicht zu verkennen. Horaz ver-
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Zur antiken Lyrik.
herrlicht eine Existenz, deren Hauptmoment Unabhängigkeit von Pflichten und praktischen Aufgaben ist. Man soll sich selbst genug sein, seine Bedürfnisse einschränken, um sie ohne Anstrengung befriedigen zu können; man soll die eigentlich aktiven Triebe nicht haben. Wie unfrei ist der Reiche, wie unfrei der Staatsmann! Wie wertlos der Besitz, der ja doch nicht richtig genossen wird, wie belanglos der weltliche Glanz, der nur Mühe und Sorgen einträgt! Nur in einer Welt, die ihr Ziel erreicht hat und ihrem Ende sich nähert, ist solche Gering- schätzung der für die Kultur unentbehrlichen äußeren Bestre- bungen und Taten denkbar. So ist denn die Voraussetzung der horazischen Dichtung, wie man schon oft gesagt hat, die faule Ruhe und müde Sicherheit, die Oktavians Alleinherrschaft dem römischen Staate brachte. Die Zeit der äußeren Eroberungen, die ein so großes Leben entfalteten, war vorüber und ebenso waren die inneren Kämpfe vorüber, die alle Gemüter in Span- nung erhielten. Was gab es denn nun noch zu tun? Man ver- langte nach neuen Emotionen und suchte sie sich, wenn sie nicht von selbst kamen, auf unnatürliche Weise zu verschaffen, oder man genoß, wenn man wie Horaz geartet war, eine friedliche Abendruhe. Es ist ein Greis, der aus Horaz spricht, ein milder, kluger Greis. Er lächelt über die Torheiten der Menschen und zieht sie ans Licht, er schaut die Natur und was ihm sonst er- freulich ist, mit heiteren Augen an, er hat feine Sinne für die kleinen unscheinbaren Freuden des Lebens, er denkt über die Vergänglichkeit und Nichtigkeit des Irdischen nach. Manchmal wird er melancholisch und auch, wo er es nicht ist, überkommt den Leser zuweilen ein frostiges Gefühl. Aber meistenteils ist er froh und weckt auch Heiterkeit. Das macht die erquickende Frische, die sich mit seiner Heiterkeit verknüpft, die harmlose Lust am Leben und seinen Genüssen, namentlich Liebe und Wein, die etwas Ansteckendes hat. Freundliche Situationen zeigt er uns, macht uns mit Genossen und Freunden bekannt und führt uns eine reiche Zahl von lockeren Schönen vor. Tiefes Liebesweh ist nicht seine Sache und große Treue auch nicht. Die Triumvirn Amors, wie die römischen Elegien Goethes die drei bedeutendsten lateinischen Lyriker nennen, unterscheiden sich recht merklich
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Erster Teil.
in diesem Punkt. Während die beiden anderen eine bei den Künstlern nicht häufige Stetigkeit haben und über die Untreue und Flatterhaftigkeit ihrer Angebeteten sich beschweren, ist Horaz ohne ernstliche Leidenschaft geblieben. Er nimmt, was Schönheit und Gefälligkeit ihm entgegenbringen, freut sich an jedem Mädchen und sucht Gelegenheit zu einem guten Ge- dicht über es.
Andererseits hat Horaz jedoch nicht ohne Berührung mit der Politik und was aus ihr sich ergibt, gelebt. Man wird mir sogar einwenden, daß die kriegerischen und überhaupt aktiven Töne seiner Leier, die er zuweilen erklingen läßt, ebenso wichtig zu nehmen seien wie die epikureischen. Aber wenn man genau z. B. die sogenannten Römeroden liest, fühlt man doch, daß ganz echt und rein horazisch nur die Mahnung zur Einfachheit und Mäßigung ist. Das übrige muß man seinen Vorbildern, namentlich dem begeisternden Alkaios, und den Wünschen seiner Patrone Augustus und Maecenas zurechnen. Gewiß ist Horaz mit Cicero einig in dem Lob alter Zucht und Sitte. Aber während dieser überzeugt ist, daß die gute alte Zeit zurückkehren und das moderne Unwesen vertreiben wird, nimmt Horaz die Dinge viel leichter und gleichmütiger; er hat offenbar weniger Glauben und weniger Interesse. Nur wo seine Liebe zur Schönheit verletzt wird, sehnt er Regeneration herbei. Der Abscheu gegen die Maßlosigkeit im Guten wie im Schlimmen ist daher sein natürliches, eigentliches Element. Seine Zeit stellte ihm scheußliche Bilder von Zügellosigkeit genug vor Augen. Die römische Degeneration hatte sogar vorwiegend diesen Charakter und mußte eine zart organisierte Natur wie Horaz aufs heftigste abstoßen. Genüsse und Lüste, die ins Häßliche gehen, sind ihm ein Greuel. In seiner philosophischen Art betont er auch hier vor allem die Torheit solcher Ausschweifenden. Zu einem wirklichen, ungetrübten Glück, meint er, könnten sie es auf diese Weise ja niemals bringen. Warum werden sie nicht genügsam und mäßig! Warum berauben sie sich der einfachen Genüsse, deren Süßigkeit viel höher und reiner ist! Horaz will seine Römer lehren auf schöne, nicht auf gemeine Art alt zu sein und zu sterben. Er will lehren, still in warmer Sonne zu sitzen, dem
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Getriebe aus der Ferne zuzuschauen und keine Sorge und Schwere aufkommen zu lassen.
Verweilen wir noch bei einzelnen Zügen seiner Dichtungen. Horaz ist nicht reich. Er wählt oft dieselben Themata und kommt auf dieselben Gedanken, dieselben Bilder, dieselben Situationen zurück. Da gibt es ein fröhliches Gelage, da treten vergleichs- weise die Parther und Scythen auf, das stürmische Meer wird mannigfach verwendet, die Großstadt und der vornehme Badeort wird in Gegensatz zum Landleben gestellt, viel Mythologisches, wie es die Alten stets bei der Hand haben, wird hineingewoben. — Horaz ist nicht gedrungen und wortkarg wie etwa Catull, aber er hat einen etwas kurzen Atem und macht kleine, schnelle Schritte. Darin bildet er den denkbar größten Gegensatz zu Pindar und dessen majestätischem Gang und langausgehaltenen Tönen. Die schöne Ode, in der er Pindar besingt und trefflich charakterisiert, zeigt, wie richtig er sich selbst beurteilte. Er kannte seine Stärken und seine Grenzen und verstand alles aus sich zu machen, was seine Natur nur irgend gestattete. — Mit besonderem Ge- schick benutzte er die Anknüpfungspunkte, die eine Adresse dem Dichter bieten kann. Er hat sehr viel Gedichte an einzelne Personen gerichtet: an Freunde, an geliebte Mädchen, an Gönner, an fingierte Personen. Er will einen bestimmten Anlaß, eine natürliche Rechtfertigung seines Gedichtes haben, wie sie jeder echte Lyriker erstrebt, und sucht dieselbe, wenn er sie nicht anderswo finden kann, in der Beziehung auf eine Person, der er sich mitteilt. So sind denn ein großer Teil seiner sämtlichen Erzeugnisse rhythmische Gegenstücke zum Briefe; sie sind eine Art Briefe. Die Empfindungen, die den Schreiber mit dem Emp- fänger verbinden, sind nicht immer stark und der Inhalt des Gedichtes ergibt sich selten aus dem Empfänger. Manchmal ist der Zusammenhang zwischen Thema und persönlicher Be- ziehung ganz lose und äußerlich; aber Horaz hatte seine Gründe, die Adresse trotzdem festzuhalten. Der Charakter des Gedichts als einer gelegentlichen lebendigen Äußerung tritt besser hervor. Einen Teil seiner Dichtungen bezeichnet er direkt als Briefe. Sie sind in reiferem Alter geschrieben und folgen in Versmaß, Stil und Absicht den früher herausgegebenen Satiren. Vielleicht
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offenbart sich erst hier, wo er ganz ungezwungen und aus den kleinen Anlässen des Lebens heraus sich äußert, am reinsten die Höhe seines Geistes und seiner Kunst. Es ist etwas, wenn solche Menschen sich gehen lassen!
Horaz stand in der ersten Hälfte des i8. Jahrhunderts im Vordergrund des literarischen Interesses und wurde so eifrig nachgeahmt wie die anakreontischen Lieder. Da aber den Nach- ahmern alles das fehlte, was ihn erzeugte, bildete und groß machte, so gereichen ihre ,,horazischen Lieder" der deutschen Literatur nicht zur Zierde. Wie schlecht es jemandem bekam, daß er Horaz übersetzte, ohne auf den Philologen Lessing zu rechnen, ist bekannt.
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VII. KRANKHEITEN DES WILLENS.
Versuch über das moderne Problem.
So mannigfach die Anzeichen sind, daß eine kräftige, selbst- sichere Generation im Heranwachsen ist, so wenig läßt sich doch verkennen, daß hemmende und zerstörende Mächte aller Art einen immer weiteren Boden sich erobern. Man mag sich heute wenden, nach welcher Seite man will, überall trifft man Spuren ruinierten oder geschwächten Lebens, und sucht man nach dem Grunde dieser Erscheinung, so stößt man, wenn man sorgfältig genug beobachtet, überall auf gewisse Krankheits- formen. Zwei Symptome treten am häufigsten auf, Mangel an Willenskraft und Mangel an Instinkt. Auf allen Gebieten, in der Kunst, Wissenschaft und Philosophie ebenso wie im praktischen Leben machen sie sich bemerkbar und setzen sich oft gerade bei den schönsten und hoffnungsvollsten Naturen fest, so wie Ungeziefer und Diebe die besten Früchte sich aussuchen. Es wäre an der Zeit, sich einmal klar zu machen, was hier eigentlich vorgeht, ob es sich um einen notwendigen Prozeß handelt, dem man ruhig zusehen muß, oder ob Umstände die Schuld tragen, die vielleicht zu beseitigen sind, gegen die es vielleicht Schutz- und Gegenmaßregeln gibt. Gewiß sind zu allen Zeiten Willens- schwäche und Instinktunsicherheit vorhanden gewesen und haben
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Erster Teil.
großen Schaden angerichtet; aber wohl niemals ist so deutlich erkennbar gewesen und erkannt worden, daß gewisse Einflüsse unter Umständen den Prozentsatz der untüchtigen und den Hem- mungen erliegenden Elemente unnatürlich erhöhen.
Will man gründlich zu Werke gehen, so muß man sich tief ins philosophische Feld hineinbegeben und eine Untersuchung über die Grundlagen der menschlichen Entwicklung im ganzen anstellen, wobei besonders die pathologischen Voraussetzungen und lebenzerstörenden Abirrungen zu berücksichtigen wären. Man muß den Begriff Wille und den Begriff Krankheit definieren und muß feststellen, daß die Frage, ob Willenskraft und Leistungs- fähigkeit wünschenswert und der Willensschwäche und Beschau- lichkeit vorzuziehen sei, durch theoretische Erwägungen nicht entschieden wird. Man müßte ferner fragen, ob mit wachsender Kultur die ersteren notwendig sich verringern, ob Einfachheit und Kultur notwendig Gegensätze sind und wie man sich mit dem Problem abzufinden habe, das die Steigerung der Kulturaufgaben und -Ziele einerseits und die nicht abzuleugnende Tendenz zum Nachlassen der Willenskraft andererseits stellt. Dazu kämen weitere anthropologische und psychiatrische Fragen, die hier sämtlich übergangen werden müssen. Ich bin nicht imstande sie zu beantworten und ein kurzer Aufsatz ist für ihre Besprechung nicht hinreichend. Wir bleiben daher unphilosophisch, ver- meiden Facherörterungen und Fachausdrücke und begnügen uns mit einer einfachen Beschreibung unseres gegenwärtigen Lebens, wie es sich ausnimmt, wenn man seine Haupterscheinungen vom Gesichtspunkt der Willensschwäche und Instinktunsicherheit aus prüft. Wenn es mir gelingt, Klarheit über diesen oder jenen Fall zu schaffen und gar eine geringe Aussicht auf Bes- serung und Heilung zu eröffnen, so haben meine Betrachtungen ihren Zweck erfüllt.
I.
Ich sehe schöne Greise, die im Herbst ihrer Kultur stehen. Sie sind alt geworden nicht bloß durch Jahre, was leicht ist.
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Krankheiten des Willens.
sondern durch Resultate des Lebens, was schwer und nur von wenigen Menschen und Epochen erreicht worden ist. Sie sind müde und haben das Recht dazu; ihre Existenz erfüllt sich in der Kunst des schönen Nichtstuns. Die Kultur gewinnt durch sie, obwohl sie nicht mitarbeiten; ihre epikurische Vollkommen- heit, ihre Einheitlichkeit und Sicherheit ist durch sich selbst wertvoll. In Deutschland findet man selten solche Menschen; denn die Deutschen sind kein altes Volk, zumal nicht an geistiger Bildung. Reife äußere Bildung mag häufiger sein, z. B. bei dem Geburtsadel. Auch sie ist von hohem Kulturwert und eine fast notwendige Vorbedingung der inneren, so ungern man das heute auch zugibt. Man schätzt gute Verkehrsformen gering und findet es, namentlich in Süddeutschland, besonders rühmenswert, wenn jemand das Kunststück fertig bringt, innere Kultur mit rohen Manieren und Lebensgewohnheiten zu vereinigen. Die geringen Erfolge bei uns aber auf dem Gebiete der Kultur über- haupt sind vorzugsweise dieser falschen Auffassung zuzuschreiben. Mir scheint, der tüchtige Barbar, der auf die Kultur eindringt, kann und soll von den äußeren Feinheiten der Spätlinge ebenso lernen, wie von den geistigen Erzeugnissen überreifer Zeiten.
Ich sehe junge Greise, die vor der Zeit alt und müde geworden sind, sei es durch Krankheit, sei es durch fehlerhafte Bildung ihrer Natur. Sie sind nicht schön, nicht aus einem Gusse und, wenn nicht einzelne Kräfte und Anlagen ihres Wesens intakt geblieben sind, in der Regel auch wertlos. Die Lähmung des handelnden Menschen ist bei ihnen entweder eine vollkommene, — dann können sie nur Wert haben, insofern sie bruchstückweise oder nach Art der Treibhauspflanzen Kulturresultate aufweisen; oder sie sind nur teilweise gelähmt, die Kraft des Willens ist verringert und entlädt sich auf anormale Weise. Diese zweite Art Mensch ist bei uns sehr häufig und in so viel verschiedenen Typen vor- handen, daß ich nicht annähernd alle beschreiben kann, selbst wenn sie mir alle bekannt wären.
Meist unterscheiden sie sich auf den ersten Blick von den natürlichen Greisen dadurch, daß sie wollen, immerfort wollen, große und hohe Ziele haben und mit Vorliebe von ihnen reden, wähend jene dem Wollen abgesagt haben. Die Kraft aber, ihre
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Erster Teil.
Absichten zu verwirklichen, ja auch nur sich ihnen zu nähern, fehlt. Sie kämpfen mit sich, oft heftig und schmerzlich, aber es ist ein hoffnungsloser und siegloser Kampf. Immer bleibt die Schwäche in der Übermacht und verhindert die Tat, das erlösende Zeichen der Gesundheit des Willens. Es braucht sich nicht um goße Taten zu handeln; der tragische Konflikt pflegt bis in die kleinsten Dinge des Lebens hinunter zu gehen. Sie sind selten heiter und glücklich, wie sich leicht abnehmen läßt; denn dazu ist ein Gleichmaß der Natur erforderlich, das sie kaum besitzen können. Vielmehr neigen sie zu einer ungünstigen Beurteilung des Lebens und der Welt und sind je nach ihrem Temperament auf lärmende oder stille, auf heroische oder larmoyante Weise unglücklich. Ihr Verhältnis zu sich selber ist ein verschiedenes. Einige wissen, wie es mit ihnen steht, und finden sich darein, andere sind Idealisten in dem Sinne, wie Nietzsche einmal de- finiert hat: der Idealist ist ein Wesen, das Gründe hat, über sich unklar zu sein und klug genug ist, sich auch über diese Gründe noch unklar zu sein. Sie wollen die Wahrheit über sich nicht wissen, in dem richtigen Gefühl, daß sie nicht angenehm wäre; nach angenehmen, nach erhebenden und ihr Selbstgefühl stär- kenden Erfahrungen aber haben sie ein unbedingtes Bedürfnis. Sie wissen mit erfinderischer Feinheit vor sich selber und vor anderen ihr Wesen zu verschleiern und ins Gute, Tüchtige um- zudeuten und verwenden den Rest ihrer Kraft, statt auf Leistungen, darauf, diese Täuschung zu erhalten. So sind sie überzeugt von ihrem Wert und ihrer Vortrefflichkeit, während sie vielleicht das unwürdigste Schmarotzerdasein führen. Sie vermeiden überhaupt, sich über die Motive des menschlichen Handelns zu unterrichten, lieben die Moral und Religion, nicht die Physio- logie und Psychologie, und sind entrüstet, wenn man gegen ideale Regungen skeptisch ist. Die Lebenslügen sind ihnen not- wendig und müssen auf alle Fälle dann erhalten, ja befestigt werden, wenn sie Leistungen hervorrufen oder möglich machen. Denn daß jemand sich nützlich macht, ist wichtiger, als daß er richtige Meinungen hat. Man kann sagen und hat es schon gesagt, daß das Verhältnis eines Menschen zur Wahrheit sich nach dem Maße seiner Kraft bestimmt. Inwiefern der Starke
Krankheiten des Willens.
vor der Wahrheit an sich keinen Respekt hat, im Gegensatz zum Schwachen, der sichere und konstante Größen wünscht, lese man bei Nietzsche nach. Im übrigen Hebt der Starke die Wahr- heit und erträgt es, alle Dinge, ihn selbst eingeschlossen, in ihrer einfachen Nacktheit zu sehen, weil er alle Häßlichkeiten und Schwächen auszugleichen und künstlerisch zu würdigen imstande ist. — Auch die Gegentypen zum Idealisten, der Cyniker und der Zerknirschte, finden sich häufig unter den Willensschwachen. Sie sehen klar und werden beredt, wenn sie es erzählen, was für Lumpen sie sind. Sie wollen sich erniedrigen und setzen ihre letzten Kräfte dabei ein; wohl deshalb, weil ein Gefühl von Kraft oder doch von Erleichterung dadurch erzeugt wird. Der ehrliche, tief reuige Büßer, der doch keine Kraft hat und oft auch keinen Versuch macht sich zu ändern, ist eine bekannte Figur. Er glaubt durch das Bekenntnis und die Selbsterniedrigung gerecht- fertigt zu sein. Es ist hierbei gleich, ob es sich um positive oder negative Sünden handelt. Auch der Verbrecher ist in vielen Fällen ein Willenskranker, insofern ihm die Kraft fehlt, über einzelne Triebe Herr zu bleiben oder zu werden und sie in eine förderliche Bahn zu bringen.
Hiermit ist das Hauptsymptom der Willensschwäche be- zeichnet: mangelnde Selbstbeherrschung und als deren Folge extreme Lebensführung und Lebensanschauung. Der Schwache ist zügellos in jedem Sinne, er hat nicht Halt und nicht Maß. Die Zügellosigkeit äußert sich nicht immer direkt, sondern manch- mal als entgegengesetztes Extrem, als unnatürliche Selbst- beschränkung und Selbstknechtung. Auf theoretischem Gebiet entspricht die Unentschiedenheit und Allseitigkeit des Geschmacks einerseits und die Enge und Ärmlichkeit desselben andererseits. Mitunter findet man beide Extreme bei einer und derselben Per- son, wodurch dann die seltsamsten Widersprüche entstehen. Widersprüche, Disharmonie in den Eigenschaften und Äuße- rungen sind selber oft das Zeichen mangelnder Willenskraft; immer aber verringern sie die Leistungsfähigkeit im ganzen, vielleicht zugunsten einer Sonderbegabung. Der Starke ist, so- weit er stark ist, einheitlich; er ist außerdem nach keiner Rich- tung hin extrem, da er sich in der Gewalt und weder nötig hat,
Horneffer, Das klassische Ideal. mQ lO
Erster Teil.
die Zügel fallen zu lassen, noch sie allzustraff anzuziehen. Wir verfolgen nun, wie sich das Symptom im einzelnen darstellt, beschränken uns dabei auf die häufigsten Formen, wählen der Deutlichkeit halber krasse Fälle und haben nie bestimmte Per- sonen, sondern immer nur Typen im Sinne.
Zunächst käme das Verhalten zur eignen Person in Betracht. Dem Schwachen fehlt es an Selbstzucht; er ist ausschweifend und will es oft sein. Er erstrebt die Leidenschaft und die Wüstheit an sich und treibt zuweilen einen förmlichen Kultus mit ihnen. Namentlich treffen wir dies bei Künstlern und bei solchen, die es sein möchten. Sie erregen heftige Gefühle nach Möglichkeit in sich und züchten sie mit allen Mitteln groß. Sie greifen zu Reizmitteln, etwa zum Alkohol, suchen sich von festigenden, mäßigenden Einflüssen frei zu machen, untergraben, was viel- leicht noch von Halt (von Philistrosität, nennt man es) in ihnen ist, und betonen und pflegen nur immer, was von Zügellosigkeit (man nennt es Stärke oder Genie) in ihnen ist. So reden sie sich z. B. in die Begeisterung für gewisse Dinge, in den Haß gegen andere, in eine erotische Leidenschaft hinein. Diese Ver- irrung ist beim Künstler eine naheliegende, fast unvermeidliche; denn er lebt ja von der Emotion, sein Handwerk zwingt ihn, oft und intensiv in erhöhten Lebenszuständen zu verweilen. Es ist natürlich, daß sich daraus eine Neigung zum Exzentrischen ergibt. Will er aber Künstler in einem hohen Sinne bleiben, d. h. auf dem Fundament eines natürlichen Gleichgewichts bauen, so muß er die kompensierenden Kräfte in sich nicht zu töten, sondern zu entwickeln und zu stärken suchen, etwa in der be- wunderungswürdigen Art Goethes. Dazu ist freilich nötig, daß er sie von Hause aus besitzt, daß seine Natur nicht ein Haufe herrenloser Triebe ist, sondern ein beherrschendes Willenszentrum hat. Dies pflegt in derartigen Fällen zu fehlen und die Furcht vor Zügelung verrät oft, daß es auch mit der Leidenschaft nicht gar so viel ist; denn wirkliches großes Feuer braucht nicht ge- schürt zu werden, mangelndes oder zeitweise aussetzendes Lebens- gefühl aber verlangt nach Steigerung durch allerhand natürliche oder unnatürliche Reizungen. — Auf der anderen Seite steht die Abtötung der Leidenschaft, die Sehnsucht und Bemühung, das
Krankheiten des Willens.
Feuer erlöschen zu machen. Auch sie ist ein Symptom der Willenserkrankung, entweder so, daß ein Freigeben der Leiden- schaften die Natur zerstören würde, oder so, daß die Ebbe der Lebenskraft Ruhe und Schlaf als normalen Zustand begehren lehrt. Über diesen Punkt ist vielfach auf das vortrefflichste ge- sprochen worden, so daß die kurze Hinweisung genügt.
Zweitens äußert sich das Symptom in dem Grade von Logik im Handeln. Man findet Menschen, und gerade unter den Freunden der Leidenschaft, die von Minute zu Minute leben, ohne einen Schatten von Konsequenz und Berechenbarkeit. Ein Impuls verdrängt den andern, jedem wird blind gefolgt; der Mensch ist die Beute jeder Laune, jedes noch so absurden oder schädlichen Verlangens. Manchmal sind solche Menschen tätig in dem Sinne, daß sie laufen und außer Atem kommen, aber nicht in dem Sinne, daß sie etwas zustande bringen. Sie wundern sich dann und klagen über den Mangel an Zeit und die Über- lastung mit Arbeit, merken aber nicht, daß ihnen weiter nichts fehlt als die Regelung ihrer Vielgeschäftigkeit durch einen starken Willen. Sie drehen sich im Kreise herum und kommen niemals zur Ruhe und Befriedigung; immer wieder taucht etwas Neues vor ihnen auf, das getan werden muß, bevor noch das Alte fertig ist, und dies Alte scheint falsch angefangen und wird zum zehnten- mal anders gewendet und versucht. Der zweite Moment macht zunichte, was der erste erreicht; sie wollen die Frucht ernten, nachdem sie sie eben erst gesät oder bevor sie sie gesät haben, verlangen Trauben im Frühling und Blüten im Winter. Ähnlich ist ihre Art zu genießen. Ihr künstlerischer Geschmack wechselt wie das Wetter. Stetigkeit ist ihnen ein ebenso unverständlicher Begriff wie Tiefe. Sie sind knisterndes Strohfeuer, manchmal amüsant, manchmal lästig, immer von geringer oder gar keiner Leistungsfähigkeit. — Auf der anderen Seite ist ein Übermaß und geflissentliches Betonen der Konsequenz im Handeln und Denken nicht minder verräterisch. Wessen Natur im ganzen stetig und logisch ist, der hat nicht nötig, die Konsequenz als Maßstab zu brauchen und als Ideal zu erstreben. Der Schwache fühlt, daß er sich Inkonsequenzen nicht erlauben darf. Manch- mal hält er sich dadurch, manchmal aber wird er schrullig und
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Erster Teil.
albern und rennt aus Konsequenz ins Wasser, statt über eine nahe Brücke zu gehen.
Drittens wäre zu schildern, wie der Willensschwache sein Verhältnis zu anderen Menschen gestaltet. Auch hier sehen wir Zügellosigkeit in der sogenannten Nächstenliebe einerseits und der Abwehr jeder Verbindung andererseits. Es gibt Nächstenliebe des Starken und des Schwachen, — diese Ausdrücke niemals als Bezeichnungen realer oder auch nur möglicher Personen ge- nommen, sondern als Zusammenfassungen, etwa wie Reiche und Arme, Dicke und Dünne — ; der Erfolg unterscheidet sie. Die erste macht den Beschenkten und Geber reich, die zweite verarmt beide. Wo die Nächstenliebe überhand nimmt, kann man stets auf Mangel an Willenskraft schließen. Der Schwache hat das Bedürfnis, sich für fremde Interessen und Ziele zu verbrauchen, statt mit sich Haus zu halten und das Minimum von Kraft, das er etwa noch zur Verfügung hat, zur Stärkung seiner Person zu verwenden, wodurch er vielleicht in den Stand gesetzt würde, als Geber sich selber zu bewahren und wertvollere Gaben spenden zu können. Das Treibende ist zuweilen wohl ein ungezügeltes Mitleid, eine krankhafte Empfindlichkeit für fremde Zustände, damit verbunden aber stets der Drang nach Beschäftigung um jeden Preis, nach Steigerung des Lebensgefühls durch nützliche oder nützlich scheinende Äußerungen ihrer Natur. Diese Hilf- reichen sind nicht imstande, sich selber eine Tätigkeit zu setzen, so gut sie das Planen und Vorsätze fassen verstehen, und stürzen sich deshalb in fremde Angelegenheiten hinein, die in einem sicheren Kreise sich halten und auch ihnen Festigkeit zu geben versprechen. Hierin liegt ein richtiger Instinkt. Man kann nichts Besseres wünschen, als daß die Menschen nach einem Schwerpunkt außer sich suchen, wenn sie selber kein Zentrum haben. Doch wird in allen Fällen, wo die Willens- schwäche schon zu weit vorgeschritten ist, dies Bestreben, durch Dienen nützlich und stark zu werden, durch die Hilfreichen selber vereitelt. Einmal nämlich erhebt sich infolge der Tätigkeit nur allzuschnell das Gefühl des eignen Wollens und Wesens und bereitet dem Helfen und Zusammengehen ein vorzeitiges Ende. Der helfende Nächste will dem andern seine Persönlichkeit
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aufdrängen und ihn nötigen, auf seine Weise zu handeln und glückhch zu sein, d. h. im Grunde auf beides zu verzichten. Zweitens wirkt diese Unterstützung des schwachen Willens nur eine Zeitlang; die Erschlaffung tritt wieder ein, sowie die fremde Angelegenheit den Reiz des Ungewohnten verloren hat; sie wird vernachlässigt und verdorben wie die eigne. Der Willensschwache übernimmt mit Vorliebe Dinge, denen er nicht gewachsen ist. Im Moment ist sein Kraftgefühl groß und spiegelt ihm das zu Tuende als leicht zu tun und durch den Entschluß schon halb getan vor. Kommt ihm dann das Mißverhältnis zum Bewußtsein, so ist er ebenso flink, die Aufgabe im Stich zu lassen, wie er eifrig war, sie in seine Hände zu bekommen. Natürlich nennt er nicht Er- kenntnis der Unfähigkeit als Grund seines Rücktritts, sondern sucht nach einem ihn ehrenden Vorwand. Im Zusammenhange mit der Selbstentäußerung und Sorge für andere steht die Eigen- tümlichkeit vieler Hilfreichen, daß sie an sich selber keine Freude und kein Genüge finden. Sie suchen beständig nach einer von außen her erwarteten Befriedigung und kleiden ihre Sehnsucht auf die mannigfachste Weise ein. Bald sind es Personen, bald Sachen, bald konkrete, erreichbare Gegenstände, von deren Besitz sie erhoffen, was ihnen doch niemals zuteil werden kann, bald vage Abstrakta z. B. das Glück, der Friede mit Gott oder dgl. Man hat gesagt, hierin drücke sich eine allgemeine menschliche Eigenschaft aus, und hat sie etwa als Erlösungsbedürfnis bezeich- net. Jeder strebe nach Erlösung seines Ichs und habe sie nötig. Wie weit das zutrifft, kann hier nicht untersucht werden; man müßte weit und tief greifen, um Ursprung und Wert der Erlösungs- idee, die heute wie früher eine ungeheuer mächtige ist, überschauen und beurteilen zu können. Gewiß ist, daß niemand, der nur ein wenig Gesundheit sein eigen nennt, sie als beherrschende, das Leben erfüllende Idee empfinden und verherrlichen kann. Der Starke hat keine Sehnsucht nach fremden Herrlichkeiten und unbekannten Hilfskräften; er will seine Natur vollendet, nicht aufgehoben, sein elendes Dasein erfüllt, nicht ausgelöscht sehen. Hiermit ist nicht gesagt, daß sich die Erfüllung an gewissen Punkten nicht durch das Einmünden in ein Höheres vollzöge; sofern man dies Erlösung nennt, wird man Recht tun, die Er-
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Erster Teil.
lösungsidee als eine notwendige zu bezeichnen. Auf sexuellem Gebiet findet etwas Ähnliches statt : durch ein fremdes Wesen wird eine Auslösung und Befreiung hervorgerufen, die dem Einzel- wesen durch sich selbst nicht erreichbar ist. Der Willenskranke ist dafür in erhöhtem Maße empfänglich und sucht nach sexueller Auslösung, oft ohne sie zu finden, als ein unsteter Wanderer. Zweifellos können durch sexuelle, aber auch andere äußere Er- fahrungen aus schwachen, sich selbst zerstörenden Individuen tätige, normal arbeitende Lebenselemente werden ; es wäre töricht dies deshalb leugnen zu wollen, weil gefühlvolle Herzen es über- trieben und ins Platte gezogen haben. Es wird sich dabei um Fälle handeln, wo eine disharmonische Naturanlage die vor- handenen Kräfte fesselt oder die Willensschwäche durch eine andere heilbare Krankheit hervorgerufen ist. Die fremde Natur gibt dann die Auflösung der Dissonanzen, weil sie konsonanter ist oder eine Art Ergänzung bildet oder ein für sie selber nicht bezeichnendes Verhältnis zu dem Beeinflußten gewinnt. Ähnlich können Ereignisse irgendwelcher Art einwirken. So kommt es vor, daß eine Aufgabe, die jemandem von außen gestellt wird, Kräfte entfesselt, von denen ihr Besitzer nichts wußte, und nutzlos verpuffte oder sich selber aufzehrende Kräfte ins Wohltätige und Wertvolle wendet. Sie schafft dann eine verbindende und lei- tende Zentralstelle, die bis dahin fehlte. — Auf der anderen Seite wiederum sind Willenskranke an der Geringschätzung und grund- sätzlichen Zurückweisung äußerer Einflüsse kenntlich. Sie wollen allein stehen und bemühen sich, Verbindungen mit anderen Menschen in keinem Sinne einzugehen, die natürlichen aber, die nun einmal jeder hat, so lose als möglich zu gestalten oder ganz abzubrechen. Das ist Armut, falls nicht an die Stelle ein- zelner Menschen die Allgemeinheit oder eine Aufgabe tritt, die auf irgendeine Weise der Allgemeinheit zugute kommt. Der wirkliche Einsiedler ist ein Kranker, nicht reich genug abgeben, nicht stolz genug empfangen, nicht stark genug Pflichten auf sich nehmen zu können. Grad und Art der Aufnahme- und Abgabefähigkeit entscheiden sowohl über den Reichtum einer Natur als auch über ihren Fonds von Kraft.
Im Zusammenhang mit dem eben besprochenen Punkt ist
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viertens die extreme Toleranz oder Intoleranz des Willensschwa- chen zu erwähnen. Der Starke ist tolerant gegen alles, was nicht seine Sphäre kreuzt, was nicht ihn und sein Werk schädigt; er ist es ebenso in Fragen der Kunst und Theorie wie des praktischen Lebens. Er ist aber einseitig und setzt durch, was er als recht erkannt hat, ist also intolerant in dem Sinne, daß er das Falsche nicht gelten und das Schlechte nicht bestehen läßt, daß er sich nicht klein und dünn macht, keinen allseitigen Geschmack ent- wickelt und niemals Vielleicht denkt und sagt, sobald er Ja oder Nein sagen kann und muß. Vor allem denkt er mehr an sich und sein Wollen als an seine Stellung zu fremden Dingen. Der Schwache ist fast immer vorwiegend negativ und beschäftigt sich mit fremden Angelegenheiten und Leistungen, sei es sie lobend und an sie sich anlehnend, sei es sie tadelnd und verkleinernd. Er ist Kritiker aus Prinzip und Vorliebe und hat oft scharfe Augen für die Mängel anderer; namentlich findet er gern, was er an sich bedauert und verwünscht, bei anderen wieder, denen er sich dann gleich oder überlegen fühlt, obgleich diese neben den Passivis Aktiva haben, die er nicht hat. Er ist von dem produktiven Kritiker stets leicht zu unterscheiden, da dieser fördern und er- ziehen will und es tut, auch wo er es nicht will, während jener nur feststellen oder hemmen, verspotten, verwirren will. Bei manchen Willenskranken ist die Intoleranz ein Überbleibsel ihrer Kraft, eine letzte Schanze gewissermaßen, die aufs heftigste verteidigt wird, eben weil sie die letzte ist. Es sind dies jene Barbaren, welche die Kultur an sich gezogen hat wie die Kerze den Nachtfalter. Sie taumeln ins Licht und verbrennen. Soweit sie Kultur haben, sind sie schwach und zugleich tolerant; soweit sie roh sind, sind sie stark und zugleich intolerant. Man weiß nicht, was man wünschen soll: sie blieben in der Dunkelheit oder sie würden ganz kultiviert und entarteten. Sie fühlen diese Halb- heit manchmal selber und suchen sich durch extreme Vorstöße, nach der einen oder nach der andern Seite, aus ihr zu befreien. Da werden denn wüste Orgien mit ausgesuchten Kulturgenüssen gehalten oder in ungerechter Unduldsamkeit alle Kulturgenüsse und Feinheiten beschimpft und weggeworfen. Man soll jedem Bilder- stürmer und Ketzerrichter mißtrauen; denn er ist entweder durch
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Erster Teil.
das, was er verfolgt, oder durch das, was er auf den Schild hebt, vergiftet und toll gemacht, statt das eine von sich abzutun und das andere sich zu assimilieren.
Nehmen wir alles zusammen, so ist das Resultat immer das- selbe, eine Verringerung oder falsche Richtung der Leistungs- fähigkeit. Man kann hierbei zwei Arten unterscheiden. Die einen fühlen sich schwach, wie sie es sind; bei den anderen ist die Verringerung der Kraft verbunden mit einer Vergrößerung der Aktionslust. Sie scheinen sich und andern stark und preisen die Kraft als solche. Man kann sie mit Pferden vergleichen, die durch zu große Anstrengung die gefaßte Kraft verloren haben und, ehe sie zusammenbrechen, wilde und mächtige Sätze machen. Der Unkundige hält für ein Zeichen überströmender Stärke und Lust, was letztes verzweifeltes Ringen der unterliegenden Kreatur ist. Manchmal sieht solche scheinbare Überkraft der paraly- tischen Euphorie zum Verwechseln ähnlich und ist doch wohl eine verwandte Erscheinung. Das Aufhören oder zeitweilige Aussetzen des Ermüdungsgefühls findet sich gar nicht selten dort, wo weiter nichts als das lenkende und moderierende Willens- zentrum fehlt oder versagt. Oft sind damit wohl nervöse Krank- heitserscheinungen verbunden, aber nötig ist dies nicht (wenig- stens können die Symptome dem Laien unmerkbar sein). Eine unnatürliche Verschnellerung des Lebenstempos dagegen ist stets damit verknüpft. Solche Menschen können und wollen nicht warten, weil sie den Begriff der Ruhe, im Sinne von Samm- lung und Aufspeicherung der Kräfte, nicht kennen. Sie zehren auf, ohne zu ersetzen und werden immer maßloser und unersätt- licher bei ihrem Beginnen, je näher sie ihrem Bankrott kommen. Was sie produzieren, trägt den Charakter der Überstürzung und Übertreibung an sich. Eine unentrinnbare Macht zwingt sie, jedes Problem, das sie angreifen, jede Wahrheit, die sie finden, jede Tätigkeit, die sie beginnen, ins Extrem und ins Absurde zu führen und dadurch vorzügliche Absichten, Theorien und Entschlüsse ins Schädliche und Unmögliche zu verkehren. Das übermäßige Kraftgefühl, das sie haben, bringt fast unvermeidlich eine Überschätzung ihres Könnens hervor. Sie bemessen ihre Leistungen nach der Höhe der Stimmung, die sie bei der Pro-
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duktion hatten, nach dem Wonnegefühl, mit dem sie schufen oder unter dem sie wirken. In den meisten Fällen stimmt aber der Erfolg nicht zu diesen Begleitumständen. Eine mittelmäßige Leistung, eine Armseligkeit ist oft alles was zutage kommt. Die mißlungenen und die eingebildeten Genies haben einen Stich ins Komische; denn ein auffälliges Mißverhältnis zwischen dem Glauben an sich und den Leistungen, die ihn begründen, wirkt komisch, gleichviel ob tragische Momente sich hinzugesellen oder nicht. Da die Welt einem solchen Manne natürlich die Ver- ehrung schuldig bleibt, auf die er Anspruch zu haben glaubt, so ist er auf deren Urteil erbittert. Er verachtet es, setzt erfolg- reiche Männer herab, baut auf die Nachwelt oder verzichtet auch auf deren Anerkennung, indem er zu dem Schlüsse kommt, daß seine Verdienste zu hoch ständen, als daß sie jemals gewürdigt werden könnten. Meist gesteht er freilich dergleichen nur sich selber. In der Menschenverachtung ist, wie ich meine, fast immer ein Korn Schwäche enthalten, da der Starke, wo er kann, zu achten sucht und sich gleich- und unterordnet; der Schwache aber hat, um sein Selbstgefühl bewahren zu können, nötig, sich wenigstens als Verächter über die andern zu stellen, da er es sonst nicht vermag. Deshalb wird Selbstüberschätzung (zu der jeder ungewöhnlich Begabte neigt) und Menschenverachtung (die sich hinzuzufinden pflegt) niemals ausarten bei solchen, die reale Leistungen aufweisen können; denn diese wirken und wirken zurück. Sie regeln notwendig die Beziehungen zwischen dem Wirkenden und der Welt, wenn auch nicht immer sofort. Der mit Recht Verkannte sucht noch auf eine andere Weise sein Bedürfnis nach Ansehen und Weihrauch zu befriedigen. Er wählt sich ein dankbareres und weniger kritisches Publikum. Da der Weg zu beschwerlich war und die Kräfte nicht ausreichten, ein wirklicher Held zu werden, entschädigt er sich dadurch, daß er etwa ein Held des Salons wird und in kleiner Münze, als geist- reiche Scherze, Anekdoten u. dgl. ausgibt, was für größere, ganze Leistungen hätte zusammengehalten werden sollen; oder er wird ein Maulheld, der tätigen Leuten Übles anhängt und hohe Politik im Redaktionszimmer oder in der Versammlung macht; oder ein Weiberheld, der sich groß fühlt, wenn viele Weiber zu ihm auf-
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blicken und ihm zu Willen sind; oder ein Wirtshausheld, der großen Mengen Alkohol tapfer standhält. Der Wüstling ist oft nichts als ein mißlungener großer Mann. Er will etwas Besonderes sein, sich auszeichnen vor der Herde, zu der er in der Tat nicht gehört. Da er durch nichts anderes sich hervortun kann, ver- sucht er es durch Wüstheit, manchmal auch durch wunderliches Gebahren, durch einen absurden Anzug oder andere auffallende Torheiten, die ihn natürlich ebenso tief unter wie entfernt von dem braven Herdentier stellen. Namentlich unter dem zweifel- haften Volk, das um die Kunst herumschwirrt, kann man solche unglücklich-lächerlichen Typen finden. Stets sehen dieselben herab auf fleißige Menschen, die mit Bescheidenheit ihre Pflicht tun und ihr Leben in gleichmäßiger Arbeit nutzen. Auch haben sie zuweilen in der Tat vor diesen ein wertvolles Vermögen voraus (wenn ich von dem Mut absehe, der dazu gehört, sein Leben nach eignem Geschmack zu leben, sei es auch als Landstreicher), das ist die Fähigkeit zu genießen. Menschen, die ihr Leben vertun und um ihr Lebenswerk sich gebracht haben, sind nicht selten reich an subtilen Seelenregungen. Sie haben Zugang zu seltenen Genüssen, zu Schönheiten und Zartheiten des Empfindens, von deren Möglichkeit tüchtige Alltagsmenschen nichts ahnen. Die Leistungsfähigkeit der sensiblen Nerven nimmt nicht mit der der motorischen zugleich ab, vielmehr steigert sie sich oft (vielleicht regelmäßig?). Die Gefühle werden sowohl stärker als auch nuancenreicher. Man kann wahre Genies des Genusses unter den Willensschwachen finden; manche sind für alle Arten der Genüsse in gleicher Weise empfänglich, manche nur für höhere, z. B. künstlerische, manche für gröbere, z. B. sexuelle. Sie pflegen diese Kunst mit Aufwendung ihres Restes von Kraft, erregen, ermüden, befriedigen sich genießend, während der Han- delnde sich beim Genießen nicht einsetzt und es nur als Pause und Ausnahme gelten läßt. Insofern läßt sich begreifen, daß große Hedoniker ihr Leben reicher und köstlicher finden als das eines aktiven Menschen und um keinen Preis mit einem solchen tauschen würden. Außerdem ergibt sich wohl, daß der Künstler verstehen muß, wenigstens auf Momente seine Energie in die Passivität, in Gefühlszustände, statt in Aktionen
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zu legen. Er muß also wohl zu seinen anderen Eigenschaften auch willenskrank sein; sonst kann er den Genießenden das Material zur Befriedigung des allgemein menschlichen Genuß- triebes durch seine Kunst nicht geben, auch kann er Gefühls- zustände, namentlich extreme, nicht darstellen. Die Ausschweifung (extreme Ausbildung der Genußfähigkeit ist Ausschweifung) gehört meiner Meinung nach zu den wichtigsten, auch für den Künstler wichtigsten psychologischen Fragen.
Hier müßte nun von der Kunst überhaupt in ihrer Beziehung zur Willensstärke die Rede sein, ein Thema, das ich nur berühren kann. Verzichtet nicht der Künstler und noch mehr der Emp- fänger auf das Handeln? Ist nicht Kunst eine Abirrung, eine unnatürliche Befriedigung des Aktionsbedürfnisses? Der Künst- ler setzt sein Wollen nicht direkt in die Tat um, sondern beschreibt oder verkörpert es in einem Kunstwerk, d. h. in einer stilisierten Wiederholung gewisser sichtbarer und hörbarer Eindrücke der äußeren und fühlbarer der inneren Welt. Er stellt ein Bild seines Strebens heraus. Warum handelt er nicht direkt? Geht sein Streben so hoch, daß es in der Realität nur als Idee auftreten kann? Aber darin liegt vielleicht das Eingeständnis einer ein- seitig ausgebildeten Vorstellungs- und Genußkraft und damit auch einer verringerten Willenskraft. Oder ist er erhaben über das Handeln ? Aber das wäre nur eine Umschreibung der Schwäche. Nun sagt man, das künstlerische Schaffen sei eine höhere Art des Handelns, nicht ein Verzicht auf dasselbe. Hiermit muß man zweifellos übereinstimmen und hinzufügen, daß umgekehrt in jedem praktischen Handeln auch ein künstlerisches Moment liegt und dasselbe sich so steigern läßt, daß der Handelnde eben- solchen Anspruch auf den Namen eines Künstlers hat, wie dieser auf den eines Handelnden. Das geben hochmütige Künstler nicht gern zu. Man setzt heute oft den Künstler an die Spitze der menschlichen Entwicklung, zeichnet unter den Künstlern noch den Poeten und unter diesen den Dramatiker aus. Es läuft darauf hinaus, daß keine höhere und stärkere Lebensäuße- rung eines Menschen denkbar sei als die Abfassung eines Theater- stücks. Wenn nun auch jeder Vernünftige weit entfernt sein wird, die künstlerische Tätigkeit im allgemeinen und die dra-
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matische im besonderen gering zu schätzen, so bleibt doch einiges Bedenkliche an einer solchen Aufstellung. Vor allem dürfte die Meinung irrig sein, daß der Künstler (und, wie einige hinzufügen, der Philosoph) schaffe, der Mensch des praktischen Lebens aber nicht. Wenn das Kunstwerk und das philosophische System eine Schöpfung (d. h. eine Organisierung chaotischer Elemente oder eine Bereicherung der vorhandenen Daseinselemente) ist, so ist es jede Handlung ebenso. In jeder, auch der kleinsten Handlung wiederholt sich der Schöpfungsakt; es wird etwas Neues geboren. Nur der Wert des Entstehenden kann in Frage kommen. Vielleicht wirkt aber der Künstler weiter und tiefer, als es dem Handelnden jemals möglich ist? Das scheint unbestreitbar, obgleich sich doch auch manches einwenden läßt. — Doch ziehe ich es vor, mich nicht weiter auf dies schlüpfrige Gebiet zu wagen, sondern mit der Andeutung der Schwierigkeiten, die mir aufgefallen sind, mich zufrieden zu geben. Gewiß sind andere eher imstande als ich sie zu lösen.
An vielen Künstlern, sowie an anderen tätigen Mitgliedern einer Kultur kann man bemerken, daß unter Umständen gewisse Kräfte einer Natur von den zentralen seelischen Funktionen unabhängig sind, wenn man mir eine so vage Ausdrucksweise nachsehen will. Letztere sind nicht mehr in Ordnung, versehen ihren Dienst mangelhaft oder nur mit äußerer Nachhilfe; aber die ersteren sind gesund und bringen, vielleicht durch Vererbung gesteigert, bewundernswerte Leistungen hervor. Man denke, um einen beliebigen Typus herauszugreifen, an den Goetheschen Tasso. Er ist ein nicht lebensfähiger Mensch, weiß mit den ein- fachsten Dingen des Lebens nicht fertig zu werden, verdirbt sich durch krankhafte Eigentümlichkeiten jede Möglichkeit einer ge- deihlichen Existenz und ist doch ein ganzer Künstler. Die Fähig- keiten des Gesunden, Übersicht, Festigkeit usw., die ihm sonst durchaus fehlen, stellen sich sofort ein, wenn er seinem Gedicht sich gegenüber befindet. So gibt es viele, die zügellos oder schlaff in allem sind, nur in dem einzigen Falle nicht, wo ihr Beruf, der innere oder äußere, in Frage kommt. Sie gleichen einer Violine, auf der drei Saiten gesprungen sind und nur die vierte noch tönt, diese aber mit solcher Schönheit und Intensität,
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daß man die drei kaum vermißt. So fördern sie wirklich ihr Bestes zutage, vorausgesetzt, daß erstens ihre wertvolle Fähigkeit intakt geblieben ist und nicht eine nebensächliche Eigenschaft, und daß zweitens die entarteten Funktionen den Menschen nicht zugrunde richten, bevor er sich noch hat ausleben können. In gewissem Sinne kann man sagen, daß wir alle auf diese Art nur teilweise gesund sind. Wir alle sind Spezialisten, bei denen einige Fähigkeiten unnatürlich entwickelt sind und die ganze Kraft für ihre Erhaltung und Steigerung verbrauchen, während andere leer ausgehen und absterben. Daher die Hilflosigkeit und Leistungsunfähigkeit in Lagen, die nicht genau unserer Einseitig- keit entsprechen. Es ist wohl richtig, daß eine solche Verwand- lung der Menschen in Rädchen und Partikelchen, die ineinander passen, für die Kultur unerläßlich ist; aber man sollte nicht blind sein für die Gefahr, die eine Lähmung und Entartung wichtiger Lebensfunktionen für den einzelnen und unter Umständen für die Gesamtheit mit sich bringt. Freilich sorgt die Natur dafür, daß zuweit abirrende Typen sich nicht fortpflanzen.
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Die zweite Form der Erkrankung ist der Mangel an Instinkt. Auch sie ist Krankheit des Willens; denn der Willensstarke han- delt mit Sicherheit nach unmittelbaren und unsichtbaren Maß- stäben, nicht auf Grund zweifelnder Berechnung. Natürlich sind hier nur die wichtigsten und umfassendsten Handlungen gemeint, die Richtung einer Natur im ganzen und die aus ihr resultierende Gestaltung des äußeren und inneren Lebens. Hier drängen sich nun wieder philosophische und psychologische Fragen allgemei- nerer Art auf, die ich notdürftig zu beantworten mich begnügen muß. Zunächst, was nennen wir denn Instinkt? Etwa: das Kennen und Ausführen der zum Leben notwendigen oder förder- lichen Tätigkeiten ohne Vermittlung der Vernunft. Was ist Ver- nunft? Etwa: die Kraft, mit Hilfe des Bewußtseins und seiner
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Erster Teil.
Inhalte und Formen (Erfahrung und Denken) für die Erhaltung und Förderung des Lebens zu wirken. Ferner, wie verhält sie sich zum Instinkt? Darauf antworten die Psychologen: sie ist von Hause aus sein Helfer und Diener, dann zu einer selbständigen Kraft, zu seinem Rivalen und unter Umständen zu seinem Tyrannen und Zerstörer geworden. Hieran schließt sich die Frage, ob der menschliche Instinkt überhaupt nachläßt oder sich steigert, ob wachsende Kultur sein Gebiet einschränkt oder ausdehnt und was von beidem für die menschliche Entwicklung wünschenswert ist. Dies wird man von dem einen philosophischen Standpunkt aus anders beantworten als von dem andern, und jede Beantwortung wird nicht viel mehr enthalten als ein Zeugnis über des Beantworters vitale Veranlagung. Ich wäre geneigt, mich in aller Bescheidenheit so auszusprechen: die Tendenz zum Rück- gang des Instinkts ist unverkennbar; er reicht für die höheren Erfordernisse des Lebens nicht aus und unterstützt die kompli- zierte Natur nicht hinlänglich. Trotzdem scheint die Lebens- und Fortentwicklungsfähigkeit menschlicher Kultur davon abzu- hängen, daß es gelingt, diesen Rückgang aufzuhalten und dem Instinkt beständig neues Gebiet zu erobern, indem alles vernunft- mäßig Erworbene schrittweise in instinktmäßig Geübtes umge- wandelt wird. Nur das, was die Rasse auf die Dauer nicht schädigt, sondern sogar lebenstüchtiger macht, wird sich einverleiben und zum Instinkt machen lassen. Eine Epoche wie die heutige, die große Unsicherheit des Instinkts einerseits und viel Doktrinen und Lebensexperimente andererseits zeigt, wird das Resultat nicht einverleibbarer, weil zerstörender geistiger Erwerbungen sein, zugleich aber auch der Schauplatz neuer Entdeckungen und Versuche. Hat sich eine solche Epoche neben dem hohen Stand der Erkenntnis (vornehmlich der Selbsterkenntnis) gewisse grund- legende Instinkte und die erforderliche Aktivität zu bewahren gewußt oder versteht sie, beides sich anzuzüchten unter Zuhilfe- nahme der Erkenntnis, so sind die oft Verfeindeten, Instinkt und Vernunft, einmal wieder zu ihrem ursprünglichen Verhältnis zurückgekehrt und werden fruchtbare neue Entwicklungsformen gemeinsam schaffen. Hierauf wird später zurückzukommen sein. Man hat oft zwei Arten Menschen unterschieden, naive und
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nicht naive, Menschen des Temperaments und Menschen der Reflexion. Wenn man sich gegenwärtig hält, daß solche Ent- gegensetzungen nur relative Wahrheit haben, weil sie die unend- liche Mannigfaltigkeit der Realität vergewaltigen, ist die Unter- scheidung gut und nützlich. Die ersteren haben jene unmittelbare Sicherheit des Handelns, die wir als Instinkt bezeichnen. Ist ihre Natur im Gleichgewicht und ihr Temperament durch gesunde Funktion des zentralen Willens moderiert, so führen sie durch, was sie wollen und vermögen dies, weil sie nur wollen, was sich mit Notwendigkeit aus ihrer Natur ergibt, also was sie können. Sie sind Herren ihres Schicksals, soweit es durch das Individuum gemacht wird. Es fehlt ihnen dabei durchaus an Selbstbeurteilung, die sie nicht nötig haben, während sie die Haupttugend des anderen Typus ist, wofern er gelungen und lebensfähig ist. Bei ihm geht das Tun und Empfinden unter Begleitung oder auf Geheiß des Bewußtseins von statten. Für die primitiven Lebensfunktionen zwar, geschlechtliche, Ernährungsfunktionen usw., ist auch bei ihm der Instinkt leitend (wenn nicht, so haben wir es mit einem Fall zu tun, der nicht in unsere Betrachtung gehört); aber bei schwierigeren und komplizierteren Entschließungen verläßt ihn der Instinkt und an seine Stelle tritt bewußte Vernunft. Ist diese bei einem solchen Reflektierenden hoch und fein entwickelt, so werden theoretische Erwägungen, unterstützt durch praktische Erfahrung bis zu einem gewissen Grade den Instinkt ersetzen. Ist sie es aber nicht, fehlt die vollkommene Besonnenheit und Selbstbeurteilung, so ist der Mensch zwei Gefahren ausgesetzt, erstens, daß er sich über sein Wollen, Wissen, Können täuscht und in der Gestaltung und Führung seines Lebens sich vergreift, zweitens, daß er unentschlossen und schwankend ist, zur unrechten Zeit bald handelt, bald sich bedenkt. In ihm spricht nicht eine innere Stimme, ihn treibt nicht ein sicherer Zug zu dem einen hin, von dem andern weg, wie jenen ersteren, oder wenigstens tritt die Stimme nicht deutlich und richtunggebend hervor; er ist auf die Deutung ungewisser Regungen oder allein auf Überlegungen und Experimente angewiesen (immer für große Entschließungen und ideale Fälle verstanden). Den beiden Gefahren sehen wir denn auch eine große Zahl oft wertvoller Menschen erliegen; sie
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leisten nichts oder wenig oder nach einer falschen Richtung hin, ganz wie die früher beschriebenen Willensschwachen, obgleich es ihnen nicht eigentlich an Kraft fehlt, sondern nur an der instinktiven Sicherheit in der Verwertung ihrer Kraft. Manch- mal ist der negative, manchmal der positive Instinkt besser er- halten. Im ersten Falle vermeidet der Mensch falsche Schritte, weist ungünstige Einwirkungen ab, findet aber für selbständige Handlungen keine Unterstützung bei dem Instinkt; man mag hierbei an das Daimonion des Sokrates denken. Im zweiten Fall ist das Tun intakt und sicher, aber die warnende Stimme fehlt; Beispiel ist der Tatkräftige, der seine Kräfte nicht zu schonen und zur rechten Zeit Halt zu machen weiß.
Ich betrachte als einen Ausfluß der Instinktunsicherheit den Dilettantismus, wofern er bei begabten und in gewissem Sinne tatkräftigen Naturen auftritt. Wer von Hause aus schwach und unzulänglich ist, kann es natürlich weder im Leben noch in der Kunst und Wissenschaft zu etwas bringen; er ist zur Pfuscherei verurteilt. Aber wie kommt es, daß reiche und vorzügliche Menschen ihr Leben lang Pfuscher bleiben, ihre Stelle nicht finden, ihr Gewerbe nicht mit Kraft ergreifen, sondern herum- suchen und herumprobieren, ohne Zweck und Glück für sich und andere? Immer wenn er kaum begonnen, jagt ihn fort der Meister: heißt es in einem Lied vom Häuschen, aus dem nichts wird. Es sind nicht solche, die aus Schwäche unstet sind. Nein, die Mehrzahl ist nicht schwach; sie weiß nur nicht, wohin ihre Natur will. Sie tastet nach einer Bestimmung ihres Wesens; sie argwöhnt bei jeder Tätigkeit, die sie angefangen, es sei eine falsche, bei jeder Lebenslage, in die sie sich begibt oder gebracht wird, es sei eine unpassende. Es sind verfehlte Existenzen, sagt man. Ich freue mich, bei Goethe einen Ausspruch zu finden, der in eine ähnliche Richtung geht und für unsere Betrachtungen von großem Interesse ist. Goethe sagt in den Annalen, der Wilhelm Meister sei entsprungen ,,aus einem dunkeln Vorgefühl der großen Wahrheit: daß der Mensch oft etwas versuchen möchte, wozu ihm Anlage von der Natur versagt ist, unter- nehmen und ausüben möchte, wozu ihm Fertigkeit nicht werden kann; ein inneres Gefühl warnt ihn abzustehen, er kann aber
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mit sich nicht ins klare kommen, und wird auf falschem Wege zu falschem Zwecke getrieben, ohne daß er weiß wie es zugeht. Hierzu kann alles gerechnet werden, was man falsche Tendenz, Dilettantismus usw. genannt hat. Geht ihm hierüber von Zeit zu Zeit ein halbes Licht auf, so entsteht ein Gefühl, das an Ver- zweiflung grenzt, und doch läßt er sich wieder gelegentlich von der Welle, nur halb widerstrebend, fortreißen. Gar viele ver- geuden hierdurch den schönsten Teil ihres Lebens, und verfallen zuletzt in wundersamen Trübsinn, Und doch ist es möglich, daß alle die falschen Schritte zu einem unschätzbaren Guten hinführen: eine Ahnung, die sich im Wilhelm Meister immer mehr entfaltet, aufklärt und betätigt, ja sich zuletzt mit klaren Worten ausspricht: Du kommst m.ir vor wie Saul, der Sohn Kis, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein König- reich fand." Es ist möglich, ja, aber nur dann, wenn die Unsicherheit eben nicht bis auf den Grund der Natur hinab- geht, sondern nur oberflächlich und zeitweilig ist. Der Dilettant findet kein Königreich, oder anders ausgedrückt, er findet nicht sich selber. Da es Wilhelm Meister und Goethe mit ihm aus allem Tasten heraus findet, ist er kein Dilettant, sogar dessen striktes Gegenteil; sein Instinkt ist gesund oder gesundet wenig- stens mehr und mehr; aber seine bewußte Vernunft irrt und ist durch mitwirkende Triebe zugleich so mächtig, daß sie die leise Stimme des Instinkts übertönt. Dies wird wohl die Regel bei ungewöhnlichen Naturen sein, die sich auf besondere Weise ent- wickeln. Der Maßstab, den die Erwägung sich bildet, wird hergenommen von Erfahrungen und deren Verknüpfung und Anwendung. Diese Erfahrung ist wohl ausreichend für Ent- wicklungen, die in einer oft erprobten Bahn sich bewegen, aber nicht für solche, die anders, vielleicht absolut neu verlaufen. An sich ist ja jede Natur eine Neuheit und ein Unikum, aber die meisten sind es in unwesentlichen Punkten; deshalb geht ihr Leben im ganzen den erwarteten gleichmäßigen Weg, der leicht aufzufinden und einzuhalten ist. Die bevorzugte Natur ist in ihrer wichtigsten Fähigkeit neu geartet; sie stellt eine durch Vererbung, also ein von unserer Erwägung vorläufig unabhän- giges Moment, gesteigerte Kraft dar, deren Verwertung in der
Horneffer, Das klassische Ideal.
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Regel nicht erschlossen werden kann, sondern ausprobiert werden rnuß. Daher das Irren und Versuchen, das in der Entwicklung hervorragender Männer so oft eine Rolle spielt, daher der Wechsel in den Anschauungen und Idealen, das Leiden unter Zweifeln und Verzweiflung. Kurz, eine Blindheit und Ungewißheit ist diesen Naturen eigen; die aber desto schneller und sicherer überwunden wird, je besser der Strebende vom Instinkt unterstützt wird. Dessen Fehlen oder geringe Kraft hat in solchen Fällen unvermeid- lich den Ruin zur Folge.
Goethe, der ja immer seine Gefahren beschrieb und dadurch überwand, rechnete also auch den Dilettantismus unter dieselben und hatte doch wohl recht damit. Die Unsicherheit seiner Natur war eine sehr große, sie quälte und hemmte ihn oft und bis zu einem verhältnismäßig hohen Alter. Vielleicht hat er bis an sein Ende Stunden gehabt, in denen es ihm nicht klar war, wohin sich eigentlich der Schwerpunkt seiner Natur neigte. Daran war nun wohl der Überreichtum an Begabungen schuld, deren jede ihn in eine andere Richtung zog. Doch sind widersprechende und ziemlich gleich starke Bestrebungen schon die Folge einer Unsicherheit des Instinkts. Denn eine Natur, die sicher vom Instinkt geleitet wird, bringt alle Triebe in eine Richtung, auch wenn es noch so viele sind. Je weiter die Natur ist, desto fester muß freilich der Ring sein, der sie zusammenhält, und desto stärker das Zentrum, auf das alles hinzielt. Eine mächtige zentripetale Gewalt ist nötig, die der stets vorhandenen zentrifugalen die Wage hält. Goethes Natur war dadurch so leistungsfähig, daß sie in bestimm- ten Augenblicken, wenn auch nur für diese Augenblicke, voll- kommen einheitlich war, daß alles Dezentralisierende und Des- organisierende verschwand unter einem einzigen großen Willen. Es ist wie eine Flutwelle, die sich dann über alle seine verschieden- artigen Interessen, Tätigkeiten, Vermögen ergießt, an die er sich hinzugeben pflegte. Eine schöpferische Gewalt rafft sie alle zusammen zu einer befreienden Tat. Danach streben die Sonder- geister wieder auseinander und quälen ihn wie vorher durch das Gefühl des Unvermögens, des Zerflatterns. Goethe war nur in Momenten Herr über sich; aber dann war er es ganz. Manche anderen, reichen und großen Naturen sind es niemals.
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Man sollte vorsichtig sein im Preisen und Erstreben der Viel- seitigkeit. Sie ist nur dann wünschenswert, wenn sie von einem starken Willen kompensiert wird. Jeder sollte nur soviel Kräfte in sich entwickeln, nur soviel Bildung sich erwerben, als er ver- tragen, d. h. zu Taten verarbeiten kann. Andernfalls belastet er sich unnütz, lähmt sich und gerät in Dilettantismus und schließ- lich in ,, wundersamen Trübsinn". Man eifert gerade heute wieder gegen die Einseitigkeit und Unbildung, wünscht, daß die Gelehrten am Kulturleben tätigen Anteil nehmen, daß die Künstler und die Menschen des praktischen Lebens ihre Jahre mit vielem Lesen und Nachdenken hinbringen. Mir scheint, man geht hier übers Ziel hinaus und trägt mehr zur Verringerung der Leistungsfähig- keit bei als zur Erweiterung und Bildung der Persönlichkeiten. Außerdem nährt man die Einbildung und Topfguckerei. Es ist doch leider eine Tatsache, daß nicht einmal solche, die in einem Fach wirklich tüchtig sind und also wissen, was Können und Urteil ist, mit Bescheidenheit über Dinge sich äußern, die weit von ihrem Gebiet abliegen. Überdies kann ich nicht finden, daß man ein größeres Anrecht auf den Namen eines Kulturmenschen hat, wenn man in alles hineingesehen und sich hineingemischt, als wenn man einen festen, stetigen Willen in sich entwickelt und durch ihn seine Natur organisiert hat. Wer jedoch keine Persönlichkeit, sondern nur Instrument, Teil von solchen sein will, darf mehr wissen und treiben, als er sich einverleiben und für sich lebendig machen kann. So mag ein Philologe ganze Literaturen verschlucken, ohne daß er irgendwelche Wirkungen derselben auf seine Persönlichkeit erkennen läßt. Er will nichts für sich gewinnen, sondern will für andere sammeln, die dann vielleicht von einem Werke mehr Vorteil haben als er von tau- senden.
Bei ungewöhnlichen Naturen und, wie wir hinzufügen können, in neuernden Epochen, ist also die Gefahr der Instinkterkrankung und des Dilettantismus besonders groß. Sie müssen sich, wie gesagt, ihren Weg mühsam suchen, und ihr Naturell pflegt sie noch mehr, als es nötig und förderlich ist, zur Selbständigkeit zu ermuntern. Sie wollen auch da, wo sie es ohne Schaden könnten, keine fertigen Erkenntnisse und andere Bildungselemente von
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der Überlieferung annehmen, sondern alles selbst finden und ver- suchen. Sie fangen die Kulturentwicklung gewissermaßen von neuem an und stellen zunächst einmal alles Gewonnene in Frage. Was ihnen als fest und unverrückbar bezeichnet wird, prüfen sie auf seine Haltbarkeit, indem sie daran rütteln und es zu zerbrechen suchen. Im Grunde glauben sie nicht, daß die ge- wonnenen Resultate auch für sie Geltung haben, und fügen sich erst nach erbittertem Kampfe in dieselben. Nun hat ein über- liefertes Kulturelement in der Tat erst dann Geltung für den einzelnen, wenn er es für sich neu entdeckt und anwendbar gemacht hat. Nur ein solches bildet ihn. Es kommt also für einen nach höchster und tiefster Bildung Strebenden, einen Künst- ler, Philosophen, Herrscher, Gesetzgeber, darauf an, möglichst viele, ja wenn es geht alle Kulturresultate zu erleben und ge- wissermaßen neu zu finden. Wie nahe liegt es daher^ daß er nicht zum Ziele, d. h. zum vollen Besitz und zur Mehrung des Ererbten kommt, sondern in der Unreife und im Dilettantismus stecken bleibt ! E r s t e n s ist es unmöglich, alle Erfahrungen zu machen; er muß auswählen und verstehen, fremde Erfah- rungen, sei es als Kenntnisse oder als Lebensformen, sich zunutze zu machen, als ob es seine eignen wären. Namentlich gilt dies für solche Erfahrungen, die ihn wenig oder nichts angehen; wer sich für Dinge ausgibt, die nicht gerade ihn vorwärts bringen, hat wenig Aussicht, auf einer so langen Bahn zum Ende zu kom- men. Ferner gilt es für solche Erfahrungen, die vorläufig als besessen angenommen werden müssen, damit andere überhaupt gemacht werden können; denn man kann nicht alles zu gleicher Zeit und muß überall ungeprüfte Resultate zeitweilig benutzen, bis man dazu gelangt, auch sie zu prüfen. Beide Fähigkeiten finden sich fast nur bei Naturen, die durch einen sicheren Instinkt unterstützt werden. — Zweitens pflegen bedeutende Naturen trotz eines Strebens nach Allseitigkeit eine übermäßige Neigung zu Einseitigkeiten zu haben. Sie sind nur gewissen, immer einander ähnlichen Erfahrungen überhaupt zugänglich und gehen an den entgegengesetzten, den komplementären achtlos vorüber. So kommen sie zu beinahe wertlosen Resultaten und werden eigensinnig statt groß. — Drittens bringt ihr Handwerk das
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geistige und leibliche Wohl in Gefahr und richtet sie leicht zugrunde, ehe sie dazu gelangen, die Früchte ihrer Saaten zu ernten, die Schlüsse aus ihren Prämissen zu ziehen. Wer schwer belehrbar ist, oft wiederholte Erfahrungen und harte Schläge nötig hat, um zu begreifen und sich zurecht zu finden, wird kaum heil durchkommen, oder wird doch zu spät klug werden und wünschen, das Leben neu anfangen zu können, nachdem es abgelaufen ist. Wie zahlreich sind solche Verspäteten! Der Grund ist aber immer, daß der Instinkt nicht sicher genug war und die suchende Erwägung zu wenig unterstützte. Auf das Feinste und Beste muß gerade der Erhaltungsinstinkt arbeiten, z. B. auch in solchen Fällen, wo gefährliche Experimente, sei es mit sich selber oder mit anderen Personen oder mit Explosiv- stoffen gemacht werden sollen. Der Instinkt wird lehren, sie zu umgehen oder mit äußerster Vorsicht auszuführen oder ihren gesundheitsschädlichen Folgen durch Gegenmittel zuvorzukom- men. Bei schwierigen Expeditionen gehen mehr Entdecker zugrunde, als man ahnt, und oft ohne ihr Problem gelöst zu haben. Glücklichere Erben kommen nach ihnen, die die Lehren aus dem unklugen Wagemut zu ziehen wissen, die sicherer sind bei der Wahl ihrer Ausrüstungsgegenstände oder einsehen, daß der Weg ein anderer sein oder daß man auf die Unternehmung überhaupt verzichten mioß.
Schließlich haben Naturen dieser Art oft keine Fähigkeit und Lust zur Methode. Sie gehen nicht stufenweise vorwärts, sondern möchten das Letzte und Höchste gleich im Anfang haben, suchen es mit Gewalt an sich zu reißen und wissen nicht, daß es dadurch nur um so weiter vor ihnen zurückweicht. Sie vergessen den Grund zu legen und wollen nicht in einer langen entsagungs- reichen Schule sich aufbauen. Sie sind stark im Entwerfen, in plötzlichen großen Antrieben; aber Kraft und Sicherheit verlassen sie, wenn sie vollenden sollen, was sie versprochen und angepackt haben. Es fehlt auch hier an einem deutlich redenden Instinkt, der sie führte und fest bei der einmal gestellten und als richtig erkannten Aufgabe hielte. Sie zweifeln, ob sie mit ihrem Vor- haben auf dem ihnen bestimmten Wege sind, und werden von Impulsen und Erwägungen hin und wieder abgetrieben. Sie sind
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ohne Methode, wie ich es nenne. Diese Methode braucht nicht äußerhch sichtbar zu sein, sondern kann mit Sprüngen in der Entwicklung und scheinbaren Inkonsequenzen der Lebensführung verknüpft sein. Goethe ist ein großes Muster von Methode. Mit seiner Selbständigkeit, die ihn nur Selbsterfahrenes und Selbstdurchlebtes begreifen und benutzen ließ, verband sich eine erstaunliche Aufnahmelust und Aufnahmefähigkeit. Er war belehrbar in jedem Sinne und ging den langen Weg des Lernens ohne Abkürzungen und ohne Ungeduld. Sein Instinkt ließ ihn ein so reiches Material wie möglich heranschaffen, um eigne Resultate zu erzielen und zu beschleunigen. So gibt es wohl kaum eine menschliche Erfahrung, auf künstlerischem, wissen- schaftlichem und praktischem Gebiet, die er nicht gemacht und verwertet hätte.
Die Unentschlossenheit, soweit sie Instinktunsicherheit ist, gehört hierher. Die innere Stimme, die uns nicht nur bei mora- lischen sondern allen Entschließungen wichtiger Art leiten sollte, spricht bei dem Unentschlossenen nicht deutlich oder gar nicht. Er sucht deshalb nach anderen Direktiven für sein Handeln, entweder indem er das Für und Wider theoretisch abwägt (womit er in die Brüche kommen muß, falls er sein Naturell nicht genau übersieht und als Hauptfaktor in die Rechnung aufnimmt), oder indem er die Handlungsweisen anderer vergleicht und sie nach- ahmt (womit er ebenfalls nur in gewissen Fällen auskommen wird) . Beide Male kommt der Entschluß, wenn überhaupt, so nur müh- sam zustande; vielleicht bringt ihn äußere Nötigung hervor, die der Unentschlossene, um überhaupt zu handeln, oft aufsucht oder sich gern gefallen läßt. In jedem Falle fehlt ihm die Festig- keit, die ein vom Instinkt geforderter oder befürworteter Entschluß hat. Gewöhnlich ist jener ein Kompromiß, ist nicht endgültig, sondern gestattet ein Zurück, ist mehr eine Frage als eine Antwort. Fast immer folgt der Ausführung eines solchen Entschlusses die Reue; denn man könnte sich doch geirrt haben! Es wäre doch gewiß noch eine bessere Wahl möglich gewesen! So sucht denn der Unentschlossene ungeschehen zu machen, was möglich ist, bedauert, beschimpft und verleugnet, was sich nicht mehr ändern läßt. Das Unvollkommene und, wenn man will. Falsche jeder
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Tat nimmt der aus dem Instinkt heraus Handelnde willig auf sich und steht für sie ein; der Unentschlossene aber sieht, nach- dem er gehandelt hat, nur noch das Falsche seiner Tat und würde doch, wenn sie anders ausgefallen wäre, den Entschluß ebenso sehr bereuen. Wie verhängnisvoll auch in der Kunst ein solcher Mangel werden kann, sieht man etwa an Schiller. Dieser war eigentlich eine entschiedene Natur; aber beim künstlerischen Produzieren kam ein Schwanken über ihn, das seinen Werken nur allzusehr geschadet hat. Es verstärkte sich wohl gegen das Ende seines Lebens und ging daraus hervor, daß seine künst- lerischen Absichten nicht mit voller Klarheit und Unzweideutig- keit vor ihm erschienen. Irgendwo in der Tiefe seiner Natur lag alles bereit, was zu der Schöpfung nötig war, aber er kam mit seinem Wollen nicht hinunter in diese Tiefe; er tastete an sich herum, änderte, fragte sich und andere, wie er am besten verführe, und wollte eigentlich nur erfahren und erhorchen, was in ihm selber schlummerte. Bald meinte er dann, die eine, bald, die andere Ausführung entspräche seiner undeutlich gefühlten Ab- sicht. Dabei waren grobe Irrtümer über sein eigentliches Wollen und eine gewisse Oberflächlichkeit an Stellen, wo der Instinkt ganz schwieg und nur die Erwägung dichtete, unvermeidlich. Wie anders Goethe, eine so vielfach unentschlossene Natur! Aber wenn einmal seine Natur den Samen empfangen und das Kind ausgetragen hatte, gab es kein Zurück und kein Verändern mehr. Es kam reif und ganz ans Tageslicht. Oft wurden freilich seine Pläne nicht reif und gingen als Frühgeburten verloren; aber ein künstliches Beleben halber Geburten, ein Nachhelfen durch Theorien und andere unzureichende Mittel, wie es Schiller in seiner Art hatte, kannte er nicht.
Etwas Ähnliches ist es wohl, wenn für ethische, psychologische, religiöse Kardinalfragen die Entscheidung der Vernunft angerufen wird. Wer z. B. verkennt, daß die sexuellen Beziehungen von Mann und Weib vitalen Gesetzen unterliegen, die keine Deduktion und kein Versammlungsbeschluß ändern kann, beweist nichts weiter, als daß sein Instinkt an diesem Punkte versagt. So wollen uns weibliche Wesen, die instinktkrank sind oder deren Natur noch nicht zu Wort gekommen ist, über die Weiblichkeit belehren
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und fühlen nicht, daß sie uns höchstens über ihre eigene Lage belehren. Es gibt heute viel derartige Verirrungen; sie pflegen mehr die heiteren als die ernsten Folgen der Instinktunsicherheit zu veranschaulichen.
Wir kommen zu den Dilettanten im eigentlichen Sinne des Worts. Goethe, Schiller und Heinrich Meyer haben sich längere Zeit mit dem Plane eines gemeinsamen Werkes über den Dilettan- tismus in den Künsten getragen. Die Ausführung unterblieb erklärlicherweise, aber Schemata und einzelne Gedanken wurden aufgezeichnet, die vortrefflich sind und von jedem Kunst- beflissenen auswendig gelernt werden sollten. Unser Problem berühren sie nicht; sie reden vom Dilettantismus der Kinder, der Weiber, der Reichen, der Vornehmen, aber nicht der Willens- kranken. Der Nachahmungstrieb und die natürliche Produktions- lust des Menschen werden als Grund für den Dilettantismus an- geführt, pathologische Gründe nicht herangezogen. Überhaupt kam es weniger auf die Erklärung der Erscheinung an als auf ihre Formen, ihre Geschichte, ihre Vorteile und Nachteile für die Kunst. Es werden solche Dilettanten unterschieden, die vom Technischen ausgehen und in ihm verharren (wie manche Zeich- ner, Klavierspieler usw.) und solche, die vom Stoff, vom Gefühl ausgehen und nie zur Technik kommen. Mir scheinen die ersteren verhältnismäßig unschuldig, wenigstens wenn man heutige Zu- stände im Auge hat, die letzteren unbedingt gefährlicher; auch sind die Dilettanten aus Instinktschwäche fast immer von dieser Art. Sie verkennen die ausschlaggebende Bedeutung der beiden großen Dinge: Übung und Tradition. Die Form, als Resultat von Tradition und Übung, ist derjenige Begriff, den sie am we- nigsten verstehen und am meisten hassen. Man möge das Ver- hältnis eines Menschen zu ihm als Merkzeichen benutzen. Natürlich ist nicht erforderlich, daß der Begriff Form ihm bewußt ist, so wenig wie die Bekanntschaft und zur Schau getragene Freundschaft mit demselben notwendig ein Beweis gegen den Dilettantismus ist. Er muß angeboren sein; die Sätze, daß die Form ewig und die Formlosigkeit ein Widersinn ist, müssen einen unmittelbaren Wiederhall in ihm finden. Die Dilettanten operieren mit zwei anderen Begriffen, die sie zu Gegenbegriffen
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gegen die Form ausgebildet haben; sie heißen Natur und Logik und sind, wenn man sie richtig nimmt und nicht preßt, zwei vortreffhche Dinge und durchaus nicht geeignet, als Waffen gegen die Form zu dienen.
Was ist Natur? Eine scharfe Definition mißglückt und macht den Begriff ebenso leer und fade wie etwa den Begriff Schönheit. Beide haben einen schwankenden Sinn und sind zu Beweisen ungeeignet. Wenn man von jemand verlangt natürlich zu leben oder zu dichten oder dgl., kann immer nur gemeint sein, daß er seiner Natur oder höchstens noch der des Verlangenden ent- sprechend leben oder dichten soll. Dieser mag unter gewissen Umständen berechtigt sein, seine Natur als eine Art Kanon anzusetzen, und außerdem werden innerhalb einer bestimmten Zeit, eines Volkes, die Naturen und ihre allgemeinen Bedürfnisse nicht sehr verschieden sein, so daß es einen ganz guten Sinn hat, von Natürlichkeit schlechtweg zu sprechen. Sowie aber über gewisse allgemeine Forderungen hinausgegangen und etwa ver- langt wird, daß jeder von Gemüse leben oder auf dem Felde arbeiten oder rohe und infantile Kunstwerke schaffen soll, weil es so natürlich sei, da wird Natur zum Unsinn. Der Ruf nach Natur ist von jeher ein beliebtes und stark wirkendes Schlagwort gewesen, gerade weil sich nichts Bestimmtes dabei denken läßt und jeder etwas anderes darunter versteht (der eine Vielweiberei, der andere Abschaffung der Verse, der dritte Barfußgehen, der vierte Abschaffung der Regierung usw.). Sie soll ein Heilmittel sein und, wenn man will, ist sie es auch; aber mit diesem Mittel kann man irgendwelche Einzelfälle nur kurieren, nachdem man aus seiner abstrakten Allgemeinheit die gerade passenden Konkreta ausgewählt hat. Die Anwendung ist alles. Natur schlechtweg zu predigen hat nicht mehr Wert als der Rat, den jener V\^ohl- meinende einem Kranken gab, er möge sich doch der Apotheke bedienen.
Noch weniger läßt sich mit dem zweiten Lieblingsbegriff anfangen. Die Dilettanten wünschen, daß alles auf der Welt logisch eingerichtet sei und mit einer Konsequenz sich vollziehe, die sie durchschauen. Hiernach beurteilen sie Wert und Berech- tigung alles Bestehenden und haben die Naivität zu glauben.
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man könne und müsse abschaffen, was vor dieser Instanz sich zu rechtfertigen nicht imstande sei. Junge Leute und solche, die es bleiben, leiden am meisten unter dieser irrigen Anschauung. Sie sehen nicht, daß es viel mehr für die Berechtigung einer Ein- richtung spricht, daß sie besteht, daß sie geworden, gewachsen und erhalten geblieben ist, als daß sie mit der Einsicht eines Beurteilers sich verträgt. Ja ich meine, die Existenzberechtigung realer Mächte, etwa geltender Gesetze oder wirkender Religionen, wird durchaus nicht dadurch in Frage gestellt, daß die einen ungerecht und die andern falsch sind. Nur ebenso reale Mächte können gegen sie ins Feld geführt v/erden, z. B. das Absterben der Verhältnisse, die jene geschaffen haben oder das Aufkommen anderer Mächte, die jenen den Boden entziehen. Eine Pflanze kann man nicht durch Widerlegungen, sondern nur durch Maßregeln aus der Welt schaffen. Menschliche Einrichtungen aber sind organische Ge- bilde wie Pflanzen; ihre Entstehung, Wirksamkeit, Dauer unter- liegt den biologischen Gesetzen. Die theoretischen Verallgemei- nerungen sind für die Praxis doch immer nur in einem beschei- denen Umfange verwendbar, ebenso wie die abstrakten sittlichen und ästhetischen Kategorien. Die Praxis richtet sich nicht nach ihnen, sie haben sich vielmehr nach der Praxis zu richten, falls sie nicht vorziehen, in ihrem Kreise zu bleiben, wie die theoretische Mathematik es tut.
So sind denn alle Gebiete, wo die Entfernung zwischen den Forderungen der Logik und den tatsächlichen Verhältnissen eine große ist, Lieblingsgebiete der Dilettanten, z. B. die Sprache. Kein Zweifel, daß der Zweck der Sprache durch die bestehenden Sprachen nicht vollkommen und nicht auf die einfachste und konsequenteste Weise erreicht wird. Sie haben Lücken und Unklarheiten überall, haben die bedauerlichsten Unregelmäßig- keiten in der Wort- und Satzbildung sowie in der Flexion. Kein Zweifel, der Erfinder der Sprache, der ja auch die erste Grammatik schrieb, war ein unlogischer Kopf und seiner Aufgabe nicht im entferntesten gewachsen, ähnlich wie der liebe Gott, der am Ende jener Erfinder war, sich bei der Weltschöpfung doch auch bedenk- liche Blößen gegeben hat. Denn woher sonst alle die Wider- sprüche und Inkonsequenzen, deren Zweck niemand begreift!
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Es muß daher unsere Aufgabe sein, mit den Widersprüchen aufzuräumen, die Fehler zu korrigieren, kurz möglichst viel und gründlich zu reformieren! Das blinde Ändern und Neumachen wollen ist für den Dilettanten charakteristisch. Er übersieht regelmäßig, sowohl ob er oder irgend jemand die Macht dazu hat, als auch ob das Neue nicht dieselben oder größere Mängel hat als das Alte. Die Welt soll von vorn anfangen, meint er, da er mit seinem Kopf nicht hineinpaßt oder vielmehr nicht hineinzu- passen scheint. Denn in Wahrheit fügt sich seine Individualität, wenn anders sie eine lebensfähige ist, sehr gut in das Ganze, trotz der Rebellion eines vorlauten Intellekts. Der einzelne ist ja auch nur ein Resultat, ein Glied des Gesamtwachstums und entwickelt sich mit Notwendigkeit, ohne Rücksicht auf die Logik; ebenso wie die ganze reale Welt kein Bauwerk ist, das man nach Prinzipien aufgebaut hat und beliebig niederreißen und anders aufbauen kann. Sondern sie ist gewachsen, und nur wenn eines Reformators Ideen mit ebensolcher Stärke und Sicherheit in ihm wachsen, werden sie für ihn und für die Welt von Einfluß sein. Er ist dann ein Werkzeug, ein Mundstück des Gesamtwachstums und hat wirklichen Anspruch auf den Namen eines Reformators. Unsere dilettantischen Weltverbesserer und Weltbeglücker sind nichts weiter als eigensinnige Instinktkranke. Es wimmelt heute von solchen eingebildeten Reformatoren. Auf allen Ge- bieten findet man sie, und immer zeigen sie die gleichen Symptome. Es gibt Heilande für alles zusammen und Heilande für einzelne Fächer. Die ersteren wollen mit ihrer Kunst alle Not in der Gesellschaft, Kunst, Kultur usw. auf einmal beseitigen und durch einen Zauberschlag die Welt dem langgesuchten Glück zuführen. Dabei haben sie nur eine einzige, mitunter nicht üble Erfindung in der Tasche, die dieses Wunder bewirken soll(z. B. Bodenreform, oder Volksbildung, oder das allgemeinsame Kunstwerk, oder Antialkoholismus oder dgl.). Die anderen begnügen sich für ihr besonderes Gebiet eine Medizin anzugeben und anzupreisen, die in jedem Fall heilbringend sei und gewöhnlich auch in einer immer gleichen Dosis verabreicht wird. Untereinander vertragen sich die Heilande nicht eben gut, hauptsächlich aus Brotneid; denn einer schließt ja den andern aus. Kommt ein neuer auf.
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so werden die Leute in der Regel dem alten untreu und laufen ihm zu. Sie wollen Abwechslung haben, sind auch durch jenen nicht befriedigt worden. Fühlt sich der neue stark genug, so ignoriert er den alten, wenn nicht, bekämpft er ihn oder paktiert mit ihm, etwa so, daß er ihn als seinen Vorläufer bezeichnet. Dementsprechend macht es der alte. Sie bringen oft etwas wirklich Wertvolles, begehen aber stets zwei Fehler; erstens nehmen sie ihren Spezialfall als den allgemeinen und denken, was sich bei ihnen bewahrheitet und bewährt hat, müsse für alle Gültigkeit haben; zweitens sehen sie die Schwierigkeiten und Einwände nicht, die ihrer Idee entgegenstehen, sind also blind und beschränkt. Es ist nicht die Beschränktheit des Fachmanns, der ja auch nicht über sich hinaussehen kann und sein Handwerk leicht für das wichtigste der Welt hält. Aber darin ist er zufrieden und bleibt bei dem, was er kann, während der dilettantische Reformator fanatisch ist und mit bornierter Heftigkeit an das herangeht, was er nicht kann.
Nun muß man, um nicht ungerecht zu sein, immer wieder betonen, daß die Versuchung zum Dilettantismus heute besonders groß ist und gerade für hervorragende Naturen. Die Über- produktion an Weltverbesserern ist keine zufällige Erscheinung, sondern hat ihren Grund darin, daß Weltverbesserung uns bitter not tut. Die Entwicklung ist an einem toten Punkt angekommen, der Instinkt versagt, der Intellekt oder einzelne ungeleitete Triebe suchen einen Ausweg aus der dunkeln Gasse und tappen, wie es nicht anders sein kann, in gigantischen Irrtümern und kindlichen Torheiten umher. Viele glauben sich heute feig und fahnen- flüchtig, wenn sie sich auf ein Handwerk beschränken und be- scheiden im Geleise gehen; sie sind vielleicht in der Tat weiter als andere, meinen deshalb, sie könnten und müßten allen Hilfs- bedürftigen beistehen, und verfallen, wenn ihnen der Erfolg eine Zeitlang günstig ist, fast notwendig in den Irrtum, daß sie zum Messias berufen seien. Andere sehen klar, daß sie unzureichend und der schwersten Aufgabe nicht gewachsen sind, springen aber trotzdem in die Bresche, nachdem sie vergeblich auf stärkere Verteidiger gewartet haben. Sie wollen lieber unter Trüm- mern liegen als auf ihnen leben. Darf man solche Tapfer-
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keit schelten? Wieder andere freilich sind nicht so tapfer und denken nicht daran, ihre Persönlichkeit einzusetzen, obwohl sie den Anspruch erheben, Heilande zu sein. Sie wünschen, reden und überreden, handeln aber nicht. So gibt es Utopisten, die ebenso leben wie alle Welt, aber mit einer Theorie hausieren gehen, nach der alles anders wird. Durch Beispiel und Unterweisung diese Zukunft herbeizuführen, fällt ihnen nicht ein. Und doch ist das einzige Mittel solche Theorien zu beweisen, sie auszuprobieren und vorzumachen. Der Heiland soll bei sich selber anfangen und den gefährlichen Sprung in die Praxis tun; von demselben hängt alles ab. Es liegt meiner Meinung nach immer Resignation und Eingeständnis des Un- vermögens darin, wenn man Theorie (ethische, religiöse, künst- lerische, kurz praktische Theorie) und persönliche Verwirklichung derselben trennt, was heute so vielfach geschieht und nicht selten sogar erstrebt und verehrt wird. Wie leicht ist es, schöne Theorien an die Wand zu malen! Und was sind sie wert, wenn der Urheber nicht mit seinem Glück und Leben für sie bürgt! Natürlich soll man auch den entgegengesetzten Fehler vermeiden, der darin besteht, jede Idee sofort in die Praxis umzusetzen und fortwährend mit Reformieren und Verändern seiner Lebens- oder Kunstweise beschäftigt zu sein. Man soll warten können und bedenken, daß der Instinkt bei uns verwickelten Menschen und in unseren komplizierten Verhältnissen nicht immer gleich bei der Hand ist, sondern oft erst nach langer Zeit sein Ja oder Nein sagt, das über eine Idee entscheidet. Solange er nicht spricht und nur ein oberflächliches Begehren oder rechnendes Phantasieren die Theorie stützt, ist von ihrer Verwirklichung wenig Gutes zu hoffen.
Steigen wir noch eine Stufe tiefer, so kommen wir von dem Dilettanten, der in der Theorie ein Held, in der Praxis höchstens ein mittelmäßiger Mensch ist, zu dem Kritiker, der auch die Theorie fahren läßt und in der Negation sein Heldentum zeigt. Auch der dilettantische Kritiker legt niemals und prinzipiell nicht Hand an, sondern sieht zu und weist die Mängel nach, die alles menschliche Wollen und Tun nun einmal an sich hat. Das Gute, auf das der positive Kritiker sein Augenmerk richtet,
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sieht er jedoch nicht und will es nicht sehen. Der Instinktkranke ist, wie schon oben von dem Willenskranken gesagt wurde, negativ, während jeder Gesunde positiv ist und die Negationen nur zu neuen Positionen verwendet. Der Gesunde glaubt lieber, als daß er zweifelt; denn Glauben ist ein Antrieb zum Lernen und Handeln; der Zweifel, wenn er ohne Gegengewicht und dauernd ist, macht untätig und löst auf, wird deshalb von einer instinkt- sicheren Natur abgewiesen oder unschädlich gemacht. Von Leuten, die sich zurückgesetzt fühlen, wird das Kritisieren, wie früher erwähnt, als eine Entschädigung ihres Anerkennungs- bedürfnisses geübt. Es wird ein Sport oder auch ein Beruf, alles was ihnen begegnet, zu bemängeln und herunter zu reißen. Sind es junge Leute, die auf diese Weise sich einführen und ihre in Aussicht stehende Mithilfe wertvoller erscheinen lassen wollen, so mag es noch hingehen, aber ältere Leute sollten versuchen eine so schlechte Gewohnheit abzulegen und sollten überall da, wo sie nicht positiv sein können, sich bescheiden und schweigen. Die Kunst, den Mund zu halten, muß doch eine der schwersten menschlichen Künste sein. Ob sie zu allen Zeiten so arg da- niederlag wie heute? Ob sich die früheren Menschen ebenso selten und ungern wie wir entschlossen, einzusehen, daß sie nur wenige Dinge so gut verstehen und wissen, daß sie sie machen und beurteilen können? Ob immer nur große Sicherheit und Bildung dazu führten, daß man grundsätzlich vermied andern ins Handwerk zu pfuschen, wenn auch nur als politischer, philosophischer oder ästhetischer Kannegießer ?
Willensschwäche und Instinktunsicherheit halte ich in manchen Fällen für heilbar und will versuchen, ein Heilmittel anzugeben, das gewiß nicht unfehlbar, auch nicht das einzig anwendbare ist, sich aber doch manchmal bewährt hat. Es ist kein von mir er-
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fundenes, sondern jedem bekannt. Auszuscheiden wären hier vor allem die Fälle, wo Willenskrankheit Folge oder Begleit- erscheinung körperlicher oder seelischer Störungen ist. Nerven- und Gehirnkrankheiten sowie chronische Leiden anderer Art bringen immer eine Verringerung der Leistungsfähigkeit und oft auch eine Schwächung der höheren Instinkte mit sich. Da sind also zuerst die Ursachen wegzuschaffen, ehe an eine Kur der Wir- kungen gedacht werden kann. Daß es nur selten gelingt, der- artige Krankheiten zu heilen, und dann in der Regel nur durch eine sehr langwierige, sehr mühsame Kur, ist bekannt. Dasselbe gilt für Willenskrankheiten. Die Schwierigkeit liegt oft darin, daß zur Durchführung des Heilprozesses gerade die Eigenschaften erforderlich sind, die dem Kranken fehlen, nämlich Kraft und Sicherheit des Willens. Man wird also wohl auf Besserung nur hoffen dürfen, wenn neben den kranken Teilen noch gesunde, neben der Schwäche noch Kraft vorhanden ist, die aber gefesselt oder infolge von Ungeschicklichkeit und Mangel an Einsicht falsch gerichtet ist. Vollkommene Schwäche ist ein unkorrigier- barer, und, wie La Rochefoucauld meint, der einzige unkorrigier- bare Fehler einer Natur. Wie zahlreich sind die Fälle, wo kranke Individuen mit Wucht und Heftigkeit auf die Selbstzerstörung ausgehen oder andere Objekte zur Vernichtung sich aussuchen! Sie sind wie ein Brand. Sollte es nicht möglich sein, ihn ein- zudämmen und ins Wohltätige zu wenden, ihn dauernder und erwärmend zu machen? Es ist selten ein nutzbringendes Er- eignis, wenn Häuser oder Feuerwerke abbrennen. Wie viel Gutes ließe sich mit der dabei verpuffenden Kraft und vernichteten Arbeit erreichen! Ferner sind Fälle früher erwähnt worden, wo die Lähmung nur teilweise ist, wo die vorhandene Kraft ver- zettelt wird, blind und unstet wirkt. Bei ihnen allen müßte wenigstens der Versuch gemacht werden, das gesund Gebliebene hervorzukehren und zur Herrschaft zu bringen, das Kranke zurückzudrängen und unschädlich zu machen.
Das Heilmittel ist die Aneignung der soldatischen Tugenden, der Straffheit und der Unterordnung. Daß es ein gefährliches und schwer einnehmbares ist, gebe ich zu. Aber wo es sich um alles handelt, muß man alles wagen; man darf vor entscheidenden
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Maßregeln nicht zurückschrecken und nicht erwarten, daß große Wirkungen von kleinen angenehmen Mittelchen ausgehen. Ge- rade die Willenskranken hassen bekanntlich den soldatischen Geist, ähnlich wie Kinder ihren Arzt, der ihnen wehe tut und bittere Arznei gibt. Die Bitterkeit ist aber kein Beweis gegen die Nützlichkeit und Vortrefflichkeit. Und wenn man einwendet, daß der soldatische, man kann auch sagen der preußische Geist seine schädlichen Wirkungen offen zeigt, in gewissen viel be- sprochenen Zeiterscheinungen, so kann ich auch das nicht als einen Beweis gegen seinen medizinischen Wert gelten lassen. Gifte fordern Gegengifte. Übrigens wird von den giftigen Be- standteilen des Geistes der Straffheit und Unterordnung noch zu reden sein. Ich fürchte, man verwechselt ihn mit anderen Geistern, die nichts mit ihm zu tun haben, wenn sie sich auch oft in seine Nähe drängen, nämlich den Geistern der Unbildung und Unfreiheit.
Was ist Straffheit? Wie lernt sie der haltungs- und zuchtlose Rekrut? Indem seine ganze Aufmerksamkeit auf die einfachsten Verrichtungen gelenkt wird, die er bewußt und nach einem System auszuführen, einzuüben hat. Auf diese Weise eignet er als eine Kunst sich das an, was er bis dahin naturalistisch prinziplos getan hat. Er lernt gehen und stehen, sprechen und schweigen usw., bringt dies alles in feste Formen, die er, ich wiederhole, mit Bewußtheit annimmt und als ein Pensum lernt und me- moriert. Nichts darf er tun, wann und wie er möchte, nichts wie es bequem wäre, wie es ein Impuls ihn heißt; die Impulse werden ignoriert und methodisch unterdrückt. Strebungen ver- schiedener Art, die zu gleicher Zeit sich bemerklich machen und unklare, unsichere, halbe oder gar keine Handlungen er- zeugen, werden auf keinen Fall geduldet. Immer nur eins wird getan und das restlos und ganz. Ebenso soll der Willenskranke sein Durcheinander, seine Augenblicksimpulse, sein Zuviel und Zuwenig zügeln, indem er bestimmte einfache Aufgaben sich stellt und sie vollkommen erfüllt. Er soll sich beschränken und durch Beschränkung eine Basis zu gewinnen suchen, die so klein und unscheinbar als möglich sein mag, wenn sie nur fest und unverrückbar ist. Vielleicht muß er eine Zeitlang ganz wenig
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handeln, ja überhaupt auf das Handeln verzichten, um seinen zu stark angegriffenen Fonds von Kraft wiederherzustellen; er muß den überspannten Bogen abspannen, um ihn neue Elastizität gewinnen zu lassen. Ebenso muß er sich vor einer Überfülle von Eindrücken hüten, nur wenige aufnehmen, aber diese ganz. Es dürfen nur so viele sein, als er verarbeiten kann. Mangel an Tatkraft rührt in zahllosen Fällen daher, daß zuviel geistige Nahrung assimiliert werden soll, während die Verdauungskraft doch nur eine beschränkte und bei vielen Willenskranken noch besonders geringe ist. Immer muß darauf geachtet werden, daß man fertig wird und nicht den kleinsten Rest zurückläßt. So wird man die geschwächte oder erstorbene Produktivität allmäh- lich wieder entwickeln, immer vorausgesetzt, daß noch gesun- dende, nachwachsende Kräfte da sind. Die Hauptsache bleibt durchaus die Regelung und die Stetigkeit, Es dürfen nicht mehrere Dinge auf einmal vorgenommen und halb getan beiseite gelegt werden. Eins muß auf das andere folgen und auf jede kleinste Aufgabe der ganze Wille konzentriert werden. Dies alles ist nur durch Strenge und Härte gegen sich erreichbar, ebenso wie beim Soldaten. Mit Bitten und Entschuldigungen, mit Nachgiebigkeit und Güte wird man niemanden zur Straffheit erziehen, am wenigsten sich selber. Es darf nirgends ein Schlupf- winkel für den schlaffen Willen bleiben, es darf auch keine For- derung durch Belohnung versüßt, kein Zusammennehmen durch die Aussicht auf desto freieres Sichgehenlassen erkauft werden. Das wären alles nur Mittel, geringe Leistungen auf ein immer geringeres Maß zurückzuschrauben. Man hört so oft von der Selbstzucht; aber wenn man einmal mit den Konsequenzen Ernst macht, die dieser Begriff in sich schließt, so schreit alle Welt über Mord und Unterdrückung. Es gibt gewiß viele, die nicht nötig haben, streng gegen sich zu sein, weil ihre Natur von selber alles Verlangte hergiUt, aber von denen ist hier nicht die Rede; und ebenso gibt es solche, die durch Strenge nur schwächer und kränker werden, so daß Selbstzucht für sie in der Tat dem Selbst- mord gleichkommt, aber von diesen Unheilbaren ist hier auch nicht die Rede.
Eine Vorbedingung der Selbstzucht ist die Selbsterkenntnis,
Horneffer, Das klassische Ideal.
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diese alte, schwere, oft unerreichbar genannte Forderung. Wer sich formen und führen will, muß sich kennen, damit er die Rich- tung nicht verfehlt und sein Streben nicht auf etwas ihm Ver- sagtes lenkt. Erinnern wir uns an das, was früher über den In- stinkt gesagt wurde. Wo der grundlegende erhaltende Instinkt nicht normal arbeitet und Richtung und Grad der Lebensäuße- rungen nicht regelt, übernehmen die Vernunft und einzelne intakt gebliebene Triebe die Leitung, bringen aber den Menschen in der Regel in allerhand Konflikte oder richten ihn auch zugrunde, da sie dieser Aufgabe selten gewachsen und nicht eigentlich für sie geschaffen sind. Ich nannte das instinktive Handeln gesund, das bewußte krank und dilettantisch. Die Aufgabe wäre, den Instinkt wiederherzustellen, zu stärken oder ganz neu zu schaf- fen. Falls man sich überhaupt an sie heranwagt und etwas so Großes nicht von vornherein als unmöglich ablehnt, wird man sich aber entschließen müssen, zunächst die bewußte Erkenntnis zu entwickeln und auszubilden. Denn sie ist die notwendige Helferin und Vermittlerin, sie allein belehrt über Wesen, Grenzen, Stärken der Natur, sie beantwortet die Fragen, die den Instinkt- kranken quälen, ihn unentschlossen und untüchtig machen: wer bin ich? wohin strebe ich? wohin darf ich streben? warum stößt mich das Leben zurück und läßt keine Früchte für mich reifen ? Die instinktsichere Natur stellt solche Fragen nicht; sie versteht dieselben gar nicht. Denn alle Erkenntnis (prak- tische wie theoretische) kommt nur dadurch zustande, daß der Mensch Widerstand findet, daß ihm Dinge entgegentreten oder entgegenstehen, auf die er durch Abweisung oder Aufnahme reagiert. So richtet sich die Erkenntnis des natürlichen Men- schen lediglich nach außen, niemals auf sich selbst. Er weiß über alles besser und eher Bescheid als über seine eigne Natur, weil sie ihm nicht in den Weg kommt; er entdeckt sie gar nicht. Erst der Instinktkranke wendet seinen Blick auf sich selbst und stellt als erste und wichtigste Aufgabe des Erkennenden die Selbsterkenntnis hin. Mit vollem Recht tut er dies. Man denke etwa an den Verlauf der griechischen Philosophie. Mit Sokrates erst tritt die Psychologie (allgemein verstanden) und ihr oberster Satz: erkenne dich selbst, in den Mittelpunkt. Die Früheren
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wußten wenig von solchen Betrachtungen und hätten die Philo- sophie ihrer Nachkommen ebenso uninteressant wie zwecklos gefunden; ebenfalls mit Recht. Denn der Gesunde braucht die Selbstbeobachtung und Selbstbeurteilung nicht, er braucht nur die Erkenntnis der äußeren Objekte, die er sich Untertan machen will oder mit denen er sich einzurichten hat. Er tut und will nur, was mit Notwendigkeit aus seiner Natur fließt, d. h. immer das Rechte; er strebt daher nie erfolglos, ist nie unklar über sich selbst und kommt nie in seelische Konflikte. Wo sie sich zeigen, tritt jedesmal auch das psychologische Problem: wer bin ich? auf. Der Wille verliert seine Unmittelbarkeit und leider in den meisten Fällen dadurch seine Kraft. Der Weg sie zu erhalten oder, wenn sie gesunken, wiederherzustellen, führt aber, wie gesagt, unweigerlich durch die höchste und vollkommenste Selbst- erkenntnis hindurch. Augenschließen und wildes Draufgehen, unmethodisches Probieren und Herumirren bringt niemanden um die Klippe herum: er zerstört sich oder macht sich wenigstens untüchtig. Also — dahin geht meine Meinung — von der Selbst- beurteilung aus, die durch Erfahrungen und Schlüsse gewonnen wird und natürlich allgemeine Erkenntnis einschließt, muß das Leben geregelt und die Natur organisiert werden. Die Tätig- keiten, die der Instinkt leiten sollte, muß die bewußte Überlegung leiten, muß sie aber durch Übung, d. h. lange fortgesetzte gleich- mäßige Ausführung, allmählich zu instinktiven Tätigkeiten machen, entweder so, daß sie geschwächte Instinkte stärkt und belebt (so wie die Atmungstätigkeit des Ertrunkenen wieder- belebt wird), oder so, daß sie neue Instinkte züchtet. Das dauert lange, falls es überhaupt gelingt, und erfordert unerbittliche Strenge gegen sich. Zunächst wird es ein künstliches Handeln sein und den Menschen so unglücklich und verzweifelt machen wie den Rekruten die neue Gangart oder den Klavierschüler die unbequeme Fingerhaltung. Aber allmählich werden Sicher- heit und Natürlichkeit hineinkommen; sie werden um so größer werden, je entbehrlicher die Mitwirkung der Überlegung wird, je selbstverständlicher das Handeln sich vollzieht, je mehr es unter der Schwelle des Bewußtseins bleibt. — Diese Kur übrigens ist doch wohl nichts anderes als eine Wiederholung der gesamten
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Erster Teil.
Kulturentwicklung. Alle höheren (nicht primitiven, nicht tieri- schen) Instinkte sind den Menschen auf die Weise angezüchtet worden, daß bestimmte Handlungen und Unterlassungen bewußt und methodisch eingeprägt wurden. Jedes Kind lernt auf diesem Wege Sitte, Anstand usw.
Wir kommen zur zweiten Tugend, der Unterordnung. Sie ist noch unbeliebter als die Straffheit, aber deren untrennbare Gefährtin. Zunächst darf man nicht nur an Personen denken, denen sich unterzuordnen ich für heilbringend halte; man kann auch Ideen und Sachen dienen. Und die Personen brauchen nicht fremde zu sein; wer sich selber zu beherrschen imstande ist, hat nicht nötig, den Gehorsam gegen andere zu lernen, wenigstens nicht als Kur für einen entarteten Willen. Um ver- ständlich zu machen, weshalb ich der Unterordnung eine so große Bedeutung zuerkenne, scheint eine kurze prinzipielle Er- örterung unentbehrlich. Ich lege derselben aber keinen philo- sophischen Wert bei; sie soll nur unsere Frage klären helfen.
Es lassen sich zwei Lebensanschauungen unterscheiden, die liberalistische und die absolutistische, um kurze Ausdrücke zu wählen, die hoffentlich nicht mißverstanden werden. Beide sind berechtigt und gehen auf Grundrichtungen der menschlichen Natur zurück. Die erstere hat die sogenannte Freiheit als Zen- tralbegriff und bezeichnet die Selbständigkeit, Selbstrichtgebung und Selbstgesetzgebung jedes Individuums als höchstes Ziel. Wie weit es erreichbar ist, lasse ich dahingestellt. Die besten Exemplare dieses Typus sind jene tüchtigen, ihren Kreis aus- füllenden Demokraten, die auf ihrer Scholle sitzen, niemandem Untertan sind und niemanden sich Untertan machen, Wohlwollen und Gefälligkeit zeigen und überall da vortrefflich und nach- ahmenswert sind, wo keine großen Aufgaben zu erfüllen, keine weitschauenden Unternehmungen zu beginnen oder zu bedenken sind. Die notwendige Eigenschaft eines solchen autonomen Individuums ist nämlich der kurze Blick und die geringe Kraft. Ihr Wollen und ihr Können ist eng, es erschöpft sich in den nächst- liegenden Zwecken. Ihnen fehlt Verständnis und also auch Sympathie für den entgegengesetzten Typus, der seine Selb- ständigkeit bis zu einem hohen Grade aufgibt und großen, weit
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über sein Ich und dessen Erfüllung hinausgehenden Aufgaben dient. Der Liberalist verachtet den Begriff Gehorsam und denkt sich unter einem Gehorchenden einen Sklaven. Er sieht nicht, daß ein solcher unter Umständen nicht nur für den Gesamthaus- halt der Kultur wertvoller sein, sondern auch an sich, als Cha- rakter und Begabung, höher stehen kann als der für sich Bleibende, der großen Dingen mit behaglicher Faulheit und billigem Spott zusieht, falls er nicht mit allen Mitteln, die ein kleinliches Dasein zu lehren pflegt, sich gegen Forderungen und Bestrebungen wehrt, die über seinen Horizont und gegen sein Behagen gehen. Es ist ein kleiner Typus Mensch, manchmal gesund und schätz- bar, oft aber auch krank und einer Kur dringend bedürftig. Seine Lebensanschauung wird nicht nur im praktischen, nament- lich politischen Leben mitunter gefährlich, sondern bringt auch in der Kunst, Wissenschaft und Philosophie bisweilen Unheil. Die Kleinstaaterei des Geistes, wo jeder sein bißchen Feld mit eignen Mitteln und Künsten beackern und seine kleinen Ein- künfte für sich verzehren will, ist kulturfeindlich im höchsten Maße. Der kleine Mann (der große, wenn er gesund ist, wird es nie tun) soll sich nicht zu gut dünken, ein Glied in der Kette, eine Hilfskraft zu sein; er soll sein Königreich von drei Fuß Breite zum Ganzen werfen und sich in Reih und Glied stellen. Das Dienen und das Herrschen, diese beiden vergessenen oder ge- haßten Dinge, haben den größten Anteil, das eigentliche Ver- dienst an allen Resultaten menschlicher Kultur. Beide ergänzen einander notwendig und finden sich, wie ich sie verstehe, stets bei einem und demselben Individuum. Die Unterordnung ist die Eigenschaft dessen, der instinktiv oder durch Überlegung einsieht, daß es Ziele gibt, die er als einzelner nicht erfüllen, sondern nur als Mithandelnder und Mitwirkender fördern kann, und der solchen Zielen sich mit seiner besten Kraft darbietet. Es ist keine Rede davon, daß er seine Individualität einbüßt. Durch seine Einzigkeit wird er wertvoll. Bei Kulturzielen, von denen wir reden, ist keine Uniformierung zu fürchten, denn es handelt sich darum, verschiedenartige, aber aufeinander bezogene und voneinander abhängige Glieder eines Kunstwerkes zu schaffen. Die Fähigkeit ist gerade die, sich als Dienender nicht aufzugeben.
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sondern sich auszuleben. Der Willenskranke und auch der Sklave hat diese Fähigkeit nicht. Er verliert alles, Mut, Kraft, Selb- ständigkeit, wenn er sich beugen und etwas über sich dulden muß, dem er doch auf keine Weise entgehen, noch es besiegen und beherrschen kann. Er verliert auch seine Würde und be- greift nicht, daß sich der empfindlichste Stolz aufs beste damit verträgt, daß man gehorcht, einfach, ohne Widerrede, ohne Kritik (wenigstens praktische, in Ungehorsam sich äußernde), und ohne eine Milderung des Befehls durch Entschuldigung oder Bitte zu verlangen. So gehorcht der Soldat dem Vorgesetzten und ist doch gewiß entfernt von knechtischer Gesinnung. Die Haupt- sache dabei ist das Sehen auf die Sache, auf das Ziel, nicht auf sich selbst, sein Belieben und Behagen. Es ist Opferung und doch keine Aufopferung. Denn die Meinung geht nicht dahin, daß Aufgaben ergriffen werden sollen, denen man nicht kon- form und nicht gewachsen ist, denen man alles geben würde, ohne es zurückzuerhalten. Wer sich unter falsche oder zu hohe Aufgaben stellt, büßt sich ein, und beweist schon damit seine Unfähigkeit zur Autonomie und vermutlich auch seine Unfähig- keit zum Herrschen überhaupt. Diese Tugend ist aufs engste mit der des Dienens verwandt. Der Begriff der Verantwortung ist das Bindeglied zwischen beiden; man kann ihn auch als Begriff der Pflicht bezeichnen. Wer nicht einstehen will und nicht einstehen kann für sich sowohl als Befehlenden wie als Gehorchenden, dürfte in beiden Tugenden Stümper sein und wird ihre Ent- artungsformen aufweisen. Dieselben heißen Tyrannei und Sklaverei. Sie ergänzen sich ebenso notwendig und pflegen aus sich jenen merkwürdig unklaren und fast nichtssagenden Begriff zu erzeugen, den man fälschlich Freiheit nennt. Ihn zu analy- sieren würde hier zu weit führen. Uns interessiert nur dies, daß Freiheit von hemmenden oder schädigenden Gewalten, oder sagen wir besser Unabhängigkeit von ihnen, auf jeden Fall zu erstreben ist, mögen diese Gewalten nun außer uns oder in uns sich befinden; daß trotzdem aber für jeden Menschen Abhängig- keitsverhältnisse bestehen bleiben. Sie sind eine natürliche Not- wendigkeit, der er sich weder durch Lässigkeit noch durch Aus- schweifung, noch sonst auf eine Weise entziehen kann. Vielleicht
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befinden sich der Herrschende und der Dienende in ihm selber; aber für wie viele gilt denn das? Und unter den Wenigen, für die es gilt, müssen die meisten noch die Kunst sich selber zu dienen dadurch lernen, daß sie anderen dienen; und sie alle sind nur in einer Hinsicht autonom, in anderen treten auch sie als Gehorchende in eine Gemeinschaft und empfangen Direktiven von außen. Der Autonome wird sich strenger regieren als es ein anderer täte und könnte. Ist er nicht streng, so rückt, ohne daß er es merkt, ein anderer Herr in die Stelle des herrschenden Willens ein, ein Laster vielleicht oder auch etwas von außen Kom- mendes. Die sogenannten Freien unterscheiden sich nur da- durch von den Dienenden, daß unsichtbare und meist unwürdige Dinge sie beherrschen.
Daß die Künste des Herrschens und Dienens heute in weiten Kreisen verloren gegangen sind, muß jeder zugeben. Ich zweifle nicht, daß die Willenserkrankung aufs engste damit zusammen- hängt, und meine, da große Aufgaben unser warten, große Aufgaben in jedem Sinne und nach jeder Richtung hin, so ist die Gesundung des Willens und das Neulernen jener Künste nur ein Problem. Gelingt das eine nicht, so muß man auch auf das andere verzichten. Um die Verwirklichung unserer Zukunfts- hoffnungen sieht es dann traurig aus. Man höre auf mit dem liberalen Gerede und dem unfruchtbaren Widerstand gegen das soldatische System. Zwei Anschuldigungen sind es, die man immer wieder gegen dasselbe vorbringt. Entweder kämpft man gegen seine entarteten Formen, deren Vorhandensein gerade beweist, daß viele Zeitgenossen es nicht verstehen und Stümper im Befehlen und Gehorchen sind. Man weiß eben nicht, um was es sich handelt. Druck von oben und knechtische Gesinnung von unten, Almosen und Gnade spenden und empfangen, das sind nicht Zeichen, daß der Geist der Unterordnung demorali- sierend wirkt, sondern daß man einen unmoralischen Gebrauch von ihm macht. Zweitens wendet man sich gegen üble Neben- wirkungen, die in der Tat bestehen aber nichts gegen die Sache im ganzen beweisen. Jede harte, durchgreifende Maßregel, die ins Große wirken soll, wird im einzelnen Ungerechtigkeiten und andere Übelstände ergeben. Der Schnitter mäht die Blumen
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Erster Teil.
mit hinweg, die im Korn und am Wegrand stehen. Außerdem wird nicht immer die Vorsicht beobachtet, die bei Anwendung der DiszipHn auf andere menschhche Verhältnisse, gesellschaft- liche, wissenschaftliche, künstlerische nötig ist. Da entstehen dann Unzuträglichkeiten, die zu beseitigen man sich angelegen sein lassen muß, die aber ebenfalls nicht dem soldatischen Geist als solchen angerechnet werden dürfen. Hierhin gehört unter an- derem die Erstarrung, entspringend aus dem Verkennen gewisser künstlerischer Erfordernisse, die für die Kultur von ausschlag- gebender Bedeutung sind. Feste Linien nämlich sind zwar gut und nötig, erhalten aber ihren Wert erst dadurch, daß sie in Gegensatz zu gebrochenen treten. Symmetrie verlangt Un- gleichartigkeit, Ähnlichkeiten verlangen Kontraste; sonst kommt kein großes Leben zustande. So braucht der soldatische Geist Gegenwirkungen. Es ist aber ein großer Irrtum, wenn kranke Elemente sich berechtigt und berufen glauben, diese Gegen- wirkungen zu repräsentieren. Vielmehr sind dazu nur die Ge- sundesten geeignet, die so viel Festigkeit haben, daß erst ein Nach- lassen, eine Neigung zur Gesetzlosigkeit sie stark und schön macht. Das Streben nach Entfesselung, nach Krümmungen und Brechungen (nach dem Barocken, kann man sagen) , das die Willenskranken haben, hat nicht den geringsten künstlerischen und Kulturwert. Für sie gibt es keinen anderen Weg, sich gesund und wertvoll zu machen, als ihr Rückgrat zu stärken, ihre entlaufenen Pferde in ihre Gewalt zu bekommen oder, was weniger schwer und mühsam ist, in eine fremde Gewalt zu geben. Man unterscheide ja zwischen solchen, die den soldatischen Geist nicht lieben, weil sie zu viel von ihm in sich haben und um sich sehen, und solchen, die zu wenig von ihm haben und ihn fürchten. Letztere, die uns ja hier allein beschäftigen, haben kein Recht, ihn als entbehrlich oder schädlich in Verruf zu brin- gen. Man mache eine Schule durch, ehe man sie schilt. Nicht selten treten übrigens im ersten Jünglingsalter verwandte Nei- gungen und Krankheitserscheinungen auf. Willensschwäche mit ihren verschiedenen Symptomen und Instinktunsicherheit sind in der Pubertätszeit auch bei sonst Gesunden häufig. Das- selbe gilt vom weiblichen Geschlecht. Deshalb ist eine Schule
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des Gehorsams, des Zurückstehens hinter anderen, der Beschrän- kung und Festigung für dies Alter besonders nötig. Man pflegt aber das Gegenteil zu tun, den einen in die goldene Freiheit zu schicken, die andere irre zu leiten oder ohne Pflege zu lassen. Vielleicht wird man besser verstehen, was ich meine, und mir eher Recht geben, wenn ich ein Beispiel anführe. In der Päda- gogik — und wir haben es mit einem pädagogischen Problem größten Stils zu tun — ist das Vorbild die Hauptsache. Goethe, auf den ich auch jetzt wieder kommen muß, hat durch sein Leben den Geist der Straffheit und der Unterordnung besser erklärt und gerechtfertigt, als es eine Deduktion tun könnte. Ich er- wähnte, daß seine Natur zum Übermaß, zur Dezentralisation, zur Instinktunsicherheit neigte; man sehe nur die Helden seiner bedeutendsten Dichtungen an (Werther, Weisungen, Egmont, Orest, Tasso, Wilhelm Meister, Eduard). Aber wie nahm er sich in Zucht! Wie entwickelte er aus sich heraus die an sich haltende, kraftvoll gespannte Mannheit! Er suchte und rief noch als Greis nach Charakteren, die der deutschen Literatur nötiger täten als geistvolle und zügellose Romantiker und Anti- romantiker. Er sammelte sich von einer uferlosen Jünglings- freiheit, indem er sich in eine sehr kleine, sehr enge Gemeinschaft hineinstellte und sein Leben lang in ihr verharrte. Er betonte durch seine Praxis geflissentlich, daß er als großer Mann nicht Anspruch darauf mache, außerhalb bürgerlicher und menschlicher Pflichten zu stehen. Er wußte beides auf vollkommene Weise zu vereinigen, ich meine vom Gesichtspunkte der ,, Freiheit" aus zu vereinigen (leider hat er uns verschwiegen oder nur kurz an- gedeutet, wie er Napoleons Erstaunen hierüber beantwortet hat); und er wollte als Beamter und Hofmann nichts weiter sein als Beamter und Hofmann. Freilich haben ihm viele dies nicht ver- ziehen. Noch heute hört man von Goethes sogenannter Servi- lität erzählen. Ich bin aber der Meinung, wer diese ,,Servilität" nicht aus Goethes großer stolzer Natur heraus versteht und be- wundert, versteht seine Natur überhaupt nicht und wird deren sämtliche Äußerungen mißdeuten. Dafür gibt es denn auch Beispiele genug. Man hilft sich gegenüber den großen Männern, die nicht so sind, wie man sie haben möchte, auf zweierlei Weise.
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Entweder hält man sich an einzelne „sympathische Züge" und wünscht die anderen hinweg, oder man fälscht die Persönlichkeit und setzt ein erdichtetes Bild an ihre Stelle. Der wichtigste Anspruch, den man macht, ist die erwähnte Freiheit. Man denkt sich (auch wo man es leugnen möchte!) einen großen Mann als einen Riesen mit gewaltiger Stimme, der vor nichts Respekt hat und allen Formen, künstlerischen wie anderen, ins Gesicht schlägt. Es schwillt dem Freien das Herz, wenn er hört, daß jemand etwa einen Fürsten unhöflich behandelt oder Rück- sichten gegen andere Dinge vernachlässigt hat, die nicht durch die Faust, sondern etwas Feineres geschützt werden. Darin regt sich der Barbarenhaß gegen die Kultur, gegen Bändigung durch Sitte in irgendeinem Sinne, und der Krankenhaß gegen die Selbst- beherrschung, gegen das freiwillige Verzichtleisten auf univer- sale Revolution. Dergleichen hat man auch in Goethe hinein- interpretiert, so unmöglich dies scheint. Denn Goethe war schlechterdings kein Revolutionär, höchstens in dem selteneren Sinne, den das Wort Jesu bezeichnet: ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen. Auf ähnliche Weise ist Bismarcks Persönlichkeit gefälscht worden. Man hat einen groben Polterer, einen ungeberdigen Kraftmenschen aus ihm gemacht, während er ein feiner Edelmann mit tadellos höfischen Formen war, ein Mann, der seine Natur unbedingt im Zaume hielt (trotz gelegentlicher Ausbrüche) und in seinem ganzen Wesen, in jeder Handlung und Äußerung, die wir von ihm kennen, die Anschauung zur Geltung brachte, daß feste Konvention, daß Straffheit und Unterordnung das Erdreich sei, in dem allein wahre Kraft und Größe gedeihen könne.
Vielleicht ist Bismarcks Persönlichkeit noch geeigneter, unsere Zeit über diesen Punkt aufzuklären, als die Persönlichkeit Goethes. Denn als der letztere lebte und strebte, waren die Formen der Willenserkrankung andere als heute; darum mußte auch die Kur eine etwas andere sein. Der Haupttypus war Werther. Wie fern liegt uns dessen Krankheit! Wer unter uns geht an Melancholie, Selbstpeinigung und süßer Schwärmerei zugrunde? Wir sind realer und viel weniger nach innen gerichtet (weshalb das Streben nach Selbsterkenntnis damals eine Gefahr war, heute
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eine Hilfe ist); hätten wir heute einen Roman, der Goethes Werther an Treffsicherheit gleich käme, so wäre die Verschieden- heit jedem deutlich. Man kommt ungefähr auf das Rechte, wenn man die gemeinsamen Züge der modernen dichterischen Gestalten zusammennimmt. Wir haben seit Goethe eingesehen (was dieser als einzelner empfand), daß die ethische Grundlage für eine Kultur alles ist. Fehlt sie, so fehlt es auch in der Kunst am Besten. Wir müssen tiefer anfangen, fester gründen, damit etwas wird, das der nächste Windstoß nicht umwirft. Sehen wir uns aber nach einer solchen festigenden, ins Große wirkenden Macht um, so finden wir nur die soldatische Disziplin. Ich wenigstens sehe außer ihr kein kulturschaffendes Prinzip großen Stils, das heute lebendig und v/irkend wäre. Insofern diese Dis- ziplin von Preußen ausgeht und dargestellt wird, ist es eine Kultur- macht, mögen auch die Wirkungen auf die Kultur noch nicht sichtbar sein, mögen sogar kulturfeindliche Strömungen zeit- weilig die Oberhand gewinnen; das sind vorübergehende Er- scheinungen. Der preußische Offizier und Unteroffizier sind Kulturträger, wenn auch die klugen Leute, die die deutsche Kultur zu repräsentieren glauben, widersprechen und lachen. Bismarck ist wohl das schönste Erzeugnis des preußischen Geistes. Auch er scheint mit der Kultur nichts gemein zu haben, da er weder viel Bücher las noch sonst ein besonderes Interesse für Kunst und Wissenschaft bekundete. Aber was tut das! Seine Persönlichkeit und jede ihrer Äußerungen zeigt Kultur; das ist mehr. Vor allem: Bismarck besaß als Handelnder Sicherheit und Ganzheit. Er war Herr seiner selbst, im höchsten Sinne verstanden. Keineswegs handelte er mit der unbewußten Naivität eines Naturkindes. Er war nicht einfach. In ihm wogte eine Menge starker widersprechender Triebe und zwischen ihnen stand eine hochentwickelte gefährliche Art von Intelligenz; Bismarck war seines Zeichens Diplomat, also ein Mann, der Fallen stellt und meidet, Worte wägt und dreht. Aber stärker als dies alles war sein Wille, der imstande war, eine solche Natur zu vereinfachen und zu großen Entschließungen zu sammeln. Der Wille machte sich den ganzen Menschen dienstbar, brachte ihn in eine Richtung und gewann dadurch die unwiderstehliche
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Erster Teil.
Gewalt, die wir bewundern. Immer waren es beschränkte Auf- gaben, die er so angriff und durchführte, niemals solche, die über sein Vermögen hinausgingen. Er war kein Mensch der großen Entwürfe, dachte nie daran alle Werte umzuwerten oder Europa zu einigen, sondern hielt sich an reale Aufgaben, die er vollkommen beherrschte. So füllte er den Kreis seines Könnens ganz aus und wird dadurch groß. Der rechnende Kritiker, der den Umfang klein findet, ist hier so wenig maßgebend wie vor manchen Kunstwerken, deren Größe unbeträchtlich, aber deren Verhältnisse vollkommen sind. Das Auge des Betrachters sieht sie groß und hat recht damit.
Wie sehr Bismarck über sich selber stand, zeigt die Mäßigung, die er überall zu bewahren wußte. Die Berauschung an Taten, jene alte Germanenlust, war ihm fremd. Sofort, wenn die Tat da war, trat der kühle Staatsmann wieder hervor, urteilte und wog ab, schnitt weg und rückte zurecht, mit einer Nüchternheit, als ob es um fremde Taten sich handle und nicht um solche, die aus mächtigem Ringen seiner Natur geboren waren. Er war Herr seiner Taten, Herr seiner selbst und verstand eben darum auch die Künste des Befehlens und Gehorchens. Das ist der zweite Punkt. Bismarck diente einem Herrn, den er in allem übersah, und fühlte sich dadurch nicht im mindesten erniedrigt. Er fügte sich in die Rolle des Untergebenen, er trat als Glied in einen komplizierten Mechanismus, der zahlreichen Einflüssen ausgesetzt war, und arbeitete mit der redlichen Beharrlichkeit eines preußischen Beamten. Wie drückend ihm diese Last mitunter wurde, welche Kämpfe sein Wille auch hier zu bestehen hatte, dafür sind Beweise genug bekannt. Aber immer war der Soldat in ihm stärker als der freie Mann, der faul zur Seite stehen und dem Getriebe aus sicherer Ferne zuschauen will. Und erst recht nicht gewann der Tyrann in ihm die Oberhand, der Ordnungen umstürzen und seine Willkür zum Herren machen will. Bis- marck war durch Natur und Selbsterziehung Herrscher und hat mit dieser Eigenschaft, wie sich denken läßt, am meisten Anstoß erregt. Wahrhaft kläglich ist die Komödie, die er sein Leben lang mit all den Elementen zu spielen hatte, die nicht fühlten, was ihm und was ihnen gebührte. Leute, die entweder unbe-
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helligt bleiben oder mitregieren oder beraten, d. h. aus Taten ein Hin- und Herzerren von Phrasen machen wollen, fand er auf jedem seiner Wege. Sie haßten ihn und mußten ihn als ihren natürlichen Feind hassen; sie betrügen sich über ihn oder über sich selbst, wenn sie es nicht tun. Bismarck hat sich gemüht und gequält, wenigstens verständlich zu machen, um was es sich hier handle; aber gelungen ist es ihm nicht. Die Wogen des Dilettantismus schlugen wieder zusammen, nachdem er sich einen Weg durch sie gebahnt hatte.
Bismarck ist ein Mann großen Stils. Daß Nietzsche dies nicht sah, ist schade. Ihm lagen die in diesem Aufsatz besprochenen Dinge sehr am Herzen; man kann fast alles, was ich vorgebracht habe, bei Nietzsche angedeutet finden. Aber es hat vielleicht seine guten Gründe, daß er hier blind war und blind sein wollte. Diese lebendige Erfüllung seines Strebens und vernichtende Kritik seines Erreichens zu verkennen, war wohl eine Lebensfrage für ihn. Mir liegt es fern, Nietzsche und andere große Entwerfende heutiger und früherer Zeit herabsetzen zu wollen. Entwürfe^ auch wenn sie Entwürfe bleiben, können ungeheuer fruchtbar werden, und die Persönlichkeiten selber können durch ihre Schwächen ebenso lehrreich werden wie durch ihre Stärken. Aber sie sind keine Vorbilder für ein willenskrankes Zeitalter. Die Willenskranken suchen sich aus ihnen nur das Schädliche heraus, denken nicht an die Hingabe solcher Männer, die sich ganz einsetzten, nicht an andere große Tugenden, sondern an das, was bei jenen krank ist, wie bei ihnen. Deshalb muß man sie an Bismarck verweisen als den einzigen, der unter den Halben, den Mißlungenen, den Unterliegenden unserer Epoche als ein Heiler und ein Sieger dasteht. Wir wollen ihn der Entartung als Schild entgegenhalten.
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ZWEITER TEIL.
I.
DER STIL DES LEBENS.
Im Leben der Völker gibt es Zeiten, wo in emsiger Arbeit auf eine ferne Zukunft hin gespart wird. Fort und fort wird ge- sammelt, Steinchen auf Steinchen wird aufgeschichtet. Ohne bewußtes Ziel werden alle Kräfte aufgeboten. Es ist, als ob diese Geschlechter gar nicht für sich lebten, als ob sie in gänz- licher Selbstvergessenheit nur zu Nutzen unbekannter Enkel schüfen. Dann aber kommt plötzlich eine Zeit, wo der Ertrag all dieser Mühen geerntet wird, wo der Mensch sich auf einmal auf einer Höhe sieht, die seinem Herzen einen lauten Ruf des Dankes und Jubels entlockt. Es ist alles über Nacht reif geworden. Das Auge sieht nur vollkommene Dinge. Des Erdenlebens letztes Ziel, des Menschen höchstes Sehnen scheint erreicht zu sein. Zum Augenblicke spricht der Mensch und darf es sprechen: verweile doch, du bist so schön! — Wenn dann der Mensch sich von dem ersten Staunen erholt hat, der Anblick der eigenen Werke ihm vertraut geworden ist, kommt eine dritte und letzte Zeit, da er die errungenen Schätze voll ausnützt. Jahrhunderte- lang zehrt er von den Schöpfungen weniger Stunden. In alten, festen Geleisen bewegt sich die Menschheit sicher und ihrem Ziel vertrauend fort, ohne je von ihrem Wege abzuirren. Sie schafft
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Zweiter Teil.
nichts mehr, sie macht keine Eroberungs- und Entdeckungs- fahrten. Sie glaubt ehrfürchtig an geerbte Werte. EndUch aber schlägt die Stunde, da der Mensch der alten Güter müde wird, da eine heimliche Sehnsucht nach neuen Wundern ihn ergreift. Und nun beginnt das Spiel von neuem. Wieder wird gestrebt, gesucht, gesammelt, bis der schöne Tag der Reife kommt und Früchte niederwirft, die fernen Zeiten wieder Nahrung geben.
In den allerseltensten Fällen erreicht der Mensch die Voll- endung seines ganzen Wesens, den höchsten Ausdruck seiner Natur nach allen Seiten hin zugleich. Meist kann er immer nur einen Teil seines Wesens zur Blüte bringen und in die reinsten Formen kleiden, während ein anderer Zug seiner Natur brach liegt und zu gelegener Zeit der Auferstehung harrt. Heute lechzt unsere Seele nach neuen geistigen Taten. Nach langer Verwahrlosung und Armut will der Geist wieder ein Fest feiern. Eine neue Bildung, wie ich die Einheit aller geistigen Schöp- fungen nennen möchte, will ihren Einzug halten und über die Geister Macht gewinnen. In den feinsten Seelen dämmert die Vorahnung eines neuen, noch unbekannten Glücks.
Daß aber die neue Bildung, die wir erstreben, stark und dauerhaft sei, daß sie etwas wahrhaft Vollkommenes sei, das lange nachklingt, daß sie nicht wieder nach kurzer Blüte ge- brochen am Boden liege, wie es so oft geschehen ist, dazu ist nötig, daß sie tiefe Wurzeln schlage. Wir erleben fast jährlich das Schauspiel, daß die geistige Bewegung Auffassungen, Rich- tungen, Stile hervortreibt, die alsbald nach kurzer Geltung wieder verschwinden. Mit der größten Begeisterung wurden sie bei ihrer Geburt begrüßt. Nun endlich, glaubte man, sei das lang ersehnte Ziel erreicht, der wahre Ton des Herzens sei getroffen. Nun endlich könne man in festem Vertrauen auf die gefundene Form, an der sicheren Hand des neuen Stils, Wertvolles und Bleibendes schaffen. Aber schon wendet sich der Blick wieder enttäuscht hinweg. Wie immer war die neue Form nur ein flüchtiger Einfall, ohne Kraft und Wahrheit. Das Ganze war nicht aus der Tiefe aufgestiegen, das Gewächs war wurzellos und so liegt alles nach kurzem Scheinleben welk danieder. So wechseln heute in rascher Folge Stile auf Stile. Der Stil
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Der Stil des Lebens.
aber, das allgemeine Gesetz, welches den, der sich ihm unterwirft, nicht knechtet, sondern adelt, ist nicht gefunden. Es bleibt die Unruhe, der Wechsel, das Chaos. Ein Chaos aber kann niemals lange dauern, entweder es muß einen „tanzenden Stern'* ge- bären, oder ihm folgen die Auflösung, die Wüste, das Nichts. Die Kurzlebigkeit aller geistigen Bildungen übrigens, der ununterbrochene Wechsel der Stile, worunter die Gegenwart leidet, ist nicht erst eine Erscheinung von gestern und heute. Wenn man in die Tiefe blickt, so erkennt man diese Tatsache als das Grundübel der gesamten europäischen Bildung seit An- fang der Neuzeit. Die Geschichte der geistigen Kultur Europas seit den Tagen der Renaissance bietet das Bild einer sich immer wiederholenden Tragödie. Zunächst die Renaissance selbst. Die Renaissance war eine der glänzendsten Zeiten der Mensch- heitsgeschichte, die unvergeßlich in der Erinnerung der Mensch- heit fortleben wird, an der sich noch viele zukünftige Geschlechter, wenn sie der Verzweiflung anheim zu fallen fürchten, aufrichten werden. Und doch, wie furchtbar war gerade das Schicksal der Renaissance, dieser stolzesten Epoche der europäischen Ge- schichte, seit sie unter dem Zeichen des Christentums steht! Alles war auf einmal entschwunden, versunken. Der ganze leuchtende Frühling fortgeweht. Welch wunderbares Keimen und Schwellen war es gewesen, und nicht nur auf einem Felde, sondern auf fast allen Gebieten, auf denen sich der Mensch betätigt. Das alles lag so bald und so erbarmungslos geknickt am Boden. Die Renaissance ist eine der schönsten, aber sicher auch eine der wehmütigsten Erinnerungen der Menschheit. Ein großer Anfang und viel verheißendes Versprechen fand keine Erfüllung, sondern ein jähes Ende. — Etwas später reifte in England die dramatische Poesie Shakespeares. Shakespeare ist gewiß einer der größten Namen in der geistigen Geschichte des neuern Europa. Und wieder, kein lebendiger Strom ging von diesem gewaltigsten Dichter aus. Keine Überlieferung baute sich auf ihm auf. Und doch war auch Shakespeare ein Anfang, der hätte zeugen müssen. Seine Dichtung war wie geschaffen zu einem weiteren Ausbau, der seine wilde Kraft zur reinen Gestaltung hätte führen müssen. Aber so schroff und gänzlich
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Zweiter Teil.
brach die Entwicklung ab, daß die Dichtung Shakespeares fast Gefahr lief, überhaupt vergessen zu werden. — Die herrliche Kunstblüte Hollands war gleichfalls nur von kurzer Dauer. Sie entband keinen allgemeinen und großen Kunststil, der über viele Geschlechter Macht gewonnen hätte. Diese Kunst kam und starb; eine sehr viel spätere Zeit hatte die Aufgabe, dereinst wieder völlig von vorne anzufangen. — Kurz war auch die geistige Blüte Frankreichs. Hier bildet die Revolution den gewaltsamen Schnitt, der die alte, klassische und die neue Zeit aufs schroffste trennt, obschon die französische Literatur wohl noch die einheit- lichste Schöpfung ist, die der europäische Geist aufzuweisen hat. Dafür aber ist sie auch national sehr bedingt und vermag sich nicht mit der nötigen Kraft ins Allgemein-m.enschliche hinauf- zuschwingen. — Und nun gar erst unsere klassische Dichtung! Mit unnennbarer Liebe, aber auch mit unnennbarer Trauer denken wir an die Tage von Weimar. Wie plötzlich war nach Goethes Tode der Strom der deutschen Dichtung wieder versiegt! Das große Versprechen, das Deutschland mit der Dichtung Goethes und Schillers gegeben hatte, hat es nicht gehalten. Wie ein bitterer Vorwurf stehen Goethe und Schiller vor uns. Sie klagen uns mit ihren Gesängen an, daß wir ihr Lied nicht weiter gesungen, daß wir ihr so stolz begonnenes Werk treulos ver- lassen und verraten haben. Je schöner ihr Lied, desto schwerer für uns der Vorwurf. Denn wohlverstanden: diese Männer waren nicht des Glaubens, daß sie die Vollender der deutschen Dichtung seien, sondern daß sie die erste Grundlage für die deutsche Bil- dung schüfen. Goethe war Zeit seines Lebens ein großer Sucher; er wollte den Stil für die deutsche Dichtung erst finden. Er war weit entfernt zu glauben, daß er ihn schon in allem gefunden hätte. Er war sich des Ungeheuren der Aufgabe wohl bewußt. Mit vorwurfsvollem Erstaunen würden Goethe wie Schiller die Meinung des schon zu langen Epigonenzeitalters hören, daß sie schon alles erreicht hätten, daß alles Wünschenswerte durch sie für die deutsche Bildung schon geschehen sei. Diese hoff- nungslose Müdigkeit, dieser schmähliche Stillstand wäre ihnen unbegreiflich.
So zeigt die europäische Bildung schon seit Jahrhunderten
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Der Stil des Lebens.
ein fortwährendes Auf und Nieder. Gewaltig und staunenswert sind die Kräfte, die der europäische Geist entfaltet. In immer neuem Anlauf erstrebt er ein hohes Ziel. Und wirklich gelingt es ihm auch, einzelne Höhen zu erklimmen, oft steile Gipfel zu ersteigen. Aber immer wieder muß er sie nach kurzer Zeit verlassen und zurück in die Tiefe sinken. Er erobert kein Hoch- land. Nicht geht eine schöpferische Zeit aus der anderen hervor, wird nicht von der anderen getragen, deren Strom sie aufnimmt und weiterleitet. Der geistigen Bildung des neueren Europa fehlt der einheitliche, große Zug, das sichere, stetige Wachstum. Sie ist ein wildes Gebären, das in gärender Unruhe Schöpfung auf Schöpfung hervortreibt, ohne daß ihr die letzte, höchste Schöp- fung, nach der ihre ganze Sehnsucht begehrt, gelingt. Deshalb droht auch Gefahr, daß die geistigen Kräfte Europas nach und nach erlahmen, daß bei diesem überreizten Schöpfungsdrange, der immer wieder bis auf die letzten Quellen zurückgeht, schließ- lich der Schöpfungswille verzweifelnd erlischt. Je näher dem Mittelalter, desto kräftiger, größer und reicher sind die geistigen Blüten; je näher der Gegenwart, desto schwächer und flüchtiger werden sie. Die allgemeine Krankheit Europas kommt immer stärker zum Ausdruck und Ausbruch. Die Gegenwart ist in fast fieberhafter Erregung, wo eine Form immer die andere jagt. Alle konstruktive Kraft scheint erstorben zu sein. Dadurch freilich, daß das Leiden diesen schlimmen Grad erreicht hat, ist es auch möglich geworden, daß man es jetzt erkennt. Ohne Zweifel, Europa ist krank, im tiefsten krank.
Darum: v/ollen wir noch einmal mit Aufbietung aller Kraft eine geistige Bildung schaffen, wollen wir noch einmal den kühnen Flug in die Höhe wagen, so müssen wir zuerst dieser Krankheit Europas nachspüren und ihre Heilung versuchen. Wir müssen unserer Bildung erst den gesunden und kräftigen Boden bereiten, den sie zum Gedeihen notwendig hat und jetzt entbehrt. Wir müssen sie stark verankern, daß sie nicht wieder als flüchtige Augenblicksschöpfung vom Meere der Vergessenheit verschlungen wird; sondern was wir bauen, soll dastehen als ewiges, uner- schütterliches Denkmal unseres tiefsten Wesens. In unsere Werke soll sich unsere ganze Seele ergießen, die von keinen
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Zweiter Teil.
Leiden entstellt wird, sondern wie eine edle Flamme klar und lauter zum Himmel lodert. Nach langen vergeblichen Mühen muß endlich Europa sich selber finden, muß es ein entscheidendes Wort sprechen, das aller Unruhe und allem Chaos ein Ziel setzt und für einen monumentalen Geist den festen Grund legt.
Wenn wir die Ursache des krankhaften Zustandes Europas erraten wollen, müssen wir die europäische Bildung der letzten Jahrhunderte mit dem Mittelalter und der griechischen Bildung vergleichen. Wie ganz anders nehmen sich diese Zeiten aus! Hier herrscht nicht ein wilder Taumel der Gegensätze wie in der heutigen Kultur; hier wogt die geistige Welle nicht immer in sinn- und zweckloser Unruhe auf und nieder, gleichsam wie nur zum Spiele, nur zum Verbrauch der Kräfte. Sondern hier fügt sich sicher Quader auf Quader zu einem hehren, unvergäng- lichen Bau, der aus einem Geiste geboren ist, der so sinnvoll und planmäßig dasteht, daß er nicht wie eine künstliche Men- schenschöpfung, sondern wie ein unmittelbares Werk der Natur, nicht als gemacht, sondern als gewachsen erscheint. Eine wunder- bare Kraft liegt in diesen alten Kulturen. Das Mittelalter mag uns in seiner großen Eintönigkeit bei unserem Bedürfnis nach Individualisierung des Seelenlebens trotz aller Bewunderung, die wir ihm zollen, fremd und unzugänglich bleiben. Im Griechen- tum aber treffen wir jede nur denkbare Freiheit an. Und doch, wie ist das Ganze bei aller reichen Mannigfaltigkeit von einem Geiste durchweht, von einem Grundton getragen! Hier ge- schieht nichts vergeblich. Ein einheitlicher Sinn belebt das Ganze. Eine Tat nimmt immer die andere auf und führt sie fort. Alles webt sich zu einem wunderbaren Akkord zusammen, der geheimnisvoll über alle schrillen Dissonanzen hinweg, die er enthält, doch einen schönen, reinen Ton gibt. Die ganze Kultur hat Stil. Wie peinlich wirkt dieser Einheit, Sicherheit gegenüber, die unweigerlich ihr Ziel erreicht, die verzweiflungsvolle, nutz- lose Hast der neuen Kultur, die immer wieder zurücksinkend und wieder beginnend nie zum Ziele kommt. Nicht als ob es dem modernen Europa an Kraft gebräche. Im Gegenteil. Dies gerade ist das Tragische, daß die ungeheuren geistigen Kräfte Europas — wie es scheint, recht im Gegensatze zu den auf das
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praktische Leben gerichteten Bestrebungen — nicht zur Gestal- tung kommen können, daß sie sich nicht in sichernden Formen bändigen lassen, sondern sich in überreiztem und planlosem Schaffen verzehren.
Woher dieser Unterschied zwischen Einst und Jetzt? Worin liegt das Geheimnis der Stärke der alten Bildungen und die Schwäche der neuen Bildung? Die alten Kulturen ruhten auf einem starken und sicheren religiösen Untergrunde. Die Menschen von damals als Menschen hatten Stil. Sie standen fest und unerschüttert auf starken Füßen. Ausgesprochen oder unausgesprochen gab ihnen ein felsenfester Glaube Halt, der sie nie verließ, der all ihr Sein und Tun durchdrang. Kein bohrender Zweifel hatte den Grund ihrer Seele unterwühlt. Herz- haft und ohne Bedenken hatten sie eine bestimmte Art des Seins ergriffen, der sie sich ganz überließen, der sie sich ganz über- lieferten, ohne jeden Rückhalt, mit der ganzen Kraft ihres Wesens. Die Menschen hatten Charakter. Und nur der Cha- rakter ist schön, nur der Charakter schafft etwas Schönes. Die geistige Bildung, die Dichtung und die Künste können nur Stil haben, wenn das Leben als solches Stil hat. Die Menschen als sittliche Wesen müssen gebildet sein, sie müssen einen sittlichen Charakter haben, der eindeutig und unverkennbar ist. Wer ein reiner und klarer Mensch ist, gebiert auch reine und klare Werke.
Ich sage, das Leben soll Stil haben. Was bedeutet Stil? Stil heißt die Tatsache, daß eine Mannigfaltigkeit sich unter einen Gesichtspunkt ordnet, daß sehr vielfache und verschiedene Elemente von einem Gedanken oder auch von einem Ge- fühle durchdrungen und beherrscht werden. E i n Sinn muß seine bindende Macht auf alle an sich zusammenhangslosen Teile eines Ganzen ausstrahlen, so daß alle Einzelheiten auf e i n Ziel gerichtet sind, einem gemeinsamen Zwecke dienen. Die Einheit im Vielfachen, das unsichtbare Band, das die Einstellung auf einen Zielpunkt um einen Kreis vieler getrennter Dinge schlingt, das ist Stil. Auf dieser Einheit trotz des Reichtums, auf dieser Unterwerfung vieler Einzelheiten unter einen höchsten Sinn, den sie gemeinsam verwirklichen sollen, auf dieser Ge-
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meinsamkeit des Zweckes und Zieles, die eine bunte Fülle vieler Besonderheiten in der Idee zusammenfaßt, beruht die Ordnung, die Harmonie, die allen Werken, die Stil haben, innewohnt. Auf dieser Vereinigung und Richtung vieler einzelner Kräfte auf ein großes und letztes Ziel hin, beruht auch der eigentümliche Eindruck der Stärke und Kraft, den jedes Gebilde von Stil er- weckt. Tausend Worte sprechen einen Gedanken aus, tausend Bilder lösen e i n Gefühl aus, befreien eine Stimmung. Keine Kraft wird verzettelt. Alles drängt unerbittlich, ohne Seiten- blicke, mit vollem Nachdruck, auf ein höchstes Etwas zu, das als oberster Zweck über dem Ganzen schwebt. Das Ganze bietet das Bild der gesättigten, gedrängten Kraft.
Wann hat nun das Leben Stil? Wie bekommt es Stil? Nicht anders als jede andere Schöpfung. Das Leben des Menschen erhält Stil, wenn es in seiner ganzen Ausdehnung und Stärke auf einen tiefsten Punkt bezogen wird, wenn ein herrschender Gedanke das ganze Leben durchzieht, durchflutet, mit sich reißt, so daß es unaufhaltsam und unablenkbar in einer Richtung dahin- strömt. Soll das Leben Stil haben, so muß ein höchster Sinn über dem Leben walten. Jede kleinste Regung, jede Heiterkeit und jeder Ernst, jedes Verlangen und jeder Abscheu, jedes Ruhn und jedes Tun muß sich diesem höchsten Sinne einfügen, muß zu diesem allgemeinen und umfassenden Ziele hindrängen. Der Mensch als Mensch hat Stil, wenn er Religion hat. Die Religion ist das Allgemeinste des seelischen Lebens, der tiefste Kern des menschlichen Geistes, die Sonne, um die all unser Emp- finden und Handeln kreist. Die Religion stellt sich dem Leben in seiner ganzen Erscheinung gegenüber, faßt das ganze Leben unter einem Bilde und sucht eine tiefste Deutung dieses Bildes. Sie enthüllt den geheimnisvollen und letzten Untergrund des gesamten Daseins. Und weil sie den Ursprung und die tiefste Quelle des Lebens aufdeckt, so weiß sie auch dessen höchste Aufgabe und obersten Wert. Sie gibt dem Leben das letzte Ziel. Sie richtet einen höchsten Zweck über dem Leben auf und ver- leiht damit allem Begehren und allem Handeln die feste Richtung. So schafft sie dem Leben die Einheit; die Einheit aber wieder verleiht dem Leben den Stil und die Kraft.
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Der Stil des Lebens.
Die Sittlichkeit des Menschen nämHch ist gänzHch von seiner Religion abhängig. Ohne Religion, ohne Verankerung in einer religiösen Betrachtung der Welt ist Sittlichkeit überhaupt nicht denkbar. Nur wenn das wahre Wesen des Seins enthüllt ist, wenn ein höchster Sinn des Lebens begriffen ist, können, auf diesen letzten Sinn und Zweck des Lebens sich stützend, Normen für das Handeln aufgestellt werden. Ohne solche metaphysische Be- gründung, die das menschliche Leben mit seinem letzten Zweck in den allgemeinen Weltzweck einordnet, schwebt die Sittlichkeit in der Luft. Jeder Versuch, eine ,, reine" Sittlichkeit auszu- bilden, die solcher metaphysischen Stütze entbehrt, muß scheitern; wo man aber das Ziel erreicht glaubt, beruht dies auf Einbildung, indem unbewußt und uneingestanden metaphysische Auffas- sungen den sittlichen Normen, die man fordert, zugrunde liegen. So gibt allein die Religion, indem sie das Leben unter einem ein- zigen höchsten Zwecke begreift und im Hinblick auf diesen einen Zweck und Sinn alle Gesetze des Lebens bestimmt, dem Leben den sicheren Halt, die kraftvolle Ordnung. Sie allein baut das Leben, gibt ihm den einheitlichen sinnvollen Zug, die klare Gestalt. Um so mehr aber wirkt die Religion dies, als sie kein kaltes Wissen bleibt, nicht eine tote Erkenntnis des letzten Welt- grundes und der Bedeutung und Aufgabe des Menschen ist, son- dern eine lebendige Überzeugung, die den ganzen Willen durch- dringt und fortreißt. Sie zündet in der Seele des Menschen ein Feuer an, daß er mit aller Leidenschaft das vorgezeichnete Ideal ergreift. Auf diese Weise gestaltet allein die Religion den Men- schen. Sie allein schafft organisierte Menschen. Men- schen ohne Religion, ohne religiösen Schwerpunkt, ohne den beherrschenden Sinn, den allein die Religion in ihr Leben legt, sind notwendig flatterhafte, zerstreute Gebilde, die nie imstande sind, ihre Kräfte zusammenzufassen, sondern bald hierhin, bald dorthin schwanken. Die Menschen hingegen, die in einer Religion wurzeln, die eine feste Stellung zum Dasein gewonnen haben, die wissen, was sie sollen und was sie wollen, sie allein sind wahrhafte Menschen; deren Leben hat Stil, harmonischen Fluß, Kraft. Solche Menschen aber können auch gar nicht anders als stilvolle Werke hervorbringen, Werke, die sinnvoll
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Zweiter Teil.
gebaut und gegliedert sind, die unter einem herrschenden Ge- danken stehen. Den Charakter, den ihnen ihre Religion verleiht, müssen sie auch in ihre Werke hineintragen. Charakterlose, unruhige, widerspruchsvolle Schöpfungen schmerzen sie, diese wehren sie weit von sich, ihr tiefstes Wesen verschmäht sie. Hierbei bedarf es für sie gar keines klaren Entschlusses, keines bewußten Willens zum Stil. Sondern ganz unwillkürlich er- zeugen sie Werke, die wie sie selbst Charakter haben. Unfehlbar und sicher steigen aus ihrer schönen Seele die schönen Werke hervor. Und ist es nicht ein einzelner, der durch Religion zum starken Menschen gebildet ist, zum Menschen von Zucht und Stil, sondern genießt ein ganzes Geschlecht den unermeßlichen Segen einer sicheren, religiösen Stütze, die das ganze Leben trägt und hält, besitzt ein ganzes Zeitalter in einer Religion den festen Pol für sein geistiges Leben, und wieder, ist es nicht nur e i n Zeitalter, e i n Geschlecht, sondern eine ganze Kette von Geschlechtern, die in ungestörter Abfolge einen eindeutigen klaren religiösen Glauben haben, der sie alle verbindet und zu einer großen gemeinsamen Wirkung vereint, dann feiert die Menschheit ihre höchsten Triumphe. Dann steigt, indem von Geschlecht zu Geschlecht die Woge der Kraft immer mächtiger anschwillt, schließlich die Vollkommenheit selber nieder auf Erden, dann entstehen Schöpfungen, wie die griechische Kunst und Dichtung, oder wie eine Kathedrale des Mittelalters.
In Europa haben zwei religiöse Auffassungen, zwei Grund- religionen, die alle unbedeutenderen und kleineren Abarten von Religion und religiösen Bestrebungen in sich begreifen, nachein- ander geherrscht. Man muß sich von dem Irrtum freimachen, als ob das Christentum die einzige europäische Religion sei, die von jeher und für immer Europa ihr Wesen aufgeprägt hätte. Vor dem christlichen Zeitalter liegt bekanntlich die glänzende griechisch-römische Welt. Diese aber hat eine lebendige und kräftige Religion, einen zuversichtlichen, unzerstörbaren, un- wandelbaren Glauben gehabt, der das Leben mit der ganzen Fülle seiner Äußerungen und Wirkungsweisen durchdrang, der die Menschen unbewußt band und stärkte, daß sie nur voll- kräftige, eindeutige, klare Werke erschufen, deren unvermin-
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derter Glanz uns noch heute entzückt. Nur weil sie einen un- erschütterlichen religiösen Glauben als feste Grundlage des Lebens besaßen, gelang ihnen auf allen Gebieten das Höchste. Um die griechische Religion zu erkennen — griechisch ist diese Religion zu nennen, weil das griechische Volk geistig allein schöpferisch im Altertum war, dessen Auffassungen die späteren Römer nur übernahmen — um die griechische Religion zu be- greifen, ist es erforderlich, daß man zwei Vorurteile abwirft, die diesem Verständnis entgegenstehen. Man darf zunächst nicht glauben, daß die gebundene, starre Form der Religion, wie wir sie vom Christentum kennen, das bekanntlich aus dem geistig gebundenen Orient stammt, die einzig mögliche sei, daß die Religion immer auf bestimmte feste Formeln muß gebracht werden können, die in der Regel auch eine starre priesterliche Organisation im Gefolge haben. Die griechische Religion lebte als ein unzerstörbares Gefühl in den Herzen der Menschen, das kaum bewußt, aber darum nur um so sicherer, ja fast unfehlbar das Handeln der Menschen bestimmte. Diese konnten gar nicht anders als nur auf eine Weise denken und leben; für ihre Lebens- begriffe und Lebensweise bedurfte es weder eines furchterregenden Befehls noch eines sicheren Beweises. Daß man auch anders zum Dasein stehen könnte, mit anderen Wertschätzungen das Leben betrachten und führen könnte, kam ihnen kaum in den Sinn. Daraus aber, daß in Griechenland die festen religiösen Formeln, die starre Dogmatik fehlt, darf man nicht auf das Fehlen einer Religion überhaupt schließen. Die Griechen besaßen in der Tat Religion und nur dadurch wurden sie stark und groß und — schön. — Der zweite Irrtum, den man ausschalten muß, um der griechischen Religion näher zu kommen, ist der, als ob Religion immer und unter allen Umständen Gottes- oder Götter- religion sein müßte. Dies ist nicht der Fall. Es ist auch völlig ungöttliche, widergöttliche Religion denkbar. Bei der griechi- schen Religion sind die Götter etwas ganz und gar Nebensäch- liches, Weltglieder, die ohne Schaden für das gesamte Weltbild und die Stellung des Menschen im All auch fehlen könnten. Schon bei dem ältesten Dichter Homer sind die Götter jeder religiösen Kraft beraubt; schon hier ist der religiöse Schwerpunkt
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Zweiter Teil.
anderswohin verlegt. Zwar hat etwas später eine Art religiöser Reformation im Gegensatz zu Homer die Götter wieder in ihr altes Recht einzusetzen versucht, indem man das Wesen der Götter vertiefte. Indessen dieser Versuch mißlang. Die durch Homer vollzogene religiöse Wendung des griechischen Geistes blieb siegreich. Im Mittelpunkt des religiösen Empfindens der Griechen steht nicht Gott, sondern der Mensch. Ausgangspunkt der griechischen Religion ist nicht das Sündenbewußtsein, sondern der Stolz. Das religiöse Rätsel und die religiöse Aufgabe liegt nicht in der Ewigkeit, sondern in der Zeitlichkeit. Es ist hier nicht der Ort, die griechische Religion zu beschreiben. Ich komme in späteren Betrachtungen gelegentlich auf sie zurück. Genug sie bestand, und nur ihr verdankt die griechische Kultur ihren einheitlichen Stil, ihre naive Sicherheit, ihre unwidersteh- liche Kraft.
Der griechische Geist wurde abgelöst durch das Christentum. Das Christentum stellt sich als den vollständigen Gegensatz gegen das Griechentum dar, als dessen gerade Umkehrung. Was dort verehrt ward, wird hier gehaßt; was dort verachtet ward, wird hier geheiligt. Nachdem der Mensch lange vertrauensvoll einen Pfad gewandert war, überkam ihn plötzlich die Sorge, daß es ein Irrweg sei, auf dem er achtlos dahinschreite, und so schlug er reuevoll den entgegengesetzten Weg ein, um sein Heil zu finden. Das Christentum war wirklich eine Umwertung der griechischen Werte. Zwar war diese Wendung durch das ver- fallende Griechentum schon vorbereitet. Aber gegen das alte Griechentum, das den griechischen Glanz, die griechische Herr- lichkeit geschaffen hatte, war das Christentum der schroffste Gegensatz. Der Mensch begann ein gänzlich anderes Leben, ergriff ein völlig neues Sein. Aber wieder nach einiger Zeit des Schwankens gab er seine ganze Seele an diesen neuen Glauben hin. Mit der gleichen Leidenschaft wie ehemals das heidnisch-griechische Ideal, verfolgte er jetzt das christliche Lebensziel. Wieder fühlte er festen Boden unter seinen Füßen, das Auge erblickte einen klaren Horizont. Durch einen unver- äußerlichen, sicheren Glauben gestärkt, konnte der Mensch von neuem das Leben gestalten. Wieder bekam sein Leben Stil.
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Die großen Werke des christlichen Zeitalters sind noch unver- gessen, so daß es überflüssig ist, auf sie hinzuweisen; sie ragen noch unmittelbar in die Gegenwart hinein. Ein Blick auf eine mittelalterliche Kirche lehrt uns die einstige Macht des christ- lichen Glaubens und den befruchtenden Segen dieses Glaubens, seine gewaltige Zeugungskraft. Hat der Mensch in einer Re- ligion einen festen Halt, dann müssen eben seine Werke, wofern er überhaupt zu höheren Schöpfungen fähig ist, klaren Sinn und Charakter haben. Nichts anderes aber ist, wie wir hörten, Stil. — Das menschliche Wesen kann in die verschiedensten Formen eingehen, der Mensch kann seinem Leben diese oder jene Gestalt geben; unzählige Möglichkeiten der Entwicklung liegen vor ihm ausgebreitet. Aber das Leben und Sein, das er ergreift, muß er mit ganzer Seele ergreifen. Kein Zweifel darf ihn an- fallen. Mit voller Zuversicht muß er einem bestimmten Glauben, einer Religion, die ihm unvermeidlich dünkt, huldigen, und auf Grund dieser, im Hinblick auf sie das Leben formen. Was der Mensch glaubt, steht ihm frei; aber d a ß er glaubt, mit aller Macht und Liebe glaubt, das ist für ihn Zwang, wofern er Größe und Schönheit will. So sicher und wohlgeborgen ruhten in ihrem Glauben der Grieche und der Christ des Mittelalters. Deshalb reden auch ihre Werke solche starke Sprache. Deshalb liegt über ihren Werken ausnahmslos diese selbstgewisse, gänzlich zweifels- freie Schönheit ausgegossen. Deshalb klingen die Werke dieser Zeiten alle zu einem so herrlichen einzig schönen Akkord zusammen. Und jetzt? Und heute? Dort, wo wir das Mittelalter auf- hören lassen, von wo wir den Beginn der Neuzeit rechnen, an dieser Grenzscheide der Zeiten, begann das Christentum, bis dahin der feste Glaube Europas, der Fels seiner Seele, zu wanken. Damals begann das Vertrauen zu dem alten Lebenssinn und Lebenswert zu schwinden. Und seitdem hat Europa keine frohe Stunde mehr erlebt. Seitdem be- findet sich der europäische Geist in fortwährendem Aufruhr. Die alten Heiligtümer blickt er mit Mißtrauen an, neue aber hat er nicht zu schaffen vermocht. Der Lebensstil, den das Christen- tum dem europäischen Menschen gab, ist verloren. Einen an- deren Stil aber konnte er nicht gewinnen, weil ihm die Religion,
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Zweiter Teil.
der einheitliche und beherrschende Gedanke für sein Leben ge- brach. So ist das Leben Europas schon seit Jahrhunderten der wildesten Unruhe preisgegeben. Der europäische Mensch kommt nicht mehr aus der Angst und Sorge heraus, da das Rätsel des Daseins ihn unablässig verfolgt. Er weiß seinem Leben keinen Sinn zu geben, und das macht sein Leben so zerstreut und wech- selnd, so kraftlos. Was er auch für Kräfte einsetzt, was er auch Großes und Erstaunliches schafft, plötzlich fällt ihn das böse Gewissen an', sein eigenes Tun erweckt ihm Schauder, und nun zertrümmert er, Reue und Entsetzen im Busen, was er soeben noch mit aller Hoffnung und Liebe gebaut hat. So kommen und vergehn die Bildungen und Stile in Europa in wirrem und jähem Wechsel. Nach jedem Aufschwünge, jeder freudigen Erhebung folgt der plötzliche Bruch, der Zusammenbruch. Man kann es genau verfolgen, immer, wenn in den letzten Jahrhunder- ten eine Bildungsform in Stücke ging, wenn irgendeine große Hoffnung der geistigen Kultur Europas scheiterte, war ein Wechsel der Weltanschauung an diesem Umschwünge, diesem plötzlichen Untergange schuld. Nachdem der Mensch der Re- naissance in schroffem Gegensatz zu dem überwundenen christ- lichen Ideal des Mittelalters ein neues Leben gefunden hatte, und in aller Freude und Hoffnung schwelgend als Siegeszeichen des neuerrungenen Lebens ein zauberisches Reich der blendendsten Schönheit geschaffen hatte, faßte ihn plötzlich ein Schaudern, eine grausige Furcht lähmte sein Herz, ob er nicht mit dem neuen Leben, das er begonnen, die Sünde der Sünden beginge. Alle alten totgeglaubten Ideale wurden wieder wach und ver- störten sein Gemüt. In jenen furchtbaren, Schrecken verbrei- tenden Bußpredigten des Savonarola in Florenz wurde diese Stimme des Gewissens laut. Und dieser religiöse Umschwung siegte, und so sank die ganze Herrlichkeit der Renaissance in Trümmer. — Jener eigentümlich gewaltsame, lebenswahre und lebensstarke Geist, der die ganze Frühzeit der englischen Kultur durchdringt und in Shakespeare seinen stärksten Ausdruck fand, wurde durch die puritanische Bewegung hinweggefegt, unter deren Nachwirkung die englische Bildung noch heute leidet. Wieder tat der Geist Buße. Wieder hatte ein Wechsel der Re-
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ligion, des religiösen Empfindens eine hohe geistige Blüte jählings abgebrochen. — Für das klassische Zeitalter Frankreichs be- deutet Rousseau das böse Gewissen, der entgegen der stolzen, selbstgewissen Bildung jener Epoche, die keinen Zweifel und keine Reue kannte, leidenschaftlich die unbedingte Verwerflich- keit aller menschlichen Kultur behauptete. Wieder faßte sich der Mensch erschrocken vor die Stirn und wähnte, daß er schleunigst abbrechen, umkehren müßte. — Nachdem unsere großen Dichter in ihrem neuhumanistischen Ideal einen sittlichen Halt, eine religiöse Grundlage für ihr Leben und Schaffen ge- funden hatten, das als der starke Grundton durch alle ihre Werke hindurchklingt, allen ihren Werken den bestimmten Charakter, die siegessichere Schönheit leiht: die nächste Generation der Romantiker ward schon wieder an diesem Ideale irre, war schon wieder vom Zweifel angekränkelt und trat büßend den Rückzug an. — So sehen wir den eigentümlichen Wechsel der Bildungs- formen, den schnellen und unvermuteten Untergang aller gei- stigen Glanzepochen der letzten Jahrhunderte immer geknüpft an einen Umschwung, eine Wendung auf dem Gebiete der Welt- anschauung, der Religion, der allgemeinen Stellung zur Welt und zum Leben. Das neuere Europa hat keine Religion; das ist sein tiefes Leiden. Deshalb kann es zu keiner dauerhaften und siegreichen Kultur kommen. Immer wieder bricht der Boden unter ihr, ihre unentbehrliche Unterlage zusammen. Mit Schmerz fühlen wir unsere Gaben und Kräfte ungenützt; sie werden ver- zettelt, fast nutzlos vertan. Sie kommen nicht so zum Durch- bruch, wie wir wohl möchten, wie wir es unseren Kräften zu- trauen, wie wir es von ihnen unter besseren Umständen hoffen und ahnen. Dies ist aber ein bitteres Leiden. Und dieser Kum- mer der unerlösten Kraft, der nur halb gehobenen Schätze liegt nicht nur auf dem Leben und den Werken der Großen, die Europa ihr Wesen aufgeprägt haben. Dieser Schmerz des gehemmten Willens, der gestauten Kräfte beklemmt die Seele jedes noch so kleinen und verborgenen Einzelnen. Wo ist heute der Mann, der freudig und beseligt auf sein Werk schaut? Alles Beste und Stärkste bleibt eingeschlossen in festen Hüllen, so daß es im Grabe dieses Gefängnisses verkümmern muß. Niemand
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vermag seine letzte, geheimste Kraft ans Licht zu stellen. Jeder trauert still um sein verlorenes Leben.
Gewiß, der europäische Geist hat nach dem Sturze des Christen- tums, nachdem wenigstens das früher schrankenlose Zutrauen zu der Welt- und Lebensbetrachtung des Christentums schwan- kend geworden war, vielfach den Versuch gemacht, das erschüt- terte Fundament des inneren Lebens mit jungen, selbständigen Weltanschauungen neu zu gründen. Aber diese Versuche waren immer nur halbe Taten. Diese Gedanken waren nicht wahrhaft frei und selbständig, sondern lehnten sich immer noch bewußt oder unbewußt an das alte religiöse System an, das als Ganzes aufgegeben war. Sie stammten aus einer geteilten Seele. Und deshalb besaßen sie nicht die volle Kraft, dem Leben einen festen und dauernden Halt zu geben; deshalb schmolzen sie immer wieder in Kürze hin und ließen die bitterste Enttäu- schung zurück. Als in der Renaissance, der Geburtsstunde der modernen europäischen Kultur, der Wissensdrang erwachte, und bald zu Entdeckungen führte, die mit den religiösen Wahrheiten im Widerspruch standen, suchten die ängstlichen Geister in der Annahme Zuflucht, daß es eine doppelte Wahrheit gäbe, daß etwas in der Theologie wahr sein könnte, was in der Philo- sophie nicht wahr wäre und umgekehrt. Dieser Gedanke war kein Scherz, auch nicht die geschickte Ausflucht verschlagener Männer, die dadurch der kirchlichen Verfolgung, die sie zu fürchten hatten, entgehen wollten, sondern, wie ein tüchtiger Forscher mit Recht ausführt, die ganz ehrliche und naive Über- zeugung hilf- und ratloser Geister, die mitten zwischen entgegen- gesetzten Weltauffassungen eingeklemmt waren, die schaudernd auf der gefährlichen Brücke von der Vergangenheit in eine neue Zukunft standen. Und diese Doppelheit, dieses Schauen nach hinten und vorn, dies Leben in der Vergangenheit und in der Zukunft durchzieht die ganze Welt, das ganze Werk der Renais- sance. Ich möchte aber weitergehen und behaupten, daß diese Doppelheit, dies Schwanken zwischen Gegensätzen, dies Wollen und doch nicht Wollen mehr oder weniger versteckt das euro- päische Denken und Fühlen dieganzenjahrhunderte hindurchseitder Renaissance bisunmittel-
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bar in die Gegenwart hinein beherrscht hat und daß hierin die eigentümHche Schwäche der europäischen Bildung begründet liegt. Man hat oft behauptet und es ist auch wohl nicht zu bezweifeln, daß Kant der größte Philosoph der letzten Jahrhunderte ist. Aber Kant ist der klassische Philosoph der doppelten Wahrheit. Die Zwie- spältigkeit des europäischen Denkens, die in der Renaissance schon angelegt war, kommt in Kant zum höchsten Ausdruck, findet bei Kant ihre tiefste Rechtfertigung. Bei Kant wird immer ein und dasselbe je nach dem Standort bald bejaht und bald verneint. Kant sammelt alle die vielfachen und widerspruchs- vollen Richtungen des europäischen Denkens in einer tiefsinnigen Einheit, er verbindet die schroffsten Gegensätze, über alle klaf- fenden Abgründe schlägt er Brücken. Aber liegt hierin die zeitliche Stärke einer solchen Philosophie, so liegt eben darin für die Dauer auch ihre Schwäche, der Keim ihres Todes. Denn immer wieder streben die unversöhnlichen Gegensätze trotz aller Kunst, trotz alles Geistes und Tiefsinnes, die an die Versöhnung gewandt waren, auseinander, und es bleibt die alte Wirrnis un- gehoben, unverändert in den Gemütern zurück. Dies war der Charakter der europäischen Philosophie bis jetzt. Unfrei und schwankend, nach allen Richtungen schielend, konnte sie den Untergang des religiösen Glaubens nicht ausgleichen. Und mag auch ein anderer Grund die letzte Erklärung für die Schwäche der europäischen Philosophie abgeben, die Tatsache dieser Schwäche besteht, der Erfolg liegt klar am Tage. Für das verlorene Weltbild des Christentums hat sie uns keinen genügend starken Ersatz geboten. Noch immer sind wir im Innern ver- worren und unklar, noch immer gleicht unsere Seele einem wilden Chaos. Der Wirbel des Zweifels durchwühlt uns. Uns fehlen nach wie vor die festen Umrisse des Seins. Das Leben hat keinen einheitlichen Sinn. Und deshalb können wir auch unsere Kräfte nicht sammeln und nicht gestalten; deshalb können wir kein vollendetes, hehres Reich der Schönheit aufführen. Deshalb zerfließt uns imm.er wieder alles Geschaffene im Sande. Deshalb sind auch unsere glänzendsten Taten immer von einem Hauch der Tragik angeweht.
Hörne ff er, Das klassische Ideal. 217 ^4
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Ich komme zum Schluß. Wenn wir eine neue Bildung schaffen wollen, wenn wir nicht von vornherein alle Hoffnung auf eine geistige Wiedergeburt, auf eine große und dauerhafte, in sich vollendete geistige Kultur begraben wollen, so ist eins vor allem nötig: die religiöse Reformation. Unsere vor- nehmste Aufgabe muß sein, daß wir dem Leben als solchem einen neuen Gehalt und eine neue Form geben. Wir müssen uns erst zu Menschen erziehen. Sache des Menschen aber ist es, daß er nicht immer nur dem Augenblicke hingegeben lebt, daß er bald dieser, bald jener Mensch ist, daß er heute sucht, was er gestern geflohen. Sondern nur so kann er seine Würde als Mensch behaupten, daß er sein ganzes Leben unter einem Blicke faßt, daß er das Leben mit seiner vollen Kraft und Tiefe unter einen einzigen mehr oder weniger festen Willen zwingt. Und da der Mensch immer das Glied einer größeren Gruppe ist, so ist, damit jeder sein Höchstes leiste, notwendig, daß auch jede räumlich und zeitlich ausgedehnte Gruppe, jedes Volk, jede Kultursich einenzusammenhängenden, weitgespannten, unveränderlichen Willen gibt, der mit geheimnisvollem, un- bemerktem Zwange alles Sehnen und alles Schaffen in eine Richtung lenkt. Dies aber kann allein durch eine Religion ge- schehen. S o kann der Mensch das Chaos in sich überwinden, s o wird der Mensch zum Menschen erzogen. Das also erschaf- fene Leben aber, das schon im Keime den bildnerischen Kern trägt, das schon in sich ein Kunstwerk ist, das in allem seinem Wesen die hohe Weihe des Stils zeigt, dies Leben muß auch fort und fort von Schönheit perlen. Immerdar, immer gleich und immer wechselnd, müssen aus seiner reinen Tiefe Wunder über Wunder aufsteigen. Das gestaltete Leben gebiert notwendig gestaltete Werke. Deshalb suchen wir dies verlorene Gut, die Religion, wiederzugewinnen! Aus dem Verluste der Religion stammt alle Qual, aus ihrer Wiedergeburt wird alles Glück des Geistes stammen.
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DIE KÜNFTIGE RELIGION.
1. NIETZSCHE UND DIE STAATS- PHILOSOPHEN ALS ERZIEHER.
Manches Zeitalter der Geschichte hat schon seine religiöse Not gehabt. Bald mußte ein Glaube, der in seinem Kern und Wesen noch fest stand, das Kleid wechseln. Eine veraltete religiöse Form zerfiel und wurde durch eine andere ersetzt. Bald wurde auch eine überkommene Form, die sich tief eingelebt hatte, mit ganz neuem Sinn erfüllt. Ein neuer Geist zog in eine alte Behausung ein, gab alten Einrichtungen wieder Kraft und Leben. Bei jedem solchen Wechsel und Umschwung aber wurde die Zeit erschüttert, schäumte das Leben in der Tiefe auf. Uns wird heute eine sehr viel härtere Aufgabe zugemutet. Wir sollen Form und Inhalt, Kleid und Wesen der alten, einst so tief geliebten und noch mit allen Schauern der Ehrfurcht umwobenen Religion zugleich verlieren und erneuern. Das wird ein schweres Abschiednehmen. Um so mehr, als die alten religiösen Gebilde, und der Geist, der Glaube, der sie erfüllte, so seltsam lange, fast zwei Jahrtausende lang geherrscht haben, so daß sie die Seele des Men- schen bis in ihre verborgensten Winkel eingenommen haben und noch fest in ihrem Banne halten. Fast konnte es scheinen — und viele haben es geglaubt und glauben es noch — als ob der Mensch mit diesen Schöpfungen sein religiöses Ziel erreicht hätte, als ob hiermit das Ende alles religiösen Verlangens, aller schaffenden
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Zweiter Teil.
religiösen Kraft gefunden sei, als ob die Menschheit auf dem gewonnenen Grunde, in den einmal ergriffenen Bahnen sich ewig fortbewegen würde. Solche Mächte abzuschütteln, sich von solchen Mächten zu scheiden, hält schwer. Noch einmal klingt die ganze Vergangenheit zu uns herauf, drängt sich an unser Herz, lockt uns und sucht uns festzuhalten, da wir in eine neue Zukunft fortstürmen möchten. Wir aber dürfen uns durch solche Lockrufe nicht verführen lassen. Denn jetzt oder niemals werden wir ein höheres Reich erklimmen, ein stolzeres Dasein erobern. Auch im geistigen Leben gibt es Entscheidungen, wo alles an wenig Augenblicken hängt. Auch hier kann eine große, erlösende Tat für eine Ewigkeit verpaßt werden. Die menschliche Entwicklung vollzieht sich stoßweise. Wenn nicht zur rechten Stunde ein v/ichtiger Schritt geschieht, wenn im entscheidenden Augenblick der Mut stockt, können ungezählte Jahrhunderte verrinnen, ehe die Gelegenheit wiederkehrt. Dann verharrt die Menschheit für unabsehbare Zeit unbewegt in starren, kalten, inhaltsleeren Gewohnheiten als ein erfrorenes Leben. Wer weiß, wann und ob überhaupt wieder das Leben erwacht, ein neuer Frühling das Eis schmilzt und den Menschen zu junger Tat erweckt? Heute ist solche entscheidende Stunde. Entweder der Mensch v/idersteht den Versuchungen der Vergangenheit, die heute zahllos ihre gefährlichen Fangarme nach ihm ausstreckt, er macht einen gewaltsamen Schnitt zwischen ehemals und zukünftig, er stellt sich frei zur Welt und bestimmt neu den Weg, auf dem er wandeln will: dann tritt er in eine höhere Ordnung ein, ein neuer Morgen blüht ihm auf, ein Tag ist zur Rüste gegangen, ein anderer beginnt. Oder der Mensch verzagt in dieser Schicksalsstunde, er läßt sich umgarnen, er nimmt das Erstorbene, Tote, der Vergangenheit vergilbten, verstaubten Rest als etwas Lebendiges, Frisches, er sucht sich auch ferner an ihm zu halten, sich an ihm zu sättigen, sich in seinem Schutze zu bergen: dann spart er den Sturm, die Gegenwart lernt nicht die Schauer des Todes und die Geburtswehen eines neuen Lebens kennen — aber das Leben ebbt auch matt und matter hin, der Mensch fristet in sinnlosen, erstorbenen Formen ein hohles Scheinleben. Und auch das nicht mehr lange. Bald sind die
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Die künftige Religion. I.
Kräfte, die sich zur rechten Zeit nicht erneuerten, ganz versiegt. Dieser Menschenkreis hat ausgelebt. Vor die Wahl zwischen Tod und Leben gestellt, hat er in der verhängnisvollen Stunde der Entscheidung den Tod gewählt.
Das alles steht heut auf dem Spiel. Möchte doch der Mensch der Gegenwart den Ernst der Lage begreifen! Er hat die Jahr- tausende in der Hand. Sein Wort wird Befehl für ungezählte Geschlechter; in seiner Entscheidung liegt Fluch und Segen für eine unbegrenzte Zukunft beschlossen. Nach seinem Takt und Ton bewegt sich die Nachwelt gehorsam und von unwidersteh- lichem Zwange gezogen. Er ist zum Gesetzgeber berufen, zum Richter, dem sich die Nachkommenschaft, willig oder gezwungen, jedenfalls unfehlbar beugt. Drum rüste er sich zu seiner schweren Aufgabe! Spreche er ein klares Wort! Daß in seinem Busen sein Herz nicht bebe! Denn Härte und Mut bedarf der, auf dem ein Schicksal ruht.
Gar lange haben wir immer nur dumpf und trübe dahingelebt. Eine unverstandene, geheimnisvolle Wehmut erfüllte den Geist darum, daß niemals Großes mehr geschah, gar nichts Erstaunliches sich mehr den Blicken bot. Die Sehnsucht nach Großem war unsere Krankheit, unser Kummer, der uns lahmlegte, unser stetes, quälendes Leid. Wohlan! Der Tag zu einer großen Tat ist angebrochen. Ein stolzes, kühnes Werk, noch verhüllt und ungeboren, ruft nach den Tätern. Auf! Seien wir zu dieser Tat bereit und willig! Hier ist Gelegenheit Mut zu zeigen. Und nicht nur Einzelne, Wenige, Bevorzugte sind hier berufen. Der Weckruf ergeht an jeden. Wir alle können das stolze Glück einer nie gekannten Erhebung erfahren, wenn wir einen großen Entschluß fassen. Die Stunde der Entscheidung ist da; es fragt sich, wie sie die Menschen findet.
Ich sagte, die Form wie der Gehalt der überlieferten Religion sind in gleichem Maße verblaßt und abgestorben. Ich will im folgenden ausführen, wie ich mir denke, daß wir beide Seiten des religiösen Lebens wieder auffrischen können, welches Lebendige und Wahre wir an Stelle des überlieferten Toten und Unwahren setzen müssen. Und zwar spreche ich zunächst von der Form der Religion, ihrer äußeren Erscheinung, Verfassung, in welcher
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Zweiter Teil.
Weise das religiöse Bedürfnis sich in Zukunft bei Schaffenden wie bei Empfangenden ausdrücken und betätigen soll.
Alle religiösen Anschauungen und Einrichtungen, die uns die Vergangenheit vererbt hat, ruhen auf dem Glauben an Offenbarung, an irgendeine einst auf wunderbare Weise dem Menschen ohne sein Zutun geschenkte Wahrheit. Dieser Glaube ist heute zerstört. Wir glauben nur noch an erworbene Wahrheiten. Auch die letzten, tiefsten Einsichten, die über des Menschen ganzes Glück entscheiden, an denen sein ganzes Sein und Leben hängt, kann der Mensch sich nur mit den Mitteln seines eigenen Geistes erringen. Sie kommen nie von oben zu ihm herab. Dadurch aber wird die alte Form der Religion hinfällig. Denn sie ruht gänzlich auf diesem Glauben an Offenbarung als ihrer Grundlage, und niemals kann sie diese Grundlage, ohne sich selbst aufzuheben, verlassen. Deshalb muß eine andere geistige Macht, die in völliger Freiheit und selbständig die letzten Rätsel ergründet und dem Menschen den Sinn seines Daseins aufschließt, — und dies ist ja Zweck und Aufgabe der Religion — an die Stelle der Religion treten, die Rolle der Religion übernehmen, nämlich die Philosophie. Zwar muß die Philosophie, die diese Aufgabe erfüllen soll, durchaus besonders und eigentümlich geartet sein. Es kann nicht jene dürre und kalte Philosophie sein, wie sie bisher die Herrschaft übte. Diese kann nie die Religion ersetzen. Es muß eine kräftige, aus dem Herzen quellende, lebendige Philosophie sein, eine Philosophie, wie sie Nietzsche vorschwebte, wie sie Nietzsche zuerst zu verkörpern suchte. Eine Philosophie muß es sein, die nicht nur das Seiende aufhellt, nicht nur das Siegel aller vorhandenen Erscheinungen abhebt, sondern mutig auch in die unerfahrbare Zukunft greift, die kühnen Sinnes von dem Grunde der erfahrbaren, erkannten Welt als von ihrem Trittbrette aus den Sprung ins Dunkle wagt und Gesetze erläßt für des Menschen Begehren und Handeln, Hoffen und Wünschen, eine Philosophie, die den Strom der ewig bewegten Menschheit bewußt in be- stimmte, klar ins Auge gefaßte Bahnen lenkt, kurz eine Philo- sophie der Werte, eine werteschaffende , eine idealeschaffende Philosophie.
Ich gehe daran, diese Philosophie genauer zu beschreiben.
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Wir werfen zu diesem Zwecke zunächst einen kurzen Rückblick auf die verschiedenen Entwicklungsepochen der neueren Philo- sophie, die Nietzsche voraufgehen.
Die Geschichte der neueren Philosophie ist dadurch bestimmt, daß sie sich gegen eine, von der alten Kultur überkommene starre dogmatisch gebundene Religion, das Christentum, hat entwickeln und durchsetzen müssen. Dies Verhältnis zum Christentum hat drei verschiedene Epochen der neueren Philosophie hervorgerufen, die aufeinander folgend einen stets steigenden Grad der Freiheit und Unabhängigkeit der Philosophie von der Religion darstellen. Jetzt eben, glaube ich, ist die dritte, letzte Epoche angebrochen, die die völlige Freiheit der Philosophie bringt und dadurch zugleich die Reli- gion aufhebt, indem die Philosophie sich an die Stelle der Religion setzt und deren Aufgabe übernimmt. Die erste Epoche der neueren Philosophie ist die Philosophie des Mittelalters, die Scholastik. Diese Philosophie sah ihre Aufgabe lediglich darin, die vermeint- lich und angeblich geoffenbarte und darum jedem Zweifel ent- rückte Wahrheit des Christentums mit Vernunftgründen zu erhärten, den religiösen Glauben zu beweisen. Die gesamte Wahrheit, an der es dem religiösen Bedürfnis des Menschen liegen kann, galt als im voraus fest, im voraus gegeben. Es kam nur darauf an, sie ihrem tieferen Wesen und Zusammenhange nach darzulegen und zu ergründen. Die Philosophie war im Mittelalter durchaus, wie der bezeichnende Ausdruck lautet, die Magd der Kirche, deren unterwürfige und verpflichtete Dienerin. Man beachte, daß schon diese scholastische Philosophie des Mittelalters, trotz ihrer Abhängigkeit von der Religion und deren Erscheinungsform, der Kirche, ein höchst wichtiger und be- deutender Schritt zur Befreiung des europäischen Geistes ist. Wenn die Philosophie auch noch ganz in den Fesseln der Religion liegt, wenn ihr auch noch alle Schwingen beschnitten sind, und sie allerwärts an die harten Wände eines unerbittlichen Kerkers stößt, so besteht sie doch überhaupt schon und das bedeutet schon sehr viel. Ihr bloßes Dasein, daß sie überhaupt ins Leben getreten war, gab die schönsten Aussichten auf die geistige Zu- kunft Europas. Hiermit war der erste ursprünglich in seinem wahren Wert und Wesen noch gar nicht erkannte und begriffene
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Sturmlauf gegen die Religion und deren gebundenen Geist unternommen. Hiermit begann der europäische Geist sich selber, nach langer Selbstentfremdung, wiederzufinden. Es war das erste zaghafte Wiederanknüpfen an eine unvergleichlich große Ver- gangenheit, das erste Versprechen einer neuen stolzen Zukunft. Das Christentum war nach meinem Dafürhalten in der euro- päischen Geschichte, auf europäischem Boden, von Anfang an ein Unding. Die volkstümliche Vorstellung, als ob das Christen- tum der tiefste und reinste Ausdruck des europäischen Wesens sei, daß das Christentum den europäischen Völkern erst ihr wahres Wesen erschlossen, ihnen zur Entfaltung und Ausbildung ihres geheimen Grundwesens verhelfen habe, diese Auffassung ist grundfalsch, scheint mir die gerade Umkehrung der Wahrheit. Das Christentum war vom ersten Tage seines Erscheinens auf europäischem Boden die fürchterlichste Vergewaltigung des europäischen Geistes. Das griechische Volk, das erste euro- päische Volk, das in der Geschichte aufgetreten ist, in der Ge- schichte eine Rolle gespielt hat, — und was für eine Rolle! — hatte sogleich auch den eigentümlichen und charakteristischen Grund- zug des europäischen Wesens, der Europas Ruhm und Ehre ausmacht, dem es seinen Vorsprung vor der ganzen übrigen Erde verdankt, zur Ausbildung gebracht: die individuelle Freiheit. Auf ihrem Freiheitsgefühl beruhen alle großen, staunenswürdigen Erfolge der Griechen. Mit dieser ihrer Freiheit setzten sie sich in schroffsten Gegensatz zum Orient, zu der orientalischen Art des Lebens. Denn im Orient herrschte von jeher und für immer der gebundene Geist, das durch feste, unveränderliche Vorstellungen und starre, unbewegbare Formen eingeschnürte Leben. Politisch kommt diese Gebundenheit in der orientalischen Despotie zum Ausdruck und geistig in den starren, einförmigen, unbeweglichen Religionen, auf die sich diese Völker ein für allemal festlegen und in die sie gewaltsam all ihr Denken und Empfinden zwängen. Im Orient hat es niemals wirkliche Philosophie ge- geben, d. h. die freie ganz persönliche Betrachtung der Welt und des Lebens. Hier lag der Geist immer in den Fesseln des ge- samten Volkstums. Dagegen ist der Orient bekanntlich das Heimatsland aller Religionen, die bisher in der Geschichte Macht
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gewonnen haben, ob n:ian nun an das Judentum oder Christentum, den Buddhismus, die Lehre Zoroasters oder den Islam denkt. Dies ist kein Zufall. Die orientalische Gebundenheit, der orientalische Sklavensinn, das Unbedingte, Fatalistische, Fanatische in dem orientalischen Wesen war der rechte und einzig mögliche Boden, auf dem diese herrschsüchtigen, starren, offenbarungsgläubigen Religionen wachsen konnten. Das Griechentum bildet zu all diesem den vollständigen Gegensatz. Ist im Orient alles Zwang, Kette, Fessel, dumpfe Eintönigkeit, totesEinerlei, so ist im Griechen- tum alles Freiheit und alles Bewegung, bunter Reichtum und wechselnde Fülle. Das ganze öffentliche und private Leben der Griechen, alle ihre Einrichtungen und Sitten, die immer eine so starke Anziehungskraft geübt haben, immer so sehnsüchtige Bewunderung erweckt haben, wurzeln allein in der Freiheit. Und diesen Freiheitssinn atmet auch das geistige, besonders auch das religiöse Leben der Griechen. Niemals konnte die griechische Entwicklung auf eine Religion hinauslaufen nach orientalischem Muster, eine dogmatisch starre Offenbarungs- religion, wie wir sie vom Christentum und den übrigen orienta- lischen Religionen kennen. Daß das Griechentum solche Re- ligion nicht erzeugt hat, solche Religion verschmäht hat, ist nicht ein Mangel, sondern ein Vorzug, ein Vorzug, der sich eben- bürtig den andern geistigen Großtaten der Griechen anreiht. Jene einzigartige Stellung, die die Griechen unter allen Völkern in bezug auf die geistige Kultur einnehmen, haben sie auch in der Religion bewährt: auch hier haben sie ihre grenzenlose Überlegen- heit und Begabung bewiesen. Sie schufen zur Befriedigung ihrer religiösen Sehnsucht, als Ersatz für die Religion die Philosophie. In Griechenland vertrat die Philosophie die Stelle der Religion. Es gehört die ganze Voreingenommenheit und Urteilslosigkeit unserer Theologen dazu, die griechische Mythologie, die schon in den Anfängen der griechischen Geschichte überwunden war und nur noch ein leichtes Spiel in den Händen der Dichter blieb, dem Christentum und anderen Religionen zum Vergleich gegenüber zu stellen. Der religiöse Genius der Griechen entlud sich in ihrer Philosophie, Hier fand ihr religiöses Ahnen und Schauen, ihr religiöser Wille Ausdruck.
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Aber die griechische Freiheit, dies Morgendämmern einer neuen Zukunft, erlosch mit dem Untergange des griechischen Volkstums. Die europäische Geschichte, die mit dem Griechen- tum einen so über alle Maßen glänzenden Anfang genommen hatte, erlitt einen jähen Rückfall. Warum das griechische Volk zugrunde ging, was eigentlich dieses stolze Leben in den Untergang stürzte, — dies ist schwer zu sagen. Das Entstehen und Vergehen aller Lebenserscheinungen, auch der menschlichen Bildungsformen, ist ein dunkles Geheimnis. Die Lebenskraft der Griechen, vermutlich durch allzu energischen und schnellen Brauch überreizt, ging zeitig aus. Wenn man aber an etwas Einzelnes denken will, so war die Art und Form des religiösen Lebens der Griechen an diesem Untergange am letzten Schuld. Die griechische Philosophie hatte von allen Schöpfungen des grie- chischen Lebens den längsten Bestand. Es war lange der einzige feste Halt noch, um den sich das versinkende griechische Leben sammelte, der letzte Fels, an den es sich klammerte. Neunhundert Jahre hat die von Piaton einst gestiftete Philosophenschule der Akademie bestanden, bis sie auf Befehl des christlich gewordenen Kaisers geschlossen wurde. Wenn etwas Einzelnes die Erklärung für den Untergang Griechenlands abgeben soll, so war das meiner Ansicht nach der durch merkwürdige, zum Teil ganz zufällige Umstände herbeigeführte politische Verfall, das Scheitern der Versuche, einen nationalen Staat zu bilden; und dieser politische Untergang zog dann auch den wirtschaftlichen und ganz zuletzt auch den geistigen Verfall nach sich.
So erlag das Griechentum einem frühen Tode, ehe andere europäische Völker von ähnlicher Begabung herangereift waren, um den Faden der griechischen Kultur aufzunehmen und weiter- zuleiten. Auch die Römer waren hierzu nicht imstande; viel- mehr riß das untergehende Griechentum die Römer mit herab. Dadurch aber wurde der Platz frei für den Einbruch fremden Geistes in Europa, für eine furchtbare orientalische Knechtschaft. Das Christentum war dieser fremde Geist, der in einer schwachen Stunde über Europa Herr wurde, Europa unter sich zwang. Mit dem Christentum flutete eine gewaltige Welle orientalischen Wesens in Europa hinein, ganz ähnlich, wie später im Islam
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eine zweite Welle orientalischen Wesens sich nach dem Westen ergoß. Das Christentum und der Islam sind zwei Brudergewächse aus einem Stamm, zwei furchtbare lebensgefährliche Angriffe der niedern asiatischen Menschheit gegen die vornehmere, freiere Menschheit Europas, die sich zum erstenmal im Griechentum offenbart hatte. Daß das Christentum so viel größeren Erfolg hatte als der Islam, liegt wohl daran, daß es so viel geräuschloser auftrat, daß es heimlich und still die ahnungslose europäische Welt b e s c h 1 i c h. Sodann ist nicht zu verkennen, daß das Christentum einen starken griechischen Einschlag hatte, der es den europäischen Völkern empfahl. Das Christentum war aus einer griechisch-orientalischen Mischkultur hervorgegangen, die man Hellenismus nennt. Aber der Kern, das Grundwesen des Christentums war und blieb orientalisch. An der Spitze des Christentums steht der Glaube an Offenbarung, die Forderung der Autorität. Diesen Anspruch erheben schon Christus und Paulus. Hiermit aber verrät das Christentum seine orientalische Herkunft, bezeugt es den gebundenen Geist, aus dem es stammt. Hiermit führt es den gebundenen Geist ein und will zu ihm die Menschen erziehen. Und dieser autoritative, gebundene Cha- rakter ist dem Christentum geblieben bis auf den heutigen Tag. Auch die liberalste Theologie der Gegenwart ist und bleibt dog- matisch. Mag sie auch noch so viele Grundüberzeugungen des Christentums aufgeben, ein Dogma bleibt auch für sie als un- antastbar bestehen: die unbedingte Gültigkeit und maßgebende Vorbildlichkeit Christi. Hieran will und läßt auch sie nicht rütteln. Es kommt aber nicht darauf an, wieviel Dogmen man aufstellt, sondern daß man überhaupt Dogmen aufstellt, unter die man sich zu beugen zwingt. Es ist ein großer Irrtum der protestantischen Theologie, daß die weitere Entwicklung, die das Christentum im Mittelalter auf europäischem Boden ge- nommen hatte, ein Abfall gewesen sei, eine Entartung, ein Niedergang; sondern es war in der Hauptsache die ganz natür- liche und folgerichtige Entwicklung eines schon im Anfange vorhandenen Keimes. Das Christentum war eben eine Blüte am Baum des orientalischen Geistes, der immer der Geist der Starr- heit, der Gebundenheit, des despotischen Zwanges war.
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Man vergegenwärtige sich das Griechentum mit seiner geistigen Freiheit, das nicht unter dem Banne und Zwange eines geoffenbartenrehgiösenDogmas, einer Kirche, stand, wo alle Geister frei nach Wahrheit suchten, in edlem Wettstreit, man stelle sich die ehrwürdigen Gestalten der griechischen Philosophen vor, wie sie in ihren Schulen klaren Gedankens und lauteren Herzens ihre Weisheit verkündeten, eine Weisheit, die sie mit ihrem Herz- blut erkauft hatten, die sie selbst im Leben bewähren wollten und auch wirklich bewährten als leuchtende Vorbilder des gesamten Volkes, wie ihre Anhänger ihnen andächtigzu Füßen saßen und, was sie in den geweihten Räumender Schule vernommen hatten, in das gesamte öffentliche wie in ihr persönliches Leben hinaustrugen, wo es ihnen für ihr ganzes Leben Halt und Stütze, Heil und Ehre ward: diesem edlen freien Leben gegenüber, das auf Wahrheit gegründet war — denn Wahrheit ist's, daß der Mensch die Wahr- heit nicht hat, sondern sucht — diesem unablässigen Suchen nach V/ahrheit gegenüber, das die griechische Welt beseelte, ver- gegenwärtige man sich das christliche Mittelalter mit seinem starren Dogma, seinem Glauben an die einmal geoffenbarte Wahr- heit, die über alles menschliche Begreifen hinausragend unnahbar, unantastbar jeden Zweifel niederschlägt, mit seiner Herrschaft der Priester als der Wächter und Hüter der Offenbarung, seiner Kirche, die despotisch das ganze Leben unter ihr Joch spannt, gleichsam das ganze Leben verschlingt: kein Zweifel, das Christen- tum war ein Fremdkörper in dem europäischen Leben. Es weist nicht nach Athen als seinem Ursprünge, seiner Heimat und seiner Verwandtschaft, sondern nach Ägypten, Babylonien, Jerusalem. Dort sind die priesterlich gebundenen Religionen heimisch. Dort ist der Geist zu Hause, der auch das Christentum aufgebaut hat. Von dorther war das Christentum als ein Ableger nach dem Westen verpflanzt. Die schlichte menschliche Größe der Grie- chen, ihren ehrlichen Wahrheitssinn, ihren weitherzigen Frei- heitssinn — sie empfinde ich als das eigentliche und tiefste Wesen der europäischen Völker, als ihr Ziel und ihre Aufgabe. Das Christentum aber war eine orientalische Krankheit Europas, ein Rückfall auf eine tiefere, schon überwundene Stufe der Menschheit.
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Eines alten, festgewurzelten, verderblichen Wahnes müssen wir uns entschlagen, nämlich des Glaubens, als ob die Welt ein stetiger Fortschritt sei, als ob jede spätere Zeit auch immer die reifere, bessere, vollkommenere sei. Dieser Wahn wurzelt in dem noch schlimmeren, v/eil allgemeineren Wahne, als ob eine bewußte, planmäßige Leitung die Welt regiere, als ob ein vor- sorgender Gott hinter dem Dasein stehe, der nach festen, be- stimmten Zielen die Welt lenke, so daß diese niemals von der ihr einmal gewiesenen Bahn abweichen könne. Dieser Glaube hat sehr viel Unheil gestiftet. Wir haben langsam begonnen über das W^eltwesen umzulernen. Die Welt, die wir kennen, die Welt, soweit sie für unsere Gedanken reicht — und eine andere Welt geht uns nichts an — , diese Welt ist ein in sich selber ruhen- des Leben, ein freies Leben, das allein von den ihm innewohnenden Kräften zehrt, ausschließlich mit diesen Kräften schaltet und schafft, ein selbständiges Leben, das sich zwar sehnt und strebt, das aber in seinem Streben abirren, das straucheln und fallen kann. Die Entwicklung der Welt vollzieht sich in seltsam krausen, unberechenbaren Windungen. Es geht nicht geraden Wegs aufvv^ärts. Sondern manche Höhe, die schon einmal erklommen war, wird wieder verlassen. Mancher Pfad wird zweimal ge- gangen. So ist auch in der europäischen Geschichte das christ- liche Zeitalter gegen das Griechentum unzweifelhaft ein Rück- schritt. Daß es keine geoffenbarte Wahrheit gibt, keinen sicheren, festen Bestand in den Gedanken der Menschen und zumal nicht in den höchsten Gedanken, die die letzten Rätsel des Menschen enthüllen wollen, das war dem Griechen in Fleisch und Blut übergegangen. Er war gewiß, daß es die Wahrheit zu s u c h e n gilt, daß jeder Versuch, den Schleier der Welt zu heben, dem Menschen den Sinn seines Seins zu erklären, sein Recht hat und freudig begrüßt werden muß. Diese Überzeugung gab dem Griechen den freien Blick. Diese Freiheit war sein Triumph über den Orient. Hiermit begann ein neuer Akt der Geschichte. Aber zu neu, zu groß, zu gefährlich war dies Leben der Freiheit. Auf dieser Höhe vermochte sich der Mensch beim ersten Anlauf nicht zu halten. Ihm mußte noch einmal der feste Reif der orien- talischen Gebundenheit um die Stirn gelegt werden. Noch
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einmal mußte er in das Gefängnis zurück, aus dem er mit so viel Hoffnung entflohen war.
Ich kehre zur scholastischen Philosophie zurück, von der ich ausging. Die scholastische Philosophie ist das erste, bescheidene, noch ganz unbewußte Wiederaufdämmern der europäischen Frei- heit, der selbständigen geistigen Kraft der europäischen Völker. Indem der Geist das Bedürfnis empfand, die Offenbarung vor sich selbst zu rechtfertigen, tat er den ersten gefährlichen Schritt zu seiner Befreiung, der in Kürze notwendig zur Verwerfung der Offenbarung, zur Forderung der vollen Autonomie und Selbst- herrlichkeit des Geistes führen mußte. Die Scholastik, so recht- gläubig sie von außen betrachtet scheint, ist deshalb auch immer von allen wahrhaft und tief innerlich frommen Christen mit einer überaus feinen Witterung als religionsfeindlich empfunden worden, religionsfeindlich in ihrem Sinne, vom Standpunkt der geoffenbarten Religion aus, die keinerlei Stütze durch den mensch- lichen Geist bedarf. Denn der Geist, der sich hier mit den an- geblich lautersten Absichten der Offenbarung nähert, dieser Geist, der zunächst nichts will als die Offenbarung unterstützen, deuten, erklären — - wie wenn dieser Geist sich eines Tages zum Richter über die Offenbarung aufwirft? Liegt nicht in diesem, wie es scheint, zunächst ganz unschuldigen Anspruch, in dieser durchaus wohlmeinenden Absicht des Geistes eine ungeheure Gefahr? Nach der orientalischen Auffassung ist die Religion Offenbarung, Erleuchtung. Wie kann sich die Erleuchtung, ohne sich selbst zu gefährden, auf Erkenntnis stützen? Zieht sie sich hier nicht einen unheimlichen Drachen groß, der sie dereinst unvermutet anfallen und wer weiß? vielleicht verschlingen kann? In der Tat, der so erzogene und ermutigte Geist kündigte plötzlich der Offenbarung den Gehorsam; er machte sich uner- schrocken zu seinem eigenen Herrn. Die Wahrheit wollte er nicht mehr als vorhanden, als bekannt, weil geoffenbart, an- erkennen. Er wollte sie selbständig und frei bestimmen. Ein Frühlingsbrausen ging durch die europäischen Völker. Der freie Geist, der griechische Geist, der durch die orientalische Flut des Christentums hinweggespült war, tauchte plötzlich wieder hervor. Europa fand sich auf einmal nach langer Selbst-
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entfremdung wieder oder begann wenigstens sich wieder zu finden. Mit tiefem Bedacht hat man diese Zeit des großen Sturms, des Aufbrechens aller Quellen, die Zeit der Wiedergeburt, der Renaissance genannt. Das Griechentum mit seinem Indi- vidualismus, seiner Freiheit, seinem geistigen Stolz, die höhere europäische Menschlichkeit war wieder aufgewacht. Es war wirklich ein großer Auferstehungstag Europas. Schon hatte der unruhige Geist, der nach Freiheit lechzte, in der Reforma- tion sich an das Gerüste, den äußern Bau des gebundenen Geistes, die Hierarchie der Kirche selbst gewagt und dieses gewaltige Bauwerk, das für die Ewigkeit gefestigt schien, stark erschüttert. In dieser gährenden Zeit, wo alles Feste sprang, alle Schleusen sich öffneten, alle Tiefen in die Höhe strebten, begann auch für die Philosophie ein neuer Tag. Da die Philosophie im Mittel- alter noch völlig abhängig gewesen war, ist erst von der Renais- sance an die eigentliche Wiedergeburt der Philosophie zu rechnen, da sie seitdem erst wieder die Freiheit genießt. Denn Philo- sophie ohne Freiheit ist ein Unding, ein Selbstwiderspruch.
Indessen nicht sofort erreichte der wiedererwachte europäische Geist die volle Freiheit. Noch mehrere Jahrhunderte hin- durch vermochte er nur erst die halbe Freiheit zu gewinnen, nur die Freiheit des Denkens, aber nicht die des Lebens. Seit alter Zeit hat eine gewisse Einteilung der Philosophie Be- deutung gewonnen: die Einteilung in theoretische und praktische Philosophie. Die theoretische Philosophie stellt sich die Aufgabe, den letzten Weltgrund, den letzten Zusammen- hang alles Seins zu ermitteln, sie bemüht sich, einen allgemeinen Grundriß der Erscheinungen zu entwerfen, kurz, die Welt in ihrer Ganzheit und Allgemeinheit zu deuten. Die praktische Philosophie baut auf dieser Erkenntnis der Welt Gesetze für das menschliche Leben auf, wie der Mensch auf Grund dieser Wahrheit über die Welt sein Leben zu formen hat; sie be- stimmt den Lauf, den die Weltentwicklung im Menschen fernerhin einschlagen soll; alles Gewesene und alles Seiende überschauend, richtet sie das Ziel auf, dem alle menschlichen Kräfte zustreben sollen. Die europäischen Philosophen, die seit der Wiedergeburt der Philosophie in jener Geburtsstunde
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der neuen Kultur am Werke waren, haben immer nur die erste Aufgabe als die ihre erkannt und begriffen, haben immer nur theoretische Wahrheiten zu schaffen ver- sucht. Die andere Aufgabe, dem Menschen sein Ziel und seine Gesetze zu geben, ein Ideal für den Menschen aufzu- richten, diese Aufgabe blieb ihnen fremd und unverständlich. Mit tapferem Mute haben sie sich dem Rätsel der Welt genähert. Ohne Schauder traten sie vor die furchtbare Sphinx. Und ob auch einer nach dem andern in den Abgrund stürzte, es fanden sich immer neue bereit, den Kopf zu wagen und das grause Rätsel zu lösen. Und haben sie auch den Schleier nicht ganz gelüftet, starrt uns auch das letzte Geheimnis der Welt mit den immer gleichen grauenvollen Augen an, ein wenig, ein ganz klein wenig weiter und tiefer haben sie uns dennoch schauen gelehrt. Der alte Gott ist zu Grabe getragen, und nun gilt es andere Welterklärungen aufzufinden, Deutungen der Welt zu geben, die Gott entbehren. Aber so ruhmreich die europäischen Denker die theoretische Philosophie begründeten und ausbauten, ein neues Ideal für den Menschen sind sie uns schuldig ge- blieben. Sie wiesen uns keine eigenen neuen Bahnen, auf denen der Mensch zu seiner Höhe klimmt. Sie lehrten den Menschen nicht, auf welche Art er am besten, am sichersten, am wahrsten den Sinn seines Seins erschöpft, seinen letzten Zweck erfüllt. Das Ideal des Menschen s u c h t e n sie nicht, glaubten sie nicht erst schaffen zu müssen. Das, glaubten sie, hätten sie schon. Das übernahmen sie nur aus dem Schatze des ererbten Reichtums. Und doch ist auch in der besten Erbschaft viel Wahn und Irrtum. Jede Erbschaft ist, wie wir wissen, neu zu erobern. Mit keiner sichern Gabe und Habe tritt jedes Ge- schlecht sein Leben an. Es hat erst alles Überkommene auf die Wagschale zu legen und selbst zu wägen. Auch das Ideal des Menschen, sein heiligstes Gut, muß der Mensch immer wieder prüfen, bezweifeln, von neuem finden und schaffen. Die euro- päischen Philosophen standen in der Moral alle noch unter dem Druck der christlichen Erbschaft. Für die praktische Philo- sophie, für die Werte, die Ideale schaffende Philosophie waren sie noch gänzlich abhängig, noch ganz gebunden und unfrei.
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Nicht als ob sie sich dieser Unfreiheit bewußt gewesen wären. Sie meinten im Gegenteil ihre Entscheidung für das überlieferte, volkstümliche Ideal beruhe auf freier Wahl und Prüfung; sie hätten sich überzeugt, daß es das rechte Ideal sei. Dies aber war ein Irrtum. Es war nur die ungeheure Macht des überlieferten Ideals, das sie also urteilen ließ, nicht ein freier Entscheid. Es ist ein großer Unterschied, frei sein und sich für frei halten. Es gibt niemanden, der sich nicht für frei hielte. Ob er aber wirklich frei ist, ist eine andere Frage. Selbst der katholische Priester, diese unterworfenste und unfreieste Art Mensch, die wir uns denken können, hält sich für frei. Es kommt aber darauf an, nicht, daß man das Vorhandensein seiner Frei- heit behauptet, sondern seine Freiheit betätigt. Die europäischen Philosophen glaubten nur an das hergebrachte Ideal. Für einen Philosophen aber und überhaupt jür jeden freien und stolzen Menschen ist es eine Schande zu glauben. Dieser hat erst zu prüfen, gründlich, bis in die Tiefe zu prüfen, ehe er glaubt. Der Zweifel muß der Ausgangspunkt jedes freien und unabhängigen Menschen sein. Zwar die Gefahr besteht, daß der Zweifel zur Verzweiflung führt und zumal der Zweifel am Ideal. Für den aber, der Kraft in sich hat, bedeutet er nur die Geburtswehen, durch die sich ein neues Leben, eine neue Freude und Bejahung empor ringt.
Es ist die weltgeschichtliche Tat Nietzsches, Europa die sitt- liche Freiheit erkämpft zu haben. Er schenkt dem Menschen zu der theoretischen auch die praktische Freiheit. Da- durch erst wird der Mensch in Wahrheit frei. Aller voran- gegangene Kampf um die Freiheit, alles tapfere Ringen der ver- flossenen Jahrhunderte seit den Tagen der Renaissance war nur ein Vorspiel, ein zaghafter Anfang, eine Vorbereitung für die größere Freiheit, die eben anbricht, die Freiheit, nicht nur zu denken, sondern nach der eigenen Natur zu sein und zu handeln. Nietzsche hat dem europäischen Geist das Recht zugesprochen, sich selbst das Ideal zu geben, sich nicht nur das Weltbild nach den Maßen des eigenen Auges auszumalen, sondern auch für die Zukunft, für alles Kommende einen eigenen Entschluß zu fassen, einen selbständigen Plan zu entwerfen.
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Unser Schicksal, des Menschen ganzes künftiges Sein ist in uns selbst verlegt. Der Mensch trägt in seiner eigenen Brust sein ganzes Werden. Er ist allein sich selbst verantwortlich. Vorbei ist es nun mit allem dunklen Drange. Mit Bewußtsein steckt sich jetzt der Mensch die Ziele. Nicht nur das alte Weltbild, des Menschen Anschauungen und Begriffe sind vernichtet und zerstoben, — nein, auch seine Ideale sind erschüttert, seine Wünschbarkeiten und höchsten Werte sind vom Zweifel ange- fressen. Wie die Offenbarung in bezug auf alles Äußere, den ganzen Bau der Welt zerfloß, so ist nun auch die Offenbarung in bezug auf unser Inneres dahin. Denn hier im Innern, in des eigenen Busens verborgener Tiefe, glaubte man immer noch in der Stimme des Gewissens ein zuverlässiges, treues Orakel zu besitzen, eine Offenbarung, die unverbrüchlich auf alle Fragen der Sittlichkeit, über Gut und Böse Auskunft gibt. Hier im Sittlichen, meinte man noch bis jüngst, sei glücklicherweise niemals Zweifel möglich. So verworren sich die Bilder kreuzten, die der Mensch sich von der bunten Welt des Seins entwerfe, so einfach klar und unbezweifelbar stehe das Sollende vor ihm. Aber auch dieser letzte Fels im Meer des Zweifels ist nun fortgerissen. Menschenschöpfung, Menschenwahn und Irrtum ist nach Nietzsche alles Werten. Der Mensch ist nicht nur in seinem Denken, sondern auch in seinem Handeln völlig auf sich selbst gestellt. Er steht einsam, nur auf seine Kräfte angewiesen, in einer stummen, kalten Welt, die ihm von selber keine Rätsel löst, die ihm auch auf die schwerste, dringendste Frage, auf die Frage nach Gut und Böse, keine unzv/eideutige Antwort gibt. Auch hier schwankt und tanzt alles vor unserem Blick. Wir müssen unseren Blick erst schärfen, unseren Geist aufrufen, daß wir unser höchstes Ziel begreifen. Nietzsche gibt dem Men- schen einen Hammer in die Hand, daß er damit sein Ideal sich selber meißele.
So hebt mit Nietzsche die dritte philosophische Epoche an, seit das Christentum den europäischen Geist in Bann genommen hatte. Die erste Epoche war die scholastische Philosophie des Mittelalters, die das Christentum noch in allen Teilen anerkannte, und es nur beweisen wollte, dadurch aber schon die kommende
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Freiheit ahnen ließ. In der Renaissance fand diese Philosophie ihr Ende. Von der Renaissance bis Nietzsche reicht die zweite Epoche, eine Zeit des Überganges, halb frei, halb unfrei, frei in bezug auf das theoretische Denken, aber unfrei in bezug auf das praktische Wollen. Wenn der Geist auch kühn das alte Weltbild umgestaltete, der Wille blieb in den Fesseln der alten Werte, liebte, verehrte, begehrte immer noch nach den alten Normen. Nietzsche erst hat die orientalische Despotie gebrochen, unter der der Geist Europas schmachtete. Er erst hat Europa mündig gemacht. Nun ist der europäische Mensch aller Ketten entledigt, nun steht er frei im Dasein.
Es ist mir oft bestritten worden, daß Nietzsche berufen sei, diese bedeutende Stellung in der geistigen Entwicklung Europas ein- zunehmen. Und keiner seiner Beurteiler hebt diese Tat als sein Verdienst hervor. Hören wir aber, was die Philosophen noch jüngst, noch bis in die Gegenwart hinein über die Moral ge- urteilt haben, in was für Vorurteilen in bezug auf die Moral sie noch bis jüngst befangen waren. Ich will einige Äußerungen von Philosophen des letzten Jahrhunderts wörtlich anführen. Man wird ersehen, v/ie bitter nötig die moralische Aufklärung Nietzsches war, wie entscheidend Nietzsche in die Entwicklung des europäischen Denkens eingegriffen hat. Ich beginne mit Kant. Es ist eine ausgemachte Tatsache, daß Kant sehr ferne von dem Gedanken war, eine neue, selbständige Sittlichkeit ein- zuführen oder auch nur zu umschreiben. Er wollte nur die überkommene und allgemein gültige Sittlichkeit, die im Ernste noch nicht bezweifelt war und die er selbst am wenigsten zu bezweifeln gedachte, auf einen erschöpfenden Ausdruck bringen. Er wollte sie in ihrem tiefsten Wesen begreifen, ihre wahre Quelle aufdecken, wodurch sie seiner Meinung nach erst ihre volle Sicherheit und unerschütterliche Festigkeit bekommen sollte, wodurch erst ihre wahre Heiligkeit und Unantastbarkeit gewähr- leistet wäre. Und dementsprechend erwidert Kant auf den Vor- wurf eines Kritikers, daß er ja nur eine neue Formel und keine neue Sittlichkeit selbst brächte, in einer Anmerkung der Krilik der praktischen Vernunft (Ausgabe Reclam S, 7) folgendes: ,,Ein Rezensent, der etwas zum Tadel dieser Schrift [gemeint ist die
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Metaphysik der Sitten] sagen wollte, hat es besser getroffen, als er wohl selbst gemeint haben mag, indem er sagt: daß darin kein neues Prinzip der Moralität, sondern nur eine neue F o r m e 1 1 aufgestellt worden. Wer wollte aber auch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einführen, und diese gleichsam zuerst er- finden? gleich als ob vor ihm die Welt in dem, was Pflicht sei, unwissend oder im durch- gängigen Irrtum gewesen wäre".^ Kant stellt es demnach so dar, als ob ein Zweifel an dem Werte und Rechte der gültigen Sittlichkeit etwas Unerhörtes sei, als ob die über- kommene Sittlichkeit gar keiner Kritik zu unterstehen habe, als ob das allgemeine Urteil über die Pflicht in Vergangenheit und Gegenwart gar nicht fehl gehen könne, sondern ganz von selbst das Rechte treffe. Ist das überhaupt die Sprache eines Philosophen? Hat dieser nicht alles, jede Behauptung und jede Wertschätzung, als falsch vorauszusetzen ? Und ebenso läßt sich Schopenhauer vernehmen in folgendem Worte. Er nennt (Werke, Ausgabe Reclam III, S. 517) „das Prinzip, den Grund- satz, über dessen Inhalt alle Ethiker eigent- lich einig sind, in so verschiedene Formen sie ihn auch kleiden^: neminem laede immo omnes quantum potes juva." ,,Dies ist eigentlich der Satz, fährt Schopen- hauer fort, welchen zu begründen* alle Sittenlehrer sich ab- mühen, das gemeinsame Resultat ihrer so verschiedenartigen Deduktionen." Nach Schopenhauer ist also nur die Begrün- dung des obersten Sittensatzes fraglich, die Quelle nur, aus der das Sittengesetz stammt, unterliegt dem Zweifel. Über den Inhalt hingegen des Sittengesetzes, was das Gute sei, was die Menschen zu tun und zu lassen haben, darüber sind nach Schopenhauer die Denker einig. Diese Einmütigkeit der Denker aber scheint mir für ihr Ansehen in hohem Grade be- denklich. Denn bei der Schwierigkeit der Frage hätten sie wohl^
1 Von Kant gesperrt. - Von mir gesperrt.
2 Von Schopenhauer gesperrt. ^ Von mir gesperrt.
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wenn sie wirklich selbständig geurteilt hätten, verschiedenes lehren müssen. Ihre Einmütigkeit verrät nur ihre Unfrei- heit, daß sie unter einem gemeinsamen Druck, unter dem Druck ihres religiös-christlichen Vorurteils an die Moral herangetreten waren.
Nach diesen beiden Denkern aus der sogenannten klassischen Zeit der deutschen Philosophie führe ich den Ausspruch eines Denkers an aus der sogenannten Epigonenzeit, um die Mitte des letzten Jahrhunderts, eine Äußerung Lotzes. Lotze sagt: (Kleine Schriften III, S. 521): ,,Über die Gesinnungen, die unser Handeln beherrschen sollen, und über die Pflichten, die allgemein der Mensch dem Menschen schuldig ist, besteht unter zivilisierten Nationen in der Theorie wenigstens erfreuliche Übereinstimmung! und die praktische Philosophie findet wenig Veranlassung 1, hierüber die Welt zu belehren, sie würde nur ermüden durch Wiederholung dessen, dem die allgemeine Anerkennung längst ge- wiß i s 1 1 und sie würde nicht Glauben finden für das, wo- durch sie diesem öffentlichen Gewissen wi- derspräche" 1. Der Philosoph fühlt sich also nach Lotze in der Moral mit der Masse einig. Er würde mit abweichenden moralischen Anschauungen bei der Masse keinen Glauben finden, und so verzichtet er von vornherein darauf, auf dem Gebiete der Moral die Allgemeinheit zu belehren; er gibt sich mit dem zu- frieden, was alle Welt über Gut und Böse glaubt. Mich wundert nur, daß diese Denker sich nicht auch für die theoretische Philo- sophie der Masse unterwerfen. Hier will ich noch ein bemerkens- wertes Wort Kants nachtragen, das sich mit dem Ausspruche Lotzes nahe berührt. Kant geht in der Wertschätzung des moralischen Urteils des gemeinen Menschenverstandes noch weiter als Lotze. Philosophie in der Moral sei nicht nur über- flüssig, sondern direkt schädlich. Kant zieht an einer Stelle der Metaphysik der Sitten (Ausgabe Reclam, S. 34) den Schluß, ,,daß es also keiner Wissenschaft und Philosophie bedürfe, um zu wissen, was man zu tun habe, um ehrlich und gut, ja sogar
^ Von mir gesperrt.
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um weise und tugendhaft zu sein*'. Und er macht ausdrücklich den Unterschied: Während im theoretischen Gebrauch der Ver- nunft der gemeine Verstand gänzhch versage, bewähre er sich durchaus im praktischen. Hier werde er, wie Kant sich aus- drückt, ,, subtil". Und Kant fährt über ihn fort: ,,Er kann .... sich ebensogut Hoffnung machen, es recht zu treffen, als es sich immer ein Philosoph zu versprechen verm.ag, ja ist beinahe noch sicherer hierin als selbst der letztere, weil dieser doch kein anderes Prinzip als jener haben, sein Urteil aber durch eine Menge fremder, nicht zur Sache gehöriger Erwägungen leicht verwirren und von der geraden Richtung abweichend machen kann.** Und im Anschluß hieran gibt Kant den Rat: ,,Wäre es demnach nicht ratsamer , es in moralischen Dingen bei dem gemeinen Vernunfturteil bewenden zu lassen^ und höchstens nur Philosophie anzubringen, um das System der Sitten um so vollständiger und faßlicher, im-
gleichen die Regeln derselben zum Gebrauch bequemer
darzustellen, nicht aber um selbst in praktischer Absicht den gemeinen Menschenverstand von seiner glücklichenEin- f a 1 ti abzubringen und ihn durch Philosophie auf einen neuen Weg der Untersuchung und Belehrung zu bringen?** Diese Auffassung ist uns heute gänzlich unverständlich. Der Glaube an die glückliche Einfalt des gemeinen Menschenverstandes ist uns durch Nietzsche gründlich zerstört worden. Wir meinen allerdings, daß es gar sehr der Philosophie bedürfe, um den höch- sten Wert zu bestimmen, das Gute festzustellen.
Zum Schluß noch ein Wort aus der Gegenwart. Der be- rühmte Professor Wundt in Leipzig erklärt (Ethik HI, Aufl. I, S. 40), ,,daß aus den übereinstimmenden sinnlichen Anlagen des menschlichen Bewußtseins schließlich übereinstim- mende sittliche Anschauungen sich wirklich entwickelt habe n'*. 1 Die Behauptungen über Verschie- denheiten der sittlichen Anschauungen beruhen nach Wundt auf Übertreibungen, und Wundt fährt fort: ,,Kein Unbefangener kann sich der Überzeugung verschließen, daß die Unterschiede
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hier schließlich nicht größer sind als auf intellektuellem Gebiete, wo trotz aller Mannigfaltigkeit der Anschauungen und Denk- richtungen doch die Allgemeingültigkeit der Denkgesetze fest steh t.** Die Sittengesetze sollen also so fest stehen, wie die Denkgesetze, mit denen Wundt die Sittengesetze auf eine Stufe stellt. Eine ungeheuerliche Behaup- tung! Den Denkgesetzen und ihrer unvermeidlichen Bestimmt- heit und Notwendigkeit wäre doch nur die Art und Weise ver- gleichbar, wie die Willenshandlungen psychologisch zustande kommen. Wie aber die Menschen trotz der Einheitlichkeit der allgemeingültigen Denkgesetze inhaltlich das Ver- schiedenste denken, wobei es erst Aufgabe der Philosophie, der Wissenschaft ist zu unterscheiden zwischen wahr und falsch, so wird auch der Wille der Menschen trotz der Einheitlichkeit und Gleichartigkeit seiner allgemeinen Anlage und Wirkungs- weise dennoch inhaltlich, wie die Erfahrung lehrt, durch das Verschiedenste bewegt und zur Handlung gereizt. Und auch hier ist es erst Aufgabe der Philosophie, zu unterscheiden zwischen Gut und Böse. Diese Aufgabe ist keineswegs schon, wie Wundt zu glauben scheint, durch die Geschichte gelöst. Sie scheint nur gelöst, weil die Menschheit seit der Herrschaft des Christen- tums das Nachdenken über die Moral, das wirklich freie und vorurteilslose Nachdenken hierüber eingestellt hat. Es ist die höchste Zeit, daß die Menschheit das Nachdenken über die Moral wieder aufnimmt, i
1 Am ehrlichsten bekennt die Abhängigkeit der philosophischen Moral von der religiösen Professor Liebmann in Jena (Analysis der Wirklichkeit, III. Auflage S. 710 f.). Dieses Bekenntnis ist so drastisch, daß ich es dem Leser nicht vorenthalten will. Liebmann sagt, daß es eine objektive Ethik, eine allgemein herrschende moralische Anschauung gebe. Diese allgemein herrschende Ethik hätten die bekannten Religions- stifter geschaffen. ,,Konfucius und Buddha, Moses und Zoroaster, Christus und Mohammed sind Träger und Begründer dieser objektiven Ethik". Wenn diese ,, Koryphäen der Menschheit" auch in Einzelheiten sich widersprächen, so seien sie doch im wesentlichen einig. Und Lieb- mann fährt fort : ,, Diese große weltgeschichtliche Tatsache steht zum Heil des Menschengeschlechtes fest und wir alle befinden uns bei aller Selbständigkeit des persönlichen Gewissens von Kindesbeinen auf be- wußter und unbewußter Weise unter ihrem maßgebenden Einfluß." Ich war immer der Meinung, daß der Philosoph unter keines andern Menschen ,, maßgebendem" Einfluß stehen dürfe. Die Philosophie hat
Zweiter Teil.
Wenn man sich in die Gedankenwelt Nietzsches eingelebt hat, klingen einem solche Reden der Philosophen wie aus einer gänzlich andern Welt. Denn wie die erwähnten Philosophen denken auch die übrigen, nicht erwähnten. Und zwar nicht nur bei uns, sondern auch im Auslande. Die Beispiele ließen sich beliebig häufen.
Und selbst nachdem die gegenwärtigen Denker Nietzsche kennen gelernt haben, haben sie sich durch ihn in ihrer Be- fangenheit nicht beirren lassen, sondern sie glauben nach wie vor an ihre festen, seienden Werte und streiten Nietzsche es ab, daß es gelte, die Werte erst zu schaffen, die Sittlichkeit, das Ideal erst zu erfinden. Mit großer Emphase schließt Professor Riehl sein Buch über Nietzsche, das verbreitetste Professorenbuch über Nietzsche, das, von den Fachgenossen in allen Tonarten gelobt, deren Auffassung und Stimmung wohl am reinsten wiedergibt. Riehl erklärt am Schlüsse (Nietzsche, der Künstler und der Denker, III. Aufl., S. 170): ,, Diese Werte aber, die das Handeln des Menschen leiten und seine Gesinnung beseelen, werden nicht erfunden, oder durch Umwertung neu- geprägt. Sie werden entdeckt und gleich wie die Sterne am Himmel treten sie nach und nach mit dem Fortschritte der Kultur in den Gesichtskreis des Menschen. Es sind nicht alte Werte, nicht neue Werte, es sind die^ Werte." Ich möchte Riehl die Frage vorlegen, wo denn diese seine absoluten, un- bedingten Werte eigentlich geschrieben stehen. In der Bibel etwa? Und dabei widerspricht sich Riehl in seinem pompösen Satze selbst. Er sagt: ,,Nach und nach treten die Werte mit dem Fortschritt der Kultur in den Gesichtskreis des Men- schen." Kann es denn aber in dieser Entwicklung nicht manch-
nach Liebmann in der Ethik nichts Schöpferisches mehr zu leisten. Sie findet die von den Religionsstiftern geschaffene Ethik als eine Tat- sache vor. Ganz ebenso, nach der eigenen Äußerung Liebmanns, wie der Naturforscher die Körperwelt als Tatsache vor- findet. Die Philosophie sucht die von den Religionsstiftern ge- schaffene Moral nur aus einem obersten Prinzip abzuleiten. Ist dies nicht eine wahrhaft beschämende Auffassung von dem Werte und der Würde der Philosophie ? Hat man noch Worte für eine derartige Unter- würfigkeit? Die europäische Philosophie in der Moral zur Schleppen- trägerin der asiatischen Religionen herabgewürdigt! ^ Von Riehl gesperrt.
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mal einen Rückschritt geben? Ist etwa der berühmte Fortschritt der Kultur immer stetig, immer gleich sicher und zuverlässig? Oder gibt es in der Geschichte nicht zuweilen Abirrungen, Aus- weichungen, ja öfter völligen Verfall und Fäulnis? Wenn aber die menschliche Entwicklung dergestalt zuweilen rückwärts läuft, — daß dies aber zuweilen geschieht, kann niemand ernst- lich bestreiten, der einen Funken Geschichte kennt — , dann müssen doch auch zu gewissen Zeiten die Werte, die Wert- schätzungen, die Ideale des Menschen in die Irre gehen, trüge- rische, verderbliche Ideale werden. Und also können und müssen doch auch Zeiten kommen, wo diese abgeirrten, verfehlten Werte wieder neu gewertet, neu geprägt, und waren sie gänzlich irrige, was auch möglich ist, geradezu u m gewertet werden müssen. Und wer weiß? Vielleicht hat unsere Zeit diese verhängnisvolle Aufgabe des Zweifels an dem alten Ideal, die große Aufgabe, ein neues, freies, eigenes Ideal zu schaffen.
Der schon vorher erwähnte Wundt glaubt Nietzsche dadurch abzutun, daß er zwar wie Riehl ein gewisses Wachstum, eine allmähliche Entwicklung der Werte zugibt, aber zugleich er- klärt, daß es in dieser Entwicklung niemals Katastrophen geben könne, wie Nietzsche eine Katastrophe bedeuten würde, indem er gut und böse schlechthin zu vertauschen vorschlage (Ethik, III. Aufl. S. 521). Aber solche Katastrophen, wo eine Anschau- ung von ihrem geraden Gegenteil abgelöst wurde, haben mehr- fach in der Geschichte stattgefunden. So bedeutet Piaton im Verhältnisse zum älteren Griechentum in vieler Hinsicht eine Katastrophe, in höherem Maße das Christentum gegen das gesamte Altertum, in mancher Hinsicht auch Luther gegen das Mittelalter. Es ist die Art aller kleinen Geister, die keine schöpferische Ader in sich spüren, an eine Entwicklung zu glauben, die gleichsam sich von selber gibt, die allmählich kommt und die man nicht bewußt vollziehen könne. Aber immer sind es einzelne große Männer, die durch entscheidende Taten, welche einen katastrophischen Charakter haben, die Entwicklung machen. Durch jenen kleinmütigen Glauben von der allmäh- lichen Entwicklung suchen die kleinen Geister die großen und schöpferischen sich aus dem Wege zu schaffen. Mit diesem
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Glauben geben sie sich das Recht, über jene hinweg zu sehen.
Die Philosophen haben, wie man sieht, ihre Übereinstimmung mit der allgemeinen Moral nie genug betonen können. In feier- lichen Worten haben sie immerfort ihre Unschuld beteuert. Vollauf berechtigt ist deshalb Nietzsches herber Vorwurf gegen sie, wenn er sagt: ,,Dem Volke habt ihr gedient und des Volkes Aberglauben, ihr berühmten Weisen alle und nicht der Wahrheit! Und gerade darum zollte man euch Ehrfurcht. Und darum auch ertrug man euren Unglauben, weil er ein Witz und Umweg war zum Volke. So läßt der Herr seine Sklaven gewähren und ergötzt sich noch an ihrem Übermute.** ,,Am schlechtesten", sagt Nietzsche, ,, wurde ich bisher von den Gelehrtesten gehört." Das trifft auch jetzt noch zu. ,,Ich möchte verschenken und austeilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Torheit und die Armen wieder einmal ihres Reichtums froh geworden sind." So scheinen jetzt wirklich die Rollen vertauscht zu sein. Als Toren stehen die Weisen da. Jeder un- befangene Laie aber erkennt die Wahrheit.
Wenn man die Moralphilosophen außer Nietzsche liest, wird man des Staunens nicht müde, wie jung das europäische Denken noch ist. Es ist einem, als ob wir eben erst angefangen hätten, frei zu denken. Wir modernen Europäer, die wir uns so stolz gedünkt, die wir so erhaben auf die alte griechische Bildung herabzublicken das Recht zu haben meinten, — wie wenig Grund haben wir zu diesem Stolz gehabt! Jählings werden wir von unserem angemaßten Thron herabgestürzt. Denn die griechischen Denker waren in der Moral — und die Moral ist und bleibt der wichtigste Teil der Philosophie, ihr letzter Zweck und ihre Krönung — sehr viel aufgeklärter und reifer als die größten Denker der Neuzeit. Sie glaubten nicht, wie es unsere Denker in einer fast kindlichen Einfalt tun, an eine feststehende, aus- gemachte, unbedingt bewährte und bewiesene Moral, an ein Ideal, das d a ist, das sich von selbst versteht. Sie wußten, daß auch die Ideale schwanken, daß es erst Aufgabe des Philosophen ist, das Gute festzustellen, das Ideal zu schaffen. Sie waren wirklich der Ansicht, die Kant für ausgeschlossen hält, daß die Vergangenheit
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über das, was Pflicht sei, unwissend und in durchgängigem Irrtum wäre. Sie beabsichtigten wirklich, was Kant für un- möglich hält, eine neue Sittlichkeit zuerst zu erfinden und ein- zuführen. Sie verschmähten es weit, wie in allem anderen, auch in der Moral mit der Masse, der öffentlichen Meinung, dem öffentlichen Gewissen übereinzustimmen. Diese Übereinstimmung wäre ihnen höchstens verdächtig erschienen. Diese voraussetzungs- lose Freiheit auch für das Sittliche, diese Unbefangenheit auch dem Sittlichen gegenüber, wie sie die griechische Bildung vor mehr als 2 Jahrtausenden bereits besaß, hat erst Nietzsche dem europäischen Denken zurückerobert. Wohl, Nietzsche hat Vor- läufer hie und da gehabt. Verstreut treten in der Geschichte der europäischen Philosophie ähnliche Gedanken wie bei Nietzsche auf. Aber sie blieben unwirksam. Nietzsche erst hat die sittliche Freiheit, das Recht zu werten, das Recht zum freien Ideal so eindringlich und so laut gepredigt, daß diese Freiheit nun nicht wieder verloren gehen kann. In Nietzsche erst ist der echte, wahre Freiheitssinn der Europäer, ihr eingeborener Individua- lismus, durch den sich Europa von allem asiatischen Barbaren- tum abhebt, wieder aufgelebt. Mit Nietzsche beginnt erst die wahre, die größere Renaissance. Hierdurch erst ist die griechische Freiheit, die auch die sittliche Freiheit in sich schließt, die Freiheit, sich selbst das sittliche Ziel zu setzen, wieder auferstanden.
Aus einer jugendlichen, halb unbewußten Sehnsucht war die erste Renaissance hervorgegangen. Sie war nicht entsprungen aus einem entschiedenen, überzeugten Willen; sie ruhte nicht auf einer klaren selbstgewissen Sittlichkeit. Es war ein erster Rausch, ein Traum. Deshalb brach dieses Leben auch nach kurzer, glanzvoller Blüte wieder jäh zusammen. Sollte die Freiheit in Europa Dauer haben, mußte der Wille sie mit voller Überzeugung wählen. Das Gewissen mußte sich befreien. Auf diesem Boden echter, wahrer Freiheit konnte dann der Mensch mit größerer Hoffnung nach Glück und Schönheit jagen. Diese Aufgabe, Europa sittlich zu befreien, dem tiefsten Willen, dem Gewissen die Freiheit zu erkämpfen und so den festen un- erschütterlichen Unterbau zu legen für ein noch unbekanntes
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ahnungsreiches Leben einer schönern, höheren Zukunft — diese Aufgabe war dem deutschen Geiste überlassen. Luther, der so vielen als der rauhe Zerstörer der ersten Renaissance erscheint, legte den ersten unscheinbaren Keim zu einer neuen größeren Renaissance, die die Zukunft reifen wird. Durch seine Lehre vom freien Priestertum der Laien befreite Luther die Gewissen von dem äußeren Bann und Zwang der Kirche. Er zerstörte das furchtbare Bollwerk des gebundenen Geistes. Was nützte es, wenn einzelne wenige, Individuen, Gruppen, Stände, sich die Freiheit nahmen? Ein starker Hauch des allgemeinen Willens blies diese verstreuten Funken wieder aus. Luther errang zwar nur eine gewisse, eine kleine, beschränkte Freiheit, aber eine sichere, aber eine allgemeine, dauernde. Er schenkte dem Bruch- teil der Freiheit, den er errungen, zugleich die Kraft, die nur das gute Gewissen leiht.
Auf Luther folgte Kant. Luther befreite das Gewissen vom Druck der äußeren Mächte, aber es blieb gebunden im Worte Gottes, in der Offenbarung. Kant nimmt ihm auch diese Fessel ab. Das Sittengesetz ist ein eingeborenes, unveräußerliches Vernunftgesetz des Menschen. Jeder trägt in der Tiefe seines Busens ein heiliges, unerbittliches: Du sollst! mit sich herum. Das ist der kategorische Imperativ, das unbedingte Sittengebot. Es ist nicht verbürgt und nicht abhängig vom religiösen Glauben. Umgekehrt, der religiöse Glaube ist abhängig vom kategorischen Imperativ und allein durch ihn verbürgt. Nicht weil wir glauben, befolgen wir das Sittengesetz, sondern daß wir das Sittengesetz in uns haben und befolgen, das ist der einzige letzte Grund zum Glauben.
Als dritter tritt Nietzsche auf den Plan. Nach Kant ist das Sittengesetz ein selbständiges Vernunftgesetz des Menschen. Dann aber, so folgert Nietzsche, bestimmt auch der Mensch den Inhalt dieses Gesetzes. Der Inhalt des Sittengesetzes steht für Kant, wie wir hörten, fest. Er fragt nur nach der Sanktion des Sittengesetzes. Die Pflicht als solche, was das Gute sei, was der Mensch zu tun und zu lassen habe, das, meinte Kant, sei allen gleich bekannt, gewiß. Die Pflicht ver- stehe sich von selbst. Er fragte nur, wer die Pflicht uns auf-
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erlegt und gab zur Antwort: wir selbst uns selbst. Nietzsche aber zieht daraus den Schluß: Sind wir selbst die Quelle des Sittengesetzes, so schaffen wir auch den Inhalt dieses Gesetzes, so bestimmen wir auch aus freiem Willen, nach eigenem Wunsch und eigener Überzeugung, was gut sein soll, was wir als wünschbar, als erhaben, als erstrebenswürdig gelten lassen wollen. Der kategorische Imperativ muß sich verwandeln in den freien Wert. Wir müssen uns nicht nur selber an den höchsten Wert binden, wie Kant es wollte, sondern wir müssen auch erst selbst den höchsten Wert bestimmen, an den wir uns binden wollen. Der Mensch ist sich allein verantwortlich, nicht nur für die einzelne Tat, sondern auch für das Ideal, den Maßstab, an dem er seine Tat mißt. Wenn aber der Mensch das Gute, das Ideal sich selber wählt, so wird er es auch von ganzem Herzen lieben, die selbstgewählten Pflichten auch frei und freudig mit jedem Atemzug erfüllen. In herber, kalter Unerbittlichkeit, in düsterer Strenge steht der kategorische Im- perativ vor Kant. Wir aber wollen nicht die Schergen der Tugend sein, sondern deren freie Künstler. ,,Du kannst, denn du sollst!", so hieß es einst mit rauher Stimme. ,,Du wirst, denn du willst", so tönt es jetzt mit freudigem Klange.
Immer wird Nietzsche mit Luther und Kant zusammen als der dritte große deutsche Gewissensbefreier zu nennen sein. Man darf sich durch Nietzsches Haß auf beide Männer nicht täuschen lassen. Daß sie nach dem gleichen Ziele strebten wie er, aber auf halbem oder noch kürzerem Wege stehen blieben, das reizte seine leidenschaftliche Seele, die schnell zum Ziele stürmte. In Stunden der Selbstbesinnung — denn Nietzsche schuf nur im Rausch und Sturm — war er sich dieser seiner Verwandtschaft auch bewußt. Ohne Zweifel, er war ihres Geistes. Dieselbe sittlich ernste Leidenschaft, derselbe glühende Frei- heitsdrang.
So ward Europa frei. Nun kann es beginnen die größere Renaissance, wie ich das Kommende taufte. Nun ist der euro- päische Geist zu der alten, vollen Griechenfreiheit zurückgekehrt. Nun blühe auf, trete ans Licht unser echtes eingeborenes Leben, unser Tiefstes, Stärkstes, unser verborgenes Gold. Zwar schwindel-
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erregend ist die Freiheit des freien Wertes, gefährlich, unheil- schwanger. Aber wir können dieser Freiheit nicht mehr ent- rinnen. Wir müßten unser Bewußtsein töten oder zu Lügnern werden, da unsere Klarheit, die wachsende Erleuchtung un- seres Geistes diese Freiheit uns unerbittlich aufzwingt. Und alsbald auch werden wir uns an die Freiheit des freien Wertes gewöhnen. Wenn wir uns sammeln, unsere Kraft bedenken, werden wir nicht mehr schaudern. Wir werden die grenzenlose Freiheit, die uns ward, nicht mißbrauchen. Unseren Feinden, die in der Knechtschaft, für die Knechtschaft erzogen sind, werden wir nicht das heißersehnte Schauspiel geben, daß wir an unserer Freiheit zugrunde gehen. Wir werden sie nur zu großen Taten nützen. Mag das Griechentum, das zum ersten und bisher einzigen Male diese schrankenlose Freiheit, die Frei- heit auch im Sittlichen besessen hatte, an ihr gescheitert sein. Uns wird das Gleiche nicht begegnen. Auch ohne die eiserne Kette des kategorischen Imperativs, auch mit dem freien Wert, dem freien Ideal werden wir leben und größer leben. Was zum ersten Male mißlang, braucht nicht zum zweiten Male zu miß- lingen. Wohl, Großes kann nur die Einheit schaffen, ein einiger, allumschlingender Sinn der Geister. Aber verächtlich ist die Einheit, die die rohe Macht und Gewalt erzwingt. In der Wirt- schaft, im Staat, da mag der Zwang nützlich und vonnöten sein, da ist er vielleicht mit Recht zu Hause. Aber im Leben des Geistes, im Heiligsten, im verborgenen Schatz des Herzens, da kann nur ungewollt und unerzwungen aus der reichsten Freiheit die Einheit wachsen. Wenn der freie Wert herrscht, dann werden mannigfaltige, entgegengesetzte Ideale aufblühen. Der eine wird begehren, was der andere flieht. Aber aus dem stillen Kampf der Ideale wird sich eine unbemerkte höhere Einheit ergeben, eine Harmonie, nicht ein einziger, schriller, toter Ton, sondern ein brausender Zusammenklang, ein viel- stimmiger rauschender Gesang, der erst die ganze menschliche Seele zum Erklingen bringt. Darum fürchten wir den freien Wert nicht! Hier ist eine neue sprudelnde Quelle geöffnet, die unermeßliches Leben sprießen lassen wird. Die Menschheit war bisher in all ihrem Reichtum arm. Nun können gefesselte
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Kräfte ans Licht. Nun kreißt der Berg der Menschen-Zukunft. ,, Tausend Pfade gibt es, die nie noch gegangen sind; tausend Gesundheiten und verborgene Eilande des Lebens. Unerschöpft und unentdeckt ist immer noch Mensch und Menschenerde."
Ob das Ideal, das Nietzsche aufstellt, ein mögliches, be- rechtigtes, heilsames Ideal ist, ist eine andere Frage. Nietzsche nämlich fordert nicht nur, daß die künftigen Philosophen schätzen, Werte, Ideale aufrichten sollen, er versucht auf der Stelle selbst ein Ideal zu schaffen. Dies Ideal mag mangelhaft, einseitig, gewaltsam sein. Man bedenke, daß es ein erster Versuch ist. Darin aber wird Nietzsche ewig Recht haben, daß die Philosophen hinfort die Pflicht haben, Ideale zu schaffen. Nicht w i e Nietzsche wertet, ist das Entscheidende, Wichtige, Schicksalsvolle, sondern d a ß er wertet, daß er der Philosophie dieses Ziel gibt, diese Aufgabe stellt. Nietzsche ist ein Eroberer, Abenteurer, ein Co- lumbus des Geistes. Er entdeckt neues Land. Nicht nur die Erbauer und Vollender, die letzten Erfüller einer langen Hoff- nung sind die großen Wohltäter der Menschheit, sondern auch die unruhigen Entdecker und Seefahrer, die auf Eroberung ausziehen. Die Menschen des Erdbebens, die das Morsche er- schüttern und neue Quellen aufschlagen, aus denen brausend und flutend sich wilde Wasser ergießen — ob sie geringer sind, als die stillen, hehren Vollender, die die Krone der Menschheit erringen und reifen Segen aus ihren Füllhörnern streuen, wer will das sagen? Aber notwendig sind auch jene ersteren, wilden, gewaltsamen. Nietzsche ist ein Mensch des Sturmes und Dranges. Er kennt keine Grenzen. Er hat sich nicht im Zaume. Seine Leidenschaft reißt ihn immer um einen Schritt über das Ziel hinaus. Aber all diese gährende Unruhe, diese Wildheit, dieser Übermut, was sind sie anders als der Rausch der Jugend? Nur die waghalsige, verwegene, ehrfurchtslose, sehnsüchtige Jugend kann Werke vollführen, wie sie Nietzsche vollführte. Ohne diesen schäumenden Übermut kein neues Land, nicht der Auf- gang eines neuen Morgens. Wir müssen Nietzsche viel nach- sehen. Er weiß es selbst, daß er Nachsicht bedarf, gesteht er doch freimütig: ,, Töricht ist mein Glück und Törichtes wird es reden, zu jung noch ist es, so habt Geduld mit ihm." Sie nennen
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ihn krank. Aber seine Krankheit ist die Krankheit der Jugend, die an der Überfülle zerbricht. Die Vernünftigen, die ihn schel- ten, die sich vor seinen Ausschweifungen entsetzt bekreuzigen, sind toter Staub gegen sein blühendes Leben. Kann es etwas Schöneres, Berauschenderes geben als Torheiten der Jugend? Wessen Herz lacht nicht vor Wonne, wenn die Jugend im Über- schwange vorüberbraust? Und habe er noch so viel Schlimmes gesagt und komme er öfters, wie es scheint, frech und schamlos daher und kenne er nirgends Ehrfurcht, eine solche Vogelfreiheit nur konnte diesen kühnen Flug nehmen, konnte über den tiefen Abgrund hinüber, der das neue Land der Freiheit von den alten, fest umzirkten Sitzen schied. Er war entzückt, sein Herz schwoll über beim Anblick neuer Morgenröten. Von diesem Anblick überwältigt, verlor seine Seele das Gleichgewicht. Er fühlte sich aller Banden los. Aber erobert ist durch ihn ein neues Reich, aufgetan das Tor zur neuen Herrlichkeiten. Auf seinem Pfade wird die Zukunft nachdrängen, sie wird erfüllen, was er versuchte, vollbringen, was er ersehnte.
Nietzsche heißt die Philosophen nicht nur die Wahrheit er- kennen, das letzt-mögliche Wissen gewinnen, sondern auch ein Ideal schaffen. Wenn die Philosophen die allgemeinste und umfassendste Wahrheit erkannt haben, dann haben sie ihre Aufgabe erst zur Hälfte erfüllt. Dann tritt noch ihr Wille auf den Plan, dann hat ihr Wille noch sein Wort zu sprechen. Er stellt sich vor die Welt der enthüllten Erscheinungen hin und schätzt die Dinge nach dem Werte ab, den er ihnen leihen will. Er bestimmt einen höchsten Wert und auf diesen höchsten Wert hin heißt er die Menschheit ihre Blicke und ihre Kräfte richten. Aus seiner Erkenntnis heraus wird der Philosoph zum Führer und Befehlshaber der Menschheit, der ihr ihre Bahnen vorschreibt, ihr Gesetze auferlegt, die sie zum Heile führen sollen. Der Philosoph darf nicht an der Fülle seines Wissens ersticken. Es darf ihn nicht ausdörren, so daß nichts als reines Denken in ihm übrig bleibt. Sondern aus all seinem Wissen muß der Philosoph für seinen Willen, für sein schätzendes, wertendes Herz, seinen eigentlichen Lebens quell sich Nahrung saugen. Sein Wille muß mit seinem Wissen wachsen. Und auf der Höhe
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seines Wissens angelangt, muß der also gestärkte und gesättigte Wille, der plötzlich sein Ziel, seine höchste Wünschbarkeit er- kennt, in heißer, glühender Sehnsucht sich entladen. Ein Sturm muß das bewegliche Herz, seine wogende Seele packen, und nun strömt seine ganze Kraft und Leidenschaft brausend seinem höchsten Ideale zu. Eine unendliche Liebe ist in seiner Seele aufgegangen. Sein Herz wird von einer höchsten Schönheit angelockt und nun hebt sich in seinem Innern jeder Drang und jedes Streben. Sein Wille spannt seine letzten Kräfte an, daß er sein Ideal zum Leuchten bringe, daß er es als schönsten Stern vor der Menschheit aufglänzen lasse, damit sie die gleiche Liebe, das gleiche Verlangen fühle. So hat nicht nur das Denken, sondern auch das Streben des Menschen sein Maß und sein Ziel gefunden. So will Nietzsche die Philosophie geübt wissen. In diesem Sinne, daß sie das Ideal heimbringen, ruft Nietzsche den Philosophen zu: ,,Auf die Schiffe, ihr Philosophen, auf die Schiffe!" Das mag unseren Philosophiegelehrten, die fromm und gläubig als heimliche Diener der Kirche sich in dem Besitze des echten und einzigen Ideales wähnen, fremd in die Ohren tönen. Haben sie doch alles, was sie begehren; ihnen fehlt es an nichts. Wir aber, die wir nicht so gelehrt sind, wir haben eine unbezwingliche Sehnsucht nach einem neuen Ideal. Wir fühlen eine unbeschreibliche Leere im Busen. Wir möchten so aus innigstem, tiefstem Herzen wieder verehren. Wir möchten ein Ziel begreifen, das uns die letzte Kraft entlockt. Denn uns ist das alte Ideal verblaßt. Es blickt uns mit hohlen, toten Zügen an. An ihm mögen sich die erheben und erbauen, die kein Herz im Busen tragen, denen alles Herz vom grübelnden Geiste auf- gezehrt ward. Für sie mag das ererbte Ideal noch Früchte genug abwerfen, so dürr und mager sie auch sind. Wir aber sind hungrig und durstig geworden in allem Reichtum. Uns will die Sehnsucht nach neuen Hoffnungen, neuen Schönheiten, neuen Anbetungen die Brust sprengen. Uns alle hat Nietzsche ins Herz getroffen, wenn er den Philosophen zuruft: Gebt Ideale; euer ganzes Streben ist unnütz, ihr seid verworfen, wenn ihr nicht Ideale gebt. Lange genug hat die Philosophie mit ihrem Wissen geprunkt. Es ist Zeit, daß die Philosophie mit einem
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Ideale, das die Herzen erwärmt, ihr Recht beweist. Immer hat sie bisher mit einem Nichts uns abgespeist. Wir begehrten Brot, und sie reichte uns einen Stein. Jetzt wird unser Begehren lauter. Nietzsche hat mit seiner Losung der Zeit aus der Seele gesprochen. Seine Hoffnung muß sich erfüllen. Sein schmerz- hafter Ruf nach Idealen, nach vollblütigen, dem tiefsten Lebens- quell entstiegenen Idealen kann nicht verhallen. Er wird früher oder später Geister wecken, die diese schwere Bürde mutig auf sich nehmen. Er wird schließlich zu Herzen dringen, die so voller Sehnsucht sind, daß sie die Scham verlieren, daß sie ohne Scheu nach dem Hohen und Höchsten greifen, daß sie neue Heiligtümer aufrichten, zu denen sie selbst und alle, die mit ihnen gleicher Gesinnung sind, wallen können. Sie werden einen neuen Himmel über dem Menschen ausspannen mit einer neuen Sonne, die dem Leben neue Wärme, Licht und Kraft gibt. Diese Philosophie aber, die solche Güter bringt, die den Menschen nicht nur die letzte Aufklärung über das geheimnis- volle Dasein gibt, sondern ihm auch noch ein Ideal schenkt, die ihn nicht nur unterrichtet, sondern erzieht, diese schaffende Philosophie ist auch imstande, die erstorbene Religion dem Menschen zu ersetzen, die Lücke auszufüllen, die die versunkene Religion in seinem Innern gerissen hat. Hiermit kehren wir zu unserem Ausgangspunkt zurück. Was soll aus der Religion werden? Wer und was soll uns die Religion ersetzen? Denn die Religion, wie sie bisher in der Geschichte bestanden, ist tot und begraben. So Geist wie Herz hat sich von ihr abgekehrt und beide schmachten nach neuen Bil- dungen, die ihre Aufgabe erben. Denn ohne das tiefe Glück der Erleuchtung, ohne den Schwung, den großen Antrieb, den die Religion den Vätern gab, mögen wir nicht leben. Ohne dies ist uns das Leben schal und leer. Diesen Ersatz der Religion kann die Philosophie leisten, die mit Nietzsche ihren Einzug hält, eine Philosophie, die nicht nur Erkenntnis ist, sondern die die ganze Seele des Menschen erschöpft, gleichsam in sich schlingt, indem sie alle Regungen, alles Verlangen und Bedürfen der Seele stillt und befriedigt. Wenn der Mensch belehrt ist nicht nur über das Seiende, sondern auch über das Sollende, wenn ihm
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seine tiefste Bestimmung und Bedeutung, seine höchste Aufgabe und PfHcht enthüllt ist, was ihm zu tun obliegt, und was seiner als Lohn und Erfolg seines Strebens harrt, wenn ein Ideal als stete Sehnsucht in seiner Seele brennt, als stete Erfüllung seine Freude weckt, dann hat der Mensch alles denkbare Heil erreicht, dann ist ihm geworden, was ihm werden kann, dann ist er erlöst, befreit. Offen liegt die Welt vor ihm; sein Weg ist ihm gebahnt. Nun schwellt die Hoffnung ihm den Busen. Frohen Mutes strebt er seinem höchsten Glück und seiner höchsten Freude zu. Man wende nicht ein, daß die Philosophie sich immer in engen Grenzen halten müsse, daß sie, ob sie nun über das all- gemeinste Wesen und die Wurzel des Daseins grübele, oder Ziele für das Leben festsetze, Ideale für den Menschen aufrichte, immer in den Grenzen des wissenschaftlich Gewissen bleiben müsse, daß hiermit aber das Herz des Menschen sich nicht zu- frieden geben könne, sondern jenseits dieser Grenze befinde sich das unbegrenzte Reich des Möglichen, des Traumes, der Hoffnung. Und dieses sei das eigentliche Reich der Religion, so daß auch in Zukunft Philosophie und Religion als gesonderte Mächte mit gesonderten Pflichten nebeneinander bestehen und gedeihen könnten. Nein, das alles ist falsch. Die Philosophie dringt bis an die letzt-erreichbare Grenze vor. Sie macht dort Halt, wo die Gedanken durch ihre Unbestimmtheit, Grund- und Haltlosigkeit den Wert verlieren. Alle menschlichen Vorstel- lungen haben nur Wert, wenn sie möglich, denkbar, wahrschein- lich bleiben, wenn sie noch einen gewissen Grad der Zuverlässig- keit wahren. Überschreiten sie diese Grenze, stürzen sie sich ins Uferlose, verlieren sie sich im Unermeßlichen, Unfaßlichen, Übernatürlichen, dann werden sie Schaum und Dunst. Kind- lichen Zeitaltern mochte es möglich sein, an die unbegründetsten, ausschweifendsten Vorstellungen, wie an etwas Handgreifliches fest zu glauben, wenn sie nur mit kräftiger Überzeugung vor- getragen wurden, wenn sie nur recht entschieden auf Offen- barung pochten. Diese Zeiten sind dahin. Kinder mochte man mit solchen Gaukeleien, die sich ohne jeden Anhalt, jedes wahre Recht für Wirklichkeiten ausgaben, abspeisen. Wir verlangen anderes. Wir wollen Wahrheit, nicht Trug und Traum. Wo
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uns der Schein der Wahrheit entfheht, wo wir nur noch glauben sollen, wo uns kein Fingerzeig der Erfahrung mehr Andeu- tungen gibt, da kehren wir um, da beginnt das Reich des Nichts, da suchen wir nicht mehr Schätze. Freilich dürfen wir auf der andern Seite nicht allzu ängstlich sein. Wie wir die Grenzen unserer Vorstellung nicht zu w e i t ziehen dürfen, so dürfen wir sie auch nicht zu e n g ziehen. W o sie zu ziehen ist, läßt sich nicht bestimmt festsetzen, das schwankt nach den Anschauungen der verschiedenen Menschen und Zeiten. Jedenfalls aber füllt die Philosophie das ganze Reich der menschlichen Vorstellungs- welt aus. Sie läßt für die Religion keinen Raum. Von gegebenen Voraussetzungen ausgehend schreitet sie weiter und weiter, bis die Vorstellungen den Boden der Erfahrung, wenigstens den Anhalt der Erfahrungen verlieren. Hier wendet sich der Geist. Was darüber liegt, ist öde und unfruchtbar. Nur was mensch- lich bleibt, hat für Menschen Wert.
Aber ein letzter Zug ist in das Wesen der kommenden Philo- sophen, die unsere Erretter werden sollen, noch einzutragen. Eine letzte Aufgabe, die zudem die schwerste ist, fällt ihnen noch zu, wenn sie die Erwartungen, die wir von ihnen hegen, erfüllen sollen. Wenn die künftigen Philosophen nicht nur das höchste Wissen vom Dasein bei sich vereinigen, in ihrem Geiste sammeln, was man schon von jeher ihnen zuschrieb, sondern wenn sie auch aus diesem ihrem Wissen noch das Ideal ableiten, das höchste Gut, das letzte Ziel des Menschen bestimmen, seine obersten Werte ihm enthüllen sollen — die neue verhängnis- volle Aufgabe, die Nietzsche den Philosophen zuweist — so haben sie auch noch eine dritte und letzte Pflicht zu erfüllen: sie müssen das Ideal, das sie vertreten, auch selber sein, sie müssen es darstellen, verkörpern, lebendig vor Augen führen. Was nützen die Wertschätzungen, wenn ihre Urheber ihnen nicht zur Wir- kung verhelfen, ihnen nicht die Macht über die Gemüter geben, daß diese in Liebe und Verlangen nach diesen Werten und Zielen entbrennen und sie mit aller Leidenschaft suchen? Die Schöpfer eines Ideals haben ihrem Ideale, dem sie sich hingegeben haben, das lockend und drohend über ihnen schwebt, auch die Einkehr in die Seele zu verschaffen, müssen ihm auch die Tore der Herzen
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öffnen. Und nicht nur dies: wenn sie die hart verriegelten Seelen gesprengt haben, so müssen sie ihr Ideal den Seelen auch ein- prägen, eingraben, so fest und tief, daß es die Herzen ganz in Besitz nimmt und dauernd zu seiner Wohnstätte macht. Bis in die unterste Tiefe jeder Seele müssen sie das Ideal hinab- und hinein- senken, daß die Seele es nicht wieder losläßt, sondern mit um- klammernder Liebe festhält und nur noch in diesem Ideale lebt und strebt. Wie aber sollen die Philosophen, die Erfinder und Träger des Ideals, dies erreichen, wenn nicht dadurch, daß sie das Ideal selber sind? Sie müssen selbst ein lebendes Zeugnis ihres Ideals sein. Das macht die Herzen erbeben und zittern, erbeben vor Bewunderung und erbeben vor Sehnsucht, dem ge- schauten Vorbild es gleich zu tun. Die Philosophen müssen ihr Ideal selber betätigen, müssen ihm durch das eigene Leben Leuchtkraft geben. So allein werden sie zugleich die Erzieher zu ihrem Ideale. Indem sie das Ideal zuerst selbst am eigenen Leibe und Leben erproben und bewähren, schaffen sie ihm erst die Beredsamkeit und hinreißende Sprache, die die Geister fängt und zu Liebhabern, Anbetern, Gefolgsmännern ihres Ideales macht. Das Leben ist für den Philosophen ein Versuch, ein Spiel um alles. Sein Alles gibt er preis, bringt er seinem Ideal zum Opfer. In ihm selbst, durch ihn selbst soll es leben. Lebt es aber in ihm, so ist die Macht dieses Ideals unwiderstehlich. Dann lenkt es alle bewundernden Blicke auf sich. Dann lernt jeder schauen, lernt sich mit dem Geschauten messen. Und fällt dieser Vergleich zu den eigenen Ungunsten aus, zwingt er zur Selbsterniedrigung und Selbstbeschämung, dann wachen die Seelen, die noch einen letzten Rest von idealer Sehnsucht und Ehrfurcht vor menschlicher Würde haben, auf und ringen fort und fort um die Nachahmung ihres Vorbildes, die Verkörperung ihrer Wertschätzung, die Verwirklichung ihrer Sehnsucht. Dann ruhen sie nicht, bis sie nicht wenigstens im Kleinen auch ihres Lebens das Ideal bewähren und beweisen. So hat das ganze Leben eine neue Triebkraft bekommen. Ein neues Grünen, ein neues Quellen und Schwellen ist allerorten zu spüren. Der lockende Reiz warmen Frühlingshauches ist über das Leben gefahren und nun bricht alle totgeglaubte, winterlich erfrorene,
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Zweiter Teil.
schlummernde Kraft wieder hervor. Ein neues Leben hebt an. Als Verkündiger, und zugleich als Vorbilder, Muster eines Ideals sind die Philosophen zu Erweckern, Wiedererweckern des Lebens geworden, das tief vergraben, verschüttet gewesen war, das siech, verdorben gewesen war, das ziellos, haltlos dahintaumelte, das daniederlag und im Staube verkam. Die Gelehrsamkeit ist wenig. Sie erhält erst Wert, wenn sie sich in eine Lebensauf- fassung umsetzt, die den menschlichen Kräften ihr Ziel gibt. Aber über alles geht eine einzige Tat des Charakters im Dienste eines Ideals. Die Wahrheit ist wenig, die Wahrhaftig- keit ist alles. Wahrheiten finden ist nicht gar schwer, aber den gefundenen Wahrheiten im Leben dienen, ihr getreuer Herold und Vollstrecker im Leben sein — dem entziehen sich viele. Und wehe dem Leben, wenn diese Aufrichtigen, Wahrhaftigen, diese Vorbilder und Muster der menschlichen Tugend und Würde ganz fehlen. Dann ist der Zusammenbruch unvermeidlich und nur noch kurze Frist ist diesem führer- und vorbildlosen Leben gegönnt; dann naht das Verhängnis. Wo es keine sittlichen Erzieher mehr gibt in Wort und Tat, da ist dem Leben das Urteil gesprochen.
Und mangelt es unserer Zeit nicht ganz an diesen sittlichen Führern? Irren wir nicht ohne Ziel, ohne Ausblick und Hoff- nung umher in einer öden Wüste? Wo zeigt sich ein Mann, an dem wir uns aufrichten könnten, der ein Ideal verkörperte? Wo sind die Menschen, die überhaupt meinen, daß Ideale da sind, damit man ihnen mit der Tat und nicht nur mit dem Worte diene? Wo ist einer, der wahrhaft den Mut zu dem hat, was er denkt und glaubt, den sein Ideal erfüllt, so, daß er seinem Ideale ohne Rest nachkommt, sein Ideal erschöpft? Feigheit, Furcht und Unterwerfung unter Staat und öffentliche Meinung — das ist der deutsche Geist geworden. Die Unwahrhaftigkeit unserer Denker, derer, die sich, wie sie vorgeben, der Wahrheit widmen, deren Lüge schreit zum Himmel. Ich habe die Torheiten und engen Auffassungen unserer Philosophen gerügt. Was will aber dies besagen gegen die Unwahrhaftigkeit und Lüge, deren sie sich täglich, stündlich schuldig machen! Solche Philosophen können allerdings unser Volk nicht erretten, können uns die
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Religion, deren wir überdrüssig geworden sind, nicht verschmerzen lassen. Philosophen müssen Männer sein. Furcht ist für Denker und sonderlich für alle diejenigen, welche die letzte Wahrheit, letzte Weisheit suchen, ein verbotenes Gefühl. Anstatt zur Wahrheit, zur Wahrhaftigkeit zu führen, zur Aufrichtigkeit, zum geraden Sinn, erziehen die Philosophen unsere Jugend nicht durch ihre Worte, aber durch ihre Taten, zur Unaufrichtig- keit, zur Unwahrhaftigkeit, zum Sklavensinn. Unsere Uni- versitäten sind gewiß bewundernswerte Einrichtungen zur Pflege der Wissenschaften, Einrichtungen, um die uns jedes Volk be- neiden könnte. Aber der wissenschaftliche Geist, der doch der Geist der unbedingten Freiheit sein muß, befindet sich hier immer noch gleichsam wie im Puppenstande, er glüht nur unter der Asche, er erreicht seine stolzen Erfolge immer noch auf halb verbotenen Pfaden, er ist immer in eine letzte Hülle noch ver- steckt, die er nicht zu sprengen wagt. Es ist manche Freiheit erreicht, aber nicht die ganze Freiheit, eine gewisse Frei- heit, aber nicht d i e Freiheit. Überall wo die wissenschaftliche Tätigkeit unser Weltbild im einzelnen läutert und vertieft, da läßt man den Geist gewähren. Denn diese wissenschaftlichen Erkenntnisse sind zu manchem Bedürfnis nütze. Dort aber, wo der Geist um das Höchste ringt, um die letzte, allgemeinste Wahrheit, in der alles Wissen, alles Streben des Geistes zusammen- läuft, in der Philosophie, da zwängt man den Geist unter die Normen, die das Volk, die der Staat verehrt. Und die Philo- sophen tragen schweigend dieses Joch. Sie sind nicht die ersten, sondern die letzten in der Freiheit. Ein seltsamer, höchst ver- dächtiger Friede herrscht zwischen der Philosophie, der Philo- sophie wenigstens, der unsere Jugend überantwortet wird und die das staatlich-öffentliche Leben beherrscht, und der Religion und ihren Vertretern und Machthabern. Ehemals als der Geist noch mutig war — ach was für vergessene Zeiten! — da standen diese Mächte gerüstet und jeden Augenblick zur Schlacht bereit einander gegenüber. Und Streit muß ja zwischen diesen Mächten sein, die als unerbittliche Nebenbuhler das Gleiche wollen. Ist jede Partei echt und wahrhaft, dann muß hier ein Kampf auf Tod und Leben entbrennen, der nicht eher schließt,
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Zweiter Teil.
als bis eine Partei besiegt am Boden liegt. Aber anstatt, daß die Philosophen diesen Kampf zu Ende geführt und zur Ent- scheidung gebracht hätten, ihren großen Ahnen getreu, da haben sie in letzter Stunde, als die Spannung am höchsten war, als alles zum Ende drängte, die Waffen gestreckt und Feindschaft in Frieden gelöst. Da ihr Mut am stärksten hätte sein sollen, da sie den letzten schwersten Schlag hätten tun sollen, da sind sie furchtsam in die Knie gesunken, da haben sie noch die ganze stolze Vergangenheit der Philosophie hinterher verraten und ver- leugnet, haben für jedes verv/egene Wort und jedes Selbstbewußt- sein ihrer Vorgänger Abbitte geleistet. Und nun tauschen sie Liebespfänder mit der Religion aus. Die furchtbar ernsthaften Warnungen aber, die Höllen-Strafpredigten eines Schopenhauer und Nietzsche hören diese Philosophen nicht, die schlagen sie unbesorgt in den Wind. In das eine Ohr hinein — aus dem andern heraus! In Geist und Seele aber dringt nichts ein. Wenn Schopenhauer aus seinem tiefsten Ernste heraus die Universitäts- philosophie vorfordert und ihr ihre Falschheit vorhält, so geben die Angegriffenen dies lediglich für das sinnlose Gerede eines Narren aus und Nietzsche gilt ihnen schon ohnehin als unzu- rechnungsfähig. Wie werden sie sich durch diese Männer die Ruhe stören lassen! Woher dieser ungeheuere Erfolg, den Nietzsche bei der Jugend hat? Meint man wirklich, es ist nur der Glanz und Flitter der Sprache und die Keckheit, Überkeck- heit seiner Gedanken? Es ist auch noch etwas Anderes, Ernst- hafteres, Heiligeres. Es ist der Hauch der Reinheit, Aufrichtig- keit, der aus seinen Schriften weht. Dieser Geist schielt nicht. Er spricht nur aus sich. Er spricht nicht für jemand, er schweigt nicht für jemand. Er sieht nur sein Ziel. Welch eine Erlösung, welch eine Hoffnung, die sich an diesen Namen knüpft! Nach langer, gar zu langer Zeit wieder der erste wahrhaftige, auf- richtige Mensch!
Auch die freieste religiöse Auffassung hält, da sie die Ge- meinde, den festen Bestand einer bestimmten religiösen Gemein- schaft nicht auflösen will, ein gewisses Unveräußerliches, Un- veränderliches, unbedingt Gewisses in der Religion fest, und sei dies auch noch so klein und winzig. Sie nimmt nicht einen
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steten Fluß aller Wahrheit an. Sondern eine Wahrheit, meint auch die freieste Theologie, sei im Kerne einst für alle Ewigkeit, wenigstens für alle Menschlichkeit gefunden, und diese eine, unumstößliche Wahrheit, erschienen in der Gestalt Christi, wandle im Wesen unverändert durch alle Jahrhunderte bis in die fernste Zukunft. Auch diese Geister billigen die Gemeinde als eine feste geistige Partei, die sich zu dieser Wahrheit be- kennt. Alle schroffen Parteiungen aber im Geistigen sind eine Unkultur, ein orientalischer Atavismus, eine Barbarei. Wie kann die Philosophie, die an die schöpferische Freiheit des Men- schen in bezug auf alle Wahrheit glaubt, mit solchen Mächten Frieden halten! Was wäre das erste, was die Philosophen von ihren Schülern, die sich an ihre Lehrstühle drängen, fordern müßten? Was müßten sie ihnen zur ersten und obersten Pflicht machen? Daß sie den schroffen Parteiungen, in die sie durch ihre Jugenderziehung hineingestellt worden sind, den Rücken kehren. Wer sich dem Dienst der Wahrheit weiht, darf nichts schon zu wissen meinen, der muß frei dem Dasein gegenüber- stehen, niemals verschworen und verpflichtet zu einer Wahr- heit, sondern immer unabhängig, stets befugt, den Stand und die Betrachtung zu wechseln. Hat je ein philosophischer Lehrer so zu unserer Jugend gesprochen? Mußte er nicht so sprechen, wofern er ehrlich war? Aber die Philosophen gehören ja selbst ausnahmslos den schroffen religiösen Parteiungen und Ge- meinschaften an, in die das Volk sich spaltet. Der Philo- soph , überhaupt der Denker , der Gelehrte als Mitglied und Bekenner der religiösen Parteiungen des Volkes — welch ein absurder, welch ein unmöglicher, welch ein beschämender Anblick! Der wissenschaftliche Geist, die Freiheit und Selbst- verantwortung, die die Denker im einzelnen für sich beanspruchen und auch betätigen: diese Freiheit und Wissenschaftlichkeit geben sie bei dem Wichtigsten, Allgemeinsten, bei ihrer gesamten Stel- lung zum Leben und dessen Grundfragen preis. Hier schließen sie sich an gegebene Größen, an Massen an. Sägen sie damit nicht den Ast ab, auf dem sie sitzen? Verleugnen sie hier ihr Recht und ihre Pflicht zur vollkommenen Unabhängigkeit, zur vollkommen freien und einsamen Selbstverantwortung, — und
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Zweiter Teil.
daß sie dies Recht verleugnen, beweisen sie eben damit, daß sie das Band zwischen sich und der Volksrehgion nicht zer- schneiden— dann mögen sie zusehen, ob der Geist der Unfreiheit, dem sie hier huldigen, ihnen nicht früher oder später das Lebens- licht ganz ausbläst, indem er ihnen jede Freiheit raubt. Gegen den Geist der Unfreiheit dürfte es für sie nur den Todkrieg geben. Was nützt es, daß tatsächlich die protestantische Kirche dem Geiste ziemliche Freiheit läßt, weil sie zu schwach ist ! Es handelt sich nicht um Wirklichkeiten, sondern um Grundsätze, Prinzipien, weil diese sehr viel wichtiger als irgendwelche Wirklichkeiten sind; denn sie bergen die Möglichkeit von un- zähligen Wirklichkeiten in sich. Hier heißt es Farbe bekennen. Wenn wirklich die protestantische Kirche — oder von dieser will ich gar nicht reden — wenn nur die sogenannte liberale Theologie wirklich die Freiheit wollte, dann müßte sie jede Anschauung, auch jede antichristliche und heidnische Lehre dulden und dieser in gleicher Weise Raum geben. Solange sie das nicht tut, ist sie wie jede andere religiöse Partei und Gruppe eine Feindin der Freiheit, nur weniger ehrlich als diese. Was für eine laue Luft weht an unseren Universitäten! Was herrscht hier für eine müde Stimmung des Friedens und der Entsagung! So stürzt man sich, um das schlechte Gewissen zu betäuben, in die Arbeit. Und so wird im einzelnen, in allen Spezialfächern fleißig, bienenfleißig gearbeitet und auch viel Staunenswertes geleistet. Von der Philosophie aber, die das ganze Wissen in einer Einheit sammeln, die die letzten höchsten Folgerungen aus dem allgemeinen Wissen ziehen soll, die das menschliche Denken gegen die andern Lebensmächte vertreten und abgrenzen, als geistige Macht auf das Leben einwirken soll, von ihr geht wenig Rühmliches aus. Sie waltet ihres Amtes schlecht. Im Grunde geht nichts von ihr aus. Die Nation, die allgemeine geistige Bildung erfährt keinen Einfluß von ihr, nur daß sie ewig von ihr gehemmt wird. Wie sollte die Philosophie auch Taten vollbringen, wenn sie auf den Kampf verzichtet hat! Denn nur Taten des Kampfes sind wirkliche Taten. Die kleinen Plän- keleien aber, die sie noch gelegentlich ausführt, sollen doch wohl nur die beschämende Tatsache verhüllen, daß die Philo-
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Sophie auf ihr selbständiges Recht, auf ihr letztes, höchstes Ziel verzichtet hat. Ich gestehe, ich bin öfter dem Gedanken näher getreten, an einer Universität Philosophie zu lehren. Aber jedes- mal, wenn das Vorhaben zur Tat werden sollte, ergriff mich ein Schauder, ich kehrte immer noch rechtzeitig um, um der Gefahr zu entrinnen, nicht auch der Verderbnis anheim zu fallen. Wenn man gelegentlich den Universitätslehrern klar zu machen ver- sucht, daß eine charaktervolle Philosophie, da diese die Freiheit um jeden Preis fordern muß, niemals mit der Religion, mit irgend- einer Religion, die immer ein festes, straffes Band um ihre Be- kenner schlingt, paktieren darf, daß die Philosophie hier nur Kampf und Feindschaft, nichts als Kampf und Feindschaft kennen kann, dann sehen den also Redenden die dortigen Denker immer nur mit großen erstaunten Augen an, gleich als ob man nicht völlig bei Sinnen wäre. Und mit unzähligen spitzfindigen Gründen wissen sie ihren Frieden, ihre holde Eintracht mit der Religion zu verteidigen. Wenn sie nicht gar, was auch wohl vor- kommt, ganz offen auf die Macht des Staates, die Bedürfnisse des Volkes hinweisen, das man nicht stören dürfe. Aber man sollte doch überlegen, ob man Polizist oder Philosoph ist. Ist man das letztere, so hat man doch nur e i n Gebot: die Wahr- heit und die Wahrhaftigkeit — ganz gleichgültig, ob man hier- mit irgend jemand stört oder ängstigt. Ehe an unseren Uni- versitäten wieder eine charaktervolle Philosophie möglich ist, muß ein vollkommener Wechsel in unserer gesamten Geistig- keit eintreten. Jetzt dort eine tapfere Philosophie, die sich ihrer Aufgabe und Pflicht bewußt ist, einführen, wäre gänzlich un- möglich, stieße auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Aber eine ungeheuere Gefahr für den deutschen Geist und damit für die ganze geistige Zukunft bedeutet diese Schlaffheit, Pflichtver- gessenheit der Philosophie, die als die öffentlich anerkannte allein Staat und Gesellschaft beherrscht. Wenn sich über unser Volk eine immer dunklere Wolke lagert, wenn wir immer tiefer hinein in Nacht und Nebel wandern, wenn eine immer schwärzere Finsternis sich über alle Geister breitet, wenn besorgte Gemüter schon fürchten müssen, daß alles wieder verloren gehe, was der europäische Geist in den stolzen vergangenen Jahrhunderten
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geschaffen habe — denn wir zehren nur von den alten Schätzen, wir fügen nur noch im Einzelnen und Kleinen hinzu, aber der Strom der Leidenschaft des Geistes ist versiegt und im Wesent- lichen, im Entscheidenden werden wir nicht reicher sondern von Jahr zu Jahr ärmer; wenn so die Zeiten laufen: wer trägt die Schuld daran? Die abgefallenen verräterischen Philosophen, die sich vor der Religion, dem gebundenen Geist, gebeugt haben, die, um Ruhe zu haben, einen faulen Frieden schlössen. Sie sind Verträge eingegangen mit den Mächten des gebundenen Geistes. Religion und Philosophie haben sie an e i n e n Wagen gespannt. Wenn aber die Philosophen sich damit rechtfertigen, daß sie ja keinerlei Freiheit, die ehemals errungen war, preis- gegeben hätten, daß sie, was die früheren Jahrhunderte an Frei- heit erreicht hätten, ja ungeschmälert bewahrten, so sage ich: Stillstand ist Rückschritt. Sie häten immer neue, immer kühnere Freiheiten an die alten Kühnheiten anreihen müssen. Was ehemals kühn war, ist heute feige. Daß es in dem ganzen letzten Jahrhundert an den Universitäten niemals Konflikte mehr gegeben hat, daß hier alles immer von Jahrzehnt zu Jahrzehnt in vollkommener Ruhe verlief, das gibt zu denken. Dies ist nicht etwa ein Beweis, daß hier die vollkommene Freiheit er- reicht v/ar, und daß es deshalb zu gar keinen Kämpfen mehr kam — o nein, es beweist umgekehrt, daß hier nicht einmal mehr der Versuch gemacht wurde, die Freiheit weiter zu er- kämpfen, zu vertiefen und zu stärken, die große Philosophie fortzuführen. Freie Köpfe, starke Seelen konnten hier gar nicht mehr aufkommen, konnten auf diesem versumpften Boden gar nicht mehr gedeihen. Es ist die Kirchhofsruhe, die über diesen Stätten schwebt. Und daher das namenlose geistige Elend unserer Zeit. Nietzsche sagt einmal: ,, Man soll Katholiken besser be- handeln als Protestanten; orthodoxe Protestanten besser als liberale. Die Schuld nimmt in dem Grade zu, als man sich der Wissenschaft nähert. Der Verbrecher der Verbrecher ist folglich der Philosoph", d. h. der Philosoph, wie er heute üblich ist, der mit der Religion in Frieden lebt.
Nein, diese Philosophie kann die leidenschaftliche Sehnsucht der Zeit nicht stillen, kann nicht die vorbildliche Kraft, das
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Muster des Lebens werden, nicht die Führung des Lebens in die Hand nehmen, nicht die Öde ausfüllen, die die verfallene Religion in den Herzen gerissen hat. Ein ganz neuer Ernst, eine ganz andere Tapferkeit muß diejenigen beseelen, die sich künftig der Philosophie weihen. Was ehemals Aufgabe der Philosophie war, ist es jetzt nicht mehr. Neue Zeiten geben der Philosophie auch neue Pflichten. Eine neue heiligere Glut muß in den Seelen der Philosophen brennen. Ein Feuerstrom der Wahrheit muß durch ihre Seele rinnen. Ein unerbittlicher Geist der Wahrheit, Wahrhaftigkeit muß sie beseelen, der sie unmittelbar zur Tat reißt. Das hebt sie empor zu Führern, Pfad- findern, Herrschern des Lebens. Das stellt sie an die Spitze der Menschheit, die wieder in ihnen ihre langersehnten Vorbilder und Muster erkennt. Wandelnde Ideale müssen die Philosophen sein: dann ist der Mensch erlöst, dann schaut er nicht mehr schmerzvoll nach der Religion zurück. Dann hat er sein Glück, seine Rettung gefunden. Gab es schon solche Philosophen? Sind irgendwann schon solche Philosophen erstanden, die die kommenden Philosophen als ihre Meister zum Vorbilde nehmen könnten, in deren Schule sie lernen könnten ihre schwere Bürde zu tragen? Ich deutete es schon an. Die griechischen Philo- sophen waren solche Männer. Sie standen mitten im Leben. Sie waren Kraft- und Segenspendende Mächte. Sie waren Erzieher und wollten es sein. Die Tugend zu erkennen, war das letzte Ziel ihres Geistes, tugendhaft zu sein, der heißeste Wunsch ihres Herzens. So dienten sie ihrem Volke, wurden ihm die sicheren Ruhepunkte und festen Stützen, die leuchtenden Sterne und glückverheißenden Wahrzeichen des Lebens.
Das Griechentum war der schöne Auftakt des europäischen Lebens, das Thema gleichsam für Europas Geschichte. Dieser Ton aber brach jählings ab. Der europäische Geist wurde durch das Christentum in orientalische Fesseln geschlagen. Seit einigen Jahrhunderten aber hat der ursprüngliche eingeborene Geist der Europäer begonnen, sich unter den Ketten zu regen und sehnsuchtsvoll schaut er immer zurück in die griechische Jugend, ob er sie nicht wieder finden, das damals angestimmte Lied nicht wieder aufnehmen, nicht noch einmal singen könne. Bislang
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Zweiter Teil.
aber hat man immer nur die Schönheit der Griechen geliebt und gesucht; sie wieder zum Leben zu bringen, war das heiße Ver- langen, die trunkene Inbrunst der Besten. Aber nicht bloß die Schönheit, — das ganze stolze freie Leben der Griechen müssen wir wieder erschaffen. Dann erst haben wir uns wahrhaft wiedergefunden. Dann haben wir uns erlöst, unser tiefstes Sein und Glück entdeckt. Wie ehemals unsere großen Dichter, die noch heute als die ersten und einzigen in immer frischer Jugend unter uns leben, bei den Griechen ihre Meister und Vorbilder fanden, ebenso müssen nunmehr auch unsere Denker, unsere Weisen und Erzieher bei den Griechen einkehren, bei den griechischen Philosophen in die Lehre und Schule gehen. Als der erste ist diesen Weg Nietzsche gegangen. Dort bei den Griechen hat er sich das Feuer und die Glut seiner Seele geholt. Von den Griechen hat er seine Freiheit gelernt, dort seine neue philosophische Aufgabe gefunden, ein Erzieher und Zuchtmeister der Menschen zu sein. Schüler der griechischen Philosophen sol- len die Philosophen werden, nicht Nachahmer, wie auch unsere Dichter Schüler, nicht Nachahmer der griechischen Dichter waren. Dem Schüler ist es nicht verwehrt, den Meister zu über- treffen, neue Wege einzuschlagen, über denMeister hinauszustreben. Aber was er auch schafft, so weit ab von den Pfaden des Meisters sein Weg ihn führt, der Geist des Meisters muß immer unsichtbar über ihm schweben. Er muß ihm der stete Mahner und Warner sein, daß er den Ernst, die Heiligkeit seiner Aufgabe nicht ver- gißt, daß er stets zum höchsten Ziele strebt. Es wäre auch besser gewesen, unsere jüngeren Dichter hätten die griechischen Dichter als Erzieher und Vorbilder niemals verleugnet. Und nicht eher werden wir wieder eine hohe Dichtung bekommen, als bis unsere Dichter reuig zu den alten großen Meistern und Mustern zurück- kehren. Die Philosophen aber haben noch ganz von vorn in der Schule der Alten anzufangen. Dort haben sie zuerst zu lernen, was überhaupt Philosophie ist. Nicht ein kaltes Wissen war dem griechischen Philosophen seine Erkenntnis, sondern ein Wissen, das nach Leben lechzte, das unmittelbar in das Leben eingreifen, das Leben bilden, gestalten wollte. Diese Philosophie war nicht Wissen, sondern Weisheit, für Sein und Leben
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fruchtbare Weisheit. Und zu dieser ihrer Weisheit, dieser ihrer Art zu denken und zu handeln, wollten die Philosophen auch ihre Umgebung erziehen und führen. Und dies zu allererst da- durch, daß sie ihrer Weisheit entsprechend lebten, daß sie durch die Tat ihre glückbringende Weisheit bewiesen. Und ob man sie von Herd und Heimat jagte, und ob man ihnen den Giftbecher reichte, sie wohnten in fremdem Lande, sie tranken ruhig den Todestrank. Und nicht als gottgesandte Propheten und Priester, die Offenbarungen künden, traten sie auf, sondern als freie Männer sprachen sie zu freien Männern. Sie suchten nicht mit Strafen und Drohungen zu ängstigen und zu überreden, sondern mit schlichten Worten und Erfahrungen zu überzeugen. Dies muß das Bild der kommenden Philosophen sein. Der un- gebildete und empörende Hochmut unserer Zeit, die von der Ver- gangenheit nichts mehr glaubt lernen zu können, muß aufhören. Wohl, wir sind klug, wir können viel. Wir erzeugen unzählige listig ersonnene Maschinen, wir bauen überraschend schnelle Fahrzeuge für Land und Wasser, und stolze Brücken. Können wir aber auch eine einzige menschliche Seele erbauen? Können wir uns selbst, unser Inneres, gestalten und bilden? Können wir uns und andere glücklich machen? Wo wandelt ein Glücklicher unter all den klug erdachten Werken und Schätzen dieser verblendeten, berauschten Zeit? Wozu aber all diese un- gemessene Zurüstung zum Leben, wenn das Leben selbst, die Quelle des Lebens, des Menschen Herz und Seele verarmt und verkommt? Hier können wir von der Vergangenheit gar viel erlernen. Die Menschen von ehemals dachten tiefer, fühlten stärker, wußten ihre Seele zu bilden, daß sie im Gleichgewicht schwebte und sich selbst gefiel, daß sie Glück atmete, des Daseins ganze Fülle und Schönheit trank. Keine Vergangenheit aber kann uns so erziehen, wie das Griechentum, weil wir diesem Leben im Tiefsten verwandt sind. Es ist Geist von unserm Geist. Folgen wir den Spuren unserer großen Dichter, überwinden wir die Barbarei, der wir verfallen waren. Erwecken wir, wie einst die Dichtung, so jetzt die Philosophie der Griechen zu neuem Leben. Pflückten wir einst bei den Griechen die Blume der Schönheit, so brechen wir dort nun auch die Frucht der Weisheit.
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So sollen die Schaffenden sein. Wie aber sollen die Emp- fangenden sein? Wie müssen die Menschen im allgemeinen gewillt und gestimmt sein, daß sie jene großen Erlöser, Führer und Erzieher würdig aufnehmen, daß sie ihnen eine gute Stätte bereiten, daß sie ein fruchtbarer Boden werden für den Samen, den jene ausstreuen? Hierüber spreche ich in der nächsten Rede: ,, Kirchliche oder persönliche Religion.." —
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2. KIRCHLICHE ODER PERSÖNLICHE RELIGION.
In meiner ersten Rede habe ich ein Bild der Schaffenden zu ent- werfen versucht, wie die Geister geartet sein müssen, die uns für die abgestorbene, im Absterben begriffene Religion Ersatz leisten können, an wen wir uns mit unseren Hoffnungen wenden sollen. Jetzt wollen wir zu den Beschenkten oder den zu Be- schenkenden übergehen, wie die Allgemeinheit der Menschen beschaffen sein muß, um solche Bildungen aufnehmen zu können, daß sich ihnen nicht das größte Heil in Fluch verwandle. Denn die Gefahr besteht, daß die Menschheit an so völlig freien Schöp- fungen, die keine Beglaubigung mit sich führen, keine Empfeh- lung, als nur die Überzeugung, die die Sache in sich birgt, scheitere. Wie ist dem zu begegnen? Wie sind die Menschen zur Aufnahme solcher freien religiösen Bildungen geschickt zu machen? Welche Einrichtungen sind zu treffen, wie sind die vorhandenen Einrich- tungen umzugestalten, daß die Menschen auch stark genug werden, um in dieser freien Luft atmen zu können, daß sie ergreifen lernen, was sich ihnen bietet, daß sie nicht ungenossen das Beste an sich vorübergehen lassen oder, es ergreifend, sich an ihm verzehren. Hiermit aber betreten wir einen heißen Boden. Denn man mag dem Menschen manche Irrtümer rauben, mag ihm manchen Wahn zerstören, an dem sein Herz gehangen hat: er
Horneffer, Das klassische Ideal.
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Zweiter Teil.
läßt es ruhig geschehen und fügt sich. Ganz anders aber wird die Leidenschaft der Menschen erregt, wenn man ihnen die allgemein verbindlichen Formen des Lebens anrührt, die eine jahrhundert- lange Gewohnheit ihnen wert gemacht hat. Hier in den Formen, in den Lebenssitten und Lebensweisen hat sich die ganze Macht eines Glaubens niedergeschlagen und mit unnennbarer Gewalt die Herzen an sich gekettet. Den Glauben selbst und was inner- lich damit zusammenhängt, das lassen die Menschen leichten Herzens fahren. Aber alle die Folgen des Glaubens, seine Nach- wirkungen, seine Einwirkungen auf das Leben, wie er das Leben gestaltet hat — das alles vermögen sie nicht zu opfern. Hiermit hängen sie durch unzählige Bande zusammen. In Gedanken wollen sie wohl ein neues Leben führen, aber nicht in Wahrheit, in der Wirklichkeit, in der Tat. Da schrecken sie angstvoll vor jeder Neuerung zurück. Da retten sie sich immer wieder schau- dernd auf das Wrack des alten Lebens zurück. Aber ich werde mich durch solche Rücksichten nicht abschrecken lassen. Ich habe mir vorgenommen, vollkommen frei über die religiösen Fragen zu sprechen, und danach will ich handeln. Ich werde vieles sagen müssen, was vielen wehe tut. Ich kann das aber nicht ändern. Denn nur der Mutige darf sich der Religion nähern. Den Feigen, der nur halbe Taten wagt, stößt sie unbarmherzig zurück. Wie er niemand stört, so wird er auch niemand begeistern. Er täte besser, diese höchsten Fragen gar nicht anzurühren. Er kann sie nur herabzerren in den Staub des Alltäglichen.
Wie haben wir nun das Leben den gewonnenen Einsichten anzupassen? Wir gingen von der Voraussetzung aus, daß es keine Offenbarung gibt, daß die Philosophen alle höchsten Wahr- heiten, auch die moralischen Wahrheiten, aus eigener Verant- wortung und in völliger Freiheit schaffen müssen. Die Philo- sophen dürfen nicht länger furchtsam nur um die Außenseite der Dinge schleichen, sondern sie müssen in das blutigste Leben greifen, sie müssen Lebendiges aus ihren Händen hervorgehen lassen, das die Menschen erwärmt und fesselt. Daß aber die Menschheit diese freien Schöpfungen, die sich oft widersprechen und einander kreuzen werden, die in allen Farben schillernd den ganzen Reichtum des menschlichen Innern enthüllen werden.
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Die künftige Religion. II.
richtig aufnehme, daß die Menschen diesen mannigfaltigen Bil- dungen gegenüber nicht wehrlos seien, sondern eine Wahl zu treffen vermögen, zu diesem Ende ist die alte Gemeindeerziehung der Menschen, die heute noch gilt, die Erziehung zum Glauben, zur Autorität, die ganze gebundene Erziehung der Men- schen, kurz die Kirche ist abzuschaffen. Die Kirchen sind un- geheure Fesseln des geistigen Lebens und vornehmlich des höchsten geistigen Lebens, des religiösen. Es ist nicht abzuleugnen, daß die Kirchen sämtlich an eine unbedingte Wahrheit glauben, die sie zu besitzen wähnen; daß sie die Men- schen zur Enge, zur Gebundenheit, zur Befangenheit erziehen. Sie suchen den Blick der Menschen nicht zu weiten, sondern von frühauf in den festen Kreis der gerade in dieser Kirche an- erkannten und üblichen Vorstellungswelt zu bannen. Sie bilden alle eine feste, geistige Partei, die mit mehr oder weniger Erfolg ihre Angehörigen in einer bestimmten Gedanken- und Gefühls- welt einkerkert, die sie nicht auf sich selber stellt, sondern ihnen als Gemeinde alles Wesentliche und Bedeutsame, das ganze innere Rüstzeug zum Leben reichen will, woran sich für das ganze Leben zu halten, sie ihren Mitgliedern früh und spät einschärft. Daß den Kirchen dies nicht immer gelingt, daß viele fahnenflüchtig werden und sich dem Einfluß der Kirche entziehen, diesen Ein- fluß wie einen lästigen Druck abschütteln, das tut zur Sache nichts. Im Prinzip, im Grundsatz wollen die Kirchen ihre An- gehörigen in einem festen, geschlossenen Vorstellungskreise halten. Sie wenden alle Mittel an, die einen gröbere, die anderen feinere, um die Menschen für immer in den Netzen ihres Glaubens einzufangen, in diesen Netzen fest zu verstricken. Von Jugend auf sollen die Menschen gedrillt, abgerichtet werden, daß ihnen ein Entweichen aus diesen Fesseln unmöglich werde. In allen leuchtenden Farben wird das Heil, das in den eigenen Lehren wohnt, das Unheil, das in den Lehren der anderen lauert, ge- schildert. Die Erziehung, der die Kirche huldigt, weckt die Menschen nicht auf, sondern macht die Sinne stumpf, den Willen lahm. Menschen, die aus dieser Erziehung hervorgehen, können allerdings nicht später eine unbefangene Wahl ihres Glaubens und ihres Ideals treffen. Entweder sie taumeln unentschieden hin
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Zweiter Teil.
und her. Sie werden ein Spielball aller möglichen gegensätz- lichen Meinungen, sie kommen nie zur Entfaltung ihrer vollen Lebenskräfte, da sie sich in dem ewigen Wechsel und Wanken ihrer Meinungen aufreiben. Oder sie folgen, herausgetreten aus der ihnen von der Kirche anerzogenen Weltauffassung, ebenso blind und wahllos, so unbedingt und grundlos einem anderen Glauben irgendwelcher Art. Nicht zum Urteilen erzogen, sondern zum Glauben, nicht zur Selbständigkeit gebildet, sondern zur Abhängigkeit, vertauschen sie eine Knechtschaft mit der andern. Damit neue freie Lehrer wirken können, die nur sich selbst verant- wortlich sind, die alle, jede Wahrheit, auch die letzte, entschei- dende Wahrheit, den letzten Lebenswert und Lebenssinn aus sich selber schöpfen, daß diese mit Erfolg wirken können, dazu ist die gebundene Erziehung der Kirche aufzuheben. Diese geistige Gebundenheit, zu der wir alle erzogen sind, die auch noch in uns nachwirkt, wenn wir längst der Kirche den Rücken gewandt haben, frißt am Mark unseres Geistes. Sie ist ein ewiger Hemm- schuh unserer Entwicklung. Das religiöse Leben wird so lange lahm liegen, wird so lange äußerlich und fremd bleiben, nicht aus dem innersten Born der Seele quillen, so lange wir noch diese Kette der kirchlich gebundenen Erziehung mit uns schleifen. So lange werden keine kräftigen Geister erstehen können, die aus ihrem Innern schöpfend eine reiche Welt der Schönheit entfalten. Ihnen fehlt in den Sitten und Gewohnheiten des Lebens, das die Kirche mit ihrer gebundenen Wahrheit ausschließ- lich beherrscht, von früher Jugend auf jede Befeuerung, jede Anregung, jedes Vorbild. Solange wird es auch, selbst wenn ursprüngliche Geister sich durchringen, die zu einer eigenen und selbständigen Auffassung und Bewertung des Lebens ge- langen, an Hörern fehlen, deren Seele empfänglich, frei genug ist, um sich auch einer anfänglich fremden und seltsamen Welt der Gedanken hinzugeben. Denn jede Seele trägt durch die Erziehung in dem kirchlichen Geiste ein festes Bild von allen Werten mit sich herum, setzt den neu herankommenden Lehren und Gedanken einen steinernen Block entgegen, an dem sich diese vergeblich abmühen, ohne ihn sprengen zu können. Auf diese Weise schleppt sich das religiöse Leben in ewig gleicher,
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träger Dumpfheit hin. Die Kirchen mit ihrer furchtbaren äußeren Macht legen alle schöpferische religiöse Kraft des Menschen lahm. Und doch sehnt sich irgend etwas Unbekanntes und Unerkanntes in uns nach seiner Befreiung. Irgend etwas Vergrabenes in uns will auferstehen. Wer kennt sie nicht, die heimliche Sehn- sucht, die in allen Seelen wohnt, die ihnen das Leben so matt und flau erscheinen läßt, die irgend einen hohen besonderen Wert, der das Leben in ganz neuem Licht erglänzen läßt, in der Tiefe ahnt. Daß diesen stummen Ahnungen die Erfüllung werde, daß neue Geister zu den Seelen die Wege finden, dem sperrt sich ewig die Kirche mit ihrem starren, öden Dogma ent- gegen, mit ihrem unfruchtbaren Beharrungswillen, ihrem Wahn, die Wahrheit schon zu besitzen, den sie mit allen Mitteln den Seelen einprägt. Wie kann da frisches Leben sprießen!
Aber hier erhebt eine religiöse Gruppe Einspruch, mit der Behauptung, daß diese Darstellung auf sie nicht zutreffe, daß zwar die Strenggläubigen in jeder Kirche mit ihrer Berufung auf Offenbarung den Kirchen, den religiösen Gemeinschaften ein starres Gepräge gäben, daß aber sie, die liberalen Christen das Wunder vollbracht hätten, die Kirche mit der Freiheit zu versöhnen. Durch ihre Auffassung des Christentums als einer menschlichen Schöpfung sei dem einzelnen die Freiheit verbürgt, da er nun nicht mehr unter dem Banne und Druck eines Offen- barungsglaubens, der starr und unnahbar alles persönliche Denken ausschließt, dem Christentum anhängt, sondern aus freier Über- zeugung von dem Werte und der Einzigkeit dieser Religion, die schön und wahr genug sei, um die Stütze der Offenbarung ent- behren zu können. Aber diese Freiheit der liberalen Christen besteht nur in der Einbildung. Die Orthodoxen wollen die Kirche und alles, was damit zusammenhängt, m i t Grund, nämlich, weil die Wahrheit der Kirche auf Offenbarung ruht, die Liberalen wollen das Gleiche ohne Grund. Das ist der einzige Unterschied. Denn daß die Erfahrung kein genügender Grund ist, um auf ihm eine Kirche aufzubauen, sollte einleuchten. Warum hat das Christentum so Jahrhundertelang als einziger religiöser Wert bestanden, neben oder gar über dem kein anderer religiöser Wert auch nur von ferne denkbar schien? War dies
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wirklich die innere Kraft des Christentums, sein absoluter Wahr- heitsgehalt? Oder nicht vielmehr in der Hauptsache eben der Umstand, den die liberale Theologie fallen läßt, daß das Christen- tum als übernatürlich, übermenschlich, als göttliche Offenbarung galt? Diese Überzeugung ließ alle Kritik an dieser Religion abprallen, ließ einen Zweifel an ihr gar nicht aufkommen. Nimmt man der Kirche die Offenbarung als Grundlage, so ist die Kirche dahin. Alles Menschliche ist etwas Beschränktes und nur auf etwas Unbedingtem, Unverbrüchlichem läßt sich eine Kirche aufbauen. Aber von dieser innern Haltlosigkeit der liberalen Theologie abgesehen: unser Einv/and trifft sie wie jede andere kirchliche Richtung. Auch die liberale Theologie will die Kirche und die Gemeinde. Aber das gerade ist es, was wir bekämpfen. Was die Kirchen, die Gemeinden glauben, worauf sie ihre Zu- sammengehörigkeit gründen, das ist gleichgültig, das fordert nicht unsern Widerspruch, unsere Leidenschaft heraus. Denn wie viel Wunderliches und Abgeschmacktes haben nicht die Men- schen von jeher geglaubt und werden es noch in aller Zukunft glauben! Hier lassen wir gern jede Nachsicht walten. Aber dies ist es, was die liberalen Theologen allein reformieren wollen. Sie wollen den Glaubensinhalt der Kirche, der Gemeinde ver- schieben. Sie wollen die Dogmen ändern, vor allem beschränken. Aber daß die Kirche, die Gemeinde als solche bestehen bleiben soll, daß die christliche Gemeinschaft auf Grund eines mehr oder weniger bestimmten und umfangreichen Glaubensgehaltes, der allen gemeinsam ist, als Kirche und Gemeinde beisammen bleiben soll — darin stimmen liberale Christen mit Orthodoxen überein. Sie wollen die Kirche, die Gemeinde nicht auflösen, sondern stärken, ihr durch Um.bildung ihres Inhalts neue An- hänger werben, wollen sie wieder zu Ehren bringen. Aber eben die Kirche, die Gemeinde als solche — das ist es, was wir bekämpfen müssen. Nicht was die Kirchen lehren, kümmert oder entrüstet uns, sondern daß überhaupt Kirchen be- stehen, daß die Menschen auf etwas rein Geistiges hin sich zu einer festen Gruppe zusammenschließen, sich gegenseitig auf einen einheitlichen geistigen Inhalt hin verpflichten, um ihn unter sich und nach außen hin möglichst zur Geltung zu bringen —
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das verwerfen wir vom Standpunkt und Bedürfnis einer höheren Bildung. In solchen Organisationen auf Grund geistiger Werte können wir nur eine Verengung, Verkümmerung der mensch- lichen Seele sehen. Sie wird hierdurch gefesselt; ihr werden durch das äußere Band der Gemeinschaft, zu der sie sich bekennen soll, Schranken auferlegt, die ihr Bestes, Innerstes töten. Die geistigen Werte sind zu zart, als daß sie je zu einer Parteibildung, zu einer Kirchengründung, zur Schöpfung einer Konfession dienen könnten. Dadurch können sie stets nur vergewaltigt werden. Sie können stets nur das heilige, stille Gut einer einzelnen Seele sein. Zum Bindeglied einer Menge gemacht, werden sie not- wendig entstellt, ihrer wahren Kraft und Schönheit entkleidet. Still und heim.lich, wie jede seelische Schöpfung dem Herzen ihres Schöpfers entsprang, muß sie sich auch ohne Vermittlung jeder andern Seele nähern, die religiöse Schöpfung als die hei- ligste, innerlichste zumal. Hier darf es keiner Zurüstung, keines äußeren Zwanges und Bandes bedürfen, daß sie wirke. Sie muß frei wirken. Wen nicht das ganze Gebahren aller religiösen Gemeinschaften, aller Kirchen und Gemeinden, heißen sie wie sie wollen, in seinem innersten Wesen, in seinem tiefsten Recht auf Persönlichkeit verletzt, dem spreche ich jede tiefere Seele ab. Die reiche, selbstbewußte Seele verträgt es nicht, daß sie das Innerste, Geheimnisvollste mit jedem gemein habe. Sie will ihr Sein, ihr Leben, wie s i e es versteht, wie sie es liebt und schätzt. Sie kann sich nie im Geistigen einer Norm unterwerfen, die ihr eine Gemeinschaft aufzwingt. Alles Geistige kann nur persönlich sein. Macht man etwas Geistiges zu etwas Gemeinsamen, gründet m^an daraufhin eine Gruppe, einen Verein, eine Gemeinde, eine Kirche, so stumpft man es ab, dann streift man allen Blütenstaub von ihm ab. Es wird kalt und schal. Es ist die Form des seelischen Lebens für geringere Menschen, die die Persönlichkeit, das Recht der Persönlichkeit noch nicht erkannt haben, wo alle Menschen noch gleichmäßig unter eine Norm, einen Wert, einen Glauben zu bringen sind. Menschen höherer Bildung müssen, wenn sie ehrlich und mutig sind, diese Form abweisen, müssen sie aus ihrer tiefsten Feindschaft heraus bekämpfen. Der Begriff Kirche, der Begriff Gemeinde gehört
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nach Palästina, Ägypten, Syrien, kurz nach dem Orient, nach Asien. Dort haben diese Begriffe und Bildungen ihren Ursprung und der minder begabten, geistig beschränkteren Natur der dortigen Menschen entsprechend auch ihre Berechtigung. Aber sie sind ungriechisch, sie sind, hoffe ich, auch undeutsch. Nie- mals hätte man diese Begriffe in Europa einführen sollen. Man hat eine ungeheuere Verwüstung damit angerichtet. Die erste gewaltige Tat zur Vernichtung der Kirche, zur Auflösung der Gemeinde war die Tat Luthers. In Luther empörte sich zum ersten Male der ursprüngliche, freie, persönliche Geist unserer Rasse gegen den gebundenen Geist der Gemeinde, der Kirche. Aber Luther blieb auf halbem Wege stehen. Es war das Ver- hängnisvolle, daß Luther keinen Nachfolger fand. Daß er selbst nicht bis ans Ende ging, daß er die letzten Folgerungen seiner Lehre nicht zog — wer sollte ihm das verargen? Aber die Nach- welt hätte schon längst sein Werk aufnehmen und weiterführen müssen. Die Zeit ist zu solchem Werke überreif. Die Fort- führung des Lutherschen Werkes, sein Ausbau, seine letzte Folgerung sind so selbstverständlich, daß man sich schämt, sie auszusprechen. Sie liegen so offen am Tage, daß jeder sie schauen und nennen kann. Innerlich sind die Lehren der Re- formation wohl fortgeführt worden. Meilenweit hat sich das europäische Denken von der Gedankenwelt Luthers entfernt, bei uns und im Auslande. Aber was all diesen Denkern fehlte, war der Mut, die Folgerungen für das Leben aus ihren Gedanken zu ziehen. Hierin war ihnen der verachtete Luther weit über- legen. Sein Geist hatte seine Schranken. Aber diesem Geiste mußte sich die Wirklichkeit fügen. Davon ließ er sich nichts abbitten. Ich wollte, die nachfolgenden Geister Europas hätten nur ein wenig von seinem Mut gehabt. Luther warf in die euro- päischen Völker das zündende Wort hinein von dem freien Priestertum der Laien. Aber damit war alles geschehen. Damit war der erste wichtigste Schritt geschehen, dem alles weitere folgen mußte. Damit war das Priestertum gestürzt. Aber damit war auch zugleich, was Luther nicht erkannte und ahnte, die Kirche selbst gestürzt, die ganze Gemeinde aufgelöst. Die Ka- tholiken haben von ihrem Standpunkte aus völlig recht, wenn
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sie Luther als die Wurzel alles Übels betrachten, wenn sie mit Luther das Ende der Kirche, der Gemeinde, der Religion, des Christentums anheben sehen. Auf der Bahn, die Luther einge- schlagen, gibt es wirklich kein Halten mehr. Hier muß man mutig den Weg bis zu Ende gehen. Der Priester und die Ge- meinde gehören innig zusammen. Nimmt man der Gemeinde den Priester, stellt man alle Gemeindeglieder gleich, dann hat man auch die Gemeinde aufgelöst. Ist jedes Mitglied der Ge- meinde sein eigener Priester, wie Luther es will und wie es der Protestantismus als seinen Vorzug rühmt, ist der einzelne nur sich , aber nicht mehr der Gemeinde und deren Vertreter verant- wortlich — ich verstehe nicht, wie dabei die Gemeinde noch soll bestehen können. Sie kann sich nur durch Selbsttäuschung halten. Denn der einzelne kann und wird, wie die Erfahrung des Protestantismus lehrt, sich nicht auf die Freiheit seiner religiösen Betätigung innerhalb der durch den Glauben der Ge- meinde gesteckten Grenzen beschränken. Dies setzte Luther voraus. Er gab den Gemeindegliedern die Freiheit, da er gar nicht ahnte, den Gedanken gar nicht fassen konnte, befangen in dem Glauben seiner Zeit, wie er war, daß die einzelnen sich je von der Offenbarung, dem christlichen Glauben als solchem entfernen würden. Dies betrachtete Luther als außerhalb jeder Berechnung, jeder Möglichkeit liegend. Luther würde er- schrecken, wenn er wüßte, was er angerichtet hat.
Das einzelne Gemeindeglied wird offenbar, da es niemand, der Gemeinde im ganzen nicht mehr verantwortlich ist, sehr leicht, und erfahrungsgemäß geschieht das in unzähligen Fällen, ganz aus der Offenbarung, dem Glauben der Gemeinde heraustreten. Es wird sich innerlich gänzlich absondern und sich seine ganz freie und eigene Religion bilden, die mit der Religion der Gemeinde nicht mehr einen Schatten von Ähnlichkeit hat. Wenn das aber in zahlreichen Fällen geschieht — wo bleibt da die Gemeinde, wo ist da noch der Bestand der Gemeinde gewährleistet? Bröckelt sie da nicht mit der Zeit völlig ab? Und ist es nicht so in dem Protestantismus geschehen? Die Gemeinde besteht nur noch in der Einbildung, nur noch dem Namen nach. Tatsächlich ist sie in der Auflösung begriffen. Nur unsere Heuchelei hält sie
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noch aufrecht. Wir wagen den bestehenden Zustand nicht aus- zusprechen, nicht offen anzuerkennen. Aber zu diesem Mute müssen wir uns jetzt entschUeßen. Hatte Luther gesagt: jeder sein eigener Priester, so müssen wir jetzt sagen: jeder sein eigener Religions Stifter, der eigene Schöpfer seiner Religion. Das entspricht jetzt allein noch der Wahrheit. Alles andere ist Lug und Trug. Diese Losung ist nicht so zu verstehen, daß die einzelnen nun wirklich sich selber eine Religion schaffen sollen , daß jeder einzelne ganz sich selbst überlassen bleibt. Eine Religion zu erfinden, eine eigentümliche und selbständige Stellung zum Dasein zu nehmen, dem Leben einen eigenen Sinn zu leihen, ist Sache besonderer geistiger Begabung, ist nicht jedermanns Sache, ist Sache des Genies, des auserwählten Men- schen. Aber in d e m Sinne kann und muß der einzelne sich die Religion selber schaffen, daß er sie sich selber wählt, daß er nicht durch die Zugehörigkeit zum Verbände einer Gemeinde, einer Kirche voreingenommen, fest verpflichtet ist, daß jede religiöse Schöpfung, jeder Gedanke an ihn herantreten kann und er nur dem folgt, was er liebt, was er aus freier Überzeugung schätzt. In diesem Sinne muß allerdings jeder selber der Schöpfer seines Glaubens sein. Jeder muß sich frei, unvoreingenommen, als völliger Herr seines Willens, seine Heiligtümer selber suchen. Zu diesem Suchen, zu dieser freien Wahl muß der Mensch erzogen werden. Nicht muß sein Blick, wie es durch die Er- ziehung in einer Gemeinde, einer Kirche geschieht, von frühauf geblendet werden, daß der einzelne ohne Überlegung, in blindem Gehorsam nur eins als Wahrheit erkennt, alles andere aber von vornherein als Wahn verwirft. Durch die Gemeindezuge- hörigkeit darf er nicht Schranken um sich haben. Jede religiöse Schöpfung muß frei entstehen und frei um jede Seele werben können. Es darf in Zukunft gar keine Priester, sondern nur noch freie Lehrer, Erzieher geben. Es ist das Trostlos-Halbe am Pro- testantismus, daß die protestantischen Geistlichen zwar Lehrer, aber doch zugleich auch noch Priester sind, daß sie nicht nur ihre eigene, freie Meinung äußern, sondern daß sie als Beauf- tragte einer Gemeinde, einer Kirche reden müssen. Aber das stößt jeden reifen Menschen ab. Was gilt mir das Wort eines
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Mannes, der nicht ausschließlich sich selber folgt, der nicht ganz und gar nur vor sich selber verantwortlich ist, der eine Gemeinde über sich hat, die ihn reden heißt, die ihn beauftragt, die von ihm Rechenschaft fordern kann. Die Rede eines solchen Mannes gilt mir nichts. Daß er sich überhaupt zu solchem Dienste hergab, daß er seine Persönlichkeit an eine Gemeinde abtrat, das stellt ihn in meinen Augen tief in der Rangordnung der Geister. Damit scheidet er sich nach meinem Gefühl — und mag er bei der Allgemeinheit in noch so hohem Ansehen stehen — aus der höheren Bildung aus. Damit hat er die Grund- lage, das Palladium jeder höheren Erziehung preisgegeben. Im politischen Leben, in den wirtschaftlichen Kämpfen muß es feste Verbände geben. Wo das Leben unmittelbar zur Tat wird und ein gem.einsames Handeln erfordert, da ist die Zucht, die straffe, einheitliche Erziehung am Platze. Da muß sich jeder fügen lernen. Ohne solche Kraft zur Organisation, zur Einord- nung geht jedes Volk zugrunde. Und siegen, herrschen wird das Volk, das die stärkste Kraft zur Organisation hat. Zumal der allgemeinste Verband, der alle andern Verbände in sich be- greift, der nationale, muß unzerreißbar sein, muß eine alles andere überbietende und einschließende Kraft haben. Aber im Leben des Geistes nach seinem engeren Sinne, in der Wissenschaft, in der Kunst und vor allem in der Religion — da kann nur die freie Liebe herrschen. V/en der Geist treibt, der muß reden können wie und wo er mag. Und alle müssen hören können, hören wollen, wo nur einer etwas zu sagen hat. Aber nie dürfen die Menschen zu festen Gruppen, zu Gemeinden zu- sammengeschlossen sein. Damit sperren sie andern die Bahn, dadurch erheben sie ein nur Persönliches zum unpersönlichen Gesetz, damit üben sie Gewalt, dadurch werden sie intolerant, dadurch verengern sie die Seelen, nehmen sie gefangen, dadurch zerstören sie den ganzen Untergrund, auf dem das höhere Leben ruht. Wohl dürfen sich in gewissem Sinne auch künftig Ge- meinden um jeden Schöpfer scharen, aber es dürfen dies immer nur stille, unsichtbare Gemeinden sein, die nur in den einzelnen Seelen wurzeln. Das geistige Leben muß wie ein freies Meer sein, auf dem jeder Wind nach Herzensbegehr spielen und tanzen
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kann. Die starken und großen Wahrheiten werden schon von selbst über die gebrechlichen Meinungen flüchtiger Einbildungen Herr werden. Es bedarf zu ihrer Herrschaft keiner Gewalt, keines Zwanges, keiner Organisation, die auf sie ihr Siegel drückt. Jede Gemeindebildung ist ein Wille zur Intoleranz, sei dieser Wille stärker oder schwächer. Gegen jeden Gedanken soll man tolerant sein. Aber gegen die Intoleranz gibt es nur die Intoleranz. Darum rufen wir: Krieg den Gemeinden, jeder Gemeinde. In Zukunft sei jeder frei, gehorche im Geistigen, im Innersten, im Heiligsten nur sich selber, sei ein freier König seiner Seele, dem niemand Gesetze auferlegen darf. Wer einer Gemeinde angehört, der hat sein Heiligstes preisgegeben, der hat sein Recht auf Selbstbestimmung geopfert, der hat sich am Geiste selbst vergangen. Und gar erst wer einer Gemeinde als Lehrer und Priester dient. Schwer ist es, gegen einen solchen milde zu sein. Wen nicht der Anblick eines Priesters, eines Gemeindeleiters, nenne er sich, wie er wolle, wen nicht das Vorhandensein solcher abhängigen beauftragten Geister, die führen wollen und doch gehorchen müssen, die reden und doch nicht nur ihrem Herzen folgen können, wen diese Tatsachen nicht im Tiefsten erschrecken, wer nicht ersieht, wie tief angesichts solcher Zustände unsere ganze geistige Bildung noch steht, wer darauf hin nicht der Ge- meinde entschlossen den Rücken wendet, den verstehe ich nicht. Es darf in Zukunft keine Gemeinde-Religion mehr geben, es darf nur noch persönliche Religion geben. Damit allein erfüllen wir unsere Geistigkeit, tun wir unserem wirklichen geistigen Bedürfnis, der echten Anlage unserer Seele Genüge. Schmach über uns, wenn wir davor zurückschrecken! Ketten wir uns alle innerlich und äußerlich los von dem Geiste des Zwanges, der jede Gemeinde beseelt. Stelle jeder einzelne sich nur auf sich. Er wird trotzdem nicht verlassen sein. Re- ligiöse Werte und Schätzungen drängen von allen Seiten auf ihn ein. Daraus braue er sich selber seinen Trank. Aber fliehe er jede Religion, die sich nicht persönlich gibt, die als Herde, als Gemeinde sich ihm nähert. Hüte er sich, sich jemals ein- gliedern zu lassen. Die menschliche Seele läßt sich nicht ein- gliedern, wenigstens die höhere menschliche Seele nicht. Dies ist
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die Form für die gröbere, plumpere, schwerere Seele. Die feinere Seele will frei flattern. Sie kann sich nie die Fessel eines Ge- meindeglaubens aufschmieden lassen. Deshalb ertöne laut der Ruf durch alle Gassen: los von der Kirche, los von der Gemeinde, los von Rom. Rom ist der Inbegriff des gebundenen Geistes, des geistigen Zwanges. Aber den gleichen Zwang üben alle Kirchen, alle Gemeinden aus. Sie sind alle römischen Geistes, so wenig sie es Wort haben wollen. Wir aber küm- mern uns nicht mehr um die Worte, sondern um die Sachen, die Wahrheit. Und in Wahrheit erziehen die andern Kirchen die Menschen zu derselben Enge wie Rom, nur nicht mit so viel Kunst und Erfolg. Alle andern Kirchen sind echte Abkömmlinge Roms, die dürftigeren Kinder einer einst stolzen Mutter. Sie verleugnen ihre Herkunft nicht. Daß sie diese Herkunft zu verraten sich abmühen, daß sie in allen Tonarten auf Rom schmähen, das täuscht uns nicht länger. Ihr Liebäugeln mit der Freiheit kann uns nicht mehr ködern. Sie sind alle ge- bundenen Geistes. Deshalb: los von der Kirche, los von der Gemeinde! Vielleicht könnten wir auch sagen: Los von Asien! Zurück nach Athen, zurück zu uns selbst, zu unserem eingeborenen, stolzen, kühnen, freien Selbst. Griechen- land hat auch seine Sünden wider den Geist begangen, es hat Sokrates den Giftbecher gereicht, es hat manchen Denker ver- folgt. Aber es waren immer politische oder gesellschaftliche Gründe, die hierzu trieben. Und diese Hindernisse wird man dem freien Geiste niemals wegräumen. Stets wird die Gesell- schaft, der Staat gegen die Männer des Geistes, die sie nicht begreifen und fürchten, eifern. Aber nie hat es in Griechenland eine Kirche gegeben, eine Gemeinde, eine auf einen geistigen Wert verpflichtete und verschworene Gruppe, die die Geister band, den schöpferischen Geistern sich entgegen warf. Es hat in Griechenland niemals im eigentlichen Sinne Priester gegeben, die das geistige Leben von einem bestimmten Glauben, einer bestimmten Lehre aus überwachen und bewerten, die Gemüter so früh wie möglich für diesen Glauben einfangen, und mit allen Zäunen umgarnen, daß sie in diesem Glauben, in diesem all- gemeinen Volksglauben , für immer verharren. Wie weit ab
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liegt diese ganze Anschauungswelt vom Griechentum! Hier ward jeder frei entlassen zu einer Wahl seiner Werte. Hier war nicht Protestantismus, hier war weit mehr als Protestantismus, hier war die volle Freiheit. Hier gab es nur persönliche Re- ligion, persönliche Werte, persönliche Schätzungen, Hoffnungen, Ideale. Wenn einzelnen Denkern Schulen folgten, sie arteten nie zu Gemeinden, zu Kirchen aus, es blieben freie, persönliche Gefolgschaften, die sich jederzeit wieder lösen und neu sich fügen konnten. Jeder blieb ein freier Herr seiner Seele. An- sätze zu Gemeindebildungen haben auch in Griechenland nicht gefehlt. Aber sie waren wider den Geist der Rasse, sie blieben machtlos. Es gelang ihnen nicht, die Nation, den natio- nalen Geist zu bezwingen, der auf Freiheit gegründet war, nur in Freiheit atmen konnte. Wir schauen in dies griechische Leben, nach dem Einbruch des asiatisch-gebundenen Geistes in Europa, wie in ein glückliches Paradies zurück. Damals hatte die Mensch- heit, was sie jetzt entbehrt, was sich jetzt der Einzelne nur mühsam kämpfend erringt, die individuelle Freiheit. Das war allgemeines Recht. Man strebte nicht nach Gemeindegeist, Gemeindeglauben, das hätte man nicht verstanden, das wäre allen als sinnlos und anmaßend zugleich erschienen — sondern nach persönlichem Geist, persönlichem Glauben. Und aus dieser schrankenlosen Freiheit sproß das ganze stolze griechische Leben hervor. Wie kann man hoffen, je wieder zu einer höheren Bildung zu gelangen, zu einer Reife des Menschen, ehe man nicht wieder den Mut zu dieser Freiheit hat, ehe nicht die Macht des Gemeindeglaubens gebrochen ist, der alle stolzen Blüten knickt, ehe nicht wieder die Menschen ganz auf sich allein gestellt sind. Ehe man nicht wieder das Wagnis dieser Freiheit wagt, ist alle Hoffnung auf ein höheres Leben, eine höhere, reinere Mensch- lichkeit, auf Vollendung des menschlichen Wesens, auf Glück im Dasein verloren. Darum los von Asien, los von der Kirche! Die Aufgeklärteren werden vielleicht einräumen, daß dies zwar logisch gedacht sei, daß, da es keine Offenbarung, keine durch übernatürliche Kräfte verbürgte Wahrheit gibt, es auch keine feste Einheit im Geistigen geben kann. In den plumpesten, einfachsten Fragen mag es eine sichere Einheit
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geben. Wo der Geist aber die nächsten Schranken verläßt, wo er sich ausweitet zu den letzten bedenklichsten Fragen, die so zart, so überfein sind, daß sie jedes Auge anders schaut, da kann keine Vereinigung der Geister mehr stattfinden, kann kein festes Band mehr um sie geschlungen werden, da muß der einzelne zusehen , wie er seine Wahrheit findet, da kann nur der persönliche Gedanke, der persönliche Wille walten. Es ist möglich, daß man mir dies einräumt. — Aber, wird man sagen, das ist eine Lebensauffassung nur für höhere Menschen. Sie ist nur in sehr beschränktem Umfange durchführbar. Sie mag wahr sein, aber sie ist unmöglich, jedenfalls nur bedingt möglich. Man darf gar manchen Gedanken, und sei er noch so wahr und richtig, nicht ohne weiteres in das Leben einführen. Es klafft eine tiefe Lücke zwischen Idee und Wirklichkeit. Wer diese Lücke übersieht, kann namenloses Unheil anrichten. Gar vielen Ideen, und gerade den höchsten, wird von der unbarm- herzigen, harten Wirklichkeit ein unüberwindliches ,,Halt" ge- boten. Aber mit dieser Betrachtung kann man jede menschliche Regung, jedes neue Streben, jede reinere Hoffnung zur Ruhe v/eisen. Wohl darf man die Idee nicht leichtfertig, von heute auf morgen auf die Wirklichkeit übertragen. Die Geschichte braucht zu ihren großen Taten lange Zeit. Aber auf der anderen Seite darf die Wirklichkeit auch nicht zu langsam hinter der Welt der Gedanken, hinter der Wahrheit, die einmal erkannt ist, hinterdrein hinken. Sonst wird die Lücke zu groß. Sonst dehnt sich eine Kluft zwischen Idee und Wirklichkeit, die sich nie mehr ausfüllen läßt. Der Gedanke ist ein für allemal aus der Wirk- lichkeit verbannt. Das Leben vollzieht sich in dumpfer Trägheit, ohne Gedanken, ohne bewußte Leitung weiter. So aber kann es nur dem Verfalle zueilen. Es ist ein furchtbares Verhängnis, das Leben auf der Lüge aufzubauen, wenn Geist und Tat einander widersprechen, wenn der Sinn die Handlung verleugnet, und die Handlung den Sinn. Ich möchte der Menschheit nicht raten, einen solchen Zustand dauernd einzuführen. Ich hätte nicht den Mut dazu. Ich bewundere den Mut, mit dem unsere Zeit diesen Zustand ohne Bedenken walten läßt. Ich fürchte, diese Lüge wird sich einst furchtbar rächen. Solch Leben ohne Unter-
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grund, auf dem losen Grunde eines hohlen Wahnes, muß früher oder später zusammenbrechen. Den Feigen, die sich selber täuschten, wird es einst grausam tagen. Zur Auflösung der Gemeinde, zum Grundsatz der persönlichen Religion dünkt es mich Zeit, und Überzeit. Daß diese Bewegung von oben an- heben muß, daß es die reifsten, geistig erzogensten Menschen sein müssen, die dieser Form des religiösen Lebens zuerst zufallen, das erscheint mir kein Gegengrund gegen meinen Ratschlag, sondern dessen stärkste Empfehlung. Wir haben uns daran gewöhnt, zu glauben — es ist uns wenigstens immer so gelehrt worden — - daß die religiösen Bewegungen von unten herauf kommen müßten, aus den engsten, gedrücktesten, gequältesten Schichten des Volkes, aus der Stätte der Not und der geistigen Armut. Ich muß dem laut widersprechen. Das Christentum ist allerdings so entstanden, und alle religiösen Bewegungen, die es aus sich geboren hat, bis herunter zur Heilsarmee. Aber diese religiösen Schöpfungen tragen auch alle deutlich die Spuren dieser Herkunft. Es liegt keine Sonne über ihnen. Es sind nicht die stolzen, mutigen, hoffnungsfrohen Gefühle, die sie erwecken. Sie haben die Menschheit nicht emporgehoben, sondern, indem sie die dumpfe Luft ihres Ursprungs auf das Ganze ausdehnten, sie herabgezerrt, ihr das Bleigewicht einer Schmerzensreligion an die Ferse gehängt. Vielleicht wäre es nicht so unklug, es gereichte der Menschheit vielleicht nicht zum Unsegen, wenn wir einmal den entgegengesetzten Weg einschlügen, die religiöse Erziehung nicht von unten nach oben, sondern von oben herunter auszuführen, zum Maßstab zu nehmen, was die Besten vermögen und wollen, was diesen tiefstes Bedürfnis, heiliger Zwang ist, und in diese Art des Lebens alle anderen hineinzuerziehen, mit Geduld, in steter, ernster Arbeit. Wenigstens sei dies mein Weg, und ich hoffe, daß er zu schönerem Ziele führt. Nach den Licht- menschen sind die verfinsterten auszubilden, nicht umgekehrt. Freilich, einer völlig neuen Erziehung wird es bedürfen, die diese Zustände vorbereite, die Menschen ausrüste, daß sie die unkirchliche, persönliche Religion ertragen. Was es jetzt an Erziehung gibt, kann diese Aufgabe nicht erfüllen, erscheint hierzu völlig ungeeignet. Das religiös-sittliche Leben ist von
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jeher mit der Jugenderziehung in engster Verbindung gewesen. Wenn die Form des religiösen Lebens sich wandelte, mußte sich auch die Schule wandeln, mußte den neuen Geist, der das Zeit- alter beherrschte, zum Ausdruck bringen. So auch, jetzt. In den Nöten der Schule, in der allgemeinen Verzweiflung, wie es mit unseren Schulen werden soll, wie die Jugend in Zukunft zu erziehen ist, in dem furchtbaren Widerstreit, der um diese Fragen entbrannt ist, kommt die ganze Fried- und Hilflosigkeit unserer Zeit zum krassesten Ausdruck. Wüßten wir, wohin die Entwicklung überhaupt gehen soll, so würden wir auch die rechte Schule erfinden, die hierzu führen würde. Aber da wir alle über die allgemeine Zukunft im Dunklen sind, da uns die tausend Pfade des möglichen Werdens wirr vor unseren Blicken schwirren, darum wissen wir auch keinen Rat für die Schule. Daß es um die Schule schlecht bestellt ist, daß es nicht bleiben kann wie es ist, das empfindet jeder. Aber kein bestimmter Ausweg will sich zeigen. Es wird immerfort herum versucht, aber niemand findet eine entscheidende Lösung.
Ich habe den folgenschweren Rat gegeben, an Stelle der gebundenen Gemeindereligion die freie, persönliche Religion zu setzen. So erwächst mir die Pflicht, auch zu einer neuen Weise der Erziehung zu raten, die dieses freie Leben ermöglicht. Ich muß für eine Weile auf das Gebiet der Schule abschweifen. Aber die Frage, was aus unserer Schule werden soll, ist ja auch an sich wichtig genug, um die Aufmerksamkeit beanspruchen zu dürfen.
Die Schulen in Deutschland sind von jeher nicht nur Unterrichts- anstalten gewesen, Anstalten, die ein gewisses Wissen, einen bestimmten Lernstoff vermitteln, den die Schüler später im Leben verwenden sollen. Man gibt sich jetzt zwar alle erdenk- liche Mühe, unsere stolze Schule, die einst ihre Ziele weit höher steckte, auf diesen Zustand herabzudrücken, sie ganz, dem rein sinnlich-nützlichen Geschmack unseres Zeitalters entsprechend, amerikanisch zu machen. Aber ehemals war das anders. Da hatte die Schule noch die Aufgabe, den Menschen als Ganzes zu bilden, nicht nur sein Wissen zu bereichern, sondern seinen Charakter zu erziehen, ihn nach einem Ideale zu bilden, das alle
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Seiten seines Wesens zur Entfaltung bringt. Nur in dieser All- heit und Ganzheit sah man die Vollendung des Menschen. Und diese zu erzielen, war der Zweck der Schule. Dies allein verstand man unter Bildung, ein voller Mensch zu sein, mit den und den bestimmten Richtungen und Bestrebungen des Willens. Heute nennt man einen gebildeten Menschen einen wissenden Menschen, jemanden, der sich Kenntnisse erworben hat. Aber ein solcher braucht bei weitem nicht gebildet zu sein. Man kann höchst gebildet sein, ohne viel zu wissen, und man kann viel wissen und dennoch gänzlich ungebildet sein. Bildung besitzt, wer in der Ganzheit seines Wesens einen bestimmten sittlichen und künstlerischen Charakter hat, wer eine feste Größe geworden ist, wer sein ganzes Wesen zur Form erhoben hat. Wie kann man dieses Ziel erreichen, wie kann man den Menschen zum Menschen bilden? Nur so, daß man ihn in möglichst nahe und dauernde Berührung mit großen Menschen bringt, die ihr Ideal erreicht haben. Nur das Beispiel erzieht. Am besten erzieht natürlich das lebendige Beispiel. Selig der, der in seiner Jugend in seinen Eltern und Lehrern lebende Zeugnisse eines Ideals in der Nähe geschaut hat, ständig geschaut hat! Ihm ist ein unvergleichliches Gut zuteil geworden. Da wir aber im allgemeinen alle kleine Menschen sind, da die Erfüllung eines Ideals eine große Seltenheit ist, da Eltern und Lehrer im allge- meinen schlechte Erzieher sein werden, so müssen wir zu toten Mustern greifen. Wir müssen den Schatz der menschlichen Vergangenheit öffnen. Die Menschheit lebt ihr Leben nicht erst seit wenig Tagen, sie hat ein reiches Leben hinter sich, mit unzähligen Großtaten, die außerordentliche Menschen vollbracht haben. So mancher Stern leuchtet aus dem Dunkel der mensch- lichen Vergangenheit mit hellem Lichte; so manches Ideal hat in der Vergangenheit seine Erfüllung gefunden. Hier ruht ein unerschöpflicher Schatz der tiefsten Belehrung, der edelsten Erziehung. Die große Menschlichkeit an allen Orten und zu allen Zeiten ist der Jugend nahe zu bringen. Hier ist der Punkt, wo man begreift, warum die geistigen Fächer, alle die Gebiete, die sich mit dem Menschen und seinen Werken befassen, für die Schule so ungleich wichtiger sind, als alle Naturerkenntnis.
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Um diese Frage herrscht ein großer Streit. Mir scheint die Ent- scheidung außerordentlich einfach zu sein. Nur die völHge Ver- wirrung darüber, was die Schule überhaupt ist und soll, hat hier ein Schwanken hervorrufen können. Der ungeheure Wert der Naturwissenschaft als Wissenschaft ist über jeden Zweifel er- haben. Der Mensch verdankt der Erforschung, der liebevollen und eingehenden Beschäftigung mit der Natur Unermeßliches. Aber hier ist die Frage, welchen erzieherischen Wert die Natur- wissenschaft für die Jugend hat. Und da muß sie entschieden hinter allem Geschichtlichen, Menschlichen zurückstehen. Ihre Würde und ihr Wert als Wissenschaft wird damit in keiner Weise berührt. Das steht auf einem völlig anderen Blatt. Aber was kann die Naturerkenntnis für die Charaktererziehung der Menschen leisten? Unmittelbar wenig oder nichts. Erziehen kannnur etwas Persönliches, etwas dem zu Erziehenden Ähnliches oder Verwandtes, also nur der Mensch. Die Natur bleibt ewig unpersönlich. Auf weiten Umwegen nur, wenn man auf die Grundkräfte zurückgeht und betrachtet, wie alles in der Natur sich bildet, auf diesem weiten Umwege über die philosophische Spekulation kann wohl auch die Natur erziehen. Der Mensch lernt sich mit der Natur verwandt fühlen, fühlt sich dem großen Strom des Daseins eingegliedert. Aber diese Wirkung ist nur durch das Mittel des höchsten menschlichen Nachdenkens mög- lich. Die einzelne Naturerscheinung bleibt kalt und fremd, fremder als eine menschliche Seele. Diese redet eine andere Sprache zu uns, sie packt uns unmittelbar, reißt uns mit sich fort, wenn sie sich in ihrer Kraft und Schönheit vor uns entfaltet. Der höhere erzieherische Wert des Menschen scheint mir außer allem Zweifel zu sein. Es ist nötig, daß dies endlich einmal mit aller Entschiedenheit gesagt werde. Wir haben über die Natur, in der wir so viel Wunder entdeckt haben, den Menschen fast ganz vergessen. Es ist Zeit, daß der Mensch in sein altes Vorrecht wieder eingesetzt werde.
Aber welche Vergangenheit soll uns erziehen? Wie sollen wir mit der Vergangenheit erziehen? Das nächste wäre die darstellende Geschichte, die politische und geistige, die äußere und innere Geschichte, die alle die starken und bewegenden Men-
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sehen vorführt, die mit ihrem trotzigen Ringen die Menschheit emporgehoben haben. Der ganze Reichtum der Vergangenheit, alle Höhepunkte des menschlichen Lebens, die glücklichen Stunden, in denen sich der Mensch zu seiner vollen Blüte erhob, das alles ist vor der Jugend wachzurufen, muß der Erzieher vor ihrem Auge erstehen lassen. Der unmittelbare Nutzen dieser Belehrung ist gering. Da ist die Sprachkenntnis, besonders die Kenntnis lebender Sprachen, da sind alle Natur erkenntnisse, beson- ders soweit sie Gebiete betreffen, aus deren Bearbeitung die neuere Zeit greifbare Werte erzeugt hat, diesen Menschendarstellungen weit überlegen. Aber was nützen alle Erkenntnisse, alle Fertig- keiten, wenn die Menschen, die sie besitzen, diese nicht richtig verwerten, wenn die Charaktere, die Seelen, die dahinter stehen, beschränkt, falsch gerichtet sind? Aller äußere Reichtum nützt zu nichts; er wird zum Verderb, wenn die innere Kraft mangelt. Hier im Innersten, im Verborgensten und Tiefsten muß es sprudeln und quellen. Diese innere Kraft aber erzeugt sich im Menschen nur am Menschen.
Indessen im allgemeinen werden die Lehrer und Erzieher nicht Künstler genug sein, um den reichen Schatz der aufgespei- cherten sittlichen Kraft der Vergangenheit wirklich zu heben. Sie werden ihn im allgemeinen nicht wieder beleben, mit einem frischen Hauche anwehend, verjüngen können. Sie werden ihn wohl meist zu einem äußeren Lernstoff herabdrücken, wie alle Sprach- und Naturerkenntnis; und so werden sie ihn am meisten verhaßt machen. Denn nichts stößt stärker ab, als das Edle und Große in entstellter Gestalt. Nichts läßt sich schlimmer mißbrauchen als das Erhabene. Deshalb ist der darstellenden und berichtenden Wiedergabe des Vergangenen, was immer eine unendlich schwierige Aufgabe bleibt, die über das Mittelmaß hinausgeht, die einfachere, bloß auslegende, erklärende an die Seite zu stellen. Wir müssen die Vergangenheit unmittelbar an die jungen Seelen heranbringen, ohne die wiederaufbauende Dar- stellung des Lehrenden, der nur die Seltensten gewachsen sind. Mit anderen Worten, wir müssen unsere Jugend in die Dichter und Denker, in die geistigen Werke der Weisen der Vorzeit ein- führen. Es ist die Eigentümlichkeit des Menschen, daß er nicht
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nur handelt, daß sein Inneres sich nicht nur in Taten entlädt, sondern daß er vor und nach der Handlung sich Bilder von der Handlung entwirft, daß er neben die wirkliche Welt, in der er sich bewegt, eine halbwirkliche Welt der Gedanken stellt, die die wirkliche vorbereitet, ergänzt, verklärt. In doppelter Weise findet diese Gedankenwelt ihren Ausdruck. Entweder es ist eine Wieder- gabe in künstlerischer Gestaltung, oder in begrifflicher Fassung. In Kunst und Philosophie, in Dichtung und Weisheit findet das Seiende und das Sein sollende seinen geistigen Niederschlag. In diese Welt der Gedanken, in der sich die Glanzzeiten der mensch- lichen Vergangenheit in ihrem ganzen Wesen ausgesprochen haben, die sie sich als ihren Spiegel geschaffen haben, um sich ihres Anblicks zu freuen, in sie müssen wir unsere Jugend einführen. Hier redet die höchste Menschlichkeit unmittelbar zu ihr. Hier bedarf es keiner nachschaffenden Tätigkeit, die sich den Men- schen des Alltags niemals zumuten läßt. Hier braucht der Lehrende nur zu erklären, nur zu deuten, nur zu vermitteln. Erziehen, bilden kann einzig und allein die Lektüre, die tiefe, andächtige Versenkung in die Werke der Dichter und Weisen der Vorzeit. Eine andere Bildung gibt es nicht, anders ist Bildung nirgends zu holen. Durch die schöne Form, in Poesie oder Prosa, wissen diese höchsten Menschen das höchste Leben unmittelbar uns vorzuzaubern. Wir leben in einer höheren Welt mit ihnen. Zwar das Höchste bleibt, einen heiligen Menschen in unmittel- barer Nähe zu sehen. Dies Glück ist über alle Maßen. Da es aber an diesen lebenden Zeugnissen des Höchsten, an diesen wandelnden Idealen fast immer fehlen wird, so müssen die großen Schriftwerke der Menschheit an deren Stelle treten, die die höchste Menschlichkeit zur lebendigsten Anschauung bringen. Sie sind der immer bereite, unversiegliche Jungbrunnen der Menschheit. Moses und die Propheten, Homer, Dante, Shake- speare, Goethe — wer diese Erzieher verleugnet, wer an Stelle von deren Weisheit, deren herzquellender, herzstärkender Weisheit ein kaltes Wissen von der Natur, tote Formeln setzen will, der ist ein Stümper in der Erziehung, der ist aus dem Tempel der hehren Aufgabe der Menschenerziehung auszuweisen. Freilich kann die Unfähigkeit der Lehrer auch hier viel verderben. Die
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Lehrer glauben die Schriftwerke der Jugend näher zu bringen, wenn sie recht viel von sich hinzutun. Aber damit können sie die Wirkung des Gelesenen gänzlich aufheben. Mit je weniger Erläuterung sie auskommen, um so besser. Sie sollen die großen Werke mit der Jugend nur lesen, möglichst nur lesen. Dieser bloß vermittelnden Tätigkeit steht die Eitelkeit der Lehrer entgegen. Wenn sie nicht aus ihrem Born recht viel hinzufügen, meinen sie, wäre es nichts. Sie benützen die edelsten Schöp- fungen der Menschheit, um Lappalien daranzuhängen. Mit all dem zerstören sie nur den erzieherischen Zweck ihrer Aufgabe. Möchte uns das Schicksal demütige Lehrer schenken, die sich mit ihrem kümmerlichen Geiste nicht dem erhabenen Geiste der Dichter und Denker vorlagern, die freudig hinter das Große zurücktreten, die nur vermitteln wollen, die das Große nicht zum Schemel ihrer eigenen Weisheit herabdrücken, sondern es im vollen Glänze leuchten lassen, daß es die Jugend ergreife und zu jeder edlen Gesinnung begeistere.
Aber welche Schriftwerke der Vergangenheit sollen wir unserer Jugend vorlegen? Sind hierzu alle in gleichem Maße geeignet? Das Nächstliegende wäre wohl, daß wir ihnen die großen Schöpfungen unseres eigenen Volksgeistes vorlegten und sie hierin einführten, wie wir wohl auch bei der darstellenden Geschichte die Heldentaten, die mannigfaltigen Kämpfe, in denen unser Volkstum auf die Probe gestellt wurde und sich bewährte, mit besonderer Liebe behandeln werden. In der Tat, ich habe das lange geglaubt. Für jedes Volk sind dessen eigene Geister, die die ganze Begabung dieses Volkes darstellen, seinen letzten Tiefsinn bei sich vereinen, naturgemäß auch die besten Erzieher. Und warum sollten sie es nicht für die Jugend sein? Diese Auf- fassung wird heute von zahlreichen ernsten Männern vertreten, die sich durch das Tagesgeschrei nicht haben verwirren lassen, denen der Amerikanismus unserer Tage keinen Eindruck ge- macht hat, die an der alten Wahrheit festhalten, daß nur der Mensch erzieht, und zwar nur der außerordentliche Mensch, wie er sich in der Geschichte offenbart hat. Nach der Meinung dieser Männer, an deren Spitze Professor Paulsen in Berlin steht, müsse die Erziehung humanistisch bleiben, aber sie müsse n e u -
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humanistisch werden, indem sie die Schriftwerke unseres eigenen Volkes zugrunde legt. Dies erscheint sehr einleuchtend und doch hat dieser Plan eine große Schwierigkeit. Die Bildung unseres Volkes ist bekanntlich eine späte Bildung. Ihr liegen die Bil- dungen, die geistigen Errungenschaften jüngerer Völker voraus, die sie aufgenommen, deren Faden sie weiter gesponnen hat. Alle Schöpfungen unseres Volkes sind spät erzeugte Früchte am Baum der Geschichte und deshalb schv/er verständlich. Es bedarf erst einer längeren geistigen Vorbereitung, ehe man zu ihrem Verständnis vordringt. Diese Vorbereitung soll gerade die Schule liefern, muß sie also doch wohl durch etwas anderes bewirken, als durch diese Werke selbst, die höchstens dem Be- griffsvermögen der reiferen Jugend zugänglich sind. Nur der reiche Liederquell der deutschen Dichtung ist unmittelbar ver- ständlich. Aus dem reichen Schatze der deutschen Lyrik, der sich trotz vieler Verirrungen der Gegenwart noch immerfort vermehrt, können wir für jede Stufe der Jugend geeignete Muster wählen zur edelsten Erziehung von Herz und Sinn. Aber die größeren Werke in Poesie und Prosa, an denen es uns doch haupt- sächlich liegen muß, die den höchsten erzieherischen Wert haben, können wir nur der älteren Jugend reichen. Sucht man aber durch eigens erfundene Lesestoffe die Jugend zur Lektüre der großen Dichtwerke vorzubereiten, indem man diese selbsterfun- denen Arbeiten ihrem Verständnis anpaßt, so kann man nur er- künstelte Naivität schaffen, die der schlimmste Verderb für die Jugend ist. Denn sie ist eine Heuchelei, und jede Heuchelei verdirbt. Nur eine natürliche Kindlichkeit, nur die echte Kind- lichkeit des Genies kann erziehen. Bewahre das Schicksal unsere Jugend vor etwaigen künstlichen Erzeugnissen unserer Lehrer; dies wäre das allerfurchtbarste. Ein Ausweg bliebe noch, daß man der Jugend die älteren Werke aus der noch kindlicheren, jugendlicheren Zeit unseres Volkes darreicht, aus der Zeit des Mittelalters, oder der Reformationszeit. Indessen es scheint ein Gesetz der Geschichte zu sein, daß das, was einmal groß ge- macht ward, nie wiederholt werden kann. Unser Mittelalter kann sich mit dem griechischen Altertum nicht entfernt ver- gleichen. Die Kultur des Mittelalters wurde durch die Einflüsse
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des überlegenen Altertums gekreuzt. Das ganze Mittelalter ist nur die tastende Vorbereitung unserer Kultur, bis zu dem Augen- blick, wo sie sich ebenbürtig oder vielleicht überlegen der alten an die Seite stellt, was in der Zeit Goethes und Schillers geschah. Da erst hebt unsere Bildung wirklich an. Eine große Bega- bung verrät sich aus allen früheren Versuchen unseres Volks- tums. Ergreifend und lehrreich zugleich ist unsere Vorgeschichte für den Geschichtsforscher. Aber diese reiche Begabung hat sich in der vorgoetheschen Zeit, mit alleiniger Ausnahme vielleicht der bildenden Kunst, noch nicht in Form gebracht, hat sich noch nicht zum klassischen Ausdruck durchgerungen. Es fehlt gerade das Wesentliche, was den erzieherischen Wert hat: daß die edelste Innerlichkeit die weihevolle, reine Form gefunden hat, die die Herzen fängt, sich ihnen einschmeichelt, den lauter- sten Gehalt den Menschen unbemerkt in die Seele spielt. Solche Werke haben wir erst seit Goethe. Alles frühere sind unvoll- kommene Vorübungen. Nein, es bleibt nichts anderes übrig. Wir müssen zu dem alten Verachteten, Verspotteten zurückkehren, zum klassischen Altertum. Das klassische Altertum hat Werke aufzuweisen, in die die ganze Seele der Menschheit eingegangen ist, in denen sich die Menschheit selbst enthüllt hat. Und diese Werke sind so einfach und klar, so schlicht und kindlich, wie sie eben die Jugend bedarf. Die Werke der Griechen sind die Genie- schöpfungen aus dem Kindheits-Zeitalter der Menschheit. Mit einer Naivität, mit einer Wahrheit und Schlichtheit, mit einer Herzlichkeit und Wärme treten sie auf, die auf Erden nicht ihresgleichen hat. Sie setzen nichts voraus. Sie sind das erste geistige Erwachen des Menschen; mit diesen Werken schlug der höhere Mensch gleichsam zum erstenm-al die Augen auf. Zum erstenmal sprach hierin der höhere Mensch, der Mensch, wie wir ihn heute verstehen, der eine reiche Innerlichkeit an die Außenwelt abgibt, sein tiefstes Wesen aus. Ewig müssen diese Wunderschöpfungen des Menschen, auf denen alle spätere Bildung ruht, die Schule, das Erziehungsmittel der vornehmen, geistig begabten Völker sein. Eine andere Art zur Bildung zu gelangen, einen anderen Weg der Erziehung gibt es nicht, kann es nicht geben. Es ist ein physiologisches Gesetz, daß das ein-
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zelne Glied einer Gattung die Hauptetappen der Gattungsent- wicklung in seiner persönlichen Entwicklung wiederholt. Dies Gesetz gilt auch, wie oft bemerkt worden ist, auf geistigem Ge- biete. Auch hier kann der Mensch die Staffel der jetzigen Bildung nur erreichen, wenn er in seiner Entwicklung die früheren Bil- dungsstufen, die der heutigen Bildung voraufgegangen sind, auf denen diese ruht, durchgemacht hat, wenigstens die wichtigsten, höchsten. Unsere Bildung aber ruht ganz und gar auf der Antike. So ist nur von hier aus das Verständnis unserer eigenen Bildung möglich. Erst wenn die Seele die großen seelischen Er- lebnisse der menschlichen Vergangenheit nacherlebt hat, wird sie die hohen Erlebnisse der Gegenwart begreifen, miterleben können. Da die Erlebnisse in der Jugendzeit der Menschheit kindlich und einfach, ursprünglich und kräftig waren, sind sie wie geschaffen zur Jugenderziehung. Gerade wie damals die höchsten Genies empfanden, so empfindet jetzt die Jugend. Es ist ein Wahnsinn, diese Harmonie, diese Zusammengehörigkeit für die Erziehung unserer Jugend nicht auszunützen. Wie da- mals zum erstenmal der Mensch überhaupt dichtete und trachtete, grübelte und sann, lebte und webte, kindlich ernst und einfach, ebenso dichtet und trachtet, lebt und webt noch heute die Jugend. Und darum der einzige und unvergleichliche erzieherische Wert dieser Werke.
Wenn aber die Erziehung im Altertum solchen Wert hat, wie kommt es, daß dem alle Erfahrung Hohn spricht, daß sich die Jugend von diesen Lehrmeistern mit Widerwillen abwendet, daß das Leben diese verheißenen Früchte gar nicht zeitigt? Dieses liegt daran, daß unserer Jugend das Altertum in einer völlig falschen Form geboten wird. Und hier ist mit den Philologen ein ernstes Wort zu reden.
Unsere Schule beruht auf dem Gedanken, daß die Jugend in zwei Kulturen eingeführt werden soll, in die alte u n d in die neue, und zwar soll sie beide im Original kennen lernen. Sie soll die Dichter und Denker des Altertums wie die unseren in der Ursprache lesen lernen. Das aber halte ich für unmöglich. Das Leben erfordert eine Menge Kenntnisse, die nicht zu umgehen sind, mathematische, naturwissenschaft-
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liehe Kenntnisse, die wichtigsten lebenden Sprachen. Dies muß um jeden Preis erlernt werden. Zu dieser Fülle Verstandes- tätigkeit der Jugend auch noch die Erlernung der alten Sprachen auferlegen, ist in meinen Augen eine ungeheuerliche Über- bürdung. Die heutige Schule ist durch die übertriebenen An- forderungen, die sie stellt, die reinste Barbarei . Diese Schule kann nur abstumpfen, töten. Gerade das, was für das Herz der Jugend sein sollte, das, was sie erquicken, stärken, beleben und begeistern sollte, das wird ihr durch die unsinnige Form, in der es ihr geboten wird, in die fürchterlichste Quälerei ver- wandelt. Eine Sprache lernen ist keine Kleinigkeit, nun gar eine tote Sprache mit ganz anderen Sprachgesetzen als die un- sere, und nun gar zwei tote Sprachen! Unsere Schule mag sehr ideal gedacht sein, aber es ist immer schlimm, wenn man zu ideal denkt, wenn man die Wahrheit und Erfahrung mit Füßen tritt. Nicht das mache ich unsern Lehrern zum Vorwurf, daß sie den Versuch gemacht haben, die Kenntnis der alten Sprachen mit den Bedürfnissen des gegenwärtigen Lebens zu verbinden, sondern daß sie in jahrhundertlanger Arbeit es nicht gemerkt haben, daß sie hiermit etwas Unmögliches anstreben. Hiervor stehe ich wie vor einem Rätsel. Es mochte möglich sein, die alten Sprachen mit Erfolg zu lehren, als wir noch keine eigene Bildung besaßen, als das praktische Leben noch gar keine An- sprüche an die Ausbildung stellte. Jetzt aber ist es eine absurde Zumutung, daß die Jugend zum praktischen Leben vorbereitet werde und zugleich die Schriftwerke der Alten, um daraus die innere Bildung zu schöpfen, im Urtext lesen lerne. Was erreichen denn die Philologen mit ihrer Tätigkeit? Nichts, als daß sie die Jugend mit dem sprachlichen Vorwerk abmartern. Niemals dringt die Jugend durch dieses Dornwerk hindurch zu dem wirk- lichen Gehalt, der eigentlichen Schönheit der Werke. Bei ein- zelnen ganz leichten Schriftstellern mag es hin und wieder ge- lingen. Aber auch hier bekommt die Jugend immer nur Teile zu sehen. Aber sie soll gerade das Ganze haben. Gerade das Vollendete, das Charaktervolle, das in einer Gesamtschöpfung liegt, ist das Erhebende, das Bildende. Die ganze Art, wie die alten Schriftwerke an unserer Schule behandelt werden und der Lage
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der Dinge nach, da man etwas Unmögliches will, behandelt werden müssen, ist vom Standpunkt einer höheren Bildung eine vollkommene Lächerlichkeit. Nichts wird auf diese Weise erreicht, gar nichts, nur daß die Jugend vor den erhabensten Werken der Menschheit einen ewigen Schauder bekommt. Wenn man aber die Erlernung der alten Sprachen als geistige Turn- übung empfiehlt, so sage ich: das kann man billiger haben durch Mathematik und neuere Sprachen, die noch dazu den Vorzug des größeren Nutzens haben. Zur Erzielung einer äußeren Tech- nik und Gewandtheit des Geistes, dazu dünken mich die alten Sprachen zu schade. Wenn die Jugend auf diesem Wege nicht an innerer Bildung gewinnt, so ist über diesen Unterricht der Stab gebrochen. Die einzige Möglichkeit, die Erziehung im klassischen Altertum zu erhalten, was so dringend zu wün- schen ist, ist die, daß man diese Werke der Jugend in der Über- setzung reicht. Schlimm, daß die Philologen das nicht längst erkannt haben. Sie haben durch ihr starres Festhalten an der Sprache unser ganzes Volk aus dem. Zusammenhang mit der alten Kultur herausgebrochen. Sie tragen die Hauptschuld an dem trostlosen Verfall unserer Bildung. Freilich, die Philologen pflegt ein Schauder zu überlaufen, wenn man das Wort ,, Über- setzung" nur in den Mund nimmt, weil sie dabei an ihre eigenen schlechten Übersetzungen denken. Im Gedanken an diese Über- setzungen haben sie allerdings ein Recht, alle Übersetzungen als Verunstaltungen des Originals anzusehen, die nichts von dem Zauber des Urbilds bewahren. Aber Philologen können natürlich nicht übersetzen. Zum Übersetzen gehört nämlich zweierlei: erstens das Verständnis des Originals — das will ich den Philo- logen nicht abstreiten, obwohl sie meist nur bei dem einzelnen haften bleiben - — aber zweitens gehört dazu, das, was man in der fremden Sprache gelesen und empfunden hat, in der eigenen Sprache miit der gleichen Einfachheit und Kraft, mit der gleichen Sicherheit und Schönheit wiederzugeben. Und das vermögen selbstverständlich die Philologen nicht. Dazu gehört Genie. Freilich, es meinen so ziemlich alle, die eigene Sprache sprechen zu können, in der eigenen Sprache allen Gedanken und Emp- findungen, die sie hegen, Ausdruck geben zu können. Aber
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dies ist ein ungeheurer Wahnglaube der Unbildung. Nur die Seltensten, Ausgesuchtesten können das Instrument ,, Sprache", auf dem alle spielen, mit Meisterschaft spielen. Wenn ich auf Übersetzungen der alten Schriftsteller verweise, so denke ich dabei an Übersetzungen in der Art der Bibelübersetzung Luthers oder der Shakespeare- Übersetzung Schlegels. Luther konnte die Bibel übersetzen, weil er selbst ein Religionsstifter war. In ihm glomm das gleiche Feuer wie in den Propheten Israels. Und Schlegel, der selbst ein Dichter war, hat uns Shakespeare neben Goethe und Schiller gestellt. Welch unbeschreiblichen Einfluß haben diese beiden Übersetzungen auf unser Volk gehabt, wie haben sie unser gesamtes Volkstum bestimmt und beherrscht! Das ist gar nicht auszudenken. Angesichts dieser Tatsachen wage man noch von der Unfruchtbarkeit und Verwerflichkeit aller Übersetzungen zu reden! Die Philologen kämpfen eben gar nicht für die Kultur und Bildung, wie sie vorgeben. Sie kämpfen nur für ihre kleine Eitelkeit, weil sie als Lehrer der alten Sprachen nicht entbehrlich sein wollen. Ewig schade, daß nicht in unserer klassischen Zeit, als unser Volk in dem ersten Frühlingsrausch der Begeisterung für das Griechentum stand, ein begabter Mann, wie es damals so viele gab, die klassischen Schriftwerke übersetzt hat! Die geistige Entwicklung unseres Volkstums hätte eine ganz andere Wendung genommen. Nur wenn sie umgegossen ward in unsere Sprache, konnte diese geistige Welt wirklich unser Leben bestimmen. Ohne dies mußte der Rausch verfliegen. Die schwärmerische Hingabe an das Altertum, worüber die Goethesche Zeit fast alles andere vergaß, konnte sich die spätere Zeit nicht mehr gestatten. Der rauhe Tag forderte sein Recht. Dagegen konnte sich das Griechentum nur in deutschem Gewände retten. Aber was damals versäumt wurde, ist heute nachzuholen. Noch ist es Zeit dazu. Ein letzter Rest vom Geiste der Goetheschen Zeit klingt noch in uns nach. Diese langsam verglimmenden Funken sind wieder anzufachen. Wir müssen noch einmal in das gelobte Land ziehen und es uns erst wahrhaft erobern. Und liegt dieser geistige Schatz der Menschheit ausgeprägt und geformt in unserer Sprache vor:
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dann damit in die Schule! Dann erst kann von einer klassischen Bildung die Rede sein. ^
Nun gehe ich aber weiter und sage: da wir die klassische Bildung nicht mehr in der Ursprache lehren, sondern in unserer eigenen Sprache, da diese Bildung das höchste Gut der Mensch- heit ist, die das höhere Menschentum ausmacht und allein er- schafft, so brauchen wir sie nicht mehr auf die höhere Schule zu beschränken. Da sie wegen ihrer Einfachheit und Kindlich- keit jeder Jugend zugänglich ist, so können wir sie auf alle Schulen ausdehnen, so brauchen wir sie niemandem vor- zuenthalten, so können wir sie auch in die Volksschule einführen. Ich sage, im vollen Bewußtsein wie sehr ich damit unserer Zeit widerspreche: nicht fort mit der klassischen Bil- dung, sondern umgekehrt: die klassische Bildung
1 Eine genauere Behandlung des Schulproblems behalte ich mir vor. Man würde in Sexta und Quinta, nachdem die Elemente absolviert sind, mit Homer beginnen, in Quarta Herodot und Thukydides folgen lassen, in Tertia die Tragiker und die einfacheren Schriften der Philo- sophen vorlegen. In den Mittelklassen kann diese vorbereitende klassi- sche Bildung ziemlich zum Abschluß gebracht werden. Und auf diesem Unterbau läßt sich dann erst eine wahrhaft deutsche Bildung an der Hand unserer eigenen Geister aufbauen. Und diese Schule kann auch allen praktischen Bedürfnissen gerecht werden wegen ihres Zeitgewinns. In den oberen Klassen müßten natürlich die Elemente der alten Sprachen fakultativ gelehrt werden, damit die besonders begabten und lerneifrigen die Originale später sich aneignen können. — Es ist sehr bezeichnend, daß der bedeutendste Philologe der Gegenwart, von Wilamowitz-MöUen- dorff das Bedürfnis nach Übersetzungen der Antike empfindet. Aber darin irrt Wilamowitz, daß er glaubt, diese Übersetzungen selber liefern zu können. Es tut mir leid, daß ich das aussprechen muß, da ich Wila- mowitz als Gelehrten und als meinen persönlichen Lehrer, dem ich zu reichem Dank verpflichtet bin, hoch verehre. Wenn diese Übersetzungen dennoch eine starke Wirkung haben, so liegt dies nur an dem Umstand, daß sie klar und durchsichtig sind. Und so groß ist die Macht der Ori- ginale, daß sie eben in jeder Form wirken, wenn diese Form nur ver- ständlich ist. Aber die Einfachheit und Schlichtheit der Schönheit ist etwas anderes als Nüchternheit. Es ist eben von niemand zu ver- langen, daß er dichten könne, auch nicht von einem großen Gelehrten. Daß die öffentliche Kritik nicht einmütig gegen diese Übersetzungen Protest erhoben hat, ist mir ein Rätsel. Man sieht daraus, wie viel der große Name tut.
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fürdasganzeVolk ! Das allein kann uns aus der geistigen Not, in die wir verstrickt sind, befreien. Man wird entsetzt den Kopf schütteln und fragen, wie denn dies möglich sein solle. Kaum könne die Volksschule die nötigsten Elemente: lesen, schreiben, rechnen lehren, und nun solle sie noch in ein fremdes Volkstum, eine fremde Kultur einführen, solle Homer, Herodot, Pindar, Sophokles verstehen lehren. Hierauf erwidere ich, daß die Volksschule ein ähnliches Ziel schon von jeher erstrebt hat. Sie hat sich nie auf die sogenannten Elemente beschränkt. Sie hat die Jugend auch stets noch einen höheren Geist, die Schöp- fungen erlauchter Geister der Vergangenheit und einer gleichfalls unserem Volkstum fremden Vergangenheit lehren wollen. Nur war es die orientalische Vergangenheit, in die die Volks- schule in der Gestalt des Religionsunterrichtes einführte. Das eigentlich Bildende in der Volksschule, das, was eigentlich die Jugend erziehen soll, was sich nicht an ihren Verstand wendet, sondern was zu ihrem Herzen vordringen soll, das ist die Welt des Alten und Neuen Testaments. Was sind aber diese Schriftwerke anders, wenigstens von einem einsichtigen geschichtlichen Stand- punkte aus, als die geistigen Früchte der orientalischen Geschichts- epoche; die höchsten Erzeugnisse aus der allerersten Kindheit der Menschheit, die dann von der griechischen Bildung überholt wurde? Ich will mit der Vergangenheit nicht rechten. Ich zweifle, ob es nötig war, daß die neuere Menschheit nicht un- mittelbar an die griechisch-römische Bildung anknüpfte, daß hier erst das orientalische Christentum eingeschaltet wurde. Aber geschehen ist geschehen. In dieser orientalischen Ge- danken- und Gefühlswelt, wie sie im Christentum und dessen Urkunden zum Ausdruck kommt, wurde unser Volk und zumal unsere Jugend bisher erzogen. Und ich sage: dies muß nunmehr ein Ende nehmen. Ebensogut, wie wir das Alte und Neue Testa- ment mit seinen Wundergeschichten, mit der jüdischen Sage und Geschichte in der Volksschule treiben, so können wir auch Homer und Sophokles, Thukydides und Piaton treiben; natürlich nur in den höheren Klassen vom lo. — 14. Lebensjahre. Aber das muß jetzt geschehen. Die orientalische Bildung reicht nicht mehr aus. Diese Stufe kann und muß in Zukunft übersprungen
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werden. Es ist eine enge, dumpfe Welt, die in der Bibel lebt. An die höhere Volksbildung sind höhere Ansprüche zu stellen. Nicht mehr Wissen, nicht mehr Kenntnisse sollen sie geben, sondern einen tieferen geistigen Gehalt, eine reichere innere Bildung. Es darf nicht mehr das ganze Innere des Menschen auf einen einzigen Ton gestimmt sein, wie es im Orient und also auch in der Bibel der Fall ist. Es muß eine reichere Mannig- faltigkeit in der Seele erstehen, auch in den einfachsten Seelen, im Grundstock unseres Volkes. Der Orient hat wirklich nur die allernotwendigsten Grundlagen des höheren Lebens erschaffen. Es gibt im Orient keinen Staat, keine Wissenschaft, keine Kunst, in dem Sinne, den wir heute mit diesen Begriffen verbinden. Alle Grundlagen der höheren Bildung hat erst das Griechentum errungen. Und in einer Zeit, wo alle, auch die Niedrigsten und Letzten, mit zum öffentlichen Leben berufen sind, in der Zeit des allgemeinen Stimmrechts und der allgemeinen Wehrpflicht, da muß ein jeder, auch der Unbemitteltste, und wer zur schwersten Arbeit berufen ist, die Grundbegriffe der Kultur erlernen. Diese aber kann er nur an den Geistern, mit Hilfe der Geister erlernen, die jene Grundbegriffe erschaffen haben. Da nur treten diese Werte mit ihrer ganzen Wucht, in ihrer ganzen Reinheit auf. In dieser ihrer ersten Gestalt nur prägen sie sich mit voller Gewalt den Seelen ein. Später sind sie schon zu überladen, zu reich, zu vielfach. Da dringt nur der geübte Blick zu ihrem Wesen hin- durch. Erlernen lassen sie sich nur an ihrem Ursprung. Des- halb muß in der Volksbildung die Bibel durch das Griechentum, müssen Moses und die Propheten, Christus und Paulus abgelöst werden durch Homer und Sophokles, Thukydides und Piaton. Im Griechentum entfaltet sich eine höhere sittliche Welt, die Allgemeingut unseres Volkes werden muß. Man hat viel Auf- hebens von der religiösen Überlegenheit der alten Juden über die Griechen gemacht, weil jene an einen, diese aber an viele Götter geglaubt hätten. Aber es ist völlig gleichgültig, ob man an einen, oder an mehrere Götter glaubt. Die Menschen unter- scheidet, ob sie überhaupt Gottheiten nötig haben zu ihrer Lebens- führung, ob sie Anlehnung, Stütze brauchen, oder ob sie stark genug sind, in sich selber zu wurzeln. Und diejenigen, die
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Götter nötig haben, völlig gleichgültig, wie viele und welcher Art diese Götter sind, sind nach meinem Gefühl die geringeren Menschen. Bei den Griechen hatten die Götter schon am An- fange der uns bekannten Geschichte ihre eigentlich religiöse Kraft verloren, sie bildeten nur eine schöne Umkränzung des Daseins. Der Grieche fühlte sich stolz als Mensch. Alles Höchste glaubte er nur sich zu verdanken, während der Orientale sich vor seinem Gotte wie ein Sklave wand. Ich brauche nicht zu sagen, was ich für das Höhere halte. Und die griechischen Tugenden der Tapferkeit und der Vaterlandsliebe, der Gerechtigkeit, Selbst- beherrschung und Weisheit sind höher, wichtiger, grundlegender, als die süßlich weichlichen Lehren von der christlichen Nächsten- liebe, dem christlichen Mitleid. Der Orientale ist entweder brutal oder sentimental. Im Christentum kommt die ganze Senti- mentalität des Orients zum Ausdruck. Daß das Griechentum den Orientalen, das Christentum eingeschlossen, unendlich über- legen ist, ist nicht nur Nietzsches Meinung. Wenn man einen ganz ruhigen, unverdächtigen Zeugen will, so berufe ich mich auf den tiefsten Kenner des Altertums, auf einen Gelehrten, der nicht nur das griechisch - römische Altertum , sondern auch alle orientalischen Kulturen beherrscht und überblickt, einen Mann den ich für den bedeutendsten lebenden Historiker halte, auf Professor Eduard Meyer in Berlin. Dieser große Ge- lehrte betont stets die Überlegenheit des Griechentums über den Orient, und zwar auf allen Gebieten. Er nimmt hiervon auch das Religiöse und Sittliche nicht aus. Sein Blick ist nicht durch die religiöse Erziehung zugunsten des Christentums getrübt. Und gelegentlich der Würdigung des Sokrates tut er den be- merkenswerten Ausspruch: ,,Die überspannten Lehren der christ- lichen Moral von Sokrates und Piaton zu fordern, würde meines Erachtens diese Männer herabsetzen". i Vor allem aber, in den griechischen Schriftwerken wie in dem ganzen griechischen Volkstum lebt ein seltsamer Geist der Freiheit, der persönlichen Selbstbestimmung, der eigenen Verantwortlichkeit. Und dieser Geist der Freiheit ist es, den die Jugend aus der Bekanntschaft
1 Ed. Meyer, Geschichte des Altertums, Band IV, S. 452. (Anmer- kung zu § 623.)
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und Freundschaft mit den Griechen erlernen soll. Zu diesem Zwecke schlage ich diese Schul-Reformation vor. Durch die Schule im Griechentum sollen auch die einfachsten, unerfahren- sten Kreise des Volkes, die durch Armut und harte Arbeit ver- hindert sind, ihren Geist zu bilden, geschickt gemacht werden, die Kirche, die Gemeinde, die dem Geist unserer Zeit widerspricht, zu entbehren, die freie, persönliche Religion, die allein noch berechtigt ist, zu ertragen. So kommen wir auf weitem Umwege zu unserem Ziele zurück. Von der falschen gebundenen Er- ziehung ist unser Volk zu befreien. Die Bibel muß abgelöst werden durch die Werke der Griechen. Diese müssen nunmehr unsere Volksbücher werden. Durch einen geheimnisvollen Ruck sind bei den Griechen plötzlich die orientalischen Ketten ab- geschüttelt. Hier steht eine neue Menschheit auf. Wenn man Thukydides und Piaton gelesen hat, wird es einem auf einmal wunderbar hell. Dann ist man gefeit gegen den Geist des Aber- glaubens, die Enge, die Gebundenheit. Man führt eine blanke Waffe mit sich gegen den umnebelnden Priester- und Gemeinde- geist, wie er im Orient heimisch ist, und ach auch noch immer drückend und beklemmend über unserem stolzen Volke lastet! In diesen freien griechischen Geist muß unser Volk eingesenkt werden. Hier muß es Wurzeln fassen. Dann können wir getrost rufen, der Wahrheit getreu und unserem tiefsten Herzen folgend: Tod der Kirche, Tod der Gemeinde! Dann brauchen wir nicht zu fürchten, daß wir mit dieser Losung unser Volk an einen Abgrund führen. Unser Volk ist durch das Griechentum er- zogen zur Freiheit. Denn was ist das Wesen der Freiheit? Nicht daß man einen Zwang abgeschüttelt hat, daß man fessellos, ankerlos hin und her schwankt, sondern daß man sich selbst gebunden hat, daß man auf einem Platze, in einer Anschauung des Daseins, die man sich selbst erwählt hat, feste Wurzel ge- faßt hat. Der freie Mensch ist nicht der haltlose Mensch, der ungebundene, sondern der sich selber bindende. Er hat sich selbst einen Schatz erobert, aus dem er sich für sein ganzes Leben speist. Er bedarf nicht mehr der Gemeindezügel, er hat sich selbst gezügelt. Er ist ein freier König seiner Seele geworden. Aus dem geistigen Sklaventum ist er in den geistigen Adel ein-
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getreten. So muß die seelische Verfassung unseres Volkes werden. Es gibt keinen anderen Ausweg als den Mut zu dieser Frei- heit, zu diesem Adel. Zu dieser Freiheit aber ist das Griechen- tum der einzige Weg. Nicht als ob das Griechentum etwas schlechthin Vollkommenes wäre. Wäre es das, so könnte es nicht erziehen. Ein vollkommener Meister bildet nicht. Gerade aus der Schwäche des Meisters zieht der Schüler seine Kraft. Ein Gott kann nicht erziehen, der kann nur blenden, töten. Der Mensch allein erzieht, der kämpfende, irrende Mensch. Nicht alles Einzelne, was je in Griechenland geschah, ist gut. Es gibt unter dem Herrlichsten dort gar viel des Schlimmsten. Aber der allgemeine Zug ihres Lebens, ihr Drang nach Freiheit, ihre Kraft zur Freiheit, ihr kirchenloses, persönliches Leben, wo jeder auf sich selbst gestellt war, wo nicht alle an die eine einzige Kette eines Gemeindeglaubens geschmiedet waren, alle gleichsam auf einer Schnur aufgereiht, wie Uhrwerke aufgezogen, die alle die gleiche Stunde weisen, sondern wo eine eigene Lebens- quelle in jeder Seele sprudelte — dieses freie stolze Leben, das ist das Große, das Nachahmenswerte. Daß auch wir dies Leben erlernen, dazu ist unser gesamtes Volk in die Schule der Griechen zu schicken.
Allerdings das Leben in der Freiheit ist schwer. Wenn die einzelne Seele nicht durch einen Gemeindeglauben gehalten wird, wenn sie auf das offene Meer hinausgewiesen wird, daß sie sich hier kämpfend ihr Reich und Eiland suche, wenn sich keine Kirche mehr schützend und bergend über den Geistern wölbt, wenn jeder einzelne zu einer freien Wahl seines Glaubens und seines Ideals gedrängt wird, so ist das Leben gefährlich geworden, und zwar nicht nur für die ungebildeteren Geister, sondern für alle. Es bleibt für den Höchsten eine schwere Last, für das ge- samte Leben mit all seinen Entschlüssen und dunklen Rätseln, die den Menschen drängen, die Verantwortung allein zu tragen. Es ist leicht, die Verantwortung für seine Lebensführung auf eine Gemeinde abzuwälzen, die ihren Gliedern einen festen Maß- stab für das Leben in die Hand gibt. Indessen, die stolze und vornehme Seele liebt das gefährliche Leben. Es wird ihr nur wohl, wenn rechts und links das Unheil lauert. Eine stolze
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und begabte Rasse kann das Leben nicht kleinlich nehmen. Sie muß immer einen Teil ihrer Glieder aufs Spiel setzen. Ohne diesen Mut, diesen Opferungswillen kann sie keine Größe er- langen. Wer zweifelt daran, daß, wenn wir die Gemeinde auf- heben und jeden in seinen tiefsten Nöten an ihn selber weisen, daß viele an dieser Freiheit scheitern werden? Aber mögen sie scheitern. Unser Volk kann nur stolze, königliche Menschen brauchen, die sich selbst befehlen können. Es ist nur zu wünschen, daß alle diejenigen untergehen, die da schwach und hilflos An- lehnung, Stütze brauchen. Von diesen Krüppeln soll unser Volk geheilt werden. Um einen Vergleich anzuführen: es ist mit der Freiheit der persönlichen Religion ähnlich, wie mit der akade- mischen Freiheit, in der wir unsere studierende Jugend auf- wachsen lassen. Kein Volk hat es je gewagt, die Jugend gerade in den entscheidenden Jahren, wo der Mensch seinen Charakter feststellt, seinem ganzen späteren Leben die bestimmende Rich- tung gibt, schlechthin auf sich selbst zu stellen, dem jugend- lichen Geiste die Verantwortung für das ganze fernere Leben allein zuzuschieben. Ohne Zweifel, das ist ein kühnes Wagnis, ein gefährliches Spiel. Wir wissen, wie viele Schwächlinge an dieser Freiheit zugrunde gehen. Und doch werden wir diese großartige Sitte nicht aufheben wollen. Wir müssen eben Jüng- linge aufs Spiel setzen, wie Herbart sagt, damit wir Männer bekommen. Und in einem tiefern Sinne muß dieser Grundsatz der Freiheit, der gefährlich ist, aber erzieht, auf die Gesamtheit unseres Volkes ausgedehnt werden. Ich habe vorher gesagt: die klassische Bildung für das ganze Volk. So möchte ich jetzt in einem tieferen Sinne des Wortes, indem ich an Stelle des Wissen- schaftlichen das Sittliche in den Vordergrund rücke, sagen: die akademische Freiheit für das ganze Volk! Im Geistigen, im innersten Seelischen sind alle auf sich selbst zu stellen. Diese Freiheit wird viele Opfer kosten; ich leugne es nicht. Aber dem Genius unseres Volkes ist an diesen Scheiternden nichts gelegen. Sie sollen ausgemerzt werden. Es werden nicht gar so viele sein. Denn ich glaube an die Kraft unseres Volkes, dieser Freiheit nicht zu erliegen. Ob andere Völker zu dem Gleichen imstande sind, das weiß ich nicht; das kümmert mich auch nicht; ich fühle
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mich nicht für sie verantwortHch. Unser Volk aber, glaube ich, kann, was ich hier von ihm fordere. Durch unsere Volksbildung, die die weitesten Kreise durchdringt, haben wir dieser Freiheit mächtig vorgearbeitet. Noch einenkühnen Schritt, und der Adel der Freiheit ist unserem Volke gewonnen. Auf einem neuen Grunde baut sich eine neue Zukunft.
Und wie wollen wir diesen Schritt vermeiden? Wenn wir die Kirche erhalten, wenn die Gesellschaft nach wie vor unter dem Druck des Staates, der wieder der gehorsame Diener der Kirche ist, jede Pflege des religiösen Lebens, jede sittliche Be- lehrung und Erziehung außerhalb der Kirche verpönt, was kann allein die Folge sein? Daß wir ganz ohne Religion leben. Da wir die Gemeindereligion verschmähen, da wir zur persönlichen Religion nicht den Mut haben, sondern das äußere Band, das uns mit der Gemeindereligion verknüpft, ängstlich wahren, so leben wir ganz ohne Religion. Ohne Obhut und Pflege leben die Seelen in trostloser Vereinsamung dahin, die sie allmählich er- frieren, erstarren läßt. Wie eine Leichendecke hat unsere feige Gesellschaft das Verbot der unkirchlichen Religion über die Seelen gezogen, und nun schmachten diese gebunden in ihren Fesseln vergeblich nach ihrer Erlösung. Nun härmen sie sich ab in stummer, schweigender Sehnsucht. Und gerade die besten, edelsten Seelen sind es, die hierunter leiden. Denn sie können nicht zur Gemeinde zurück. Ihnen gerade schnürt sich das Innere zu, wenn sich ihnen die Gemeinde mit ihren Gaben nähert. Sie können hier nicht mehr weiden, wo alle weiden. Sie wollen lieber hungern, als sich an Tische setzen, die mit jedermanns Kost gedeckt sind. So ziehen sie sich auf sich selbst zurück. In dieser Verlassenheit aber verkümmern sie. Denn aus sich selbst vermögen sie die Güter, deren sie bedürfen, nicht zu erzeugen. Ein anderer aber, der außerhalb der Gemeinde steht, darf sich ihnen nicht nahen. Die unkirchliche religiöse Lehre und Er- bauung ist mit dem Fluche belegt. Die besten und edelsten Menschen aber, die reichsten Seelen bedürfen am meisten der Erziehung und Pflege, wie schon Piaton gewußt hat. Sie sind den größten Gefahren ausgesetzt, da ihre reiche Natur ihnen jede Möglichkeit bietet. Es ist ein wahres Verbrechen unserer Ge-
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Seilschaft, gerade diese Geister durch die Parteinahme für die kirchliche Pflege der Religion gänzlich ohne Erziehung zu lassen. Eine ungeheure Kraft, unermeßlicher innerer Reichtum unseres Volkes wird damit vergeudet, im Keim erstickt. Und wunder- lich sind die krampfhaften Anstrengungen der Menschen, diesen Verlust, diese Öde auszugleichen. Woher die übertriebene Pflege der Kunst, zumal der Musik bei uns, wenn nicht deshalb, weil das leere Herz, das keine Religion hat, das nicht weiß, wo aus noch ein, hier Rettung sucht? Aber Töne, Farben, Linien können wohl für den Augenblick erquicken und beseligen. Bald aber ist die Not im Innern, die für eine Weile besänftigt war, wieder wach. Es fehlt der Kunst die letzte Klarheit und Wahrheit. Sie wirkt erst ganz, wenn sie eine Wahrheit, eine religiöse Anschauung voraussetzt, die sie verherrlicht. Nur das Wort er- baut, das Wort, das bis in die tiefsten Abgründe des menschlichen Daseins hinunter leuchtet, das nicht vor den schwersten Rätseln Halt macht. Wenn man uns dieses Wort abschneidet, oder wenn wir selbst aus Furcht vor der Gemeinde uns dieses Wort versagen, so hilft uns alles Suchen nach anderen geistigen Werten nichts. Die aber nicht bei der Kunst nach Erlösung suchen, wenden sich an die Wissenschaft. Es herrscht eine wahre Bil- dungswut, eine fieberhafte Gier, sich über alle Gebiete des mensch- lichen Wissens belehren zu lassen, und unsere Gelehrten kommen diesem Bedürfnis sattsam entgegen. Wie eine Flut ergießt sich der Schatz des menschlichen Wissens durch beredte Vermittler über die Allgemeinheit, die gierig, wahllos nach allem hascht. Aber dieser Reichtum nützt den Menschen nichts; er belastet sie nur, er verwirrt, zerstreut, schwächt sie nur. Uns tut die eine, einfache, beglückende Wahrheit not, die große Wahrheit, die sich nicht aus vielen kleinen Wahrheiten zusammen stückeln läßt, sondern die unmittelbar in den verborgenen Kern des Da- seins greift, die mit einem Strahl das Ganze erhellt. Daß diese höchste Wahrheit, an der uns allein liegt und nach der heute wieder alle fragen, gefunden werde, dazu müssen wir die hemmende Macht der Kirche brechen. Von dieser Fessel müssen wir uns frei machen. Wie sollen wir die Wahrheit finden, wenn wir sie nicht suchen? Bekennen wir nur unsere Armut. Heucheln wir
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nicht einen Reichtum, den wir nicht haben. Nur aus der Sehn- sucht wird das Genie geboren. Nur wenn wir ihn ständig rufen, wird er endHch erscheinen, der Bringer der großen Wahrheit, der heihge Winzer mit dem Winzermesser, wie Nietzsche ihn nennt, der die reife Traube der Wahrheit bricht, der große Löser, der Namenlose.
Und all das Schöne, das uns die Kirche geschenkt hat, es soll alles dahin sein? Denn niemals war die Kirche nur Lehre. Diese mag ein einzelner wohl ersetzen. Es scheint denkbar, daß freie Geister Töne finden, die uns tiefer zum Herzen dringen, während das starre Dogma der Kirche uns abstößt. Die Lehrer der Kirche sind an eine Wahrheit gefesselt: Ihr Wort kann im eigentlichen Sinne nie ihr Herzenswort sein; es kommt von außen zu ihnen und hallt nur aus ihnen zurück. Aber die Kirche ist doch nicht nur Lehre, sie ist doch auch eine reiche Kunst der Erbauung, an der viele Geschlechter gearbeitet haben, bis sie die wirksamste Form erfanden, das menschliche Herz zu erheben. All diese Gefühle aber, den Rausch der Erbauung und Erhebung, den der glänzende Kult der Kirche in uns erweckte, — wie soll uns das ersetzt werden? Dies alles ist doch nicht ein Nichts, das sich so leichthin aufgeben ließe. Dies kann allerdings die per- sönliche Religion nicht bieten. Diese Erbschaft der Kirche muß die Kunst übernehmen. Es ist ein allgemeines Gesetz, daß im Anfang der Geschichte noch viele Dinge zur Einheit miteinander verschmolzen sind, die sich später im Verlauf der Geschichte spalten, zu Besonderheiten ausbilden. Auch die Religion ver- bindet noch vieles, was sich später nur getrennt befriedigen läßt. Alle die mächtigen und starken Gefühlswellen, die die Religion mit ihrem Kult über die Seelen ergoß, muß jetzt die selbständig gewordene und befreite Kunst über sie ergießen. Hier müssen die Gefühle ihren Aufschwung nehmen. Und hier können sie es auch, nur noch in viel mannigfaltigerer und reicherer Weise als ehemals in der Religion, wo alle Gefühle nur auf einen Ton gestimmt waren. In Zukunft darf die Re- ligion oder die religiöse Lehre nichts als Lehre sein, nichts als Gedanke, der sich zu freiem Gebrauch den Seelen mitteilt. Es ist nicht nötig, daß sich dieser Gedanke in trockener Form der
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Seele mitteilt. Er kann sich warm den Menschen ans Herz legen. Aber nichts als das Wort kann die Religion hinfort noch verwenden. Das Wort allein kann für sie der mächtige Hebel sein, die Geister zu bewegen, zu erschüttern, zu trösten.
Aber vergessen wir hier nicht doch noch ein Wichtiges? Die Priester, die Leiter der Gemeinde, sind doch nicht nur die Lehrer der Gemeinde als solcher. Sie nahen sich doch auch persönlich jedem einzelnen in seinen bedrängten Stunden und immer, wenn sein Leben an einem Wendepunkt steht, wenn sein Leben einen großen geweihten Augenblick hat. Die Priester waren doch nicht nur Priester der Gesamtheit, sondern auch Seelsorger des einzelnen. Und wer soll dies Amt übernehmen? Allein dies Amt des Seelsorgers ist wohl für die reifen Menschen der schwerste Anstoß. Es stößt uns ab, wenn ein Redner als Redner einer Gemeinde zu uns spricht. Wir wenden uns ent- fremdet ab, wir wollen freie Lehrer, keine gebundenen Geister. Aber es verletzt uns, wenn ein solcher Redner sich auch noch in unser persönliches Leben eindrängt. Wenn unser Herz hoch wallt, wenn eine entscheidende Stunde in unserm Leben geschlagen hat, wenn der ganze Inhalt unseres Lebens sich in einen einzigen großen Augenblick drängt, wenn dann ein fremder Mann sich uns naht, der von unserem Eigensten, Innersten nichts kennt und ahnt, der uns mit Allerweltsreden abfindet, dann wird unsere Abneigung Feindschaft. Als Gemeinderedner war er uns lästig; jetzt hassen wir ihn. Er vergeht sich an unserer tiefsten Ehre. So muß jeder persönlich erstarkte Mensch, jeder, der überhaupt als erzogen gelten will, fühlen. Und so fühlt auch jeder, wenn auch niemand darüber spricht. Hier liegt das tiefste Übel der heutigen religiösen Sitten. Die allgemeinen Ergüsse der Priester von der Kanzel herab, die können wir meiden. Aber daß diese allgemeinen Tröster und Erbauer uns auch in den ernstesten Stunden unseres persönlichen Lebens auferbauen, stärken und stützen wollen, daß die gesell- schaftliche Sitte uns hierzu zwingt, uns nötigt, diese Be- lehrung über uns ergehen zu lassen — das ist schlimm. So ziehen unsere heiligsten Stunden kalt an uns vorüber. Es ist eine furchtbare Entbehrung, die wir uns hiermit auferlegen.
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In solchen Stunden bedürfen wir am meisten des erlösenden Wortes. Hier zeigt sich am deutlichsten die verheerende Wirkung der Gemeindereligion. Hier offenbart sich die ganze Wüste, die die religiöse Feigheit in den Seelen anrichtet. Und gerade die gediegensten, edelsten Seelen sind es, die hierunter seufzen. Sie empfinden den Einbruch des unberufenen Berufenen, den die Gemeinde ihnen schickt, am schmerzlichsten. Dieser Not- stand drängt am stärksten nach einer Reform. In dieser Verfassung darf das religiöse Leben nicht mehr eine Stunde bleiben, wenn nicht alles innere Leben, alles Sehnen und Quellen der Seelen absterben, erlöschen soll. Gerade in den ernsten und großen Stunden des Lebens, da d ü r f e n wir nicht ohne Nahrung bleiben, da m u ß das Herz sich öffnen, muß irgend ein heiliges Gut emp- fangen, ein erlösendes Wort aufsaugen, das die Seele über den erhaben furchtbaren oder überschwänglich glücklichen Augen- blick hinüberträgt. Hier die Seelen verstummen machen, hier den fremden, kalten Priester reden lassen, der ihnen nichts, nichts zu sagen hat, bei dessen Anblick schon ihnen jede Weihe des Augenblicks flieht, — es ist eine ungeheure Grausamkeit der Gesellschaft. Das muß sich ändern, wenn wir nicht alle in der Armut, im gänzlichen Nichts versinken sollen, wenn nicht die letzte Stunde unserer Kultur, unserer Bildung schlagen soll. In dieser Frage kommt der ganze Ernst der Lage zum Ausdruck. Leben oder Sterben, das steht hier zur Entscheidung. Aber wer soll die Seelsorge übernehmen, wenn wir den Priester verschmähen ? Das kann hinfort nur der Freund. Wenn du etwas Großes er- lebst, wenn irgend ein Fest in deinem Leben erscheint,ein düsteres oder ein schönes, wenn dein Herz sich öffnen will, wenn du im Gedränge deiner hochgehenden Gefühle eine Erlösung brauchst, so rufe den Freund. Sein stammelndes Wort wird dir mehr sein als die glatte Rede des Priesters. Laßt doch den fremden Mann nicht über die Schwelle kommen! Weist doch dem fremden Manne die Tür! Unsere Feste sollen persönlich sein. Kein Fremder soll ihnen die persönliche Weihe rauben. Wohin wir auch blicken, die persönliche Religion kann allein uns noch retten. Sie allein kommt uns ganz aus dem Herzen, wurzelt im tiefsten Grunde der Seele. Sie tut uns nicht weh, während
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die Gemeindereligion mit ihren Sitten und Gebräuchen unser Herz bricht und tötet. Persönliche Religion, — es ist ein Schrei aus der tiefsten Not heraus. Unzählige darben, hungern, da die Gemeindereligion ihnen das Tor zu ihrem Glück verschließt. Brechen wir endlich diese Ketten! Suchen wir unser Leben! Das Leben ist so kurz, lassen wir uns das Schönste, Heiligste, Seligste nicht vor den Lippen fortrauben. Laßt uns unser Glück kosten. Die Freiheit, wenn die Seele lebt, wie sie leben mag und leben soll, diese Freiheit schmeckt so süß. Warum kosten wir sie nicht? Warum hemmt uns Menschenfurcht? Schlagen wir endlich die Tür der Kirche hinter uns zu! Scheiden wir! Machen wir einen großen Schnitt. Und uns dämmert ein neues Leben auf, mit einer neuen Schönheit, einer neuen Seligkeit. Wen aber alles dies noch nicht überzeugt, den verweise ich darauf, daß, was ich fordere, die Wahrheit ist. Es gibt keine Offenbarung. Das ist durch eine unermeßliche Fülle von Be- weisen erhärtet; das predigt die Wissenschaft mit tausend Zungen. So kann es auch keine Gemeinde mehr geben. Wer aber das dennoch behauptet, der trete auch offen hervor und sage, daß dem Leben die Lüge nötig sei, daß das Leben auf der Lüge sich gründen müsse. Klügeleien fruchten heute nichts mehr. Die Zeit ist viel zu ernst, es steht zu viel auf dem Spiele, als daß wir uns noch Klügeleien gestatten könnten. Für Spitzfindig- keiten, da man sich mit listigen Erwägungen um die Not unserer Lage herum redete, ist die Zeit vorbei. Uns kann nichts mehr helfen als die einfache, schlichte, nackte Wahrheit. Und diese Wahrheit sagt, daß die Offenbarung widerlegt ist, daß also die Religion nur noch frei, unsichtbar, von Person zu Person wirken kann, daß sie aus dem Allgemeinen ins Persönliche übersetzt werden muß, daß sie nur noch in den einzelnen Seelen wohnen kann und in jeder Seele anders, überall so, wie es gerade diese Seele liebt. Das ist die Wahrheit. Also müssen wir danach leben. Oder sollten wir uns wirklich entschließen, mit der Lüge zu leben, auf der Lüge das Leben aufzubauen? Davor graut mir. Man wähne nicht, daß ich die Gefahr der neuen Losung der persönlichen Religion unterschätze. Es gehört Mut dazu, die Kirche aufzuheben, alle oder möglichst viele Seelen ganz
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auf sich selbst zu stellen. Es gilt als eine allgemeine Weisheit, auch bei den Philosophen, leider!, dem Volke müsse die Religion erhalten werden. Wenn wir jetzt sagen, o nein! dem Volke muß die Religion genommen werden, — wie sollte nicht Mut zu dieser Losung gehören! Aber weit gefährlicher dünkt es mich noch, in der Lüge zu leben. Gehen wir auf jenem Wege viel- leicht zugrunde, mit der Lüge gehen wir gewiß zugrunde. Nun die Menschheit das neue Land des Lebens, wie sie es leben müßte, erkannt hat, nun m u ß sie hinüber, und mag es sie noch so sehr schaudern. Denn wagt sie diesen Schritt nicht, so nimmt sie die Lüge in sich auf, und an dieser Lüge verzehrt sie sich. Die Lüge rettet nicht, die Lüge tötet. So lange wir die Unschuld hatten im Glauben an Offenbarung, da konnte das Leben auch mit diesem Irrtum gedeihen. Nun uns aber diese Unschuld genommen ist, nun wir das gebundene Leben nur noch mit bösem Gewissen leben können, nun richtet es uns zugrunde. Wer lügt, hat seine Sicherheit verloren. Er stürzt in Bälde. Der Widerspruch in seiner eigenen Seele tötet ihn. Ihm ist die Kraft genommen, da er nicht mehr als Ganzes lebt und wirkt. Wohl werden auch ferner noch viele im gebundenen Geiste leben und leben müssen. Alle die wirklich und ehrlich an Offen- barung glauben, wollen wir nicht stören. Wir können es auch nicht. Diese sind für uns unangreifbar. Wir wenden uns an alle diejenigen, die nicht mehr an Offenbarung glauben. Nie- mand soll hinfort mehr heucheln. Sind die Menschen inner- halb eines Volkes und einer Kulturgemeinschaft so verschieden, daß der eine an Offenbarung glaubt, der andere nicht, so muß das auch offen zum Ausdruck kommen. Bei der Heu- chelei, als glaubten wir alle an Offenbarung, wie der einfachste Gebirgsbauer, hierbei kommt nichts Gutes heraus. Der furcht- bare Riß, der durch unser Volk hindurchgeht, die tiefe Entfrem- dung, die die unteren Volksschichten gegen die führenden Stände empfinden, hat ihren gewichtigen Grund mit in der schamlosen Heuchelei der Gebildeten. Das Volk fühlt sehr genau wie die Kinder Lüge und Wahrheit heraus. Und naturgemäß folgert das Volk: lügen die Regierenden hier, so lügen sie überall. Damit ist das Vertrauen überhaupt dahin. Wenn wir fortfahren, ohne
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Ernst und ohne Charakter zu leben, so steuern wir rettungslos dem Untergang zu. In der furchtbaren Wahl zwischen Lüge und Freiheit müssen wir die Freiheit wählen. Das ist ein eiserner Zwang. Die Lüge ist die schwerste Gefahr. Möchten das doch viele begreifen lernen. Möchten sich doch vielen Auge und Sinne öffnen. Und möchten doch viele ein tapferes Herz haben, was sie begreifen, auch auszuführen.
Aber scheint nicht jede Hoffnung auf dieses freiere Leben, wie ich es anpreise, vergeblich, da unser Staat Einspruch erheben wird? Steht nicht das ganze Bild der geistigen Zukunft, wie ich es hinmale, in schroffem Widerspruch zu den Grundsätzen, nach denen unser Volk regiert wird,'' Scheint es nicht, als ob wir das neue Leben nur um den Preis eines neuen Staates erkaufen könnten? Und wird unser starker Staat sich nicht mit aller Macht gegen diese Entwicklung zur Wehr setzen? Freilich, nach allem, was heute geschieht, zu schließen, wird der Staat dies tun, in der Furcht, daß hierbei seine eigene Existenz auf dem Spiele steht. Aber ich bin der festen Überzeugung, daß diese Furcht gänzlich unbegründet ist, daß innere Freiheit und straffe, äußere Zucht, das Kennzeichen unseres Staates, sich wohl miteinander vertragen, ja geradezu einander fordern. Ich gestehe, ich bin ein, fast möchte ich sagen, schwärmerischer Verehrer unseres Staates und der in ihm zur Geltung kommenden Grundsätze, in denen ich die stärkste Bürgschaft unserer Zu- kunft sehe. Ich gehe so weit zu behaupten, daß unser Staat der trefflichst-verwaltete ist, den die Geschichte überhaupt kennt, in Vergangenheit wie in Gegenwart. Und an dieser genialen Schöpfung unseres Volksgeistes, glaube ich, hat die Monarchie den stärksten Anteil. Und auch für die Zukunft, glaube ich, hängt unser ganzes kräftiges politisches Leben allein an der Monarchie, die uns diesen stolzen Staat geschenkt hat. Mit der Monarchie wird unser politisches Leben, unsere staatliche Kraft stehen und fallen. Aber diesen strengen Staat, der die Menschen zu straffer Geschlossenheit und einhelligem, gemeinsamen Handeln erzieht, können nur innerlich freie Menschen ertragen. In der inneren Freiheit und Ungebundenheit, muß die äußere Gebundenheit, der äußere Zwang sein Gegengewicht finden. Oder dieser Staat
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erzieht nur Sklaven und Sklaven beugen sich, aber sie werden nie- malsHelden. Nur der freie Gehorsam erzieht die starken Menschen, die Krieger, auf die sich bauen läßt. Deshalb hüte sich unser Staat Gehorsam dort zu fordern, wo er ihn nicht fordern darf, wo er in die innere Seele greift. Oder er gräbt sich selbst das Grab, er geht an seinem eigenen großen Sinn und Stil, indem er sein Wesen übertreibt, zugrunde. Im ,, Dienste", dort wo die Menschen gemeinsam handeln sollen, wo sie ein einheitliches Werk voll- bringen sollen, da mögen sie angehalten werden zu strenger Zucht. Hier fordere man jedes Opfer; hier lerne sich jeder dem gleichen, allgemeinen Zwecke fügen. Aber was darüber hinaus liegt, was persönlich ist, was das gemeinsame Handeln nicht unmittelbar berührt, da lasse man die höchste Freiheit walten. Sonst werden die Menschen durch die Zucht zu Staub zermahlen, sonst sterben sie ab in Fesseln, die ihnen die innerste Seele zer- drückt. Nur die schrankenlose innere Freiheit kann der äußeren Bindung die Wage halten. Das wird ein weiser Erzieher so mit der Jugend halten, wird Gehorsam fordern, wo Gehorsam nötig ist, wird aber die Jugend, wo ein einhelliges, gebundenes Ver- halten nicht vonnöten ist, sich in voller Freiheit tummeln lassen. Und so wird es auch der weise Staatsmann mit dem ganzen Volke halten, wird Zucht und Ordnung im äußeren Leben fordern, die Seelen aber wird er frei lassen, damit sie die Spannkraft behalten, den notwendigen Druck des Zwanges zu tragen. In der inneren Freiheit heilt sich die Seele wieder vom Druck der Zucht. Ein Volk kann an der Gebundenheit zugrunde gehen, es kann auch an der Freiheit zugrunde gehen. Griechenland ist für beides ein lehrreiches Beispiel. Athen ging an seiner Freiheit zugrunde, Sparta an seiner Gebundenheit. Wir müssen beides werden, Athen und Sparta zugleich, beides im rechten Maße. Es war ein einziges Glück, daß der stärkste, straffste Staat die Herrschaft in unserem Volke errungen hat. Aber nun gehe er nicht zu weit. Das Preußentum darf uns das Deutschtum nicht erschlagen. Seien wir alle Hüter des Deutschtums, dessen tiefstes Wesen die Freiheit ist. Opfern wir nicht dem Preußen- tum das edlere Deutschtum. Möge der Geist des Großen Friedrich über uns schweben. Dieser war ein strenger Soldat und doch
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zugleich ein freier Geist. Wir brauchen tapfere Fürsten. Fürsten, die Furcht haben, kann das deutsche Volk nicht gebrauchen. Furcht muß unsern Fürsten und Staatsmännern fern sein, aber nicht nur Furcht vor dem äußeren Feinde, sondern Furcht auch vor dem eigenen Volke. Bangen sie nicht vor dem deutschen Geist! So kühn dieser Geist auch ausschreitet, er wird ihnen niemals gefährlich werden, je reifer der Mensch, um so mehr wird er die Notwendigkeit der Unterordnung, des Zwanges, des starken Staates begreifen. Wann waren je die freien Denker Revolutionäre? Sie waren alle, ohne Ausnahme, Anhänger der Ordnung, der Einzelherrschaft. Nur von der Halbbildung, die heute herrscht, ist etwas zu fürchten, nie von der wirklichen Bildung. Das lasse sich unser furchtsamer Staat gesagt sein. Die halbe Bildung aber kann man nicht überwinden durch Zurückdrängen und Zurückdämmen. Sie kann nur geheilt werden durch die volle, ganze Bildung, die sich an ihre Stelle setzt: Bildung so verstanden, wie ich sie verstehe, nicht als Wissen, sondern als Einsicht, Weisheit. Der heutige Zustand, daß der Staat dem Geiste die Bahn vorschreiben will, daß er in ihm ein Unheil wittert, daß er ihn überall hemmt und zwängt, dieser Zustand ist unerträglich. Gern beugen sich die Männer des Geistes vor den Männern der Macht. Denn das Regieren ist eine schwere Pflicht, die sie ihnen nicht beneiden. Aber sie müssen ,,Hand weg" rufen, wenn die Männer des Staates ihnen in ihre Arbeit pfuschen. Fürsten und Staatsmänner dürfen dem Geiste nicht gebieten wollen, sie haben vielmehr andächtig und demütig zu lauschen, wenn der deutsche Genius seine Schwingen regt. Hier sind andere die Herren. Wie unser Volk geistig leben und weben muß, das können nicht die Staatsmänner wissen, das können nur die Philosophen wissen, von denen jene es dankbar lernen sollen. Mögen unsere Staatsmänner die Angst und den Kleinmut ablegen. Möge der Alpdruck von unserem Volke genommen werden, den die Feindschaft des Staates wider den Geist über uns gewälzt hat. Man gebe uns die Freiheit zurück, die man uns genommen hat; und unaussprechlicher Dank wird unserem Staate folgen. Er wird ganz neu gefestigt sein. Aber mit der Feindschaft wider den Geist und die Wahrheit
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Spielt unser Staat ein gefährliches Spiel. Es ist nicht auszu- denken, wohin diese Bahn noch führen kann. Es ist unverkenn- bar, daß unser Volkstum schweren Zeiten entgegengeht. Überall zieht es sich wie ein drohendes Unwetter um uns zusammen. Nach den Kämpfen im Innern, die uns in den letzten Zeiten ausschließlich in Atem gehalten, müssen wir wieder den Blick nach außen wenden. Unser Leben steht wieder einmal auf dem Spiel. Die sozialen Fragen müssen wieder zurücktreten hinter die große nationale Frage, ob und wie weit wir unseren natio- nalen Stand behaupten werden. Darum sage ich: ,, Rüsten wir!". Aber rüsten wir nicht nur mit Schiffen und Kanonen, obschon auch dies nötig, bitter nötig ist, sondern rüsten wir auch mit der Wahrheit, Wahrhaftigkeit, mit dem Geist, der Tugend. Das letzthin Entscheidende im Menschenleben, im Leben der einzelnen wie im Leben der Völker, sind die moralischen Kräfte. Der seelisch Stärkere siegt. Der Mensch ist Geist und nichts als Geist. Nur wenn wir uns von der Lüge reinigen, können wir getrost in die Zukunft schauen. Es war in der Zeit des tiefsten äußeren Verfalles unseres Volkes, als Fichte in Berlin die Deut- schen auf ihren Geist verwies, als auf das einzige Mittel der Rettung. Heute, wo alles im Glücke schwimmt, kann sich ein Philosoph nur schwer Gehör schaffen, wenn er unser Volk zur inneren Reinigung und Wahrheit aufruft. Und doch war eine geistige Wiedergeburt niemals erwünschter, niemals dringender als in dieser scheinbar so glücklichen, glanzvollen Zeit. Denn noch ist es Zeit; noch ist der Tag nicht da, wo es sich um alles handelt, der Tag, der nicht ausbleiben wird, der jeden Morgen erscheinen kann. Deshalb raffen wir uns schnell zu Taten auf, so lange uns Frist gegeben ist. Reißen wir das Nessus- gewand der Lüge von dem Leibe unseres Volkes. Die Lüge einmal gestattet, an einer Stelle zugelassen, dringt ver- zehrend in den ganzen Volkskörper. Noch ist unser Volk gesund, noch lügt es nur in der Religion. Aber die Religion ist das Heiligste, und hier die Lüge zum Gesetz erhoben, vergiftet sie schrittweis das ganze Leben. Ich rufe laut, nachdrücklich, da es die Wahrheit erfordert: ,,Los von der Kirche, los von der Gemeinde!". Das erst ist die wahre Reformation. Die erste
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Reformation war nur ein Anfang, ein erstes Sturmläuten, ein Versprechen. Halten wir dieses Versprechen. Nur wenn wir die Kirche ganz aufheben, wenn wir ihr völlig absagen, dann erst kehren wir heim zu unserem wahren Wesen, dann erst stellen wir unser eigenstes religiöses Leben wieder her. Eitles Bemühen, die Kirche dem deutschen Geiste anzupassen! Das war von Anbeginn ein halber Versuch. Die Kirche und der deutsche Geist, der der Geist der Freiheit ist, widerstreiten ein- ander. Hier gibt es kein Band, keine feige Versöhnung, nur eine reinliche Scheidung. Die Kirche gehört nach Asien, treiben wir Asien aus Europa aus. Das ist der einzig klare Entschluß. Für asiatische Sklaven mag der gebundene Geist die rechte Form gewesen sein, und noch sein. Unser Volk aber ist, wie das grie- chische, zu edel, zu frei geboren, um diese Fessel tragen zu können. Bei uns will jeder seinen Geist, sein Herz für sich. Keine ge- pferchte Herde, sondern ein frei schweifendes, suchendes, erobern- des Volk, — das sei das Bild desgeistigen Lebens. Darum heraus ihr starken Herzen, die ihr die Lüge nicht mehr ertragt, die ihr seufzt unter dem Joch der Gebundenheit, die ihr Heimweh emp- findet nach unserem eigenen Reich, nach unserem wahren Sein, das uns durch schimpfliche Fremdherrschaft geraubt ward, heraus zum Kampf, zur Freiheit! Das Leben läuft uns allen meist in gleicher träger Stille hin. Nie erscheint eine große Tat, nie wird eine große Tat von uns gefordert. Aber dann plötzlich, ehe es sich die Zeit versieht, sind wir vor die größte Entscheidung ge- stellt. Jeder ist auf einmal zu einer weltgeschichtlichen Tat berufen. So im politischen Krieg. Wenn der Donner der Schlacht beginnt, muß ein jeder ein Held sein. Dann trägt jeder einzelne die ganze Last der Verantwortung für eine unbegrenzte Zukunft auf seinen Schultern. Und so auch im Geisterkriege. Es ist uns lange erlaubt, in der gewohnten Weise der Väter fort- zuleben. Aber auf einmal werden wir durch den Drang der Ereignisse aufgerufen. Die Zeit ist in der Stille gereift und nun heischt sie plötzlich von jedem eine ganze Tat. Dieser Augen- blick ist jetzt gekommen. Wer sich heute von der Kirche los- sagt, wer hier den Krieg erklärt, tut eine weltgeschichtliche Tat, der erkämpft Europa die alte eingeborene Freiheit zurück, der
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hilft an seinem Teil mit ein furchtbares Joch der Fremdherrschaft abschütteln. In dem Entschluß jedes einzelnen drängt sich heute alle Vergangenheit und alle Zukunft zusammen. Du hast das Schicksal aller Enkel in deiner Hand. Schaudern wir nicht vor dieser Pflicht zurück. Preisen wir unser Schicksal, daß es uns hinaushebt aus dem flachen Gerinnsel eines alltäglichen Daseins, daß es uns zu Streitern beruft in der letzten Entschei- dungsschlacht. Ich frage jeden spät und früh: ,, Glaubst du an Offenbarung?" Auch aus der Ferne noch, wenn lange mein Wort verhallt ist, frage ich ihn in heimlicher Stille. Mein Wort tönt ihm nach; er kann ihm nicht entfliehen. Also frage ich ihn. Wenn du an Offenbarung glaubst, wenn du ein Unfreier bist, ein Gebundener, wenn du die Ketten willst, den festen Reif um die Geister, dann nenne ich dich niederer Abkunft; du bist ein Hemmschuh deinem Volke, und ich ärgere mich deiner. Du bist unschuldig und kein Verbrecher; aber es wäre deinem Volke besser, du wärest nie geboren. Bist du aber frei, erkennst du, daß es keine Offenbarung gibt, bekennst dich aber nicht zu dieser Freiheit, sondern heuchelst die Gebundenheit und mischest dich unter die Unfreien, als wärest du ihresgleichen, damit sie dir nicht zürnen, so gehe hin mit meiner Verachtung. Du bist ein Verbrecher, und ich rufe die Schuld der Verküm- merung und Entartung deines Volkes über dich und dein Haupt.
Aber hängt alles dies nicht an einer einzigen Frage, ob wirklich neue, führende Geister erscheinen werden? Sollen alle, die sich von der Gemeinde abtrennen, die den Mut zur Freiheit und Einsamkeit haben, hinfort zum Nichts, zur inneren Wüste ver- urteilt sein? Denn aus sich selber können sie die Rätsel des Lebens nicht lösen. So leben sie ohne Führer verlassen dahin. Aber fürchten wir uns nicht. Glauben wir an den Genius unse- res edlen Volkes, der diese so heiß ersehnten Männer erzeugen wird zur rechten Stunde. Wenn wir zurückblicken in die Geschichte des deutschen Geistes, wenn wir bedenken, was unser Volksgeist bisher an Dichtern, Künstlern, Denkern erzeugt hat, wie sollten wir zweifeln, daß er uns auch religiöse Führer schenken werde, die uns ein Turm werden können im Schwall des Lebens? Hat er uns doch auch zum rechten Augenblick den großen Staats-
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mann geschickt, der uns den deutschen Staat gebaut hat, und nie zuvor war der Deutsche ein Staatenkünstler. Aber in allen Welten der Seele, da war er von jeher heimisch. Hier haben wir schon so manches Land durchwandert. Darum, erkennen wir ein neues Ziel, wie sollten tapfere Geister nicht auch hierzu die Wege finden?
Aber eine tiefe Enttäuschung, fürchte ich, wird jeden befallen, wenn ich nur auf die Zukunft verweise. Wir halten es in dieser Dürre und Armut nicht länger aus. Wir wollen etwas unmittelbar Greifbares in Händen haben. Ich weiß, ich kann das Ersehnte nicht bieten. Aber ich will auch nichts verschwei- gen. Mich heißt die Not der Zeit die Lippen öffnen. Was ich mir über die letzten Dinge zurechtgedacht und ausgesponnen habe, das will ich nicht für Raub halten, sondern freimütig mitteilen in der letzten Rede: ,,Der Mensch als Schöpfer, die Religion des neuen Heidentums",
Horneffer, Das klassische Ideal. '^I'^
III.
DER MENSCH ALS SCHÖPFER, DIE RELIGION DES NEUEN HEIDENTUMS.
Wir nahen uns dem schwierigsten Teil unserer Aufgabe, zu- gleich aber dem, an welchem uns am meisten liegt. Denn alles, was ich bisher ausgeführt habe, bleibt ohne Sinn und Inhalt, es fehlt die Krönung, wenn ich nicht religiöse Gedanken selbst mitzuteilen weiß, die uns beglücken. Nach diesen lechzt unsere Seele wie nach ihrer nötigsten Nahrung. Wie die künftige Form des religiösen Lebens sein muß, mag mancher wissen. Alles, was ich in meinen beiden ersten Reden gesagt habe, konnte jeder sagen. Ein wenig Ehrlichkeit — und jeder mußte als Wahr- heit erkennen, was ich dort ausgeführt habe. Ich fühle keinen Stolz darob. Auch steht mir alles dort Gesagte felsenfest. Die Menschheit wird traurig verkümmern, wenn sie nicht den Weg ein- schlägt, den ich ihr gewiesen habe. Aber ich bange und zage, nun ich von der Religion nach ihrem Inhalte reden soll. Hier muß ich eine ganz andere Scham überwinden. Und nur der Umstand, daß unsere Zeit so schmerzlich nach neuen, befreienden Gedanken über den Sinn des Lebens darbt, kann mich bewegen, hierüber mich auszulassen. Ich weiß zu gut, was es heißt, an die höchsten Fragen heranzutreten, sich vor die letzten Rätsel des Lebens zu stellen und nur eine einigermaßen befriedigende Lösung zu geben, daß wir für einen Augenblick das Fragen einstellen. Aber nach dieser Beruhigung verlangt die menschliche Seele. Es hilft nicht,
Die künftige Religion. III.
die Blicke abzuwenden. Immer wieder gähnt vor uns der Ab- grund der Ewigkeit. Wir beben solange, bis wir uns diese finstere Höhle erleuchtet haben und ohne Schauder hinunter- blicken.
Nur auf dem Hintergrunde des großen, umfassenden Daseins kann dem Menschen das Leben wert werden. Der tiefe Einklang nur, den er seinem Leben mit dem allgemeinen, allgewaltigen Sein gibt, kann in seiner Seele Hochgefühle erwecken. Dann nur kann die große Begeisterung über ihn kommen. Der Mensch muß das ganze All in sein Gefühl nehmen, muß gleichsam die Unendlichkeit aufsaugen. Das leiht seiner Seele erst volle Schwungkraft, das verdoppelt, vertausendfacht seine Stärke und Leidenschaft. Nie hat ein solcher Mensch zuvor gewußt, was er an Kraft, an Wille in sich barg. Sein eigenes brausendes Herz erweckt ihm Schauder. Er ist über sich selbst hinaus gehoben. Ohne dieses Band mit dem Unendlichen fühlt sich der Mensch als ein verrinnendes, verstoßenes Atom des Alls. Er ist abge- sprengt vom großen Dasein und so zerhackt er sein Leben, für das er keinen Sinn mehr begreift, das ihm ein Spiel, ein Nichts ward, in lauter kleine wertlose Stücke. Das Tier und alles, was unter Menschen Tieres Art ist, mag mit kurzen Freuden und Lei- den dem Augenblicke leben. Der Mensch bedarf ein Größeres. Er muß sein Leben als Ganzes gestalten. Dies aber kann er nur, wenn er es an das große Leben angliedert. Er muß alle Bäche des Seins in seine Seele leiten, daß sie hier mit- und weiterströmen. Schränkt er sich in seinen nächsten Grenzen ein, stellt er sich nur auf sich und genießt, was der Tag ihm bringt, so stirbt er als Glied dem großen Dasein ab. Seine Würde als Mensch hat er preisgegeben. Zwar die höchsten Fragen türmen sich vor uns wie fürchterliche Ungetüme auf. In unnahbarer Hoheit blicken spöttisch diese erhabenen Rätsel auf uns herab, daß Ehrfurcht und Zweifel das Herz lähmen. Und dennoch, will der Mensch nicht ganz auf sich verzichten, muß er es wagen diese hehren Göttinnen anzugreifen. Nur auf dem Untergrunde der ganzen Welt kann der Mensch sein Leben erbauen. Will der Mensch die Welt bemeistern, will er das All gewinnen, so mag er wissen, daß er etwas Unmögliches will, und dennoch muß er es wollen.
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Zweiter Teil.
Mag das mühsam errichtete Gebäude des einen Geschlechts immer wieder in sich zusammenstürzen, das nächste Geschlecht muß von neuem an das große Werk gehen und ein anderes gründen. Nie kann der Mensch für die Dauer in der Welt als Heimatloser schweifen. Er bedarf letzter Begriffe, letzter Wahrheiten, auf denen er ausruht. Und so schreiten wir denn ans Werk. Suchen auch wir wieder zum tiefsten Lebensquell vorzudringen. Wir wissen, daß wir damit nach Unerreichbarem streben. Aber es treibt uns unaufhaltsam vorwärts. Und langsam, langsam nähern wir uns vielleicht dem Ziele. Zaghaft und mutig, de- mütig und stolz greifen wir wieder nach der Krone der Menschheit. Kämpfen wir wieder den Kampf mit dem Drachen Ewigkeit. Wenn wir ihn nicht erlegen, können wir ihn vielleicht für eine Weile verscheuchen. Der Mensch muß wieder freier atmen ange- sichts des großen Lebens. Hoffnung soll wieder bei ihm ein- kehren. Er muß wieder Mensch sein, was Mensch sein heißt.
Aber wie finden wir nun den Schlüssel zum Leben, das Ver- ständnis für das geheimnisvolle Allleben, das uns immer umwebt und uns doch so fremd, so dunkel bleibt? Hier ist schon viel gewonnen, wenn wir wenigstens wissen, wie das Wesen des Daseins jedenfalls nicht ist, welche Richtungen des Denkens uns abgeschnitten sind, daß wir sie nicht weiter verfolgen können. Diese Einsicht des Irrtums öffnet uns vielleicht das Auge für die Wahrheit, für den Weg, auf dem wir bessere Früchte brechen können.
Hier ist zu sagen, daß das alte Weltbild, wie es uns überkom- men ist, der Glaube an einen Gott, sei dieser nun über der Welt oder ausgegossen in der Welt, uns nicht mehr zusagt, daß diese Auffassung vom Weltwesen mehr und mehr schwindet. Eine bewußte, überlegte, planmäßige Schöpfung und Leitung der Welt, ein durchweg sinnvoller Aufbau des Weltganzen ist uns nicht mehr glaubhaft. Auf den Gedanken der bewußten Weltschöpfung konnte man nur verfallen, wenn man die Welt als fertig vor sich sah, wenn man die Welt in ihrem letzten Ergebnis, so wie sie sich jetzt dem Blicke des Menschen darbietet, betrachtete. In diesem reifen, späten Zustande allerdings mußte die Welt wohl auf den unbefangenen, durch Wissen und Er-
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fahrung nicht belehrten Geist den Eindruck eines vernünftigen, weise angelegten, weise durchgeführten Werkes machen. Und die ersten Ergebnisse der Wissenschaft schienen diese Annahme nur zu bestätigen. Als man einen Einblick gewann in das Ge- triebe der Natur, in die unabänderlichen, stetigen, harmonischen Gesetze der Natur, da erst glaubte man das Wirken und Schaffen Gottes recht zu erkennen, hier glaubte man ihn unmittelbar am Werke zu sehen. Hier, meinte man, könnte man seine Tätig- keit und also auch seine Existenz mit Händen greifen. Und so konnte man wohl, vom Anblick dieser anscheinend so weisen und erhabenen Wirklichkeit berauscht, den Traum von der besten aller möglichen Welten träumen. Da konnte man recht schwelgen in der Bewunderung des allmächtigen Urhebers und Schöpfers der Dinge. Aber auf diese begeisterte Schwärmerei folgte ein jäher Rückschlag. Wir haben das Auge abgewendet von der seienden, fertigen Welt. Wir haben einen Blick ins Werden getan. In der Wissenschaft hat sich ein völliger Umschwung vollzogen. Die Wissenschaft ist heute nicht mehr bloß eine beschreibende, sondern eine erzählende. Nicht wie die vorhandene Welt beschaffen ist, erregt heute in erster Linie unsere Wißbegier, sondern wie sie geworden ist, wie sie sich baut, erzeugt, entwickelt, wie ein Zustand aus dem andern gefolgt ist, wie die Welt gewachsen ist. Die Erkenntnis ihrer vorhandenen Eigenschaften gilt uns nur als die Voraussetzung, die Vorbedingung der tieferen und wert- volleren Einsicht, wie sich die Welt zu dem, als das sie heute sich gibt, entfaltet hat. Diese Betrachtungsart hat das ganze alte Weltbild umgeworfen. Wir sehen jetzt in die geheime Werk- statt der Natur. Und hierbei müssen wir wahrnehmen, wie oft die Natur in die Irre geht. Die edelsten Bildungen, die die Natur mit großer Anstrengung hervorgebracht hat, werden oft schmählich wieder vernichtet. Umgekehrt, das Unedle, Ge- meine und Schlechte, das den Gang der Entwicklung hemmt, besteht häufig über Gebühr lange und führt eine freche Herr- schaft. Wir sehen die Natur vielfach mit den plumpsten Mitteln wirken. Die wichtigsten, bedeutsamsten Angelegenhei- ten, wie z. B. Fortpflanzung und Zeugung, sind vielfach dem
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rohesten Zufall überlassen. Wir müssen auf ein tiefes Unver- mögen der Natur schließen, wenn wir sehen, daß sie oft nur auf weiten Umwegen ihr Ziel erreicht. Gewiß, ein Streben liegt in der Natur, ein Streben nach aufwärts, ein Wille zum Höheren — wir werden noch näher prüfen, was dieser Wille zum Höheren ist — aber sie kommt nur mühsam vorwärts. Sie schweift oft auf kostspielige Seitenpfade ab. Sie ächzt und keucht bei ihrem Gange. Hilflos, sich selbst überlassen ringt sie mit schweren Widerständen, die sie in ihrem Schöße birgt. Nein, kein ver- nünftiger, einsichtiger Geist hat diesen Lauf geleitet. Schon nach menschlichem Ermessen hätten unzählige Ziele auf viel einfacherem, geraderem Wege erreicht werden können. Welche bodenlose Verschwendung herrscht im Haushalte der Natur! Welche Verheerungen brechen oft über die zartesten Schöpfungen der Natur mit entsetzlicher Gewalt herein! Und doch liegt der Natur an solchen Bildungen. Denn sie würde nicht so viel Kraft und Mühe aufwenden, um sie hervorzubringen. Hat sie sie aber erreicht, hat sie aus ihrem Schöße edle Kinder geboren, so kann sie sie oft nicht retten. Sondern sie selbst, mit anderen Kräften, schlingt sie wieder vorzeitig in ihren Schoß hinein. Das Dasein gewährt vielfach einen chaotischen Anblick. Es ist oft, als blickten wir in einen unheimlichen Hexenkessel hinein. Durch die Natur schreitet oft mit wuchtigen Schritten die Tragödie und läßt ihre entsetzensvollen Spuren zurück. Gewiß, auch viel staunenswert Zweckmäßiges bringt die Natur hervor. Sie erreicht oft ihr Ziel, und eine Gesamtabrechnung, ein Überblick des Ganzen kann uns nur die höchste Bewunderung vor den mächtigen Ge- staltungskräften der Natur abnötigen. Aber diese Seite ist nur die eine Seite der Natur. Ihr steht ein schlimmes Gegenstück gegenüber, das man nicht vergessen darf. Nicht ohne triftigen und tiefsinnigen Grund hat die ältere Zeit, die noch fest und ehrlich an Gott glaubte — heute tut das selbst der Frömmste nicht mehr, er bildet es sich nur ein, an Gott zu glauben — die ältere Zeit hatte mit tiefem Bedacht dem guten und weisen Gotte einen bösen und schlimmen Gott gegenübergestellt, der jenes Gnadenwerk zerstören will. Wir glauben nicht mehr an den bösen Gott. So können wir auch nicht mehr an den guten Gott glauben. Denn
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dann haftet an diesem alles Wilde und Furchtbare, alles Grau- same und Dumme, alle Fäulnis und Verderbnis im Dasein. Das aber widerspricht sich. Wenn wir etwas an dem Wesen Gottes als unerläßliche Eigenschaft voraussetzen müssen, so ist dies die Eigenschaft der Einsicht, der Weisheit, der unbegrenzten Vernunft. Ohne diese Eigenschaft wäre der Begriff Gottes völlig hohl. Auf diese Eigenschaft hin, um einen Träger für die höchste Ausbildung und Vereinigung der Vernunft zu haben, hat man überhaupt den Begriff Gottes gebildet. Aber diesem vernünftigen Charakter, den die Welt als das Werk Gottes tragen müßte, spricht alle Erfahrung Hohn. Zum mindesten sind auch furchtbare Gegenkräfte und Hemmnisse am Werk.
Wenn man aber einwendet, dies, gerade dies habe Gott ge- wollt; er habe die Welt sich selber überlassen, daß sie erprobe, wie weit sie mit ihren Kräften kommen möge, so ist zu sagen: ein Gott, der außerhalb der Welt steht, der sich nicht um die Welt bekümmert, der nicht eingreift in den Lauf der Welt, ein solcher Gott geht uns nichts an, der ist für uns so gut wie nicht vorhanden. Nur was irgendwie auf die Welt einwirkt, uns und der Welt sich fühlbar macht, das allein lebt für uns, ist für uns. Und behauptet man, Gott lebe und wirke in der Welt und auch all das scheinbar Unvernünftige, Widerwärtige, Mangelhafte und Böse sei sein Werk, sei von ihm beabsichtigt, sei mit ein- gerechnet in seinen Weltenplan, den wir mit unserer beschränkten Vernunft nur nicht zu fassen vermögen, so ist zu entgegnen: einen anderen Maßstab als unsere Geistigkeit, unsere Auffas- sungskraft können wir an die Welt nicht anlegen, weil uns anderes nicht gegeben ist. Auf überraschend und bewunderungs- würdig planvoll und zweckmäßig gestaltete Einrichtungen der Natur hin hat man den Begriff Gottes geprägt. Wenn entgegen- gesetzte Zustände als ebenfalls für die Welt bezeichnend aufge- deckt werden, so hat man eben seinen Weltbegriff umzu- bilden, hat man einen neuen Weltbegriff zu schaffen, der diesen Widersprüchen gerecht wird. Aber nicht darf man auf solche Erfahrungen hin seine Vernunft zum Schweigen bringen. Denn aus dem Unvermögen des menschlichen Geistes ließe sich nur folgern, daß wir überhaupt keine metaphysi-
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sehen Vorstellungen bilden sollen, aber niemals, das wir be- stimmte Vorstellungen glauben sollen. Das hieße sich nur auf den Gedanken der Vergangenheit schlafen legen, die nach dieser Auffassung ebensowenig Recht hatte wie wir, sich an die letzten Rätsel zu wagen.
Da der Glaube an Gott, an die allweise und planvolle Ge- staltung der Welt erschüttert ist, sucht man sich auf zweierlei Weise zu helfen. Entweder man stellt das Denken ein, man schlägt alles nieder, was dagegen spricht, man verbindet sich die Augen — wir sahen eben, daß dies Verfahren nicht angängig ist — oder man trägt jenen seltsamen Erscheinungen, der Tragik im Dasein, aller Unvollkommenheit und Sünde Rechnung, sucht aber Gott hiervon möglichst zu entlasten, indem man ihn immer weniger für die Welt verantwortlich macht. Dies aber kann man nur so erreichen, daß man den Begriff Gottes immer mehr seiner Kraft beraubt, daß man ihn immer inhaltsleerer macht. Wie hat man die ehemals kräftige Vorstellung von Gott nach und nach verdünnt und verarmt! Immer mehr Sein und Gehalt hat man von ihr abgestreift, bis fast nichts mehr übrig blieb und man schließlich Gott ganz in Rauch aufgehen ließ. Da man nicht mehr an Gott glauben kann, glaubt man wenigstens an das Wort Gott. So hat man etwas doch gerettet! Unsere Zeit ist sehr anspruchslos geworden. Wir haben gelernt, an nichts, an strohernen Überbleibseln uns zu nähren. Wir beten ohne Bedenken in ausgebrannten Tempeln. Aber allgemach stellt sich bei allen starken und leidenschaftlichen Seelen ein schmerzhafter, schneidender Hunger ein. Uns befällt ein Grauen vor den öden Wänden unserer zerstörten Heiligtümer. Klagen wir nicht länger dem verlorenen Gotte nach! Man halte Gott nicht mehr krampfhaft an den dünnsten Fäden fest! Man lasse das Tote tot sein und wolle es nicht immer von neuem mit der Farbe des Lebens bemalen! Ist Gott nicht mehr in der Welt zu spüren — und hier i s t er nicht zu spüren, hier kämpft das Sein einsam und verlassen mit sich selber einen schweren Kampf — so wolle man auch nicht mehr jenseits aller Wirklichkeit Gottes Schatten nachjagen. In allen Verhältnissen des Lebens muß man irgendwann einen Schluß finden können. Fällt das Haus
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zusammen, so hockt man nicht auf den Trümmern, sondern richtet ein neues auf. Ward es uns an einem Orte zu enge, so greifen wir nach dem Stabe und streben tapfer neuen Ländern zu. Lassen wir endlich Gott ruhen, schaffen wir andere Welt- gedanken, die uns glaubhafter dünken und uns doch zugleich das Leben wert und teuer machen.
Da der Glaube an einen vernünftigen Ursprung der Welt zu wanken begann, verfiel man zunächst auf den entgegengesetzten Weg. Wie immer, wenn man eine Enttäuschung erlebt hat, stürzte man sich in das Gegenteil der bisher geliebten und geehrten Dinge, suchte gleichsam aus Trotz die der religiösen Auffassung direkt entgegengesetzte Anschauungsweise auszubilden und aus- zubreiten. Hatte man ehedem alles Seiende auf den denkenden Geist zurückgeführt, so versuchte man jetzt den umgekehrten Weg, allen Geist aus der Welt herauszutreiben. Nur Körper- liches glaubte man in der Welt zu finden. Das, was man Geist, Seele nenne, das sei auch nur ein Körperliches, eine Bewegung des Körpers. Und der ganze wunderbare Aufbau der Welt, weit entfernt das Werk eines planvoll schaffenden, überlegten Geistes zu sein, er sei umgekehrt das ganz zufällige Ergebnis unbeseelter bewegter Massen. So suchte man die alte Wahrheit auf den Kopf zu stellen. Indessen diese Auffassung, die unter dem Namen Materialismus bekannt ist, hat niemals dauernd befriedigt. Vorübergehend hat sie wohl Berühmtheit und Ein- fluß gewonnen. Aber immer wieder sehr bald und entschieden hat man sich von ihr abgewendet. Es erscheint gänzlich un- möglich, das Seelische auf das Körperliche zurückzuführen. Selbst bei den Naturforschern, die die Hauptvertreter und Ver- fechter dieser Anschauung waren, denen es besonders nahe lag, da sie sich immer nur mit Körpern befassen, auch nur an Körper zu glauben, selbst bei ihnen scheint sich ein Umschwung der Auffassung anzubahnen. Immer mehr löst sich ihnen die Ma- terie auf, so daß sie nur noch Kräfte übrig behalten. Wie dem auch sein mag, so viel gilt uns heute als ausgemacht, das, was wir Seele nennen, so unlöslich es auch mit dem Körperlichen ver- bunden ist, kann niemals selbst als etwas Körperliches aufgefaßt werden. Wir können es nie aus dem Körperlichen ableiten.
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Zweiter Teil.
Deshalb, wenn wir nach einem Weltgrund suchen, nach einem letzten Zusammenhange, einem allgemeinsten Grundwesen des Daseins, etwas Seelisches wird dieses sein müssen. Denn das Seelische ist das uns zunächst Gegebene, ja in gewissem Sinne das uns ausschließlich Gegebene. Wir können niemals von dem Seelischen absehen.
Ich glaube, die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte. Weder ist die Welt Ausfluß und Zeugnis eines vernünftigen Geistes, einer allmächtigen, weise waltenden, alles durchdringenden und beherrschenden Vernunft, noch auch ist die Welt völlig seelenlos, das rein zufällige Spiel ungeistiger Massen. Ich glaube, Schopen- hauer hat hier das erlösende Wort gesprochen. Schopenhauer geht aus vom Menschen. Er sucht nach dem Wesentlichen, dem Grundlegenden und Allgemeinsten in der Existenz des Men- schen und findet, daß dies nicht der Leib, aber auch nicht der vernünftige Geist, sondern das Triebleben, der Wille ist. Geist und Leib sind ihm Organe des Willens. Der Wille ist durchaus das Fundament des seelischen Lebens der Menschen und da- mit auch des leiblichen Lebens, das Schopenhauer ganz dem seelischen unterordnet und eingliedert. Was der Mensch auch vornimmt, wie er sich auch gebärdet und äußert, immer ist es ein Wille, der ihn beseelt, sein Tun hervorruft. Und wie beim Menschen, so in der gesamten Natur. Als ewig bewegt stellt sich uns die Natur in allen ihren Kindern dar. Aber was ist diese Bewegung aller Naturerscheinungen, organischer oder unorganischer? Wie kommt sie zustande? Wo hat sie ihre Quelle? Sind die Naturgebilde tote Massen, die an unsichtbaren Ketten gezogen werden? Schopenhauer behauptet, die Natur ist gleichen Wesens mit dem Menschen. Auch in der Natur sind die Bewegungen das äußere Merkmal eines beseelten Inneren. Auch hier stammt wie bei uns alle Bewegung, alles Leben aus einer seelischen Triebkraft. Wille ist auch in der Natur, in allen ihren so tausendfachen Formen das Wesenhafte, wenn dieser Wille bei den einzelnen Wesen und Gattungen auch auf sehr verschiedener Stufe der Ausbildung und Klarheit steht. So verlegt Schopenhauer das innere Wesen des Menschen in die Natur hinein und zwar nicht nur in den geheimnisvollen und
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unbekannten Urgrund der Dinge, sondern in die unmittelbare Naturerscheinung, in alles, was den Menschen umgibt. Auf solche Weise ist der Mensch in die nächste Verwandtschaft mit der Natur gerückt und umgekehrt. Diese metaphysische Auf- fassung Schopenhauers, die den Menschen und die Natur so eng aneinander gliedert, hat nachträglich eine starke Stütze in der neueren Naturwissenschaft gefunden, durch die berühmte Ent- wicklungs- und Abstammungslehre Darwins. Durch diese großartige Entdeckung ist der Zusammenhang des bis dahin getrennten, zerspalteten Seins bewiesen. Wo wir früher unüber- steigliche Klüfte annahmen, da sind jetzt Brücken geschlagen. Die ganze schier unübersehbare Mannigfaltigkeit der Natur ist in einem einheitlichen Flusse aufgegangen. Alle Naturerschei- nungen, der Mensch mit eingeschlossen, sind, so verschieden- artig ihr äußerer Anblick auch wirkt, dennoch letzten Endes blutsverwandt. Es stammt alles aus einer gemeinsamen großen Quelle. Und da jede einzelne Erscheinung Wille ist, wie wir gehört haben, so werden wir auf einen einheitlichen allgemeinen Willen schließen müssen, der die ganze Erscheinungswelt her- vorbringt, aus dem alle individuellen Gebilde der Natur ent- sprungen sind und aus dem sie ihre Kraft gesogen haben. Vor aller Erscheinungswelt mit ihrer vielgeteilten Mannigfaltigkeit gibt es ein allgemeines, umfassendes Urseelisches, das sich dann erst in die Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt spaltet, sich in den unzähligen Gestalten der Erscheinungswelt offenbart, sich darin objektiviert, wie Schopenhauer sagt. Dies seelische Etwas aber, das dergestalt die ganze Welt erfüllt und beherrscht, ist nicht ein überlegter, vorausschauender, planmäßig schaffender Geist, nicht eine Vernunft, die überdenkt und berechnet, sondern ein unbewußtes dumpfes Begehren, ein wilder Drang. Nicht die Vernunft, sagt Schopenhauer, sondern der Wille, ein heißes unersättliches Begehren, das ist der Grundzug des Daseins.
Ich glaube, daß diese Auffassung der Welt eine große Ent- deckung ist, daß sich in der Richtung dieser Betrachtungsweise das europäische Denken künftig bewegen wird. Ohne Zweifel ist die Philosophie Schopenhauers nur ein erster Ansatz, sie ist noch nichts Abgeschlossenes. Sie harrt noch der Ausgestaltung.
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Aber ein fruchtbarer Same, scheint mir, ist hier gelegt, der mit der Zeit einst üppig aufgehen wird.
Worin liegt das Unvollständige der Schopenhauerschen Philo- sophie? Wo hat die Ergänzung einzusetzen? Nach Schopenhauer ist die Welt Wille. Aber welcher Art ist dieser Wille? Der Wille braucht einen Ausgangspunkt und ein Ziel. Was erstrebt der Wille? Und wie kommt der Wille zum Aufbau der Welt? Wie kommt es, daß er gerade diese Gestaltung der Welt hervorbringt? Und worauf läuft das Streben des Willens schließlich hinaus ? Scho- penhauer wußte keine andere Stellung zum Willen zu finden als die, daß er den Willen verwünscht, und daß er eine Ertötung, eine Selbstvernichtung des Willens fordert. Ihm ist die Welt ein einziger furchtbarer Fluch, der nur das einzige Ziel kennen sollte, sich durch Selbstentsagung aufzuheben und so zu ent- sühnen. Offenbar kann dies nicht das letzte Wort des Menschen gegenüber der Welt des Willens sein. Wir werden den furcht- baren Eindruck überwinden müssen, dem Schopenhauer im ersten Schrecken erlag. Vielleicht daß wir durch eine genauere Bestimmung des Willens wieder ein vertrauensvolleres Ver- hältnis zum Leben gewinnen, indem der Wille uns nicht als Fluch, wenigstens nicht notwendig als Fluch, sondern auch als Segen erscheint, daß wir das durch Schopenhauer zerris- sene Band zum Dasein wieder anknüpfen können. Eine ge- nauere Erkenntnis des Willens enthüllt uns den Willen, in dem wir alles Grausen erblicken sollten, vielleicht als eine Quelle unermeßlichen Glückes.
Nietzsche hat als erster den Versuch gemacht, durch nähere Bestimmung des Willens diesen des öden und unfruchtbaren Charakters, den ihm Schopenhauer zusprach, zu entkleiden. Wie mir scheint, nicht mit vollem Erfolge. Indem Nietzsche seinen Blick auf die einzelne Lebenserscheinung, auf die ver- schiedenen Individuen, Gruppen und Gattungen richtet, bemerkt er, daß sich das Machtverhältnis unter diesen begrenzten Lebens- formen ständig verschiebt. Jedes Wesen trachtet nach einer größeren Ausdehnung seines Machtbereiches zu Ungunsten der andern. Jedes Wesen will sich zwischen die es umgebenden Wesen mit seinen Machtansprüchen hindurchwinden und sich
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womöglich über sie erheben. Jedes Wesen will möglichst viel von seiner Umgebung, von allem, was in seinen Bereich kommt, in seinen Dienst nehmen, es sich unterwerfen und nutzbar machen. ,, Wille zur Macht" sagt Nietzsche, ist es, was alles Seiende erfüllt und beherrscht. So sucht Nietzsche den Willen Schopenhauers durch die nähere Bestimmung seines Zieles, seines inneren Charakters und Wesens zu ergänzen und auszugestalten. Nicht nur Wille zum Leben, wie Schopenhauer ganz allgemein und unbestimmt gesagt hatte, sondern Wille zur Macht, zum Mehr-Leben, zum Über- andere-hinweg-Leben — das sei die all- gemeinste Lebenserscheinung. Durch diesen Willen zur Macht, der alles beherrscht, entstehe der große Kampf des Lebens, und durch diesen Kampf entwickle sich das Leben durch stetige Überwindung des Schwächeren durch das Stärkere in aufsteigen- der Linie. Und diese Entwicklung sei noch nicht abgeschlossen, sondern lasse auch für die Zukunft noch viel erhoffen. Und dieser Ausblick gebe dem Menschen den freudigen Glauben, die Zuversicht zum Leben und ganzen Dasein zurück.
Ich kann diese Lösung nicht für genügend ansehen. Der Mensch kann nicht nur von der Zukunftshoffnung leben. Soll der Wille Wert haben, so muß er in jedem Augenblicke Wert haben. Dann darf nicht nur das Ergebnis, und gar noch ein in der Ferne verschwimmendes Ergebnis des Willens dessen letztes Ziel sein. Er darf nicht nur von seinem letzten Ergebnis seinen Wert entleihen. In jedem Augenblick, auf jeder Stufe muß der Wille zu bejahen sein. Sein Charakter, seine tiefste Art muß zugleich seine unmittelbare und überzeugende Rechtfertigung sein. Alles Lebende und Seiende muß zu jeder Stunde ein lautes oder stummes Loblied anstimmen können auf die Art alles Seins, auf das Ursein des Willens, wie es sich zu jeder Zeit, in jedem Wesen offenbart. Der Wille muß sich kraft seines Wesens in ewiger Selbstbeglücktheit wiegen. Wie und was er auch will, an welcher Stelle des Daseins er auch hervorbricht und seine Flügel regt, immer muß er sich selbst die Quelle höchster Wonne sein, wenigstens sein können. Oder der Wille muß wirklich, wie Schopenhauer es meinte, dort, wo er zu seinem Bewußtsein kommt, wo er sich selber und seine Art begreift,
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beim Menschen, in einen ewigen, sich selbst verdammenden Fluch ausbrechen und diesem Fluche folgend und gehorchend sich selbst vernichten, sich selber absterben und so die ungeheure Tragödie des Daseins enden. Kann aber der Wille als Wille zur Macht sich wirklich freudig bejahen? Kann das Sein sich selber gutheißen, wenn es ewiger Kampf, wenn gegenseitige Vernichtung und Knechtung sein einziges Merkmal ist? Bei Schopenhauer war der Wille öde und sinnlos. Es grauste Scho- penhauer vor diesem unfruchtbaren Willen, der ohne Folge und Ziel in unablässiger Bewegung nach Art der Danaiden immer nur will und strebt und wieder will und strebt. Durch Nietzsche aber wird der Wille, dadurch daß er Wille zur Macht wird, ein furchtbar mörderisches, entsetzensvolles Spiel. Freilich läßt Nietzsche als letzten Erfolg dieses Kampfes ein leuchtendes Bild als Siegeszeichen aufglänzen, ein berauschendes Sein, ein nie geahntes Wunder. Aber niemand von heute und ehedem findet zu dieser Insel der Seligen Zugang. Alles, was war und ist, bleibt ein ewiges Sich-selbst-Zerfleischen, Sich-selbst-Unterjochen und -Quälen. Die Welt Schopenhauers wird hierdurch nicht erlöst; ein Unheil wird mit dem andern vertauscht. Der Mensch kann nicht liebend und segnend zur Welt stehen. Ihn lähmt der immer gleiche Schauder vorm Dasein.
Auch Nietzsche kann uns nicht als Abschluß unserer meta- physischen Spekulation gelten. Wir werden von neuem eine Prüfung des Willens vornehmen müssen, um zu einer genaueren Bestimmung seines Wesens zu gelangen, die überzeugender, fruchtbarer und vielleicht auch beglückender ist.
Ist es wirklich die Macht, die die einzelnen Wesen begehren, wie Nietzsche glaubt? Ist Wille zur Macht das Beherrschende, das eigentlich und letzthin Treibende, das die einzelnen Wesen, lebendige und unlebendige, beherrscht? Sehen sie es nur darauf ab, andere Wesen unter sich zu zwingen, sich dienstbar zu machen? Ist hiermit wirklich der Kern ihres Strebens und ihrer Regsamkeit bezeichnet? Wie Nietzsche es an der wichtigen Stelle, wo er den Willen zur Macht im Zarathustra einführt, ausdrückt: ,,Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen
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Herr zu sein. Daß dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres Herrseinwill:dieserLustalleinmagesnicht entraten."! Ist das wirklich der Fall? Mir will scheinen, als ob die Macht über andere, die nähere oder fernere Um- gebung die unwillkürliche, notwendige Folge des Willens und seiner Betätigung sei, das unvermeidliche Ergebnis seiner Wirk- samkeit, aber nicht eigentlich sein Inhalt, sein unmittelbarer Zweck. Man muß hier scharf unterscheiden. Was will der Wille? Ich meine, der Wille will nur sich, nur seine Entfaltung, seine Entfesselung, seine Befreiung. Er kann diese nicht anders er- langen als so, daß er auf die Umgebung zugeht, daß er ergreift, was sich ihm darbietet, daß er die Umgebung sich Untertan macht, irgendwie in seinen Bereich einbezieht, an sich kettet. Aber alles dies muß der Wille notwendig tun, wenn er nicht ruhen will. Und ruhen kann und will der Wille nicht. Er ist ununterbrochene Bewegung. Er drängt, er quillt, er strebt. Wenn er strebt und sucht, so bedarf er der Zielpunkte, der Gegenstände, die er erstrebt, die er an sich reißt. Er bedarf irgendetwas, an das er sich anknüpft. Aber die Macht, die er dadurch über seine Umwelt erlangt, war nicht sein eigentliches und erstes Ziel, sein ursprünglicher Zweck, sie ist die unumgängliche Folge seines Tätigseins. Wirkt der Wille, wirkt er sich aus, so erlangt er Macht. Aber er will und muß nur sich auswirken. Der Wille bestimmt und gestaltet sich nicht in Rücksicht auf Anderes, Fremdes. Dies Andere, Fremde, das an ihn herantritt, ist nur etwas Zweites, Hinzu- gekommenes. Der Wille lebt nur von sich, von seinem un- mittelbaren, ihm eingeborenen Bedürfnis aus; nach seinem eigenen Wesen und Sein gestaltet er sich. Betrachten wir den Baum im Walde. Er ringt alles nieder, was ihn umgibt. Aber w i 1 1 er alles dies niederringen? Ist dies sein eigentliches, letztes Ziel? Oder will der Baum nicht bloß zum Lichte, zur Höhe kommen? Ist das Niederkämpfen der anderen Gewächse und Bäume nicht nur das Mittel dieses Höherwollens? Und das
1) Von mir gesperrt.
Zweiter Teil.
Gleiche ist es überall, selbst in dem Verhältnis der größeren menschlichen Gruppen untereinander, in dem gegensei- tigen Kampfe der Völker, wo doch der Wille zur Macht recht eigentlich zu Hause zu sein scheint. Will um der Herrsch- sucht willen ein Volk dem andern seinen Willen aufzwingen? Will es dem andern nur den Fuß auf den Nacken setzen? Oder ist es nicht vielmehr so, daß ein Volk in sich eine gewisse Fülle von Leben, Wille, Tätigkeit, Triebkraft birgt, die sich um jeden Preis entladen will, und deshalb, sich ausdehnend und entfaltend, hier- bei aber auf den gleichen Willen, das gleiche Bedürfnis der anderen Völker stoßend, sich notwendig in Gegensatz und schließ- lich in Kampf mit diesen verwickelt? Die Spannung eines Volks- willens, der wächst und quillt wie eine Pflanze, löst sich plötzlich aus und losgebunden muß dieser Volkswille vergewaltigen, was sich ihm hemmend entgegenstellt. Aber diese Vergewaltigung ist selbst hier nur Mittel zum Zweck, zum Zweck der eigenen Freiheit, des ungehemmten Wirkens. Nietzsche versteht unter Wille zur Macht offenbar auch diesen schöpferischen Willen, der durch sich selbst unwiderstehlich getrieben nach außen greift, nur um sich zu befreien und auszulösen. Aber es spielt in seinen Ausdruck doch immer zugleich auch jene andere Bedeutung hinein, daß der Wille sich anderes unterjochen will, und zwar nur, u m es sich zu unterjochen, worin meiner Ansicht nach nur etwas Zweites, Nachträgliches, Sekundäres erblickt werden kann. Deshalb können wir nicht den Willen zur Macht als die entscheidende und grundlegende Erscheinung alles Seins an- erkennen, als dessen Grundzug und innerste Charaktereigenschaft. Sondern der Wille bleibt in seinen eigenen Grenzen. Er hat sein letztes Ziel nicht außer sich, sondern in sich. Alles Äußere ist für ihn nur Mittel, Anknüpfungspunkt, Vehikel der Selbstent- faltung, Selbstentladung.
Aber offenbar ist hiermit nur ein äußeres, formales Merkmal des Willens bezeichnet, daß sein letztes Ziel in seiner eigenen Sphäre liegt, daß er den Umweg über die Außenwelt nur nimmt, um zu seinem eigenen Selbstgenuß zu gelangen. Aber was will nun der Wille mit sich selbst, was ist das eigentliche Ziel, das er in seinem eigenen Machtbereiche sucht? Ich meine, der Wille
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will sich gestalten, sich zur Form bilden. Der Wille findet sich nicht als eine immer gleiche, unveränderliche Einheit vor. Er hat in sich mannigfache, wechselnde Zustände. Diese Zustände will er in eine Ordnung, in einen Rhythmus bringen. Jeder Wille tritt zunächst in dem Zustande einer verhältnis- mäßigen Unform, eines Chaos auf, eines Durcheinander mannig- faltiger, vielfach sich kreuzender und hemmender Begehrungen. In diese Wirrnis will der Wille Einheit, Klarheit, Folge bringen. Er will sich selber in seinen einzelnen Äußerungen gliedern, aufbauen. Jeder Wille stellt die Aufgabe einer Ent- wicklung dar. Diese Entwicklung, die von jedem Willen gefordert wird, oder die jeder Wille von sich selber fordert, die eben jeder Wille will, ist die, daß er seine Vielfachheit in eine Einheit bannt, daß er seine Elemente, seine einzelnen Äußerungen in ein System bringt, daß er nicht bald dies bald jenes will, sondern daß er seine einzelnen Strebungen miteinander in Beziehung setzt, verknüpft, sie auf ein einiges gemeinsames Band reiht, sie gleichsam zu einer Melodie vereint, wo das erste und letzte zusammen gehört, wo kein Glied, keine einzelne Strebung heraus- genommen werden kann, sondern alles in ein unlösliches, be- ständiges, gleichmäßiges Gefüge gehört. Wo immer nur Wille auftritt, tritt dieser nicht als ein eindeutiger, völlig bestimmter, geschlossener, unerschütterlicher Wille auf, wenigstens nicht von vornherein, sondern alles dies soll der Wille erst werden, w i 1 1 er erst werden. Jeder Wille unterliegt der Gefahr zerrissen zu werden. Er sieht sich umringt von unzähligen Reizen, die ihn bald dahin, bald dorthin lenken. Gegen diese Fülle muß sich der Wille behaupten. Dies kann er nur so, daß er seine einzelnen Strebungen in Zucht nimmt, daß er sie zu einer ge- schlossenen Einheit, einem festen systematischen Zusammen- hang gliedert, damit sie nicht verflattern, damit der ganze in dieser Einheit in die Erscheinung getretene Wille zur Hebung kommt, damit alles Stärkste, Tiefste, die ganze Wucht dieses Willens zur Entladung, zum Ausbruch kommt. Nur durch Sammlung, Konzentration, Gliederung, Ordnung, Organisation kann der Wille zu seiner vollen Äußerung kommen, kann er ganz in die Erscheinung treten, kann er sich voll erschöpfen.
Horneffer, Das klassische Ideal. 32Q 2'
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Deshalb sucht er nach einer Form für sich, gleichsam nach einem Stil für sich. Der Wille will sich selbst, indem er seine Form, seine Ordnung, Gliederung, Schönheit will. Der Wille ist an sich selber schöpferisch. Er ist sich selbst als Aufgabe gestellt, sich selbst zu formen, zu bauen. Als letzten Zug an den Erschei- nungen möchte ich deshalb den ,, Willen zur Form" feststellen, einen schöpferischen Willen zur Form, der eine äußerlich vor- handene Einheit zu einer Innern Einheit umschaffen will. Nicht Wille zum Leben, auch nicht Wille zur Macht scheint mir das letzt Gegebene zu sein, sondern Wille zur Form, ein schöpferischer Wille zur Gestaltung, der das Chaos des Willens, seine Zerrissen- heit zu einer Einheit führen will^).
Wie bildet sich der Mensch? Welches ist die allgemeinste Form der geistigen Entwicklung des Menschen? Ich glaube die Entwicklung des Menschen vollzieht sich so, daß der einzelne aus der Verschwommenheit zur Klarheit strebt. Ein unruhiges und wechselndes Durcheinander ist zunächst jedes Individuum, ein Knäuel sich drängender und gegenseitig störender Strebungen. Das sich normal entwickelnde Individuum, der Mensch, der zur Reife kommt, bringt in diese Unruhe Ordnung und Übersicht.
1 Diese und die folgenden Betrachtungen sind nicht ohne An- regung der bedeutsamen kleinen Schrift von Felix Krueger ent- standen: ,,Der Begriff des absolut Wertvollen als Grundbegriff der Moralphilosophie". Leipzig (Teubner) 1898. Meine Gedanken bewegten sich in ganz ähnlicher Richtung, wie ich sie hier ausgesprochen fand. Aber wie ich von Nietzsche ausgegangen bin, so sind auch, glaube ich, die Gedanken bei Krueger nicht ohne entscheidende Anregung Nietzsches entstanden, obschon sie der Form nach an Kant angeschlossen sind. Diese Gedanken scheinen mir in der direkten Konsequenz Nietzsches zu liegen. Nietzsches Wille zur Macht ist eine Tautologie. — Auch die Übertragung dieser Gedanken ins Metaphysische, wie ich sie hier vortrage, ist wohl zum Teil durch den Gedankenaustausch im münd- lichen Verkehr mit Krueger hervorgerufen. Für die nähere Durch- führung aber dieses Gedankens, vor allem für seine Verknüpfung mit dem Dualismus, zu dem ich mich v/eiter unten bekennen werde, und für die religiöse Ausnützung dieses Gedankens bin ich allein ver- antwortlich. Ich hebe dies hervor, damit man diese bedenklichen Kühn- heiten nicht meinem Freunde Krueger, nachdem ich ihn hier erwähnt habe, mit zur Last legt.
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Er erhebt einige seiner Strebungen zu den herrschenden, grund- legenden, um die er alle anderen mit näherer oder fernerer Be- ziehung gruppiert. So verwandelt er die Verwirrung seiner noch unbestimmten Jugend, wo ihn alles, was an ihn herantrat, mit mehr oder weniger gleicher Kraft anzog, wo er gleichmäßig und ohne Wahl ergriff, was ihm begegnete, in die Sicherheit einer bestimmten und stetigen Ordnung der Seele. So entwickelt sich der Mensch zum Charakter. Charakter hat derjenige, welcher seiner Seele durch eine bestimmte Form Festigkeit ge- geben hat, der gewisse Strebungen seines Innern, die sonst flüchtig auftauchten und wieder vergingen, zu regelmäßigen und dauern- den gemacht hat, die nun seiner Seele einen sicheren Halt geben, gleichsam einen granitnen Block bilden in dem allzeit der Gefahr der Zerfahrenheit, dem Chaos ausgesetzten Willen. Der Mensch soll einiges von seinen Willensrichtungen, seinen Anlagen zur bestimmenden Herrschaft bringen, anderes soll er ausscheiden oder zurücktreten lassen, jenen ersteren für ihn be- deutsameren Bestrebungen unterordnen, und so eine klare, geordnete, übersichtliche Seele werden. Zunächst ergreift die menschliche Seele alles. Aber da sie alles ergreift, hält sie nichts fest, sondern spielt gleichsam nur mit den Dingen. Sie soll wäh- lend, richtend, schätzend den Dingen gegenübertreten und nur das ihrem Wesen und Zweck Gemäße sich aneignen. Das höchste Lob, das wir einem Menschen spenden, ist dies, daß wir ihn einen Charakter nennen. Und den schlimmsten Tadel sprechen wir aus, wenn wir jemand den Charakter absprechen. Der eine hat erfüllt, was er erfüllen sollte. Der andere ist seine wichtigste Aufgabe schuldig geblieben. Der Mensch soll eben — diese Forderung stellen wir an ihn und sie wird auch im allgemeinen erfüllt — jeder soll das Schwankende seiner Seele überwinden und etwas Stetiges, Festes werden. Er soll mit einem Wort ,,Form" erlangen. Nur durch die ,,Form", die Ordnung, die er seinem Innern gibt, bringt der Mensch den ganzen Reichtum seines Willens, die ganze Fülle und Kraft seines Innern zum Ausdruck, verhilft er seinem Willen zur vollen Betätigung und Entladung. Ohne diese Form, diesen Gestaltungswillen, diesen Trieb zum Charakter zergeht und verflüchtigt sich der Wille und
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gibt so sich selber, seinen eigentlichen Sinn preis. Er erlangt nicht seine Erfüllung, seine volle Entfaltung und Befreiung. Nur durch sorgfältige und unablässige Arbeit an sich selber gelangt der Mensch zu seiner vollen Reife. Diese Arbeit aber besteht darin, daß er seinem Willen einheitliche Gestaltung leiht. Alle Ent- wicklung des Menschen ist Charakter-Entwicklung. Nur durch die Form, durch die Gestaltungskraft, die er an sich selber übt, erlöst sich der Mensch, erfüllt er seine Bestimmung, kommt er zu seinem Ziele.
In diesem Bilde aber der Entwicklung des Menschen sehe ich das Bild der ganzen Welt. Wir sind gewöhnt zu glauben, daß die Welt der chemischen Elemente, der unorganischen Körper etwas Beständiges sei. Ihre immer gleiche Art und Wirkungsweise, die sie in unserer Erfahrung aufweisen, legt den Gedanken ihrer unbedingten und vollständigen Unveränderlichkeit nahe. Ist die organische Welt werdend und wechselnd, so erscheint die unorganische gleich- mäßig und dauernd. Wir haben hierüber anders zu denken ge- lernt. Die Naturwissenschaft, die die Geisteswissenschaften sich schon kühn zu unterjochen vermaß, die ihre Methoden und Auffassungsweisen den Geisteswissenschaften schon aufzu- zwingen gedachte, hat umgekehrt die denkbar tiefste Einwirkung der Geisteswissenschaften erfahren. Auch in der Natur erblickt man jetzt nur noch Entwicklung. Und diese Betrachtungsart hat sogar auch die unorganische Natur ergriffen. Auch alle Körper der Natur, die uns so fest und unveränderlich dünken, sind erst geworden. Sie alle haben wie die organischen Gebilde ihre ganz bestimmte Geschichte und Lebensdauer, wenn auch von anderer Art als die organische Materie. Und auch in dieser Entwicklung der unorganischen Materie, die sich noch immerfort, nur in den kleinsten Phasen, vollzieht, hat es viel Kampf, viel Werden und Sterben gegeben. Wie man von ausgestorbenen Arten in der organischen Natur spricht, muß man wahrscheinlich auch von ausgestorbenen Arten der unorganischen Materie sprechen. Die einzelnen Elemente und deren Zusammenset- zungen entstehen und vergehen nicht anders, als die im allge- meinen sehr viel kurzlebigeren organischen vor unsern Augen
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werden und vergehen. Und wie die einzelnen Stoffe ihre Ent- wicklung und Lebensgeschichte haben, so hat auch die unorga- nische Welt in ihrer Gesamtheit ihre Entwicklung, ihre Lebens- geschichte. Sie ist das späte Produkt einer ungeheuren Arbeit. Aber worin hat nun diese Arbeit bestanden? Welcher Art war diese Entwicklung? Wir halten an der Auffassung fest, daß das Allgemeinste und Fundamentalste aller Lebens- erscheinungen der Wille ist. So werden wir auch in der Entstehung und Entwicklung der uns so fremdartigen unorganischen Natur eine Willensentwicklung sehen. Nun wir wissen, daß auch diese Welt geworden ist, ist sie uns, die wir uns immerfort in Bewegung befinden, auch nicht mehr so fremd, so gänzlich tot. Sie ist uns trotz ihrer scheinbaren Starrheit auf einmal lebendig geworden. Ist aber auch die unorganische Welt eine Entwicklung des Willens, dann wird diese Entwicklung auch ihrer Art nach ähnlich unserer eigenen Willensentwicklung sein. Aus formlosem, unbestimmtem, chaotischem Zustande entwickelt sich bei uns der Wille. ErstrebtnacheinerF o r m für sich. Nur so kann er sich erlösen, kann er sich selber finden, kann er werden. Und so auch schon in den untersten, einfachsten Graden der Natur. Auch die scheinbar so rohe, plumpe, einfache Welt des Unorganischen ist schon eine Form des Willens, eine Gestaltung, eine Gliederung und Organisation des Willens, durch die er sich zu befreien, sich zu entfalten sucht. Vor der uns bekannten einfachsten Form der Natur müssen wir eine uns nicht näher vorstellbare Unform des Willens annehmen, einen Willen im Zustande des Chaos, des innern Widerspruchs, der Zerklüftung. Dieser chaotische Wille aber, der an seinem Zu- stande leidet, strebt nach seiner Befreiung. Er will sich seiner Fülle, seines Wesens bewußt werden, er will er selbst werden. Dazu muß er Ordnung in seine Verwirrung bringen, dazu muß er sich organisieren, sich schaffen. Und zu dieser ,,Form" des Willens, dieser seiner Selbstgestaltung ist die Welt des Unorga- nischen der erste Schritt. Hier ist eine gewisse Form erreicht. Es wogt nicht mehr, wie wohl in dem überwundenen Zustande vorher, alles durch und gegeneinander. Es sind bestimmte Ver- wandtschaften, Zugehörigkeiten gebildet. Eine gewisse Gliederung,
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Zweiter Teil.
eine gewisse Gruppierung wenigstens der Willenselemente ist eingetreten. Aber es ist doch noch eine sehr einfache Ordnung, die hier der Wille errungen hat. Es ist nur der erste Schritt zu einer Form. Dem Ganzen fehlt das System, die gegliederte Ein- heit, wo alles verschieden und in sich bestimmt, doch zu einem einzigen obersten Zwecke zusammenwirkt. Die Welt des Un- organischen ist gleichsam nur gruppiert, nicht gebaut. Jede einzelne Erscheinung ist beliebig teilbar, ohne ihr Wesen zu ver- lieren. Es ist nicht ein Individuum, das eine in sich notwendige feste Einheit bildet. Und so auch im ganzen. Die unorganische Welt als eine Einheit gedacht ist ein Nebeneinander von Teilen, die zwar aufeinander wirkend, sich gegenseitig bedingen und bestimmen. Aber das eine ist für die Ordnung des Ganzen so bedeutungsvoll oder so bedeutungslos wie das andere. Jedes könnte seinen Platz wechseln, ohne daß das Ganze einen Abbruch erlitte. Die Form, die Gestaltungskraft des Willens hat erst eine gewisse Stufe erreicht.
Der Wille konnte hier nicht Halt machen. Die nächste Stufe war das Organische. Hiermit erreichte der Wille die Fähigkeit zum System. Wir sprechen von einem System, wenn eine Mannigfaltigkeit vieler einzelner Dinge in ein einheitliches Ganzes gebracht ist, derart, daß jeder Teil den andern trägt und voraus- setzt, daß kein Teil durch die andern ersetzt werden kann, daß jeder Teil in unmittelbarer Beziehung auf die Gesamtwirkung, die Existenz und Betätigung des Ganzen bestimmt und gebaut ist. Das bloße Nebeneinander von Teilen, die beliebig unter sich vertauschbar sind, muß sich verwandeln in ein gegenseitiges Für- einander. Die Selbständigkeit der Teile muß zugunsten der größeren Selbständigkeit, der vollen Entfaltung des Ganzen ge- opfert werden. Es werden nicht von allen Teilen alle Lasten gleich getragen. Sondern die Aufgaben, die das Ganze zu er- füllen hat, werden angemessen verteilt. Für jede bestimmte Notwendigkeit des Ganzen bildet sich ein einzelner Teil aus. So erhält das Ganze seine höchste Durchschlagskraft, bringt es ganz zur Hebung und Entfaltung, was in ihm für Möglichkeiten ruhen. Bei der systemlosen Ordnung, wo alle Teile in gleicher Weise wirken, bleibt ein ungeheurer Bruchteil der Kraft unge-
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hoben; der Wille, der in dem Ganzen lebt, bleibt verzettelt, verstreut, geteilt. Dieser Wille will sich sammeln. Dazu schafft er sich das System. Wie entsteht ein System? Wie kann aus dem gleichgültigen Nebeneinander ein so gegenseitig interessiertes, gegenseitig wertvolles Füreinander werden? Dies ist nur so möglich, daß e i n Teil, ein bestimmtes Glied des Ganzen die Oberhand gewinnt und ein Zentrum bildet, daß es alle andern Teile auf sich hin, indem es sich als die Idee, den letzten Zweck des Ganzen auffaßt, gestaltet und umbildet. Es betrachtet alles bis dahin ihm Nebengeordnete als ein ihm dienendes Untergeord- netes, das für seine Zwecke mitzuwirken hat. Auf diese Weise organisiert ein Zentrum, ein Kernpunkt das Ganze, bis es um- geschaffen ist zu einer einheitlichen Form und Wirkung, während alles einzelne seine Form gewechselt und zu einer für das Ganze zweckmäßigen und bedeutsamen Art bestimmt, differenziert hat. Nur durch Über- und Unterordnung kann ein System entstehen, so nur, daß ein gewisser Teil einer Willenssammlung, wenn ich so sagen darf, einer loseren Häufung von Willenselementen, die anderen sich eingliedert, sich Untertan macht. Dies ist offenbar der Grund gewesen, der Nietzsche veranlaßt hat, in dem Willen zur Macht das Allgemeinste des Lebens zu sehen. Nicht ohne Grund fand Nietzsche überall Befehlendes und Gehorchendes. Aber diese Erscheinungen sind nur die äußeren Merkmale der erfolgten Formung, Gestaltung des Willens. Der Wille zur Macht ist nur ein Mittel des Willens zur Form, der Versuch, eine bestimmte Summe Wille zum System zu bringen, etwas Einheitliches, etwas Ganzes, Großes zu schaffen. Es ist Schöpferwille, nicht Macht- wille. Der Schöpferwille ist auch Machtwille, aber er ist noch etwas anderes, größeres als Machtwille, eristBauungs-, Gestaltungs- wille, der Wille, sich und andere Willen durch die Form, die Gestaltung, die er sich und ihnen aufprägt, ganz zu erlösen und zu befreien.
Daß der Wille sich das System erschuf, war die zweite Stufe seiner Entwicklung, die er mit der Entstehung des Organischen erreichte. Aber was will der Wille nun mit diesen zahllosen, systematischen Einheiten im Kleinen, diesen einzelnen fester und inniger in sich verknüpften Gebilden der organischen Welt?
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Zweiter Teil.
Was soll diese höhere Form, die der Wille hier für beschränkte Kreise erreicht? Es ist der weite Umweg des Willens, sein müh- samer Versuch, das, was er hier im Einzelnen und Kleinen erreicht, dereinst im Ganzen und Großen zu erreichen, nämlich in seiner Totalität, wenigstens in weitestem Umfange ein System zu werden. In der Entwicklung der Natur nimmt der Mensch entschieden eine besondere Stellung ein. Er hat eine über die Bedeutung aller anderer Gattungen hinausragende Bedeutung. Immer hat sich der Mensch in einem unendlichen Abstände von der übrigen Natur gefühlt. Diese Auffassung war insofern irrig, als es sich um die Herkunft, den Ursprung des Menschen handelte. Der Mensch stammt nicht aus höheren Sphären. Er ist nicht nur in diese Welt hinein verschlagen, sondern er ist dieser Welt, in der er steht, innig verwandt. Er ist aus ihr herausgewachsen und -geboren. Aber so wichtig diese Erkenntnis war, so sehr wir dem Hochmut des Menschen durch den Nachweis seiner natürlichen Herkunft steuern mußten, damit er sich nicht ganz von der Natur entferne und ihr entfremde — jetzt, nachdem dieser Boden für das menschliche Sein ein für allemal gewonnen ist, jetzt dürfen wir uns auch wieder das Auge öffnen für den unaus- rechenbaren Gegensatz, in welchem sich der Mensch zur übrigen Natur befindet, wie er alles übrige Sein überragt und abseits steht. Wir hatten die Welt als Willen zur Form bestimmt, als das Streben des zunächst chaotischen, zerrissenen Willens, um zur Formung, Gliederung, Gestaltung zu gelangen. Im Unorga- nischen war erst eine losere Ordnung erreicht. Im Organischen wurde das System erreicht. Aus dem Organischen aber ent- wickelt sich das Organisierende, der Versuch, das Ver- langen, den Willen als Ganzes, oder doch einen möglichst weiten Umfang des allgemein vorhandenen Willens in systematische Form zu bringen und so zu erlösen. Dieser Wille zur systema- tischen Form, dieser Versuch, die Form des Systems dem Willen in seiner Totalität aufzuprägen, ist die Bedeutung, der Sinn des Menschen, zu dem alles sonstige Organische nur Vorstufe, nur Mittel, nur Vorbereitung ist. Das Organische ist eine Übergangs- form, nichts Abschließendes. Aus dem Organischen soll sich der organisierende, bauende Wille erheben. Dies ist der Mensch
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Ein System, die höchste Form des Willens, die wir kennen und uns vorstellen können, entsteht, wie wir hörten, so, daß sich ein stärkstes und mächtigstes Glied aus einem größeren Zu- sammenhange ablöst, sich darüber erhebt und das ihm bis dahin Nebengeordnete sich unterwirft, zu seinen Zwecken umschafft und so eine mannigfaltige Gliederung in seine Umgebung bringt. So entstanden die organischen Gebilde in stufenweiser Steigerung, indem die Systematisierung immer erfolgreicher durchgeführt wurde, bis hinauf zum Menschen. Der Mensch löst sich nun gegenüber der gesamten übrigen Natur, der organischen wie der unorganischen ab, er nimmt sich als den höchsten Zweck der ganzen Erscheinungswelt und geht an das Werk, die übrige Welt von sich aus in seinem Dienst, zu seinen Zwecken zu organisieren, umzuschaffen, zu gestalten, daß schließlich die Welt im Ganzen, zum mindesten ein möglichst weiter Umfang des allgemeinen Weltwillens in seinem Geist und Sinne ein System wird. Bis zum Menschen wogen die Wesen und Gattungen der Natur neben- einander, durcheinander hin und her. Keines hat ein beherrschen- des Übergewicht. Sie halten sich gegenseitig im Gleichgewicht. Es fehlt die beherrschende Übermacht, die alles Sein zusammen- faßt, in einen Strom leitet. Mit dem Menschen beginnt ein neuer Ring des Seins. Er ist nicht nur Form, System als Indivi- duum, nicht nur organisiert als Gattungswesen, wie es die übrigen organischen Wesen auch sind. Sondern bei ihm wird der Wille zur Form erst im höchsten Grade schöpferisch. Er greift über die eigene Gattung hinaus. Das Chaos der Natur, das sie behält trotz aller Gliederung im einzelnen, sucht er zu überwinden. Er tritt als das überragende Element aus der Natur heraus und wird der große Organisator der Natur. Der Mensch ist nichts, wenn er nicht schöpferisch ist, wenn er nicht Wille organisiert. Eine unermeß- liche Fülle Wille schläft noch ungehoben in der Natur. Das immer noch herrschende Chaos läßt ihn nicht zum Leben, zur Entfaltung kommen. Der Mensch muß den Willen in seiner Ganzheit er- lösen, indem er ihm im Ganzen Form gibt, indem er die ganze Welt, soweit nur seine Macht reicht, in ein einheitliches System bringt, an dessen Spitze er selber steht. So ballt sich aller vor- handene Wille zu einer gegliederten Einheit zusammen, und kommt
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so zu seiner vollen Entfaltung und Befreiung. Durch den Menschen wird das ganze All e i n Fluß, e i n Strom, e i n Rhythmus, eine Melodie. Im Menschen klingt der ganze Naturwille konzen- triert und gesammelt aus. Hier erlöst sich der Wille. Der Mensch steht im Anfange seiner Entwicklung. Er ist nicht ein großer Mittag, sondern ein großer Morgen. Nur durch Form, durch System kann der Wille sich selbst erlösen, kann er seine Erfüllung finden. In diesem Willen zur Form ist der Mensch ein wichtiges Glied, ein neuer Anfang, Ansatz, das erste Sieges- lied einer stolzen Hoffnung, die sich erkühnt, die ganze Welt einst in ein System zu bringen, alles Sein in die menschliche Seele aufzunehmen, alles Sein zu einer einzigen ungeheuren Melodie zu gliedern, oder vielmehr das All in eine einzige groß- artige Harmonie zu bringen, in der der Mensch oder dessen Nachkommenschaft die Melodie führt.
Nicht Wille zum Leben scheint mir die Welt, wie Schopen- hauer lehrt. Dies ist zu allgemein, zu unbestimmt. Auch nicht Wille zur Macht ist die Welt, wie Nietzsche lehrt. Dies ist zu einseitig, nicht allgemein und umfassend genug. Er bezeichnet etwas am Dasein, aber nicht das Dasein selbst, nicht das Grundlegende, Durchgehende, Übergreifende. Mir erscheint die Welt als Wille zur Form, als der strebende Versuch des Willens, sich selbst zu gestalten, sich aus der Zerrissenheit in die geglie- derte Einheit zu bringen und sich so zu retten, sich durch die Ordnung ganz zu vollenden und zu erschöpfen, sich durch die Form, die Schönheit zu erlösen. Als das Letztgegebene der Welt müssen wir einen künstlerischen Urtrieb annehmen, eine Sehn- sucht nach Ordnung, Rhythmus, Harmonie, einen Willen zur Gestaltung, der zwar oft nicht zum Ziele kommt, der mit schweren Widerständen kämpft, der aber auch oft sein Ziel erreicht, der bei der Gesamtabrechnung einer ungeheuren Entwicklung doch immer schließlich den Sieg erringt und in diesem Siegesgefühl, in dem Bewußtsein der errungenen Form und Schönheit sich erlöst, befreit, gesättigt fühlt. Nur die Form erlöst, nur die Schönheit beglückt. Darum ist alle Welt Wille zur Form, Wille zur Schönheit, ist alles Seiende Schöpferwille, der sich selbst zur Schönheit schaffen will, — wie sollten wir nicht alle Welt preisen
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können? Dieser Wille zur Form, zur Schönheit, dieser dürstende Schöpferwille, rechtfertigt sich in jedem Augenblick. Der Wille, der in der Welt lebt, ist ein bauender Wille, der sich selber baut und bildet. Wie sollten wir diesen Willen nicht lieben und segnen wollen ? Denn auch in uns ist dieser Wille zur Form, dieser ordnende, glie- dernde, gestaltende Schöpferwille mächtig. Unsere tiefste, reinste, stärkste Sehnsucht ist die Sehnsucht nach Schönheit, nach Kunst in allem, nach dem rhythmischen Gange aller Erlebnisse. Die ganze Welt ist Kunst und Kunstwille. So lasset uns auf diesen alltätigen, nie rastenden Schöpferwillen, der die Welt beseelt, ein weihevolles Loblied anstimmen, auf diesen Schöpferwillen, der zwar nicht von einer Allmacht entlehnt ist, die unweigerlich mit ihm ihr Ziel erreicht, der aber unersättlich in seinem Hange nach Form und Schönheit, nach Gestalt, in unablässigem Kampfe Herr wird seiner Zerrissenheit, der Widerstände, die er in sich birgt, bis er allüberall und im Ganzen seine rhythmische Reife und Vollkommenheit findet.
Ein nachdenklicher Hörer wird die Frage aufwerfen, die ihm vielleicht schon lange auf den Lippen liegt, wie es denn überhaupt komme, daß der Wille sich zunächst im Zustande der Zerrissen- heit, des Chaos finde, aus dem er sich durch Selbstformung zu retten sucht, was es denn für Hindernisse seien, die er hierbei zu überwinden habe, warum der Wille um seine Form, seine rhyth- mische Vollendung so schwer zu kämpfen habe, warum ihm seine Bildung und Selbstschöpfung so oft mißlingt? Warum die Ent- wicklung des Willens nicht völlig gradlinig und sicher sei, warum die Tragödie im Dasein eine so ungeheure Rolle spiele? Warum ist der Schöpferwille nicht allmächtig? Warum bleibt ein dunkler Rest im Dasein, der so viele Menschengeschlechter schon er- schreckt und sie oft in die tiefste Verwirrung gestürzt hat, daß sie verzweifelt dem Schöpferwillen absagten und schlaff zusam- mensanken?
Ich will hier einen Gedanken aussprechen, der unserer Zeit sehr fremd klingen wird, der mir aber die einzige Lösung dieses schwierigen Rätsels scheint. Es herrscht heute allgemein die Auf- fassung, daß die Welt aus einem einzigen allgemeinsten Prinzipe abgeleitet werden müsse, daß die Welt eine unbedingte Einheit sei,
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daß alles Mannigfaltige der Erscheinung auf eine einzige Urquelle zurückzuführen sei. Die gesamte moderne Philosophie seit der Renaissance hat unter der bestrickenden Macht dieses Gedankens gestanden. Im Pantheismus mit seinen verschiedenen Ausge- staltungen hat dieser Gedanke seinen stärksten Ausdruck gefunden. Heute nun vollends ist man ganz von diesem Gedanken ein- gefangen. Man glaubt sich aufs höchste zu ehren, wenn man sich einen Monisten nennt. Monismus ist ein beliebtes Schlag- wort geworden, mit dem man einen Abschluß, einen endlich erreichten festen Punkt in der metaphysischen Spekulation zu bezeichnen glaubt. Ich bin gänzlich anderer Meinung. Ich kann mir das Entstehen der Welt aus einer Einheit schlechter- dings nicht vorstellen. Nur aus dem Gegensatz von Kräften, aus der Reibung von Kräften kann meiner Ansicht nach Be- wegung und Leben entstehen. Eine absolute Kraft scheint mir gänzlich unvorstellbar. Jede Kraft braucht einen Gegenstand, einen Widerstand, den sie aufsucht, an dem sie sich ausläßt. Ohne Reiz von außen kann keine Kraft zu ihrer Äußerung kom- men. Wir sehen doch auch, welche ungeheure Rolle die Polarität in der gesamten Natur spielt. Kraft bedarf Gegenkraft. Und so, glaube ich, liegt es schon in dem Urschoß der Dinge. Hier, glaube ich, muß schon der positiven Kraft eine negative gegenüberstehen. Hier schon muß Kampf und Reibung sein. Nur so konnte die Welt entstehen.
Ich habe bisher den Willen, und genauer den Willen zur Form als die allgemeinste Grundlage der Welt bezeichnet. Aber dies v/ar einseitig. Jetzt ist eine wichtige Ergänzung nachzutragen. Der Wille zur Form ist nicht das einzige, ausschließliche Element des Seins. Denn warum ist der Wille zerstückelt? Warum muß er ständig nach Form ringen? Warum ist die Form, die Schönheit nicht von Ewigkeit da? Ich glaube dem Willen zur Form steht eine negative Kraft gegenüber, ein Wille zur Unform, zum Nichts. Das Nichts kann nicht schlechthin Nichts sein. Das Nichts muß eine aktiv wirksame, hemmende Kraft haben, die den bild- und regsamen Willen zur Form durchkreuzt. Wir steigen hier in die tiefsten Abgründe des menschlichen Nach- denkens hinab. Aber ich kann nicht einsehen, wie man ohne
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solche Vorstellungen zu einem leidlich klaren Abschluß seiner Weltbegriffe kommen will. Woher das so vielfach Verwahrloste, Schauerliche, Wüste im Dasein? Woher der Kampf, die Not, die Zwietracht im Sein? Warum muß der Wille seine Schönheit und Form so mühsam kämpfend suchen? Was hat ihn zer- schlagen, daß er einen so weiten Weg nehmen muß, um durch Gliederung seine Einheit wieder zu finden? Mir scheint, daß alles dies nur die Wirkung einer unheimlichen Gegenkraft sein kann, die sich dem schöpferischen Willen zur Form widersetzt, der er seine Gliederung, Sammlung, Ordnung, Schönheit abringt, welche ihm oft mißlingt.
Aber was ist nun diese negative Kraft im Dasein, die sich der- gestalt der schöpferischen Kraft entgegenstellt? Ich kann nicht hoffen, mit folgendem viel Beifall zu finden. Ich sage es nur, um meinen Gedanken Abschluß zu geben, um nichts zurückzu- halten. Wenn ich den Willen und näher den Willen zur Form als das schöpferische Prinzip der Welt bezeichnete, so war uns dieser Wille auch niemals in einer Ganzheit gegeben, sondern wir hatten ihn nur erschlossen aus den einzelnen Lebenserschei- nungen, die wir auf ihn zurückführten, ohne daß wir seiner un- mittelbar habhaft werden konnten. Und in dem gleichen Sinne will ich es verstanden wissen, wenn ich jetzt etwas in unserer Erscheinungswelt als das negative, hemmende, zerstörende Prinzip bezeichne. Ich sage nicht: dies i s t die negative Kraft, sondern hierin drückt sie sich aus, hiermit ragt sie hinein in unsere Er- scheinungswelt. Mit dieser Einschränkung aber sage ich: die alles zerspaltende, hemmende und dadurch zernagende und zer- malmende, vernichtende und zerstörende Kraft, gegen die sich der Wille zur Wehre setzt, scheint mir die Zeit zu sein. Die Zeit ist in unserer Erscheinungswelt der verkörperte Wille zum Nichts, der unfaßliche und doch so furchtbare Wille zum Nichts. Seit Kant gilt die Zeit als eine leere Form der menschlichen Anschauungskraft, der keine unbedingte Wirklichkeit zukommt. Ich kann diese Auffassung nicht für richtig halten, aus Gründen, die darzulegen hier natürlich zu weit führen würde. Die Zeit scheint mir auch eine unbedingte Wirklichkeit zu haben und zwar eben die furchtbare Wirklichkeit des steten Auflösens,
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Hemmens, Zerstörens. Die Zeit legt sich als das ewig Trennende zwischen die Dinge. Daß der Wille nicht als Einheit wirken kann, daran hindert ihn ewig die Zeit. Heute bist du ein anderer als gestern und morgen. Du bist durch das Dazwischentreten der Zeit stets in deiner Ganzheit zerrissen, in deiner Einheit gespalten und so kannst du nicht als voller, ganzer Wille wirken, sondern immer bist du ein flüchtiges Kind des Augenblicks. Das ist dein ewiges Hemmnis, deine Schwäche. Und so in allen Dingen. Überall trennt und zerstäubt die Zeit die Dinge, die nun nicht als volle Einheiten sich regen und wirken können, sondern die unter dem furchtbaren Druck der Zeit ständig Gefahr laufen zerrissen zu werden, sich in Chaos aufzulösen. Sie können das Jetzt und Ehemals nicht zur Einheit verknüpfen. Sie verflattern unter dem Spiel der Zeit. Die Zeit ist dem Willen als die ewige Pein über den Leib geworfen. Der Raum ist nicht in gleichem Maße das Trennende wie die Zeit, wie man vielleicht glaubt. Der Raum ist gleichzeitig mit dem Willen gesetzt. Wir können uns den Willen nicht anders denken als räumlich gerichtet. Daß der Wille aber in dieser räumlichen Ausdehnung als Einheit wirke, daß er seine ganze Fülle in Eins zusammenfasse, daran hindert ihn eben die Zeit. Auch zur Überwindung der Ausdehnung, des Raumes bedarf es Zeit. Die Zeit hat den Willen in seiner Breit- wie in seiner Längsentwicklung zerspalten und hemmt ihn an seinem einheitlichen Wirken. Hiergegen nun, gegen diese hem- mende, spaltende Kraft der Zeit setzt sich der Wille zur Wehr, dadurch, daß er F o r m annimmt. Durch die Form, die Gestalt kämpft der Wille gegen das Nichts, die Zeit. Durch die Form überbrückt der Wille die Kluft der Zeit. Durch die Form, dadurch daß er feste Gestalt annimmt, sucht er der Zeit Herr zu werden, sucht er Dauer zu bekommen. In diesem Zusammenhange lernen wir denn überhaupt erst begreifen, was eigentlich der von uns so oft gebrauchte Ausdruck ,,Form** bedeutet. Form ist nichts ande- res als die Verbindung, Zusammenfassung eines Mannigfaltigen, Zersprengten. Form ist Rhythmus, ist Wiederkehr des Gleichen, ist die Verknüpfung voneinander getrennter Elemente, so daß das eine an das andere anklingt, es gleichsam wieder aufnimmt, es über die Trennung hinweg erhält und so mit ihm eine einheitliche
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Wirkung übt. Form ist der Zusammenschluß verstreuter Ele- mente, die einzeln nichts sind, vereinigt aber ein volles Leben entfalten. Nur was Form hat, lebt. Wille zur Form ist Wille zum Leben. Die Formlosigkeit ist der Tod. Durch die Form ringt der Wille der Zeit sein Dasein ab. Durch die Form rettet er sich vor der Zeit. So beim einzelnen Menschen. Der einzelne schafft sich einen dauernden Charakter, eine feste Verfassung der Seele, damit er über den flüchtigen Strom der Zeit hinweg eine Einheit bilde, daß er zu jeder Stunde seine volle Kraft einsetzen könne, daß sein Leben ein einheitlicher rhythmischer Gang werde. So bietet er Trotz der Zeit. Und so ein Volk. Ein Volk schafft sich In- stitutionen, feste Formen, Verfassungen, die es über die Flucht der Zeit hinweg als Volk erhalten. Nur durch solche Formen lebt ein Volk, sie sind der einzige Beweis seines Daseins. Ohne diese Formen wird es alsbald ein Nichts, ein Chaos. Und so die gesamte Natur. Mit jedem Wesen als einer festen, gestalteten Einheit hat der Wille dem vernichtenden Strom der Zeit eine Spanne Dauer, Leben abgerungen, er hat sich, zu Einheiten ge- sammelt, aus dem chaotischen Strudel herausgehoben. Und durch die unendliche Kette der Wesen hindurch, indem immer eine Form die andere erzeugt, wodurch das Fernste mit dem Nächsten zusammenhängt, sucht sich der Wille in seiner Ganzheit empor- zuringen aus der chaotischen Zerrissenheit. Indem ein Wesen immer dem andern, eine Form der andern die Hand reicht, steigt der Wille in seiner Allheit empor zum Leben, aus der Zerstückelung zur Einheit, aus dem Wirrsal zur Ordnung, aus dem Chaos zur Schönheit.
Das Leben ist eine Mischung. Die Welt ist aus einer Kreuzung hervorgegangen, aus einer Begattung zweier ewig geschiedenen Mächte. Jedes Leben ist ein harmonischer Ton aus der Tiefe disharmonischer Urkräfte heraus. Die Annahme einer Allmacht im Dasein ist für immer gescheitert. Nur eine seichte Betrachtung der Welt, die sich bewußt den Blick vor den Abgründen des Da- seins verschloß, konnte diesem Glauben anhängen. Der Pessi- mismus hat sich diesem Wahnglauben mit Macht entgegenge- worfen. Er hat unbarmherzig den Schleier von der Welt gerissen, den schwärmerische Geister um sie gewoben hatten, Schopen-
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hauer hat eine tiefe Furche in den glatten Sand des neueren Denkens gezogen. Was er niedergeschrieben hat, wird niemand wieder auslöschen. Alles dies ist mit aufzunehmen in das künftige Weltbild. Wenn eine Allmacht im Dasein herrschte, müßte sie überall herrschen. Sie kann nicht freiwillig aus sich selbst heraus die Unvollkommenheit erzeugen. Die Allmacht müßte sich überall rein und voll ergießen. Man hat oft von einem Abfall vom Göttlichen gesprochen. Wie sollte das möglich sein! Das Göttliche kann sich doch nicht selbst aufheben, auch nicht zum Teil. Nein, es muß eine Zweiheit, einen Widerspruch, einen Kampf im Ursein geben. Nur aus einem gegenwirkenden Zwange konnte und kann das Unvollkommene, das Böse entstehen. Die Welt ist die schmerzhafte Geburt aus zwei entgegengesetzten Mächten. An dem Kampfe zwischen Wille und Zeit entzündet sich die Gestalt, das Leben. Die Welt ist weder ein Werk der Weisheit, noch ein Werk des Wahnsinns. Sie ist das sehnende, kämpfende Suchen eines zerspalteten, zerrissenen Willens nach seiner Wiederkehr, nach seiner Einheit, nach seiner Schönheit, seinem Glück. Erkenne dich selbst. Was du selbst bist, das ist die Welt. Sie ringt und sucht wie du. Was aber sucht sie? Ihre Form sucht sie, ihre Gestalt, ihre Ordnung, ihre Schönheit. Die Welt ist eine Selbstschöpfung. Der Wille, von einer furcht- baren Gegenkraft zerspalten, kann diese Zerspaltung, diese Zer- rissenheit nicht ertragen. Er lechzt nach seiner Sammlung, seiner Vereinigung, seinem Aufbau. So entsteht die Welt.
Und der Mensch? Und du? Kannst du diese Welt lieben, kannst du ein Mitstreiter sein in dem kämpfenden Willen? Willst du dich hineinstürzen in den Strom des schöpferischen Lebens, um als Tropfen mit hinauszuströmen in den Ozean der letzten Schönheit? Oder willst du dich ermüdet abwenden, entsagend, verzweifelt, gebrochen? In der Tiefe der menschlichen Seele regt sich ewig ein Sehnen nach Selbstbejahung, ein unstillbares Sehnen nach Freude, nach Übereinstimmung mit dem eigenen Wesen, nach — Glück. Man hat dies Verlangen schon oft tot- schlagen wollen. Man hat es verflucht, gehöhnt als den verderb- lichsten, sündhaftesten Trieb des Menschen, den er bei sich aus- rotten müsse mit Stumpf und Stiel. Aber alles Schelten und Eifern
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hat nichts vermocht. Immer wieder ward sie rege, die alte Sehn- sucht. In heimlicher Stille tat sie immer wieder verstohlen die Augen auf und schaute hinaus, ein Land der seligen Wunder, der Erlösung suchend. Schämen wir uns dieses Suchens nicht. Es ist nicht ein verbotenes Gefühl; es ist das wahrste, echteste, erste Gefühl. An der Spitze aller Religionen steht die Frage nach dem Glück. Ist Menschenglück möglich? Und wie ist es möglich? Diese Frage hat allen Religionen das Leben gegeben. Und die Beantwortung dieser Frage bildet auch die Krönung aller kräftigen Philosophien, die, nicht dürre Gedankengespinste, dem Leben entquellen, zum Leben drängen. Diese Frage ist mit furchtbarer Gewalt jetzt wieder in den Herzen erwacht. Sie tönt, sie dröhnt in allen Gemütern. Sie läßt sich nicht einschläfern, töten. Die düstern Philosophien des letzten Jahrhunderts, die so vielen zweifelnden Seelen ihr tiefstes Empfinden enthüllt, ihr banges Ahnen in Worte gekleidet haben, haben diese Frage von neuem vor die Entscheidung der Menschheit gebracht. Diese hat jetzt zu wählen, sich zu erklären. Will sie das Leben oder will sie es nicht? Auf dem einen Wege geht es hinab in ein stilles Hin- dämmern, ein allmähliches Sterben. Auf dem andern geht es hinauf zu lichten Höhen und stolzen Taten.
Ist ein Menschenglück? Ja, ich sage, es i s t ein Menschen- glück. Aber es ist nur ein einziges Glück, das Glück der Schönheit. Alles andere ist Schaum und Dunst.
Wenn der Mensch seine Tugend erfüllt, wenn er sein Inneres gestaltet, alles, was in ihm an unerlöstem, sehnendem Willen ruht, zur Form erhebt, wenn er lebendig macht, was in ihm nach Leben lechzt, kurz, wenn er sich ausströmt, ganz Schönheit, ganz klingende Harmonie wird, dann hat auch der Mensch das Glück. Den Menschen darf keine Furcht anfallen, keine Bangig- keit, er darf nicht vor seinem eigenen Wesen schaudern, sondern er muß ihm frei die Zügel schießen lassen, dem Gesetze, mit dem er sein Leben angetreten, gehorchen, er muß, wie Nietzsche es nennt, werden, was er ist, dann erringt er ein überfließendes Maß von Glück. Wenn der Mensch alle Schätze hebt, die in seinem Innern ruhen, wenn er ein unermüdlicher, nie rastender Schöpfer an sich selber wird, wenn er unablässig bildet
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Zweiter Teil.
und gestaltet und immer nur bildet und gestaltet, mit anderen Worten, wenn der Mensch nur wirklich lebt — denn alles Leben ist ein Bilden, Gestalten — dann erringt er das einzige, höchste Glück, das Künstler- und Schöpferglück. Ob sich die Welt gegen ihn bäumt, ob ihm das Schicksal Fels über Fels auf den Weg schleudert, er strömt und stürmt über alles hinweg. Nur der dämonische Mensch, der Sturm in sich hat, den ein Dämon jagt, ist glücklich. Nicht die Ruhe ist das Glück, die Bewegung ist das Glück. Der Mensch der großen Leidenschaft nur, dem alle Fesseln entfallen sind, der sich nur vor sich selber retten kann, wenn er schafft, wenn er ringt, wenn er alles Sein überflutet, verschlingt, der schöpferische Mensch allein ist glücklich. Welch eine Seltsamkeit, daß unsere Väter das heiße Begehren die Leiden- schaft, ein Leiden nannten. Uns ist es das einzige Glück. Soweit du begehrst, soweit du liebst, schätzst, wertest, erobern, bilden, gestalten willst, soweit hast du Glück. Unglück hast du nur, wenn du zaghaft bist, wenn du nur halb willst, wenn du deinem Dämon, deinem Gesetze nicht folgst, wenn du ihm etwas abbitten willst, wenn du weniger willst als du wollen solltest. Nicht das Wollen ist ein Unglück, nur das halbe Wollen, das gehemmte, gebrochene Wollen. E i n Leiden gibt es nur, die Verkrüppelung. Wenn du aber Mut hast, wenn du den Willen, der in dir quillt, gestaltest, wenn du ihn nicht zurückdrängst, sondern ihm ein Bett gräbst, in dem er sich mit aller Kraft und Pracht ergießen kann, dann zittert deine Seele vor Seligkeit. Sahst du noch nie einen schöpferischen Men- schen, wie ihm der Blick leuchtet vor Glück? Wer aber feige um das Leben schleicht, wer sich duckt und ängstlich schielt, wer ein Glück von außen erwartet und mit dem Dasein rechtet, wer seinen eigenen Schatz, seinen Goldreichtum nicht erkennt, der in ihm lebt, da er ja auch Wille ist, den er nur zu beleben braucht, dem er nur ein freudiges Ja! zuzu- rufen braucht, daß er hervorbricht in seiner Schönheit und sich so erlöst, — der wird nie das Glück erjagen. Das Glück ist ein Lohn, ein Lohn der Tapferkeit, des Wagemuts. Wer feige ist, der geht leer aus. Nur die Tugend kann das Glück erschaffen. Was aber ist die Tugend? Das Wollen ist die
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Tugend. Denn alles Wollen ist ein Formen, Bilden, Gestalten, Adeln, Verschönern. Wenn du willst, bist du ein Künstler, dann schaffst du das Schöne. Du kannst nicht wollen, ohne Schönes zu schaffen. Mit deinem Wollen breitest du über dich und den ganzen Umkreis deines Daseins den Adel der Schönheit aus. Und in diesem Adel atmet dein Herz beseligt auf. Es gibt nur eine Erlösung, die Erlösung durch Schönheit. Über jeder erreichten Schönheit liegt ein Glanz der Unendlichkeit ausgebreitet. Es ist, als ob mit jeder errungenen Schönheit das ganze Dasein, der Allwille einen Triumph feiere. Jede Schönheit strömt einen ewigen Hauch des Glückes aus. Du darfst das Glück nicht wollen; du darfst auch die Schönheit nicht wollen. Du mußt nur — wollen. Willst du ganz, willst du wahrhaft, so erschaffst du von selbst das Schöne. Das Schöne ist das ganze Wollen; das Schöne ist die Kraft. Und mit der Schönheit senkt sich auch von selbst das Glück auf dich nieder. Du hast dein Dasein erfüllt. Der Wille, der in und mit dir Gestalt gewinnen wollte, hat seine Gestalt gefunden. Und so ist er gesättigt in seiner Schönheit, so ist er erlöst, beglückt.
Und wie der Mensch, so alles Sein. Alles Lebende, alles Seiende ist von Natur ein Schönes, eine Harmonie, eine rhyth- mische Gestalt. Wille zur Form, hatten wir gesagt, ist alles Dasein, ein Wille zur Schönheit. Aus der Gestaltlosigkeit will der Wille zur Gestalt, zum Leben. So kann der Wille nur Leben haben, soweit er schon Gestalt, schon Schönheit hat. Aber eine viel größere Aufgabe ist dem Willen noch mit dem Leben gestellt. Das Leben ist ein Ansatz zur Schönheit. Eine viel höhere Schönheit soll der Wille in seiner Entwicklung gestalten. Was in ihm an Gestaltungskraft, an Schönheitswille ruht, das soll er in stufenweiser Bildung entfalten, bis er seinen ganzen Schatz verbraucht hat, bis er alles in Form gegossen hat, was er besitzt, bis er dasteht in seiner Vollendung. In diesem Zustande aber, und schon bei jedem Schritte vorwärts auf dieser Bahn wiegt sich der Wille in trunkenem Glücke. Und wie sollte es anders sein? Das Sein ist Wille. Wenn dieser Wille sich erfüllt, sich ganz durch Formung entlädt, wenn er ganz heraus, zum Lichte kommt, wenn er seine Bahn zu Ende läuft, seinen Umkreis aus-
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mißt, sich voll erschöpft, dann muß sich der Wille bejahen und dann bejaht er sich auch. Und zwar allüberall. Wo der Wille hervorbricht im Dasein, wo er eingegliedert ist in der Kette des Werdens, wo er als Tropfen auftaucht im Strome des Allwillens, ob seine Ziele weit oder eng, hoch oder niedrig sind, ob er einen weiten Weg zu seiner Vollendung vor sich hat, ein großer Umkreis sich vor ihm und um ihn als seine Aufgabe dehnt — das alles tut zur Sache nichts. Wenn der Wille nur frisch und kräftig ist, wenn er nur Wagemut hat und sich in das schöpferische Leben stürzt, — dann hat er das Glück. Jede Tat erfreut. Dies ist die ewige Harmonie im Dasein. Wo Tat, wo Wille, wo Schöpferkraft ist, da ist auch Glück. Nicht nur das große, das staunenswürdige Dasein kann sich bejahen, wie Nietzsche glaubte; alles Dasein kann sich bejahen, wenn es nur bildet und schafft, wenn es nur lebt. Jeder Wille braucht zur Seligkeit nur der Erfüllung seiner Kraft. Er braucht keine unendliche Tat, er braucht nur seine Tat. Wenn er aber diese Tat vollbringt, die ihm sein Wille vorschreibt, die aus seiner Stellung im Dasein, seiner Anlage, seinen Umständen fließt, die gerade i h m der Lauf des Daseins gebeut, dann hat er auch sein Glück zum Lohn. Tat und Glück, sie halten einander im Gleichgewicht. Jede Tat findet unweigerlich ihr Glück. Dies ist die Lehre von der Selbstge- nügsamkeit alles Seins. Alles Sein ist sich selbst genug. Es trägt in seinem Schoß einen gleichen Schatz der Tat und auch des Glücks. So segnet es sich selbst. So bewegt es sich beglückt um seine eigene Achse.
Solchermaßen gewinnt die Welt ihren Wert, ihren Adel wieder. Adel hat, was um seiner selbst willen lebt, was keiner höheren Rechtfertigung bedarf, was sich selbst bejaht. Dies ist die Religion des Heidentums, des Griechentums. Der heilige Glaube ist es an die selbsterlösende Kraft im Menschen, in allem Sein. Nur was durch eigene Kraft bestehen kann, was in sich selbst eine unversiegliche Quelle des Glückes birgt, was keiner Unterstützung, keiner Anlehnung, keiner hilfreichen Gnade bedarf, was ganz auf eigenen Füßen steht, das allein hat Würde. Diesem stolzen Glauben huldigten die Griechen, jene wunder- baren Erstlinge des europäischen Lebens. Sie glaubten fest an
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eine Tugend, die selig macht, die Tugend des Schaffens, des Schaffens des Schönen. So hatte der griechische Mensch Adel, Würde. So goß er noch seinen Adel aus über alle Dinge. Durch Schönheit taufte er sie zur Eigenwürde. Der Grieche lechzte nicht nach Erlösung ; er war erlöst im Glück seiner Schönheit. Dann aber brach das Unheil herein. Aus Asien kam herüber das Christentum und predigte, wie alle asiati- schen Religionen, die Schwäche des Menschen. Was war es, das das Christentum die Menschen des griechisch-römischen Heidentums lehren wollte? Was wollte es ihnen mit aller Ge- walt einprägen? Was suchte es ihnen immer und immer wieder zu Gemüte zu führen? Den Glauben von der gänzlichen Hilfs- bedürftigkeit, Haltlosigkeit, Unwürde des Menschen, der nichts aus eigener Kraft vermöge, dessen Hoffnung auf Eigenerlösung durch die Kraft seiner Tugend ein eiteler Wahn sei, der eine Er- lösung durch höhere Macht bedürfe, der Gnade brauche. Die Christen empörte die Selbstsicherheit, der Stolz, mit dem die Heiden das Leben unschuldig und tapfer lebten, die selber glücklich zu werden gedachten, die fest auf die eigene Kraft, die eigene Tugend bauten. Diesen Heidenhochmut wollte das Christentum brechen. Und es hat ihn gebrochen. Es hat den Menschen geknickt und entwurzelt. Schleiermacher gilt mit Recht als ein tiefer Kenner des Christentums. Aber wie bestimmt Schleiermacher die Religion? Als das Gefühl einer schlechthinigen, soll heißen unbedingten, gänzlichen Abhängigkeit. Aber das ist nur eine Religion. Es gibt auch eine Religion des Stolzes, des Mutes, der Selbsterlösung, Das ist die heidnische Religion, das ist die griechische Religion, die wir zurückerobern müssen. Der Glaube an Gott war das größte Unglück der Menschheit. Diese Heilsbotschaft war eine Unheils- botschaft. Gott war dem Menschen immer ein Stab, eine Stütze, Anlehnung, Hilfe, Rettung. Das sollte er sein. Darin sah man das große Heil dieser Lehre. Aber dadurch begab sich der Mensch der Eigenwürde. Damit verzichtete er auf die eigene Kraft. Aus der Schwäche ist dieser Glaube gewachsen. Die Schwäche hat er gezüchtet, verewigt. Was hat dieser Glaube den Menschen gekostet! Wie viel Menschenkraft wurde durch diesen
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Glauben erstickt, nicht zum Leben, zur Gestaltung gebracht! Der Mensch mochte sich in der Gotteskindschaft sicher, gebor- gen fühlen. Aber sein Stolz war auch dahin. Er wurzelte nicht mehr in sich selbst. Er rankte sich an einer höheren Macht empor. Aber nur aus dem Selbstvertrauen, dem großen Mut heraus erwachsen die großen Taten. ,,Nur dadurch, daß ich Gott möglichst zu entbehren suche, kann ich mich in ein würdiges Verhältnis zu ihm setzen", sagt schon Hebbel, der kühne, ahnungsreiche Vorläufer Nietzsches. Wir aber müssen Gott gänzlich abschütteln. Damit erst machen wir den Men- schen wieder zum Menschen. Der Mensch, der einem Gotte sich beugt, sich einem Gotte verbunden fühlt, ist nur halb ein Mensch. Nur wenn er ganz auf seine eigenen Kräfte angewiesen bleibt, wenn er allein in einer feindlich wogenden Welt steht, wenn er keinen verstohlenen Zugang mehr zu einer höheren Macht hat, nur dann kann der Mensch Größe erlangen. Nur die harte Zucht erzieht zur Schönheit. Die Welt ist nicht für schwache Seelen gebaut, sondern für starke. Treiben wir die Religion der Schwäche aus. Werden wir wieder aus Christen zu Heiden. Was ist Christentum? Was ist Heidentum? Christen- tum ist der Unglaube an den Menschen, an die Eigenkraft des Menschen. Heidentum ist Glaube an den Menschen, an die Selbstgenügsamkeit des Menschen, an die Selbstgenügsamkeit des Seins, an den Adel alles Seins. Die Demut soll das Höchste sein? O nein, der Stolz ist das Höchste. Richten wir den Men- schen wieder auf; heben wir ihn wieder empor, daß er sich selbst vertraut. Und er wird ungeahnte Früchte treiben. Er wird wieder ein Leben schaffen, um dessentwillen das ganze Dasein gerechtfertigt scheint, das seinen Goldglanz auf alles Dasein ausstrahlt.
Aber all die Scheiternden, Fallenden, die nicht ihre Schönheit, ihr Glück erreichen? Wir sagten, die Welt ist keine Allmacht. Was tröstet die Enterbten, die ihr Ziel verfehlen? Die Welt ist eine Jagd nach dem Glück der Schönheit. Wer fällt, muß freudig fallen. Er darf dem Leben nicht fluchen. Er muß die Glück- lichen segnen, muß ihnen noch ein fröhliches, herzliches Auf! Weiter! zurufen, wie der fallende Krieger der Schlacht noch an
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dem Glück der siegenden Kameraden sich labt, mit diesem Sieges- gefühl selig stirbt. Das Leben ist keine Kinderei, kein Spaß, kein Spiel. Es ist ein Wagnis. Auf, lasset uns dieses Wagnis wagen! Wer scheitert, scheitere gern; mußte er doch wissen, was er tat, als er das Leben begann. Das Leben ist für Helden gemacht und nicht für Feige. Wir müssen es uns verbitten, daß die Verunglückten, Gebrochenen, Bekümmerten über das Leben richten. Lange genug haben sie den Wert des Lebens bestimmt. Die Gesunden sollen nicht nur Mitleid haben mit den Kranken, sondern die Kranken auch mit den Gesunden. Sie sollen nicht fordern, daß diese in ihr Lied mit einstimmen. Wer Schmerz hat, der trage den Schmerz in der Stille. Er verun- glimpfe das Leben nicht. Er lasse nicht die ganze Welt wieder- hallen von seinem Schmerz, Ihm muß das Leben heilig sein. Er darf es nicht entweihen. Er koste seinen Schmerz aus; aber er erscheine fröhlich, daß er nicht auch die Glücklichen erschreckt, verfinstert. Er habe Scheu vor ihrem Glück. Er breche nicht verwüstend ein in den Garten ihres Glücks. Wohl, dazu gehört Größe. Aber das Leben ist eben für die Größe angelegt, für hochgewachsene Geister, für Heiden. Wer stolz ist, der will kein Mitleid. Sein Glück will er mit jedem teilen. Sein Un- glück behält er für sich allein. Wenn diese Gesinnung herrscht, behält das ganze Leben seinen Glanz, seinen Adel. Aus dem Leben fallen viele heraus. Jedes Leben ist ein Versuch. Aber die Geretteten, die Siegreichen stehen aufrecht, ein stolzes Triumphlied im Busen, alles Dasein mit ihrer Schönheit ver- schönend, mit ihrem Glück beglückend.
Aber schlägt nicht auch zuletzt für die Glücklichen, die Schönen eine angstvolle Stunde? Aus Wille und Zeit, hatten wir gesagt, baut sich die Welt. Im Kampfe mit der Zeit, die ihn spaltet und hemmt, schafft sich der Wille die Form, die Ge- stalt, das Leben. Aber wird nicht doch immer wieder die Zeit über den Willen Herr? Muß nicht jede Gestalt wieder verfallen? Jede Gestalt — ein schöner Ton aus der unharmonischen Tiefe heraus. Aber auch verhallend, verklingend wie jeder Ton. Als letzter Feind und Verneiner, der unseren ganzen Schönheits- traum verweht, der uns zurückschleudert in die Armut, in die
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Zweiter Teil.
Gebrechlichkeit, als dieser letzte, wie es scheint, unbesiegbare Feind erhebt sich mit finsterer Macht der Tod, der unerbittliche. Was kann den Tod besiegen? Wir haben diese Frage vergessen. Die Menschen irren und taumeln durchs Leben hin. Es scheint, der Tod hat keine Macht über sie. Aber sie haben sich den Ge- danken an den Tod nur aus dem Sinn geschlagen. Sie haben ihn erdrückt, erstickt. Aber das schafft keine wahre Ruhe. Man darf einem Gegner nicht aus dem Wege gehen. So bleibt er hinterrücks eine Gefahr. Man muß ihn aufsuchen, besiegen. Dann steht die Seele fest und aufrecht. So halte es der Mensch auch mit seinem furchtbarsten Gegner, dem Tode.
Was ist der Tod? Wer kann uns den Tod besiegen? Das Leben ist ein Versuch, ein Wagespiel des sehnsüchtig leidenden Willens, der seine Gestalt und Schönheit will. Wie oft miß- lingt ihm dieser Versuch! Wie oft zerfällt die Gestalt, ehe sie ihre Schönheit gefunden! Rauhe Stürme schütteln so viele hoffende Frühlingsblüten. Und auch der Wille, der seine Schönheit errungen hat, der sich ganz in Form gegossen hat, der ganz Gestalt, ganz Leben ward, der keinen klein- sten Tropfen in seinen verborgenen Fässern vergessen hat, sondern alles ausgeschüttet hat, daß es in dem Kelche seines Lebens perlt und schäumt, auch dieser vollendete Wille ist dem Tod verfallen. Dadurch, d a ß er vollendet ward, daß er nichts vergaß, daß nichts Ungeformtes, Unerlöstes mehr in ihm ruht, daß er sich ganz erschöpfte, damit gibt er wieder dem Tod sein Recht. Die Schönheit ist ein Geschenk des Augenblicks. Ist dieser Augenblick erreicht, kam die Schönheit zum Lichte, fand der Wille sein Ziel, so muß er wieder zurückebben. Das Chaos wird wieder Herr über die Schönheit. Das Nichts besiegt wieder den Willen. Er hat dem Nichts eine Schönheit, eine Gestalt abgerungen. Nun schleicht wieder das Nichts herbei und löst die Schönheit auf. Und wie im einzelnen, so im ganzen. Wenn aller Wille organisiert ist, wenn der ganze Wille Schönheit, System geworden ist, wenn die Welt ein einziger schön geformter Organismus ist — was die Welt gewiß nicht ist; Chaos ist die Welt im weitesten Ausmaß noch, sie sucht noch ihre Schönheit — aber denken wir uns diese Entwicklung zur Höhe gelangt, den
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ganzen Willen hin- und ausgegossen in seiner Schönheit, in seiner Gestalt vollendet, dann staut unzweifelhaft auch der Schöpferwille in seiner Ganzheit zurück. In seinem Ringen nach Schönheit und Gestalt hat er sich verzehrt, nun verfällt er wieder dem Chaos. Wenn der Welt eine Zweiheit zugrunde liegt, so müssen diese Gegensätze auch in ihrer Herrschaft wechseln Die beiden Urgegensätze des Daseins vollführen einen rhythmi- schen Gang miteinander. Dem Schritt muß der Gegenschritt folgen. Tag und Nacht, Helle und Dunkelheit, Schönheit und Wirrsal, Ordnung und Wüste, Leben und Tod müssen auch im Allsein wechseln. Noch sind wir Jünger des Tages. Ein un- endliches Schönheitssehnsuchtslied klingt noch durch alles Da- sein. Der Wille lechzt und strebt noch unersättlich. Sein Reichtum dünkt ihm unerschöpflich. Aber irgendwann legt sich der Schleier des Nichts auch wieder über den Allwillen. Die Zeit hat ihn aufgerieben. Er hat gesiegt, nun aber muß er wieder unterliegen, und so in ewigem Wechsel. Aber ich sage: dem Tode des Schönen ist der Stachel genommen. Alles Reife will sterben; denn es kann sein Glück nicht tragen. Alles Reife lechzt nach dem Tode. Wer seine Schönheit fand, wer seinen Willen ganz in Form ge- bracht hat, daß er bis auf den letzten, versprühenden Rest Gestalt gewonnen, daß er ganz und gar lebt, daß er in ihm wie in einem beengenden Gefäße quillt und schäumt, — der lebt in einer seligen, aber auch zugleich in einer schweren Spannung. Das Herz ist ihm immer wie zum Zerspringen voll. Es gibt nicht nur Tränen des Schmerzes, sondern auch Tränen des Glückes. Das höchste Glück wird fast ein Schmerz. Selig ist der Rausch der Schönheit. Aber fast erträgt ihn nicht das Herz. Es muß sich in Tränen entladen. Und einen Schritt weiter noch, so wünscht es selbst den Tod. Hast du noch nie einen großen Augenblick erlebt? Wenn du einen großen Augenblick erlebt hast, so wirst du wissen, daß, als der Rausch am höchsten war, als du fast im Taumel deines Glückes vergehen wolltest, du den Wunsch hattest, es möchte ein Ende nehmen. Denn du ver- mochtest das Gedränge dieser Seligkeit nicht mehr zu fassen. So der Glückliche mit dem Leben. Der Glückliche wandelt trunken auf der Scheide zwischen Tod und Leben, immer zu
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beidem bereit. Vor dem Tode bangt, wer im Leben nicht satt ward, wer seinem Willen nicht ganz Genüge tat, wer in seinem Innern irgend ein Heiliges, Edles hat verkümmern, vermodern lassen. Der allein bangt vor dem Tode, hat er doch nie das Glück seiner Schönheit, den Rausch seiner rhythmischen Voll- endung nie gekannt, vermöge welcher seine Seele bis in ihr Unterstes, Tiefstes hinein erklingt. Wie sollte er nicht noch hungrig sein! Der Wille aber, der ganz durch Form zum Aus- druck kam, der siegreich aus seinem Chaos sich zur Schönheit, zum Leben erhob, der sein ganzes Genüge fand, der sich voll erschöpfte, ein solcher Wille geht trunken in den Tod. Er ist überladen vom Glück der Schönheit. Er zerbricht an diesem Überglück. So breitet er dem Tode freudig seine Arme aus. Da er ganz Form, ganz Schönheit ward, ward er erlöst. Nun zuckt er nicht mehr, wenn der Schatten des Todes naht. Er hat seinen Sinn erfüllt. Wie sollte er nicht gerne sterben wollen!
Nur da es ewig vom Nichts umringelt ist, darum hat das Leben diese heiße Glut. Lieben kannst du nur, was du als ein- ziges liebst. Alle wahrhafte Liebe ist Liebe zu etwas Unersetz- lichem, Unwiederbringlichem. Darum ist der Tod nicht der Feind, sondern der Freund des Lebens Wille und Nichts bauen gemeinsam die Welt; aus ihrer Begattung nur kann das Leben, die Schönheit erstehen. Begreife den tiefen Sinn der Zweiheit, der Spaltung im Dasein. Ohne die ewige Furcht vor dem Tode, ohne die ewige ernste Mahnung des Nichts, ohne den steten Anreiz des drohenden Abgrundes würde der Wille erlahmen, er- löschen. Der Tod, das Nichts, die Zeit, die Vergänglichkeit — oder wie du die geheimnisvolle verneinende Kraft im Dasein nennen willst — jagt den Willen hinein in das Leben, die Gestalt, die Schönheit. Der Wille, ewig vom Nichts gereizt, gehetzt, kann sich nicht anders retten, als daß er sich in die Schönheit flüchtet. Ewig vom Nichts umlagert, umlauert, muß er den Augenblick zur höchsten Weihe gestalten, daß der schöne Augen- blick ihm über die Wüste des Nichts hinüberhelfe, ihn die Finster- nis, die Nacht vergessen lasse. So erzeugt auch das Nichts das Leben; so ist auch der Tod der Vater des Schönen. Das Ewige
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ist nicht das Wertvolle, Heilige, Schöne. Das Ewige ist das Wertlose, Wüste, Gestaltlose. Nicht das Vergängliche sehnt sich nach dem Unvergänglichen. Das Unvergängliche sehnt sich ewig nach dem Vergänglichen. Die gestaltlose Ewigkeit sucht die Gestalt als ihre Erlösung. Das Ewige ist das ewig Leidende, Suchende, Bangende. Der Zauber der Gestalt hat es der Ewig- keit angetan. In der Gestalt will sich die wogende Ewigkeit rhythmisch gliedern und sich so erlösen, von seiner Wüste heilen. Zwar die Gestalt bezahlt sich mit dem Tode, mit der Vergänglichkeit. Aber der Adel der Gestalt, die klingende Musik der Gestalt, das Glück der Gestalt wiegt die ganze Wüste der Ewigkeit auf. E i n schöner Ton aus der grausigen Tiefe heraus, und der Allwille entzückt sich an dieser verklingenden Schönheit, er vergißt das Leiden seiner Ungestalt, er erlebt einen seligen Augenblick. Nicht der Augenblick will sich zur Ewig- keit ausdehnen, erweitern, sondern die Ewigkeit will sich zum Augenblick verengern, verdichten. Im schönen Augenblick der Gestalt jauchzt die gestaltlose Ewigkeit auf. Das Leben ist der verrinnende Schaum auf der Oberfläche des Meeres der Ewigkeit, den der gestaltlos wogende Schlund nach oben spült. Aber nur in diesem tanzenden, funkelnden, glitzernden Schaum liegt alle Schönheit, liegt alle trunkene Lust, alles Jubeln und Sehnen des Meeres der Ewigkeit. Im Grenzenlosen wollte man den Menschen heimisch machen. Er sollte seinen Blick über die Erde hinauswerfen und im Unermeßlichen hausen lernen. Aber das Grenzenlose ist nicht für den Menschen. Im Grenzen- losen taumelt er. Verschweifen wir uns nicht. Halten wir im Begrenzten Stand. Hold sind alle Schranken. Nur die Schran- ke, nur die Grenze wirkt die Schönheit, i s t die Schönheit. Die Schranke, die Grenze ist nicht ein Unglück, eine Fessel, eine Schwäche. Die Grenze ist die Stärke, die Entfaltung, der letzte Wunsch, das Glück. Das Ewige will sich begrenzen, sich zu festen Gebilden fügen, sich in schönen Schranken gliedern. Ich weiß, du suchst die Schönheit. So nimm denn auch den Glauben an, der diese Schönheit schafft. Nur der heilige Glaube an die Gestalt als an das einzige Leben, die Ehrfurcht vor dem Maß, der Grenze können die Schönheit zeugen. Umarme die
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Zweiter Teil.
Gestalt, trinke alle wonnige Glut der Gestalt. Vergiß die Ewig- keit, gib dich hin an die Vergänglichkeit. So gebierst du die Schönheit. Mit deiner Schönheit aber erlöst sich in dir die Ewigkeit. Im Glück dieser Schönheit vergißt du Anfang und Ende, Geburt und Tod. Wie zwei Liebende in seliger Zwie- sprache Raum und Zeit vergessen — sie wissen nichts von Vergangenem oder Zukünftigem, sie sind ganz dem Augenblick verfallen, im Jetzt verloren — so der Gläubige, Glückliche mit dem Leben. Du glaubst, du kennst das Leben. Aber du kennst das Leben nicht. Du nimmst dein Leben nur hin. Du haspelst dein Leben nur ab. Spinne dich ein, webe dich ein. Nur wenn du dich dem Leben ergibst, ergibt sich das Leben dir. Wenn du so lebst, so liebend lebst, so schöpferisch lebst, dann bist du er- haben über alle Vergänglichkeit. Dann ist dir der Tod nur der notwendige dunkle Grundton im Dasein, der die Melodie des Lebens nur um so heller erklingen läßt, der ernste Mahner, der zu allem Leben, zu allem, was Gestalt hat, warnend spricht: lebe, lebe!
Dies ist die Religion der Griechen, die unbewußte Religion Homers. Homer ist nicht nur das schönste, es ist auch das weiseste, tiefste Buch der Erde. Denn es hat das Leben. Es zeigt das Leben in unnachahmlichem Glänze. Nicht die Schön- heit Homers erschüttert uns, sondern der Glaube, der diese Schön- heit erschuf. Welche gläubigen Verehrer der Gestalt, des Le- bens! Das war ein herrlicher, vielverheißender Anfang Eu- ropas. Aber das Griechentum erfüllte seine Aufgabe nicht. Das Griechentum erlitt auf der Höhe Schiffbruch. Es schuf nicht die zu Homer gehörige Religion. Es gibt nicht nur Tragik im Einzelleben, sondern auch Tragik im Völkerleben. Das Griechentum gipfelt in Piaton. Aber Piaton war der letzte Grieche und auch zugleich der erste Christ. Es ist ein wunderbares Doppel- spiel in Piatons Seele. Piaton war das Verhängnis Europas. Er fluchte dem Griechentum, er strich sein eigenes Volk durch. Man möchte noch heute wehe, wehe! rufen über diese Tat. So brach er der asiatischen Religion die Bahn. Alle asiatischen Religionen haben einen Klang der Müdigkeit, der Schwäche, der Sehnsucht aus dem Menschen heraus. Sie blicken zweifelnd,
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verstört auf das Leben. Sie wollen das Leben nicht stärken; sie zittern vor ihm. Sie suchen ihm zu entfliehen, es abzudämpfen. Darum schläft auch Asien, seitdem diese Religionen dort herr- schen, einen ewigen Schlaf. Was aber in Europa Großes geschah, geschah vor dem Christentum — denn auch das Christentum ist wie alle asiatischen Religionen eine Religion des Todes und nicht des Lebens — oder nach dem Christentum, als das Christentum schon wankend geworden, trotz des Christentums. Seitdem, seit es wieder zu erwachen begann, sucht Europa eine Religion des Lebens. Das Leben bricht wohl hin und wieder mit wilder Urkraft hervor, in den Nibelungen, in Shakespeare. Aber es fehlt der letzte Adel, die letzte Schönheit. Es fehlt der homerische Glanz. Es ist ein erkämpftes, ertrotztes Leben. Sonst aber ist alles höchste Schaffen Europas ein deutliches, unablässiges, sehnendes Suchen nach Leben. Die Renaissance, die reichste, üppigste Blüte des europäischen Lebens gipfelt in Michelangelo. Aber was ist Michelangelo anders als ein schmerzhaftes, krampfhaftes, wildes Suchen nach Leben? Und Goethe? Goethe kommt Homer am nächsten. Er hat fast das Griechentum. Aber auch Goethe noch bleibt ein Suchender. Warum ist Faust das tiefste Gedicht der neueren Menschheit? Weil Faust das Leben sucht. Wir aber wollen nicht länger Suchende sein; wir wollen endlich Habende sein. Soll Europa nicht auch seine Religion haben? Sollen wir immer nur von fremdem Gute leben? Immer nur ein Nachhall, ein verspäteter Traum? Schaffen wir eine Religion des Lebens, eine homerische Religion des Menschenadels, der selbsterlösenden Kraft im Menschen, der Verehrung der Gestalt als des einzigen Lebens, der Erlösung durch Schönheit. Mit dieser Religion bekommt der Mensch seine Unschuld wieder, wie die Blumen und Sterne, und so kann er ein Leben schaffen wie einst das griechische, das die Jahr- tausende überstrahlt, an dem sich Jahrtausende satttrinken und es doch nicht erschöpfen. Denn es ist die Krone der Menschheit, der Inbegriff der Menschheit. Drum strahlt es über alle Mensch- heit hin.
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Im Verlag von Julius Zeitler in Leipzig erschienen gleichfalls
DR. AUGUST HORNEFFER DER VERFALL DER HOCHSCHULE
Preis brosch. M 2. —
Diese Schrift steht in engem Zusammenhang mit dem ,, Klas- sischen Ideal". Sie sucht der offenkundigen Schwäche unseres gesamten Universitäts- und Bildungswesens auf den Grund zu gehen. Scharf und rücksichtslos, aber ohne jede revolutionäre oder agitatorische Tendenz werden die Fehler klar gelegt, wobei in gleicher Weise wie die gelehrten auch die künstlerischen Zu- stände zur Sprache kommen. Dr. Horneffer bleibt nicht bei der Kritik stehen, sondern gibt überall zugleich positive Gedanken und macht praktische Vorschläge.
ERNST HORNEFFER
KATHOLICISMUS IN DER
PROTESTANTISCHEN KIRCHE
Worte zur Abwehr an meine Zuhörerschaft in Kassel
Preis brosch. M 1.20
Dieser Veröffentlichung liegt ein Vortrag zu Grunde, den Dr. Ernst Horneffer zu Kassel hielt. Die Schrift wird ver- vollständigt durch einen dreifachen Anhang.
Maschinensatz und Druck von der Buch- druckerei Breitkopf und Härtel in Leipzig
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